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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:19:48 -0700
committerRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:19:48 -0700
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+<title>Mein Leben und Streben | Project Gutenberg</title>
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+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div>
+
+<h1>Mein Leben und Streben</h1>
+
+<h3>Selbstbiographie</h3>
+
+<h2 class="no-break">von<br/>
+Karl May</h2>
+
+<hr />
+<hr />
+
+<p class="center">
+<b>Band I</b><br/>
+<br/>
+<br/>
+<br/>
+</p>
+
+<p class="center">
+Freiburg i. Br.<br/>
+Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld<br/>
+<br/>
+Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.<br/>
+<br/>
+<br/>
+<br/>
+</p>
+
+<p class="poem">
+Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,<br/>
+    So gehe ruhig fort, und laß das Klagen.<br/>
+Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst<br/>
+    Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen.
+</p>
+
+<p class="right">
+(Karl May „Im Reiche des silbernen Löwen”)
+</p>
+
+<hr />
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><b> I n h a l t. </b></h2>
+
+<table summary="" style="">
+
+<tr>
+<td><a href="#chap01">I. Das Märchen von Sitara</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap02">II. Meine Kindheit</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap03">III. Keine Jugend</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap04">IV. Seminar- und Lehrerzeit</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap05">V. Im Abgrunde</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap06">VI. Bei der Kolportage</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap07">VII. Meine Werke</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap08">VIII. Meine Prozesse</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td><a href="#chap09">IX. Schluß</a></td>
+</tr>
+
+</table>
+
+<hr />
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap01"></a>I.<br/>
+Das Märchen von Sitara.</h2>
+
+<hr />
+
+<p class="noindent">
+Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht
+und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so
+kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches
+Wort und bedeutet eben „Stern”.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist
+1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst
+und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen
+Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder
+weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen
+aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile
+zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise
+gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur
+einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein
+der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen
+schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden
+sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden
+Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben.
+Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich
+bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose
+Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was
+nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan
+ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich
+auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der <b>Gewalt- und
+Egoismusmenschen.</b> Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und
+schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des
+menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan.
+Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und
+bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das
+Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten
+nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke
+des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe
+bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge
+aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der
+<b>Edelmenschen.</b>
+</p>
+
+<p>
+Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden,
+selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: 
+„D u   s o l l st   d e r   T e u f e l   d e i n e s   N ä ch st e n  
+s e i n,   d a m i t   d u   d i r   s e l b s t   z u m   E n g e l  
+w e r d e st!”  Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über
+Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten,
+deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet:  „D u   s o l l st  
+d e r   E n g e l   d e i n e s   N ä ch st e n   s e i n,   d a m i t   d u  
+n i ch t   d i r   s e l b st   z u m   T e u f e l   w e r d e st!”
+</p>
+
+<p>
+Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein
+jeder Bürger und eine jede Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich
+und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein.
+Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine
+tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach
+Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es da ein Wunder, daß da unten im
+Tieflande eine immer größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Daß
+die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu
+befreien und zu erlösen suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den
+Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht
+anders haben. Sie würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren
+können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch
+die Mächtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, die
+Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen
+arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche
+Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die
+Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen
+unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen
+diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr gäbe? Darum ist es
+Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem
+Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen
+den, der es wagt, nach dem Lande der Nächstenliebe und der Humanität, nach
+Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird
+ergriffen und nach der „Geisterschmiede” geschafft, um dort gemartert und
+gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend
+in das verhaßte Joch zurückzukehren.
+</p>
+
+<p>Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan,
+jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen
+Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und
+beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches
+Wort; es bedeutet „Mann”. Märdistan ist das Zwischenland,
+in welches sich nur „Männer” wagen dürfen; jeder
+Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil
+dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der „Wald von
+Kulub”. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl
+des deutschen Wortes „Herz”. Also in den Tiefen des Herzens
+lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen
+hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und
+mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen,
+von dem es in „Babel und Bibel,” Seite 78 heißt:</p>
+
+<p class="poem">
+„Zu Märdistan, im Walde von Kulub,<br/>
+Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.<br/>
+Da schmieden Geister?”
+</p>
+
+<p class="poem">
+                          „Nein, man schmiedet sie!<br/>
+Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,<br/>
+Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.<br/>
+Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.<br/>
+Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.<br/>
+Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.<br/>
+Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug<br/>
+Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.<br/>
+Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.<br/>
+Man stößt dich in den Brand; die Bälge
+knarren.<br/>
+Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,<br/>
+Und Alles, was du hast und was du bist,<br/>
+Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,<br/>
+Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,<br/>
+Gedanken und Gefühle, Alles, Alles<br/>
+Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert<br/>
+Bis in die weiße Glut -- -- --”   
+                              „Allah, Allah!”<br/>
+„Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!<br/>
+Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,<br/>
+Wird weggeworfen in den Brack und Plunder<br/>
+Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.<br/>
+Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,<br/>
+Die in der Faust der Parakleten funkelt.<br/>
+Sei also still!                Man
+reißt dich aus dem Feuer -- --<br/>
+Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest.<br/>
+Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.<br/>
+Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.<br/>
+Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.<br/>
+Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- --<br/>
+Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,<br/>
+Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.<br/>
+Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.<br/>
+Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,<br/>
+Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- --<br/>
+Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied<br/>
+Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual<br/>
+Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag<br/>
+Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.<br/>
+Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.<br/>
+Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg<br/>
+Was noch -- -- --”
+</p>
+
+<p class="poem">
+                    „Halt ein! Es ist genug!”<br/>
+„Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,<br/>
+Der schraubt sich tief -- -- --”<br/>
+                                   „Sei still! Um Gottes willen!”<br/>
+                                     u. s. w.   u. s. w.
+</p>
+
+<p>So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im
+Innern der „Geisterschmiede von Kulub” zu! Jeder Bewohner des
+Sternes Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller
+bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel
+herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele,
+welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in
+Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme
+Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt,
+wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes
+Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von
+oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen,
+und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder
+gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen
+Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft
+nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es
+ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er
+doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede
+geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis
+er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben.</p>
+
+<p>Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach
+Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so groß und
+so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste
+Pein der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen
+Gesellen „aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig
+dankbar froh entgegenlächelt”. Einer solchen Himmelstochter
+kann selbst dieser größte Schmerz nichts anhaben, sie
+ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer
+vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und sind
+alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr
+zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan
+gehört. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr
+hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach
+Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines
+Nächsten ist. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap02"></a>II.<br/>
+Meine Kindheit.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not,
+der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren
+beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines
+Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um
+Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom
+Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des „Krähenholzes”, aus der
+er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte
+lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man
+seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die
+Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen.
+</p>
+
+<p>Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr
+ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen
+Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren
+Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater,
+meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern
+und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte
+für die Leute und spann Watte. Es kam vor, daß sie
+sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie
+splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier
+Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und
+altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fünf Kinder.
+Sie war eine gute, fleißige, schweigsame Frau, die niemals
+klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die
+eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man
+gegenwärtig diskret als „Unterernährung” zu
+bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Großmutter, die
+Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht
+hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin,
+eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer
+eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch
+ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus
+ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem
+sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre
+Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr
+davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig
+rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen saß
+und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr
+eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie
+gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit
+einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort
+verwischt.</p>
+
+<p>Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele
+unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im
+Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß
+hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben
+waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule
+besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend lesen und
+sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was
+nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen,
+das machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er
+doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine
+Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern,
+und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht
+so übel. Als ich eine Geige haben mußte und er kein
+Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen.
+Dem fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und
+Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung
+zu erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich
+sein Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn
+Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen
+vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren.
+Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm
+auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen.
+Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe
+uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue
+Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der
+wohlbekannte „birkene Hans”, vor dem wir Kinder uns besonders
+scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im
+großen „Ofentopfe” einzuweichen, um ihn elastischer und
+also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden
+vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten;
+wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns
+an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir
+selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das
+Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von
+Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man
+den Strick oder den „Hans” so lange, bis Vater nicht mehr
+konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes,
+heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als
+Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem
+Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach
+Hause kam, als ihr erlaubt worden war.</p>
+
+<p>Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste,
+wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht
+etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder
+mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung,
+daß durch die Art und Weise, in der man mich umstürmt,
+jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich
+schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn die
+kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht erst
+nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben.
+Ich schreibe es vielmehr nur  u m   m e i n e r   s e l b st  
+w i l l e n,  um über mich klar zu werden und mir über
+das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke,
+Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber
+ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht
+einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern ich
+beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden
+sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend
+sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, sondern
+heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe.
+Ich spreche hier nicht nur für dieses, sondern auch für
+jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem
+ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als
+das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir
+wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem oder
+in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz
+andere, in die richtigen Hände, nämlich in die
+Hände des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der
+es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und
+Wahrheit gibt. Da läßt sich nichts verschweigen und
+nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und
+ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch
+noch so pietätlos und tue es auch noch so weh. Man hat den
+Ausdruck „Karl May-Problem” erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an
+und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen
+denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen oder
+nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen. Das
+Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem
+großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die
+einzelne Individualität transponiert. Und genauso, wie
+dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist auch das Karl
+May-Problem zu lösen, anders nicht! Wer sich unfähig
+zeigt, das Karl May-Rätsel in befriedigender, humaner Weise
+zu lösen, der mag um Gottes Willen die schwachen Hände
+und die unzureichenden Gedanken davon lassen, über sich
+selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen
+Menschheitsfragen zu befassen! Der Schlüssel zu all diesen
+Rätseln ist längst vorhanden. Die christliche Kirche
+nennt ihn „Erbsünde”. Die Vorväter und Vormütter
+kennen, heißt, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der
+Humanität, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es
+gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um
+auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können.
+Den Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das
+Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine
+Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die
+meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag
+man dies für unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht
+nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr
+zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in
+seinem Falle das Richtige zu tun. -- --</p>
+
+<p>Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten
+ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer
+dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer
+lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem
+vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im
+fünften und letzten fanden sich zehn alte
+Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf
+Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermögen! Das
+erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus
+nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut,
+dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben
+unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern
+bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt.
+Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre,
+wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab.
+Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die
+für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet
+wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle
+zehn, zwölf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das
+förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock
+wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem
+Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von
+Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die
+eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns
+zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer.
+Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die
+gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen
+Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser
+wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns
+gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir
+fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu
+stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen
+Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen
+Wassertümpel gab, den wir als „Teich” bezeichneten. Der
+Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns
+erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn
+das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern an, zu
+husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte
+immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl
+wußten, daß die Aepfel gleich nach der Blüte am
+besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet.
+Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie
+gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand
+wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch
+mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den
+„Teich” betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider
+nicht mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir
+alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen
+zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit
+Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten
+Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen
+Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren
+uns auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie kamen
+an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. Einige
+ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche
+Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren.
+Keine Sennerin kann sich mehr über ihre Zither freuen als
+wir über unsere Frösche. Wir wußten ganz genau,
+welcher es war, der sich hören leß <tt>[sic]</tt>, ob der Arthur, der Paul oder Fritz,
+und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen,
+so sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, um
+mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und uns dahin
+zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider aber
+kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, um
+sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte
+überall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie
+gefühllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern
+schönen Tümpel sah, die Hände über dem Kopf
+zusammen und erklärte, daß dieser Pest- und
+Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten
+Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn
+Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und
+drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie
+zu töten sei, bei fünfzehn „Guten Groschen” Strafe.
+Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! Ja,
+wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen wäre, dann
+herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen,
+wurde ausgeführt. Der Tümpel wurde so weit
+ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen konnten.
+Sie wurden in den großen Deckelkorb getan und dann hinaus
+hinter das Schießhaus nach dem großen Zechenteich
+getragen, Großmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder
+einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das
+Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel
+Tränen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile
+dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefällt worden sind,
+das ist jetzt, nach über sechzig Jahren, wohl kaum mehr
+festzustellen. Doch weiß ich noch ganz bestimmt, daß
+Großmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen,
+uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn
+Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem
+fünfmal größeren Garten erben, in dem es einen
+zehnmal größeren Teich mit zwanzigmal
+größeren Fröschen gebe. Das brachte in unserer
+Stimmung eine ebenso plötzliche wie angenehme Aenderung
+hervor. Wir wanderten mit der Großmutter und dem leeren
+Deckelkorb vergnügt nach Hause.</p>
+
+<p>Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und
+schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit
+irgendeinem vererbten körperlichen Fehler behaftet. Vater
+und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie
+sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer
+Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir
+unbedingt verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt
+sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre
+siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein
+örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und
+der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald
+ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das
+Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger
+und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit
+jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst
+berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu
+bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.</p>
+
+<p>Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden
+geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, daß wir
+eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter
+war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem
+maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem
+Fleiße, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der
+Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein
+konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden frei
+zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte,
+plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt
+zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen.
+Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem
+Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte
+Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen,
+was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während
+er, nicht schlafen könnend, im Bette lag und darüber
+nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten
+über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren
+wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem
+Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, die
+Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte
+Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das
+geringste verstand. Er hatte gehört, daß da sehr viel
+Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, daß er auch
+ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze,
+jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden
+vertrieben und Tauben angeschafft.</p>
+
+<p>Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu
+bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel opfern,
+vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an
+den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an
+ihnen fanden. Am meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir
+beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider
+veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure
+„Blaustriche” gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns.
+Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige
+Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie waren
+nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren
+„Blaustriche” entpuppten sich als ganz wertlose
+Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen,
+jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler
+fünfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich
+heraus, daß der Täuberich altersblind war. Er ging
+nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und
+ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war,
+daß Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um
+den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab
+sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er
+besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften,
+um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen;
+bald kaufte er Wicken, die er „halb geschenkt” erhalten hatte.
+Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem
+Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und
+Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer
+gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und
+wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses
+unstäte <tt>[sic]</tt>,
+unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß
+das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die
+übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie
+härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen
+wäre, weiter zu tragen. Da faßte sie einen
+Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich
+in diesem Falle viel, viel vernünftiger als damals gegen
+unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie
+sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe,
+aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten
+müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher
+erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne
+noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr
+Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie
+sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu
+sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und
+zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler.
+Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz
+dachte nach; dann sagte er: „Meine liebe Frau May, ich kenne
+Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein.
+Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen
+nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich
+werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück,
+so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.
+Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir
+Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie
+Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte
+mit ihm zu reden!”</p>
+
+<p>Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten
+Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort;
+sie wurde angestellt. Während ihrer Abwesenheit führte
+Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit,
+eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir
+Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über
+Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte
+sich der Blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen
+verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren
+vollständig verschwunden. Der Arzt mußte durch
+Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens
+ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt
+heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder
+krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt
+geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.</p>
+
+<p>Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz
+vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden
+großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß
+und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden
+Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem
+elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben
+erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu
+bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das
+geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge.
+Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen gesundend,
+heim. Aber das Alles hatte große, große Opfer
+gefordert, freilich nur für unsere armen Verhältnisse
+groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben
+willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise
+unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir
+zogen zur Miete. -- --</p>
+
+<p>Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den
+tiefsten und größten Einfluß auf meine
+Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer
+Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die
+„Hohensteiner Großmutter” genannt wurde, stammte die
+Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als
+„Ernsttaler Großmutter” bezeichnen lassen. Diese Letztere
+war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast
+möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von
+Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus
+dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals
+ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles? Sehr
+einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige
+Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der
+tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum
+sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erlösung sehnenden
+Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben
+vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor
+sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die
+Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter früh verloren
+und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen
+konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten,
+ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn
+mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die
+Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer
+Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle
+Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur
+den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge
+nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der
+es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie
+wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave
+Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb
+ihr treu.</p>
+
+<p>Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch
+älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene
+Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch
+weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie
+noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren
+gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten.
+Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst
+gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das
+Reifröckchen *)</p>
+
+<p class="footnote">
+*) Kleines Oellämpchen.
+</p>
+
+<p class="noindent">
+angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das
+Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon
+zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich
+dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und
+auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten
+gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr
+abgegriffener Band, dessen Titel lautete:
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>Der Hakawati</b><br/>
+d.i.
+</p>
+
+<p class="letter">
+der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,
+Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,
+<tt>explanatio</tt> und <tt>interpretatio</tt> auch viele
+Vergleychung und Figürlich seyn
+</p>
+
+<p class="center">
+von<br/>
+Christianus Kretzschmann<br/>
+der aus Germania war.<br/>
+Gedruckt von Wilhelmus Candidus<br/>
+<tt>A. D: M. D. C. V.</tt>
+</p>
+
+<p class="center">
+*<br/>
+*                   *
+</p>
+
+<p>Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller
+orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern
+Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese
+Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich
+wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in
+denen sie es für nötig hielt, gab sie Aenderungen und
+Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist
+dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau
+wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen
+von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die
+Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein
+ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.</p>
+
+<p>Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die
+Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tode
+nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener
+Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim.
+Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe,
+wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor
+ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat
+und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht,
+daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei
+uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts
+verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das
+Häßliche schön zu malen. Aber kurz nach der
+Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche
+Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzählte. Der
+brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die
+tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren
+beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst
+nach langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher
+Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre
+der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege
+und der Hungersnot. Es war Alles verwüstet. Es gab nirgends
+Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer
+Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm
+nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst
+keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das
+erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde
+wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte,
+Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe,
+einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte
+<tt>[sic]</tt> Mehl, eine Düte
+<tt>[sic]</tt> Graupen, ein Scheibchen
+Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell
+fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder
+gesehen; Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht
+vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe.
+Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso
+wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie
+hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er
+wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft
+zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern
+eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern
+unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen
+Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich
+nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs
+oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle
+satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit
+ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not!</p>
+
+<p>Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der
+Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der
+besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie
+Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine
+Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre
+Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im
+Stillen und belohnte sie dadurch, daß er ihren Kindern in
+jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen.
+Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er aß mit
+seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur
+Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde- sondern mit
+in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen
+Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich
+ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die
+große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner
+Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und
+gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu
+schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so
+nützliche Bücher!</p>
+
+<p>Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit
+gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich
+kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der
+jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und
+er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen.
+Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald
+wußte er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und
+Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in
+seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre
+Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese
+Wißbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des
+Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen
+mit sich gehen zu lassen. Ich muß das erwähnen, um
+Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige
+Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen
+Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte
+auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.</p>
+
+<p>In dieser Zeit war es, daß Großmutter während
+des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden
+sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt.
+Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach
+drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein
+Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz
+geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das
+Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches
+gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher
+kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie
+hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am
+Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die
+Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der
+Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu
+nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Nächte
+lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch
+irgendeine Bewegung zu zeigen, daß sie noch lebe -- --
+vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung
+möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab
+es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, daß
+sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz
+unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem
+Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum
+letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste
+Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an
+Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken
+aus: „Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich
+festhalten!” Und richtig, man sah, daß die scheinbar
+Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd
+öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte
+nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden
+andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber von da
+an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als
+vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen
+unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und
+Leben gedacht und empfunden hatte. Es muß schrecklich
+gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch
+fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie
+nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den
+sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte
+jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und
+zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu
+verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube,
+nicht aber an den Tod.</p>
+
+<p>Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz überwunden,
+als Großmutter infolge der Versetzung und
+Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden Kindern
+in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen
+wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder
+jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver
+Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, hielt um ihre Hand
+an. Jedermann redete ihr zu, sie müsse ihren Kindern doch
+einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und
+hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit
+wieder Witwe. Er starb und hinterließ ihr alles, was er
+besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven,
+fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um
+sie. Sie tat ihr Mädchen zu einer Nähterin und ihren
+Knaben zu einem Weber, der ihn von früh bis abends am
+Spulrad beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter
+nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz
+von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während seines
+Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen; er hatte
+sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiß
+erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses
+ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam,
+sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat
+er sowohl als Knabe wie auch als Jüngling seine Pflicht. Er
+war fleißig und wurde ein tüchtiger Weber, dessen Ware
+so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, daß jeder
+Unternehmer ihn gern für sich arbeiten ließ. In seinen
+Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu
+botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich
+bei dem Oberförster erworben hatte Darum machte es ihm
+große Freude, daß sich unter der oben erwähnten
+Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante
+Bücher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen
+Freibeschäftigungen von großem Nutzen war. Ich denke
+da besonders an einen großen, starken Folioband, der gegen
+tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte:</p>
+
+<p class="center">
+Kräutterbuch
+</p>
+
+<p>
+Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn <tt>Dr.
+Petri Andreae Matthioli</tt>. Jetzt widerumb mit vielen
+schönen newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen /
+vnnd andern guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern
+Fleiß gemehret vnnd verferdigt /
+</p>
+
+<p class="center">
+Durch<br/>
+Joachimum Camerarium,<br/>
+der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct.
+</p>
+
+<p>
+Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der
+Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann die
+Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben
+genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brennöfen.
+</p>
+
+<p class="center">
+Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio,<br/>
+in keinerley Format nachzudrucken.<br/>
+Gedruckt zu Franckfurt am Mayn<br/>
+M. D. C.<br/>
+<br/>
+*<br/>
+*                   *
+</p>
+
+<p>Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses Buch
+sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt
+sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der
+Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch,
+böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was
+später besonders mir ganz außerordentlich
+vorwärts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses
+köstlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel,
+viel mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die
+Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer
+ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer
+Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft
+und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche
+sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch
+wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten
+Freuden, und ich kann wohl sagen, daß Vater mich dabei
+vortrefflich unterstützte.</p>
+
+<p>Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer
+Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der
+xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das
+Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz
+vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses
+und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der
+Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden.
+Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem
+Jahre das Werk stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn
+sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser
+Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit
+komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter
+für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche
+Gabe, zu erzählen.</p>
+
+<p>Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie
+schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der
+widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren
+Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder
+einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie
+erzählte, ganz nur für ihn allein erzählte. Und
+das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer
+reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am
+Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde,
+der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung,
+daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der
+Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im
+höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, daß sie
+das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie
+nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war
+Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am
+sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet.
+Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem
+eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine
+Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was
+sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im
+Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.</p>
+
+<p>In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von
+Sitara, sondern das Märchen „von der verloren gegangenen
+und vergessenen Menschenseele” auf. Sie tat mir so unendlich
+leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen
+Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese
+Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich
+das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen
+eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, daß die
+Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen
+wurde und daß alle unsere Psychologie bisher nicht imstande
+war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner
+Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die
+Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin
+die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte
+sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß,
+küßte mich auf die Stirn und sagte: „Sei still, mein
+Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie
+ist da!” „Wo?” fragte ich. „Hier, bei mir”, antwortete sie.
+„Du bist diese Seele, du!” „Aber ich bin doch nicht
+verloren,” warf ich ein. „Natürlich bist du verloren. Man
+hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan.
+Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen
+haben, Gott hat dich nicht vergessen.” -- Ich begriff das damals
+nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später.
+Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes
+lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es
+gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder
+Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und
+Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber
+das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen.
+Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein
+Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur
+innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch.
+Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper,
+sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, sondern sein
+Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen,
+nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen
+gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist
+der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der
+Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung
+zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir
+tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und
+nur wer eine so tief gegründete und so mächtige
+Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend
+wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt
+beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich
+plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die
+Fähigkeit, mich zu kritisieren, <b>sonst keiner!</b></p>
+
+<p>Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern
+bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater,
+meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein,
+der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich
+und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz
+selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte,
+das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine
+kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich
+erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir
+kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in
+Großmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel
+duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir
+den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes.
+So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich
+wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben
+worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und
+klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand,
+einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es
+hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder.
+Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider
+besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der
+Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit
+der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir
+bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es,
+daß ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später
+doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu
+werden.</p>
+
+<p>Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart
+entwickelt und in seinen späteren Grundzügen
+festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun
+vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den
+Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen.
+Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so
+größeres Kind, je größer ich wurde, und
+zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß
+und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die
+Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals
+bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch
+richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich
+unausgesetzt die Erfahrung gemacht, daß es dem Volke genau
+ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus
+äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst
+heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und
+schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus
+geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so
+stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig
+bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem
+großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke
+nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir hunderte von
+Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und
+tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir
+werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen,
+falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in
+unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in
+den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen
+kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin
+selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum
+weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine
+Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben
+keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will
+Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen
+Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt,
+weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was
+ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird.
+Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin,
+Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus
+köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt
+überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst
+besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler
+und Dummheiten machen läßt, vor denen er die
+jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er
+läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß
+der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah,
+obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun
+seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier
+liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu
+drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte
+Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber
+lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.</p>
+
+<p>Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am
+Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war
+der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich
+die älteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum
+Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive
+Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht
+wollte, so machte man keinen „Summs”; der wurde
+fortgeprügelt und kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber
+kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt,
+obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die Andern aber
+dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch
+niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren
+Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich
+still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen
+kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht
+übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt
+die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann
+aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage
+ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere
+Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich
+leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter
+arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen
+hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir
+unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an
+das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch „Der
+Hakawati” gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß
+dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich
+vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war
+die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß
+ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den
+Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der
+Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen
+hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und
+Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie
+erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen
+vermochte.</p>
+
+<p>Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die
+Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr
+an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn
+Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern
+erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam
+Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf
+zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch
+von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und
+schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und
+dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das,
+was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich
+an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte.
+Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere
+Verhältnisse tun dürfen. Und er mußte immer daran
+denken, daß es unter unsern Vorfahren bedeutende
+Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen
+mußten, daß wir ihrer nicht würdig seien. Er
+hatte das werden gewollt, war aber von den Verhältnissen
+gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das
+ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen
+Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, was er
+war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug
+seine Wünsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich.
+Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nichts zu
+versäumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm
+versagt gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich
+von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche
+Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut
+und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und
+glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß ich,
+ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine
+„Kindheit” jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. Sie
+starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen
+öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen
+bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid
+und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich
+schier ohne Ende peinigt. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap03"></a>III.<br/>
+Keine Jugend.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft
+mich über dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du
+nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht
+neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz
+in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben
+Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und
+ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und
+Wärme. Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser
+Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in
+sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann
+es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich,
+wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch
+der immer nur Empfangende!
+</p>
+
+<p>Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich
+über mich befindet, gleich von vornherein aufzuklären.
+Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar
+für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte
+bisher nur mein „gutes Auskommen,” weiter nichts. Selbst
+hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die
+nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch
+erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit
+dem Gedanken vertraut, daß ich genau so sterben werde, wie
+ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender
+Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich.
+Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts
+ändern.</p>
+
+<p>Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß
+mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem
+raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein
+scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt,
+diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in
+Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte sehr wohl, was er
+tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lanzierte. Er
+erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind
+gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind
+jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von
+Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos
+gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und
+humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle.
+Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem
+anderen Falle als litararische <tt>[sic]</tt> Kavaliere erweisen, auf diesem
+ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein
+schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital
+als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von
+dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht grad
+aus für meinen bescheidenen Haushalt und für die
+schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu
+bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge
+tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner
+Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört.
+Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge
+jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld
+von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und
+fast ein Jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich
+enttäuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, daß
+jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu
+schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle
+gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten
+zusammengenommen.</p>
+
+<p>Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt,
+nun wieder zurück zur „Jugend” dieses angeblichen
+„Millionärs”, der nach ganz anderen Schätzen strebt
+als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.</p>
+
+<p>Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen
+Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem
+gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich
+vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger
+Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit,
+Mißwuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte
+erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des
+Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von
+unserem Nachbarn, dem Gastwirt „Zur Stadt Glauchau”, des
+Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die
+vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden.
+Wir gingen nach der „roten Mühle” und ließen uns
+einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend
+etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir
+pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen
+Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu
+kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der
+Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder
+drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie
+nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise
+gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren,
+auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz
+zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so
+außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den
+Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter,
+solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da
+saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh
+bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte
+die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen
+mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die
+Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten wir
+alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar auch
+zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür
+gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf
+fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr
+gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung
+für die verflossene und Anregung für die kommende
+Woche.</p>
+
+<p>Während wir in dieser Weise fleißig daheim
+arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu
+tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend.
+Es galt nämlich, den König Friedrich August und die
+ganze sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten.
+Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der
+König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande
+gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in
+Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurück,
+und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war
+nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten
+sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da
+kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie
+fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und
+Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen
+wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten
+sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen
+auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen
+Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie
+baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich zu
+ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt
+Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist
+Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen
+Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte
+ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die
+Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden,
+vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches
+derart beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte,
+sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es,
+daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von
+der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil,
+er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es
+nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu
+vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt
+Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten
+geschehe, und da allüberall vom Kampf und Krieg und Sieg
+gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, daß
+auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen,
+sondern auch in kriegerische Gewänder und kriegerische
+Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn
+ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mußte
+Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels
+standen überall an den Ecken und Winkeln herum,
+erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern
+gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen
+über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und
+die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte,
+böse Frau war man empört. Die war an Allem schuld. Sie
+hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des
+Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser
+niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine
+Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter
+Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand fürchtete,
+auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloß die
+allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In
+Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und
+eine Gardekompagnie. Die erstere schoß nach einem
+hölzernen Vogel, die letzere <tt>[sic]</tt> nach einer hölzernen Scheibe. Zu
+diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere
+gegründet werden, besonders auch eine polnische
+Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich
+denn heraus, daß es in unserem Städtchen eine ganz
+ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch
+veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte
+keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren
+dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich
+glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen
+Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den
+Schützen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so
+ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreißig Offiziere
+waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde
+ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen
+ganz selbstverständlich nur klein bemessen sein konnte; aber
+der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim
+Militär gestanden und darum alle dreiunddreißig
+Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur
+vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger
+Leute könnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so
+blieb es bei dem, was beschlossen worden war.</p>
+
+<p>Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam
+einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser
+Charge nicht zufrieden; er trachtete nach höherem. Darum
+beschloß er, sobald er ausexerziert war, sich ganz
+heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas davon bemerkte, im
+„höheren Kommando” einzuüben. Und da er mich
+ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen
+vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte mit ihm
+tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von
+Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen
+Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald
+Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die
+sächsische Armee. Ich wurde erst als „Zug”, dann als ganze
+Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment,
+Brigade und Division. Ich mußte bald reiten, bald laufen,
+bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach
+links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf
+den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich
+war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem
+jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es
+mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der
+einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen,
+gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der
+militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich
+weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine
+sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch
+ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater
+Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: „Junge, dazu hast
+du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour
+werden!” Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen
+ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese Püffe,
+Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohle und
+zur Rettung des Königs von Sachsen und seines Ministeriums
+empfangen zu haben! Wenn er das wüßte!</p>
+
+<p>Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der
+Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm
+behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene
+Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin später, als
+ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe,
+Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese
+Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf Kompagnieen
+taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast täglich, wozu
+mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie
+wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt
+haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein
+Wunder vor. Es gab auch an andern Orten „Königsretter”.
+Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen,
+sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen
+und für den König alles zu wagen, unter Umständen
+sogar das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser
+Befehl. Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten.
+Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf dem
+Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war
+Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und saß
+da mitten drauf. Es war keine leichte Sache für ihn,
+zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den
+Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als
+der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke
+und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war
+geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch
+gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war
+überhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz!
+Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und Kindern besonders
+Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an
+allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein
+grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die
+Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: „Achtung -- -- Augen
+rechts, rrrricht’t euch -- -- Augen grrrade aus -- -- G’wehr bei
+Fuß -- -- G’wehr auf -- -- G’wehr präsentiert -- --
+G’wehr über -- -- Rrrrechts um -- -- Vorwärts marsch!”
+Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die
+Musikanten mit dem türkischen Schellenbaum, die Tamboure,
+sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die
+Schützen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so
+marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts zur
+damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vorüber,
+dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach
+Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der
+Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte
+hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des
+Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem
+ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser
+Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine
+Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie
+hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen
+wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich
+glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle
+meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln
+oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht,
+monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück
+zu zwei Pfennige. Die mußte ich ihm vom Krämer holen,
+weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er
+rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht
+vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer
+Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte
+er:</p>
+
+<p>„Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche
+Begeisterung für Gott, für König und
+Vaterland!”</p>
+
+<p>„Aber was bringt sie ein?” fragte die Frau Kantorin.</p>
+
+<p>„Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre
+Glück!”</p>
+
+<p>Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu
+streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein
+Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte
+über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott,
+König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre
+Glück; das wollte und mußte ich mir merken!
+Später hat dann das Leben an diesen drei Worten
+herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die
+Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.</p>
+
+<p>Von allen, die heut ausgezogen waren, um große
+Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul
+zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten
+übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als
+Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das
+Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar
+erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister
+Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen
+Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein
+Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel
+geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus
+triftigen Gründen entlassen worden waren und die die
+Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz
+bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg <tt>[sic]</tt> geschickt habe, das dortige
+Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die
+überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde,
+daß man aus Freiburg <tt>[sic]</tt> die Weisung erhalten habe, sofort
+wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die
+Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe
+für den König und die Regierung nicht das Geringste
+mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es
+heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich
+empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß
+einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels
+zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden
+Vätern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde
+ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder
+Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter
+klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg
+hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um
+uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend
+in Empfang zu nehmen.</p>
+
+<p>Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des
+tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die
+Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals
+zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was
+später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick
+im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich
+gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der
+Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir
+selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der
+frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf
+mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors
+vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu
+Geist und Seele geworden sind.</p>
+
+<p>Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen,
+früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder
+Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte
+dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige
+Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem
+guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen
+nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell
+treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So kam
+es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli
+übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für
+teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor
+mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht
+angängig war, da komponierte er selbst. Und er war
+Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammt aus dem
+kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen,
+ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium
+förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor
+wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden
+können und sah einen Taler für ein Vermögen an,
+von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die
+Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu
+machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher
+Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die
+komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und
+hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können,
+wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre.
+Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden
+Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz
+sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und
+einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er
+sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von
+Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders
+auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein
+wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als
+zweiunddreißigfüßiger „Prinzipal”
+ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer
+sanften <tt>„Vox humana”</tt> zugebilligt wurde. Sie
+besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten,
+deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit
+verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder
+teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits
+erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben,
+als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich
+hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als
+Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis.
+Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal
+gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen
+Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete
+keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen
+verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen
+Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat
+sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft,
+ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht
+daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es
+ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu
+sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den
+begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen
+kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter
+Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine
+ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine
+Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein
+armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und
+außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen
+war.</p>
+
+<p>Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht.
+Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine
+selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz
+selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn
+zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht
+einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der
+Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau
+Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der
+Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der
+Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: „Es
+gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike
+hält es nicht aus; sie hat Migräne”. Manchmal
+hieß es auch „sie hat Vapeurs”. Was das war, wußte
+ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem,
+was ich auch nicht wußte, nämlich von der
+Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte,
+wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der
+gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach
+und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der
+Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren
+brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so
+weit bin ich jetzt noch nicht.</p>
+
+<p>Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in
+dem, was er meine „Erziehung” nannte. Notabene mich „erzog”
+er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte
+alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das
+erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich
+nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig
+höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm
+nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein
+sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er
+aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der
+geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im
+Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken
+vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein
+hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine
+Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein
+Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in
+andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht
+wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er
+glaubte stets an das, was er wünschte, und war
+vollständig überzeugt, es erreichen zu können.
+Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und
+über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war,
+nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse,
+die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum
+größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht,
+daß selbst das allergrößte Opfer eines armen
+Teufels dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein
+Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine
+Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er dazu
+gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern.
+Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie
+möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und
+hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.</p>
+
+<p>Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der
+man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir
+leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester
+ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben
+gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die
+ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald
+klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein
+großes, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so
+viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht
+einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da
+begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung
+aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr
+lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die
+nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren
+waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so
+drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge
+darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger
+Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß.
+In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer
+Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies
+allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen
+großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich
+bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele,
+zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den
+Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte,
+für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der
+andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter
+Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und
+schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen
+Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich
+von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr
+klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich
+verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich
+bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige,
+höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der
+Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele
+auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr
+ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes
+Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es
+ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das,
+was man als „Jugend” bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein
+echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie
+beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist,
+daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat
+fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht;
+man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen,
+daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen
+gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben
+vermag.</p>
+
+<p>Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte,
+beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf
+die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten
+Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein
+oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er
+brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder
+gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser
+behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte
+Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte
+Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie
+Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark,
+mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter
+einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht
+mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir
+dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es
+war eine Verfütterung und Ueberfütterung
+sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zu Grunde
+gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der
+äußerst schmalen Kost so überaus kräftig
+entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen
+ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden
+der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und
+keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er
+pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich
+die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt
+wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen
+seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es
+wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte
+Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr
+Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der
+Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um
+Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets
+dabei und ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich
+gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben
+zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm,
+in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch
+nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein
+Verständnis. Ich konnte da Dinge hören, und
+Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten
+blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten
+Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn
+niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein
+regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für
+sieben Pfennige und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder
+für sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei
+besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen
+für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt,
+mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen,
+selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen
+einstellte. Diese Herren wenigstens mußten doch wissen,
+daß ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen
+Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer
+Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die
+mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht
+frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf
+Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu
+hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus
+meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg
+gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben
+mußten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich
+mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei
+ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten
+konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, daß
+dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob.
+Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es
+konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis
+emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so
+nötig war.</p>
+
+<p>Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich
+seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur
+ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch
+Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei
+Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen
+Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit
+Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige
+für uns beide. Es wurde gegeben: „Das
+Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena.” Meine Augen
+brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber
+sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und
+haßten; sie duldeten; sie faßten große,
+kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf König und
+für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals
+gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause
+gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie
+die Puppen bewegt werden.</p>
+
+<p>„An einem Holzkreuze,” erklärte sie mir. „Von diesem
+Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder
+der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das
+Kreuz bewegt.”</p>
+
+<p>„Aber sie sprechen doch!” sagte ich.</p>
+
+<p>„Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen
+hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen
+Leben.”</p>
+
+<p>„Wie meinst du das?”</p>
+
+<p>„Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber
+verstehen lernen.”</p>
+
+<p>Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals
+zu gehen. Es wurde gespielt „Doktor Faust oder Gott, Mensch und
+Teufel.” Es wäre ein resultatloses Beginnen, den Eindruck,
+den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen.
+Das war nicht der Göthesche Faust, sondern der Faust des
+uralten Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze
+Philosophie eines großen Dichters aufgestapelt wurde und
+auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten
+Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um
+Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich
+hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn
+mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals
+wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust hätte
+mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt mir,
+aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der
+Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese
+Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was sie sagten, das
+war groß, unendlich groß, weil es so einfach, so
+unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott
+zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und
+die Fäden, diese Fäden; die alle nach oben gehen,
+mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten
+bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am
+Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist
+überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel
+tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch
+nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in
+dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht
+direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich
+mußte als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die
+Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen,
+jemals einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber
+ich bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller
+Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich
+tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie
+damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das
+Theater bis auf den heutigen Tag als eine Stätte erschienen,
+durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber,
+häßlich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor
+fragte, wer dieses Theaterstück ausgesonnen und
+niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner
+Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein
+großer, berühmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe
+geheißen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht,
+welches nicht für Puppen, sondern für lebende Menschen
+geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: „Herr Kantor, ich will
+auch so ein großer Dichter werden, der nicht für
+Puppen, sondern nur für lebende Menschen schreibt! Wie habe
+ich das anzufangen?” Da sah er mich sehr lange und unter einem
+fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: „Fange es an,
+wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen
+sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.” Diesen
+Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen;
+aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf
+meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine
+Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke,
+daß die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht
+von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was
+ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob
+ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der
+Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in
+den Händen hält, um das Volk der Menschen zu
+beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst
+später an den Folgen zu ersehen.</p>
+
+<p>Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die
+nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das
+Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem
+ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ
+sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernsttal
+nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um
+ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als
+mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25
+Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10
+Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb
+täglich über die Hälfte der Sitze leer. Die
+„Künstler” fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde
+himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen;
+da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war -- -- -- ich.
+Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine
+Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß Vater
+schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: „Karl, hole deine
+Trommel herunter; wir müssen sie putzen!” „Wozu?” fragte
+ich. „Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal
+über die ganze Bühne herumzutrommeln”. „Wer ist die
+Preziosa?” „Eine junge, schöne Zigeunerin, die eigentlich
+eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt.
+Jetzt kommt sie zurück und findet ihre Eltern. Du bist der
+Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit
+weißer Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt
+gemacht. Wird das „Haus” voll, so gibt der Herr Direktor dir
+fünf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du
+nichts. Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe.”</p>
+
+<p>Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne
+schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Knöpfe!
+Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne herum!
+Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht sehr
+wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr pünktlich zur
+Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich gefiel sämtlichen
+Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau Direktorin
+streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein
+intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles
+Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht.
+Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit
+dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen.
+Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter,
+denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt und
+ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die
+fünfzig Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen
+Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die
+Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der jenseitigen
+Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schloßvogt Pedro
+spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das
+Zeichen für mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach
+einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu
+verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht
+irren. Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe
+mit. Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über
+dreißig Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf
+meine Weste. Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut
+mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster
+hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich
+eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da
+wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichtes
+empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart
+gefüllt, daß schnell ganz vorn noch einige „Logen”
+eingerichtet wurden mit dem Preise von zehn Neugroschen pro
+Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und
+Großmutter hatten Freiplätze bekommen. Ich war eben an
+diesem Tage ein höchst wertvolles Menschenkind. Diese
+Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, daß die Frau
+Direktorin sich bewogen fühlte, mir meine fünf
+Neugroschen schon ehe der Vorhang zum ersten Male aufging, in die
+rechte Hosentasche zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit
+und meine künstlerische Begeisterung bedeutend.</p>
+
+<p>Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke
+meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte in
+Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in der
+Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der Bühne
+gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel
+an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don
+Fernando und Donna Klara und noch irgend wer standen auf der
+Bühne. In der gegenüberliegenden Kulisse lehnte der
+Schloßvogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er
+sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, daß er
+glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium.
+Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber
+nahm das ganz selbstverständlich für das verabredete
+Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen,
+begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um
+die Bühne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor
+Schreck ganz starr. „Lausbub!” schrie mir der Schloßvogt
+zu, als ich an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse
+heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon
+war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte man mir,
+doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem,
+was ausgemacht worden war, nämlich dreimal rund um die
+Bühne herum. „Lausbub!” brüllte der Schloßvogt,
+als ich zum zweiten Mal an ihm vorüberkam, und zwar tat er
+das so laut, daß es trotz des Trommelwirbels auch hinaus-
+und über den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes
+Gelächter antwortete von dorther; ich aber begann meine
+dritte Runde. „Bravo, bravo!” erklangen die Beifallsrufe des
+Publikums. Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn
+Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu,
+faßte meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und
+die Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich
+an:</p>
+
+<p>„Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch
+auf!</p>
+
+<p>„Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!” rief
+man im Zuschauerraum lachend.</p>
+
+<p>„Ja, weiter, immer weiter!” antwortete auch ich, indem ich
+mich von ihm losriß. „Die Zigeuner haben zu kommen! Raus
+mit der Bande, raus mit der Bande!”</p>
+
+<p>„Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!” schrie,
+brüllte und johlte das Publikum.</p>
+
+<p>Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von
+neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen,
+voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die Andern alle
+hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rund
+um und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich
+das Publikum nicht zufrieden. Es rief: „Heraus mit der Bande,
+heraus!” und wir mußten den Umzug von neuem beginnen und
+immer wieder von neuem. Und am Schluß des Aktes mußte
+ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich
+eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr
+Direktor ließ mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze
+Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der
+Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine
+Sache gut machen würde, versprach er mir noch weitere
+fünfzig Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf
+mein Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der
+Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal
+trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die
+„hohen Herrschaften” zu bitten, sich noch nicht gleich zu
+entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu
+Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts zu verkaufen, so
+billig, wie sie morgen, übermorgen und auch fernerhin
+unmöglich abgegeben werden könnten. Als Reminiszenz auf
+den Wortlaut des heutigen Beifalles hatte der Herr Direktor dem
+Schlusse dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: „Also
+rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten,
+rrrraus!”</p>
+
+<p>Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem
+Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten Erfolg.
+Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion
+als auch diejenigen aller übrigen Künstlerinnen und
+Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam
+nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, sondern dazu auch
+noch ein Freibillett, welches für den ganzen, diesmaligen
+Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es wiederholt
+benutzt, und zwar für Stücke, in welche Vater mich
+gehen lassen konnte. Uebrigens gab es bei dieser braven Truppe
+wohl kaum eine sittliche Gefahr für die Zuhörerschaft,
+denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben
+beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er
+alle zärtlichen Liebesszenen so ängstlich aus seinen
+Stücken streiche, antwortete er: „Teils aus moralischem
+Pflichtgefühl und teils aus kluger Erwägung. Unsere
+erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu
+häßlich für solche Rollen.”</p>
+
+<p>In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach
+dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen hangen.
+Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer späteren
+Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott,
+den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir
+sogar noch heut sehr häufig, obwohl diese drei Foktoren
+<tt>[sic]</tt> nicht nur die
+bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren
+Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt,
+als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon
+und ließ mir von der leeren, hohlen Oberflächlichkeit
+gewaltig imponieren, wie jedes andere größere oder
+kleinere Kind. Die Menschen, die solche Stücke schrieben,
+die auf die Bühne gegeben wurden, kamen mir wie Götter
+vor. Wäre ich ein so bevorzugter Mensch, so würde ich
+nicht von geraubten Zigeunerinnen erzählen, sondern von
+meinem herrlichen Sitara-Märchen, von Ardistan und
+Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der
+Erlösung aus der Erdenqual und allen anderen, ähnlichen
+Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener
+Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und
+der auch mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde,
+in die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten
+Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch
+Anderes kam hinzu.</p>
+
+<p>Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß
+war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, genoß
+evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich
+vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch
+konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen
+Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns
+weder für besser noch für berufener als sie. Unser
+alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es
+gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche seines Kirchenamtes
+religiösen Haß zu säen. Unsere Lehrer dachten
+ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich
+Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei
+ursprünglich tief religiös aber von jener angeborenen,
+nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit
+einläßt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe
+stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich
+dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich
+hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über
+religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: „Ein
+Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.” Das habe ich mir
+gemerkt. Ich habe bereits gesagt, daß ich an jedem Sonn-
+und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein
+oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe
+täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch
+heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang
+beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe
+und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch
+unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.</p>
+
+<p>Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und
+zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine
+jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir
+heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an
+denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz
+besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war
+folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet
+worden waren, beteiligten sich am darauf folgenden grünen
+Donnerstag zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen
+Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung,
+sonst während des ganzen Jahres nicht, standen die ersten
+vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares,
+um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet,
+Priesterrock, Bäffchen <tt>[sic]</tt> und weißes Halstuch. Sie
+standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden
+Kommunikanten und hielten schwarze, goldgeränderte
+Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten
+heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende
+gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe
+ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen,
+gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare wirken noch
+heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.</p>
+
+<p>Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am ersten
+Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des
+Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu
+besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis
+mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser
+Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht
+selten vor, daß der Organist dem kleinen Sänger zur
+Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren.
+Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die
+Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir
+fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner
+Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner
+Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden
+und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden
+Gemeinde gesungen hat, daß ein helles Licht erscheine und
+von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn
+er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von
+Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet,
+wenn alle andern Sterne verlöschen.</p>
+
+<p>Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt
+wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf einen
+der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach
+dem andern unter den Füßen hinweggenommen wurde, so
+daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu
+schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde
+mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein
+Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu,
+dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm
+emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen
+sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten würden, von allem
+Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu
+sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner
+sogenannten Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut
+noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen,
+durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen
+Qual geworden ist.</p>
+
+<p>Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim
+richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa
+hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet,
+sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam
+und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters.
+Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns
+führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen,
+das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen
+unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen
+Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im
+Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher,
+die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa
+eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle
+Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten
+bis zum letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt das
+für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch
+der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, wenn auch nur
+scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle
+Beteiligung an den „Unarten” anderer Knaben. Er erzog mich, wie
+man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich
+mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu
+„lernen”! Von dem Handschuhnähen wurde ich nach und nach
+befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine
+Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine
+Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und
+lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen,
+mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte,
+war dies höchst gefährlich. Saß ich dann
+betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem
+Buche, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür
+hinaussteckte und erbarmend sagte: „So geh schnell ein
+bißchen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst
+schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!” O,
+diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da
+wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der
+schlage in meinen „Himmelsgedanken” das Gedicht auf Seite 105
+auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine
+Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah
+Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen
+Königstochter, die für mich und meine Leser als
+„Menschheitsseele” gilt.</p>
+
+<p>Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von
+Büchern jeden Genres in Privathänden befand,
+zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben
+resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab
+deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des
+Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich
+auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte,
+Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur
+Bücher zum Lernen, und für diese letzteren sei ich
+jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her,
+denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr
+nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge
+in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch
+war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt
+fehlte, doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:</p>
+
+<p class="poem">
+„Ein <tt>buer</tt> <tt>[sic]</tt> lernen muß,<br/>
+Wenn er will werden <tt>dominus</tt>,<br/>
+Lernt er aber mit Verdruß,<br/>
+So wird er ein <tt>asinus</tt>!”
+</p>
+
+<p>Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und
+meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein
+<tt>asinus</tt>, sondern ein <tt>dominus</tt> werde. Also nun
+schnell und fleißig lateinisch lernen!</p>
+
+<p>Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den
+Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika
+auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist
+so viel wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich
+ganz von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet
+auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch
+in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder mit
+Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin
+gedruckt und „Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm,
+Prinz von Preußen” gewidmet. Darum mußte es gut und
+von sehr hohem Werte sein! Der Titel lautete: <tt>„Chansons
+ma&ccedil;onniques”,</tt> und zu der Melodie, die mir am besten
+gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste
+hierhergesetzt sein mag:</p>
+
+<p class="poem">
+„Nons vénérous de l’Arabie<br/>
+La sage et noble antiquité,<br/>
+Et la célèbre Confrairie [sic]<br/>
+Transmise à la postérité”.
+</p>
+
+<p>Das Wort „Freimaurerlieder” reizte ganz besonders. Welch
+eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu
+können! Glücklicherweise erteilte der Herr Rektor
+für Privatschüler auch französischen Unterricht.
+Er gestattete mir, in diesem „Zirkle” einzutreten, und so kam
+es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und
+Französischen zugleich zu befassen hatte.</p>
+
+<p>Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen
+weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. Sein
+Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte von
+geographischen und ethnographischen Werken, die er meinem Vater
+alle für mich zur Verfügung stellte. Ich fiel über
+diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr
+freute sich darüber, ohne irgendein doch so naheliegendes
+Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte,
+war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer
+freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in
+seinen Worten, als vielmehr in den Büchern aus, die er
+besaß. Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr
+Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph,
+sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit
+ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich schon
+gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zunächst
+alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei
+Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und
+andern guten Menschen fügte. So kam es, daß ich vom
+Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen
+Wohltätigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor
+daneben einen Missionsbericht, in welchem über das
+offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit
+bittere Klage geführt wurde. In der Bibliothek des einen
+lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene „Großen”
+kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen,
+und in der Bibliothek des zweiten alle jene andern
+„Großen”, denen die religiöse Offenbarung himmelhoch
+über jedem wissenschaftlichen Ergebnisse steht. Und dabei
+war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz
+dummer Junge; aber noch viel törichter als ich waren die,
+welche mich in diese Konflikte fallen und sinken ließen,
+ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so
+verschiedenen Büchern stand, konnte gut, ja konnte
+vortrefflich sein; mir aber mußte es zum Gifte werden.</p>
+
+<p>Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche
+Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt
+werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise
+zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner
+Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer
+gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Uebung besaß,
+und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr
+viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch
+außerdem dafür geopfert! Der Kegelschub war ein
+vielbesuchter, zugebauter und heizbarer, so daß er zur
+Sommer- und zur Winterszeit und bei jeder Witterung benutzt
+werden konnte. Es wurde täglich geschoben. Von jetzt an
+hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen
+Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und
+dauerte bis zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war
+der Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, an dem die
+Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen,
+ihre Einkäufe zu machen und -- <tt>last not least</tt> --
+eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden
+fünf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen
+Montagen vor, daß ich mich von Mittags zwölf Uhr an
+bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur fünf
+Minuten ausruhen zu können. Zur Stärkung bekam ich des
+Nachmittags und des Abends ein Butterbrod <tt>[sic]</tt> und ein Glas abgestandenes,
+zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein
+mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte,
+mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister
+anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen
+Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig
+man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da
+wöchentlich zusammenbrachte, war gar nicht unbedeutend. Ich
+bekam pro Stunde ein Fixum und außerdem für jedes
+Honneur, welches geschoben wurde, einen festbestimmten Satz.
+Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert,
+so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache Höhe. Es
+hat Montage gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach
+Hause brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu
+unserer Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.</p>
+
+<p>Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht
+den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches,
+billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde
+an anderer Stelle nachweisen, daß es sich hier nicht um
+Leute handelte, welche das kannten, was man unter Rücksicht
+oder gar Zartgefühl versteht. Man platzte mit allem, was auf
+die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich
+da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute
+Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches da
+vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu
+mir. Alles, was Großmutter und Mutter in mir aufgebaut
+hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das
+empörte sich gegen das, was ich hier zu hören bekam. Es
+war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene
+kräftige, kerngesunde Fröhlichkeit wie z. B. bei einem
+oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute,
+welche aus der brusttötenden Atmosphäre ihres
+Webstuhles direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich
+für einige Stunden ein Vergnügen vorzutäuschen,
+welches aber nichts weniger als ein Vergnügen war, für
+mich jedenfalls eine Qual, körperlich sowohl als auch
+seelisch.</p>
+
+<p>Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel
+schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche
+böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was
+für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und
+äußerlich geradezu ruppige, äußerst
+gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals
+gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war
+die einzige, die es in den beiden Städtchen gab.
+Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Veränderung, die sie
+erlitt, war die, daß die Einbände immer schmutziger
+und die Blätter immer schmieriger und abgegriffener wurden.
+Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von neuem
+verschlungen, und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und
+zu meiner Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich
+einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden
+steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war,
+mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der
+Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo
+Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der
+wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle
+auf dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige <tt>[sic]</tt> Bandit. Die schöne
+Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der
+Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von
+Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsrück oder
+der Raubritter als Beschützer der Armen. Emilia, die
+eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der
+Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der König als
+Mörder. Die Sünden des Erzbischofs u. s. w. u. s.
+w.</p>
+
+<p>Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da
+waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen
+darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne sie alle
+lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las sie;
+ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm
+sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang,
+glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts
+dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl
+verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten
+gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche
+Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was
+da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen
+Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe,
+noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen,
+nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.</p>
+
+<p>Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung
+begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu
+unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie
+scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man
+behauptet, daß der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama
+sei. Soll ich mich dem anschließen, so darf ich das, was
+auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist und das,
+was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander
+verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen
+gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur
+das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was
+für eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monströs
+dicken, wasserköpfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt
+worden. Der sehr gut, ja vielleicht außergewöhnlich
+veranlagte Knabe hatte sich zu einer unartikulierten geistigen
+Mißgestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besaß
+als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat,
+ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erwähnten starken,
+unzerreißbaren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der
+Erde festgehalten, daß ich für König und
+Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als
+materielle Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an
+denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet hatten,
+den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und seine Regierung
+von dem Untergange zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser
+Halt genommen, und zwar durch die Lektüre dieser
+schändlichen Leihbibliothek. Alle die Räuberhauptleute,
+Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle
+Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte
+Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die
+grausame Obrigkeit geworden. Sie besaßen wahre
+Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose
+Wohltätigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller
+Armen, aller Bedrückten und Bedrängten auf. Sie zwangen
+die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser
+herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders
+die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde.
+Und vor allen Dingen die Fülle des Lebens, der
+Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern
+herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas
+Hochinteressantes, irgend eine große, schwere, kühne
+Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den
+Büchern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah
+in den Traktätchen des Pfarrers? In seinen langweiligen,
+nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz
+guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? Da waren
+große, weite und ferne Länder beschrieben, aber es
+ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und
+Völker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten
+nichts. Das war alles nur Geographie, nur Geographie, weiter
+nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnographie, nur
+Ethnographie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott,
+kein Mensch und auch kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden
+in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es
+gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt,
+nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er
+allein es ist, für den die Bücher geschrieben werden.
+Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab,
+denn diese bedeutet für sie den Tod. Welch ein Reichtum des
+Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen
+auf die Eigenheiten und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch
+in die Hände nimmt! Kaum fühlt er während des
+Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und
+welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da.
+Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal
+Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder
+böse Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König,
+Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt
+bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche
+Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit
+und Unumstößlichkeit der göttlichen und der
+menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch
+unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den
+Rinaldo Rinaldini geschrieben!</p>
+
+<p>Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in
+meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner
+Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam
+die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in
+hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und
+Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur
+Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je
+länger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern
+überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß,
+von „edlen” Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer
+verschenkten. Daß sie diese Reichtümer vorher andern
+abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns
+irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige
+Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und
+gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und
+bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo
+Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür
+hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch
+zählte und dabei sagte; „Das ist für euren Knaben; er
+mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke
+schreibt!” Das letztere war mir nämlich, seit ich den
+„Faust” gesehen hatte, zum Ideal geworden.</p>
+
+<p>Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen
+Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich
+zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in
+anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar
+nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche
+Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren,
+und schließlich bleibt nur die traurige Negation
+zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen
+verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die
+Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung
+zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! das
+führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat,
+die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon
+ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer,
+immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.</p>
+
+<p>Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was nach
+der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich
+gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber
+hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mußte mit
+meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim
+Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen
+uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz,
+mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm
+verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte
+ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er
+versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität
+und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns
+nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir
+recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem
+Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur
+eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das
+hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir
+glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur
+einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer
+Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte
+sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich
+ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns
+fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn
+wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung
+bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange
+Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: „Meine
+liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind
+arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe,
+und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen
+weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muß für
+sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen.
+Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht
+fleißig, so wird sich ganz gewiß zur rechten Zeit
+jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!”</p>
+
+<p>Das war abends. Ich saß da und las in einem
+Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was Herr
+Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus Empörung über
+solche Art der Frömmigkeit, als über die Abweisung
+selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand er auf und
+ging. Unter der Tür aber sagte er: „Einen solchen Versuch
+machen wir nicht mehr! Karl geht auf das Seminar, und wenn ich
+mir die Hände blutig arbeiten soll!” Als er fort war,
+saßen wir andern noch lange Zeit traurig beisammen. Dann
+gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte.
+Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, in
+dem ich gelesen hatte, führte den Titel „Die
+Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller
+Bedrängten.” Als Vater nach Hause gekommen und dann
+eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich aus der
+Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: „Ihr
+sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich gehe nach
+Spanien; ich hole Hilfe!” Diesen Zettel legte ich auf den Tisch,
+steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu
+einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab,
+öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und
+schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es
+höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz
+hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der
+über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu,
+nach Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus der
+Not. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap04"></a>IV.<br/>
+Seminar- und Lehrerzeit.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten
+aufzuspeichern hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie
+entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in
+dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen,
+aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als
+mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er
+in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm
+alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die
+Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer
+den Heimatboden und die Jugendatmosphäre eines „Gewordenen” genau kennt und
+richtig zu beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, welche
+Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile
+aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine
+der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die
+Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht
+geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit
+aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese
+Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind,
+die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und
+gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben
+„Nächsten”, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die
+Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen
+sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.
+</p>
+
+<p>Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen
+ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen,
+so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend welchen Teil
+meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen,
+sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu
+zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die
+Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung
+und Entwicklung hin genau zu untersuchen.</p>
+
+<p>Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe bei einander
+liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre
+Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände
+zwischen einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der
+Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen
+Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden,
+dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus
+zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus
+Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist
+Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände
+zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier
+weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem
+ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, „das
+erste Licht der Welt erblickte”. Die ersten und ältesten
+Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer
+beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern
+auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so
+viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals.
+Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar
+einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an
+der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete
+die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft
+überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es
+wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit.
+Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig
+heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte
+man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche
+Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der
+Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten,
+damit, wenn die Haussuchung kam, nichts gefunden werden
+könne. Es galt für die armen Weber, fleißig zu
+sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug
+ein jeder sein „Stück zu Markte”. Für jeden Fehler,
+der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte
+gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann wurde
+ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der Heiterkeit und -- -- --
+dem Schnaps gewidmet. Man fand sich beim Nachbar ein. Da ging die
+Bulle rundum. Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen
+Familien sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern
+regierte die Karte. Da wurde „gelumpt”, „geschafkopft” oder
+gar „getippt”. Das letztere ist ein verbotenes
+Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche
+opferte. Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von
+Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während der
+Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem Gang in das
+Freie war man mit Branntwein versehen. Da saß man im
+Grünen und trank. Schnaps war überall dabei; man mochte
+ihn nicht entbehren. Man betrachtete ihn als den einzigen
+Sorgenbrecher und nahm seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich
+das so ganz von selbst verstände.</p>
+
+<p>Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über
+die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in ganz
+geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden
+Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, die
+man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht.
+Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch
+gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt,
+dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen,
+sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war die ganze
+Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige und der
+allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, die man jetzt kaum
+mehr für möglich hält. Im persönlichen
+Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als die
+wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, welches ich
+da anführe, diene der Name Wolf. Es gab einen
+Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, einen
+Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter Wölfe. Die
+Häuser waren klein, die Gassen eng. Ein jeder konnte in die
+Fenster des andern sehen und alles beobachten, was geschah. So
+wurde es fast zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu
+haben. Und da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder
+seinen Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg.
+Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ
+man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch
+zur immerwährenden, aber stillen Hechelei <tt>[sic]</tt>, zur niedrigen Ironie, zu einem
+scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles
+an sich hatte. Das war ungesund und griff immer weiter um sich,
+ohne daß man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie
+Gift. So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein
+lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte,
+verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel zu
+pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der
+Zubereitung und im Gebrauch von falschen Karten zu üben. Sie
+etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie
+schickten Zubringer aus, um Opfer einzufangen. Da saß man
+nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da
+mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben war
+im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von jedem
+neuen Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten
+Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man
+diese Betrügereien verwarf. Man verkehrte mit den
+Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen
+Vorschub. Ja, man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und
+man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen
+wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze
+Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer
+beteiligt wurde und daß jedermann, der von diesen
+Gaunereien wußte, sich, streng genommen, als Hehler zu
+betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals
+gesagt hätte, daß dies einen beklagenswerten,
+allgemeinen moralischen Tiefstand bedeute, der wäre wohl
+ausgelacht worden, oder gar noch Schlimmeres. Das allgemeine
+Rechtsgefühl war irregeführt. Man bewunderte die
+Falschspieler, wie man die Rinaldo Rinaldini’s und die Himlo
+Himlini’s der alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände
+man verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden
+Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der
+Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener
+Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um
+ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der
+ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man
+ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das
+alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck
+gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und
+sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie
+wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich
+sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht
+gehabt hat oder nicht?</p>
+
+<p>Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden
+Namen „Batzendorf” und die „Lügenschmiede”. Der erstere
+leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und schweizer
+Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war
+eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals
+beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig
+zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen
+Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene
+Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden
+Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das
+der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde
+zum Batzendorfer Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm
+darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der
+alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie
+war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war
+Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und
+tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief
+herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das
+alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war
+Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die
+tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu
+werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge,
+Verheiratung zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne
+Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung
+eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar
+sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden
+und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte
+von allem das Beste. Er sagte immer: „Nur nicht
+übertreiben, nur nicht übertreiben!” Damit glaubte er,
+seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor
+schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich
+mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er
+den Mut, meinen Vater zu warnen: „Machen Sie nicht mit, Herr
+Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie
+und auch nicht gut für den Karl. Was man da treibt, ist
+alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und
+Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand
+rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen
+noch zu hören bekommen!”</p>
+
+<p>Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses „Batzendorf”, in dem man
+nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren
+bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere
+Wirkung gehabt. Da lockerten sich „die Bande frommer Scheu”. Da
+gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die
+Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und
+höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen
+bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer
+Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und
+Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte
+es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche
+nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden
+auch mit hinein geführt und haben sehr viel von unserer
+Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten
+schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt
+in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage
+treten, nicht mehr einzudämmen sind.</p>
+
+<p>Die „Lügenschmiede” war etwas neueren Datums. Indem ich
+von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das,
+was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen
+Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute,
+welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr
+achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in
+andern, größeren Verhältnissen durch diese
+Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie
+unten in den kleinen Verhältnissen hangen und konnten also
+auch nur Kleinliches und Gewöhnliches, oft sogar nur sehr
+Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!</p>
+
+<p>Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste,
+brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in
+diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für
+Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu
+errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese
+wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration
+hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so
+wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man
+nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt,
+den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen
+Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein
+Anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er
+etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn
+los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit,
+der nicht zu widerstehen war. Er wurde „gemacht”, wie man es
+nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen
+stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine
+wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er
+mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich,
+mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er
+zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche
+beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. Diese
+Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden
+kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit
+dem Wirt und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine
+Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.</p>
+
+<p>Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte
+einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen
+Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten
+Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und
+Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu
+bezahlen, denn Jeder wußte, die Blamage kommt dann
+hinterher. Bessere Gäste hatten keine so gewöhnlichen
+Witze zu befürchten. Die ließ man warten. „Der
+muß erst noch reif werden,” pflegte der Lügenschmied
+zu sagen. Und Jeder wurde reif, Jeder, mochte er sein, wer oder
+was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt
+oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber
+mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast,
+der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei
+nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war
+aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den
+Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne
+daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der
+Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen,
+vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht
+sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der
+Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheiter als alle,
+ihn könne niemand foppen. Einem andern Gaste wurde
+weisgemacht, sein Bruder sei heut’ Vormittag auf dem Jahrmarkt
+verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen
+und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe
+ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen
+müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam
+aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden
+Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde
+verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu
+Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet
+wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und
+oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse zu
+verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne
+unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie Alles, was
+unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze
+wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich
+verausgabt. Und ein Jeder, der die Lügenschmiede betrat,
+glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu
+dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher
+Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und
+Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur
+Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur
+unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede
+ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht.
+Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei
+nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken
+fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün
+und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele
+hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten
+Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, leider bin
+auch ich einer von denen, die sehr und schwer darunter zu leiden
+hatten und noch heutigen Tages leiden müssen. Daß
+meine Gegner es wagen konnten, den Karl May, der ich in
+Wirklichkeit und Wahrheit bin, in die verlogenste aller
+Karikaturen zu verwandeln und mich sogar als Marktweiberbandit
+und Räuberhauptmann durch alle Zeitungen zu schleppen, das
+wurde zum größten Teil durch die Lügenschmiede
+ermöglicht, deren Stammgäste gar nicht bedachten, was
+sie an mir begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen
+über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten traktierten.
+Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück und habe hier
+noch ganz kurz zu sagen: Was ich über jene
+Falschspielergesellschaft, über „Batzendorf” und über
+die „Lügenschmiede” zu berichten hatte, sind nur einige
+kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner
+Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus
+erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich
+und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in den meine
+Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, will dies aber
+gern und mit Vergnügen unterlassen, weil ich kürzlich
+zu meiner Freude gesehen habe, wieviel sich dort verändert
+hat. Ich hatte meine Vaterstadt schon lange Zeit gemieden und
+wollte sie auch ferner meiden, als ich durch eine Rechtssache
+gezwungen wurde, sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm
+enttäuscht. Das meine ich nicht äußerlich,
+sondern innerlich. Ich habe der Städte und Orte genug
+gesehen; da kann mich nichts überraschen und auch nichts
+enttäuschen. Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir
+bisher fremden Menschen zunächst und vor allen Dingen seine
+Seele kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden Ortes,
+den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals war zwar
+noch die alte; das sah ich sofort; aber sie hatte sich gehoben;
+sie hatte sich gereinigt; sie hatte ein anderes, besseres und
+würdigeres Aussehen bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie
+einige Tage lang beobachten zu können, und darf wohl sagen,
+daß mir diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand
+Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich begegnete
+einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie
+früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, mehr
+Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse
+zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in das Ideale.
+Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich gehoben und zeigte die
+Fähigkeit, sich auch fernerhin und zusehends zu veredeln.
+Ich begegnete alten Bekannten, aus denen in Wirklichkeit „Etwas
+geworden” war. Das war mir eine Genugtuung, die ich nicht
+erwartet hatte. Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten
+Gesichter mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit,
+sondern die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit,
+von gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War
+dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her?
+Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet
+werden kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben
+auffrischend, stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe
+aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen
+Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere und von
+Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare
+Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder sein
+möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten
+vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit
+jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit dem Erfolg
+kommt auch der Segen.</p>
+
+<p>Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst
+zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus
+Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen
+Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht,
+daß dies eine „verrückte” Idee gewesen sei. Ich war
+geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch
+schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge
+des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben
+hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die
+überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte
+die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.</p>
+
+<p>Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend
+von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein.
+Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu
+bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und
+gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien
+liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und
+machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen,
+sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den
+Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit,
+wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren
+arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei
+ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach
+entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie
+wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir
+anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für
+sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der
+jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz
+anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte
+mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich
+und sagte: „Mach so Etwas niemals wieder, niemals!” Dann ging
+er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.</p>
+
+<p>Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit
+still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand.
+Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich
+eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und
+hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor,
+ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir
+erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken
+sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach
+Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner
+Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich
+müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort
+gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener
+verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen
+war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande
+der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte
+ein gutes Wort für mich bei unserem Kirchenpatron, dem
+Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine
+Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe,
+die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu
+besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis
+bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu
+Waldenburg und wurde dort interniert.</p>
+
+<p>Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht
+akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch!
+Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich
+dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige
+Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf
+sie bezog. Freilich stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im
+Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das
+über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem
+ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke
+für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und
+Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als
+gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich,
+daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich
+zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch
+meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich
+an sich und bat:</p>
+
+<p>„Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in
+Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg
+wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an
+die, welche dich zurückhalten wollen!”</p>
+
+<p>„Und die Geisterschmiede?” fragte ich. „Muß ich da
+hinein?”</p>
+
+<p>„Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,”
+antwortete sie. „Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben
+ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.”</p>
+
+<p>„Ich will aber hinein; ich will!” rief ich mutig aus.</p>
+
+<p>Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte
+lächelnd:</p>
+
+<p>„Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn
+nie in deinem Leben!”</p>
+
+<p>Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich
+ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer
+geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit
+dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt
+hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der
+auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist,
+sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche
+Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es
+mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich
+diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu
+geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist
+es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von
+außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen,
+daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte
+ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie
+und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab
+täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder
+Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz
+richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich <tt>in
+corpore</tt> in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig.
+Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für
+Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und
+zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche
+Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich
+ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und
+Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es
+gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen
+religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab
+keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine
+Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es
+fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu
+begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren
+diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu
+erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die
+Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu
+Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten
+und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab,
+das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz
+unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das
+klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie
+gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in
+sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer
+andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von
+Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe
+unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der
+jemals ein sympathisches Wort über diese Art des
+Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen
+gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien
+Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich
+selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das
+auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar
+habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner
+Mitschüler fürchtete.</p>
+
+<p>Ich hätte gern über diese religiösen
+Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich
+die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen
+inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war.
+Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar
+vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige
+reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man
+sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein
+Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit
+meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich
+erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich
+vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und
+ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war.
+Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir
+selbst.</p>
+
+<p>Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf
+ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was
+ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine
+regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir
+nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte.
+Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren
+Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an
+und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv
+heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr
+beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten
+zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag
+wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres
+Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich
+fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und
+sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine
+stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen
+Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider
+nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich
+aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames
+Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer
+wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich
+absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den
+Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren
+Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des
+hiesigen Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als
+daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam.
+Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als
+vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man
+lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das
+Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu
+schmerzende Trockenheit des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen
+fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften
+zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war.
+Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich
+hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber
+keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In
+meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf
+das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder
+innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und
+darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen
+vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose
+Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer
+krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers
+vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und
+fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit
+keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch
+bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl
+sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es,
+welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich
+fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie
+beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was
+ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen
+versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr
+und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und
+arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich
+innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben,
+ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja
+auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer
+Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so
+unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus,
+keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine
+Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach
+stehen lassen.</p>
+
+<p>Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach
+geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte
+demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja,
+ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte,
+wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das
+sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas
+Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz
+selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz
+selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz
+selbstverständlich von der „Gartenlaube”, die vor einigen
+Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann
+gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das
+Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf
+ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich
+nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach
+weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück,
+um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief
+von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten
+lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu
+schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz
+tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig
+schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft
+alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in
+der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin
+milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem
+dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er
+nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich
+nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte
+von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber
+daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse
+gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den
+ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für
+einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr
+unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich
+stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite
+Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes
+Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so
+überklingendes Kapital geschlagen haben.</p>
+
+<p>Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die
+Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem
+eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als „Wochner”
+bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen
+„Ordnungswochner” und in der zweiten einen „Lichtwochner”,
+welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu
+übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe
+von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein
+anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte
+täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter
+vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den
+steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste
+wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu
+Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren
+allgemein als wertlos anzusehen.</p>
+
+<p>Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe,
+Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie
+jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen
+unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern, um
+meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches
+ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft
+es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg
+machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal
+kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es
+stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen
+Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute,
+für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen.
+Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert
+<tt>[sic]</tt> werden konnte nichts, gar
+nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter
+für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel
+der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen
+Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für
+fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige
+zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man
+sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand
+das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich
+soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte.
+„Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte
+machen?” fragte sie. „Ganz leicht,” antwortete ich. „Man
+braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter
+nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist
+nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.” „Wenn
+auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für
+die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?” „Eigentlich
+Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn
+wegwirft oder nicht, ist seine Sache.” „Also wäre es wohl
+nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach
+Hause nähmen?” „Gestohlen. Lächerlich! Fällt
+keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige
+wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei
+kleine Weihnachtslichte.”</p>
+
+<p>Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist
+stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse
+über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein
+Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit
+an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich
+dabei, ging fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor
+kam in eigener Person, den „Diebstahl” zu untersuchen. Ich
+gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den
+„Raub”, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte
+wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen
+„infernalischen Charakter” und rief die Lehrerkonferenz
+zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon
+nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war
+aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir
+beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester -- -- -- in die
+heiligen Christferien -- -- -- ohne Talg für die
+Weihnachtsengel -- -- -- es waren das sehr trübe, dunkle
+Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt,
+daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer,
+nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen
+löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert
+gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen
+Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die
+unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken
+und Heiden verfahren würden.</p>
+
+<p>Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus
+und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete,
+verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich
+erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen
+Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in
+dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach
+zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich
+meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach
+Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren
+Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen
+Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu
+beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit
+gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern
+mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.</p>
+
+<p>Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen
+hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere
+Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als
+Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine
+wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und
+andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht
+bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das
+heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und
+nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig
+umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf
+das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht
+absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die
+doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat,
+fast unentbehrlich ist.</p>
+
+<p>Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte
+kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte
+sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies
+Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein
+besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit
+mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und
+seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden,
+und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich
+ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahelag,
+sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien.
+Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm
+möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah,
+daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des
+Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die
+Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen
+Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun
+nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand.
+Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie
+mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab,
+denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue,
+bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich
+zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir
+den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu
+mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet
+sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der
+ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule
+zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später
+unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der
+Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie
+nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern
+lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf
+Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner
+Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder
+gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete
+mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich
+merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht
+behage.</p>
+
+<p>Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die
+Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete
+mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich
+abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren.
+Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach
+Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr
+zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht
+gedacht. Als ich bemerkte; daß sie sich in meiner Tasche
+befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht
+der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei
+den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die
+Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam
+Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger
+Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung
+vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft,
+über meine Ideale, die für mich alle im hellsten
+Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die
+Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue
+Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich
+noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über
+mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich
+bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen,
+vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und
+mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller
+werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen!
+Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten
+Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für
+Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken
+schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der
+Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem
+Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur
+Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen
+Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies
+bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu
+kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe.
+Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde
+zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau.
+Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber
+bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte
+meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit
+angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen,
+und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das
+benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:</p>
+
+<p>„Sie sind arretiert! Wissen Sie das?”</p>
+
+<p>„Nein,” antwortete ich, tödlich erschrocken.
+„Warum?”</p>
+
+<p>„Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen
+haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis
+und werden als Lehrer abgesetzt!”</p>
+
+<p>Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe
+mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte
+an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen,
+und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!</p>
+
+<p>„Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!”
+stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.</p>
+
+<p>„Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm
+heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell,
+schnell!”</p>
+
+<p>Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger
+klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb
+aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die
+Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck
+wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand,
+nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht
+gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm
+zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun
+geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den
+Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach
+ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge,
+anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war
+ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den
+Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage
+anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und
+wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich
+mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu
+irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt
+meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage
+sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig
+entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen
+Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie
+möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das
+Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände,
+über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben
+werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß
+nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und
+daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders
+der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt
+hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich
+nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes
+Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die
+Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik,
+noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich
+ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir,
+mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der
+Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns
+erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er
+versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher,
+so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat
+mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er
+keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere
+verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere
+verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst
+wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch
+Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des
+Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder
+gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant
+und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf
+der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen
+Vorwurf zu machen.</p>
+
+<p>Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht.
+Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß
+die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und
+daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher
+aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die
+Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern
+vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten
+hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu
+zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals
+wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die
+es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie
+gelöst. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap05"></a>V.<br/>
+Im Abgrunde.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die
+schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist. Es liegt mir
+in der schreibenden Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung jene
+psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung zu geben, welche am
+besten geeignet wäre, das, was damals in mir vorgegangen ist, für den Fachmann
+begreiflich zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen
+Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine Bücher gelesen werden, und
+habe mich also aller Versuche, Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde
+infolge dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen bildlichen
+Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der nicht allgemein verständlich ist.
+</p>
+
+<p>Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie ein
+Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter
+dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach
+zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur
+äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer
+Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es
+grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung
+verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, ob ich
+Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein Rechtsmittel
+ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß nur
+noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, zwei
+andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. Man
+schien mich also für ungefährlich zu halten, sonst
+hätte man mich nicht mit Personen zusammengesperrt, die noch
+nicht abgeurteilt waren. Der Eine war ein Bankbeamter, der Andere
+ein Hotelier. Weshalb sie in Untersuchung saßen, das
+kümmerte mich nicht. Sie zeigten sich lieb zu mir und gaben
+sich Mühe, mich aus dem Zustande innerlicher Versteinerung,
+in dem ich mich befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich
+verließ die Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben
+Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging
+heim, zu den Eltern.</p>
+
+<p>Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter noch
+den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe zu machen. Und das
+war geradezu entsetzlich! Als ich damals in meinem kindlichen
+Unverstand nach Spanien wollte und Vater mich heimholte, hatte
+ich mir vorgenommen, ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu
+betrüben, und es war so ganz anders und so viel schlimmer
+gekommen! Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir
+nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun
+da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht erst
+seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für
+immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende die Ideale
+lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug.
+Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am
+Großen, Schönen, Edlen mich emporarbeiten aus der
+jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen
+lernen, und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! Und am
+Schlusse dieses schweren, arbeitsreichen Lebens für die
+andere Bühne schreiben, für das Theater, um dort die
+Rätsel zu lösen, die mich schon seit frühester
+Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar fühlte, aber
+noch lange, lange, lange nicht begriff!</p>
+
+<p>Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang
+war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich
+aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das
+strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige
+freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige
+Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie
+hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur
+auf die Seele, nicht auch auf den Geist. Ich war seelenkrank,
+aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu
+jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen
+Aufgabe. Ich hatte den schärfsten Einblick in alles, was
+außer mir lag; aber sobald es sich mir näherte, um zu
+mir in Beziehung zu treten, hörte diese Einsicht auf. Ich
+war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu
+verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen
+kam ein Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu
+wissen, was ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten
+bis zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich
+ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem Buche gelesen
+hatte. Und ich war mir dieses seelischen Zustandes geistig sehr
+wohl bewußt, besaß aber nicht die Macht, ihn zu
+ändern oder gar zu überwinden. Es bildete sich bei mir
+das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei,
+sondern eine gespaltene Persönlichkeit, ganz dem neuen
+Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der
+Mensch. In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde
+Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch
+sehr genau voneinander unterschieden.</p>
+
+<p>Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das
+Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es
+steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es besaß
+große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte alle seine
+Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets nur in der Ferne. Es
+glich einer Fee, einem Engel, einer jener reinen,
+beglückenden Gestalten aus Großmutters
+Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte, wenn
+ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam war. Die
+dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern
+seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal,
+häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster
+und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich
+sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich
+hörte sie auch; sie sprach. Sie sprach oft ganze Tage und
+ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie
+das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich
+war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst
+jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie einmal
+still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt und aufmerksam
+zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut und so bekannt vor,
+als ob ich sie schon tausendmal gesehen hätte. Dann
+wechselte ihre Gestalt, und es wechselte auch ihr Gesicht. Bald
+stammte sie aus Batzendorf, aus dem Kegelschub oder aus der
+Lügenschmiede. Heut sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini,
+morgen wie der Raubritter Kuno von der Eulenburg und
+übermorgen wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem
+Talgpapiere stand.</p>
+
+<p>Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit einem Male,
+sondern nach und nach. Es vergingen viele, viele Monate, bis sie
+sich in mir so weit entwickelt hatten, daß ich sie mit dem
+geistigen Auge fassen und durch das Gedächtnis festhalten
+konnte. Und da begann ich zu begreifen, um was es sich eigentlich
+handelte. Was sich in jedem Menschen vollzieht, ohne daß er
+es bemerkt oder auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich
+es sah und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade?
+Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig,
+sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese
+Beobachtungen mit einer Objektivität und
+Kaltblütigkeit, als ob es sich nicht um mich selbst, sondern
+um einen ganz anderen, mir vollständig fremden Menschen
+handle. Und ich lebte das gewöhnliche, alltägliche
+Leben ganz so, wie jede gesunde Person es lebt, die von
+derartigen psychologischen Vorgängen nicht angefochten wird.
+Es kehrte mir die Kraft und der Wille zum Leben zurück. Ich
+arbeitete. Ich gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich
+dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine
+Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, einzuüben
+und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder dieser
+Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, mit dem ich
+öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. Und ich
+begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann
+„Erzgebirgische Dorfgeschichten”. Ich hatte nicht die geringste
+Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind
+äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen
+gingen aus einer Zeitung in die andere. Es war eine Freude, zu
+sehen, wie sich das so vortrefflich entwickelte. Aber diese
+Freude wurde in der grausamsten Weise durch eine andere
+Entwicklung vergällt, die sich zu gleicher Zeit und dem
+konform in meinem Innern vollzog. Die Spaltung dort griff weiter
+um sich. Jede Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen
+zu wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen,
+mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten.
+Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören.
+Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher außer mir
+selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die helle und die
+dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen. Und je länger
+es dauerte, daß sie sich von einander unterschieden, um so
+deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften da zwei einander
+feindliche Heerlager gegen einander: Großmutters helle,
+lichte Bibel- und Märchengestalten gegen die schmutzigen
+Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner
+Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die übererbten
+Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren wurde, gegen die
+beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. Die
+Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit gegen die
+reinen, beseligenden Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich
+in die Zukunft schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das
+Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen
+die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um
+zum Edelmenschen zu werden.</p>
+
+<p>Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, der
+vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es Gedanken und
+Empfindungen, die gegeneinander streiten. Bei mir aber hatten
+diese Gedanken und Regungen sich zu sichtbaren und hörbaren
+Gestalten verdichtet. Ich sah sie bei geschlossenen Augen, und
+ich hörte sie, bei Tag und bei Nacht; sie störten mich
+aus der Arbeit; sie weckten mich aus dem Schlafe. Die dunklen
+waren mächtiger als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit
+gab es keinen Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte
+Ruhe in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu
+arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede wollte
+die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam es sehr auf das
+Thema an, welches ich behandelte. Gegen eine lustige Humoreske
+hatte niemand etwas. Die konnte ich ohne Streit und Störung
+vollenden. Bei einer ernsten Dorfgeschichte aber erhoben sich
+zahlreiche Stimmen für und gegen mich. In diesen
+Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß
+Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genauso
+straft, wie man sündigt. Hiergegen empörten sich
+gewisse Gestalten in mir. Den größten Widerstand aber
+fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten oder meiner Lektüre
+noch höhere Linien bestieg. Wenn ich mir ein religiös
+oder ethisch oder ästhetisch hohes Thema stellte,
+empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit aller Macht
+dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz unaussprechlich sind.
+Um zu zeigen, in welcher Weise das vor sich ging und was für
+Qualen das waren, will ich ein erläuterndes Beispiel
+bringen: Ich hatte den Auftrag erhalten, eine Parodie von „des
+Sängers Fluch” von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die
+Parodie bekam den Titel „des Schneiders Fluch”. Ein Schneider
+verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen
+und winziges Gärtchen, in dem nur zwei
+Stachelbeerbüsche standen. Bei der Verfluchung des
+Häuschens kam es zu folgenden Zeilen:</p>
+
+<p class="poem">
+„Die Hypotheken lauern<br/>
+    Schon heut auf euern Sturz.<br/>
+Ihr hörts, verruchte Mauern,<br/>
+    Ich mach’ es mit euch kurz!”
+</p>
+
+<p class="noindent">Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich
+dabei gestört zu sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht
+die geringste Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt
+verschwand; sie trauerte, denn mein Können reichte zu
+Besserem und Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein
+Lehrgedicht zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende
+Strophen gegenwärtig sind:</p>
+
+<p class="poem">
+„Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,<br/>
+    Das euer Heiland euch gelehrt<br/>
+Und es in euren eig’nen Landen<br/>
+    Befolgt und mit Gehorsam ehrt,<br/>
+Dann einet sich zu einem Strome<br/>
+    Die Menschheit all von nah und fern<br/>
+Und kniet anbetend in dem Dome<br/>
+    Der Schöpfung vor dem einen Herrn.<br/>
+Dann wird der Glaube triumphieren,<br/>
+    Der einen Gott und Vater kennt;<br/>
+Die Namen sinken, und es führen<br/>
+    Die Wege all zum Firmament.”
+</p>
+
+<p>Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu diesem
+hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat eine seltene
+Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln der lichten
+Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken eilten herbei, um
+von mir aufgenommen zu werden. Ich griff zur Feder. Da aber war
+es plötzlich, als ob ein schwarzer Vorhang in mir
+niederfalle. Die Klarheit war vorüber; die lichte Gestalt
+verschwand; die dunkle tauchte auf, höhnisch lachend, und
+überall, durch mein ganzes inneres Wesen, erscholl es wie
+mit hundert Stimmen „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch,
+des Schneiders Fluch u. s. w.!” So klang es stunden- und
+stundenlang in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die
+geringste Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern
+wirklich, wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir,
+sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich
+gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch war
+das, solange ich die Feder in der Hand hielt und zum Schreiben
+sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich aufstand, klangen sie
+fort, und nur als mir der Gedanke kam, auf das Lehrgedicht zu
+verzichten, trat augenblicklich Schweigen ein. Da ich aber mein
+Versprechen, es anzufertigen, halten mußte, so griff ich
+bald wieder zur Feder. Sofort erklang der Stimmenchor von neuem
+„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!” und als ich
+trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte,
+kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu „Die Hypotheken
+lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte Mauern,
+ihr hörts, verruchte Mauern!” Das ging den ganzen Tag und
+die ganze Nacht hindurch und auch dann noch immer weiter. Kein
+anderer Mensch sah und hörte es; Niemand ahnte, was und wie
+furchtbar ich litt. Jeder Andere hätte das als Wahnsinn
+bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und
+beobachtete mich. Ich setzte es trotz aller Gegenwehr durch,
+daß mein Gedicht zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber
+derartige Siege hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach
+dann innerlich zusammen.</p>
+
+<p>Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung
+meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und
+Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch auf
+meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun. Es war,
+als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs Wochen lang
+eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge unsichtbarer
+Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, die es nun als
+ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir einzunisten und mich
+ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich sah sie nicht; ich sah nur die
+finstere, höhnische Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf
+und den Hohensteiner Schundromanen; aber sie sprachen auf mich
+ein; sie beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen
+sträubte, so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und
+so zu ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand
+verlor. Die Hauptsache war, daß ich mich rächen
+sollte, rächen an dem Eigentümer jener Uhr, der mich
+angezeigt hatte, nur um mich aus seiner Wohnung loszuwerden,
+rächen an der Polizei, rächen an dem Richter,
+rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an
+jedermann! Ich war ein Mustermensch, weiß, rein und
+unschuldig wie ein Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine
+Zukunft, um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß
+ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein
+Verbrecher.</p>
+
+<p>Das war es, was die Versucher in meinem Innern von mir
+forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte, so weit meine
+Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich damals schrieb,
+besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng
+gesetzliche, eine königstreue Tendenz. Das tat ich, nicht
+nur andern sondern auch mir selbst zur Stütze. Aber wie
+schwer, wie unendlich schwer ist mir das geworden! Wenn ich nicht
+tat, was diese lauten Stimmen in mir verlangten, wurde ich von
+ihnen mit Hohngelächter, mit Flüchen und
+Verwünschungen überschüttet, nicht nur
+stundenlang, sondern halbe Tage und ganze Nächte lang. Ich
+bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und
+hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen. Es hat
+mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat
+fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es
+zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand erfuhr, was
+in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich
+kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch
+eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein
+fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden,
+sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt.
+Ob irgend Jemand an meiner Stelle das ausgehalten hätte,
+daß weiß ich nicht, ich glaube es aber kaum. Ich war
+sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar
+ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder
+und müder. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze
+Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da
+wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In
+solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig
+verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es
+ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes
+tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie
+im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens
+Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der
+tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben.
+Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin
+mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der
+ich gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin
+mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen
+habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich
+habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn
+für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz
+unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann.
+Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar
+nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich
+auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich habe bis
+jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre Gefängnis
+betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber in den
+Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber gewesen. Doch
+das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß der Abgrund nicht
+vergeblich für mich offengestanden hatte. Ich war
+hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis Zwickau
+eingeliefert.</p>
+
+<p>Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite, habe
+ich mich gegen einige Vorurteile und falsche Anschauungen zu
+wenden, die sich gegen Alles, was mit dem Strafvollzug
+zusammenhängt, richten und mit denen nun doch endlich einmal
+aufgeräumt werden sollte. Ich habe manchen gebildeten
+Mitgefangenen in begreiflicher, aber unberechtigter Erbitterung
+drohen hören, daß er nach seiner Entlassung ein Buch
+über seine Gefangenschaft schreiben werde, um die ebenso
+schweren wie unzähligen Mängel unserer Rechtspflege und
+unseres Strafvollzuges aufzudecken. Ein verständiger Mann
+lächelt über solche Drohungen, die zwar ausgesprochen,
+aber nur höchst selten ausgeführt werden. Jeder
+entlassene Gefangene, der Ehrgefühl besitzt, ist froh, die
+Zeit der Strafe hinter sich zu haben. Es fällt ihm nicht
+ein, das, was bisher doch nur wenige wußten, nun, da es
+überstanden ist, an die volle Oeffentlichkeit zu bringen. Er
+schweigt also. Und das ist gut, weil sein Buch, wenn er es
+schriebe, gewiß beweisen würde, daß unter
+tausend Gefangenen kaum einer ist, der über sich und seine
+Bestrafung unbefangen und sachgemäß zu urteilen
+vermag. Ich aber glaube, mich zu dieser Sachlichkeit und
+Unbefangenheit emporgearbeitet zu haben; ich halte mein Urteil
+für wohlerwogen und richtig und fühle mich
+verpflichtet, hier folgende Punkte festzustellen:</p>
+
+<p>Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als
+„Verbrecherschulen” bezeichnet werden durften, sind längst
+vorüber. In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger
+moralisch und nicht weniger human als in der Freiheit zu.</p>
+
+<p>Das, was man einst als „Verbrecherwelt” brandmarkte, gibt es
+nicht mehr. Die Bewohnerschaft der heutigen Strafhäuser
+rekrutiert sich aus allen Ständen des Volkes. Sie setzt sich
+in Beziehung auf Beruf und Intelligenz aus denselben
+Prozentsätzen zusammen wie die der „Unbestraften”.</p>
+
+<p>An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. Sie
+hat ihn um ihrer selbst willen zu „ent”-schuldigen.</p>
+
+<p>Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses Satzes
+wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter kennen
+gelernt, auch unter denen, welche gegen mich entschieden, dem ich
+einen Vorwurf machen könnte. Die zahlreichen Prozesse, zu
+denen meine Gegner mich förmlich zwingen, geben mir
+reichlich Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, und ich muß
+sagen, daß ich alle diese Herren, sowohl Straf- als auch
+Zivilrichter, nur hochachten kann. Ich habe sogar den Fall
+erlebt, daß ein Dresdener Richter mir recht gab, obwohl
+alle seine Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in
+diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung und welch
+ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand dies erweckt, das
+weiß nur der, der Gleiches wie ich erlebte.</p>
+
+<p>In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe
+auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft nicht
+einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher kennen gelernt, der mir
+in Beziehung auf Gerechtigkeit und Humanität Grund zu irgend
+einem Tadel gegeben hätte. Ich behaupte sogar, daß die
+Aufseher die Strenge des Dienstes viel stärker empfinden als
+der Gefangene selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte,
+eine Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich
+gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und
+kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in
+welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen hat.
+Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies zu
+sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle mögliche
+Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, vergessen zu machen.
+Es gab Beamte, die ich herzlich lieb gewann, und ich bin
+vollständig überzeugt, daß ihre Erwiderung dieser
+meiner Zuneigung nicht etwa nur vorgetäuscht, sondern
+ehrlich und aufrichtig war.</p>
+
+<p>Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres
+Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns
+wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch
+nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die Ursachen
+sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der
+Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten
+Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu
+tief eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch in
+unserer sogenannten, hochgepriesenen „Kriminalpsychologie”, an
+welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht aber der wirkliche
+Menschenkenner und noch viel weniger der, um den es sich hier
+eigentlich handelt, nämlich der sogenannte -- -- --
+Verbrecher.</p>
+
+<p>Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue Straftaten
+und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst
+alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser
+einzudämmen und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll
+ich sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der
+letzten, der „Kriminalpsychologie”, beginnen, so liegen vor mir
+mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst
+strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen
+dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der Herren
+Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet sich durch seine
+zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung und den Strafvollzug
+in mildere, humanere Bahnen zu lenken. Er hat sich dadurch einen
+Namen gemacht. Er wird, wann und wo es sich um diese
+Humanisierung handelt, oft genannt und würde ein Segen auf
+diesem Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das
+wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der
+Humanität aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen
+Namen, denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die
+Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grade
+beachtenswert, kann er als „Seelenforscher” in fast noch
+höherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem er seine
+öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen versucht,
+läßt er sich so weit hinreißen, Personen, die
+vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden sind, nun
+aber sich in mühsam errungener, öffentlicher Stellung
+befinden, mit in seine „psychiatrischen” Betrachtungen zu
+ziehen und sie in seinen Schriften derart kenntlich zu machen,
+daß jedermann weiß, wen er meint. Von einem
+Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt, antwortete er,
+daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt sei; es gebe
+einen Paragraphen, der ihm das erlaube. Ich unterlasse es,
+kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen. Aber selbst wenn es
+wahr wäre, daß es einen solchen Paragraphen gibt, wer
+zwingt den Herrn Staatsanwalt, einen derartigen Paragraphen
+zuliebe gegen seine eigene, sonstige Humanität zu handeln
+und Menschen, die ihm nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm
+als dem Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem
+Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser Paragraph in
+Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für den Reichstag
+höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu unterwerfen.
+Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag er sich noch so hoch
+emporgearbeitet haben, durch das Gesetz gezwungen ist, es sich
+gefallen zu lassen, daß die Herren Kriminalpsychologen ihn
+öffentlich an den wissenschaftlichen Pranger stellen, so
+darf man sich gewiß nicht darüber wundern, daß
+die Kriminalistik keine Neigung zur Besserung zeigt. Ich werde im
+Verlaufe meiner Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen
+müssen.</p>
+
+<p>Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, so brauche
+ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der
+Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber
+hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen
+Anwalt in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er
+verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der arme
+Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein Ehrenmann,
+aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, den B. zu
+vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen und sich von
+ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann als Beschuldigter,
+daß die Strafakten des Klägers vorgelegt werden. Das
+geschieht. Sie werden in öffentlicher Verhandlung
+vorgelesen. A. bekommt zehn Mark Beleidigungsstrafe; B. aber ist
+in die frühere Verachtung und in das frühere Elend
+zurückgeworfen und wird nun darauf schwören, daß
+für den einmal Bestraften alle Vorsätze, sich zu
+„bessern”, nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig wird,
+ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider nicht wenige
+Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken zu dem höchst
+unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die in sachlicher Weise
+nicht zu gewinnen sind, in persönlich gehässiger,
+rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst habe
+es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer gesehen,
+daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz niemals
+beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade
+diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn
+endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen,
+durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken
+ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst
+Gesühntes wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende
+Zahl der sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in
+Wegfall kommen.</p>
+
+<p>Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des
+„lieben Nächsten” anführte, geschah mit vollstem
+Rechte. Sie ist und bleibt die Hauptursache der
+Mißstände, die hier zu besprechen sind. Ich will
+keineswegs behaupten, daß dies auf einem ethischen Mangel
+beruht. Ich meine vielmehr, es liegen alte Vorurteile vor, die
+sich so tief eingefressen haben, daß man sie gar nicht mehr
+als Vorurteile erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an
+denen niemand zu rütteln vermag. Der „Verbrecher” war
+einst vogelfrei; er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf
+ihn ein; ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er
+suche Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem
+andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und aberhundert
+Punkte, von denen aus er als minderwertiger Mensch betrachtet und
+behandelt wird, und es bedarf von seiner Seite einer
+ungewöhnlichen Seelenruhe und einer seltenen Willenskraft,
+dies immer wieder und immer weiter zu ertragen, ohne sich auf die
+alte Bahn zurückwerfen zu lassen. Die größte
+Gefahr für ihn liegt darin, daß ihm von dem lieben
+Nächsten das Ehrgefühl nach und nach abgestumpft oder
+gar getötet wird. Läßt er es so weit kommen, so
+ist er verloren, und die Kriminalistik gibt ihr entweder
+erbittertes oder vollständig gleichgültig gewordenes
+Opfer nie wieder her. Dies wird und kann gar nicht anders werden,
+so lange an dem alten, ebenso unsinnigen wie grausamen Vorurteil
+festgehalten wird, daß jeder bestrafte Mensch für die
+ganze Zeit seines Lebens als „Verbrecher” zu betrachten sei.
+Kürzlich kam in Charlottenburg der Fall vor, daß
+jemand, der vor über vierzig Jahren bestraft worden war,
+sich seitdem aber gut geführt hatte, von einem
+übelwollenden Menschen als „geborener Verbrecher”
+bezeichnet wurde. Der Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch
+dieser wurde freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen
+Menschen, der sich mit äußerster Willenskraft aus dem
+Abgrund emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt
+hat, mit brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --</p>
+
+<p>Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter
+berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der Weise zu
+tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne Leser
+es wünschen. Es ist mehr als genug, wenn man solche Dinge
+nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie zum zweitenmale zu
+erleben, indem man sie für andere niederschreibt, so besitzt
+man gewiß die Berechtigung, sich so kurz wie möglich
+zu fassen. Von dieser Berechtigung mache ich hiermit
+Gebrauch.</p>
+
+<p>Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt eine
+ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer höflich
+ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer Weise
+immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über Härte
+zu klagen haben. Was die Beschäftigung betrifft, die man
+für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube
+zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich die
+Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion
+berücksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fürsoge
+in meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nämlich ich
+versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als
+unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener das
+Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte ich nicht
+fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es mit mir eine
+ganz besondere Bewandtnis haben müsse, denn schreiben
+mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand besonderer
+Beachtung. Man gab mir andere Arbeit, und zwar die
+anständigste Handarbeit, die man hatte. Ich kam in den Saal
+der Portefeuillearbeiter und wurde Mitglied einer Riege, in
+welcher feine Geld- und Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese
+Riege bestand mit mir aus vier Personen, nämlich einem
+Kaufmann aus Prag, einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte
+war, das konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon.
+Diese drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten
+schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den
+Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle mögliche
+Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere Zeit
+so leicht wie möglich zu machen. Nie ist ein unschönes
+oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen. Unser Arbeitssaal
+faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich habe unter ihnen
+nicht einen einzigen bemerkt, dessen Verhalten an die Behauptung
+erinnert hätte, daß das Gefängnis die hohe Schule
+der Verbrecher sei. Im Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt
+bemüht, einen möglichst guten Eindruck auf seine
+Vorgesetzten und Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer
+Pläne für die Zukunft habe ich während meiner
+ganzen Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte
+irgend einer gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er,
+wenn nicht angezeigt, so doch auf das energischste
+zurückgewiesen worden.</p>
+
+<p>Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt wurde,
+dieser Visitation hieß Göhler. Ich nenne seinen Namen
+mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er hatte mich zu
+beobachten und kam, obwohl er von Psychologie nicht das geringste
+verstand, nur infolge seiner Humanität und seiner reichen
+Erfahrung meinem inneren Wesen derart auf die Spur, daß
+seine Berichte über mich, wie sich später
+herausstellte, die Wahrheit fast erreichten. Er hatte, wie wohl
+alle diese Aufseher, früher beim Militär gestanden, und
+zwar bei der Kapelle, als erster Pistonbläser. Darum war ihm
+das Musik- und Bläserkorps der Gefangenen anvertraut. Er gab
+des Sonntags in den Visitationen und Gefängnishöfen
+Konzerte, die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei
+Kirchenmusik die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu
+begleiten. Leider aber besaß weder er noch der Katechet,
+dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen
+Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten,
+für die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der
+fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren. Darum
+hatten beide Herren schon längst nach einem Gefangenen
+gesucht, der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war
+aber keiner vorhanden gewesen.</p>
+
+<p>Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner
+Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich in
+sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das vielleicht
+von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei der Direktion an
+und bekam die Erlaubnis. Dann fragte er mich, und ich sagte ganz
+selbstverständlich auch nicht nein. Ich trat in die Kapelle
+ein. Es war gerade nur das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein
+Althorn in den Händen gehabt, blies aber schon bald ganz
+wacker mit. Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich
+noch mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre
+getrieben habe und Musikstücke arrangieren könne. Er
+meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die
+Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des
+Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich
+damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neue zu
+arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen
+von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.</p>
+
+<p>Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen
+Arbeiten nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs
+von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder Gefangene pro Tag
+zu liefern hat, wenn er vermeiden will, sich Unannehmlichkeiten
+auszusetzen. Dieses Pensum ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder
+Arbeitswillige kann es liefern. Wer geschickt ist, der liefert es
+sogar in wenigen Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit
+für meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die
+ich nicht aufgab, auch als ich aus der Visitation der
+Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir
+nämlich mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu
+werden.</p>
+
+<p>Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine Zelle
+für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses
+Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, da man
+über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultate
+kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und unmittelbar neben
+dem Arbeitsraume des Inspektors desselben einquartiert. Er war
+ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr,
+dessen besonderer Schreiber ich wurde. Das war eine Stelle, die
+es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den
+psychologisch bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich
+zur Zeit meiner Einlieferung vollständig unfähig
+gewesen war, Schreiber zu sein, nun aber für fähig
+gehalten wurde, eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche
+große geistige Um- und Einsicht erforderte und die
+höchste Vertrauensstelle war, die es in der ganzen Anstalt
+gab. Mein Inspektor war nämlich neben seiner Direktion des
+Isolierhauses noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese
+seine Tätigkeit bezog sich auf die besondere Statistik
+unserer Anstalt und auf das Wesen und die Aufgaben des
+Strafvollzuges überhaupt. Er schrieb die hierauf
+bezüglichen Berichte und stand mit allen hervorragenden
+Männern des Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine
+Aufgabe war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre
+Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu
+vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. Das war
+an und für sich eine sehr schwere, anstrengende und
+scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem
+Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen und
+diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, ihnen Sprache zu
+verleihen, das war im höchsten Grade interessant, und ich
+darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr viel gelernt habe
+und daß mich diese Arbeiten in stiller, einsamer Zelle in
+Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts
+gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen
+wäre. Daß mir hierzu nur die besten und
+zuverlässigsten Unterlagen zu Gebote standen, versteht sich
+ganz von selbst. Es sind mir da ganz eigenartige Lichter
+aufgegangen. Ich habe da in die tiefsten Tiefen des
+Menschenlebens geschaut und Dinge gesehen, die andere niemals
+sehen werden, weil sie keine Augen dafür haben. Ich habe da
+erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit
+sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein
+ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die
+Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben
+nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur
+Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur
+Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir von
+größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst
+befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von denen ich
+weiter oben sprach, auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit
+ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. Sie
+kehrten zwar zurück; sie ließen sich wieder
+hören, doch in immer längern Zwischenräumen, bis
+ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für
+immer stumm geworden seien.</p>
+
+<p>Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen zu
+verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen.
+Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa nur auf
+Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren alle
+Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen,
+inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert
+und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur die Werke
+der Anstaltsbibliotheken, die mir zur Verfügung standen,
+sondern man zeigte sich auch gern bereit, mir solche von
+auswärts zugängig zu machen. Es war mir ein
+unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und Ungestörtheit
+der Zelle so viel wie möglich für mein geistiges
+Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten hatten ihre
+Freude daran, mir hierzu in jeder, den Anstaltsgesetzen nicht
+widersprechenden Weise behilflich zu sein. So verwandelte sich
+für mich die Strafzeit in eine Studienzeit, zu der mir
+größere Sammlung und größere
+Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler
+jemals in der Freiheit findet. Ich werde über diesen
+großen, unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft
+mir brachte, noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz
+besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten
+war, mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch
+den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten zu
+legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten sind, sondern
+ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes Genre bilden sollen. Doch
+ist es für jetzt nicht meine Absicht, mich über diese
+meine Studien zu verbreiten, sondern ich habe mich hier allein
+und ganz besonders mit dem Umstand zu befassen, daß die mir
+anvertraute Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit
+zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen gab, unter
+deren Einfluß meine schriftstellerische Tätigkeit sich
+zu der gestaltete, die sie geworden ist.</p>
+
+<p>Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen
+Bedürfnisse, oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der
+Volksseele kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst zu
+nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder Volksbibliothekar
+und jeder Leihbibliothekar genau dieselben Erfahrungen machen
+könne, denn das ist nicht wahr. Ein Leser in Freiheit und
+ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei
+dem Letzteren kann das Lesen geradezu zum seelischen
+Existenzbedürfnisse werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt
+sich um. Die äußere Persönlichkeit hat unter der
+Anstaltszucht ihre Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor.
+Und diese ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung
+erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich
+große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll,
+moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen der
+Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die sich beide
+aneinander versündigten. Dieses Hervortreten der innern
+Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme, in der
+Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene hat während
+seiner Detention auf alle seine leiblichen Sonderrechte zu
+verzichten. In leiblicher Beziehung ist er nicht mehr Person,
+sondern nur noch Sache, eine Nummer, die in den Büchern
+eingetragen wird und bei der man ihn auch nennt. Um so
+kräftiger, ja ungestümer tritt seine innere Gestalt,
+seine Seele hervor, um sich, ihre Rechte und Bedürfnisse
+geltend zu machen. Der Leib ist gezwungen, sich in die
+Gefängniskleidung und Gefängniskost zu fügen.
+Wehe, wenn man den Fehler begeht, den gleichen Zwang auch auf die
+Seele ausüben zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem
+Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach
+einer Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um
+sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu
+befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das
+Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im
+tiefsten Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur
+körperlich sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der
+scheinbar Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte,
+hungrige Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich
+gut im ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den
+sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen
+Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? Aus dem
+Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man beantworte diese
+Fragen, wie man will, die Hauptquelle aller Erziehung, Besserung
+und Emporhebung kann bei derartig gegebenen Verhältnissen
+nur die Bibliothek sein. Der Gefangene, der sich so führt,
+daß ihm das Lesen nicht verboten werden muß, bekommt
+pro Woche ein Buch. Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang
+die seelische Kost für den nach Nahrung Schmachtenden. Er
+darf sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er
+bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann ihm zum
+Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe sein, kann
+ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, ihn aber auch
+empören und verhärten. Einer meiner Mitgefangenen, ein
+geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre lang weiter nichts
+als alte „Frauendorfer Blätter” zu lesen bekommen,
+trockene Unterweisungen im Gartenbau, die ihn weder interessieren
+noch ihm irgendeinen Nutzen bringen konnten. Er trug es in
+steigender Erbitterung, bis ich die Bibliothek überkam <tt>[sic]</tt> und ihm Passenderes gab. Einen
+Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias Gotthelfs
+Erzählungen derart außer sich gebracht, daß er
+nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu werden. Das
+letzte, was er hatte lesen müssen, hatte den Titel gehabt
+„Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich
+umkommen.” Als ich ihm einen Band von Edmund Höfer gab, war
+er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen geschenkt
+hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister war einer
+langen Reihe von Erbauungsbüchern zum Opfer gefallen. Er
+schwor mir wütend zu, daß es schon um dieser
+Bücher willen keinen Herrgott geben könne. Er habe nur
+aus bitterer Not Bankrott gemacht; die Verfasser und Herausgeber
+dieser Schriften aber seien aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut
+bankrott und verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe
+wie er.</p>
+
+<p>Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich
+zunächst meine Bibliothek und sodann auch die
+Bedürfnisse ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit
+ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen verbunden
+und führte zu dem betrübenden Schlußresultate,
+daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten,
+nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht nur in unserer
+Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch überhaupt in der
+Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, an die
+Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund, der mich
+da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich verglich. Da
+dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner
+der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch
+ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter
+Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur
+allzu fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die
+Bewohner der Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden
+muß, damit der höhere, von oben stammende Teil unseres
+Wesens zur Geltung kommen möge? Muß nicht
+überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen
+Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch
+die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen
+Ideale, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es
+nicht die Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher
+Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der
+auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, mit
+angehöre!</p>
+
+<p>Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich zu
+Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst
+seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren. Es
+wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie weiteten
+sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich erkannte ich die
+zwar verborgenen aber doch innigen Zusammenhänge zwischen
+dem Kleinsten und dem Größten, dem Körperlichen
+und dem Seelischen, dem Leiblichen und dem Geistigen, dem
+Endlichen und dem Unendlichen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich
+begann, die lieben, alten Märchen meiner Großmutter in
+ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach
+und dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten,
+verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und
+alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor. Ich
+stellte mir vor, die verloren gegangene Menschenseele zu sein,
+die niemals wiedergefunden werden kann, wenn sie sich nicht
+selbst wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann nie hoch oben in
+Dschinnistan, sondern nur hier unten in Ardistan geschehen, im
+Erdenleid, in der Menschheitsqual, bei der Träberkost des
+verlorenen Sohnes unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie
+begann, das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen
+und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. Aber
+nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in
+jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als
+Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine Marah
+Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, der ich die
+Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da tauchte zum
+ersten Male mein Tatellah-Satah in mir auf, jener geheimnisvolle
+„Bewahrer der großen Medizin”, den meine Leser im
+dreiunddreißigsten meiner Bände kennen gelernt haben.
+Und da wurde auch der Gedanke „Winnetou” geboren.
+Wohlverstanden, nur der Gedanke, nicht aber er selbst, den ich
+erst später fand. Damals habe ich die psychologischen Werke
+der Beamtenbibliothek und alle andern, die mir zugängig
+wurden -- fast verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber
+das würde nicht wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort
+für Wort zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer
+Bedachtsamkeit in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich
+nicht allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und
+mit einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, meine
+Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu werden. Und
+als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen Wege zu befinden, da
+griff ich in meine Kinderzeit zurück und holte den alten,
+kühnen Wunsch hervor, „ein Märchenerzähler zu
+werden, wie du, Großmutter bist.” Ich befand mich ja an
+einem der größten und reichsten Fundorte alles dessen,
+was da zu erzählen war, im Gefängnisse. Da kondensiert
+und verdichtet sich alles, was draußen in der Freiheit so
+leicht und so dünn vorüberfließt, daß man
+es nicht ergreifen und noch viel weniger betrachten kann. Und da
+erheben sich die Gegensätze, die draußen sich wie auf
+ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, daß in dieser
+Vergrößerung Alles offenbar wird, was anderwärts
+in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich hatte sie vor mir
+aufgeschlagen, die anspruchsvollen, hochgelehrten Werke über
+Psychologie, besonders über Kriminalpsychologie. Fast jede
+Zeile war mir eingeprägt. Sie enthielten die Theorie, ein
+Konglomerat von Rätseln und Problemen. Die Praxis aber lag
+rund um mich her, in ebenso klarer wie erschütternder
+Aufrichtigkeit. Welch ein Unterschied zwischen beiden? Wo war die
+Wahrheit zu suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in
+der aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft ist
+wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft irrt, und das
+Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege führen über den
+Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie sich treffen. Wo diese
+Wahrheit liegt und wie sie lautet, das können wir nur ahnen.
+Es ist nur einem einzigen Auge vergönnt, sie vorauszusehen,
+und das ist das Auge des -- -- Märchens. Darum will ich
+Märchenerzähler sein, nichts Anderes als
+Märchenerzähler, ganz so, wie Großmutter es war!
+Ich brauche nur die Augen zu öffnen, so sehe ich sie
+aufgespeichert, diese Hunderte und Aberhunderte von
+fleischgewordenen Gleichnissen und nach Erlösung trachtenden
+Märchen. In jeder Zelle eins und auf jedem Arbeitsschemel
+eins. Lauter schlafende Dornröschen, die darauf warten, von
+der Barmherzigkeit und Liebe wachgeküßt zu werden.
+Lauter in Fesseln schmachtende Seelen, in alten Schlössern,
+die in Gefängnisse umgewandelt sind, oder in modernen
+Riesenbauten, in denen Humanität von Zelle zu Zelle, von
+Schemel zu Schemel geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des
+Aufwachens und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen
+Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse und
+Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit
+liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu erschauen vermag.
+Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines
+Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich getroffen
+hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich will die Strenge
+des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid
+mit allen denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und
+Barmherzigkeit, vor der es schließlich kein „Verbrechen”
+mehr und keine „Verbrecher” gibt, sondern nur Kranke, Kranke,
+Kranke.</p>
+
+<p>Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich
+erzähle, nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn
+wüßte man das, so würde ich nie erreichen, was
+ich zu erreichen gedenke. Ich muß selbst zum Märchen
+werden, ich selbst, mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine
+Kühnheit sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was
+aber liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es
+sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen
+Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksälchen eines
+verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so
+und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise, in
+der man über das „Verbrechen” denkt und spricht, nicht
+baldigst ändert!</p>
+
+<p>Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam, sich
+aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ. Er
+gewann Macht über mich; er wurde groß. Er nahm endlich
+meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb, weil er in sich die
+Erfüllung alles dessen barg, was schon von meiner Kindheit
+an Wunsch und Hoffnung in mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen
+Gedanken; ich erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn
+aus. Er hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide
+identisch. Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte
+eine lange, lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch
+schwerere Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich
+meinen Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte,
+daß an ihm nichts mehr zu ändern war. Ich nahm mir
+vor, zunächst noch weiter an meinen Humoresken und
+erzgebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen
+Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich mich
+absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege. Dann aber
+wollte ich zu einem Genre greifen, welches im allgemeinsten
+Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit
+besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen
+Erzählungen wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht
+absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse und nur
+Märchen sein, allerdings außerordentlich vielsagende
+Gleichnisse und Märchen. Trotzdem aber waren Reisen
+wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen
+Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten sich zu
+bewegen hatten. Vor allem galt es, sich tüchtig
+vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde treiben.
+Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben
+meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets
+der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich
+erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich
+mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu
+fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu
+verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen.
+In die Prärie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des
+Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des Wilden
+Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste
+Mitgefühl der Lesenden erwecken, so und nicht anders
+mußten alle meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit
+ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu
+hatte ich in allen den Ländern, die zu beschreiben waren,
+wenigstens theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein
+Europäer es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten,
+schwer und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und
+dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem
+ich lebte, grad so die richtige Stelle.</p>
+
+<p>Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische
+Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch die
+Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung gegeben. Die
+Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu beweisen; was die
+Offenbarung behauptet, wird von den Gelehrten höchstens als
+glaubhaft, nicht aber als bewiesen betrachtet. So eine himmlische
+Wahrheit steigt an den Strahlen der Sterne zur Erde nieder und
+geht von Haus zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden.
+Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein,
+aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation
+besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von
+Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen zu werden. Da
+steigt sie am Strahl der Sterne wieder himmelan und kehrt zu dem
+zurück, von dem sie ausgegangen ist. Sie klagt ihm weinend
+ihr Leid. Er aber lächelt mild und spricht: „Weine nicht!
+Geh’ wieder zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an,
+dessen Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn, dich
+in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche dann
+dein Heil noch einmal!” Sie gehorcht. Der Dichter nimmt sie
+liebend auf und kleidet sie. Sie beginnt ihren Gang als
+Märchen nun von Neuem, und wo sie anklopft, ist sie jetzt
+willkommen. Man öffnet ihr die Türen und die Herzen.
+Man lauscht mit Andacht ihren Worten; man glaubt an sie. Man
+bittet sie, zu bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber
+muß weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr
+aufgetragen worden ist. Doch geht sie nur als Märchen; als
+Wahrheit aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht
+sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle
+Folgezeiten.</p>
+
+<p>So, das ist das Märchen! Aber nicht das
+Kindermärchen, sondern das wahre, eigentliche, wirkliche
+Märchen, trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die
+höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm
+wohnenden Seele gemäß. Und einer jener Dichter, zu
+denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, wollte
+ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit des war.
+Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten. Die Wahrheit ist
+so verhaßt und das Märchen so verachtet, wie ich
+selbst es bin; wir passen zueinander. Das Märchen und ich,
+wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil
+man nicht in die Tiefe dringt. Wie man behauptet, daß das
+Märchen nur für Kinder sei, so bezeichnet man mich als
+„Jugendschriftsteller”, der nur für unerwachsene Buben
+schreibe. Kurz, ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen,
+daß ich so verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und
+Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein „Leben
+und Streben” schon an und für sich selbst einem
+Märchen, und sind es doch fast unzählige Fabeln und
+Märchen, mit denen meine Person von gegnerischer Seite
+umkleidet worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so
+glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen glaubt.
+Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich einmal zur
+Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur Wahrheit werden, und
+was man mir heut nicht glaubt, das wird man morgen glauben
+lernen.</p>
+
+<p>Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben
+beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie
+sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag. Ich
+wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser mit dem
+Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu verwickeln. Und was ich
+zu sagen hatte, das mußte ich suchen lassen; ich durfte es
+nicht offen vor die Türen legen, weil man Alles, was man so
+billig bekommt, liegen zu lassen pflegt und nur das zu
+schätzen weiß, was man sich mühsam zu erringen
+hat. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, gleich von
+vornherein anzudeuten, daß meine Reiseerzählungen
+bildlich zu nehmen seien. Man hätte mich einfach nicht
+gelesen, und Alles, was ich lösen wollte, wäre Fabel
+und Märchen geblieben. Der Leser mußte ungeahnt
+finden, was ich gab; er betrachtete es dann als wohlerrungen und
+hielt es für das Leben fest.</p>
+
+<p>Aber was war denn eigentlich das, was ich geben wollte? Das
+war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich wollte
+Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel
+lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es gewollt; ich
+habe es versucht und werde es weiter versuchen. Ob ich es
+erreiche, kann weder ich noch ein Anderer wissen. Es mag bei der
+Ausführung dann wohl mancher Fehler untergelaufen sein, denn
+ich bin ein irrender Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein
+gewesen. Ich wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur
+Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft
+worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das nicht noch
+lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man es dafür
+halten; ich aber habe an hundert und wieder hundert
+unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum in
+das Unglück geraten waren und nur darum darin stecken
+blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen der ganzen
+irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt
+worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete
+Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde und
+frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind alle Schulen
+da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis hinauf zur
+Universität, für die Seele aber keine einzige. Für
+den Geist werden Millionen Bücher geschrieben, wie viele
+für die Seele? Dem Menschengeiste werden tausend und
+abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen die, welche
+bestimmt sind, die Menschenseele zu verherrlichen? Wohlan, sage
+ich mir, so will ich es sein, der für die Seele schreibt,
+ganz nur für sie allein, mag man darüber lächeln
+oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum werden viele meine Werke
+entweder nicht oder falsch verstehen, aber das soll mich ja nicht
+hindern, zu tun, was ich mir vorgenommen habe.</p>
+
+<p>Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber ich
+wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. Ich sah um
+mich herum das tiefste Menschenelend liegen; ich war für
+mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch über uns lag die
+Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir
+emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war aber nicht allein die
+unsrige, sondern sie ist allen Menschen erteilt; nur daß
+wir, die wir um so viel tiefer lagerten als die Andern, weit mehr
+und weit mühsamer aufzusteigen hatten als sie. Aus der Tiefe
+zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern
+Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen
+müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem
+orientalischen und an einem amerikanischen. Ich teilte mir die
+Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften,
+in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt
+die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. An
+diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine Gedanken
+und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es, mich vor
+allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen und den
+Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare
+Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube an den
+„großen, guten Geist” der Andern harmonierte mit meinem
+eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In Amerika sollte
+eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal
+bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken
+hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh
+geworden. Im Westen soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der
+Savanne und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten
+Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten hat sie sich
+das Treiben der Wüste bis nach dem hohen Gipfel des Dschebel
+Marah Durimeh zu erheben. Darum beginnt mein erster Band mit dem
+Titel „durch die Wüste.” Die Hauptperson aller dieser
+Erzählungen sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein,
+ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen
+Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte
+er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara Ben Nemsi
+heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein hatte,
+verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst
+erzählend, also als „Icherzähler” dargestellt werden.
+Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische
+Imagination. Doch, wenn dieses „Ich” auch nicht selbst
+existiert, so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus
+der Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden.
+Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, also dieses
+„Ich” ist als jene große Menschheitsfrage gedacht, welche
+von Gott selbst geschaffen wurde, als er durch das Paradies ging
+um zu fragen: „Adam, d. i. Mensch, wo bist Du?” „Edelmensch,
+wo bist Du?” Ich sehe nur gefallene, niedrige Menschen!” Diese
+Menschheitsfrage ist seitdem durch alle Zeiten und alle
+Länder des Erdkreises gegangen, laut rufend und laut
+klagend, hat aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat
+Gewaltmenschen gesehen zu Millionen und Abermillionen, die
+einander bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie
+aber einen Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich
+und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder
+Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich selbst
+zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und wird die
+Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf die bis
+dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende
+Antwort erfolgt: „hier bin ich. Ich bin der erste Edelmensch,
+und Andere werden mir folgen!” So geht auch Old Shatterhand und
+so geht Kara Ben Nemsi durch die Länder, um nach
+Edelmenschen zu suchen. Und wo er keinen findet, da zeigt er
+durch sein eigenes edelmenschliches Verhalten, wie er sich ihn
+denkt. Und dieser imaginäre Old Shatterhand, dieser
+imaginäre Kara Ben Nemsi, dieses imaginäre „Ich” hat
+nicht imaginär zu bleiben, sondern sich zu realisieren, zu
+verwirklichen, und zwar in meinem Leser, der innerlich Alles
+miterlebt und darum gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich
+veredelt. In dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung
+der großen Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch,
+also der niedrige Mensch, zum Edelmenschen entwickeln
+könne.</p>
+
+<p>Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte ich gar
+wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer Gefahr
+aussetzen würde, die für mich keine geringe war. Wie
+nun, wenn man diese Imagination nicht verstand und dieses „Ich”
+also nicht begriff? Wenn man glaubte, ich meine mich selbst? Lag
+es da nicht nahe, daß ein Jeder, dem es an Intelligenz oder
+gutem Willen fehlte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu
+unterscheiden, mich als Lügner und Schwindler bezeichnen
+würde? Ja, das lag allerdings in der Möglichkeit, aber
+für wahrscheinlich hielt ich es nicht. Ich hatte dieses
+„Ich,” also diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit
+allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit im
+Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. Mein Held
+mußte die höchste Intelligenz, die tiefste
+Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in
+allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der
+Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte,
+das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn ich, wie
+ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig
+Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen,
+daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde,
+daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne.
+Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler
+sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig
+ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest
+überzeugt, trotzdem ich mit dem „Ich” mich nicht selbst
+meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können,
+daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt
+oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder
+doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es
+für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und
+vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen,
+daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar
+niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus
+seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem
+imaginären „Ich”, also von der großen
+Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme
+richtig war, wird bald die Folge zeigen.</p>
+
+<p>Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in
+orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich ganz
+selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die
+Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als
+unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich
+ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die
+Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem
+es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt,
+machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit
+will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht länger
+Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in
+meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern
+jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients
+zu erwecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man
+versichert mir heut, dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei
+Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt,
+dies zu glauben.</p>
+
+<p>Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher
+geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk,
+für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile
+desselben, für einzelne Stände, für einzelne
+Altersklassen. Vor allen Dingen nicht etwa allein für die
+Jugend! Auf diese letztere Versicherung habe ich das
+größte Gewicht und den schärfsten Ton zu legen.
+Wäre es meine Absicht gewesen, Jugendschriftsteller sein
+oder werden zu wollen, so hätte ich ganz notwendigerweise
+auf die Ausführung aller meiner Pläne und auf die
+Erreichung aller meiner Ideale für immer verzichten
+müssen. Und dies zu tun, ist mir niemals eingefallen. Zwar
+hatte ich auch an die Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur
+zeitlich die erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus
+der sich das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie
+ist es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten und
+den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern Pionieren neu
+gesichtete Terrain schnellsten Tempo’s zu besetzen. Aber wie sie
+nur einen Teil des Volkes bildet, so konnte das, was ich an sie
+zu richten hatte, auch nur ein Teil dessen sein, was ich für
+das Volk als Ganzes schrieb. Wenn ich sage, daß ich
+für das Volk schreiben wollte, so meine ich damit, für
+den Menschen überhaupt, mag er so jung oder so alt sein, wie
+er ist. Aber nicht jedes meiner Bücher ist für jeden
+Menschen. Und doch auch wieder ist es für jeden Menschen,
+aber nach und nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt,
+je nachdem er älter und erfahrener wird, je nachdem er
+fähig geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu
+begreifen. Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben
+begleiten. Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann,
+als Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer
+Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit Ueberlegung
+und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt, und zwar wahllos
+verschlingt, um den ist es vielleicht schade; auf alle Fälle
+aber ist es noch mehr schade um sie! Wer sie mißbraucht,
+der soll nicht mich oder sie, sondern sich selbst zur
+Verantwortung ziehen. Ich erinnere da an das Rauchen, an das
+Essen und Trinken. Rauchen ist ein Genuß. Essen und Trinken
+ist unerläßlich. Aber jederzeit zu rauchen, zu essen,
+zu trinken, und Alles, was einem geboten wird, zu rauchen und zu
+verzehren, würde nicht nur töricht, sondern sogar
+schädlich sein. Eine gute, interessante Lektüre soll
+man genießen, aber nicht wie ein Haifisch verschlingen! Da
+meine Bücher nur Gleichnisse und Märchen enthalten,
+versteht es sich ganz von selbst, daß man reiflich
+über sie nachdenken soll und daß sie nur in die
+Hände von Leuten gehören, die nicht nur nachdenken
+können, sondern auch nachdenken wollen.</p>
+
+<p>Als ich damals diese Gedanken erwog und meine Pläne
+faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben und
+an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch nicht
+eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als Künstler
+zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller muß doch
+zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich noch nicht
+einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern nur erst
+für einen außerhalb der Zunft herumtastenden
+Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht.
+Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende
+Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so
+hätte mir eigentlich himmelangst werden sollen, denn es
+gehörten jedenfalls mehrere arbeitsreiche, ungestörte,
+glückliche Menschenleben dazu, den vor mir liegenden Stoff
+echt literarisch, also künstlerisch zu bewältigen. Aber
+es wurde mir doch nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig
+dabei. Ich fragte mich: Muß man denn Schriftsteller sein,
+und muß man denn Künstler sein, um solche Sachen
+schreiben zu dürfen? Wer will und kann es Einem verbieten?
+Machen wir es ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen
+wir es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, was
+es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler mich als
+„Kollegen” gelten lassen würden, das mußte mir
+damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen Stolz
+besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von Kunst
+dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber diese meine
+Gedanken waren anders als diejenigen anderer Leute, besonders der
+Fachgenossen. Künstler zu sein, dünkte mich das
+Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief in meinem Herzen
+der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen, und sollte
+es erst noch in der letzten Stunde vor meinem Tode sein. Jener
+Kindheitsabend, an dem ich den „Faust” zu sehen bekam, stand
+noch unvergessen in meiner Seele, und die Vorsätze, die ich
+an ihn geschlossen hatte, besaßen noch ganz denselben
+Willen und dieselbe Macht über mich wie vorher. Für das
+Theater schreiben! Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt
+wird, wie der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem
+Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des niedern
+Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße. Um so
+Etwas schreiben zu können, muß man Künstler sein,
+und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich nur da als
+Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes als das, was die heutige
+Kritik als Kunst bezeichnet, und so blieb mir weiter nichts
+übrig, als alle meine Wünsche, die sich darauf bezogen,
+als Literat ein Künstler, und zwar ein wahrer, wertvoller
+Künstler sein zu dürfen, für lange, lange Jahre
+zurückzustellen und bis dahin zu bleiben, was ich eben war,
+nämlich ein unzünftiger Anfänger, der nicht die
+geringste Prätentien <tt>[sic]</tt>
+besaß, ein Zunftgenosse zu werden. Wie ich stets, seitdem
+ich lebte, abgesondert und einsam gestanden hatte, so war ich
+schon damals überzeugt, daß auch mein Weg als Literat
+ein einsamer sein und bleiben werde, so weit mein Leben reiche.
+Was ich suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was
+ich wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen
+vollständig Fernliegendes. Und was ich für richtig
+hielt, das war höchst wahrscheinlich für andere Leute
+das Falsche. Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es
+mir nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren
+Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf Kunst war
+ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die andern
+recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt mich
+mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach vollendeter Reife,
+ein großes, schönes Dichterwerk zu schaffen, eine
+Symphonie erlösender Gedanken, in der ich mich erkühne,
+Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen, Glück aus
+meinem Unglück, Freude aus meiner Qual. Dies für
+später, wenn mir der Tod einst seinen ersten Wink erteilt.
+Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu lernen und auf
+dieses Werk vorzubereiten, damit es nicht mißlinge. Jetzt
+Märchen und Gleichnisse geben, um dann am Schlusse des
+Lebens aus ihnen die Wahrheit und die Wirklichkeit zu ziehen und
+auf die Bühne zu bringen!</p>
+
+<p>Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke wie
+z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern lange
+Erzählungen, in denen viele Personen handelnd auftreten. Und
+ihre Zahl ist groß; sie sollen eine ganze Reihe von
+Bänden füllen und das Material für jene
+spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine
+Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine
+sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur
+Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an welche
+nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur für
+ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will und darf kein
+kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern meine Aufgabe ist, aus
+hochgelegenen Marmor und Alabasterbrüchen die Blöcke
+für spätere Kunstwerke zu brechen, deren Form ich
+höchstens andeuten kann, weil mir die Zeit zur
+Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese Andeutung
+gebe ich eben in Märchen, die meinen erzählenden
+Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte bilden, um welche
+sich das Interesse des Lesers konzentriert. Die
+künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen
+Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine
+Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar
+Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, schlichten Arm-
+oder Fußringen der Araberinnen zu gleichen, die weiter
+nichts sein sollen, als eben nur silberne Ringe. Der Wert liegt
+im Metall, nicht in der Arbeit. Der Maler, welcher flüchtige
+Skizzen zeichnet, um ein großes Gemälde vorzubereiten,
+würde sich gewiß über den Kritiker verwundern,
+der an diese Skizzen denselben Maßstab legen wollte, den er
+dann später an das Gemälde zu legen hat.</p>
+
+<p>Soviel über die Pläne, welche damals in mir
+entstanden und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf den
+heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie kamen nicht
+in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam, einer nach dem
+andern. Und sie reiften nicht eilig aus, sondern es dauerte
+monate- und jahrelang, ehe ich mir von dem einen Punkt bis zum
+nächsten klar geworden war. Ich hatte aber auch genugsam
+Zeit dazu. Ich legte mir eine Art von Buchhaltung über diese
+Pläne und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig
+aufgehoben und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde in
+seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. Ich
+stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den Inhalt
+aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. Ich bin
+zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen gegangen, aber
+es hat mir doch viel genützt, und ich zehre noch heut von
+Sujets, die schon damals in mir entstanden. Auch schriftstellerte
+ich fleißig; ich schrieb Manuskripte, um gleich nach meiner
+Entlassung möglichst viel Stoff zur Veröffentlichung zu
+haben. Kurz, ich war begeistert für mein Vorhaben und
+fühlte mich, obgleich ich Gefangener war, unendlich
+glücklich in der Aussicht auf eine Zukunft, die, wie ich
+wohl hoffen durfte, keine ganz gewöhnliche zu werden
+versprach.</p>
+
+<p>Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden
+zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für alles Leid
+entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene Gabe: Ich
+wurde begnadigt. Die Direktion hatte für mich ein
+Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein volles Jahr meiner
+Strafzeit erlassen bekam. Ich stand in der ersten
+Disziplinarklasse und erhielt ein Vertrauenszeugnis ausgestellt,
+welches mir den Rückweg in das Leben glättete und mich
+aller polizeilichen Scherereien überhob. Der Kenner
+weiß, was das bedeutet!</p>
+
+<p>Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt
+verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen
+Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach Hause geschrieben, um die
+Meinigen von meiner Heimkehr zu benachrichtigen. Wie freute ich
+mich auf das Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich
+nicht zu haben; dies war ja schon längst durch Briefe
+geordnet. Ich wußte, daß ich willkommen sei und
+daß man mir mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten
+freute ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich
+gegrämt und gehärmt haben! Und wie gern würde sie
+mir ihre alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie
+entzückt würde sie über meine Pläne sein! Wie
+sehr würde sie mir helfen, sie auszudenken und so tief wie
+möglich auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach
+Ernsttal, also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe
+gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es
+läßt sich denken, was für Gedanken mich auf
+diesem Weg begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem
+Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges
+zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten!
+Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für
+deren Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr
+zu leisten vermag? Das „Märchen von Sitara” tauchte vor
+mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen,
+wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend
+zu schleudern, so daß sie verloren gehen? Alles
+Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem
+Untergange geweiht. Gilt das auch mir?</p>
+
+<p>Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr ich
+mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von dort aus
+böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe Zuversicht schien
+mich verlassen zu wollen; ich mußte mir Mühe geben,
+sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe aus schaute ich
+über das Städtchen hin. Da schlängelten sich vor
+meinen Augen die Wege, die ich damals so oft gegangen war, in
+heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen inneren Stimmen
+liegend, die mir Tag und Nacht hindurch in einem fort die Worte
+„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
+Fluch” zuriefen. Und was war das? Indem ich hieran dachte,
+hörte ich ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz
+deutlich, wie erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu
+nähern, „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des
+Schneiders Fluch!” Sollte und wollte sich das etwa wiederholen?
+Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte von
+dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die Höhe
+hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, nach Hause,
+nach Hause!</p>
+
+<p>Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern wohnten
+noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg die Treppe empor
+und dann gleich noch eine zweite hinauf nach dem Bodenraume, wo
+Großmutter sich immer am liebsten aufgehalten hatte. Ich
+wollte zunächst zu ihr und dann erst zu Vater, Mutter und
+Geschwistern. Da sah ich die wenigen Sachen, die sie besessen
+hatte; sie selbst aber war nicht da. Da stand ihre Lade, mit
+blauen und gelben Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der
+Schlüssel abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war
+leer. Ich eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die
+Eltern. Die Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie
+hatten gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar
+nicht und fragte, wo Großmutter sei. „Tot -- -- --
+gestorben!” lautete die Antwort. „Wann?” „Schon voriges
+Jahr.” Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den
+Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir verschwiegen, um
+mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft nicht noch zu
+erschweren. Das war ja recht gut gedacht; nun aber traf es mich
+um so wuchtiger. Sie war nicht eigentlich krank gewesen; sie war
+nur so hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!</p>
+
+<p>Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die
+Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir
+später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige
+einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des
+Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu.
+Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich
+gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den
+Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz
+verbergen. Ich wollte nur von Großmutter wissen, jetzt
+weiter nichts, und man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von
+mir gesprochen, aber niemals ein Wort, welches mich hätte
+kränken müssen, wenn ich dabeigewesen wäre. Und
+sie hatte nie geklagt oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun
+wisse sie, daß ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer
+Geburt zur falschen Stelle geschleudert werden, um dort
+vernichtet zu werden. Nun sei sie überzeugt, daß ich
+durch die Geisterschmiede müsse, um alle irdischen Qualen
+über mich ergehen zu lassen. Aber sie wisse, ich werde nicht
+schreien, ich werde tragen, was zu tragen ist, und mir den Weg
+nach Dschinistan <tt>[sic]</tt>
+erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto
+ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt
+und desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An
+einem der letzten Tage erzählte sie, daß der
+längst verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen
+sei. Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser
+stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel
+die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, aber nicht
+in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, welches sie
+noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, sei der Herr Kantor
+erschienen. Er haben genauso ausgesehn wie damals, als er noch
+lebte. Er sei langsam bis an ihr Bett gekommen, habe sie
+freundlich lächelnd gegrüßt, wie es immer seine
+Art und Weise war, und dann gesagt, daß sie sich ja nicht
+um mich sorgen solle; ich könne wohl stürzen wie jeder
+Andere, nicht aber liegen bleiben; es werde mir zwar schwer
+gemacht, doch erreiche ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten
+nickte er ihr wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie
+er gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie
+schloß sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde
+wieder dunkel.</p>
+
+<p>Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob ein
+Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes auf ihrem
+Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch noch dann
+darauf, als sie die Augen geschlossen hatte und nicht mehr
+atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein friedlicher, ein seliger
+gewesen; mir aber war gar nicht friedlich und gar nicht selig zu
+Mute, als man mir von ihm erzählte. Es tauchten
+Vorwürfe in mir auf, aber keine Vorwürfe, die nur
+Gedanken sind, wie bei andern Leuten, die nicht von derselben
+Veranlagung sind wie ich, sondern Vorwürfe viel
+wesentlicherer, viel kompakterer Art. Ich sah sie in mir kommen,
+und ich hörte, was sie sagten, jedes Wort, ja wirklich,
+jedes Wort! Das waren nicht Gedanken, sondern Gestalten,
+wirkliche Wesen, die nicht die geringste Identität mit mir
+zu besitzen schienen und doch identisch waren. Welch ein
+Rätsel! Aber welch ein ungewöhnliches, furchtbar
+beängstigendes Rätsel! Sie glichen jenen in mir
+schreienden, dunkeln Gestalten von früher her, mit denen ich
+-- -- -- mein Gott, kaum hatte ich an sie gedacht, so waren sie
+wieder da, ganz so, wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in
+meinem Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre
+Stimmen so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an
+Stelle der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie
+blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir schlafen.
+Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht
+schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere
+Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten,
+die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht
+entdecken konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie
+schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner
+Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. Und
+doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, weil
+das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von meinem Willen
+war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Der vor
+mir liegende Teil meines Lebens sollte ein ganz anderer sein, als
+der, welcher hinter mir lag. Diese Stimmen aber waren
+bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit
+zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß
+ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen,
+für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit!
+Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich aber stemmte mich gegen
+sie; ich tat, als ob ich nichts, gar nichts höre. Das war
+aber selbst bei der größten Kraftaufwendung nicht
+länger als höchstens nur einige Tage lang auszuhalten.
+Indessen besuchte ich einige Verleger, um mit ihnen über die
+Herausgabe der im Gefängnisse geschriebenen Manuskripte zu
+verhandeln. Hierbei stellte es sich heraus, daß
+während dieser meiner Abwesenheit die inneren Stimmen um so
+mehr verstummten, je weiter ich mich von der Heimat entfernte,
+und wieder um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder
+näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort
+seßhaft seien und nur dann über mich herfallen
+könnten, wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort
+einzufinden. Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich
+kassierte meine Honorare ein und machte eine längere
+Auslandsreise. Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses Werkes
+zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren Ergebnissen
+ein größerer Raum gewidmet werden soll, als ich ihnen
+hier gewähren könnte. Während dieser Reise
+verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde
+vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein
+ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat
+zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker
+Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark,
+daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. Ich
+kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich Alles,
+was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen
+begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl,
+an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar
+dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich
+fühlte, daß ich, falls ich diesem Befehle Gehorsam
+leiste, ein höchst gefährlicher Mensch sein werde, und
+nahm alle mir gegebene Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche
+Schicksal anzukämpfen.</p>
+
+<p>Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren,
+daß ich meinen Zustand keineswegs für pathologisch
+hielt. Alle meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl
+körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es
+gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser Beziehung mir
+angeheftet hatte, das war gewiß nicht von innen heraus
+erzeugt, sondern von außen her an mich herangetreten. Ich
+arbeitete fleißig, fast Tag und Nacht, wie ich
+überhaupt an der Arbeit stets meine größte Freude
+gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. Ich litt also
+keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern wohnte, die sich jetzt
+auch besser standen als früher. Ich hätte
+vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts
+verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was ich
+schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas
+Gewöhnliches schrieb, stellte sich nicht die geringste
+Hinderung ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema
+stellte, eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere
+Aufgabe, wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen
+empörten und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande
+zu bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die
+trivialsten, blödesten oder gar verbotensten Gedanken
+dazwischenwarfen. Ich sollte nicht empor; ich sollte unten
+bleiben. Hierzu gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter
+Hallunke, dem Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so
+schmeichelt; ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist
+mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei.
+Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, und auch
+für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, welche man
+empfinden muß, um ein Trinker zu werden. Jetzt aber
+fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, wenn
+ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause
+vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht mehr
+arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder hinzulegen und
+in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat es aber nicht. Vater tat
+es. Er konnte sein Glas einfaches Bier und sein Schnäppschen
+<tt>[sic]</tt> nicht gut entbehren. Ich
+aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das war mir nicht
+etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa schwer, o nein. Ich
+erzähle es nur des psychologischen Interesses wegen, weil es
+mir höchst sonderbar erscheint, daß dieser meiner
+ganzen Natur widersprechende und mir sonst vollständig
+fremde Durst nach Spirituosen immer nur dann auftrat, wenn jene
+Stimmen die Oberhand in mir hatten, sonst aber nie!</p>
+
+<p>Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter meine
+Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich sprach
+hierüber also mit den Eltern und Geschwistern. Vater hatte
+jetzt Anderes zu denken. Er war in einer Art sozialer Mauserung
+begriffen und darum für mich nicht zu haben, zumal er des
+Abends nie daheim blieb. Auch die Schwestern hatten andere
+Interessen. Mein ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb
+mir nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem
+Strickstrumpf still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte ihr
+so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder
+beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte
+einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein
+liebes, tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch
+sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und sie
+wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden
+möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie fest
+und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, da
+glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter sein kann,
+deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, auf die
+Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. Ich aber
+fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen
+Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte
+verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese
+Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer
+Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. Nichts war
+mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. Aber ich
+stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich
+stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen
+wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. Und mitten
+in dieser Schutzlosigkeit wurde ich nun auch von andern Feinden
+gepackt, die, obgleich sie keine inneren, sondern
+äußerliche waren, doch ebenso wenig mit den
+Händen gefaßt werden konnten.</p>
+
+<p>Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt in
+andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. Man hatte
+sie gern. Man teilte ihr Alles mit, ohne daß man sie um
+Verschwiegenheit zu bitten brauchte. Sie erfuhr Alles, was im
+Städtchen und in der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo
+einen Einbruch gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter
+war entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise
+ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich
+von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene gesetzt. Ich
+hörte gar nicht hin, als man es erzählte, bemerkte aber
+nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster als
+gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu
+sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich blieb
+anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem
+Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten; ich bat
+aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein Gerücht,
+ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher
+sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen
+Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber
+war ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es
+brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die
+Stimmen schrien mir zu: „Wehre dich, wie du willst, wir geben
+dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir zwingen dich, dich zu
+rächen! Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein
+Schurke bleiben, wenn du Ruhe haben willst!” So klang es bei
+Nacht. Wenn ich am Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts
+fertig. Ich konnte nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater
+gesagt. Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu
+nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten ja
+genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus dem
+Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles im Vertrauen
+gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum gab es keinen Punkt, an
+dem ich zugreifen konnte, mich zu wehren. Aber es kam schlimmer.
+Die heimatliche Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit
+Vertrauenszeugnis entlassen worden und darum ihrer Aufsicht
+entgangen. Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich mit mir
+zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche vor,
+deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen Intelligenz
+behaftet waren. Man glaubte, dies auf mich deuten zu müssen.
+Das war zu derselben Zeit, in der sich die schon erwähnte
+„Lügenschmiede” zu bilden begann. Neue Gerüchte
+kursierten, romantisch ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister
+erkundigte sich unter der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der
+und der Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich
+sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute
+man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein guter Kerl,
+ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt hatte und auch jetzt
+noch an mir hing. Der war sprichwörtlich unbeholfen und
+unverzeihlich aufrichtig. Er hielt grob sein für
+Menschenpflicht. Der konnte es nicht länger aushalten. Er
+kam zu mir und erzählte mir auf Handschlag und
+Schweigepflicht Alles, was gegen mich im Schwange ging. Das war
+so dumm und doch so empörend, so leichtsinnig und
+gewissenlos, so -- -- so -- -- so -- -- so -- -- -- ich fand
+keine Worte, dem armen, wohlmeinenden Menschen für seine
+schmerzhafte Aufrichtigkeit zu danken. Aber als er mein Gesicht
+sah, machte er sich so schnell wie möglich von dannen.</p>
+
+<p>Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es trieb
+mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät
+abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu
+haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn,
+fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem
+Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom
+Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; wohin,
+wohin, das beachtete ich gar nicht. Es kam mir vor, als ob die
+inneren Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir
+herliefen. Voran der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter,
+der mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von
+Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf
+die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und
+Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das verfolgte
+mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und
+jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die
+Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen
+Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte
+nicht weiter. Da hatten sie mich fest, und da ließen sie
+mich nicht wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde,
+bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern
+herunterholten. Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den
+ganzen Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen
+und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf einem
+Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden Roggenfeldern. Ein
+Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, und der Gewitterregen
+floß in Strömen herab. Ich eilte fort und kam an ein
+Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus.
+Mit der kam ich in den Wald, kroch unter die dicht bewachsenen
+Bäume und aß. Hierauf schlief ich wieder ein. Aber ich
+schlief nicht fest; ich wachte immer wieder auf. Die Stimmen
+weckten mich. Sie höhnten unaufhörlich „Du bist ein
+Vieh geworden, frissest Rüben, Rüben, Rüben!” Als
+der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe, kehrte
+in den Wald zurück und aß. Dann suchte ich mir eine
+lichte Stelle auf und ließ mich von der Sonne bescheinen,
+um trocken zu werden. Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir
+Ruhe. Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen
+Schlaf, während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite
+auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern
+gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald ein
+Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus Preziosa und
+bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser Schlaf ermüdete mich
+nur noch mehr, statt daß er mich stärkte. Ich entwand
+mich ihm, als der Abend anbrach, und verließ den Wald.
+Indem ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel
+blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein
+Feuer. Das war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich
+wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer
+zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt vorkam.
+Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte in die Glut.
+Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir. Und der Rauch,
+dieser dicke, erstickende Rauch! Der war nicht da drüben
+beim Feuer, sondern hier bei mir. Der hüllte mich ein, und
+der drang mir in die Seele. Dort ballte er sich zu Klumpen, die
+Arme und Beine und Augen und Gesichtszüge bekamen und sich
+in mir bewegten. Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst
+später, viel später klar über die Entstehung
+solcher innerer Schreckgebilde geworden. Damals war ich es noch
+nicht, und so konnten sie die entsetzliche Wirkung
+äußern, gegen welche meine auf das Aeußerste
+angespannten Nerven keine Widerstandskraft mehr besaßen.
+Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben
+zusammenfiel, als die Flammen niedriger und niedriger wurden und
+endlich erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war
+auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm. Mein
+Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel
+umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich suchte auch gar nicht
+danach. Ich wankte beim Gehen. Ich lief irr. Ich torkelte weiter,
+bis ich endlich einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die
+Straße, auf der ich mich befand, vorüberführte.
+Ich lehnte mich an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war
+wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu
+verhindern. Diese Tränen waren keine erlösenden. Sie
+brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine Augen
+zu reinigen und zu stärken. Ich sah plötzlich,
+daß es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er
+war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag; heut
+aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.</p>
+
+<p>Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, über
+den Markt hinüber und öffnete leise die Tür
+unseres Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der
+Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne
+Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht.
+Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür.
+Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres
+Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die
+Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber
+leise:</p>
+
+<p>„Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?”</p>
+
+<p>„Nein,” antwortete ich.</p>
+
+<p>„Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach
+Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man
+dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!”</p>
+
+<p>„Fort? Warum?” fragte ich.</p>
+
+<p>„Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses
+Feuer!”</p>
+
+<p>„Was ist es mit dem Feuer?”</p>
+
+<p>„Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im Walde -- -- auf
+dem Felde -- -- und gestern auch bei dem Haus, bevor es
+niederbrannte!”</p>
+
+<p>Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!</p>
+
+<p>„Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!” stotterte ich. „Glaubst du
+etwa, daß -- -- --”</p>
+
+<p>„Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater
+auch,” unterbrach sie mich. „Alle Leute sagen es!”</p>
+
+<p>Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie
+jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie
+fuhr in demselben Atem fort:</p>
+
+<p>„Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen
+Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute
+aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier
+warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht
+länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist,
+kommst du wieder!”</p>
+
+<p>Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich
+berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu
+warten. Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach
+dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und
+Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht
+etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war
+der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung
+aussah, wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!</p>
+
+<p>Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den Kleiderschrank zu
+öffnen und einen andern, saubern Anzug anzulegen. Dann bin
+ich fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im
+Stich. Ich war wieder krank wie damals. Nicht geistig, sondern
+seelisch krank. Die inneren Gestalten und Stimmen beherrschten
+mich vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene
+Zeit zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig
+Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach dieser
+Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah
+und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir
+geblieben, doch so undeutlich, daß ich nicht behaupten
+kann, was wahr daran ist und was nicht. Ich habe in jener Zeit
+jenen dunklen Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich
+beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen
+unglaublich. Man beschuldigte mich, einen Kinderwagen gestohlen
+zu haben! Wozu? Ein leeres Portemonnaie mit nur drei Pfennigen
+Inhalt! Anderes ist schon glaublicher und Einiges direkt
+erwiesen. Man hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen
+war, da transportierte man mich als „hoffentlichen Täter”
+hin. Das war eine hochinteressante Zeit für die
+Habitu<tt>é</tt>s der Ernsttaler Lügenschmiede. Da
+wurde fast täglich Neues erzählt oder Altes variiert,
+was ich begangen haben sollte. Jeder Vagabund, der in den
+Ortsbereich dieser Märchen kam, legte sich meinen Namen bei,
+um auf meine Rechnung hin zu sündigen. Das war selbst
+für einen äußerlich und innerlich Gefangenen
+zuviel. Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln
+und verschwand. Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in
+dem ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu
+berichten. Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu
+erwähnen, nämlich, daß ich seelisch um so freier
+wurde, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, daß
+mich draußen in der Ferne ein unwiderstehlicher Trieb zur
+Heimkehr packte und daß ich innerlich wieder um so freier
+wurde, je mehr ich mich der Gegend meines Geburtsortes
+näherte. Gibt es Jemand, der das zu ergründen vermag?
+Ich folgte teils jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich
+freiwillig zurück, und zwar um meiner guten Pläne und
+um meiner Zukunft willen. Hatte ich gesündigt; so hatte ich
+zu büßen; das verstand sich ganz von selbst. Und bevor
+diese Buße nicht erledigt war, konnte es für mich
+keine ersprießliche Arbeit und keine Zukunft geben. Ich
+kehrte also nach fünf Monaten wieder heim, um mich dem
+Gericht zu stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es
+richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren
+Gewalten, die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu
+tun, was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war,
+daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen
+wurde. Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die
+Strenge des Richters, der mein Urteil fällte,
+vollständig begreife. Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt
+zu begreifen, der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt
+wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, und zwar
+in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein, bei dieser
+billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben zu können
+oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm nicht mehr als Alles,
+was nötig ist, um eine solche Aufgabe auch nur
+einigermaßen zu lösen. Ich hätte gar wohl leugnen
+können, gab aber Alles, dessen man mich beschuldigte,
+glattweg zu. Das tat ich, um die Sache um jeden Preis los zu
+werden und so wenig wie möglich Zeitverlust zu erleiden.
+Dieser Advokat war unfähig, mich oder überhaupt ein
+nicht ganz alltägliches Seelenleben zu begreifen. Das Urteil
+lautete auf 4 Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So
+schwer es mir fällt, dies für die Oeffentlichkeit
+niederzuschreiben, ich kann mich nicht davon entbinden; es
+muß so sein. Nicht mich bedaure ich, sondern meine armen,
+braven Eltern und Geschwister, welch erstere mir noch im Grabe
+leid tun, daß ihr Sohn, auf den sie so große,
+vielleicht nicht ganz unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die
+unendliche Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse
+gezwungen ist, derartige Geständnisse zu machen.</p>
+
+<p>Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir
+vorgeworfen werden, hier aufzuzählen. Mein Henker, Schinder
+und Abdecker zu sein, überlasse ich jener abgrundtiefen
+Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an das Kreuz
+geschlagen und während dieser Zeit keinen Augenblick lang
+aufgehört hat, immer neue Qualen für mich zu ersinnen.
+Sie mag in diesen Fäkalienstoffen weiterwühlen, zum
+Entzücken aller jener niedern Lebewesen, denen diese Stoffe
+Lebensbedingungen sind. Und ebensowenig bin ich gewillt, mit
+dieser meiner jetzigen Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich
+habe schlicht und einfach über sie zu berichten, die
+Wahrheit zu sagen und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen
+Abgrund, der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer
+Valet zu sagen.</p>
+
+<p>Meine Strafe war schwer und lang, und der auf zwei Jahre
+Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir bei meiner
+Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. Ich war also auf
+strenge Behandlung gefaßt. Sie war ernst, aber sie tat
+nicht weh. Eine Anstaltsdirektion handelt ganz richtig, wenn sie
+sich nicht voreingenommen zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und
+wie der Eingelieferte sich fügt. Nun, ich fügte mich!
+Freilich wurde für dieses Mal auf meinen Stand keine
+Rücksicht genommen. Man teilte mich derjenigen
+Beschäftigung zu, in der grad Arbeiter gebraucht wurden. Ich
+wurde Zigarrenmacher. Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete
+es mir. Ich habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke
+noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an sie
+zurück, welche man stillen, nicht grausamen
+Leidensstätten schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie
+war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak kennen
+und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der billigsten bis zur
+teuersten. Das tägliche Pensum war nicht zu hoch gestellt.
+Es kam auf die Sorte, auf den guten Willen und auf die
+Geschicklichkeit an. Als ich einmal eingeübt war, brachte
+ich mein Pensum spielend fertig und hatte auch noch stunden- und
+halbe Tage lang übrige Zeit. Diese Zeit für mich
+verwenden zu dürfen, war mein innigster Wunsch, und der
+wurde mir eher, viel eher erfüllt, als ich es für
+möglich hielt.</p>
+
+<p>Ich betone hier ein für allemal, daß es für
+mich keinen Zufall gibt. Das weiß ein jeder meiner Leser.
+Für mich gibt es nur eine Fügung. So auch in diesem
+Falle. Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische
+und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet
+(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen
+Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der Zeit so
+mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet
+worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter
+suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen die
+Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch noch die Orgel
+übernehmen konnte. Die Direktion billigte ihm zu, sich einen
+Vertreter unter den Gefangenen zu suchen. Er tat es. Es gab eine
+ganze Anzahl bestrafter Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden
+geprüft. Warum keiner von ihnen genommen wurde, das
+weiß ich nicht. Sie waren alle länger da, als ich,
+hatten also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches
+zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war mit
+nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte der
+zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und
+hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem
+Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich, keinen
+Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der Katechet kam in
+meine Zelle, unterhielt sich eine Weile mit mir und ging dann
+fort, ohne mir etwas zu sagen. Einige Tage später kam auch
+der katholische Geistliche. Auch er entfernte sich nach kurzer
+Zeit, ohne daß er sich über den Grund seines Besuches
+äußerte. Aber am nächsten Tage wurde ich in die
+Kirche geführt, an die Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt
+und mußte spielen. Die Herren Beamten saßen unten im
+Schiff der Kirche so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war
+nur der Katechet, der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die
+Prüfung und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir
+eröffnete, daß ich zum Organisten bestellt sei und
+mich also sehr gut zu führen habe, um dieses Vertrauens
+würdig zu sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr
+viel für mich und mein Innenleben entwickelte.</p>
+
+<p>Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer katholischen
+Kirche! Das brachte mir zunächst einige Bewegungsfreiheiten
+innerhalb der Anstaltsgebäude. Man konnte mir doch keinen
+Aufseher mit an die Orgel stellen! Aber es brachte mir noch mehr,
+nämlich Achtung und diejenige Rücksichtnahme, nach der
+ich in Beziehung auf gewisse Aeußerlichkeiten strebte. Der
+Aufseher unserer Visitation war ein stiller, ernster Mann, der
+mir sehr wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich
+katholischer Organist geworden sei, kam er verwundert in meine
+Zelle, um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen
+Einlieferungsakten ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als
+evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. Da
+sah er mich groß an und sagte:</p>
+
+<p>„Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt du -- -- --
+hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!”</p>
+
+<p>Die Gefangenen werden natürlich „Du” genannt; von jetzt
+an aber sagte er „Sie”, und Andere taten ihm das nach. Das war
+eine scheinbar kleine, aber trotzdem sehr wertvolle
+Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere folgerte. Bald stellte
+sich zu meiner freudigen Ueberraschung heraus, daß mein
+Aufseher der Dirigent des Bläserkorps war. Ich erzählte
+ihm von meiner musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da
+brachte er mir schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu
+erteilen. Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war
+dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in
+meiner freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher
+ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und wir
+haben, als er später pensioniert war und nach Dresden zog,
+noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit einander
+verkehrt.</p>
+
+<p>Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur Lehrer,
+ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder
+Beziehung, human wie selten Einer und von einer so reichen
+erzieherischen, psychologischen Erfahrung, daß das, was er
+meinte, einen viel größeren Wert für mich
+besaß, als ganze Stöße von gelehrten
+Büchern. Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit
+mir. Er hielt mich für einen Protestanten und machte nicht
+den geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung einzuwirken.
+Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich zu ihm. Nie habe ich
+ihm eine Frage nach dem Katholizismus vorgelegt. Was ich da
+wissen mußte, das wußte ich bereits oder konnte es in
+anderer Weise erfahren. Mir war das schöne Verhältnis
+heilig, das nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne
+daß sich störende Gegensätze in das rein
+menschliche Wohlwollen schleichen durften. Er tat seinen
+Kirchendienst, ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die
+Religion zwischen uns vollständig unberührt und konnte
+also umso direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein
+Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen,
+und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen
+Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das Kleinste
+groß zu nehmen weiß.</p>
+
+<p>Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt lernte
+ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige Musikstücke
+bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, Musikverständnis
+zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache Katechet gab mir Nüsse
+zu knacken, die mir sehr zu schaffen machten. Was Musik
+eigentlich ist, das begann ich erst jetzt zu ahnen, und die Musik
+ist nicht etwa das allergeringste Mittel, durch welches die
+Kirche wirkt.</p>
+
+<p>Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn eine
+besondere Feststellung in Beziehung auf die Orgelbegleitung
+nötig war. Er sprach nur das Allernötigste, über
+Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat war es stets,
+als ob bei mir die Sonne zu scheinen beginne. Solche
+Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte eigentlich
+jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn der Laie ist nur
+allzusehr geneigt, die Kirche so zu betrachten und zu beurteilen,
+wie ihre Priester sich zu ihm stellen. Ueber den Unterschied
+zwischen dem protestantischen und dem katholischen Gottesdienst
+gehe ich hinweg, aber jeder vernünftige Mensch wird es
+für ganz naturgemäß und selbstverständlich
+halten, daß ich nicht vier Jahre lang an dem letzteren
+teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm beteiligt sein konnte, ohne von
+ihm beeinflußt zu werden. Wir sind doch keine Steine, von
+denen alles Weiche abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm,
+wenn der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste waren
+ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine unendliche Dankbarkeit
+für diese Wärme und diese Güte in mir, die sich
+meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf für mich hatte,
+als alles Andere gegen mich war. Ich habe sie gesegnet bis auf
+den heutigen Tag und werde sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm
+müssen doch die Menschen innerlich sein, welche behaupten,
+daß ich katholisiere! Es ist ganz unmöglich, daß
+sie die Menschenseele und die in ihr liegenden Heiligtümer
+kennen. Uebrigens habe ich über den katholischen Glauben gar
+nichts geschrieben, über den mohammedanischen aber ganze
+Bände. Der Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint
+also viel berechtigter, als der, daß ich katholisiere.
+Warum macht man mir diesen nicht? Die Madonna ist von hundert
+protestantischen Malern dargestellt und von hundert
+protestantischen Dichtern, sogar von Goethe, behandelt worden.
+Warum sagt man von diesen nicht, daß sie katholisieren? Ich
+habe der katholischen Kirche für die hochsinnige
+Gastfreundlichkeit, die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre
+lang erwies, durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich
+für meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich der
+religiösen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des Geldes
+wegen! Ich wiederhole: Wie arm müssen diese Menschen sein,
+wie unendlich arm! -- --</p>
+
+<p>Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der
+ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich
+sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben. Es stand mir jedes
+Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien brauchte.
+Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und begann dann mit
+der Ausführung derselben. Ich schrieb Manuskripte. Sobald
+eines fertig war, schickte ich es heim. Die Eltern vermittelten
+dann zwischen mir und den Verlegern. Ich schrieb diesen nicht
+direkt, weil sie jetzt noch nicht erfahren sollten, daß der
+Verfasser der Erzählungen, die sie druckten, ein Gefangener
+sei. Einer aber erfuhr es doch, weil er persönlich zu den
+Eltern kam. Das war der später noch viel zu erwähnende
+Kolportagebuchhändler H. G. Münchmeyer in Dresden. Er
+war Zimmergesell gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das
+Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In dieser
+Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal und lernte in
+einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd kennen, die er
+heiratete. Das fesselte ihn an die Gegend. Er wurde da bekannt
+und erfuhr auch von mir. Was er da Tolles hörte, schien ihm
+außerordentlich passend für seine Kolportage. Er
+suchte meinen Vater auf und machte sich vertraut mit ihm. So
+kamen ihm meine Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war
+ihm zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er
+sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und
+bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und legte das
+Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht. Er schob es
+zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich zu
+geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Münchmeyer sehr
+gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann, den er gebrauchen
+könne; er werde mich nach meiner Heimkehr aufsuchen und
+alles Nähere mit mir besprechen.</p>
+
+<p>Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest. Es
+ist für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu
+wissen, daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit,
+wie sie in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles
+gehört hatte, was hinzugelogen worden war.</p>
+
+<p>Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich Ruhe,
+vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der letzten
+vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die dunklen
+Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen
+belästigt hatten; das hatte aber nach und nach
+aufgehört und war schließlich still geworden, ohne
+sich wieder zu regen. Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf
+psychologische Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht,
+daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie
+man in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber die
+letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder
+schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der Katechet war
+derselben Meinung. Ich hatte ihm von meinen inneren Anfechtungen
+nichts erzählt, wie ich in rein persönlichen und
+familiären Dingen überhaupt nie einen Menschen zu
+meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen fiel doch ein Wort,
+welches nicht andeuten sollte, aber doch andeutete. Er wurde
+aufmerksam. Einmal kam ich im Verlauf des Gespräches darauf,
+von meinen dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu
+sprechen; aber ich tat so, als ob ich von einem Andern
+spräche, nicht von mir selbst. Da lächelte er. Er
+wußte gar wohl, wen ich meinte. Am nächsten Tage
+brachte er mir ein kleines Buch, dessen Titel lautete: „Die
+sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der
+Menschheitsspaltung überhaupt.” Ich las es. Wie
+köstlich es war! Welche Aufklärung es gab! Nun
+wußte ich auf einmal, woran ich mit mir war! Nun mochten
+sie wiederkommen, diese Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu
+fürchten! Später, als er sich das Buch wieder holte,
+dankte ich ihm, der Freude entsprechend, die ich darüber
+empfand. Da fragte er mich:</p>
+
+<p>„Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie
+erzählten?”</p>
+
+<p>„Ja,” antwortete ich.</p>
+
+<p>„Haben Sie alles verstanden?”</p>
+
+<p>„Nein, noch nicht.”</p>
+
+<p>„Dieses hier?”</p>
+
+<p>Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: „Wer an diesen
+schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor der Stelle,
+an der er geboren wurde. Er wohne niemals längere Zeit dort.
+Und vor allen Dingen, wenn er einmal heiratet, so hole er sich
+seine Frau ja nicht von diesem Orte!”</p>
+
+<p>„Nein, das verstehe ich noch nicht,” gestand ich ein.</p>
+
+<p>„Ich auch nicht,” gab er zu. „Aber denken Sie darüber
+nach!”</p>
+
+<p>Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich zu
+keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein psychologische
+Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende Lehrerin, und
+diese Erfahrung mußte ich machen, ehe ich es begriff,
+leider, leider! -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap06"></a>VI.<br/>
+Bei der Kolportage.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war ein stürmischer Frühlingstag, es
+regnete und schneite. Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht
+ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine Manuskripte gelesen und meine
+Briefe fast auswendig gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine
+Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei dieser Gelegenheit auch auf
+Münchmeyer zu sprechen und darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle.
+</p>
+
+<p>„Das wird vergeblich sein,” sagte ich. „Dieser Mann will
+Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche
+Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß
+ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man über mich faselt,
+einen Kolportageroman zusammenzuflicken, der ihm allerdings viel
+Geld einbringen, mich aber vernichten würde. Da irrt er
+sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!”</p>
+
+<p>Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt angekommen
+waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem
+nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes,
+neugebautes Haus und fragte mich:</p>
+
+<p>„Kennst du das dort?”</p>
+
+<p>„Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?”</p>
+
+<p>„Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer
+es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter sehr rasch
+verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du.
+Mutter wird es dir erzählen.”</p>
+
+<p>„O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie,
+daß sie hierüber schweigen soll!”</p>
+
+<p>Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der
+Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf
+er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre lang; er
+lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er kam schon am andern
+Vormittag und warf sich derart in die Brust, daß man es
+wirklich keinem in dieser Weise behandelten Menschen
+übelnehmen kann, wenn er dadurch rückfällig wird.
+Er behauptete, zwei Jahre lang mein Vorgesetzter zu sein, bei dem
+ich mich täglich zu melden habe. Dann zog er die
+betreffenden Gesetzesparagraphen aus der Tasche, um mir eine
+Vorlesung über meine Pflichten zu halten. Ich sagte kein
+Wort, sondern öffnete die Tür und gab ihm einen Wink,
+sich zu entfernen. Als er das nicht sofort tat, tat ich es. Ich
+ging zum Bürgermeister und machte kurzen Prozeß. Ich
+forderte einen Auslandspaß, und als mir die Auskunft wurde,
+daß dies nicht so ohne weiteres möglich sei, war ich
+schon am nächsten Tage ohne Paß unterwegs.</p>
+
+<p>Im Zuge saß ich in einem sonst leeren
+Coup<tt>é</tt>. Es ging über die Grenze. Da begann es
+plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu
+schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem
+die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte
+von Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen das
+kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber
+ließ es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht
+hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. Ich
+reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach ganz von
+selber still werden.</p>
+
+<p>Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite
+Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um nach mir zu
+fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er das Honorar und ging
+unverrichteter Sache wieder heim. Ungefähr dreiviertel Jahre
+später erschien er wieder, und zwar nicht allein, sondern
+mit seinem Bruder. Dieses Mal fand er mich daheim, denn ich war
+wieder da, um meine „Geographischen Predigten” zu schreiben und
+in Druck zu geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann
+auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut
+gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in
+Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte einen
+Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das war mir
+unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie etwas zu tun
+gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und
+weder ihn noch seine Lage kannte. Er erklärte sie mir. Er
+war ein klug berechnender, sehr beredter Mann, und sein Bruder
+sekundierte ihm in so trefflicher Weise, daß ich beide
+nicht kurzer Hand abwies, sondern sie aussprechen ließ.
+Aber als sie das getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen,
+obgleich ich es nie für möglich gehalten hätte,
+daß ich jemals zu der „Kolportage” in irgend eine
+Geschäftsbeziehung treten könne.</p>
+
+<p>Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden
+Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was er
+herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er sprach
+von einem sogenannten „Schwarzen Buch” mit lauter
+Verbrechergeschichten, von einem sogenannten „Venustempel”, der
+eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen Werken gleicher
+Art. Für heut aber handle es sich um ein Wochenblatt,
+welches er unter dem Titel „Der Beobachter an der Elbe”
+herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes sei ein aus
+Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr
+geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher
+Beziehung höchst gefährlicher Mensch. Dieser habe sich
+mit ihm überworfen, sei plötzlich aus der Redaktion
+gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein
+ganz ähnliches Blatt wie den „Beobachter an der Elbe”
+herausgeben, um ihn tot zu machen. „Wenn ich nicht sofort einen
+anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist und
+es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!” schloß
+Münchmeyer seinen Bericht.</p>
+
+<p>„Aber wie kommen Sie da grad auf mich?” erkundigte ich mich.
+„Ich bin weder Redakteur noch in irgend einer Weise
+bewährt!”</p>
+
+<p>„Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel von Ihnen
+gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre Manuskripte
+gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!”</p>
+
+<p>„Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur Kolportage
+wird mich niemand bringen!”</p>
+
+<p>„Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch Gutes mit ihr
+leisten. Was haben Sie denn vor?”</p>
+
+<p>Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; er
+begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten,
+die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom Niedrigen
+leben.</p>
+
+<p>„Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!” rief er aus.
+„Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am besten und
+schnellsten bei mir!”</p>
+
+<p>„Wieso?”</p>
+
+<p>„Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen diesen
+Freytag und sein neues Blatt damit tot!”</p>
+
+<p>„Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr
+,Beobachter an der Elbe’ nicht gefällt? Ich kenne ihn ja
+nicht.”</p>
+
+<p>„So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein neues
+Blatt an seiner Stelle!”</p>
+
+<p>„Was für eines?”</p>
+
+<p>„Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke
+paßt!”</p>
+
+<p>Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon
+mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne
+ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch weitere
+Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht machte, auf
+seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine eigenen
+Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet die
+prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die
+Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher
+Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte
+für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde mir
+wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den <tt>[sic]</tt> Münchmeyer mir zahlen konnte,
+war zwar nicht bedeutend, aber es flossen mir ja außerdem
+derartige Honorare zu, daß ich ihn eigentlich gar nicht
+brauchte. Und ich war gar nicht gebunden. Er bot mir
+vierteljährige Kündigung an. Ich konnte also alle drei
+Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.</p>
+
+<p>„Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!” forderte er mich auf,
+indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.</p>
+
+<p>„Wann hätte ich anzutreten?” fragte ich.</p>
+
+<p>„Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag
+darf uns nicht vorauskommen.”</p>
+
+<p>„Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!”</p>
+
+<p>„Ich weiß Alles. Das tut aber nichts.”</p>
+
+<p>„Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!”</p>
+
+<p>„Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut nichts.
+Grad weil dies so ist, sind Sie mir der Allerliebste! Schlagen
+Sie ein!”</p>
+
+<p>Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand hin;
+Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab ich ihm den
+Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.</p>
+
+<p>Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein
+möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald
+mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur Verfügung, und ich
+kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand den Verlag ganz ungemein
+häßlich. Das „Schwarze Buch” war geradezu
+empörend verbrecherisch. Der „Venustempel” zeigte sich als
+ein scheußliches, auf die niedrigste Sinnenlust berechnetes
+Unternehmen mit zotenhaften Beschreibungen und entsetzlich
+nackten, aufregenden Abbildungen. Beigegeben war eine
+Hausapotheke für Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen
+verdient wurden, die mir fast unglaublich erschienen. Diese
+schamlosen Hefte und Bilder lagen überall umher. Die
+Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier
+Töchter Münchmeyers, damals noch im Schul- und
+Kindesalter, lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau
+Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: „Was
+denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine Masse
+Geld!” Ich nahm mir vor, dies müsse entweder anders werden
+oder ich würde ohne Kündigung wieder fortgehen. Was den
+„Beobachter an der Elbe” betrifft, dessen Redaktion ich
+übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick,
+daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so
+vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen das Blatt
+eingehen, und ich gründete drei andere an seiner Stelle,
+nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter,
+welche „Deutsches Familienblatt” und „Feierstunden” betitelt
+waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt für Berg-,
+Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die Ueberschrift
+„Schacht und Hütte” gab. Diese drei Blätter waren
+darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der
+Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und
+Herzen zu bringen. In Beziehung auf „Schacht und Hütte”
+bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die großen
+Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür zu
+interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis
+war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte.
+Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu
+Weihnachten ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab
+sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg,
+mußte sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen
+lassen.</p>
+
+<p>In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß
+Münchmeyer von auswärtigen Behörden wegen der
+Verbreitung des „Venustempels” angezeigt wurde. Verfasser
+dieses Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, der
+nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil dieser ihn
+an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht partizipieren
+ließ. Das Buch enthielt eine lüstern geschriebene
+Abteilung über „die Prostitution”, die zu Polizeianzeigen
+allerdings direkt herausforderte. Es wurde Münchmeyer von
+irgend einer Seite verraten, von welcher, das weiß ich
+nicht, daß eine Haussuchung nach dem „Venustempel”
+stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte
+Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu
+verhüten. Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir
+aber sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen
+Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte ganze
+Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern
+Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte jede
+verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der gefährdeten
+Bücher in die Privatwohnungen und verbarg sie sogar unter
+den Betten der Kinder. Das ging so schnell und gelang so gut,
+daß die Polizei, als sie sich einstellte, kaum eine ganz
+geringe Nachlese fand, und noch lange hat man sich im
+Münchmeyerschen Hause des Schnippchens gerühmt, welches
+damals der sonst so findigen Dresdener Behörde geschlagen
+worden sei. Ich erfuhr erst später, viel später hiervon
+und zog meine Konsequenzen. Meines Bleibens war hier nicht. Ich
+wollte aus dem Abgrund heraus, nicht aber wieder hinunter!</p>
+
+<p>Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig
+gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die
+Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag
+zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir,
+daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb,
+so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann
+gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten
+Blätter mit der Ausführung meiner literarischen
+Pläne. Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser
+Beziehung mein Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften,
+nämlich auf die Indianer und auf die islamitischen Volker
+richten wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das
+„Deutsche Familienblatt” für die Indianer und die
+„Feierstunden” für den Orient. Im ersteren Blatte begann
+ich sofort mit „Winnetou”, nannte ihn aber einem anderen
+Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich
+war überzeugt, daß diese beiden Blätter eine
+Zukunft hätten, und ich bildete mir ein, für eine ganze
+Reihe von Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da
+gab es Raum und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz
+selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen,
+die ich wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich
+bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, weit
+ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes
+Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt war,
+ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine Anerkennung, eine
+Förderung bedeuten. Man machte mir nämlich, um mich an
+die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau
+Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen,
+meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als
+Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau
+Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte
+grad das Gegenteil. Ich sagte „nein” und kündigte, denn
+nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben
+konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen
+Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das
+Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen zu
+schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das Vierteljahr
+vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht
+von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im
+geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige
+Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt
+berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht
+geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und
+Münchmeyer, der Verleger des „Venustempels”, wegen dieses
+Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man
+mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses
+Venustempels hineingeheiratet zu haben!</p>
+
+<p>Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte
+ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein
+verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und
+lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz
+eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses
+meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare
+Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als
+körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein
+Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser
+meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine
+häßliche Person schön und eine schöne
+häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir
+die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren
+Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht
+begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie
+abstoßend wirken; ich kann nichts dafür. Und mit dem
+Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine
+andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich,
+vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich
+eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um
+meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich
+über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende
+stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden
+sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler
+und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die
+man bald als Barbier, bald als Feldscheer <tt>[sic]</tt>, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er
+barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch
+weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine
+Tochter, die man für das schönste Mädchen der
+beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt
+begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch
+zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine
+dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für
+eine Leiche sei.</p>
+
+<p>„Pollmers Tochter,” antwortete eine der beiden ersten
+Frauen.</p>
+
+<p>„Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die
+gestorben?”</p>
+
+<p>„An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses
+wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem
+die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann
+nur Unheil.”</p>
+
+<p>„Was ist denn der Vater?”</p>
+
+<p>„Der? Es hat ja keinen!”</p>
+
+<p>„Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich
+besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!”</p>
+
+<p>Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus.
+Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der
+Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den
+Armen trug. Das war das Kind, der „Nickel”, der seine eigene
+Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich
+verstand von dem allem nichts. Was weiß ein
+vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von
+Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und
+ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich
+später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage,
+warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und
+schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß.
+Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was
+die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von
+Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis und an den
+unglückseligen „Nickel” dachte. Sobald ich später
+über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz
+unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube
+des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren
+sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens,
+herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das
+Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas
+Wohltuendes noch etwas Fürchterliches an sich. Später
+begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten,
+hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr
+zwölfjähriges Mädchen an der Hand führte. Das
+war der alte Pollmer mit seinem „Nickel”. Der Alte sah sehr
+ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte
+gar nichts an sich, was verriet, „daß seine Mutter an ihm
+gestorben war”. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen,
+als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen,
+überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig
+gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß
+dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur
+unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei
+meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen
+einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein
+„Fräulein Pollmer” befand. Das war der „Nickel”; aber er
+sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und
+bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer
+Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir.
+Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz
+eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort
+über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend,
+gar nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so
+herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das
+gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater,
+nämlich Pollmer, meine „Geographischen Predigten” gelesen
+hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie
+erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den
+Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur
+einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag
+psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste
+oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land
+war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir,
+dieses Land kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer
+wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich
+nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn
+und eigentlich viel weniger als das.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie
+hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt,
+mich nach der Lektüre meiner „Predigten” nun auch
+persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir befriedigt zu
+sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich
+tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann,
+als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging,
+sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen
+verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich
+bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte
+jemals gedacht, daß ich mit dem „Nickel”, der Einem „nur
+Unheil bringt”, in Korrespondenz treten würde!</p>
+
+<p>Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten
+Eindruck. Sie sprach da von meinem „schönen, hochwichtigen
+Beruf”, von meinen „herrlichen Aufgaben”, von meinen „edlen
+Zielen und Idealen”. Sie zitierte Stellen aus meinen
+„Geographischen Predigten” und knüpfte Gedanken daran,
+deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur
+Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur
+ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter,
+solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht
+möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu
+halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lobe
+„Fräulein Pollmers” über und lud mich für die
+Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich
+vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten
+freundlich gesinnt gewesen ist und daß ich vor der Stelle,
+an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht
+entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort
+verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf
+Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat
+einstellte, um das Seelenstudium des „Nickels”, der nun „mein
+Nickel” werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu
+dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie
+sonst nur auf der Bühne zu sein pflegt. Nämlich als
+Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und
+lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer,
+und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter.
+Ich wußte, daß er sich überall nur höchst
+lobend über mich aussprach, und daß meine Vorstrafen
+ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten,
+vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte
+auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und
+wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt und daß er ganz
+märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung
+hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlende
+Beaut<tt>é</tt>s der größte Reichtum ihrer
+Familie seien und nur möglichst reich und vornehm
+verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich
+konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine
+Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und
+vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einflusse zu
+entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu
+Mittag zu essen:</p>
+
+<p>„Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht
+nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen
+darf.”</p>
+
+<p>Er horchte überrascht auf.</p>
+
+<p>„Um Emmas willen?” fragte er.</p>
+
+<p>„Ja.”</p>
+
+<p>„Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie
+sie etwa heiraten?”</p>
+
+<p>„Allerdings.”</p>
+
+<p>„Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist aber
+doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie dazu?”</p>
+
+<p>„Sie ist einverstanden.”</p>
+
+<p>Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot im Gesicht und
+rief aus:</p>
+
+<p>„Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht
+dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem
+armen Teufel durch das Leben schindet! Die kann andere
+Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten,
+der, wenn es gut geht, nur von seiner Berühmtheit und nur
+vom Hunger lebt!”</p>
+
+<p>„Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?” fragte
+ich. „Das würde ich gelten lassen!”</p>
+
+<p>„Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen
+Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das Zuchthaus
+gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz andere
+Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!”</p>
+
+<p>Er rief das sehr laut aus.</p>
+
+<p>„Oho!” antwortete ich.</p>
+
+<p>„Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole Ihnen, Sie
+bekommen meine Tochter nicht!”</p>
+
+<p>Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck zu
+verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. Es juckte
+mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die Achsel zu legen
+und ihm lachend zu sagen: „Gut, so behalten Sie sie!” Aber
+dagegen bäumte sich das väterliche Erbteil in mir auf,
+der zähe, unbedachte Zorn, der niemals das Richtige tut. Ich
+brauste nun auch auf:</p>
+
+<p>„Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!”</p>
+
+<p>„Versuchen Sie das!”</p>
+
+<p>„Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde es tun,
+wirklich tun!”</p>
+
+<p>Da lachte er.</p>
+
+<p>„Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte mir von
+jetzt an jeden Besuch!”</p>
+
+<p>„Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage Ihnen im
+voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu mir kommen und
+mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt aber leben Sie wohl!”</p>
+
+<p>„Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!”</p>
+
+<p>Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte sie seiner
+Tochter. Die lauteten: „Entscheide zwischen mir und Deinem
+Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; wählst Du
+mich, so komm sofort nach Dresden!” Dann reiste ich ab. Sie
+wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen
+hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich
+fühlte mich als Sieger. Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe,
+die zwei erwachsene, hochgebildete Töchter besaß.
+Durch den Umgang mit diesen Damen wurde es ihr möglich, sich
+Alles, was sie noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von
+da aus bekam sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft
+führen zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit
+sehr gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr
+anständige Honorare. Ich hatte mit meinen
+„Reiseerzählungen” begonnen, die sofort in Paris und Tours
+auch in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich
+herum; das imponierte sogar dem „alten Pollmer”. Er hörte
+von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender,
+vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da schrieb er an seine
+Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen
+verlassen hatte, und forderte sie auf, nach Hohenstein zu kommen,
+ihn zu besuchen, mich aber mitzubringen. Sie erfüllte ihm
+diesen Wunsch, und ich begleitete sie. Aber ich ging nicht zu
+ihm, sondern nach Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach
+mir; ich aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt
+habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse er
+persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!</p>
+
+<p>Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von
+mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt,
+daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen
+werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese
+Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen worden
+war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer Verheiratung bei ihm in
+Hohenstein zu bleiben. Ich hatte nichts dagegen und gab mein
+Logis in Dresden auf, um bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es
+war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und
+äußerer Entwicklungen für mich. Ich schrieb und
+machte Reisen. Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr
+ich, kaum aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der
+„alte Pollmer” gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen.
+Ich eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel gesagt. Er
+war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber weder sprechen noch
+sich bewegen. Sein Enkelkind saß in einer seitwärts
+liegenden Stube bei einer klingenden Beschäftigung. Sie
+hatte nach seinem Gelde gesucht und es gefunden. Es war nicht
+viel; ich glaube kaum zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort,
+zu dem Kranken hinüber. Er erkannte mich und wollte reden,
+brachte es aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem
+Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde Arzt.
+Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen untersucht, tat
+dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, daß alle
+Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt hatte, glitt die
+Tochter des Sterbenden vor mir nieder und bat mich, sie ja nicht
+zu verlassen. Ich versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich
+habe sogar noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt,
+in Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine Etage des
+oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich leben
+können, wenn uns ein solches Glück beschieden gewesen
+wäre.</p>
+
+<p>Ich schrieb damals schon einige Jahre für Pustet in
+Regensburg, in dessen „Deutschem Hausschatz” meine
+„Reiseerzählungen” erschienen. Die Firma Pustet ist eine
+katholische und der „Deutsche Hausschatz” ein katholisches
+Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war
+mir höchst gleichgültig. Der Grund, warum ich dieser
+hochanständigen Firma treugeblieben bin, war kein
+konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher.
+Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei der
+zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur Vinzenz
+Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine
+Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen Verlag
+senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren
+Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe er
+sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel Geld! Es
+wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem ein solches
+Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden darauf ein. Rund
+zwanzig Jahre lang ist das Honorar, wenn ich das Manuskript heute
+zur Post sandte, genau übermorgen eingetroffen. Ich erinnere
+mich keines einzigen Males, daß es später gekommen
+wäre. Und niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch
+nur die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe nie
+mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und als Pustet es
+mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus eigenem, freiem
+Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf bezüglichen
+Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern bleibt man
+treu, auch ohne nach ihrem Glauben und ihrer Konfession zu
+fragen.</p>
+
+<p>Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für
+mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt
+waren und sicher an- und aufgenommen wurden. Das machte es mir
+möglich, meine auf die „Reiseerzählungen”
+bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es war
+mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit hinaus
+sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen dann
+später in Buchform herausgeben würde, war eine Frage,
+die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt feindselige
+Menschen, welche behaupten, daß ich mich nur um des Geldes
+willen an diesen katholischen Verlag herangemacht habe. Das ist
+eine Unwahrheit, für deren Gewissenlosigkeit und
+Verwerflichkeit ich keine Worte finde. Ich habe ganz das
+Gegenteil von dem getan, dessen man mich da beschuldigt. Ich habe
+dem „Deutschen Hausschatz” und seinem Herausgeber Opfer
+gebracht, von deren Größe die Familie Pustet keine
+Ahnung hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef
+Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem
+ich sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich schrieb. Es
+handelte sich um die bei Spemann in Stuttgart erscheinende Revue
+„Vom Fels zum Meere”, für welche ich mitgearbeitet habe.
+Der Brief lautet wie folgt:</p>
+
+<p class="center">
+„Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="letter">
+Sie haben inzwischen schon wieder für andere
+Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich mit
+dem längst Versprochenen noch immer im Stiche ließen.
+Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte Sie dringend, nun
+Ihr Versprechen mir gegenüber wahr zu machen. Ich will diese
+Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen,
+ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden,
+fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich
+würde  I h n e n  in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend
+Mark pro „Fels”-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas
+Derartiges schreiben würden.</p>
+
+<p class="center">
+In vorzüglicher Hochachtung
+</p>
+
+<p class="right">
+Ihr ergebenster          <br/>
+Josef Kürschner.
+</p>
+
+<p>Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war gegen diese
+tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich scheue, seinen
+Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet trotzdem vorgezogen habe,
+so ist das ein gewiß wohl mehr als hinreichender Beweis,
+daß ich für den „Hausschatz” nicht geschrieben habe,
+um „mehr Geld zu machen, als ich von Andern bekam”. Auch meine
+andern Verleger zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß
+ich, um diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen,
+hiermit konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner
+Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich
+habe, der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet
+zurück zu Münchmeyer zu wenden.</p>
+
+<p>Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau auf einer
+Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte ihr Münchmeyer so
+lebhaft geschildert, daß sie sich ein ganz richtiges Bild
+von ihm machen konnte, obgleich sie ihn noch nicht gesehen hatte.
+Sie wünschte aber sehr, ihn kennen zu lernen, von dem ihr
+auch Andere gesagt hatten, daß er ein hübscher Kerl,
+ein glanzvoller Unterhalter und für schöne Frauen
+begeistert sei. Er pflegte in dieser Jahreszeit um die
+Dämmerstunde in einer bestimmten Gartenrestauration zu
+verkehren. Als ich ihr das sagte, bat sie mich, sie
+hinzuführen. Ich tat es, obgleich es mir widerstrebte, ihm
+diejenige zu zeigen, die ich seiner Schwägerin vorgezogen
+hatte. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast
+im ganzen Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig;
+das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch
+geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar so
+zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den Kopf
+in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich froh
+und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er machte mir in
+seiner Kolportageweise die unmöglichsten Komplimente, eine
+so schöne Frau zu haben, und meiner Frau gratulierte er in
+denselben Ausdrücken zu dem Glück, einen so schnell
+berühmt gewordenen Mann zu besitzen. Er kannte meine
+Erfolge, übertrieb sie aber, um uns beiden zu schmeicheln.
+Er machte Eindruck auf meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er
+begann, zu schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden.
+Sie sei schön wie ein Engel, und sie solle sein
+Rettungsengel werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in
+seiner jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten,
+indem sie mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und
+nun erzählte er:</p>
+
+<p>Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen
+passenden Redakteur für die von mir gegründeten
+Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren.
+Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab;
+sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte
+überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust,
+und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder
+Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe
+soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen
+oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien
+wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse
+er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch
+einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute
+Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in
+seinen Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese
+derben Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau
+vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch
+zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise
+vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen
+schlimmen Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles
+außerordentlich gut gestanden; aber daß ich seine
+Schwägerin nicht habe heiraten wollen und aus der Redaktion
+gegangen sei, das habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das
+wieder gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu
+verpflichtet, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.</p>
+
+<p>Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich gar
+wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte damals meine
+Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau Münchmeyer zu
+heiraten, für so selbstverständlich gehalten, daß
+überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß ich
+den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen,
+sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche
+Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld
+trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz
+dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß
+wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde auseinander
+gegangen waren. Es konnte also wohl einen geschäftlichen,
+nicht aber einen persönlichen Grund geben, seinen Wunsch
+zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher Beziehung
+lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. Zeit hatte ich;
+ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In dem Umstand, daß
+Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für
+mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen
+Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas
+Besseres sein, eine organische Folge von Reiseerzählungen,
+wie ich sie Pustet und anderen Verlegern lieferte. Tat ich das,
+so war damit zugleich auch meinem Lebenswerke gedient, und ich
+konnte das, was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso
+später für mich in Bänden erscheinen lassen, wie
+das für meine Hausschatzerzählungen bestimmt worden
+war.</p>
+
+<p>Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während
+Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. Ich
+erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht
+entschließen können, den gewünschten Roman zu
+schreiben, doch nur unter der Bedingung, daß er nach einer
+bestimmten Zeit mit sämtlichen Rechten wieder an mich
+zurückfalle. Es dürfe an meinem Manuskripte absolut
+kein Wort geändert werden; das wisse er ja von früher
+her. Münchmeyer erklärte, hierauf einzugehen, doch
+möge ich ihn mit dem Honorar nicht drücken. Er sei in
+Not und könne nicht viel zahlen. Später, wenn mein
+Roman gut einschlage, könne er das durch eine „feine
+Gratifikation” ausgleichen. Das klang ja gut. Er bat, ihm keine
+Zeit zu setzen, an welcher der Roman wieder an mich
+zurückzufallen habe, sondern lieber eine Abonnentenzahl,
+nach welcher, sobald sie erreicht worden sei, er aufzuhören
+und mir meine Rechte wiederzugeben habe. Er berechnete, daß
+er mit sechs- bis siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung
+komme; was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug
+ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, solle
+Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten gehen
+dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine „feine
+Gratifikation” zu zahlen, und der Roman falle mit allen Rechten
+an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das entsprechende
+Honorar bei ihm oder bei einem anderen Verleger weiter erscheinen
+lasse, sei lediglich meine Sache. Hierauf ging Münchmeyer
+sofort ein, ich aber gab meine Zusage noch nicht definitiv; ich
+erklärte, mir die Sache erst noch reiflich überlegen
+und meine Entscheidung dann morgen geben zu wollen.</p>
+
+<p>Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser Hotel,
+um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, halb freiwillig
+und halb gezwungen. Meine Frau hatte nicht nachgelassen, bis ich
+ihr das Versprechen gab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er
+bekam den Roman zu den erwünschten Bedingungen, nämlich
+nur bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er
+für die Nummer 35 Mark zu bezahlen und beim Schluß
+eine „feine Gratifikation”. Er gab den Handschlag. Unser
+Kontrakt war also kein schriftlicher, sondern ein
+mündlicher. Er sagte, wir seien beide ehrliche Männer
+und würden einander nie betrügen. Es klinge für
+ihn wie eine Beleidigung, von ihm eine Unterschrift zu verlangen.
+Ich ging aus zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich
+erstens durften nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel
+eines Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt
+werden; Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich
+sein wollte, nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens
+konnte ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht
+und unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine
+Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so
+einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles
+enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das habe ich
+denn auch getan und seine Antworten mir heilig aufgehoben.</p>
+
+<p>Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort
+beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst nach
+Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine Frau
+trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er hatte eine
+persönliche Vorliebe für den nichtssagenden Titel „Das
+Waldröschen”. Ich ging auch hierauf ein, hütete mich
+aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen zu machen. Schon
+nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman
+„ging”. Dieses „ging” ist ein Fachausdruck, welcher einen
+nicht gewöhnlichen Erfolg bedeutet. Ich bekam weder
+Korrektur noch Revision zu lesen, und das war mir ganz lieb, denn
+ich hatte keine Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil
+sie mich verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare
+nach Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit war
+ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine Gelegenheit,
+mein Originalmanuskript mit dem Druck zu vergleichen, aber das
+machte mir keine Sorge. Es war ja bestimmt worden, daß mir
+kein Wort geändert werden dürfe, und ich besaß
+damals die Vertrauensseligkeit, dies für genügend zu
+halten.</p>
+
+<p>Der Erfolg des „Waldröschens” schien nicht nur ein
+guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer
+zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er schrieb
+wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer Zeit
+für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman
+so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte
+den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben,
+sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner
+Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken mit
+Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell
+wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich
+keineswegs. Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit
+mehr und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem
+Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, dieser
+Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, an der ich
+geboren worden war, seßhaft niedergelassen, sondern mir
+auch eine Frau von dort genommen. Ich war für einige Zeit
+geneigt gewesen, den Inhalt dieser Buchstelle als Aberglauben zu
+betrachten, sah sie aber gar bald wieder mit dem Auge des
+Psychologen an und wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen
+gezwungen, einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer
+unbedingt leichter über trübe Gewässer
+hinüberlangt, als wenn er eine zweite Person mitzunehmen
+hat, die weder schwimmen kann noch schwimmen will. Darum war mir
+diese Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht
+nicht nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir
+Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da
+sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es
+entwickelte sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr
+zwischen ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast
+keine Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell
+vorwärts, und sein Erfolg wuchs derart, daß
+Münchmeyer mich bat, noch einen zweiten und womöglich
+noch einige weitere zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß
+meine Entscheidung über diesen seinen Wunsch eine für
+mich hochwichtige sei und daß sie mir, falls sie bejahend
+ausfallen sollte, zu einer Quelle unsagbaren Elendes und
+unaussprechlicher Qual werden könne. Ich betrachtete nur die
+angeblichen Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.</p>
+
+<p>Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus meinen
+literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte diese
+Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. Er
+erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht
+ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm
+aufgab. Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein freier
+Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, das zu tun, was
+ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich brauchte das, was ich
+schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge
+auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg
+hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman
+erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte
+mich. Hierzu kam das beständige Zureden meiner Frau, welche
+die geringen Einwände, die ich zu erheben hatte, sehr leicht
+zum Schweigen brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch
+einige Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen
+wie das „Waldröschen”. Diese Arbeiten hatten mir also auch
+nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten mit allen Rechten wieder
+zuzufallen, und dann war mir eine „feine Gratifikation” zu
+zahlen. Es gab nur eine einzige Aenderung, nämlich die,
+daß ich für diese Romane ein Honorar von fünfzig
+Mark pro Heft bezog, anstatt nur fünfunddreißig bei
+dem „Waldröschen”.</p>
+
+<p>Infolge dieser Abmachungen begann für mich von jetzt an
+eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, zugleich aber
+auch nicht ohne tiefe Beschämung denken kann. Ich frage
+nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit blamiere; meine
+Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter nichts. Es war ein
+fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich damals arbeitete. Ich
+brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach
+Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von
+ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu
+finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig
+durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu
+schreiben. Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich
+weder rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war
+es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es
+für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das,
+welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so viel
+und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß
+ermöglichte es mir, zu vergessen, daß ich mich in
+meinem Lebensglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer
+lebte, als es vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe,
+innere Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede
+auszufüllen, zu rastlosem Fleiße und machte mich
+leider gleichgültig gegen die Notwendigkeit,
+geschäftlich vorsichtig zu sein. Es kam bei Münchmeyer
+so viel vor, was mich veranlassen konnte, auf der Hut zu sein,
+daß mehr als genugsam Grund vorlag, die Zukunft und
+Integrität alles dessen, was ich für ihn schrieb, so
+sicher wie möglich zu stellen. Daß ich hieran nicht
+dachte, war ein Fehler, den ich zwar entschuldigen, mir aber
+selbst heut noch nicht verzeihen kann.</p>
+
+<p>Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. Er hatte sich
+in Blasewitz eine Art Gar<tt>&ccedil;</tt>onlogis gemietet, um
+seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns verbringen zu
+können. Er kam auch an Abenden der andern Tage und brachte
+fast immer seinen Bruder, sehr oft auch andere Personen mit. Er
+wünschte zwar, daß ich mich dadurch ja nicht in meiner
+Arbeit stören lassen möge, doch konnte mich das nicht
+hindern, Herr meiner Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies
+nicht mehr möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und
+aus Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue Wohnung
+lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen, und mein
+neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und
+Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm
+und überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause.
+Grad das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und
+äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte.
+Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür
+aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen von
+Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen durch
+Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen waren ihr vom Arzt
+geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte. Ich
+mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil
+dies der Wunsch meiner Frau war, deren Gründe ich leider
+nicht zu würdigen verstand. Sie fand sich nicht in die
+Abgeschiedenheit unserer jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit
+dem Wirte. Ich mußte kündigen. Wir zogen aus, nach
+einer Radauwohnung des amerikanischen Viertels, die über
+einer Kneipe lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da
+wurde sie krank. Der Arzt riet ihr sehr frühe
+Spaziergänge nach dem großen Garten, dem weltbekannten
+Dresdener Park. Solchen ärztlichen Verordnungen hat man zu
+gehorchen. Es gab für mich keinen Grund, diese
+Spaziergänge zu verhindern, die morgens vier bis fünf
+Uhr begannen und ungefähr drei Stunden währten. Ich
+wußte nicht, daß Frau Münchmeyer auch nicht
+gesund war und daß auch sie von ihrem Arzt die Weisung
+erhalten hatte, frühe Morgenspaziergänge nach dem
+Großen Garten zu machen. Erst nach langer, sehr langer Zeit
+erfuhr ich, was während dieser Spaziergänge geschehen
+war. Meine Frau war mir nicht nur seelisch, sondern auch
+geschäftlich verloren gegangen. Die beiden Damen saßen
+tagtäglich früh morgens in einer Konditorei des
+großen Gartens und trieben eine Hausfrauen- und
+Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich erst später
+verspürte. Ich machte Schluß und zog von Dresden fort,
+nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt seiner
+Vorortsperipherie.</p>
+
+<p>Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane für
+Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf
+geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn man
+später vor Gericht behauptet hat, daß ich für
+Münchmeyer nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so
+bitte ich, mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und
+zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat.
+Hiermit sei für heut mit meiner „Kolportagezeit”
+abgeschlossen. -- -- --
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap07"></a>VII.<br/>
+Meine Werke.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich diejenigen meiner Bücher,
+mit denen sich die Kritik beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen,
+über welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen hat, können auch
+hier übergangen werden. Zu diesen gehören meine Humoresken, meine
+erzgebirgischen Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den
+Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu sein. Ich könnte hierzu
+auch noch meine „Himmelsgedanken” rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen
+scheint, seit es Herrn Herman <tt>[sic]</tt> Cardauns
+passierte, daß er sich mit ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb
+bekanntlich: „Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,”
+obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges lyrisches Gedicht
+befindet! Auch meine sogenannten „Union- oder Spemannbände” brauche ich hier
+nicht zu besprechen, weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur
+als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die einzigen Sachen sind,
+die ich für die Jugend geschrieben habe. Es handelt sich also nur um die
+Fehsenfeldschen „Reiseerzählungen” und um die bei Münchmeyer erschienenen
+„Schundromane”, welch letztere im nächsten Kapitel behandelt werden.
+</p>
+
+<p>Meine „Reiseerzählungen” haben, wie bereits
+erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel
+Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der
+Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege
+soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis
+des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die
+Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum
+beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der
+„Wüste”. In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der
+völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die
+Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das
+„Ich”, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die
+Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt,
+ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen
+Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten
+Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei,
+obgleich er schließlich zugeben muß, daß er
+noch niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo
+man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man sieht,
+daß ich ein echt deutsches, also einheimisches,
+psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand
+kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen
+zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte,
+daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also
+bildlich resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus
+oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. Meine Bilder
+sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter ihnen gar
+nichts Mystisches zu verstecken vermag.</p>
+
+<p>Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt und auch
+seinen Vater und Großvater noch als Hadschis hinten
+anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich für
+die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst zu
+wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen hat. Dies
+geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im
+gelehrten Leben alltäglich, aber man ist derart blind
+für diesen Fehler, daß ich eben arabische Personen und
+arabische Zustände herbeiziehen muß, um diese blinden
+Augen sehend zu machen. Ich schicke darum diesen Halef gleich in
+den ersten Kapiteln nach Mekka, wodurch seine Lüge zur
+Wahrheit wird, weil er nun wirklich Hadschi ist, und lasse ihn
+dann sofort seine „Seele” kennen lernen -- -- -- Hannah <tt>[sic]</tt>, sein Weib.</p>
+
+<p>Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem ersten
+Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und wie man meine
+Bücher lesen muß, um ihren wirklichen Inhalt kennen zu
+lernen. Ein zweites Beispiel mag folgen: Kara Ben Nemsi befindet
+sich bei dem persischen Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll
+von dem Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der Ustad,
+der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum Schah, um ihn um
+Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat aber den Schah noch nicht
+erreicht, so kommen ihm schon die Heerscharen desselben entgegen,
+die ihm sagen, daß sie vom Schah gesandt worden seien, den
+Dschamikun Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des
+Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah ist
+aber Gott, und so interpretiere ich durch diese Erzählung
+die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: „Euer Vater
+weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn bittet!”
+Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl May, und die
+Dschamikun sind das Volk seiner Leser, welches von den Sillan
+vernichtet werden soll. Ich erzähle also rein deutsche
+Begebenheiten im persischen Gewande und mache sie dadurch
+für Freund und Feind verständlich. Ist das nicht
+Gleichnis? Nicht bildlich? Gewiß! Und ist es etwa mystisch?
+Nicht im Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so
+wenig mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das
+Erstere bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch
+erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will.
+Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher Absicht
+an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres finden,
+daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. Und ist
+er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben ihm ganz sicher
+die zahlreichen Himmelsmärchen nicht verborgen, die in
+diesen Gleichnissen eingestreut liegen und den eigentlichen,
+tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen zu bilden haben.
+Diese Märchen sind es auch, aus denen sich mein eigentliches
+Lebenswerk am Schlusse meiner letzten Tage zu entwickeln hat.</p>
+
+<p>Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi
+Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von
+der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals wiedergefunden
+werden kann, außer sie findet sich selbst. Und dieser
+Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May!
+Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine
+eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und
+so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden
+ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich gewisse
+Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht werden,
+keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es einmal wagen, so
+offen über sich selbst zu sprechen wie ich über mich,
+so würde das sogenannte Karl May-Problem schon längst
+in jenes Stadium getreten sein, in welches es zu treten hat, mag
+man wollen oder nicht. Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein
+Gleichnis. Es ist nichts Anderes, als jenes große,
+allgemeine Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon
+ungezählte Millionen gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares
+zu erreichen. Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir
+herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der traurigen
+Karikatur, als die ich in den Gehirnen und in den Schriften Derer
+lebe, die sich berufen wähnen, Probleme zu lösen, dies
+aber immer nur da tun, wo keine vorhanden sind.</p>
+
+<p>Ich nenne ferner das Märchen von „Marah Durimeh”, der
+Menschheitsseele, von „Schakara”, der edlen, gottgesandten
+Frauenseele, der ich die Gestalt meiner jetzigen Frau gegeben
+habe. Das Märchen vom „erlösten Teufel”, vom
+„eingemauerten Herrgott”, vom „versteinerten Gebete”, von den
+„verkalkten Seelen”, von den „Rosensäulen des
+Beit-Ullah”, von dem „Sprung in die Vergangenheit”, von der
+„Dschemma der Lebendigen und Toten”, von der „Schlacht am
+Dschebel Allah”, vom „Mahalamasee”, vom „Berg der
+Königsgräber”, vom „Mir von
+Dsch<tt>&icirc;</tt>nnistan”, vom „Mir von Ardistan”, von der
+„Stadt der Verstorbenen”, vom „Dschebel Muchallis”, von der
+„Wasserscheide von El Hadd” und noch viele, viele andere. Wie
+man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren
+Inhalte meine Bücher als „Jugendschriften” und mich als
+„Jugendschriftsteller” bezeichnen kann, würde
+unbegreiflich sein, wenn man nicht wüßte, daß
+Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen
+oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst „Winnetou”, der
+so leicht zu lesen zu sein scheint, bedarf, wenn er sich im
+vierten Bande zum Schlusse neigt, eines Nachdenkens und eines
+Verständnisses, welches doch gewiß keinem Quartaner
+und keinem Backfisch zuzutrauen ist! Wenn man trotzdem noch
+ferner bei den Ausdrücken „Jugendschriften” und
+„Jugendschriftsteller” bleibt, so muß ich das als einen
+gewollten Unfug bezeichnen, zu dem sich kein anständiger,
+ernster Kritiker hergeben wird.</p>
+
+<p>Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu,
+daß meine „Reiseerzählungen” nicht als
+Jugendschriften verfaßt worden sind, so ist der jetzt
+landläufig gewordenen Behauptung, daß sie
+schädlich sind, aller Boden entzogen. Es lese sie doch nur
+der, dem sie nicht schädlich sind; ich zwinge ja keinen
+Andern dazu! Weshalb und wozu die Vorwürfe alle, die man mir
+jetzt in hunderten von Zeitungen macht? Sieht man sich diese
+Vorwürfe aber genauer an, so verlieren sie allen Wert.
+Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist so
+Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder in das
+Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht nur Mode, sondern
+Mache! Selbst wenn meine Bücher jetzt von keinem Menschen
+mehr gelesen würden, könnte mich das doch nicht im
+Geringsten beunruhigen, denn ich weiß, daß man sehr
+bald hinter diese Mache kommen und sich demgemäß
+verhalten wird. Ja, hätte ich meinen Lesern bloß nur
+Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte ich von der
+Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder aufzutauchen, und
+würde ganz von selbst so verständig sein, mich darein
+zu ergeben. Aber <b>ich habe während meines „Lebens und
+Strebens” allzu viele und allzu große Fehler begangen, als
+daß ich so mir nichts, dir nichts untergehen und für
+immer verschwinden dürfte. Ich habe gutzumachen!</b> Was der
+Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu
+sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels
+erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod
+hinüberzunehmen, sondern sie schon hier zu bezahlen. Das
+will ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, ich
+behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem irdischen
+Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was es von mir
+zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr schuldig. Und was
+über diese von Menschen gestellten Paragraphen hinausgeht,
+das werde ich begleichen, indem ich das, was ich noch schreiben
+werde, dem großen Gläubiger widme, der ganz genau
+weiß, ob ich ihm mehr als jene Andern schuldig bin, die
+sich besser dünken als May.</p>
+
+<p>Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit
+sie mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber
+auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich mir
+keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen
+„Reiseerzählungen” erreicht habe, wird erst nach meinem
+Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, die aber
+selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen bekommt;
+veröffentlicht werden sie nicht. Man pries diese Werke und
+schwärmte für sie, bis es eines Tages einem
+gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu behaupten,
+daß ich außer ihnen auch noch andere, aber
+„abgrundtief” unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst wenn
+dies wahr gewesen wäre, hätte das die
+„Reiseerzählungen” weder innerlich noch
+äußerlich im Geringsten verändern können.
+Dennoch wurden sie von jenem Tage an zunächst mit
+Mißtrauen betrachtet, dann mehr und mehr verleumdet und
+endlich gar für direkt schädlich erklärt und aus
+den Bibliotheken gestoßen, in denen sie früher
+willkommen geheißen worden waren. Warum? Waren sie anders
+geworden? Nein! Hatten sich die bibliographischen
+Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze verändert? Nein!
+Waren die Bedürfnisse der Leser andere geworden? Auch nicht!
+Aber aus welchem Grunde denn sonst? Einfach einer Schund- und
+Kolportageklique wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie
+sich selbst auszudrücken pflegte, „kaput zu machen”. Aber
+ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique
+einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf
+Literatur und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe im
+nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte
+scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen
+Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu gebärden!
+Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen meiner
+Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang mit allen
+möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage aber noch
+nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten Vorwurf gemacht
+haben. Ich bezeichne das als eine Schande!</p>
+
+<p>Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich
+fünfzig Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das
+ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt.
+Ein einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, kann
+dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten, und es
+gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma Münchmeyer
+achtundfünfzig -- man lese und staune -- achtundfünfzig
+solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! Man rechne; man
+multipliziere! Welche Verluste! Welch eine ungeheure Summe von
+Gift und Unheil! Wie viel hunderte, ja tausende von Menschen
+arbeiten daran, dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und
+nun schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den
+Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich
+macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet,
+verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May, immer wieder
+Karl May und nur und nur Karl May! Wo sieht und liest man jemals
+einen andern Namen, als nur diesen einen? Was habe ich denn
+getan, daß man mich überhaupt zum Schunde zählt?
+Wo stecken die zweitausend wirklichen Schundschriftsteller,
+welche jahraus, jahrein rastlos dafür sorgen, daß in
+Deutschland und Deutschösterreich der Schund kein Ende
+nimmt? Vor Gericht, in „wissenschaftlichen” Werken, bei
+Kommissionssitzungen, in öffentlichen Vorträgen, von
+Schriftstellern, Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren,
+Künstlern, Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden
+Gelegenheiten, wo von „Jugendverderbnis” die Rede ist, da
+bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, nur er! Er ist der
+Typus der Jugendvergifter! Er ist der Vater aller ruchlosen
+Kapitän Thürmers, Nick Carters und Buffalo Bills! Mein
+Gott, wissen diese Herren denn wirklich nicht, was sie tun? Wie
+sie sich versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser
+wissen, von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen Fall,
+wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, daß Jemand
+durch eines meiner Bücher verdorben worden ist! Hunderte von
+Schundgeschichten der verderblichsten Art hat so ein Bube
+gelesen, dabei auch einen Band oder einige Bände von Karl
+May. Den kennt man, die Andern aber nicht; darum muß er es
+sein, dessen Namen man nennt und den man als Täter
+bezeichnet! Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus
+fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt,
+auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen
+Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das
+ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und
+vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum nennt man
+ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie nicht fest? Es gibt
+hunderte von Verlegern und Literaten, die wegen Verbreitung von
+unzüchtigen Schriften bestraft worden sind. Und noch
+größer ist die Zahl derer, die in voller Absicht
+Jugendschund herausgeben, nur um Geld zu machen. Warum nennt man
+sie nicht? Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem man
+ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke duldet? Warum
+wirft man sich nicht auf sie, sondern nur auf mich, den
+Sündenbock für den ganzen literarischen Mob? Sehr
+einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! Und es kann nichts
+Anderes als Mache sein, weil so viel, wie man auf mich wirft,
+kein Einzelner zu begehen vermag! Ich habe das im nächsten
+Kapitel des Näheren zu beleuchten.</p>
+
+<p>Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, sind bisher
+immer nur Behauptungen gewesen. Zu keiner von ihnen wurde ein
+wirklicher Beweis erbracht. Ich habe infolge dieser
+Anschuldigungen Ungezählte meiner Leser brieflich oder
+mündlich gefragt, ob es ihnen möglich ist, mir eine der
+Reiseerzählungen oder eine Stelle aus ihnen zu nennen, von
+der man behaupten darf, daß sie schädlich wirke. Es
+hat mir Niemand auch nur eine einzige derartige Zeile nennen
+können. Ist doch sogar meine unerbittlichste Gegnerin, die
+„Kölnische Volkszeitung”, gezwungen gewesen, mir das
+Attest auszustellen: „Alles für die Jugend
+Anstößige <b>ist sorgfältig vermieden,</b>
+obgleich Mays Werke <b>nicht etwa bloß für diese</b>
+bestimmt sind; <b>viele tausend Erwachsene</b> haben aus diesen
+bunten Bildern schon Erholung und Belehrung im reichsten
+Maße geschöpft!” Schon aus diesem Atteste geht die
+jetzige „Mache” hervor, denn meine Bücher sind seit jener
+Zeit genau dieselben geblieben, und derselbe Herr, der dieses
+öffentliche Zeugnis aus stellte <tt>[sic]</tt>, war der Erste, der dieser Mache
+erlag und hat sich seitdem nicht wieder aufrichten
+können.</p>
+
+<p>Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen mich
+erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung des
+nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion zu begehen,
+die mir der von mir hoch und aufrichtig verehrte Herr aber wohl
+verzeihen wird. Doktor Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli
+dieses Jahres aus Krieglach:</p>
+
+<p class="center">
+„Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="letter">
+Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der Charlottenburger
+Gerichtsverhandlung, und sobald wieder das Gericht, und zwar zu
+Ihren Gunsten, entscheidet, werde ich mit größter
+Freude davon Notiz nehmen.<br/>
+    Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als solcher
+möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine Meinung zu sagen
+darauf hin, in welcher Weise Sie sich am besten rechtfertigen
+könnten.<br/>
+    Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles
+ausschalten, was sich nicht sachlich auf die Anschuldigungen
+bezieht. Das, was Sie aus Ihrer Jugendzeit selbst eingestanden
+haben, ist damit wohl auch abgetan und würde Ihnen kaum ein
+rechtlich denkender Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das
+Gericht tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht
+persönlich erlebt haben, daß es nur Erzählungen
+in „Ichform” sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln.
+So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu
+erbringen, daß die berührten obszönen Stellen
+nicht Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was die
+Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen doch
+Sachverständige entscheiden können, inwiefern es
+Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete
+Stoffe und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben mit
+den neuen Auflagen verglichen, müßte doch klar zu
+stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und der Stil der neu
+eingefügten Sätze sich organisch an Ihre Art und an das
+Buch anschließen oder nicht. Auf solche Wirklichkeiten,
+meine ich, sollten Sie nun Ihre ganze Abwehr konzentrieren und
+ununterbrochen drängen, daß die Dinge endlich vor
+Gericht zur Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer
+Freunde, die nur so im Allgemeinen herumreden über die
+Vorzüge Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können
+für die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere
+Wirkung erzielen.<br/>
+    Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer gerichtlichen
+Genugtuung zu kommen. Gelingt das nicht, so ist absolutes
+Schweigen das Beste, und gelingt es, so muß doch auch die
+Presse Ihrer jetzigen Gegner die gerichtliche Ehrenrettung
+anerkennen und in das Volk tragen.<br/>
+    Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen Sie diese
+Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen entspringt, und seien Sie
+gegrüßt</p>
+
+<p class="center">
+von Ihrem ergebenen
+</p>
+
+<p class="right">
+ P e t e r   R o s e g g e r.”  
+</p>
+
+<p class="letter">
+Krieglach, 2. 7. 1910.
+</p>
+
+<p>Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende
+und human denkende geistige Aristokrat, das, was er über
+meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan betrachtet,
+versteht sich ganz von selbst. In derartigen Bodensätzen und
+Rückständen können nur niedrige Menschen waten.
+Hierdurch habe ja auch ich selbst schon längst meinen Strich
+gemacht und habe einen Jeden, der sich mit mir beschäftigt,
+nach dem Maße zu beurteilen, welches mir hier in Roseggers
+Brief gegeben wird. Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht
+verziehen; das ist im Himmel und auf Erden Recht.</p>
+
+<p>Was die „Obszönitäten” und den Nachweis betrifft,
+daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen
+Gegenstand im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier
+eine mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt.
+Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese
+unsittlichen Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir
+zu beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so
+selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen
+Richter einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der
+spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der
+Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der
+Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er
+unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten
+Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen
+Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für
+Münchmeyer das „Buch der Liebe” geschrieben zu haben. Wie
+kann ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall,
+es wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der
+wahnsinnige Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, daß
+Peter Rosegger den berüchtigten „Venustempel” geschrieben
+habe. Würde Rosegger den Beweis antreten, daß dies
+eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man die
+Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? Ich bin
+überzeugt, das Letztere. Und so thue <tt>[sic]</tt> auch ich. Ich verlange die Vorlegung
+meiner Originalmanuskripte. Einen andern Beweis kann es nicht
+geben.</p>
+
+<p>Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate
+betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: Der
+Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe von
+Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben und ihnen die
+Drohung vorangeschickt, daß er mir mit ihnen einen Strick
+drehen werde, um mich „aus dem Tempel der deutschen Kunst
+hinauszupeitschen”. Er hat sich da des richtigen Bildes bedient,
+denn jede seiner Behauptungen, mit denen er mich hierauf
+überschüttete, war nichts weiter als ein
+Peitschenknall, spitz, scharf, hart, lieblos und
+tierquälerisch, darum die Leser empörend und ohne
+Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer Knall mit der
+Knabenpeitsche war es auch, als er mich des Plagiates bezichtigte
+und sich erfolglose Mühe gab, die Wahrheit seiner Behauptung
+zu beweisen. Er sprach da wie ein Unwissender und konnte darum
+auch weiter nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit
+erreichen. Die „Grazer Tagespost” schreibt hierüber:</p>
+
+<p>„Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich
+unlängst in echt christlicher Demut selbst das
+schmückende Beiwort eines „anerkannten Kritikers”
+beilegte, hat die moralische Niederlage, die er in seiner
+Schimpfschlacht gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt,
+sehr bald vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder
+voll usw. usw.”</p>
+
+<p>Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten,
+ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch
+nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die
+ich schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen
+lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken
+entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht sehr
+häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann niemals
+Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, liegt nur
+dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile eines
+Gedankenwerkes aneignet und diese in der Art verwendet, daß
+sie dann wesentliche Bestandteile des Werkes des Plagiators
+bilden und dabei als seine eigenen Gedanken erscheinen. So Etwas
+habe ich aber nie getan und werde es auch nie tun. Geographische
+Werke können, besonders wenn sie geistiges Allgemeingut
+geworden sind, ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich
+nicht um das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen
+handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des
+Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In
+der Einleitung zum Voigtländerschen „Urheber- und
+Verlagsrecht” heißt es:</p>
+
+<p>„Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus sich
+selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was Andere vor ihm
+oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben haben. Dann erst, im
+besten Falle, beginnt seine ureigene Schöpfung. Selbst die
+am meisten schöpferische Tätigkeit, die des Dichters,
+steht dann am höchsten, erreicht dann ihre
+größten Erfolge, wenn sie die Weihe der
+künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich
+sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form ist
+ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird von der gebildeten
+Sprache geliefert, „die für dich dichtet und denkt”, und
+die Manchem, der sich Dichter zu sein dünkt, mehr als die
+Form, die ihm auch Gedanken oder deren Schein leiht. Kurz, der
+Schriftsteller und Künstler steht mit seinem Wissen und
+Können inmitten und auf der Kulturarbeit von Jahrtausenden.
+Goethe, auf einer einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht
+Goethe geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet,
+daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen Schritt hat
+weiter bringen können, weil er an das von den Vorfahren
+Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es nicht mehr als
+billig, <b>daß sein Werk zur gegebenen Zeit wieder Andern
+zu zwangslosem Gebrauche diene, nicht nur der Inhalt, sondern
+auch die Form.</b>”</p>
+
+<p>So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm ist nicht zu
+widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal begangen habe, was er
+hier gestattet, bin also vollständig gerechtfertigt. Ein
+anderer schreibt: „Alles ist mehr oder weniger Plagiat an
+errungener Kultur-, Geistes- oder Phantasieproduktion. Der
+Intellektadel, die obern Träger der Bildung und Kultur
+schöpfen ja doch alle mehr oder minder aus <b>einem</b>
+Reservoir, welches von den Leistungen Anderer, Früherer,
+Größerer gespeist worden ist.”</p>
+
+<p>In Nr. 268 der „Feder”, der Halbmonatsschrift für
+Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: „Aus den
+Fingern kann sich der popularwissenschaftliche <tt>[sic]</tt> Schriftsteller nun einmal nichts
+saugen, und bis zu einem gewissen Grade muß deshalb auch
+Jeder ein Plagiator sein. Wenn das eigentliche
+Gedankengebäude neu ist, dann ist man wohl berechtigt,
+passende Zierformen von schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach
+Emmerson ist <b>der größte Genius zugleich auch der
+größte Entlehner.</b> Es kommt da ganz auf das Wie an.
+<b>Man darf das Gute nehmen, wo man es findet,</b> wenn man einen
+großen Zweck damit erreichen will; aber man darf es sich
+nicht merken lassen; man muß mit dem Entlehnten etwas
+wirklich Neues hervorbringen.”</p>
+
+<p>Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner
+Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben hat.
+Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn aus und
+ließ das Stück ruhig unter seinem Namen erscheinen.
+Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied aus dem
+Freischütz: „Wir winden dir den Jungfernkranz” nicht von
+Weber, sondern von einem fast ganz unbekannten Gothaer
+Musikdirektor ist. Weber hörte es und nahm es in seinen
+Freischütz auf, ohne sich etwas aus der Gefahr zu machen,
+als Plagiator und Dieb bezeichnet zu werden. Shakespeare war
+bekanntlich der größte literarische Entwender, den wir
+kennen. Wenn es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen
+ginge, würden sogar verschiedene Verfasser biblischer
+Bücher als literarische Diebe bezeichnet werden müssen.
+So könnte ich noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen
+weiterführen, will mich aber damit begnügen, nur noch
+unsern Allergrößten, den Altmeister Goethe und den
+erfolgreichsten Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas
+anzuführen. Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er
+konnte ohne fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit
+über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist
+es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe „Der
+Goldkäfer” zu den spannendsten Stellen in seinem „Grafen
+Monte Christo” ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, so
+zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich unter der
+Ueberschrift „Goethe über das Plagiat” durch die Zeitungen
+ging:</p>
+
+<p>„Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage
+sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen,
+absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der er
+diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben Freund hat
+Jedermann, der den glücklich entdeckten Plagiator an den
+vermeintlichen Pranger stellt. Richard von Kralik ist
+unlängst des Plagiates beschuldigt worden, weil er -- ohne
+seine Schuld -- mangelhaft zitiert worden ist. Solchen
+Plagiatschnüfflern möchten wir die Ansicht Goethes
+über das Plagiat in das Gedächtnis rufen. Der
+Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und Eckermann am 18.
+Januar 1825 waren Lord Byrons angebliche Plagiate. Siehe
+„Eckermanns Gespräche mit Goethe”, 3. Auflage Band
+<tt>I</tt> S. 133. Da sagte Goethe: „Byron weiß sich auch
+gegen dergleichen, ihn selbst betreffende unverständige
+Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte
+sich stärker dagegen ausdrücken sollen. <b>Was da ist,
+das ist mein,</b> hätte er sagen sollen. <b>Ob ich es aus
+dem Leben oder aus dem Buche genommen habe, das ist gleichviel;
+es kam bloß darauf an, daß ich es richtig
+gebrauchte!</b> Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem
+„Egmont”, und er hatte ein Recht dazu, <b>und weil es mit
+Verstand geschah, so ist er zu loben.</b> So hat er auch den
+Charakter meiner „Mignon” in einem seiner Romane nachgebildet,
+ob aber mit ebenso viel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord
+Byrons „verwandelter Teufel” ist ein fortgesetzter
+Mephistopheles, und das ist recht. Hätte er aus origineller
+Grille ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen
+müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von
+Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir
+die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
+Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat
+daher auch die Exposition meines „Faust” mit der des „Hiob”
+einige Aehnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin
+deswegen eher zu loben als zu tadeln.”</p>
+
+<p>Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen. Was haben
+unsere Berühmtesten getan, ohne daß man sie
+beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich als den
+niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt? Ich habe,
+ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner kleinen,
+asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen
+geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, welche
+ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit
+angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes Recht.
+Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft mich
+öffentlich als einen <b>„Freibeuter auf
+schriftstellerischem Gebiete, für ewige Zeiten das
+Musterbeispiel eines literarischen Diebes!</b> Emerson, der
+Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika, sagt: „Der
+größte Genius ist zugleich auch der größte
+Entlehner”. Und Goethe sagt: „Was da ist, das ist mein. Ob ich
+es aus dem Leben oder aus dem Buche nehme, das ist gleich!” Wie
+hätte da wohl das entsprechende Urteil Pater Pöllmanns
+über diese beiden Heroen zu lauten? Sie hätten für
+ihn „für ewige Zeiten die schlimmsten aller literarischen
+Bestien” zu sein, stinkend vor Raubgier und Verworfenheit! Eine
+Kritik, die so unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend
+und so wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine
+Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das
+ganze Volk.</p>
+
+<p>Ich habe in diesen meinen „Reiseerzählungen” genau so
+geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, für die
+Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur für sie
+allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben ist, soll
+es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen und begreifen.
+Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder. Ein
+Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für Musterleser
+schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals sein und niemals
+werden. Haben wir es erst so weit gebracht, daß wir nur
+noch Musterautoren, Musterleser und Musterbücher haben, dann
+ist das Ende da! Ich bin so kühn, zu behaupten, daß
+wir uns nicht die vorhandenen Musterbücher, sondern den
+vorhandenen Schund zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen
+wollen, was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben.
+Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest,
+sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es
+verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen!
+Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke
+und Ziele. Schreibt für die große Seele! Schreibt
+nicht für die kleinen Geisterlein, für die Ihr Eure
+Kraft verzettelt und verkrümelt, ohne daß sie es Euch
+danken. Denn gebt Ihr Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall
+zu erringen, so behaupten sie doch, es besser zu können als
+Ihr, obgleich sie gar nichts können! Und schreibt nichts
+Kleines, wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure
+Augen empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es
+zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen wohnt das
+wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch Fehler macht, so
+viele Fehler und so große Fehler wie Karl May, das schadet
+nichts. Es ist besser, auf dem Wege zur Höhe zuweilen zu
+stolpern und diese Höhe aber doch zu erreichen, als auf dem
+Wege zur Tiefe nicht zu stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder
+gar erhobenen Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen
+Aequator immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst
+anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu
+sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale, hochgelegene
+Haltepunkte und Ziele.</p>
+
+<p>Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und laufe
+darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; aber ich
+befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und was
+ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche es nicht
+zu wiederholen. Und ich habe schon so viele steile Höhen zu
+überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich
+für einen jener armen Teufel halten kann, die immer auf
+ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt Leute, welche
+meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt Andere, welche sagen,
+ich habe keinen Stil; und es gibt Dritte, die behaupten,
+daß ich allerdings einen Stil habe, aber es sei ein
+außerordentlich schlechter. Die Wahrheit ist, daß ich
+auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. Ich schreibe nieder,
+was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie
+ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie, und ich
+feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein
+„Stil”, sondern meine Seele soll zu den Lesern reden. Auch
+befleißige ich mich keiner sogenannten künstlerischen
+Form. Mein schriftstellerisches Gewand wurde von keinem Schneider
+zugeschnitten, genäht und dann gar gebügelt. Es ist
+Naturtuch. Ich werfe es über und drapiere es nach Bedarf
+oder nach der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, was
+ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche
+Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will
+nicht fesseln, nicht den Leser von außen festhalten,
+sondern ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele,
+in sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann und
+darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen noch
+störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie mich die
+Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das haben
+mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt.
+Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich
+mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur allein
+durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine Leser nicht
+andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche
+stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen
+Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch
+höhere Form zu geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt
+skizziere ich noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie
+sind.</p>
+
+<p>Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten
+abgerechnet, in meinen Werken keine einzige Gestalt, die ich
+künstlerisch durchgeführt und vollendet hatte, selbst
+Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, über die ich doch am
+meisten geschrieben habe. Ich bin ja mit mir selbst noch nicht
+fertig, bin ein Werdender. Es ist in mir noch Alles in
+Vorwärtsbewegung, und alle meine inneren Gestalten, alle
+meine Sujets bewegen sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis
+ich es erreicht habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine
+Gedanken sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer Dichter
+und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer großen
+Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er innerlich reif
+geworden ist, aber ich bin auch in dieser Beziehung als Outsider
+zu betrachten, werde von Vielen sogar als Outlaw oder Outcast
+bezeichnet und darf mir darum noch lange nicht erlauben, was
+Andere sich gestatten. Was bei Andern selbstverständlich
+ist, das ist bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und
+was bei Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung gilt,
+das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein einziges Mal etwas
+künstlerisches schreiben wollen, mein „Babel und Bibel”.
+Was war die Folge? Es ist als „elendes Machwerk” bezeichnet und
+derart mit Spott und Hohn überschüttet worden, als ob
+es von einem Harlekin oder Affen verfaßt worden sei. Da
+weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt
+gewiß. Man kann wohl literarische Hanswürste
+beseitigen, nicht aber Geistesbewegungen unterdrücken, die
+unbesiegbar sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen
+aufzustellen, denen doch keine Folge gegeben würde.
+Unterlassen aber darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des
+hier berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein
+einziges, welches so deutlich spricht, daß ich ohne
+Weiteres auf alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein
+Verein, dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und
+Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich
+mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich
+stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die
+Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen
+kursierende Auskunft: „Hierseits wird zwar von dem weitern
+Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand genommen, und werden die
+Bücher nicht mehr durch unsere Verzeichnisse angeboten,
+damit wollen wir aber nicht sagen, daß der Inhalt der
+Mayschen Reiseerzählungen zu verwerfen ist, und wir muten
+auch den Vorständen unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese
+Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige
+ablehnende Stellungnahme gilt nicht den <b>Schriften,</b> sondern
+der <b>Persönlichkeit</b> des Verfassers. <b>Sie können
+also ohne Bedenken die Bände weiter ausleihen.</b>” Das
+genügt gewiß! Meinen Büchern ist nichts
+anzuhaben; meine Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum?
+Infolge jener „Mache”, von der ich schon weiter oben sprach.
+Denn man glaube ja nicht, daß die „Karl May-Hetze”, oder,
+ein wenig anständiger ausgedrückt, das „Karl
+May-Problem” eine literarische Angelegenheit sei. Es handelt
+sich hier keineswegs um schriftstellerische oder gar um ethische
+Gründe, sondern, die Sache beim richtigen Namen genannt, um
+eine rein persönliche Abschlachtung aus moralisch ganz
+niedrigen, prozessualen Gründen. Was man da von sittlichen
+und journalistischen Notwendigkeiten sagt, ist nichts als
+Spiegelfechterei, um die Wahrheit zu verstecken. Wollte man
+hierüber einen Roman schreiben, so könnte dieser der
+sensationellste aller Kolportageromane werden, und die
+Hauptpersonen würden folgende sein: Der Hauptredakteur a. D.
+<tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D.
+Pauline Münchmeyer in Dresden, der Franziskanermönch
+<tt>Dr.</tt> Expeditus Schmidt in München, der aus der
+christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf
+Lebius in Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar
+Pöllmann in Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse
+Münchmeyer, <tt>Dr.</tt> Gerlach in Niederlößnitz
+bei Dresden. Dieser Roman würde für die Beleuchtung der
+gegenwärtigen Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein
+und auch über andere Verhältnisse, gesellschaftliche,
+geschäftliche, psychologische, überraschende
+Streiflichter werfen. Es würde da viel Schmutz, sehr viel
+Schmutz zu sehen sein, der nichts weniger als appetitlich ist,
+und so will ich, da ich ihn auch hier zu erwähnen und zu
+zeigen habe, mich bemühen, so schnell wie möglich
+über ihn hinwegzukommen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap08"></a>VIII.<br/>
+Meine Prozesse.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt in seiner Parabel „Der
+Schatten” zum Dichter: „Sie wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und
+schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie
+wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem
+weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches
+Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in
+Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern
+und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, <b>daß wir Andern das leben, was Ihr
+Dichter schreibt.</b> Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches
+wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn Ihr es seid;
+wir sind unsittlich, wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach Eurem
+Glauben oder Eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder
+leichtfertig, wie es die Weiber sind, die Ihr verherrlicht.”
+</p>
+
+<p>Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht
+ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die
+seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit
+größern, entweder schaffenden oder zerstörenden,
+reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten
+Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie
+behauptet, nämlich „Nicht Einzelwesen, Drama ist der
+Mensch”, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers
+unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur
+eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt bin,
+bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung bewußt,
+welche auf uns Schreibenden ruht, sobald wir zur Feder greifen.
+So oft ich dieses Letztere tue, tue ich es in der aufrichtigen
+Absicht, als Schaffender nur Gutes, niemals aber Böses zu
+schaffen. Man kann sich also denken, wie erstaunt ich war, als
+ich erfuhr, daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer
+„abgrundtief unsittliche” Bücher geschrieben haben solle.
+Der Ausdruck „abgrundtief unsittlich” ist von Cardauns, dessen
+Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den
+übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist
+dann Alles nicht nur erwiesen, sondern „zur Evidenz erwiesen”,
+nicht ausgesonnen, sondern „raffiniert ausgesonnen”, nicht
+entstellt, sondern „bis zur Unkenntlichkeit entstellt”. Darum
+genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, weil sie
+angeblich von mir waren, das einfache Wort „unsittlich” nicht,
+sondern es war ganz selbstverständlich, daß sie gleich
+„abgrundtief unsittlich” sein mußten.</p>
+
+<p>Die erste Spur von diesen meinen „Unsittlichkeiten” tauchte
+drüben in den Vereinigten Staaten auf. Kommerzienrat Pustet,
+welcher da drüben Filialen besitzt, schrieb mir von diesem
+Gerücht und wünschte, daß ich mich darüber
+äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, daß ich
+von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache untersuchen
+lassen werde, wenn es sein müsse sogar gerichtlich. Das
+Resultat werde ich ihm dann mitteilen. Damit war für ihn die
+Sache abgemacht. Er war ein Ehrenmann, ein Mann von Geist und
+Herz, dem es niemals eingefallen wäre, durch
+Hintertüren zu verkehren. Wir hatten einander gern. Auf ihn
+fällt ganz gewiß auch nicht die geringste Spur von
+Schuld an der unbeschreiblich schmutzigen und widerlich
+leidenschaftlichen Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus
+Amerika kam, hatte ich zunächst drüben zu
+recherchieren. Das erforderte lange Zeit, und es war mir
+unmöglich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte
+nur, daß sich das Gerücht auf meine
+Münchmeyerschen Romane bezog, doch fand ich Niemand, der
+imstande war, mir die Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in
+denen die Unsittlichkeit lag. Und auf ein bloßes, vages
+Gerücht hin alle fünf Romane, also ungefähr
+achthundert Druckbogen nach Dingen, die ich gar nicht kannte,
+mühsam durchzuforschen, dazu hatte ich keine
+überflüssige Zeit, und das war mir auch gar nicht
+zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich anzuklagen, der
+mußte die unsittlichen Stellen genau kennen und war
+verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf wartete ich. Es meldete
+sich aber Keiner, der es tat. Auch Pustet tat es nicht.
+Wahrscheinlich kannte er die angeblichen Unsittlichkeiten ebenso
+wenig als ich. Leider war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm
+meine Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste
+Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. Dieser
+hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend gekürzt, ohne
+mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe Korrekturen und
+Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll mich so kennen
+lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern und Schwächen, nicht
+aber wie der Redakteur mich zustutzt. Darum teilte ich Pustet
+mit, daß er von mir kein Manuskript mehr zu erwarten habe.
+Er versuchte, mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam
+er, der alte Herr, persönlich nach Radebeul. Das war
+rührend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann
+seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben
+negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die sich
+an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der Richtige,
+Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, daß es nie wieder
+geschehen solle, und daraufhin nahm ich meine Absage zurück.
+Man hat mir das von gewisser Seite bis heut noch nicht vergessen.
+Man drückt das folgendermaßen aus: „Heinrich Keiter
+hat Kotau vor Karl May machen müssen.” Ich besitze
+hierüber Zuschriften aus nicht gewöhnlichen
+Händen. Aber er trug selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe
+Heinrich Keiter geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne
+alle seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich
+damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging nicht anders.
+Ich mußte die Buchform meiner „Reiseerzählungen”
+nach dem Texte des „Hausschatzes” drucken lassen und durfte
+darum nicht zugeben, daß an meinen Manuskripten
+herumgeändert wurde.</p>
+
+<p>Später schrieb ich für Pustet meinen
+vierbändigen Roman „Im Reiche des silbernen Löwen”.
+Ich war grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da
+bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel des
+„Hausschatzes” geschickt, dessen Inhalt mich veranlaßte,
+meine damalige Absage zu wiederholen. Ich telegraphierte Pustet,
+daß ich mitten in der Arbeit aufhören müsse und
+kein Wort weiter für ihn schreiben werde. Er mußte mir
+sogar das in seinen Händen befindliche, noch ungedruckte
+Manuskript wieder senden, wofür ich ihm das darauf
+entfallende Honorar wiederschickte. Ich würde hierüber
+kein Wort verlieren, wenn mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings
+von sehr unmaßgeblicher Seite, mit Enthüllungen aus
+jener Zeit gedroht worden wäre. Ich habe darum die
+Gelegenheit wahrgenommen, hier die Wahrheit festzustellen. Und
+ich stelle zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn
+Kommerzienrat Pustet niemals persönlich gebrochen habe und
+eine aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er nach einer
+Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen
+Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat
+<tt>Dr.</tt> Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in
+München sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter
+des „Hausschatzes” zu werden. Ich habe ihm daraufhin den „Mir
+von Dschinnistan” geschrieben.</p>
+
+<p>Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der
+Cardaunsschen „abgrundtiefen Unsittlichkeit” vorausgeeilt und
+kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit auf Grund
+und Wurzel zu gehen. Der Grund heißt Münchmeyer, und
+die Wurzel heißt ebenso. Die hierher gehörigen
+Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange Kette,
+deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch innig
+ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist erwiesen. Einiges
+liegt noch in den Akten, um an das Tageslicht gezogen zu werden.
+Ich bin nicht gewillt, den laufenden Prozessen vorzugreifen, und
+werde also nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle
+Klarheit herrscht.</p>
+
+<p>Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine
+Vorstrafen kannte. Er wußte sogar Alles, was man
+hinzugelogen hatte. Er wünschte sehr, daß ich einen
+Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber
+entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und Bekannten
+meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern ganz unbefangen
+davon erzählt und meine Ansichten über Verbrecher und
+Verbrechen, Schuld, Strafe und Strafvollzug ausführlich
+dargelegt. Kein einziges Glied der Münchmeyerschen Familie
+darf behaupten, nicht davon gewußt zu haben. Auch die
+Arbeiter der Firma erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern,
+ebenso die mitarbeitenden Schriftsteller. „May ist bestraft; er
+hat gesessen,” das drang bald leiser, bald lauter, aber
+überall durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von
+plötzlichen „Enthüllungen” oder gar von meiner
+„Entlarvung” zu sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt,
+der lügt.</p>
+
+<p>Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz
+ausgesprochene geschäftliche Vorliebe grad für
+bestrafte Mitarbeiter hatte. Geht man die Schriftsteller und
+Schriftstellerinnen durch, die für ihn geschrieben haben, so
+bilden die Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von
+ihnen. Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm
+eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von dem er
+alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war vorbestraft.
+Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion brachte er mir einen
+Wiener Postbeamten, der sich an der Kasse vergriffen hatte, als
+Mitarbeiter. Als sich ähnliche Fälle wiederholten und
+ich ihn nach seinen Gründen fragte, antwortete er: „Mit
+einem Schriftsteller, der bestraft worden ist, kann man machen,
+was man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen
+verraten werden.” „Also auch ich?!” rief ich aus, erstaunt
+über diese Aufrichtigkeit. „Unsinn!” entgegnete er. „Mit
+Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde! Und Sie sind
+doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit sich machen
+läßt, was man will! Selbst wenn ich Sie nicht
+aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den
+Kürzern!” Er gab sich Mühe, das in mir erwachte
+Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz
+verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich
+kündigte und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion
+aufgab. Auch später, als ich nach sechs Jahren das
+„Waldröschen” für ihn zu schreiben begann, tauchte
+dieses Bedenken gegen ihn wieder in mir auf. Aber die
+Ausnahmestellung, die er mir persönlich und
+geschäftlich bei sich einräumte, das Ausnahmehonorar,
+welches er mir zahlte, und vor allen Dingen die Einwürfe,
+die mir meine Frau bei jeder Gelegenheit gegen mein
+Mißtrauen machte, das alles wirkte dahin, daß ich
+schließlich zu meinem früheren Vertrauen
+zurückkehrte.</p>
+
+<p>Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen keine
+Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte nicht mehr
+zurückbekam, habe ich bereits erwähnt. Ich konnte also
+nicht kontrollieren, ob der Druck mit meinem Originalmanuskript
+übereinstimmte. Doch war mir hier so bestimmt Ehrlichkeit
+versprochen worden, daß ich einen Betrug für
+ausgeschlossen hielt. Auch daß Münchmeyer später
+einmal behaupten könne, meine Romane mit allen Rechten nicht
+bloß bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten, sondern
+für immer erworben zu haben, erschien mir als
+unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine Briefe
+aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich miteinander
+ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte, und zweitens hatte
+ich auch noch einen andern vollgültigen Beweis in der Hand,
+daß er diese Rechte nicht für immer besaß. Er
+hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht, diese
+Rechte noch nachträglich zu erwerben. Er hatte das durch
+einen Revers getan, den er mir durch jenes vorbestrafte Faktotum
+Walter schickte und zur Unterschrift vorlegen ließ. Ich
+wies aber diesen außerordentlich pfiffigen Boten mit seinem
+Revers zurück. Dieser Walter war es auch, durch den ich auf
+meine Anfragen immer die schriftliche oder mündliche
+Versicherung bekam, daß die Zwanzigtausend noch nicht
+erreicht sei. Uebrigens hatte ich nicht die geringste Sorge,
+weder um meine Rechte noch um meine „feinen Gratifikationen”.
+Meine Rechte waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich
+jetzt in pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich
+glaubte, mehr als bloß zahlungsfähig waren. Daß
+er mit schlechtgehenden Romanen wieder verlor, was er an
+gutgehenden verdiente, und daß er sich auf
+Wechselreitereien eingelassen hatte, durch welche seine
+Kapitalkraft arg geschädigt wurde, davon wußte ich
+nichts. Ich war also überzeugt, ruhig warten zu können
+und gar keine Veranlassung zu haben, verfrühte und darum
+beleidigende Forderungen zu stellen. Uebrigens war meine Frau so
+vollständig gegen alles geschäftliche Drängen und
+Treiben, daß ich nun auch um den äußeren
+häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls ich gegen
+Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie wünschte.
+Auch behaupten die Kolportageverleger, daß es in ihrer
+Buchführung viel schwieriger sei und viel längere Zeit
+erfordere, als bei andern Verlegern, nachzuweisen, wieviel feste
+Abonnenten man habe. Es springen beständig welche ab, und es
+kommen beständig welche hinzu, darum hatte ich Geduld.</p>
+
+<p>Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger F. E.
+Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich übergab ihm den
+Buchverlag der bei Pustet in Regensburg erschienenen Werke und
+vereinbarte mit ihm, nach diesen dann auch die
+Münchmeyerschen herauszugeben. Er nahm die ersten sofort in
+Angriff, und sie gingen ausgezeichnet. Wir waren beide
+überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen nicht
+weniger Erfolg haben würden, stellten die letzteren aber bis
+zur Vollendung der Pustetschen Serie zurück. Jede der beiden
+Serien sollte dreißig Bände umfassen. Was daran
+fehlte, hatte ich noch hinzuzuschreiben. Das ergab für die
+Pustetsche Serie ungefähr zehn Bände, die ich noch zu
+liefern hatte. Das war eine Arbeit, die mir keine Zeit
+ließ, mich jetzt um meine Münchmeyerschen Sachen zu
+bekümmern. Darum mußte mich auch die unerwartete
+Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich gestorben
+sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen.
+Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als ich
+hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der
+Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt.</p>
+
+<p>Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline Münchmeyer
+schickte mir einen Boten, der den Auftrag hatte, mich
+auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein werde, ihr einen
+neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote war auch ein
+„Vorbestrafter”. Ich ließ ihn unverrichteter Sache wieder
+gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung besonders
+nachzudenken. Ich wußte damals nicht, was ich erst viel
+später erfuhr, nämlich daß es mit
+Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte.
+Man hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem Entschlusse
+gelangt, durch einen neuen Roman von Karl May die Lage zu
+verbessern. Ich hatte weder Zeit noch Lust, ihn zu schreiben,
+beschloß aber für den Fall, daß man den Versuch
+erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen einzutreten, um
+über die Erfolge meiner bisherigen Romane etwas Bestimmtes
+zu erfahren. Und die Wiederholung des Versuches kam. Frau
+Münchmeyer stellte sich selbst und persönlich bei uns
+ein. Sie besuchte uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar
+Vorausbezahlung des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum
+Walter und ließ Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den
+Bescheid, daß ich nicht eher etwas Neues liefern
+könne, als bis über das Alte volle Klarheit geschafft
+worden sei. Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der
+Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend
+müsse doch schon längst erreicht worden sein. Frau
+Münchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau
+zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen. Wir
+stellten uns ein. Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend
+erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht nur bei einem;
+nur müsse es erst noch genau berechnet werden, und das sei
+in der Kolportage so ungemein schwierig und zeitraubend. Ich
+möge mich also in Geduld fassen. Was meine Rechte betreffe,
+so fallen diese mir hiermit wieder zu, ich könne die Romane
+nun ganz für mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir
+meine Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken
+lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde mir an
+ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und sie vorher extra
+für mich in Leder binden lassen. Das geschah. Nach kurzer
+Zeit kamen die Bücher durch die Post; ich war wieder Herr
+meiner Werke -- -- -- so glaubte ich! Freilich war es mir
+unmöglich, sie sofort herauszugeben, weil die Pustetschen
+vorher zu erscheinen hatten. Ich legte die Bücher also
+für einstweilen zurück, ohne mich mit der Prüfung
+ihres Inhaltes befassen zu können. Ich hatte meinen Zweck
+erreicht, und von der Abfassung eines neuen Romanes war keine
+Rede mehr. Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich
+hören. Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß
+nun doch die „feinen Gratifikationen” fällig waren, deren
+Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich aber
+drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte das Geld
+nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht übergehen,
+daß meine Frau während dieser ganzen Zeit sich alle
+Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen Frau
+Münchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe für
+Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund der sonst
+unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte.</p>
+
+<p>Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach dem
+Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer
+ihr Geschäft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort einen
+Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane mit zu verkaufen.
+Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche dar und ging
+zunächst nach Oberägypten. Von dort nach Kairo
+zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich erfuhr,
+daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen sei; der
+Verkäufer <tt>[sic]</tt>
+heiße Fischer. Ich zögerte nicht, an diesen Herrn zu
+schreiben. Er antwortete mir im Kolportageton, daß er das
+Münchmeyersche Geschäft nur wegen der Romane von Karl
+May gekauft habe. Alles Andere sei nichts wert. Er werde diese
+meine Sachen so ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich,
+falls ich ihn daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser
+Ton fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr
+minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mußte diesem mir
+vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art
+geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit
+verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen
+Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu
+berichten. Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau
+an. Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn Tage,
+in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und telegrafierte, doch
+vergebens; es kam kein Bericht. Endlich erhielt ich einige
+Zeilen, in denen sie mir sagte, daß sie in Paris gewesen
+sei, aber weiter nichts. Als in Massaua, der Hauptstadt von
+Erythräa am roten Meere, mein arabischer Diener mir die Post
+brachte, quoll mir eine Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus
+denen ich, der gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat
+inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine
+Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner
+Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit derartigen
+Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf dieses
+Unternehmen aufmerksam werden mußte. Mein Name war genannt,
+obgleich ich diese Romane, nur einen ausgenommen, pseudonym
+geschrieben und Münchmeyer verpflichtet hatte, diese
+Pseudonymität auf keinen Fall zu brechen. Zugleich stellte
+sich heraus, daß mit den Romanen eine Umarbeitung
+vorgenommen werden sollte. Mir wurde himmelangst. Ich schrieb
+heim und beauftragte einen dortigen Freund, dem ich
+vollständig vertrauen konnte, sich einen Rechtsanwalt zu
+Hilfe zu nehmen und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu
+führen, wenn nötig sogar gerichtlich.</p>
+
+<p>Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der
+Besitzer der „Sächsischen Verbandstoffabrik” in Radebeul,
+die er gegründet hatte. Man wird bald sehen, warum ich
+für kurze Zeit bei ihm verweile. Er war
+außerordentlich glücklich verheiratet. Seine Familie
+bestand nur aus ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir
+waren so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du
+nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten. Aber
+außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu sagen, das
+brachte Plöhn nicht fertig. Er versicherte, daß ihm
+dies unmöglich sei. Frau Plöhn ist jetzt meine Frau. Es
+ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder gar
+Vorzügen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische.
+Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher gelesen.
+Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr ebenso unbekannt
+und gleichgültig wie meine Ziele und Ideale überhaupt.
+Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin von mir und
+besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis für
+all mein Hoffen, Wünschen und Wollen. Ihr Mann freute sich
+darüber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes Arbeiten,
+oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht hindurch, keine
+helfende Hand, kein warmer Blick, kein aufmunterndes Wort; ich
+stand innerlich allein, allein, allein, wie stets und allezeit.
+Das tat ihm wehe. Er versuchte, durch seine Frau auf die meinige
+einzuwirken, damit diese mir wenigstens die störende
+Korrespondenz abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu
+erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn
+eine große Freude sein. Ich gestattete es den beiden guten
+Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in der Hand von Frau
+Plöhn. Tausenden von Leserinnen und Lesern ist über der
+Unterschrift von „Emma May” geantwortet worden, ohne daß
+sie wußten, daß es nicht meine Frau, sondern eine
+schwesterliche Helferin war, die mir meine Last erleichterte. Sie
+arbeitete sich mehr und mehr in meine Gedankenwelt und meinen
+Briefwechsel ein, so daß ich ihr schließlich die
+ganze, umfangreiche Korrespondenz getrost überlassen konnte.
+Ihr Mann war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter,
+eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau, die
+gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich
+gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die
+nicht unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.</p>
+
+<p>Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit so
+kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und er tat
+es, so gut er konnte. Er übergab die prozessuale
+Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und
+benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich
+augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber nicht
+zögern werde, mich bei der beabsichtigten Vergewaltigung zu
+erwehren. Mehr konnte für den Augenblick nicht getan werden,
+weil es mir unmöglich war, meine Reise abzubrechen. Von
+meiner Frau bekam ich keine Nachricht. Es war ihr unmöglich,
+sich um so ernste, geschäftliche Angelegenheiten zu
+bekümmern. Plöhns aber schrieben, doch konnten mich
+diese Briefe erst in Padang auf der Insel Sumatra erreichen. Sie
+lauteten aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen
+Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in
+einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden
+Gerüchte über mich verbreitet, die teils
+lächerlich, teils gewissenlos waren. Man las in den
+Zeitungen, daß ich mich gar nicht im Orient befinde,
+sondern mich wegen einer bösartigen Krankheit im Jodbad
+Tölz, Oberbayern, versteckt habe. Hätte ich geahnt,
+daß das in dieser lügenhaften, gehässigen und
+böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt weitergehen werde, so
+würde ich meine Reise doch unterbrochen und schleunigst nach
+Hause zurückgekehrt sein. Hätte ich das getan, so
+wären mir alle die unmenschlichen Martern und Qualen, die
+ich während dieser langen Zeit ausgestanden habe, erspart
+geblieben. Leider aber wußte ich damals noch nicht, was mit
+meinen Romanen vorgegangen war und welche Leitgedanken im
+Münchmeyerschen Geschäft über mich kursiert hatten
+und heute noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der
+Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für
+nötig, als eine genaue Information, aus der sich die
+einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten. Ich schrieb
+also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten
+kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen
+würde. Sie kamen, aber sehr verspätet, weil Plöhn
+unterwegs krank geworden war. Was ich von ihnen erfuhr, lautete
+keineswegs günstig und klang außerdem sehr unbestimmt.
+Der Rechtsanwalt stand immer noch erst bei den Vorbereitungen.
+Fischer hatte erklärt, sich auf das Aeußerste wehren
+zu wollen; meine Romane habe er von Frau Münchmeyer gekauft;
+sie seien sein wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er
+machen könne, was er wolle. Die Zeitungen waren gegen mich
+eingenommen. Meine Münchmeyerschen Romane wurden als
+Schundromane bezeichnet. Ich sah ein, daß ein Prozeß
+mit Münchmeyers nicht zu umgehen war, und fragte meine Frau
+nach den für mich hierzu nötigen Dokumenten.</p>
+
+<p>Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers
+Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war für einen
+Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig,
+daß ich ihn glattweg gewinnen mußte. Diese Briefe
+waren nebst andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten
+Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner Abreise meine
+Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt ganz besonders
+aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der Briefe ganz besonders
+erklärt und sie aufgefordert, dafür zu sorgen,
+daß ja nicht das geringste Blättchen davon verloren
+gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen Dokumenten fragte,
+versicherte sie mir, daß sie noch genau so lägen, wie
+ich sie ihr übergeben habe. Kein Mensch habe sie
+berührt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete den sicher
+gewonnenen Prozeß. Als meine Frau mir diese Versicherung
+gab, stand Frau Plöhn dabei und hörte es. Sie sah sie
+groß an, sagte aber nichts. Das fiel mir damals nicht auf;
+später aber, als ich mich dieses großen, erstaunten,
+mißbilligenden Blickes erinnerte, wußte ich nur allzu
+gut, was er hatte sagen sollen. Meine Frau war nämlich eines
+Abends zu Frau Plöhn gekommen und hatte ihr mitgeteilt,
+daß sie soeben unsern Trauschein verbrannt habe, der
+Vorbedeutung wegen, die sich damit verbinde. Und einige Zeit
+später hatte sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt,
+daß sie nun auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten
+genommen und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern,
+daß ich Münchmeyers verklage. Frau Plöhn war
+hierüber entsetzt gewesen, hatte aber die vollendete
+Tatsache nicht zu ändern vermocht. Jetzt, als sie die
+Versicherung meiner Frau mit anhören mußte, daß
+die Briefe noch unberührt vorhanden seien, gab es in ihr den
+ersten Riß zu jener innern Scheidung, die erst dann auch
+äußerlich zu Tage trat, als nichts mehr verheimlicht
+werden konnte. Wir reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien,
+über Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause.
+Während dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen
+immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig
+unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen. Sie wurde
+schließlich zornig und verbat sich jede weitere
+Erwähnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster
+Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten -- -- --
+leer! Hierüber zur Verantwortung gezogen, erklärte sie,
+daß sie die Briefe allerdings verbrannt und vernichtet
+habe. Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers gewesen und
+sei es auch noch heute. Sie wisse zwar, daß ich recht habe,
+aber sie dulde nicht, daß ich Münchmeyers verklage.
+Darum habe sie die Papiere verbrannt. Man kann sich denken, wie
+mir zu Mute war, aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon
+jahrelang in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war
+still, nahm den Hut und ging.</p>
+
+<p>Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich immer
+zahlreicher und deutlicher geworden. Man beschuldigte mich, zu
+gleicher Zeit fromm und unsittlich geschrieben zu haben. Ich nahm
+die Romane her, die mir Frau Münchmeyer hatte einbinden
+lassen, und fand, daß man von meinen Originalmanuskripten
+abgewichen war und sie verändert hatte. Also darum hatte man
+die Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben!
+Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können! Das
+Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon
+benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung
+abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich wollte die
+Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern des Strafprozesses
+verfolgen, stieß dabei aber auf solchen Widerstand bei
+meiner Frau, daß ich darauf verzichtete. Ich befragte mich
+bei verschiedenen Rechtsanwälten, nicht nur in Dresden,
+sondern auch in Berlin und anderswo. Ich hätte so gern
+gleich direkt wegen der „abgrundtiefen Unsittlichkeiten”, die
+mir vorgeworfen wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig
+versichert, daß dies unmöglich sei. Eine Klage
+könne nicht auf ideale Dinge gerichtet, sondern müsse
+materiell begründet sein. Ich müsse vor allen Dingen
+beweisen, daß ich der rechtmäßige
+Eigentümer der betreffenden Romane sei, und also das Recht
+besitze, zu verklagen. Am Besten sei es, die Klage auf
+„Rechnungslegung” zu richten. Das geschah.</p>
+
+<p>Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des
+Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir
+meldete. Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn
+abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war eine
+hochinteressante, sowohl psychologisch als auch prozessual.
+Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er wisse, ich sei
+vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg am Rocken habe, der
+solle sich wohl sehr hüten, zu prozessieren, sonst
+könne die Sache sehr leicht ein anderes Ende nehmen, als man
+denke. Meine Romane seien jetzt sein Eigentum. Man habe sie schon
+früher verändert, und nun lasse er sie von Neuem
+umarbeiten, ganz so, wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn
+prozessiere, so könne das länger als zehn Jahre dauern;
+aber bis dahin sei ich längst kaput. Er sei aber gekommen,
+mir die Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich solle
+ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf meine Romane
+und liefere sie mir mit allen Rechten aus. Dann sei es mir
+leicht, die ganze Aufregung der Presse gegen mich mit einem
+einzigen Schlage zum Schweigen zu bringen. Er biete mir seine
+Hilfe dazu an. Er wisse mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze
+Münchmeyerei. Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter
+siebzigtausend Mark könne er nicht verzichten, denn er habe
+hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt.</p>
+
+<p>Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen
+Vorschlag nicht einging. Ich erklärte ihm, daß ich
+keinen Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei.
+Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten werde, ob
+gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe. Er rate mir zu dem
+Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich als Zeuge dienen
+könne, denn er sei mit dieser Frau keineswegs zufrieden,
+sondern stehe in immerwährendem Streit mit ihr. Hierauf
+entfernte er sich mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen
+in Acht zu nehmen.</p>
+
+<p>Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen. Aber meine
+Frau und, wohl infolgedessen, auch mein Rechtsanwalt bestimmten
+mich, hiervon abzusehen. So wurde also Fischer verklagt. Aber die
+Witwe schien keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel
+ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei und
+ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang mir, gegen
+Fischer eine einstweilige Verfügung zu erreichen, welche ihm
+verbot, meine Romane weiterzudrucken. Er durfte nur noch
+komplettieren. In dieser für ihn sehr heiklen Lage kam er
+mit meinem Rechtsanwalt zu sprechen und klagte über den
+Verlust, der ihm dadurch entstehe; dieser betrage schon
+vierzigtausend Mark. Wenn das nicht aufhöre, müsse er
+sich noch ganz anders wehren als bisher und mich durch die
+Veröffentlichung meiner Vorstrafen in allen Zeitungen vor
+ganz Deutschland kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese
+Drohung mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu
+begreifen und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu
+sondieren. Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir
+zustande, in einer separierten Weinstube, unter vier Augen. Da
+wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er während der
+Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers über mich und
+meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr den ganzen Feldzugsplan,
+von dem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. Es war ihm
+weisgemacht worden, ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus,
+weil ich als Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe.
+Das passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen,
+daß ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche
+das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput.
+Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor solchen
+Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso gut
+wie ich selbst. Was ich mit Münchmeyer über meine
+Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig. Münchmeyer
+sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwören habe. Und
+daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man zu
+sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe, die es
+gebe. Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung zu
+drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück.
+Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still. „Den haben
+wir in der Hand!”</p>
+
+<p>In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen, und daraufhin
+hatte er das Geschäft gekauft. So versicherte er mir.
+Daß meine Romane verändert worden seien, das wisse er.
+Nur wisse er nicht genau, von wem. Wahrscheinlich von Walter. Der
+habe ja weiter gar nichts Anderes als solche Sachen zu machen und
+dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar nicht
+schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur ein Wort zu
+ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so ist die
+„Unsittlichkeit” da, ohne die es bei solchen Romanen nun einmal
+nicht abgehen will. Ich könne diese Aenderungen sehr leicht
+nachweisen; ich brauche nur meine Originalmanuskripte
+vorzulegen.</p>
+
+<p>„Aber die sind ja verbrannt!” fiel ich ein.</p>
+
+<p>Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede. Er
+behauptete, sie seien noch da. Er könne sie mir verschaffen,
+aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen nicht, wo ich
+sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner einstweiligen
+Verfügung zugrunde richte. Er könne nur dann mein
+Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten, wenn ich diese
+Verfügung fallen lasse und mich mit ihm vergleiche.</p>
+
+<p>Diese Unterredung war für mich von unendlicher
+Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte mich, ob ich
+trauen dürfe. Waren die Originalmanuskripte wirklich noch
+da, so konnte ich allerdings alle gegen mich gerichteten
+Vorwürfe, wie Fischer gesagt hatte, mit einem Schlage
+verstummen machen. Aber er konnte mich täuschen wollen oder
+auch selbst getäuscht worden sein. Ich durfte nicht
+vorschnell entscheiden; ich mußte beobachten und
+überlegen, zumal diese Wendung meiner Angelegenheit in eine
+Zeit fiel, in der mich schwere, innerliche Kämpfe derart
+beschäftigten, daß ich für Anderes weder Zeit
+noch Raum zu finden vermochte. Das war die Zeit meiner
+Ehescheidung.</p>
+
+<p>Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen
+Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament sei. Wenn ich
+nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich diesen Schritt
+schon längst getan und nicht erst dann, als es meine
+Gesundheit, mein Leben und meine ganze innere und
+äußere Existenz zu retten galt. Man hat mir diesen
+Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr mit Unrecht.
+Katholische Kritiker, die anstatt auf sachlichem Gebiete zu
+bleiben, ihre Angriffe auf das persönliche
+hinüberspielten, haben mir in einem Atem vorgeworfen,
+daß ich Protestant sei und mich von meiner Frau habe
+scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil ich als Protestant
+gelte, hat kein Mensch das Recht, mir den zweiten Vorwurf zu
+machen. Für jeden nur einigermaßen anständigen
+Menschen ist die Ehescheidung eine Angelegenheit von
+selbstverständlichster Diskretion. Die meinige aber hat man
+in den Zeitungen herumgetragen, mit den widerlichsten Randglossen
+versehen und zu den ungeheuerlichsten Verdächtigungen
+ausgenutzt. Ich will das Alles hier übergehen, um meine
+Bemerkungen, falls ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer
+Stelle zu machen. Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern
+auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil
+sie ihr den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte,
+wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe bereits gesagt,
+daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten krank geworden
+sei. Er erholte sich nur scheinbar wieder. Das Uebel repetierte,
+nachdem er in die Heimat zurückgekehrt war. Ein Jahr
+später kam der Tod. Frau Plöhn brach fast zusammen.
+Wäre ihre Mutter nicht gewesen, so wäre sie ihrem Manne
+sicher nachgestorben. Glücklicherweise bot ihr auch die
+Korrespondenz, die sie für mich mit meinen Lesern
+führte, die seelische Erleichterung und Unterstützung,
+deren sie bedurfte. Sie besaß zwei Zinshäuser in
+Dresden, die sie gern gegen ein ihr angebotenes
+Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu dem Dorfe
+Niedersedlitz gehörte. Dorthin hatte Fischer seine
+Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung lag da. Frau
+Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung dieses
+Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun einmal in
+Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe, dies Fischer wissen
+zu lassen. Er lud uns nach seiner Privatwohnung ein, und es
+entspann sich da eine Verhandlung, welche am nächsten Tage
+zu einem Vergleiche führte.</p>
+
+<p>Ich will so kurz wie möglich sein. Fischer klagte
+darüber, daß er sich durch den Kauf des
+Münchmeyerschen Geschäftes zum „Schundverleger”
+degradiert habe; er versicherte, daß er sich heraussehne,
+und er behauptete, daß ich ihm dazu behilflich sein
+könne wie kein Anderer. Dieses Letztere war auch ich
+überzeugt. Er hatte die veränderten Romane erworben,
+ohne daß Frau Münchmeyer das Recht besaß, sie
+ihm zu verkaufen. Wenn er dafür sorgte, daß ich meine
+Originalmanuskripte zurückerhielt, konnte er die
+Schundarbeiten fallen lassen und an ihrer Statt meine Originale
+herausgeben; da war ihm und zugleich auch mir geholfen; er war
+kein Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich
+nichts Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke
+des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben, war ich
+überzeugt, daß aller Streit gehoben sei. Fischer
+bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß
+die unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane <b>nicht
+aus meiner Feder stammen, sondern von dritter Hand hineingetragen
+worden seien.</b></p>
+
+<p>Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als
+trügerisch. Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht
+bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich vernichtet.
+Es war ihm also unmöglich, sich aus einem
+„Schundverleger”, wie er sich in einem Briefe an mich
+bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er machte zwar
+den Versuch, auch ohne meine Originalmanuskripte zu einem
+Originalroman zu kommen, um den Schund dann fallenlassen zu
+können, aber ich mußte ihm dabei die Hilfe, die er von
+mir forderte, versagen. Er verlangte nämlich von mir,
+daß ich den Schund aus dem Gedächtnisse in seine
+frühere, einwandfreie Fassung zurückverändere; das
+aber war bei einer Fülle von ungefähr
+dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding der
+absolutesten Unmöglichkeit. Er bestand aber auf seinen <tt>[sic]</tt>
+Schein, auf unsern <tt>[sic]</tt> Vergleich, und obgleich er das nicht
+leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich doch Alles
+tun, was grad seinetwegen unmöglich war. Daraus ergab sich
+ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen, welches sich
+über seinen Tod hinaus erstreckte und erst von seinen Erben
+zum friedlichen Ende geführt worden ist. Diese sahen klarer
+als er, und sie waren ruhigen, unbefangenen Gemütes. Sie
+waren Fachleute, nämlich Rechtsanwälte, Kaufleute,
+Buchdruckerei- und Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu
+folgender Erklärung:</p>
+
+<p><b>„In einem zwischen Herrn Karl May und den Erben des Herrn
+Adalbert Fischer anhängig gewesenen Rechtsstreite haben die
+Fischerschen Erben erklärt, daß die im Verlage der
+Firma H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des
+Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit durch Einschiebungen
+und Abänderungen von dritter Hand eine derartige
+Veränderung erlitten haben, daß sie in ihrer jetzigen
+Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten
+können. Herr May ist zur Veröffentlichung dieser
+Erklärung ermächtigt worden.</b></p>
+
+<p><b>Dresden, im Oktober 1907.</b><br/>
+</p>
+
+<p>Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth
+verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert,
+Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred
+Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein,
+Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Elb. Leichtfertige Menschen haben
+behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern und
+unmündigen Personen abgegeben worden sei. Man sieht auch
+hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich kämpft. Für
+mich aber ist die Abteilung Fischer meines
+Münchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung Pauline
+Münchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr habe ich mich in
+Folgendem nun zuzuwenden.</p>
+
+<p>Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm, welches
+ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen, nämlich:</p>
+
+<p><b>„May ist vorbestraft. Er hat das zu verheimlichen. Wir
+haben ihn in der Hand. Zwei Zeilen genügen, so ist er still.
+Wenn er uns verklagt, so machen wir ihn durch
+Veröffentlichung seiner Vorstrafen in allen Zeitungen durch
+ganz Deutschland kaput. Was May mit Münchmeyer ausgemacht
+hat, ist gleichgültig. Hauptsache ist, wer den Eid bekommt.
+Und daß May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu
+sorgen wissen.”</b></p>
+
+<p>Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim
+geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den
+Akten festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun
+neunjährigen Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt
+worden. Von dem, was Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Gerlach im Namen
+seiner Klientin Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise
+behauptet oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen.
+Mich aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen
+hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig ist.
+Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte
+hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit neun
+Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür
+bestrafen lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz grad
+jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von ihm zu dulden,
+was sich kein Anderer jemals erlaubt. Von den Richtern wiederholt
+zurechtgewiesen und von andern Anwälten zur Rede gestellt,
+bleibt er dieser seiner Spezialität doch treu. Zur
+Ausführung des Münchmeyerschen Programms war es
+zunächst nötig, zu meiner Strafliste zu gelangen. Zu
+diesem Zweck wurde eine Beleidigungsklage fingiert, die man
+sofort zurücknahm, als der Zweck erreicht war. Von da an
+tauchten in den Zeitungen mehr oder weniger verblümte
+Notizen über meine Vergangenheit auf. „Ich weiß noch
+mehr!” schrieb der Eine; „Sie wissen wohl, was ich meine, Herr
+May?” fragte der Andere. Das „Kaputmachen” begann. Aber der
+<tt>Spiritus rector</tt>, der eigentliche Täter, blieb stets
+schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte stets
+durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit über seine
+Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein sehr
+umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er steht mit allen
+meinen literarischen Gegnern in inniger Beziehung, und wo in
+einem Blatt von mir die Rede ist, da pflegt ein Brief von ihm
+oder von einem seiner Vertrauten sich einzustellen. Und man
+glaubt ihm fast überall. Man glaubt ihm, wie Cardauns
+seinerzeit dem Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß
+ich die Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie
+im Druck erschienen sind.</p>
+
+<p>Dieser Herr <tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns ist von dem sehr
+dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der
+zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze
+bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders gewollt. Er
+steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er eigentlich nicht
+gehört. Er hat auch das gewollt. Sein niederschmetternder
+Stil, seine infallible Ausdrucksweise, seine „abgrundtiefen”
+oder „evidenten” Verdoppelungsworte haben Schule gemacht,
+besonders bei denen, welche mir Stricke drehen, um mich „aus der
+deutschen Kunst hinauszupeitschen.” Aber alles, was er in
+Vorträgen und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und
+zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule,
+an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus lauter
+vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, dessen Schnur
+niemand mehr halten will, es sei denn Herr Cardauns selbst. Es
+ist gewiß sehr viel blinder Glaube dazu nötig, gleich
+ihm zu denken, daß meine „Unsittlichkeiten” auch noch in
+anderer Weise bewiesen werden können, als nur durch
+Vorlegung meiner Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es
+nicht; auch Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht
+bewiesen werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen
+gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen
+Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber bis jetzt
+habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein einziges
+Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser Herr besitzt einen
+älteren Münchmeyerschen Druck und eine spätere
+Fischersche Ausgabe und hält den ersteren für
+gleichlautend mit meinem Originale. Es ist für mich aber
+wirklich unmöglich, daß einem „Haupt- oder
+Chefredakteur” solche Irrungen passieren können. Ich gebe
+ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in einem
+berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht und was
+für Schwindel da getrieben wird, aber das ist keine
+Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn, denn wenn er
+das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht gestatten,
+Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes zu ziehen,
+die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute ziehen darf. Die
+ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten Schundromane hatte Fischer
+nur den überlauten Trommel- und Paukenschlägen des
+Herrn Cardauns zu verdanken. Selbst der unfähigste Politikus
+weiß, daß man solche Dinge durch Schweigen
+tötet, nicht aber durch Gongs und Tamtams. Mir aber, der ich
+durch diese Tamtams, diese Vorträge und Zeitungsartikel
+erschlagen werden sollte, wurde es durch sie unmöglich
+gemacht, den Schund so, wie ich wollte, gänzlich aus der
+Welt zu schaffen. Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns
+meine Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich
+um die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben,
+welches man ihm nie vergessen wird. Er ist während der
+ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion gewesen, ob
+gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf die Wirkung
+gleich.</p>
+
+<p>Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende
+Champion für die Münchmeyersache ist der aus der
+christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Herr Rudolf
+Lebius in Charlottenburg. Ich gebe über ihn einen Auszug
+meines Schriftsatzes an die vierte Strafkammer des
+Königlichen Landgerichtes <tt>III</tt> in Berlin:</p>
+
+<p>„Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde am Gardasee
+von einer heimatlichen Postsendung erreicht, bei der sich auch
+eine Zuschrift eines gewissen Lebius befand, der sich in ganz
+überschwenglicher Weise als einen großen Kenner und
+Bewunderer meiner Werke bezeichnete und die Bitte aussprach, mich
+einmal besuchen zu dürfen. Diese Ueberschwänglichkeit
+erregte sofort meinen Verdacht. „Der will Geld, weiter nichts,”
+sagte ich mir. Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei
+und ihn also nicht empfangen könne. Hierauf schrieb er mir
+am 7. April 1904:</p>
+
+<p class="letter">
+„Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="letter">
+Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich Ihnen zu
+nähern, wovon die inliegende Karte ein Beweis ist.
+Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung herausgegeben, die
+großen Anklang findet. Können Sie mir vielleicht etwas
+für mein Blatt schreiben? Vielleicht etwas Biographisches,
+die Art, nach der Sie arbeiten, oder über derartige
+Einzelheiten, für die sich die deutsche May-Gemeinde
+interessiert. Ich würde Sie auch gern interviewen.</p>
+
+<p class="letter">
+<b>Mit vorzüglicher Verehrung</b></p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius,          <br/>
+Verleger und Herausgeber.”
+</p>
+
+<p>Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig
+aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er
+unterschrieb sich „mit vorzüglicher Verehrung.” Ich sagte
+mir wieder: „der will nur Geld.” Die Behauptung, daß
+seine neue Zeitung „großen Anklang finde”, entsprach der
+Wahrheit nicht. Ich sollte damit geködert werden. Man darf
+den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal wenn sie mit einer
+wenn auch noch so kleinen Zeitung bewaffnet sind, sonst
+rächen sie sich. Ich schrieb ihm also, daß er kommen
+dürfe, und er antwortete am 28. April:</p>
+
+<p class="letter">
+„Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben.
+Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern
+Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben, komme ich am
+Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen (Abfahrt 3,31).<br/>
+    <b>Mit großer Hochachtung und Verehrung</b></p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius.”  
+</p>
+
+<p>Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen. Ich duldete das
+nicht. Er wurde von meiner Frau, die ihn empfing, nur unter den
+Bedingung zu mir gelassen, daß absolut nichts
+veröffentlicht werde. Er gab erst ihr und dann auch mir sein
+Wort darauf. Er blieb zum Kaffee, und er blieb bis nach dem
+Abendessen. Er sprach sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich
+war absichtlich schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt
+nötig war. Ich traute ihm nicht und hatte, um später
+einen Schutzzeugen zu haben, zugleich mit ihm den
+Militärschriftsteller und Redakteur Max Dittrich eingeladen,
+der an meiner Stelle die Unterhaltung leitete.</p>
+
+<p>Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte. Er wurde
+um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich blieb. Er gab
+sich alle Mühe, mich und meine Frau davon zu
+überzeugen, daß er „ein ganzer Kerl” sei. So lautete
+sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er sprach
+unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten,
+seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit,
+seinen reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen
+als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger,
+Herdenführer und Volkstribun.</p>
+
+<p>Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren, geschah in einer
+Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen Menschen, der
+so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt ist, daß
+er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber
+lachen. Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden
+seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mußte von seiner
+Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis! Denn er
+brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er auf mich
+gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum offenbarte er
+uns in seiner Geldangst seine verborgensten Geschäfts- und
+Lebensgrundsätze. Er glaubte infolge des vielen Weines, uns
+dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch aber um so sicherer
+ab. Da ich mich hier kurz zu fassen habe, gebe ich von diesen
+seinen Grundsätzen nur die drei wichtigsten wieder.
+Nämlich:</p>
+
+<p class="letter">
+1.
+Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich kein
+Geld. Darum dürfen wir uns auch keine eigene Meinung
+gestatten. Wir wollen leben. Darum verkaufen wir uns. <b>Wer am
+meisten zahlt, der hat uns!</b>
+</p>
+
+<p class="letter">
+2.
+Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter und in
+seinem Leben. <b>Auch jeder Arbeitgeber, jeder Beamte, jeder
+Polizist, jeder Richter oder Staatsanwalt hat solches Werg an
+seinem Rocken.</b> Das muß man klug und heimlich zu
+erfahren suchen. Keine Mühe darf dabei verdrießen. Und
+ist es erforscht, so hat man gewonnenes Spiel. Man bringt in
+seinem Blatte eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt,
+daß man alles weiß, doch so, daß er nicht
+verklagen kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann mit ihm
+machen, was man will. Er gibt klein bei. In dieser Weise habe ich
+meinen Lesern schon außerordentlich viel genützt!
+</p>
+
+<p class="letter">
+3.
+Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in Schafe und
+Böcke, in Herren und Knechte, in Gebietende und Gehorchende.
+Wer aufhören will, Herdenmensch zu sein, <b>der hat das
+Herdengewissen bei Seite zu legen.</b> Wenn er das tut, dann
+laufen alle, die dieses Gewissen noch mit sich schleppen, hinter
+ihm her. Es ist ganz gleich, zu welcher Herde er gehören
+will. Er kann von einer zur anderen übertreten, kann
+wechseln. Das schadet ihm nichts. Nur hat er dafür zu
+sorgen, daß es mit der nötigen Wärme und
+Ueberzeugung geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die
+Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen nach!
+</p>
+
+<p>Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten,
+brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau war still
+vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den Ekel zu verwinden!
+Lebius bekam infolge dessen weder Geld noch sonst etwas von mir.
+Da sah er ein, daß diese beispiellose Selbstentlarvung
+nicht nur ganz umsonst gewesen sei, sondern daß er sich
+durch sie in unsere Hände geliefert hatte. Wir drei waren
+nun die gefährlichsten Menschen, die es für ihn gab.
+<b>Er durfte uns nie vor Gericht zu Worte kommen lassen,</b>
+sondern mußte alles tun, <b>uns als unglaubhafte,
+eidesunwürdige Personen hinzustellen.</b> Ich lege
+großen Wert darauf, dies ganz besonders zu betonen,
+denn</p>
+
+<p class="letter">
+<b>es ist der einzig richtige Schlüssel zu
+seinem ganzen späteren Verhalten, welches man ohne diesen
+Schlüssel wohl kaum begreifen könnte, weil der
+Haß dieses Mannes gegen uns drei fast unmenschlich
+erscheint.</b>
+</p>
+
+<p>Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich entfernte,
+beklagte ich mich absichtlich über die vielen Zuschriften,
+in denen man mich, den gar nicht reichen Mann, mit Bitten um Geld
+überschüttet, und tat dies in einer Weise, die jeden
+gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten mußte, mir mit
+ähnlichen Wünschen zu kommen. Schon gleich am
+nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:</p>
+
+<p class="right">
+„Dresden-A., den 3. 5. 04.  
+</p>
+
+<p class="letter">
+Sehr geehrter Herr Doktor!<br/>
+    Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen Empfang und
+die erwiesene Gastfreundschaft danke, bitte ich Sie, wenn Sie die
+Kunstausstellung besuchen oder sonst einmal nach Dresden kommen,
+bei uns zu Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.<br/>
+    In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen
+widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann ich nicht
+annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig für die Zeile, was wohl
+derselbe Preis sein wird, den Sie von anderen Blättern
+erhalten haben.<br/>
+    Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute noch
+einmal überdacht. Es will mir scheinen, als ob trotz des
+kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz noch erheblich
+gesteigert werden könnte. Meine Buchhändler- und
+Verlagserfahrungen haben mich gelehrt, daß der Wert einer
+richtig geleiteten Propaganda und direkten Reklame gar nicht
+überschätzt werden kann.<br/>
+    Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten Frau Gemahlin
+und Ihnen in <b>Verehrung</b> und <b>Dankbarkeit</b>
+ergebenst
+</p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius.”
+</p>
+
+<p>Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich „Doktor”
+titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches
+bedeutet hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat
+dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als Waffe gegen
+mich dienen!</p>
+
+<p>Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre
+über mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig, das
+Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort nach Radebeul
+geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich dafür zu
+verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das Werk in Verlag
+gebe. Er wurde ganz selbstverständlich mit dieser Bitte
+abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max Dittrich, daß ich
+niemals wieder mit ihm verkehren würde, wenn es ihm
+einfalle, diesem Manne die Broschüre zu überlassen.</p>
+
+<p>Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens
+zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine Photographie,
+die er mir entwendet hatte. Er durfte nie wiederkommen. Trotzdem
+hat er wiederholt behauptet, in meinem Hause vielfach verkehrt zu
+sein und mich sehr genau studiert zu haben.</p>
+
+<p>Am folgenden Tage schrieb er mir:</p>
+
+<p class="right">
+„Dresden-A., 12. 7. 04.<br/>
+Fürstenstraße 34.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Sehr geehrter Herr Doktor!<br/>
+    <b>Ich möchte sehr gern die Dittrichsche Broschüre
+verlegen und würde mir auch die größte Mühe
+geben, sie zu vertreiben.</b> Durch den Rücktritt von der
+„Sachsenstimme” -- offiziell scheide ich erst am 1. Oktober d.
+J. aus -- bin ich aber etwas kapitalschwach geworden.<br/>
+    <b>Würden Sie mir vielleicht ein auf drei Jahre
+laufendes, 5prozentiges Darlehen</b> gewähren? Ich zahle
+Ihnen die Schuld vielleicht schon in einem Jahre zurück.<br/>
+    <b>Als Dank dafür würde ich die Broschüre so
+lancieren, daß alle Welt von dem Buche spricht. Ich habe ja
+auf diesem Gebiete besonders große Erfahrung.</b><br/>
+    Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf ganz solider Basis.
+Nun heißt es arbeiten und zeigen, <b>daß man ein
+ganzer Kerl ist</b> usw. usw. Beste Empfehlung an Ihre Frau
+Gemahlin</p>
+
+<p class="right">
+Ihr Ihnen ergebener          <br/>
+Rudolf Lebius.”
+</p>
+
+<p>Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, daß jemand,
+der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht weitergehen
+könne, zumal ich Herrn Lebius <b>mit der Broschüre
+total abgewiesen hatte.</b> Aber am 8. August schrieb er trotzdem
+wieder:</p>
+
+<p class="letter">
+„Die „Sachsenstimme” ist am 4. d. zu vorteilhaften
+Bedingungen an mich allein übergegangen. Ich kann jetzt
+schalten und walten, wie ich will. Um mich von dem Drucker etwas
+unabhängig zu machen, <b>würde ich gern einige tausend
+Mark (3--6) auf ein halbes Jahr als Darlehen aufnehmen.</b> Ein
+Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jüdischen
+Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison bewiesen
+hat, in weitgehendem Maße unterstützten. Das
+Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. <b>Würden
+Sie mir das Darlehen gewähren? Zu Gegenleistungen bin ich
+gern bereit.</b> Die große Zahl von akademischen
+Mitarbeitern erhebt mein Blatt über die Mehrzahl der
+sächsischen Zeitungen. Wir können außerdem die
+Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300 oder mehr deutsche und
+österreichische Zeitungen versenden und den betreffenden
+Artikel blau anstreichen. So etwas wirkt unfehlbar. In Dresden
+lasse ich mein Blatt allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit
+vorzüglicher Hochachtung</p>
+
+<p class="right">
+Rudolf Lebius.”
+</p>
+
+<p>Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts
+besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte,
+daß er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß
+er überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar
+Honorar schuldig bleibe. Daß seine Zeitung eine solide
+Basis habe, war unwahr, ebenso die „große Zahl der
+akademischen Mitarbeiter” und Anderes. Dergleichen absichtliche
+Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt.
+Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam: „Sehr
+geehrter Herr . . . . Mit vorzüglicher Verehrung!” „Mit
+großer Hochachtung und Verehrung!” „Sehr geehrter Herr
+Doktor . . . . In Verehrung und Dankbarkeit.” Als er sah,
+daß diese Höflichkeiten nicht zogen, schrieb er nicht
+mehr an mich, sondern an Dittrich. So am 15. August 1904:</p>
+
+<p class="letter">
+„Werter Herr Dittrich!<br/>
+    Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent. <b>Mehr
+als 10 000 Mk. brauche ich nicht.</b> Ich würde aber auch
+mit weniger vorlieb nehmen. Das Honorar sende ich am 20. d. wie
+verabredet.<br/>
+    Können Sie nicht <tt>Dr.</tt> May 
+<b>b e a r b e i t e n, </b> daß er mir Geld
+vorschießt?<br/>
+    Freundlichen Gruß</p>
+
+<p class="right">
+R. Lebius.”
+</p>
+
+<p>Dann am 27. August:</p>
+
+<p class="letter">
+„Werter Herr Dittrich!<br/>
+    Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn <tt>Dr.</tt> Klenke,
+einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei dieser Gelegenheit gibt
+sie Ihnen Ihr Honorar. Sie haben meine schriftliche Zusage,
+daß ich Ihnen 1 Prozent von dem Gelde gebe, welches Sie mir
+von H. V. oder <tt>Dr.</tt> M. (May) vermitteln. Sie erhalten das
+Geld sofort . . . .<br/>
+    Freundlichen Gruß
+</p>
+
+<p class="right">
+Lebius.”
+</p>
+
+<p>Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar von 37 Mark
+45 Pfennigen schuldig, welches er trotz der Kleinheit dieses
+Betrages nicht bezahlen konnte. Es wurde ihm daraufhin ein
+Spiegel gerichtlich abgepfändet. Als er von Dittrich,
+anstatt der 10 000 Mark von mir, eine Mahnung um diese 37 Mark 45
+Pfennig bekam, schrieb er ihm am 3. September:</p>
+
+<p class="letter">
+„Geehrter Herr Dittrich!<br/>
+    Ich habe Herrn <tt>Dr.</tt> <tt>med.</tt> Klenke ersucht,
+Ihnen 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten mir
+gegenüber finde ich höchst sonderbar, um nicht zu sagen
+beleidigend.<br/>
+    Achtungsvoll
+</p>
+
+<p class="right">
+R. Lebius.”
+</p>
+
+<p>Diesem <tt>Dr.</tt> Klenke fiel es aber auch nicht ein, die
+Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in logischer
+Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer Postkarte folgende
+Drohung bei mir an:</p>
+
+<p class="letter">
+„Werter Herr!<br/>
+    Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der „Sachsenstimme”,
+erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel gegen Sie
+schreibt. Ich habe es im Lokal gerade gehört. Es warnt Sie
+ein Freund vor dem Manne.
+</p>
+
+<p class="right">
+B.”
+</p>
+
+<p>Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte war ich mir
+natürlich sofort im Klaren. Auch das Gutachten der
+<b>vereideten Sachverständigen</b> lautet dahin,
+<b>daß sie unbedingt von Lebius selbst geschrieben ist.</b>
+Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf diese
+Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde. Gab ich sie nicht,
+so waren mir nicht nur der jetzt angedrohte, sondern noch weitere
+Racheartikel sicher und auch noch anderes dazu, was mich in
+Besorgnis setzen mußte. Aber ich ließ auch jetzt
+nichts von mir hören und sah mit gutem Gewissen dem
+unvermeidlichen Artikel entgegen, der am 11. September 1904 in
+Nummer 33 des Lebiusschen Blattes, der „Sachsenstimme” erschien
+und die dreifache Ueberschrift hatte:<br/>
+<br/>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<b>„Mehr Licht über Karl May</b>
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>160 000 Mark Schriftstellereinkommen</b>
+</p>
+
+<p class="right">
+<b>Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller.”  </b>
+</p>
+
+<p>Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort gegeben,
+nichts zu veröffentlichen. Er war sogar nur unter diesem
+Versprechen bei uns hereingelassen worden, und nun
+veröffentlichte er doch, und zwar in welcher Weise und aus
+welchen Gründen! Er stellte alles auf den Kopf; er drehte
+alles um! Er legte uns alles, was ihm beliebte, in den Mund, und
+was wir wirklich gesagt hatten, das verschwieg er, um sich nicht
+zu blamieren. Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische
+Unsauberkeiten, Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das
+war nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach.
+Dieser Artikel in Nr. 33 der „Sachsenstimme” war so gehalten,
+daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich das Geld nun
+endlich noch gab. Und schon in Nr. 34 kam ein sehr deutlicher
+Wink, der mir sagte, was geschehen werde, falls ich mich nicht
+zum Zahlen bewegen lasse. Dieser Wink bestand in einer
+Münchmeyerschen Annonce, die ganze Bände zu mir sprach.
+Der Besitzer der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir
+gesagt: „Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen
+noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem „Verlorenen Sohn”
+fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren! Der wird so
+happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist, als
+Schriftsteller weiter zu existieren!” Und dieser „Verlorene
+Sohn” wurde jetzt in Nr. 34 der „Sachsenstimme” annonciert.
+Das war genau so, als ob mir mit Riesenbuchstaben geschrieben
+worden wäre: „Nun aber endlich Geld her, sonst geht es in
+diesem Tone weiter!” Der gefährlichste Erpresser ist der,
+welcher es in dieser raffinierten Weise anfängt, die noch
+deutlicher ist, als das gesprochene Wort, aber von keinem
+Staatsanwalt verfolgt werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts.
+Da kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein drittes und
+in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde mir die Verbindung des
+Herrn Lebius mit der Firma Münchmeyer schon deutlicher
+gezeigt, denn es wurde da gesagt, der Inhaber dieser Firma habe
+einen ganzen Haufen alter Briefe von mir in der Hand und
+könne also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn
+er nur wolle. In Wahrheit aber besaß er nicht einen
+einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau,
+daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen
+Programms, mich durch meine Vorstrafen „in den Zeitungen vor
+ganz Deutschland kaput zu machen”, übernommen hatte. Ich
+war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000 Mark ihn
+sofort zum Schweigen bringen würde, hätte mich aber vor
+mir selbst geschämt, ihm auch nur einen einzigen Pfennig zu
+geben.</p>
+
+<p>Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die Nr. 48 brachte
+die ohne alle Veranlassung frei aus der Luft niederfallende
+Verkündigung: „Die vier Jahre, die Herr Karl May in
+Waldheim verbüßte, waren nach unserer Information die
+Folge eines Einbruchdiebstahls in einem Uhrenladen.” Ich habe
+aber niemals einen Einbruch verübt. Man sieht, daß es
+nicht auf die Wahrheit ankam, sondern nur auf das
+„Kaputmachen”. Diese Nr. 48 erschien am
+Weihnachtsheiligenabend. Da hingen an den Fenstern der Dresdener
+Buchhandlungen Plakate aus, auf denen die „Sachsenstimme” mit
+den großen roten Buchstaben <b>„Die Vorstrafen Karl
+Mays”</b> angekündigt wurde. Einen schreienderen Beweis,
+daß es sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um
+die Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es
+wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des grausamen
+Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten des Herrn Lebius
+einzeln aufzuzählen. Ich will nur in Summa sagen, daß
+er in dieser Weise fortfuhr, bis er nach einiger Zeit aus Dresden
+verschwinden mußte. Ich habe die Unwahrheiten, die er in
+seinen Dresdener Artikeln über mich verbreitete,
+zusammengestellt, um sie gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer
+trotz der Kürze der Zeit nicht weniger als
+hundertzweiundvierzig. Mehr hat bisher wohl noch kein Mensch
+geleistet! Ich betone aber ausdrücklich, daß diese
+Aufstellung nicht etwa alles, sondern nur eine Auswahl
+enthält. Ich könnte diese Ziffer trotz ihrer Höhe
+gut verdoppeln. Ich habe lange dazu geschwiegen, bis es nicht
+mehr zum Aushalten war. Da mußte ich mich endlich wehren.
+Ich erstattete bei der Staatsanwaltschaft Anzeige wegen
+Erpressung. Ich legte seine Briefe bei. Auch die drohende Karte
+vom 7. September 1904. Die Sachverständigen erklärten,
+daß Lebius sie unbedingt geschrieben habe. Die
+erwähnte Behörde aber war der Ansicht, daß dies
+nicht zureiche, eine Untersuchung zu eröffnen. Und Lebius
+gab sich bei seinen Auskünften die größte
+Mühe, mich als einen Menschen hinzustellen, dem man nicht
+glauben dürfe. Das Meisterstück hat er dabei abgelegt,
+indem er der Königlichen Staatsanwaltschaft in Dresden
+berichtete, daß der Wirt des Hotels auf dem Berge Sinai in
+Dresden gewesen sei und sich sehr schlecht über mich
+ausgesprochen habe. Nun weiß aber Jedermann, daß es
+auf dem Berg Sinai bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben
+hat! Ich zeige damit wohl zur Genüge, was man von der
+Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann. Ich erhob
+zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog ich während der
+Verhandlung aus reinem Ekel vor dem Schmutz, in dem ich da waten
+sollte, zurück. Die andere brachte ihm in der ersten Instanz
+eine Geldstrafe von 30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er
+freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und einen
+Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne orientiert zu
+sein.</p>
+
+<p>Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen wie
+unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe. Gewiß
+wenig genug! Daß ich Berichterstattern Auskunft gab, wenn
+sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz von selbst. Es kann
+mir niemand zumuten, diesen Herren aus Angst vor Herrn Lebius die
+Unwahrheit zu sagen. Dennoch behauptet er noch heute, daß
+nicht ich von ihm, sondern er von mir verfolgt und angegriffen
+werde.</p>
+
+<p>Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer ganz
+bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten seine
+Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwähne da nur den
+Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch den er
+ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg. Ich schwieg
+selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen „Wahrheit” in
+Berlin einen geradezu empörenden Angriff gegen mich brachte,
+in dem er mich als „atavistischen Verbrecher” brandmarkte, der
+wegen „fortgesetzter Einbruchdiebstähle” fast ein
+Jahrzehnt im Gefängnis und Zuchthaus gesessen habe! Er
+behauptete da, daß ich eine schwere, chronische Krankheit
+durchgemacht habe, die „offenbar kulturhemmend” gewirkt habe.
+Hiermit hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk in
+Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich gezwungen, ihn
+dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem großen
+Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten hatte,
+die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem Zwecke mit meiner
+Frau nach Berlin. Wir entdeckten seine Wohnung. Wir hörten,
+daß er ein neues Blatt herausgab, der „Bund” genannt. Wir
+telefonierten ihm. Er bestellte uns nach Caf<tt>é</tt>
+Bauer. Wir folgten dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau
+und deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht. Er
+leugnete alles. Ich sagte ihm, daß ich sein neues Blatt
+sehen möchte. Das war ganz ehrlich und gut gemeint, ohne
+alle böse Absicht. Er aber begehrte sofort zornig auf und
+fragte drohend: „Haben Sie etwas vor? Dann gehe ich auf der
+Stelle von neuem gegen Sie los! Hier in Berlin gibt es über
+zwanzig Blätter wie die „Dresdener Rundschau”. Die stehen
+mir alle zu Gebote, wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das
+gar nicht lang!”</p>
+
+<p>Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder in
+den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu seiner Frau in
+ruhiger, freundlicher Weise, daß es die schönste
+Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu wirken und
+die Härten des Lebens zu mildern; dann entfernten wir
+uns.</p>
+
+<p>Das war am 2. oder 3. September. <b>Einen Monat
+später,</b> am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin;
+ich war verreist:</p>
+
+<p class="letter">
+Geehrter Herr!<br/>
+    Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei Ihnen
+einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen über
+einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden, machen könnten.
+Genannter Herr, ehemaliger Sozialdemokrat, hat gegen mich als den
+seinerzeit verantwortlich zeichnenden Redakteur des
+„Vorwärts” die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es
+wird vor Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als
+„Ehrenmann” zu kennzeichnen. Auf den Rat eines Dresdener
+Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an Sie, ob Sie mir
+über diesen Herrn vielleicht einige Auskunft geben
+könnten. Sollte dies der Fall sein, so sehe ich Ihrer
+Freundlichkeit sehr verbunden entgegen.<br/>
+    Mit größter Hochachtung
+</p>
+
+<p class="right">
+Carl Wermuth,          <br/>
+Redakteur des „Vorwärts”.
+</p>
+
+<p>Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf dessen
+Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht eingehen
+konnte. Am 5. April 1908, also</p>
+
+<p class="center">
+<b>ein volles halbes Jahr später,</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+erhielt ich von der Redaktion des „Vorwärts” eine weitere
+Zuschrift:
+</p>
+
+<p class="letter">
+<b>„Zu unserem Bedauern haben Sie es bisher unterlassen,
+sich</b> über die gegen Sie gerichteten Angriffe des Lebius
+<b>zu äußern</b> resp. <b>uns die notwendigen
+Beweismittel</b> der ehrenabschneiderischen Tätigkeit des
+Lebius in Bezug auf Ihre Person <b>zur Verfügung zu
+stellen.</b> Wie ich von meinem Kollegen Wermuth erfuhr, hat Ihre
+Frau mitgeteilt, daß Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden
+und <b>nicht in der Lage seien, uns mit dem gewünschten
+Material gegen Lebius zu versehen.</b> Ich hoffe, daß Sie
+inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind und nunmehr . .
+. .”</p>
+
+<p>Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen,
+<b>daß nicht ich Herrn Lebius verfolge, sondern er
+mich.</b> Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am
+Sedanstage, an ihn gemacht habe, um dem „Vorwärts”
+beizustehen. Hier beweise ich, daß ich damals von jener
+Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern
+daß der „Vorwärts” es mir erst einen Monat
+später mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten
+<b>noch gar keine Antwort bekommen hat!</b> Ich hatte also Herrn
+Lebius volle sechs Monate geschont, wo es mir doch durch die
+Sozialdemokratie so bequem und leicht gemacht worden war, mich an
+ihm zu rächen. <b>Daß ich ihn nicht verfolge, sondern
+von ihm fort und fort zur Notwehr gezwungen werde,</b> ist
+übrigens auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis
+heut umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit dieser
+Zeugenschaft für den „Vorwärts”-Redakteur hatte es
+damals folgende Bewandtnis:</p>
+
+<p>Lebius hatte den „Vorwärts” wegen Beleidigung verklagt,
+und der „Vorwärts” hatte mich, natürlich ohne erst
+viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das Gewissen des Lebius
+sagte ihm, daß er von diesem Zeugen wohl nicht viel
+freundliches zu erwarten habe. Ja, es kam ihm sogar der Gedanke,
+daß ich von dieser Zeugenschaft schon im
+Caf<tt>é</tt> Bauer gewußt habe. Das erzürnte
+ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach Radebeul, um mir
+zu drohen. Meine Frau wünschte diese Zusammenkunft in meinem
+Hause; aber darauf ging Frau Lebius nicht ein. Die beiden Frauen
+trafen sich im Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau
+Lebius uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und wie ich
+als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte ich vor Gericht
+erklären, daß er jene drohende Postkarte vom 7.
+September in Dresden nicht geschrieben habe. Tue ich das nicht,
+so müsse er den alten Kampf gegen mich von Neuem beginnen.
+Meine Frau lehnte das ganz entschieden ab, denn wir waren jetzt
+mehr als je überzeugt, daß er der Verfasser sei. Seine
+Frau kehrte also unverrichteter Sache nach Berlin
+zurück.</p>
+
+<p>Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß
+er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine
+Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge
+aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte. Da aber
+diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen
+war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des Verfassers
+nach sich zog, die Lebius von sich abwenden wollte, so sah er
+sich nach einem Strohmanne um, der ihn und Karl May noch nicht
+kannte und unerfahren, vertrauensselig und bedürftig genug
+war, sich für einige Hundert Mark <b>völlig
+ungeahnt</b> in die ganz sicher zu erwartende
+<b>Gefängnisstrafe stürzen zu lassen.</b> Er fand ihn
+in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus Basel, zog ihn in sein
+Netz und umspann ihn derart mit Selbstvergötterungs- und
+Lügenfäden, daß der junge, völlig ehrliche
+Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in den Dienst eines
+so bedeutenden, geistig, sozial und auch juristisch
+hervorragenden Mannes stellen zu dürfen.</p>
+
+<p>Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei
+außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er
+verschwieg anfänglich, daß es sich <b>nur</b> um eine
+Broschüre gegen <b>mich</b> handle. Er machte dem jungen
+Manne weis, daß er ein  w i s s e n s ch a f t l i c h e s 
+Werk über berühmte resp. berüchtigte Männer
+schreiben solle. Er nannte ihm die Namen derselben; darunter
+befand sich auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk
+machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten
+diese so, daß nach und nach alle diese „Berühmten und
+Berüchtigten” verschwanden und nur Karl May allein
+übrig blieb. Aus dem „wissenschaftlichen” Werke aber
+sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten
+Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag immer deutlicher.
+Er begann zu ahnen, daß er mit aller Liebenswürdigkeit
+in das Verderben geführt werden solle. Als er das Herrn
+Lebius zu verstehen gab, hielt dieser es für geraten, ihm
+den ganzen Zweck der Broschüre einzugestehen. Er gab
+folgendes zu:</p>
+
+<p><b>Lebius hat den Redakteur des „Vorwärts” wegen
+Beleidigung verklagt.</b></p>
+
+<p><b>Der „Vorwärts” hat Karl May als Zeugen gegen Lebius
+angegeben.</b></p>
+
+<p><b>Darum ist es für Lebius notwendig, Karl May kaput zu
+machen.</b></p>
+
+<p><b>Um das zu erreichen, gibt er die hier in Arbeit liegende
+Broschüre heraus.</b></p>
+
+<p><b>Der Termin, in dem Karl May als Zeuge verhört wird,
+findet anfangs April statt.</b></p>
+
+<p><b>Darum muß die Broschüre ganz unbedingt bis zum
+1. April fertig zum Versenden sein.</b></p>
+
+<p><b>Wenn die Broschüre erst später fertig wird, hat
+sie keinen Zweck; dann braucht man sie überhaupt gar nicht
+erst zu schreiben.</b></p>
+
+<p><b>Sie wird an die Zeitungen versandt, die darüber
+berichten. Das soll auf die Richter wirken.</b></p>
+
+<p><b>Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. Sobald dies
+geschieht, ist May als Zeuge kaput.</b></p>
+
+<p>Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden seine
+Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren.
+Als er diese äußerste und seiner Besorgnis,
+gerichtlich bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm
+folgendes vor:</p>
+
+<p><b>Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets mit
+einem Fuße im Gefängnisse.</b></p>
+
+<p><b>Bestraft zu sein ist für uns eine gute Reklame. Auch
+ich bin schon oft vorbestraft.</b></p>
+
+<p><b>Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht zu
+fürchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie dürfen
+schwören. May aber darf nicht schwören.</b></p>
+
+<p><b>May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm verboten, in
+einer Stadt zu wohnen. Darum wohnt er in Radebeul.</b></p>
+
+<p><b>I ch   b i n   e i n   g r o ß e s,  
+f o r e n s i s ch e s   T a l e n t.  W e n n   i ch  
+a n f a n g e   z u   s p r e ch e n,   s i n d   d i e  
+R i ch t e r   a l l e   m e i n!</b></p>
+
+<p><b>W e n n   m a n   i n   e i n e m   P r o z e s s e  
+st e ck t   u n d   m a n   s ch r e i b t   e i n e  
+s o l ch e   B r o s ch ü r e,   d a s   w i r k t  
+u n g e h e u e r   b e i   d e n   R i ch t e r n!</b></p>
+
+<p><b>Die Frau May hat mich mit Tränen in den Augen um Gnade
+für ihren Mann gebeten.</b></p>
+
+<p><b>May muß durch die Broschüre totgemacht werden.
+Alles übrige ist Beiwerk,  u m   d e n   w a h r e n  
+Z w e ck   z u   v e r s ch l e i e r n!</b></p>
+
+<p>Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren
+Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von
+dieser Sache zurückzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm
+zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese
+Broschüre zu mißbrauchen. Er richtete ganz dasselbe
+Verbot auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher aus
+diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber er kannte
+Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht. Die Broschüre
+erschien, und zwar genau am ersten April. Ihr Titel war:</p>
+
+<p class="center">
+<b> K a r l   M a y, <br/>
+ ein Verderber der deutschen Jugend</b><br/>
+von<br/>
+<b>F. W. Kahl-Basel.</b>
+</p>
+
+<p>Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß die
+Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter seinem
+Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte. Der von Lebius
+gefürchtete Termin, an dem ich als Zeuge vernommen werden
+sollte, hat nicht stattgefunden. Ob er den Herren Richtern die
+Broschüre dennoch vorgelegt hat oder nicht, ist mir
+unbekannt. Aber an die Zeitungen versandt hat er sie schleunigst,
+und zwar mit Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren
+verleumderischer Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur
+folgende Zeilen liest, die er an die „Neue Züricher
+Zeitung” schickte:</p>
+
+<p>„Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß er
+durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung untergrub und
+mich in den Bankrott trieb. Sobald ich in einer andern Stadt
+festen Fuß gefaßt hatte, erschien er wieder auf der
+Bildfläche, um dasselbe Manöver zu wiederholen. Dabei
+liebt er es, bevor er zu einem neuen Schlage gegen mich ausholt,
+mich jeweils in meiner Wohnung aufzusuchen und mit tränenden
+Augen um Frieden zu bitten.”</p>
+
+<p>Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier nicht zu
+sprechen. Ganz selbstverständlich waren meine Vorstrafen
+aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu. Das schickte er in
+alle Welt hinaus, um mich nach Münchmeyerschem Rezept
+„kaput” zu machen. Ich erlangte eine einstweilige
+Verfügung gegen sie. Sie durfte nicht weitergedruckt und
+weiterverarbeitet werden. Und ich erhob Privatanklage wegen
+Beleidigung gegen ihn. Diese Privatklage konnte nicht zur
+Verhandlung kommen, weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise,
+und deren waren weit über hundert, verloren hatte. Sie
+fanden sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder.
+Ich war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche
+der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle seine
+Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück,
+drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben, und
+versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das tat er durch
+seine Unterschrift. Es war mir unmöglich, einem solchen, vor
+Gericht gegebenen Versprechen nicht zu glauben. Und doch war es
+eine Untreue und Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er
+mir dieses Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders
+geben, als <b>in der Absicht, es nicht zu halten.</b> Er hatte
+sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung
+gesetzt. Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen,
+eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen
+Mann; die trachtete er, für sich auszunutzen. Er suchte sie
+in Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und zufrieden
+von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr gab, obgleich ich ihr
+nichts zu geben brauchte, weil sie die Alleinschuldige war. Auch
+hatte ich sie in jeder Weise reichlich ausgestattet. Da kam
+dieser Mann zu ihr und entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung,
+um daraus mit Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und
+Verdrehungen einen Strick für mich zu fertigen. Er versprach
+ihr ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts,
+gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und
+schrieb für seinen „Bund” vom 28. März 1909 einen
+Aufsatz unter der Ueberschrift „Ein spiritistisches
+Schreibmedium als Hauptzeuge der „Vorwärts”-Redaktion.”
+Mit diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau
+gemeint.</p>
+
+<p>Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da über
+mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und zwar mit
+raffinierter Benutzung und Bearbeitung der Bitterstoffe, die im
+Gemüte geschiedener Frauen vorhanden sind. Als das arme,
+unglückliche Weib das las, erschrak sie. Er schwieg also
+nicht! Er hatte nicht Wort gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach
+Berlin, um ihn zur Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort.
+Er übergab sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem
+früher gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm
+ihr Beistand wurde. Beide veranlaßten sie zunächst,
+auf ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie sodann,
+ihre Pretiosen zu versetzen, damit es „nach außen einen
+besseren Eindruck mache”. Das heißt doch wohl, damit man
+denken möge, daß ich es sei, der diese Frau in solche
+Armut und solches Elend gestürzt habe! Das hat Lebius in
+seinem Briefe an die Kammersängerin vom Scheidt, welcher den
+Gegenstand der vorliegenden Privatklage bildet, wörtlich
+eingestanden, und der Vorsitzende der ersten Instanz hat ihn
+gelobt, indem er öffentlich sagte: „Das ist sehr edel von
+Ihnen!”</p>
+
+<p>Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles Einkommen war
+und vor dem Nichts stand, eine Rente für das ganze Leben von
+monatlich 100 Mark versprochen, er, der wegen zwei oder drei Mark
+vergeblich ausgepfändet worden ist! Sie hat es ihm
+zunächst geglaubt; er aber hat sehr wohl gewußt,
+daß dieses Versprechen nicht rechtsverbindlich war. Nichts
+als Spiegelfechterei! Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben
+zu können. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur 200
+Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur geliehen, denn als
+er merkte, daß sie von ihm weg und wieder zu mir strebte,
+drohte er ihr, sie wegen dieser 200 Mark um 300 Mark zu
+verklagen.</p>
+
+<p>Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes
+Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen,
+wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge
+sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und
+versetzte? Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das
+Rachewerkzeug des Herrn Lebius wurde, daß er sie
+abrichtete, so über mich zu denken, zu sprechen und zu
+schreiben, wie es ihm beliebte, und daß sie ihm und seinem
+Schwager Medem in jeder Beziehung gänzlich in die Hand
+gegeben war. Denn als ich infolge des obigen Artikels im „Bund”
+gezwungen war, meine geschiedene Frau zu verklagen, machten
+Lebius und Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß
+Lebius für seine Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon
+hatte und sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren
+Zweck und Tragweite sie keine Ahnung besaß! Es kam vor,
+daß sie unter Tränen sich sträubte, einen
+derartigen Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber
+doch! Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich
+auf diesem Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn
+sie nicht vollständig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete
+sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte das arme,
+verführte Weib. Ich nahm den Strafantrag und den
+Beleidigungsprozeß gegen sie zurück. Und nun erfuhr
+ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius aus ihrer
+sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt worden war,
+um wirtschaftlich vernichtet und moralisch ausgebeutet resp.
+gegen mich ausgespielt zu werden. Er sagt in seinem Briefe,
+welcher den Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens
+bildet:</p>
+
+<p><b>„Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe ich allerdings im
+Hinblick auf meine gerichtliche Einigung mit May verlangt,
+daß Frau Emma erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt,
+weil das nach außen hin einen bessern Eindruck
+macht.”</b></p>
+
+<p>Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe, weil er
+mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat und weil er
+gerichtlich versprochen hat, mich nun für immer in Ruhe zu
+lassen, also darum, <b>„im Hinblick darauf”</b> mußte die
+Frau nun ihre Kleinodien versetzen, damit man <b>mich</b> als den
+Schurken bezeichne, durch den sie in solches Elend getrieben
+worden sei! Wie nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in
+dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und um ihre
+Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem seinem Briefe:
+„Ich habe auch durch meinen Syndikus Herrn Geheimrat Ueberhorst
+Schritte vorbereiten lassen, <b>um wieder zu meinem Gelde zu
+kommen!”</b> Gibt es hier überhaupt einen Ausdruck, durch
+den man imstande wäre, die Lebiussche Denk- und
+Handlungsweise erschöpfend zu charakterisieren?</p>
+
+<p>Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung
+vollständig ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder
+einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um
+seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz besondere
+taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene Frauen gegen ihre
+Männer auszuspielen. Das eklatanteste Beispiel hiervon ist
+der Fall „Max Dittrich”. Indem ich ihn hier kurz erwähne,
+bitte ich um <b>ganz besondere Aufmerksamkeit,</b> weil er
+für die Beurteilung des Herrn Lebius <b>von
+allergrößter Wichtigkeit ist.</b></p>
+
+<p>Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch bei mir
+machte, den Redakteur und Militärschriftsteller Max Dittrich
+als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen und Vorsicht, um
+gegen etwaige spätere Lügen und Schwindeleien des Herrn
+Lebius durch einen vollgültigen Zeugen geschützt zu
+sein. Herr Dittrich war damals vom Anfang bis zum Ende anwesend
+und hatte jedes von mir gesprochene Wort gehört. Einen
+solchen Zeugen zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer
+peinlicher, immer gefährlicher. Er beschloß darum,
+<b>ihn eidesunwürdig zu machen,</b> also ganz dasselbe, was
+er auch bei mir getan hat <b>und noch heute tut.</b> Es ist das,
+wie sich später zeigen wird, <b>ein persönlicher
+Trick</b> von ihm, den er <b>für unfehlbar</b> hält --
+-- -- eidesunwürdig machen!</p>
+
+<p>Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während seines
+Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder Polizist und
+Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken, hat eine Schuld auf
+sich, die er verheimlichen muß. Man muß das
+<b>entdecken</b> und <b>in die Zeitung bringen;</b> dann wird man
+Herrscher und als <b>„tüchtiger Kerl”</b> bekannt. So tat
+Herr Lebius auch hier. Die erste Frau Max Dittrichs war
+gestorben; von der zweiten Frau hatte er sich scheiden lassen;
+jetzt war er infolge eines Schiffbruchs, bei dem er nur
+gefährlich verletzt dem Tode entging, schwer nervenkrank
+geworden. Das gab ein hochinteressantes Material, aus dem sich
+jedenfalls etwas machen ließ! Herr Lebius ging also aus, um
+nach dem „Werg am Rocken”, nach der „heimlichen” Schuld und
+Sünde zu suchen. Er forschte überall, schriftlich,
+mündlich, persönlich. Er stellte sich überall ein,
+wo er glaubte, etwas erfahren zu können. Er scheute sich
+nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er schlich sich zu
+Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs Neffen und Nichte,
+sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die wieder verheiratet war und
+in glücklicher, stiller Ehe lebte. Er forschte sie aus, ohne
+daß sie ahnten, warum und wozu. Sie antworteten
+vertrauensvoll und unbefangen. Aber als er plötzlich zu
+ihrem Entsetzen die Worte „Gericht” und „Eid” fallen
+ließ, da fühlten sie die Krallen, in die sie geraten
+waren. Sie hatten nichts Böses sagen können und baten,
+sie aus dem Spiele zu lassen. Er versprach es ihnen. Besonders
+entsetzt über die Aussicht, in diesen Lebiusschen Schmutz
+verwickelt zu werden, war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger
+Mann war ein lieber, guter, aber in Beziehung auf die „Ehre”
+sehr streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in
+<b>solcher</b> Angelegenheit an Lebius’ Seite, das wäre
+unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie gewesen!
+Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu verwickeln, und er
+scheute sich nicht, es ihr hoch und heilig zu versprechen. Dann
+aber ging er schleunigst hin und brachte in Nummer 12 seiner
+„Sachsenstimme” einen Bericht, dem ich nur einige Punkte
+entnehme, die nicht einmal die schlimmsten sind,
+nämlich:</p>
+
+<p>„Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine Kinder, wohl
+aber zwei von seiner Stieftochter, bevor diese das 16. Lebensjahr
+erreichte.”</p>
+
+<p>„Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen
+ihres Mannes zu Tode.”</p>
+
+<p>„Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb Dittrich
+es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung
+unvermeidlich wurde.”</p>
+
+<p>„Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden Nichte seiner
+Frau unterhielt er ein mehrjähriges Verhältnis.”</p>
+
+<p>„Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen
+Mädchen an.”</p>
+
+<p>„Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau
+beobachten.”</p>
+
+<p>„Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich mit
+seiner Braut zusammen und hatte auch seine Tochter bei
+sich.”</p>
+
+<p>„Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen Nervenleidens
+Halbinvalide” usw.</p>
+
+<p>Man kann sich den Schreck der Verwandten denken, als sie das
+lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert wurden, weil Max
+Dittrich ganz selbstverständlich Herrn Lebius verklagte! Die
+Nichte mußte im Hause vernommen werden; sie lag krank. Die
+geschiedene Frau Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter
+und sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein
+absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe
+sei; sie werde das wohl kaum überleben. Dieser vortreffliche
+Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu auch ein
+menschliches Herz in der Brust und erledigte die Vernehmung in
+entsprechender humaner Weise.</p>
+
+<p>Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen Punkte
+alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl für jeden nur
+einigermaßen gebildeten und nicht verrohten Menschen die
+Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher Dinge
+<b>gesetzlich</b> resp. <b>preßmoralisch statthaft</b> sei.
+Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius,
+diese Frage mit einem „Nein!” beantworten wird. Das würde
+zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls genügen, ist
+aber noch lange nicht alles, denn wenn man Gelegenheit findet,
+die Akten Dittrich <tt>contra</tt> Lebius aufzuschlagen, so sieht
+man am Schlusse derselben Herrn Lebius in noch ganz anderer Weise
+beleuchtet. Er gesteht da nämlich ein, daß seine
+Verleumdungen gegen Max Dittrich</p>
+
+<p class="center">
+<b>nicht wahr gewesen seien,</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu
+tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, um diesen
+Herrn nun zu kennen.
+</p>
+
+<p>Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den anderen
+ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines Rowdyblattes
+heraus die Menschen niederknallt, so oft es ihm beliebt, das wird
+von der Strafgesetzgebung der Zukunft wohl ganz anders betrachtet
+und ganz anders behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt
+es, Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und
+menschheitsethische Instanzen, welche den Totschlag einer
+Menschen<b>seele</b> für wenigstens ebenso strafbar halten
+wie die Ermordung eines Menschen<b>körpers.</b></p>
+
+<p>Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten
+Anklagen in seiner „Sachsenstimme” gegen Max Dittrich
+geschleudert, und am 18. November darauf erklärte er in der
+zweiten Strafkammer des Königlichen Landgerichtes Dresden zu
+Protokoll:<br/>
+</p>
+
+<p><b>„Ich erkläre, daß ich die gegen den
+Privatkläger in der „Sachsenstimme” vom 27. März 1905
+erhobenen, beleidigenden Behauptungen</b></p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<b>hiermit zurücknehme und mein Bedauern über die
+gemachten Aeußerungen in der „Sachsenstimme”
+ausdrücke und den Privatkläger deshalb</b>
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! um Verzeihung bitte ! ! !</b>
+</p>
+
+<p>Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin Streit und
+Prozesse mit dem „Vorwärts” begann, gab dieser den
+Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen ihn an.
+Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten Trick, Zeugen durch
+die Presse unschädlich zu machen. Er veröffentlichte
+genau dasselbe wieder, was er damals über Dittrich
+veröffentlicht und dann vor dem Dresdener Landgericht</p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte. Dittrich
+war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu verklagen und auf jene
+Zurücknahme und Bitte um Verzeihung hinzuweisen. Was tat
+Lebius? Er erklärte in seinem an das Königliche
+Amtsgericht Charlottenburg gerichteten Schriftsatz vom 24.
+Dezember 1909, daß er damals jene Abbitte und jenes
+Eingeständnis der Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>„aus Gründen wirtschaftlicher Natur”</b>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+abgelegt habe. Seine Verhältnisse seien damals so
+bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen
+nach Dresden habe reisen können. Er selbst also ist es, der
+das folgende moralische Porträt von sich liefert:
+</p>
+
+<p><b>Lebius verleumdet den Militärschriftsteller Dittrich
+1905 in seinem Dresdener Blatte.</b></p>
+
+<p><b>Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener Landgericht,
+daß diese Verleumdungen erlogen seien, und bittet um
+Verzeihung.</b></p>
+
+<p><b>Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte jene von ihm
+als Lügen bezeichneten Verleumdungen als Wahrheiten
+wieder.</b></p>
+
+<p><b>Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an das
+Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals das Landgericht
+Dresden angelogen habe.</b></p>
+
+<p>Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht!
+Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch Ehr-
+und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als
+Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als
+Lüge bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf
+diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage;</p>
+
+<p class="center">
+<b>! ! ! er hatte kein Geld ! ! !</b>
+</p>
+
+<p>Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für ihn
+vollständig genügender Grund, <b>Richter und
+Gerichtsämter zu belügen und sich als einen Charakter
+hinzustellen, dem kein vorsichtiger Mensch mehr etwas glauben
+kann!</b><br/>
+</p>
+
+<p>Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise von
+Lebius zu erzählen. Für meine heutigen Zwecke aber
+genügt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir die
+Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete, notiert,
+nicht alle, sondern nur die augenfälligsten. Es sind jetzt
+<b>über fünfhundert,</b> die ich ihm gerichtlich
+beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei Wochen vier
+Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich an diesen
+Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt man Hinrichtung!
+Und dabei legt er, wie bereits erwähnt, den
+größten Nachdruck immer darauf, daß ich ihn
+verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und
+fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe ich
+nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal beim Gericht
+Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen seinen ferneren Angriffen
+geschwiegen, bis er mich durch die angebliche Kahl-Broschüre
+zwang, mich zu verteidigen, weil ich <b>„vor den Richtern kaput
+gemacht” werden sollte.</b> Und selbst da habe ich ihm
+verziehen, habe mich mit ihm verglichen, habe gegen sein
+Versprechen, mich fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag
+zurückgezogen, obgleich der betreffende Richter sagte,
+daß Lebius <b>eine schwere Strafe</b> erleiden werde, falls
+es zur Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 <tt>B.</tt> 254
+08/34, gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen,
+daß Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich
+künftig in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich
+verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer
+Schmucksachen beraubte <b>und sie fast an den Bettelstab
+brachte.</b> Sie wurde von ihm zu gerichtlichen Schritten gegen
+mich verleitet, die man fast wahnsinnig nennen muß. Und
+dabei hatte er den Mut, in der ersten Instanz des vorliegenden
+Beleidigungsprozesses zu behaupten,</p>
+
+<p class="letter">
+<b>„daß er ihre Interessen vertreten habe und also den
+Schutz des &sect; 193 beanspruchen dürfe!”</b>
+</p>
+
+<p>Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen
+worden als diese! Lebius hat durch die Verführung der Frau
+Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen
+verfolgt, <b>die Interessen dieser armen Frau aber geradezu mit
+Füßen getreten.</b> Es ist unerhört, daß er
+dafür auch noch den Schutz des &sect; 193 verlangt!</p>
+
+<p>Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet worden,
+daß er ein Mensch sei, „der über Leichen geht.”
+Meine geschiedene Frau hat anstatt „Mensch” sogar ein anderes,
+äußerst schlimmes Wort gebraucht, ohne daß er es
+gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu belangen. Ob dieser
+Vorwurf wahr ist oder ob er zu viel sagt, das könnte ich mit
+vielen Beispielen belegen; ich will aber nur das eine bringen:
+Nach der in den Blätterberichten völlig korrumpierten
+Charlottenburger Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte
+der „Boston American” in Boston, Massachusetts, folgende ihm
+aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:</p>
+
+<p>„Autor frommer Bücher, ein Bandit. Berlin -- -- -- Herr
+Charles May, der Millionär, Philanthrop, Autor frommer
+Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit
+Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der Verüber
+vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend des
+südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine
+Räuberbande anführte, gebrandmarkt. <b>May brach
+zusammen und wurde unter den Schutz seiner Freunde gestellt, um
+zu verhindern, daß er Selbstmord begehe</b> usw.” Sich
+solche monströse Unwahrheiten aussinnen, um mich „kaput zu
+machen”, das ist doch wohl über Leichen gegangen. Oder
+nicht? Doch hiermit genug über diesen Herrn Lebius. Alles
+Andere gehört vor das Gericht, nicht aber hierher. Um meine
+Leser klar sehen zu lassen, ist nur noch zu konstatieren,
+daß der Münchmeyersche Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt>
+Gerlach auch sein Rechtsanwalt ist und daß Beide einander
+gegenseitig die weitgehendste Hilfe und Unterstützung
+leisten. Ich habe noch zwei äußerst interessante
+Münchmeyersche Champions zu erwähnen, die in Beziehung
+auf geistige Bedeutung zwar weder an Gerlach noch an Lebius
+kommen, aber als fromme, katholische Klosterbrüder mitten
+unter protestantischen oder gar aus der Kirche ausgetretenen
+Kolportageinteressenten doch einen frappierenden Eindruck
+machen.</p>
+
+<p>Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar
+Pöllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem
+Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden. Der
+hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als
+Professor. Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im
+„Stern der Jugend” gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei
+Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste hin
+und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren. Da
+stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht
+besaß, einen Professortitel zu führen. Er leistete mir
+folgende schriftliche Abbitte:</p>
+
+<p class="letter">
+„Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten
+Bezeichnungen „Professor” und „Jugendschriftsteller” auf
+Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an der
+Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau und Korrespondent
+der Jugendzeitschrift „Stern der Jugend” bin, erkläre ich
+hiermit der Wahrheit gemäß, daß ich die in
+genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25) enthaltene Notiz über
+Krankheitserscheinungen des Schriftstellers Karl May bedauere und
+die von ihm gerichtlich inkriminierten Worte in aller Form
+zurücknehme.<br/>
+    Seckau, den 20. Oktober 1904.</p>
+
+<p class="right">
+Pater Willibrord Beßler<br/>
+<tt>O.S.P.</tt>” <tt>[sic]</tt>
+</p>
+
+<p>Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich
+gerichtlich belangen muß! Der Abt scheint hier wie dort
+Ildefons Schober zu heißen. Ist es vielleicht derselbe?
+Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts,
+haben die Benediktiner mir meine „Reiseerzählungen” ohne
+mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen untersagte.
+Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein
+Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und verbreiten
+und mich doch so öffentlich beleidigen und verfolgen resp.
+mich und meine selben Werke in Acht und Bann erklären kann!
+Ich bemühe mich vergeblich, beides logisch zusammen zu
+bringen. Denn daß ich diesen Nachdruck unmöglich
+dulden konnte, versteht sich ganz von selbst! Uebrigens ist
+dieser Beuroner Pater derselbe, der mir „einen Strick drehen
+will, um mich damit aus dem Tempel der deutschen Kunst
+hinauszupeitschen”. Also, erst druckt man meine Bücher
+nach, ohne mich zu fragen, und dann peitscht man mich hinaus! In
+dieser Weise charakterisiert Pater Pöllmann seinen eigenen
+Orden, der sich doch wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere
+Literatur erworben hat, als daß er von einem seiner
+Angehörigen in dieser Weise beleumundet werden sollte!</p>
+
+<p>Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift
+„Ueber den Wassern” eine Reihe von Artikeln gegen mich
+geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener „Freistatt”
+geantwortet. Damit wären wir nun eigentlich mit einander
+fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und mir zu
+entscheiden. Aber während ich in meinen Antworten ganz
+selbstverständlich so sachlich und höflich wie
+möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen
+fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem Gang vor
+das Gericht zu bequemen haben wird. Und außerdem ist sein
+persönliches und literarisches Verhältnis zu Herrn
+Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem Münchmeyerschen
+Programm, mich in den Zeitungen „kaput zu machen”,
+festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius, Gerlach u. s. w. in
+Beziehung zu stehen; es sind ihm aber derartige Beziehungen ganz
+unschwer nachzuweisen. Hierüber ist Klarheit zu schaffen.
+Denn daß er in dieses „Kaputmachen” auf das
+Kräftigste mit eingegriffen hat, kann nicht einmal er selbst
+in Abrede stellen. Seine „Wasser”-Artikel werden sowohl im
+Lebius- als auch im Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das
+Eifrigste gegen mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge
+oder „Sachverständiger” benannt und wird als solcher in
+Berlin auszusagen haben.</p>
+
+<p>Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern
+Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht
+gutheißen kann. Ich muß mich fragen, ob es in dieser
+seiner Taktik liegt, das Leserpublikum irre zu führen.
+Zuerst erschienen von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben
+herab klingende Notizen darüber, daß ich es
+unterlassen habe, meine Drohung, ihn zu verklagen,
+auszuführen. Und nun sich herausstellt, daß ich dieses
+Versprechen doch gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich
+gesinnten Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine
+Beleidigungsklage bald hier bald dort zurückgewiesen worden
+sei und ich sämtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht
+fair, vielleicht sogar unwürdig. Es handelt sich hier um die
+Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den
+Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich
+in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen wurde das
+Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich jetzt nun
+zuständig bin. Darum fragt es sich, ob die Sache
+infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu verhandeln ist. Bis
+das entschieden ist, hat sie zu ruhen. Wer es anders darstellt,
+kann nur entweder unwissend oder böswillig sein. Von Kosten
+weiß ich kein Wort.</p>
+
+<p>Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage gegen
+Pater Expeditus Schmidt in München. Sie wurde in Dresden
+eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig verhandelt. Auch
+hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben worden, doch nicht
+von mir. Mir kann es sehr gleichgültig sein, an welchem Orte
+das Urteil gesprochen wird, denn meine Sache ist gerecht. Ich
+habe nicht nötig, spitzfindig zu erwägen, an welchem
+Orte, bei welchem Gerichte und in welchem Falle ich meinen
+Prozeß gewinne oder verliere. Ich habe mich nicht an solche
+Nebendinge zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre
+Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den
+Richtern.</p>
+
+<p>Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern
+förderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, die
+Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen Dingen hat es
+sich herausgestellt, daß die beiden Pater Schmidt und
+Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen und der Sache
+Münchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht in Verbindung mit dem
+Münchmeyerschen und Lebiusschen Rechtsanwalt. Ich werde die
+Beweise erbringen, und dann wird sich der Zusammenhang mit dem
+Münchmeyerschen Programm, mich „in allen Zeitungen vor ganz
+Deutschland kaput zu machen”, ganz von selbst ergeben. Um einen
+kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der Dinge zu
+ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem
+Artikel, den das „Wiener Montags-Journal” am 17. Oktober dieses
+Jahres brachte. Er lautet:
+</p>
+
+<p class="center">
+<b>Karl May als Schriftsteller.</b><br/>
+(Eine Genugtuung.)
+</p>
+
+<p>Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die
+Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen
+Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung. Denn
+nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines
+Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und
+hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur
+Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausführliche
+Würdigung der so reichen Phantasie eines deutschen
+Romanziers eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das
+Wort zu einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den
+erfolgreichen Prozessen gegen seine hämischen und boshaften
+Widersacher, zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt
+uns:</p>
+
+<p>Die ganze sogenannte „Karl May-Hetze” ist auf Unwahrheiten
+aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist, daß ich
+Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen für
+unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten dieser
+Erzählungen sind im „Deutschen Hausschatz” erschienen, der
+doch gewiß niemals eine Knabenzeitung gewesen ist. Und den
+später erschienenen Bänden sieht jedes ehrliche Auge
+sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen Leuten
+verstanden werden können. Hiermit fallen alle Vorwürfe,
+die man mir als angeblichem „Jugendverderber” macht, in sich
+selbst zusammen. Wenn die Jugend meine Bücher trotzdem
+liest, und zwar sehr gerne, so beweist das doch nicht, daß
+ich sie für sie bestimmt habe, sondern daß die
+Jugendseele in ihnen findet, was ihr von andern vorenthalten
+wird.</p>
+
+<p>Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen meinen
+Reiseerzählungen schwindle. Wer das behauptet, ahnt
+gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner eigenen
+Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick eines Tertianers
+aus, zu erkennen, daß alles, was ich erzähle, nur mit
+den Wurzeln in das reale Leben greift, im übrigen aber nach
+Regionen strebt, die nicht alltäglich sind. Jeder Leser, der
+mich begreift, weiß, daß ich Länder und
+Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen
+existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der
+absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was anderen
+noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und
+beschreibe, kann dies nur für unwissende oder
+übelwollende Menschen ein Grund sein, zu behaupten,
+daß ich schwindle.</p>
+
+<p>Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser
+beleidigenden Weise über mich zu urteilen. Wer mich nicht
+begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine
+sehr ausgiebige sei. Erst als die größte aller
+Unwahrheiten, die es über mich gibt, verbreitet wurde,
+nämlich die, daß ich „abgrundtief unsittliche
+Schundromane” geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen
+Tone mit mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von einer
+Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es lag, sie zu
+verbreiten, um durch meinen Namen möglichst viel Geld zu
+verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns, dem damaligen
+Hauptredakteur der „Kölnischen Volkszeitung”, den Mann,
+der durch seine Veröffentlichungen für diese
+Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar unternahm, die
+sogenannten „Beweise” zu liefern, daß die betreffenden
+Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur aus meiner Feder
+stammen. Ganz selbstverständlich konnte der wahre,
+unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung der von mir
+geschriebenen Originalmanuskripte geführt werden. Jeder
+andere Beweis konnte nur durch absichtliche Täuschung oder
+Selbstbetrug ermöglicht sein und mußte sich
+schließlich zur Spiegelfechterei gestalten.</p>
+
+<p>Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns? Er
+brachte Behauptung über Behauptung. Er führte eine
+ganze Reihe von „inneren Gründen” an, hinter denen sich
+der Mangel an wirklichen Gründen versteckte. Er sprach von
+Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und
+dergleichen. Das Wiener „Neuigkeits-Weltblatt” weist ihm sogar
+die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege dafür,
+daß May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann mußte
+hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte in den
+Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal die
+Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir die
+Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten. Er machte
+mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere täuschten
+sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von selbst zur richtigen
+Einsicht kamen. Heute glauben nur noch Wenige seinen
+Ausführungen. Andere akzeptieren sie aus prozessualen und
+ähnlichen guten Gründen. Ob Pater Expeditus Schmidt und
+Pater Ansgar Pöllmann, meine beiden neuesten Gegner,
+wirklich an ihren Cardauns glauben, das weiß ich nicht; ich
+kann da nur vermuten. Was sie behaupten, gilt für mich noch
+lange nicht als Beweis. Aber sie fußen in allem, was sie
+gegen mich tun, auf altem Cardaun’schem Grund und Boden und
+scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich
+nächstens unter ihren und den Anschuldigungen ihrer
+Verbündeten zusammenbrechen werde.</p>
+
+<p>Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau
+Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten, von
+der Polizei konfiszierten „Venustempels”. Ferner der
+Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden, der nun schon
+seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im Felde liegt. Und
+endlich der wohlbekannte Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg,
+der aus der christlichen Kirche ausgetretene Sozialist, dem ich
+3000 bis 6000 Mark und dann sogar 10 000 Mark geben sollte,
+dafür wolle er mich in seinem Blatt loben und preisen. Ich
+gab ihm nichts. Da ging er zu Münchmeyers über und war
+seitdem der unermüdlichste meiner Gegner. Ich bemerke
+ausdrücklich, daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum
+Anwalt hat. Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser
+Münchmeyersche Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater
+von Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist,
+so ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin
+vollständig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns,
+Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat Gerlach,
+Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann. Diese alle
+sind jederzeit schußbereit. Sie leugnen zwar den
+gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren Prozessen
+gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und helfen
+einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen mich und bei der
+Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen für das
+Gericht. Der Ueberragendste von ihnen ist aber dieser
+Münchmeyersche Advokat, der alles und alle dirigiert, sogar
+die beiden Patres. Der unschädlichste und erfreulichste aber
+ist Herr Cardauns, der meines Wissens niemals zu dem
+Eingeständnis gebracht werden konnte, daß er meine
+Originalmanuskripte nicht besitze, kürzlich aber in Bonn in
+meiner Gegenwart vor dem beauftragten Richter als Zeuge zugeben
+mußte, daß er sie noch nie gesehen habe.</p>
+
+<p>Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf
+weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen wird, ist
+eine schon längst entschiedene Frage. Kein Kenner der
+Verhältnisse stellt sie mehr auf. -- --</p>
+
+<p>Radebeul-Dresden, Oktober 1910.</p>
+
+<p class="right">
+Karl May.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap09"></a>IX.<br/>
+Schluß.</h2>
+
+<p class="noindent">
+Wie meine „Reiseerzählungen” nur Skizzen sind, so ist auch das vorliegende Werk
+nur Skizze. Es kann gar nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch
+nicht zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener Prozesse wie drohende
+Revolver auf mich gerichtet sind. Außerdem verhindern mich brutale
+Körperschmerzen, in der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang
+täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift
+und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules
+aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir nicht das
+Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins
+Wanken gekommen. Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden,
+hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahre ist mir
+der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich
+zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber
+unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu
+denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche,
+fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir
+die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß
+brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen
+und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben,
+sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil
+meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen.
+</p>
+
+<p>Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich,
+endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber
+doch eine ganz, ganz andere. Ich sagte bereits: Das Karl
+May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein
+Menschheitsproblem im Einzelnen. Aber während die meisten
+Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise
+gewisse Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es
+noch Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben
+zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im Einzelnen, sondern
+im Ganzen zu liefern. Die Vielen stellen Menschheitsteile, diese
+Wenigen aber stellen Menschheitsbilder dar. Die Vielen
+können ihren engen Kreis sauber halten; sie sind
+Dutzendmenschen; sie können sogar als Mustermenschen
+erscheinen. Den Wenigen aber ist die Tugend und die Sünde,
+die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem
+Verhältnisse wie dieser zugeteilt; sie können
+berühmte Feldherren oder rohe Mörder, große
+Diplomaten oder berüchtigte Schwindler, segensreiche
+Finanzgenies oder niedrige Taschendiebe, niemals aber
+Mustermenschen werden. Ihnen ist nicht das wohltuende Glück
+der unbewußten Mittelmäßigkeit beschieden. Ist
+das Leben mächtiger als sie, so werden sie zwischen Tugend
+und Laster, zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und
+Verzweiflung hin- und hergezerrt, bis sie über den Wolken
+zerstäuben oder in den Schluchten zerschellen. Sind sie
+stärker als das Leben und sind sie im Glücke geboren,
+so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen;
+kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und der
+Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es
+erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu
+überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher
+sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen
+lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die
+Augen für diese Welt zu schließen.</p>
+
+<p>Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von diesen
+Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch wenigstens
+verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. Das habe
+ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß
+ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu
+beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen
+tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um mich ebenso
+beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie
+die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die
+Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben.
+Ebenso bin ich überzeugt, daß es mir beschieden war,
+dabei den hartnäckigen Widerstand zu finden, der sich mir
+auch heute noch entgegenstellt, und daß ich mich nicht
+über ihn beschweren darf, weil ich ihn mir ebenso selbst
+bereitet habe, wie die Menschheit schneller vorwärtskommen
+würde, wenn sie endlich aufhören wollte, sich ihren
+eigenen Weg mit Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich
+keinen anderen, als nur mich selbst anklage.</p>
+
+<p>Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf
+gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so war
+dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern die immer noch
+nicht ganz überwundene Anima ist es gewesen, die es mir
+diktierte. So lange sich der Mensch im Niedrigen bewegt, und das
+mußte ich in dieser meiner Lebensbeschreibung doch mehr als
+reichlich tun, hat das Niedrige Macht über ihn, und ich
+durfte nicht unwahr sein; ich mußte so schreiben, wie das
+Milieu es mit sich brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und
+bessere, reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und
+freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft
+zurück, alles das, was mich verbittern will, zu
+überwinden.</p>
+
+<p>Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam Grund vorhanden.
+Ich spreche da nur von den letztvergangenen zehn Jahren und den
+Begleiterscheinungen des Münchmeyerprozesses. Dieser wurde
+von Seiten meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in
+einer Weise geführt, die ich vorher für
+vollständig unmöglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie
+weitgehender Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt
+schützt. Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter
+herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst Niemand
+erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des Paragraphen 193,
+denn er handelt im Interesse seines Klienten. Ich bringe eine
+Musterauswahl der Ausdrücke, die ich mir vom
+Münchmeyerischen Advokaten <tt>Dr.</tt> Gerlach gefallen
+lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner Eigenschaft als
+Anwalt bediente:</p>
+
+<p>Er beschuldigte mich „frecher Anzapfungen”, „unberechtigter
+Forderungen”, zahlreicher „Dreistigkeiten” und „faulen
+Zaubers”. Er nannte mich „raffiniert”, „frech”, „dreist”,
+„verleumderisch”, „pathologisch zur Unwahrheit reizend”,
+„Lügner”, „Lügenmay”, Renommist”,
+„Münchhausen”, „Aufschneider”, „Betrüger”,
+„Lump”, „Schwindler”, „Allerweltsschwindler”,
+„Einbrecher”, „Hochstabler” <tt>[sic]</tt>, „Zuchthäusler” usw. usw. Ich
+frage: Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die
+Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt?
+Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich ihrer
+schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr vor Gericht
+sind sie gestattet, denn ich habe diesen Anwalt auf sie hin wegen
+Beleidigung verklagt und bin abgewiesen worden. Aber noch mehr:
+Er erhob auf diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und
+diese wurde nicht zurückgewiesen. Der Richter ist hieran
+völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz verlangt
+es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen für die
+Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen waren,
+sagte dieser Anwalt zum Richter: „Aber es ist doch ganz
+unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie May, den
+Prozeß gewinnen kann!” „Das haben Sie abzuwarten,”
+antwortete ihm der Richter. Ich stand dabei und mußte mir
+die Beleidigung gefallen lassen, denn das Gesetz erlaubte sie
+ihm. Das ist nun fast zehn Jahre lang so gegangen und geht noch
+heut in diesem Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch
+stehender Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem
+Rechtsanwalt: „Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir
+eine Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May. Was
+muß dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er hätte
+getrost hinzufügen können: „Was leidet er noch, und
+was wird er noch weiter leiden!” Dieser Richter kannte meine
+Vorstrafen genau; er hatte die hierüber vorhandenen Akten
+studiert. Ich gewann trotzdem und trotz aller gegnerischen
+Schmähungen den Prozeß in sämtlichen Instanzen,
+gewiß ein laut sprechender Beweis, daß der deutsche
+Richter sich durch anwaltliche Invektiven nicht beeinflussen
+läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich sie doch und
+habe ich sie noch heut. Und sie wirken, wenn nicht auf das
+Urteil, so doch ganz bestimmt nach anderer Seite hin. Sie
+verrohen den Parteiverkehr und greifen aus dem Verhandlungszimmer
+hinaus in das öffentliche und hinein sogar in das private
+Leben. Man wird alle die beleidigenden Ausdrücke über
+mich, die ich oben angeführt habe, schon in den Zeitungen
+gelesen haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet
+sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die jeder
+übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen
+darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter
+führt als die Humanität. Er schreibt diese Roheiten in
+seine Schriftsätze und lanciert sie von da als
+beweiskräftiges Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder
+er schickt sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in
+gedruckter Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen,
+daß sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte
+einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder
+Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede
+Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu
+erschüttern oder wohl gar zu vernichten. „In den Zeitungen
+von ganz Deutschland kaput machen,” nennt man das. Und das
+Gesetz begünstigt dieses Treiben!</p>
+
+<p>Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes Beispiel
+nahe, welches nichts weniger als empfehlend für mich klingt.
+Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn ich der Allgemeinheit
+nützen will, nicht fragen darf, ob ich mir selbst etwa
+dadurch schade. Meine erste Frau hatte die Frau eines Dresdener
+Schriftstellers beleidigt, welcher von Münchmeyers aus
+wußte, daß ich vorbestraft bin. Er rächte sich
+dadurch, daß er mich bei einem deutschen Fürsten
+denunzierte und ihm mitteilte, daß seine Verwandten meine
+Bücher läsen und mich auch persönlich besuchten.
+Der Fürst antwortete durch Schweigen. Da kam eine zweite
+Denunziation, und nun war der Fürst gezwungen, sich nach
+Dresden zu wenden, um zu erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei.
+Er erhielt die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach
+Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu erkundigen. Er
+erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei, weshalb
+ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause bleibe, und daß
+ich in meinen Büchern über Länder schreibe, in
+denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was ich da berichte, sei
+nicht wahr. Infolge dessen steht in den Dresdener Polizeiakten
+über mich verzeichnet, daß ich einen unsoliden
+Lebenswandel führe und ein literarischer Hochstabler <tt>[sic]</tt> sei. Das wurde dem Fürsten
+mitgeteilt, und einer der betreffenden Verwandten erzählte
+es mir bei nächster Gelegenheit sehr ausführlich
+wieder. Er wußte sehr wohl, was an der Sache war, bat mich
+aber um Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber
+zu schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil
+ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den
+verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören. Jetzt aber
+werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht und
+von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet. Wie kommt ein aus
+der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat a. D. zu diesen geheimen
+Dresdener Polizeiakten? Das Gesetz gestattet es! Ganz
+selbstverständlich fühle ich mich nun nicht mehr zur
+Diskretion verpflichtet und werde darauf dringen, daß diese
+Akten revidiert und berichtigt werden.</p>
+
+<p>Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich wie auf
+Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig Jahren auf
+ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das ist so lange her,
+daß die betreffenden Gerichtsakten längst vernichtet
+worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt, daß solche
+Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer seien, und diese Dauer
+ist vorüber. Wer hat nun daran gedacht, daß auch bei
+der dortigen Polizei Notizen hierüber gemacht worden und
+vielleicht noch vorhanden sein können? Herr Lebius hat sie
+kürzlich veröffentlicht! Wie kommt ein Mann, wie er,
+nun auch zu den Leipziger Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt
+es!</p>
+
+<p>Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht. Sie
+sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn gar
+nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm!</p>
+
+<p>Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine
+prozessualen Verhältnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das, und
+wer ermöglicht es ihm? Das Gesetz und der
+Münchmeyersche Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige
+ist. Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand. Es ist
+sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene Frau in
+Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts
+veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum
+Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für
+sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke
+paßte. Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner
+reichen, persönlichen Erfahrung dafür, daß das
+Gesetz Dinge nicht nur erlaubt, sondern sogar begünstigt,
+die es eigentlich auf das strengste verbieten sollte. Dem steht
+selbst der rechtlichste und humanste Richter machtlos
+gegenüber, und das war es, woran ich dachte, als ich weiter
+oben sagte, daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt
+habe. Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren
+unfreiwillig da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen,
+denen es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung
+zurück zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und ich
+weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die,
+welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder
+niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit
+besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu
+ihnen hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht
+gezwungen, sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse.
+Ich will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen wagte,
+nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn sie sich
+nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren sind,
+außer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch engsten
+Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen mein
+Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. Will ihnen
+zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe fruchtet, wenn
+bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen zeigen, daß ein
+einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser eine, einzige
+Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten und die
+besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen Liebe und
+der Humanität mit einem Schlage zunichte zu machen. Ich will
+ihnen sagen, daß es eine Sünde von der Menschheit ist,
+ihre Mitschuld an der Schuld der Schuldigen zu verbergen.
+Daß es aber auch von diesen ein Fehler ist, zu
+verheimlichen, daß sie einst schuldig waren. Unser Leben,
+mein Leben, ihr Leben soll frei vor Gottes Auge liegen, besonders
+aber auch frei vor unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir
+nicht, und dann grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum
+wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und sehen wir
+das ein, so können wir uns selbst verzeihen, und wer sich
+selbst verzeihen darf, dem wird verziehen werden. Weg also mit
+der falschen Scham, und heraus mit der Offenheit! Nur das
+Geheimnis, in das wir uns hüllen, gibt jenem Paragraphen und
+jedem gewissenlosen Menschen die Macht, sich höher und
+besser zu dünken als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu
+sein!</p>
+
+<p>Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie alles
+Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur Skizze sein. Aber
+ich fühle das Bedürfnis, das, was Andere Böses an
+mir taten, für meine Mitmenschen in Gutes zu verwandeln. Ich
+werde es denjenigen, die gleiches Schicksal, wie ich, hatten,
+ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich
+diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind. Was
+nützt alle sogenannte „Gerechtigkeit”, alle sogenannte
+„Milde des Gerichtes”, alle sogenannte „Humanisierung des
+Strafvollzuges”, alle sogenannte „Fürsorge für
+entlassene Strafgefangene”, wenn es nur eines einzigen
+spitzfindigen Anwaltes oder eines einzigen fragwürdigen
+Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen
+Bestrebungen erwuchs, in einem einzigen Augenblicke zu
+vernichten? Wie kann man von dem Gefallenen verlangen, daß
+er wieder aufstehe und sich bessere, wenn man es
+unterläßt, auch die Verhältnisse, in die man ihn
+zurückversetzt, zu verbessern? Ist es eine Ermunterung
+für ihn, zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch,
+so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der
+Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen
+ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen?
+Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um
+gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen,
+sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei
+und stellt ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich
+von einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein
+„wissenschaftlichen” Gründen an diesen Pranger genagelt
+worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht einmal meinen
+Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagaphen zu
+dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man
+denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich
+in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches
+Lächeln zeigt, welches verrät, wie es eigentlich steht.
+Und da fühlt man mit den Hunderttausenden, die hierunter
+leiden, das brennende Bedürfnis, einmal alle die
+Paragraphen, an denen der gute Wille der Menschheit scheitert, an
+das Tageslicht zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen
+müssen, um durchschaut zu werden -- -- -- vor die
+Oeffentlichkeit, vor den Reichstag!</p>
+
+<p>Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es
+hat schon Einige gegeben, die als „entlassene Gefangene” ihre
+Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das
+war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen
+bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine
+Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige
+Menschenschicksale, die, auch im klassischen Sinne, wirkliche
+Schicksale sind. <b>Und das meinige ist ein solches.</b> Ich
+fühle mich verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den
+Dienst der Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das
+wird man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.</p>
+
+<p>Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die
+Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl May,
+sondern auch mit dem Menschen May befaßte und daß
+Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf den letzten
+Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das Eine war
+berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, Schinder- und
+Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen lassen
+mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld von dieser
+Qual und Marter zu befreien. Das war die Geisterschmiede meines
+Märchens, in der man auf mich losschlug, daß die
+Funken durch alle Zeitungen flogen. Sie fliegen sogar noch heut.
+Doch wird bald Ruhe werden. Die Zeit des Hammers ist
+vorüber; es kommt nur noch die Feile, und dann ist es gut.
+Daß all das Leid, welches über mich kam, auch meine
+andere, die schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen
+mußte, versteht sich ganz von selbst. Auch da gab es
+Schlacken, und zwar mehr als genug. Auch sie mußten
+herunter. Es flog der Ruß, der Schmutz, der Staub, der
+Hammerschlag. Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird
+ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne.</p>
+
+<p>Es war überhaupt ein großes, ein schweres und ein
+höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen. Nicht nur in
+meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern, in meiner
+Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner Ehe. Alles, was mich
+in die Schmiede und dem Schmerze in die Arme getrieben hatte,
+mußte weichen. An seine Stelle trat, was rein und ehrlich
+war und mit nach oben strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan,
+dem Land der Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und
+Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt
+werden konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen
+vorüber. Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes
+Wasser, irgend ein Beleidigungsprozeß, eine
+Staatsanwaltschaftsanzeige, doch auch das geht bald vorbei, und
+dann wird Ruhe und Friede um mich sein, so daß ich endlich,
+endlich Zeit und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches,
+an mein einziges und letztes „Werk” zu gehen.</p>
+
+<p>Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin ich
+voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine „Hetze”
+wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde steht, noch nie in
+der Literatur irgend eines Landes, eines Volkes gegeben. Das gab
+Zeitungsstürme, Stürme in den Gerichtssälen,
+Stürme im eigenen Hause und Stürme im eigenen Innern.
+Mein alter, treuer, guter Freund, der Körper, behauptet
+zwar, nicht länger mitmachen zu können, aber ich bin
+überzeugt, daß er doch wieder so bereitwillig und
+verständig wird, wie er immer gewesen ist. Er hat ertragen
+müssen, was eigentlich wohl nicht zu ertragen war.
+Zunächst sechs Jahre lang die drei Instanzen des ersten
+Münchmeyerprozesses mit allen Aufregungen und
+Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren. Sodann die
+zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung wegen Meineid
+und Verleitung dazu. Denn der Münchmeyersche Rechtsanwalt
+hatte, nachdem der Prozeß für ihn verloren war, mich
+und meine Zeugen beim Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt.
+Der Staatsanwalt war, nach seiner eigenen Aussage auf diese
+Anzeige eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen.
+Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz
+selbstverständlich damit, daß man weder mir noch
+meinen Zeugen etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch
+nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast noch
+schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten Lebiusangriffe.
+Eine doppelseitige Lungenentzündung, die mich monatelang
+zwischen Tod und Leben schweben ließ. Die Beschuldigungen,
+welche meine geschiedene Frau auf mich, meine jetzige Frau und
+ihre Mutter wälzte und mit denen sie uns in schwere Strafe
+bringen wollte. Die Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann
+wegen dieser Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben
+ließ. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in Berlin
+wiederholt. Glücklicher Weise hatte diese geschiedene Frau
+Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete, während des
+Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten und ohne all mein Zutun
+freiwillig erzählt und eingestanden, so daß sie zu
+diesem späteren Leugnen nur verführt sein konnte. Die
+Vorlegung dieser Beweise zeigte alle Anklagen gegen mich als
+Lügen. Ferner der Antrag des Lebius an die
+Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Sein
+Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich verfolgen zu lassen. Die
+zahllosen Artikel gegen mich in seinem Blatte, der „Bund”.
+Seine Flugblätter mit den gräßlichsten
+Unwahrheiten, welche die Runde durch Deutschland, Oesterreich,
+Schweiz, Italien, Frankreich, England, Nord- und Südamerika
+machten. Da beschuldigte er mich sogar, meinen Schwiegervater
+erwürgt zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit.
+Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des
+Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier
+Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich wegen
+Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren Zuchthaus
+bestraft wird. Man sieht, daß man zu den
+alleräußersten Mitteln greift, mich „kaput zu
+machen”! Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den
+Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und Lebenskraft zu
+verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum jeder fähig ist.
+Ich habe es ertragen, ohne mich zur Selbsthilfe reizen zu lassen,
+weil ich keinen Augenblick lang an Gott und seiner Liebe zu
+zweifeln vermag und weil mir in dieser überschweren Zeit ein
+Wesen zur Seite gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende
+Seele mich wie auf Engelsflügeln über alles Leid erhob,
+dem ich verfallen sollte, nämlich meine jetzige Frau. Wenn
+man berechtigt gewesen ist, Bücher über das Thema „die
+Bestie im Weibe” zu schreiben, so könnte ich mich wohl
+verpflichtet fühlen, demgegenüber ein Buch zu
+veröffentlichen, welches den Titel „Der Himmel im Weibe”
+führt.</p>
+
+<p>Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine Quelle alles
+menschlich Reinen, menschlich Edeln und menschlich Ewigen ist,
+läßt sich in Beziehung auf das Erdenleid Alles
+erlangen und in Beziehung auf die noch vor mir liegende Arbeit
+Alles leisten, was menschenmöglich ist. Ich bin nicht mehr
+so fürchterlich allein. Ich habe nicht mehr immer nur aus
+mir selbst herauszuschöpfen, sondern es hat sich mir ein
+köstlich reiches seelisches Leben zugesellt, durch dessen
+Einfluß sich Alles, was in mir zum guten Ziele führt,
+verdoppelt. Körperlich schwer leidend, bin ich geistig
+frisch und seelisch wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der
+Jugendzeit. Ich bin nicht töricht genug, mir zu
+verheimlichen, daß man mich als einen Ausgestoßenen
+betrachtet, ausgestoßen aus Kirche, Gesellschaft und
+Literatur. Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich
+für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten halt; der
+Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer
+heimlich Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig
+bringen, sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen sie
+die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als
+gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe
+nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft
+gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen
+war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten Leute,
+meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das Innenleben
+aneinander so vollauf genug, daß wir es gar nicht fertig
+bringen, uns nach „Gesellschaft” zu sehnen. Und was meine
+literarische Ausstoßung betrifft, so kann ich mich auch mit
+ihr zufrieden geben. Den Weg, auf dem ich mich befinde, ist noch
+kein Anderer gegangen; ich wäre also auch ohne den
+Haß, den man auf mich richtet, gezwungen, ein Einsamer zu
+sein. Auch bin ich überzeugt, daß später, wenn
+man mich und das, was ich will, erst richtig kennen gelernt hat,
+sich Manche, vielleicht sogar Viele von dem großen Haufen
+absondern werden, um sich mir zuzugesellen. Alte Wege können
+höchstens zu alten, toten Schätzen führen. Wer
+aber nach neuen, lebendigen Schätzen sucht, der soll auch
+neue, nicht alte Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das
+Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch ihren Wert
+oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. Taugen sie etwas, so
+werden sie bleiben, ganz gleich, ob man sie gegenwärtig lobt
+oder tadelt. Taugen sie nichts, so werden sie verschwinden, ganz
+gleich, ob man sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die
+Hauptsache ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert
+bestimmt, bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er
+literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann
+auch nur den geringsten Einfluß darauf haben. Das klingt
+stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind
+Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen auf
+Späteres. Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles,
+durch was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man
+jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man
+will.</p>
+
+<p>Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung
+auf die Münchmeyerromane übrig. Einer meiner
+erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem
+weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in
+unsittliche verwandeln könne; das würde eine
+Riesenarbeit sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint
+so glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines
+Schundverlages unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der
+Zeit und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben,
+so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und
+der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman
+umzuändern! Zweitens erfordert eine solche Umänderung
+keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner anzunehmen
+scheint. Die Einfügung von einigen Worten genügt
+vollständig, einen „moralischen” Druckbogen in einen
+„unmoralischen” zu verwandeln. Drittens sind Kräfte mehr
+als genug für solche Umarbeitungen vorhanden, und sie
+besitzen eine so erstaunliche Routine darin, daß selbst der
+Kenner sich über die Masse, die sie bewältigen,
+wundert. Ich habe hierüber Beweise erbracht und werde auch
+noch weitere bringen. Das oft erwähnte Faktotum Walther
+saß bei Münchmeyers täglich von früh bis
+abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann die Korrektur
+zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen bekam. Was erst
+Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen
+Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben
+mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und
+gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Münchmeyers
+Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß
+bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand
+ganze Kapitel verändert hat. Ein anderer Zeuge hat
+beschworen, Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er
+an meinen Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme,
+ohne es mir sagen zu dürfen. Ich brauche hier wohl nicht
+noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen,
+anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich
+absolut die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren
+Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa die
+dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man es zumutet,
+sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu der damaligen
+Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden.
+Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf von meinem
+Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir versichern, ganz
+genau sagen zu können, wo die Fälschung beginnt und wo
+sie endet.</p>
+
+<p>Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick meiner
+Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam zu machen, den
+man anwendet, um meine den höhern Kreisen angehörenden
+Leser gegen mich zu empören. Da wird zum Beispiel an
+auffälliger Stelle gesagt, daß ich in hervorragender
+Gesellschaft in Dresden verkehre und daß ich mir
+überhaupt die größte Mühe gebe, mit
+hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein Wort,
+kein Buchstabe wahr. Bin ich „Hans für mich”, so
+fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser
+Beziehung weiter nichts, als „Hans für mich” zu bleiben.
+Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis liefern
+wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich
+aufgedrängt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet,
+daß ich an „Höfen” verkehre. Das ist erst recht
+nicht wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit,
+die zu irgend einem „Hofe” gehört, meine Bücher liest
+und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad ich
+der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich „bei Hofe
+verkehre”. Es kann diesen Behauptungen, die pure Erfindungen
+sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich den betreffenden
+Kreisen als indiskret oder gar als Lügner zu kennzeichnen
+und mich selbst da zu schädigen, wohin ich absolut nicht
+gehöre. -- -- --<br/>
+-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --</p>
+
+<p>Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang
+zurück, auf mein altes, liebes Märchen von „Sitara”,
+von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, so wird man
+dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen, und zwar als die
+greifbarste, die es gibt. Es ist die Aufgabe des begonnenen,
+gegenwärtigen Jahrhunderts, unsere ungeübten Augen
+für die große, erhabene Symbolik des alltäglichen
+Lebens zu schärfen und uns zu der beglückenden und
+erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß es höhere und
+unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als diejenigen, mit denen
+der Werk- und Wochentag uns beschäftigt. Die Skizzen, die
+ich zeichnete und veröffentlichte, sollen der Vorbereitung
+zu dieser Erkenntnis dienen. Darum sind sie symbolisch
+geschrieben und, um verstanden zu werden, nur bildlich zu nehmen.
+Man möchte sich eigentlich darüber wundern, daß
+dies dem gewöhnlichen Leser so schwer zu fallen scheint. Es
+ist doch wohl keine allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines
+Gleichnisses irgend etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das
+Land der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das
+Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine, so kann es
+doch keiner geradezu akademischen Bildung bedürfen,
+einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise von Ardistan nach
+Dschinnistan beschreibe. Der Leser hat sich einfach aus seiner
+Alltagswelt in meine Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch
+wohl auch nicht schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu
+verlassen, um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.</p>
+
+<p>Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, so will ich
+durch meine Erzählungen das Innere meiner Leser vom
+äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken klingen
+hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem
+Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil
+der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt. So
+leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich zu nehmen, so leicht
+ist es auch, meine Bücher zu verstehen und ihren Inhalt zu
+begreifen. Ich will, daß meine Leser das Leben nicht
+länger als ein nur materielles Dasein betrachten. Diese
+Anschauung ist für sie ein Gefängnis, über dessen
+Mauern sie nicht hinaus in das von der Sonne beschienene freie,
+weite Land zu schauen vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber
+will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie
+ich mich selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen,
+seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im
+Gefängnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze
+der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich, der zu mir in
+die Zelle trat. Da durfte mich niemand berühren. Da war es
+keinem erlaubt, den Werdegang meines inneren Menschen zu
+stören. Kein Schurke hatte Macht über mich. Was ich
+besaß und was ich erwarb, das war mein sicheres,
+unantastbares Eigentum, bis ich -- -- entlassen wurde,
+länger nicht! Denn mit dieser Entlassung verlor ich meine
+Freiheit und meine Menschenrechte. Was andere, die nur materiell
+zu reden wissen, als Freiheit bezeichnen, das ist für mich
+ein Gefängnis, ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in
+dem ich nun schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet
+habe, ohne, außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen
+Menschen zu finden, mit dem ich hätte sprechen können
+wie damals mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten.
+Ich lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für
+Andere. Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich mir
+sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit mir machen, was
+ihm beliebte, denn überall fand er einen Anwalt, der seine
+Sache führte. Ein Jeder durfte mich verdächtigen, mich
+beleidigen, auf mich einschlagen, denn überall gab es einen
+Paragraphen, der ihn schützte. Ich mußte um meines
+Eigentums willen sechs Jahre lang prozessieren, und als ich den
+Prozeß gewonnen hatte, bekam ich noch lange nichts und
+wurde wegen Meineides zweiundzwanzig Monate lang in
+Voruntersuchung genommen. Nun prozessiere ich schon fast zehn
+Jahre lang und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will es
+nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein Züchtling
+gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern darf,
+wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich mit einem jener
+Paragraphen zu bewaffnen, welche die Ideale aller „schneidigen”
+Anwälte sind. Jawohl, ich bin Gefangener, Zuchthäusler,
+noch immer! Ein Dutzend Prozesse haben mich festgehalten, damit
+ich ja nicht entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir
+wollte, aber keines bekam, hat sich als Zuchtmeister
+gebärdet und auf mich eingeschlagen. Ich habe das Beste
+aller derer, für die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und
+äußeres Heil, ihr gegenwärtiges und ihr
+zukünftiges Glück. Was gab man mir für diesen
+meinen guten Willen? Verachtung, Spott und Hohn! Als ich
+Zuchthäusler war, da war ich keiner. Und nun ich aber keiner
+bin, da bin ich einer. Warum?</p>
+
+<p>Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe?
+Ist für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht
+selbst die Hölle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die
+Hölle, wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer,
+wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn ich
+symbolisch von meiner „Geisterschmiede” erzähle, deren
+fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden
+haben werde. Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es
+mußte so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu
+tragen und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen und
+durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit zu
+verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne meine Schuld.
+Und was andere gezwungen an mir taten, das trage ich nicht nach.
+Ich bitte nur um das Eine: Laßt mir endlich, endlich Zeit,
+mit dieser Arbeit zu beginnen!
+</p>
+
+<hr />
+
+<p class="poem">
+Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag<br/>
+    Soll Feierabend sein im heil’gen Alter.<br/>
+Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,<br/>
+    Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.<br/>
+Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt;<br/>
+    Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,<br/>
+Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,<br/>
+    So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.<br/>
+<br/>
+Nach meines Lebens schwerem Leidenstag<br/>
+    Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände.<br/>
+Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,<br/>
+    Das führe er in mir zum frohen Ende.<br/>
+Ich hab’ die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,<br/>
+    Gewißlich nicht allein für mich getragen,<br/>
+Doch was dafür sich irdisch in mir regt,<br/>
+    Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.<br/>
+<br/>
+Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag<br/>
+    Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,<br/>
+Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,<br/>
+    Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen.<br/>
+Ich juble auf. Des Kerkers Schloß erklirrt;<br/>
+    Ich werde endlich, endlich nun entlassen.<br/>
+Ade! Und wer sich weiter in mir irrt,<br/>
+    Der mag getrost mich auch noch weiter hassen!
+</p>
+
+<p class="center">
+E n d e.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div>
+</body>
+</html>
+
+