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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:19:48 -0700 |
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| committer | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:19:48 -0700 |
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diff --git a/2779-h/2779-h.htm b/2779-h/2779-h.htm new file mode 100644 index 0000000..c56002d --- /dev/null +++ b/2779-h/2779-h.htm @@ -0,0 +1,10747 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" +"http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> +<head> +<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=utf-8" /> +<meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> +<title>Mein Leben und Streben | Project Gutenberg</title> + +<style type="text/css"> + +body { margin-left: 20%; + margin-right: 20%; + text-align: justify; } + +h1, h2, h3, h4, h5 {text-align: center; font-style: normal; font-weight: +normal; line-height: 1.5; margin-top: .5em; margin-bottom: .5em;} + +h1 {font-size: 300%; + margin-top: 0.6em; + margin-bottom: 0.6em; + letter-spacing: 0.12em; + word-spacing: 0.2em; + text-indent: 0em;} +h2 {font-size: 150%; margin-top: 2em; margin-bottom: 1em;} +h3 {font-size: 130%; margin-top: 1em;} +h4 {font-size: 120%;} +h5 {font-size: 110%;} + +.no-break {page-break-before: avoid;} /* for epubs */ + +div.chapter {page-break-before: always; margin-top: 4em;} + +hr {width: 80%; margin-top: 2em; margin-bottom: 2em;} + +p {text-indent: 1em; + margin-top: 0.25em; + margin-bottom: 0.25em; } + +p.poem {text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + font-size: 90%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.letter {text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.noindent {text-indent: 0% } + + +p.center {text-align: center; + text-indent: 0em; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.right {text-align: right; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.footnote {font-size: 90%; + text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +a:link {color:blue; text-decoration:none} +a:visited {color:blue; text-decoration:none} +a:hover {color:red} + +</style> +</head> +<body> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div> + +<h1>Mein Leben und Streben</h1> + +<h3>Selbstbiographie</h3> + +<h2 class="no-break">von<br/> +Karl May</h2> + +<hr /> +<hr /> + +<p class="center"> +<b>Band I</b><br/> +<br/> +<br/> +<br/> +</p> + +<p class="center"> +Freiburg i. Br.<br/> +Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld<br/> +<br/> +Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.<br/> +<br/> +<br/> +<br/> +</p> + +<p class="poem"> +Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,<br/> + So gehe ruhig fort, und laß das Klagen.<br/> +Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst<br/> + Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen. +</p> + +<p class="right"> +(Karl May „Im Reiche des silbernen Löwen”) +</p> + +<hr /> + +<div class="chapter"> + +<h2><b> I n h a l t. </b></h2> + +<table summary="" style=""> + +<tr> +<td><a href="#chap01">I. Das Märchen von Sitara</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap02">II. Meine Kindheit</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap03">III. Keine Jugend</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap04">IV. Seminar- und Lehrerzeit</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap05">V. Im Abgrunde</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap06">VI. Bei der Kolportage</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap07">VII. Meine Werke</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap08">VIII. Meine Prozesse</a></td> +</tr> + +<tr> +<td><a href="#chap09">IX. Schluß</a></td> +</tr> + +</table> + +<hr /> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap01"></a>I.<br/> +Das Märchen von Sitara.</h2> + +<hr /> + +<p class="noindent"> +Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht +und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so +kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches +Wort und bedeutet eben „Stern”. +</p> + +<p> +Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist +1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst +und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen +Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder +weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen +aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile +zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise +gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur +einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein +der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen +schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden +sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden +Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. +Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich +bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose +Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was +nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan +ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich +auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der <b>Gewalt- und +Egoismusmenschen.</b> Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und +schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des +menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. +Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und +bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das +Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten +nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke +des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe +bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge +aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der +<b>Edelmenschen.</b> +</p> + +<p> +Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, +selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: +„D u s o l l st d e r T e u f e l d e i n e s N ä ch st e n +s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t z u m E n g e l +w e r d e st!” Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über +Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten, +deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet: „D u s o l l st +d e r E n g e l d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u +n i ch t d i r s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!” +</p> + +<p> +Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein +jeder Bürger und eine jede Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich +und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein. +Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine +tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach +Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es da ein Wunder, daß da unten im +Tieflande eine immer größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Daß +die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu +befreien und zu erlösen suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den +Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht +anders haben. Sie würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren +können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch +die Mächtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, die +Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen +arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche +Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die +Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen +unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen +diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr gäbe? Darum ist es +Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem +Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen +den, der es wagt, nach dem Lande der Nächstenliebe und der Humanität, nach +Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird +ergriffen und nach der „Geisterschmiede” geschafft, um dort gemartert und +gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend +in das verhaßte Joch zurückzukehren. +</p> + +<p>Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan, +jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen +Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und +beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches +Wort; es bedeutet „Mann”. Märdistan ist das Zwischenland, +in welches sich nur „Männer” wagen dürfen; jeder +Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil +dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der „Wald von +Kulub”. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl +des deutschen Wortes „Herz”. Also in den Tiefen des Herzens +lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen +hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und +mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, +von dem es in „Babel und Bibel,” Seite 78 heißt:</p> + +<p class="poem"> +„Zu Märdistan, im Walde von Kulub,<br/> +Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.<br/> +Da schmieden Geister?” +</p> + +<p class="poem"> + „Nein, man schmiedet sie!<br/> +Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,<br/> +Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.<br/> +Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie.<br/> +Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.<br/> +Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.<br/> +Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug<br/> +Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.<br/> +Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.<br/> +Man stößt dich in den Brand; die Bälge +knarren.<br/> +Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,<br/> +Und Alles, was du hast und was du bist,<br/> +Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,<br/> +Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,<br/> +Gedanken und Gefühle, Alles, Alles<br/> +Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert<br/> +Bis in die weiße Glut -- -- --” + „Allah, Allah!”<br/> +„Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!<br/> +Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,<br/> +Wird weggeworfen in den Brack und Plunder<br/> +Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.<br/> +Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,<br/> +Die in der Faust der Parakleten funkelt.<br/> +Sei also still! Man +reißt dich aus dem Feuer -- --<br/> +Man wirft dich auf den Amboß -- -- hält dich fest.<br/> +Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.<br/> +Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.<br/> +Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu.<br/> +Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer -- -- --<br/> +Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,<br/> +Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.<br/> +Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.<br/> +Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,<br/> +Und dennoch mußt du wieder in das Feuer -- --<br/> +Und wieder -- -- immer wieder, bis der Schmied<br/> +Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual<br/> +Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag<br/> +Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.<br/> +Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.<br/> +Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg<br/> +Was noch -- -- --” +</p> + +<p class="poem"> + „Halt ein! Es ist genug!”<br/> +„Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,<br/> +Der schraubt sich tief -- -- --”<br/> + „Sei still! Um Gottes willen!”<br/> + u. s. w. u. s. w. +</p> + +<p>So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im +Innern der „Geisterschmiede von Kulub” zu! Jeder Bewohner des +Sternes Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller +bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel +herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, +welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in +Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme +Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, +wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes +Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von +oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, +und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder +gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen +Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft +nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es +ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er +doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede +geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis +er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben.</p> + +<p>Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach +Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so groß und +so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste +Pein der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen +Gesellen „aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig +dankbar froh entgegenlächelt”. Einer solchen Himmelstochter +kann selbst dieser größte Schmerz nichts anhaben, sie +ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer +vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und sind +alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr +zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan +gehört. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr +hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach +Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines +Nächsten ist. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap02"></a>II.<br/> +Meine Kindheit.</h2> + +<p class="noindent"> +Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, +der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren +beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines +Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um +Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom +Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des „Krähenholzes”, aus der +er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte +lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man +seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die +Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen. +</p> + +<p>Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr +ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen +Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren +Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater, +meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern +und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte +für die Leute und spann Watte. Es kam vor, daß sie +sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie +splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier +Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und +altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fünf Kinder. +Sie war eine gute, fleißige, schweigsame Frau, die niemals +klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die +eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man +gegenwärtig diskret als „Unterernährung” zu +bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Großmutter, die +Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht +hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin, +eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer +eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch +ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus +ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem +sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre +Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr +davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig +rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen saß +und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr +eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie +gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit +einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort +verwischt.</p> + +<p>Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele +unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im +Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß +hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben +waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule +besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend lesen und +sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was +nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, +das machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er +doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine +Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, +und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht +so übel. Als ich eine Geige haben mußte und er kein +Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. +Dem fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und +Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung +zu erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich +sein Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn +Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen +vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. +Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm +auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. +Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe +uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue +Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der +wohlbekannte „birkene Hans”, vor dem wir Kinder uns besonders +scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im +großen „Ofentopfe” einzuweichen, um ihn elastischer und +also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden +vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten; +wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns +an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir +selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das +Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von +Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man +den Strick oder den „Hans” so lange, bis Vater nicht mehr +konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes, +heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als +Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem +Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach +Hause kam, als ihr erlaubt worden war.</p> + +<p>Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, +wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht +etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder +mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, +daß durch die Art und Weise, in der man mich umstürmt, +jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich +schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn die +kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht erst +nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben. +Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st +w i l l e n, um über mich klar zu werden und mir über +das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, +Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber +ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht +einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern ich +beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden +sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend +sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, sondern +heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. +Ich spreche hier nicht nur für dieses, sondern auch für +jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem +ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als +das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir +wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem oder +in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz +andere, in die richtigen Hände, nämlich in die +Hände des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der +es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und +Wahrheit gibt. Da läßt sich nichts verschweigen und +nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und +ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch +noch so pietätlos und tue es auch noch so weh. Man hat den +Ausdruck „Karl May-Problem” erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an +und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen +denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen oder +nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen. Das +Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem +großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die +einzelne Individualität transponiert. Und genauso, wie +dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist auch das Karl +May-Problem zu lösen, anders nicht! Wer sich unfähig +zeigt, das Karl May-Rätsel in befriedigender, humaner Weise +zu lösen, der mag um Gottes Willen die schwachen Hände +und die unzureichenden Gedanken davon lassen, über sich +selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen +Menschheitsfragen zu befassen! Der Schlüssel zu all diesen +Rätseln ist längst vorhanden. Die christliche Kirche +nennt ihn „Erbsünde”. Die Vorväter und Vormütter +kennen, heißt, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der +Humanität, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es +gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um +auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können. +Den Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das +Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine +Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die +meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag +man dies für unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht +nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr +zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in +seinem Falle das Richtige zu tun. -- --</p> + +<p>Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten +ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer +dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer +lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem +vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im +fünften und letzten fanden sich zehn alte +Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf +Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermögen! Das +erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus +nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, +dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben +unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern +bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. +Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, +wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. +Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die +für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet +wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle +zehn, zwölf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das +förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock +wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem +Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von +Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die +eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns +zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. +Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die +gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen +Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser +wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns +gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir +fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu +stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen +Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen +Wassertümpel gab, den wir als „Teich” bezeichneten. Der +Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns +erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn +das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern an, zu +husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte +immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl +wußten, daß die Aepfel gleich nach der Blüte am +besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. +Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie +gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand +wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch +mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den +„Teich” betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider +nicht mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir +alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen +zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit +Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten +Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen +Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren +uns auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie kamen +an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. Einige +ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche +Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. +Keine Sennerin kann sich mehr über ihre Zither freuen als +wir über unsere Frösche. Wir wußten ganz genau, +welcher es war, der sich hören leß <tt>[sic]</tt>, ob der Arthur, der Paul oder Fritz, +und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, +so sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, um +mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und uns dahin +zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider aber +kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, um +sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte +überall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie +gefühllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern +schönen Tümpel sah, die Hände über dem Kopf +zusammen und erklärte, daß dieser Pest- und +Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten +Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn +Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und +drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie +zu töten sei, bei fünfzehn „Guten Groschen” Strafe. +Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! Ja, +wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen wäre, dann +herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen, +wurde ausgeführt. Der Tümpel wurde so weit +ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen konnten. +Sie wurden in den großen Deckelkorb getan und dann hinaus +hinter das Schießhaus nach dem großen Zechenteich +getragen, Großmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder +einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das +Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel +Tränen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile +dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefällt worden sind, +das ist jetzt, nach über sechzig Jahren, wohl kaum mehr +festzustellen. Doch weiß ich noch ganz bestimmt, daß +Großmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen, +uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn +Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem +fünfmal größeren Garten erben, in dem es einen +zehnmal größeren Teich mit zwanzigmal +größeren Fröschen gebe. Das brachte in unserer +Stimmung eine ebenso plötzliche wie angenehme Aenderung +hervor. Wir wanderten mit der Großmutter und dem leeren +Deckelkorb vergnügt nach Hause.</p> + +<p>Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und +schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit +irgendeinem vererbten körperlichen Fehler behaftet. Vater +und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie +sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer +Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir +unbedingt verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt +sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre +siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein +örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und +der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald +ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das +Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger +und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit +jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst +berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu +bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.</p> + +<p>Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden +geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, daß wir +eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter +war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem +maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem +Fleiße, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der +Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein +konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden frei +zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, +plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt +zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. +Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem +Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte +Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen, +was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während +er, nicht schlafen könnend, im Bette lag und darüber +nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten +über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren +wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem +Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, die +Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte +Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das +geringste verstand. Er hatte gehört, daß da sehr viel +Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, daß er auch +ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, +jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden +vertrieben und Tauben angeschafft.</p> + +<p>Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu +bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel opfern, +vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an +den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an +ihnen fanden. Am meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir +beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider +veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure +„Blaustriche” gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. +Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige +Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie waren +nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren +„Blaustriche” entpuppten sich als ganz wertlose +Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, +jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler +fünfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich +heraus, daß der Täuberich altersblind war. Er ging +nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und +ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, +daß Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um +den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab +sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er +besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften, +um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; +bald kaufte er Wicken, die er „halb geschenkt” erhalten hatte. +Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem +Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und +Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer +gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und +wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses +unstäte <tt>[sic]</tt>, +unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß +das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die +übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie +härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen +wäre, weiter zu tragen. Da faßte sie einen +Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich +in diesem Falle viel, viel vernünftiger als damals gegen +unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie +sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, +aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten +müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher +erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne +noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr +Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie +sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu +sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und +zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. +Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz +dachte nach; dann sagte er: „Meine liebe Frau May, ich kenne +Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. +Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen +nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich +werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück, +so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. +Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir +Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie +Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte +mit ihm zu reden!”</p> + +<p>Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten +Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; +sie wurde angestellt. Während ihrer Abwesenheit führte +Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, +eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir +Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über +Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte +sich der Blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen +verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren +vollständig verschwunden. Der Arzt mußte durch +Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens +ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt +heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder +krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt +geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.</p> + +<p>Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz +vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden +großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß +und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden +Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem +elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben +erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu +bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das +geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge. +Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen gesundend, +heim. Aber das Alles hatte große, große Opfer +gefordert, freilich nur für unsere armen Verhältnisse +groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben +willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise +unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir +zogen zur Miete. -- --</p> + +<p>Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den +tiefsten und größten Einfluß auf meine +Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer +Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die +„Hohensteiner Großmutter” genannt wurde, stammte die +Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als +„Ernsttaler Großmutter” bezeichnen lassen. Diese Letztere +war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast +möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von +Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus +dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals +ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles? Sehr +einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige +Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der +tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum +sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erlösung sehnenden +Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben +vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor +sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die +Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter früh verloren +und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen +konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, +ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn +mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die +Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer +Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle +Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur +den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge +nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der +es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie +wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave +Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb +ihr treu.</p> + +<p>Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch +älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene +Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch +weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie +noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren +gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten. +Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst +gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das +Reifröckchen *)</p> + +<p class="footnote"> +*) Kleines Oellämpchen. +</p> + +<p class="noindent"> +angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das +Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon +zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich +dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und +auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten +gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr +abgegriffener Band, dessen Titel lautete: +</p> + +<p class="center"> +<b>Der Hakawati</b><br/> +d.i. +</p> + +<p class="letter"> +der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, +Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, +<tt>explanatio</tt> und <tt>interpretatio</tt> auch viele +Vergleychung und Figürlich seyn +</p> + +<p class="center"> +von<br/> +Christianus Kretzschmann<br/> +der aus Germania war.<br/> +Gedruckt von Wilhelmus Candidus<br/> +<tt>A. D: M. D. C. V.</tt> +</p> + +<p class="center"> +*<br/> +* * +</p> + +<p>Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller +orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern +Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese +Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich +wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in +denen sie es für nötig hielt, gab sie Aenderungen und +Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist +dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau +wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen +von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die +Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein +ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.</p> + +<p>Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die +Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tode +nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener +Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim. +Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe, +wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor +ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat +und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht, +daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei +uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts +verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das +Häßliche schön zu malen. Aber kurz nach der +Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche +Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzählte. Der +brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die +tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren +beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst +nach langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher +Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre +der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege +und der Hungersnot. Es war Alles verwüstet. Es gab nirgends +Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer +Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm +nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst +keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das +erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde +wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte, +Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe, +einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte +<tt>[sic]</tt> Mehl, eine Düte +<tt>[sic]</tt> Graupen, ein Scheibchen +Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell +fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder +gesehen; Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht +vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. +Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso +wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie +hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er +wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft +zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern +eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern +unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen +Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich +nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs +oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle +satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit +ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not!</p> + +<p>Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der +Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der +besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie +Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine +Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre +Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im +Stillen und belohnte sie dadurch, daß er ihren Kindern in +jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen. +Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er aß mit +seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur +Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde- sondern mit +in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen +Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich +ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die +große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner +Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und +gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu +schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so +nützliche Bücher!</p> + +<p>Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit +gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich +kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der +jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und +er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen. +Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald +wußte er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und +Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in +seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre +Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese +Wißbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des +Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen +mit sich gehen zu lassen. Ich muß das erwähnen, um +Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige +Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen +Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte +auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.</p> + +<p>In dieser Zeit war es, daß Großmutter während +des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden +sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. +Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach +drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein +Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz +geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das +Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches +gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher +kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie +hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am +Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die +Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der +Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu +nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Nächte +lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch +irgendeine Bewegung zu zeigen, daß sie noch lebe -- -- +vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung +möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab +es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, daß +sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz +unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem +Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum +letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste +Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an +Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken +aus: „Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich +festhalten!” Und richtig, man sah, daß die scheinbar +Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd +öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte +nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden +andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber von da +an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als +vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen +unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und +Leben gedacht und empfunden hatte. Es muß schrecklich +gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch +fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie +nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den +sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte +jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und +zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu +verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube, +nicht aber an den Tod.</p> + +<p>Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz überwunden, +als Großmutter infolge der Versetzung und +Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden Kindern +in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen +wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder +jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver +Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, hielt um ihre Hand +an. Jedermann redete ihr zu, sie müsse ihren Kindern doch +einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und +hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit +wieder Witwe. Er starb und hinterließ ihr alles, was er +besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven, +fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um +sie. Sie tat ihr Mädchen zu einer Nähterin und ihren +Knaben zu einem Weber, der ihn von früh bis abends am +Spulrad beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter +nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz +von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während seines +Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen; er hatte +sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiß +erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses +ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam, +sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat +er sowohl als Knabe wie auch als Jüngling seine Pflicht. Er +war fleißig und wurde ein tüchtiger Weber, dessen Ware +so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, daß jeder +Unternehmer ihn gern für sich arbeiten ließ. In seinen +Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu +botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich +bei dem Oberförster erworben hatte Darum machte es ihm +große Freude, daß sich unter der oben erwähnten +Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante +Bücher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen +Freibeschäftigungen von großem Nutzen war. Ich denke +da besonders an einen großen, starken Folioband, der gegen +tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte:</p> + +<p class="center"> +Kräutterbuch +</p> + +<p> +Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn <tt>Dr. +Petri Andreae Matthioli</tt>. Jetzt widerumb mit vielen +schönen newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen / +vnnd andern guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern +Fleiß gemehret vnnd verferdigt / +</p> + +<p class="center"> +Durch<br/> +Joachimum Camerarium,<br/> +der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct. +</p> + +<p> +Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der +Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann die +Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben +genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brennöfen. +</p> + +<p class="center"> +Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio,<br/> +in keinerley Format nachzudrucken.<br/> +Gedruckt zu Franckfurt am Mayn<br/> +M. D. C.<br/> +<br/> +*<br/> +* * +</p> + +<p>Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses Buch +sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt +sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der +Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch, +böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was +später besonders mir ganz außerordentlich +vorwärts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses +köstlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, +viel mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die +Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer +ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer +Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft +und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche +sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch +wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten +Freuden, und ich kann wohl sagen, daß Vater mich dabei +vortrefflich unterstützte.</p> + +<p>Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer +Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der +xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das +Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz +vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses +und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der +Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. +Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem +Jahre das Werk stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn +sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser +Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit +komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter +für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche +Gabe, zu erzählen.</p> + +<p>Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie +schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der +widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren +Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder +einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie +erzählte, ganz nur für ihn allein erzählte. Und +das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer +reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am +Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, +der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, +daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der +Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im +höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, daß sie +das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie +nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war +Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am +sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. +Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem +eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine +Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was +sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im +Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.</p> + +<p>In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von +Sitara, sondern das Märchen „von der verloren gegangenen +und vergessenen Menschenseele” auf. Sie tat mir so unendlich +leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen +Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese +Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich +das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen +eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, daß die +Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen +wurde und daß alle unsere Psychologie bisher nicht imstande +war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner +Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die +Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin +die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte +sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß, +küßte mich auf die Stirn und sagte: „Sei still, mein +Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie +ist da!” „Wo?” fragte ich. „Hier, bei mir”, antwortete sie. +„Du bist diese Seele, du!” „Aber ich bin doch nicht +verloren,” warf ich ein. „Natürlich bist du verloren. Man +hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. +Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen +haben, Gott hat dich nicht vergessen.” -- Ich begriff das damals +nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später. +Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes +lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es +gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder +Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und +Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber +das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. +Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein +Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur +innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. +Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, +sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, sondern sein +Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, +nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen +gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist +der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der +Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung +zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir +tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und +nur wer eine so tief gegründete und so mächtige +Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend +wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt +beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich +plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die +Fähigkeit, mich zu kritisieren, <b>sonst keiner!</b></p> + +<p>Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern +bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, +meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, +der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich +und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz +selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte, +das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine +kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich +erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir +kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in +Großmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel +duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir +den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. +So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich +wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben +worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und +klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand, +einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es +hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder. +Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider +besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der +Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit +der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir +bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, +daß ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später +doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu +werden.</p> + +<p>Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart +entwickelt und in seinen späteren Grundzügen +festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun +vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den +Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. +Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so +größeres Kind, je größer ich wurde, und +zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß +und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die +Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals +bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch +richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich +unausgesetzt die Erfahrung gemacht, daß es dem Volke genau +ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus +äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst +heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und +schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus +geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so +stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig +bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem +großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke +nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir hunderte von +Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und +tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir +werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, +falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in +unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in +den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen +kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin +selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum +weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine +Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben +keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will +Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen +Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, +weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was +ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird. +Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, +Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus +köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt +überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst +besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler +und Dummheiten machen läßt, vor denen er die +jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er +läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß +der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah, +obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun +seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier +liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu +drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte +Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber +lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.</p> + +<p>Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am +Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war +der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich +die älteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum +Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive +Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht +wollte, so machte man keinen „Summs”; der wurde +fortgeprügelt und kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber +kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, +obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die Andern aber +dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch +niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren +Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich +still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen +kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht +übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt +die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann +aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage +ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere +Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich +leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter +arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen +hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir +unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an +das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch „Der +Hakawati” gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß +dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich +vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war +die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß +ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den +Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der +Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen +hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und +Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie +erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen +vermochte.</p> + +<p>Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die +Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr +an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn +Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern +erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam +Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf +zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch +von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und +schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und +dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, +was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich +an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte. +Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere +Verhältnisse tun dürfen. Und er mußte immer daran +denken, daß es unter unsern Vorfahren bedeutende +Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen +mußten, daß wir ihrer nicht würdig seien. Er +hatte das werden gewollt, war aber von den Verhältnissen +gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das +ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen +Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, was er +war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug +seine Wünsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich. +Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nichts zu +versäumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm +versagt gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich +von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche +Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut +und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und +glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß ich, +ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine +„Kindheit” jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. Sie +starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen +öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen +bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid +und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich +schier ohne Ende peinigt. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap03"></a>III.<br/> +Keine Jugend.</h2> + +<p class="noindent"> +Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft +mich über dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du +nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht +neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz +in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben +Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und +ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und +Wärme. Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser +Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in +sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann +es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, +wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch +der immer nur Empfangende! +</p> + +<p>Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich +über mich befindet, gleich von vornherein aufzuklären. +Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar +für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte +bisher nur mein „gutes Auskommen,” weiter nichts. Selbst +hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die +nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch +erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit +dem Gedanken vertraut, daß ich genau so sterben werde, wie +ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender +Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich. +Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts +ändern.</p> + +<p>Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß +mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem +raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein +scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, +diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in +Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte sehr wohl, was er +tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lanzierte. Er +erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind +gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind +jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von +Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos +gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und +humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. +Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem +anderen Falle als litararische <tt>[sic]</tt> Kavaliere erweisen, auf diesem +ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein +schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital +als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von +dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht grad +aus für meinen bescheidenen Haushalt und für die +schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu +bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge +tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner +Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört. +Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge +jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld +von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und +fast ein Jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich +enttäuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, daß +jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu +schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle +gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten +zusammengenommen.</p> + +<p>Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, +nun wieder zurück zur „Jugend” dieses angeblichen +„Millionärs”, der nach ganz anderen Schätzen strebt +als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.</p> + +<p>Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen +Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem +gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich +vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger +Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, +Mißwuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte +erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des +Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von +unserem Nachbarn, dem Gastwirt „Zur Stadt Glauchau”, des +Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die +vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. +Wir gingen nach der „roten Mühle” und ließen uns +einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend +etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir +pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen +Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu +kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der +Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder +drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie +nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise +gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, +auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz +zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so +außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den +Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, +solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da +saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh +bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte +die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen +mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die +Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten wir +alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar auch +zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür +gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf +fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr +gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung +für die verflossene und Anregung für die kommende +Woche.</p> + +<p>Während wir in dieser Weise fleißig daheim +arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu +tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. +Es galt nämlich, den König Friedrich August und die +ganze sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten. +Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der +König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande +gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in +Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurück, +und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war +nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten +sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da +kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie +fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und +Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen +wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten +sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen +auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen +Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie +baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich zu +ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt +Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist +Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen +Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte +ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die +Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden, +vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches +derart beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte, +sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, +daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von +der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, +er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es +nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu +vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt +Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten +geschehe, und da allüberall vom Kampf und Krieg und Sieg +gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, daß +auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen, +sondern auch in kriegerische Gewänder und kriegerische +Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn +ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mußte +Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels +standen überall an den Ecken und Winkeln herum, +erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern +gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen +über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und +die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte, +böse Frau war man empört. Die war an Allem schuld. Sie +hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des +Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser +niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine +Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter +Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand fürchtete, +auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloß die +allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In +Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und +eine Gardekompagnie. Die erstere schoß nach einem +hölzernen Vogel, die letzere <tt>[sic]</tt> nach einer hölzernen Scheibe. Zu +diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere +gegründet werden, besonders auch eine polnische +Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich +denn heraus, daß es in unserem Städtchen eine ganz +ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch +veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte +keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren +dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich +glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen +Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den +Schützen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so +ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreißig Offiziere +waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde +ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen +ganz selbstverständlich nur klein bemessen sein konnte; aber +der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim +Militär gestanden und darum alle dreiunddreißig +Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur +vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger +Leute könnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so +blieb es bei dem, was beschlossen worden war.</p> + +<p>Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam +einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser +Charge nicht zufrieden; er trachtete nach höherem. Darum +beschloß er, sobald er ausexerziert war, sich ganz +heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas davon bemerkte, im +„höheren Kommando” einzuüben. Und da er mich +ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen +vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte mit ihm +tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von +Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen +Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald +Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die +sächsische Armee. Ich wurde erst als „Zug”, dann als ganze +Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, +Brigade und Division. Ich mußte bald reiten, bald laufen, +bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach +links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf +den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich +war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem +jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es +mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der +einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, +gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der +militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich +weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine +sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch +ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater +Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: „Junge, dazu hast +du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour +werden!” Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen +ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese Püffe, +Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohle und +zur Rettung des Königs von Sachsen und seines Ministeriums +empfangen zu haben! Wenn er das wüßte!</p> + +<p>Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der +Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm +behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene +Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin später, als +ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe, +Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese +Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf Kompagnieen +taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast täglich, wozu +mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie +wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt +haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein +Wunder vor. Es gab auch an andern Orten „Königsretter”. +Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, +sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen +und für den König alles zu wagen, unter Umständen +sogar das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser +Befehl. Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten. +Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf dem +Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war +Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und saß +da mitten drauf. Es war keine leichte Sache für ihn, +zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den +Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als +der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke +und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war +geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch +gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war +überhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz! +Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und Kindern besonders +Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an +allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein +grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die +Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: „Achtung -- -- Augen +rechts, rrrricht’t euch -- -- Augen grrrade aus -- -- G’wehr bei +Fuß -- -- G’wehr auf -- -- G’wehr präsentiert -- -- +G’wehr über -- -- Rrrrechts um -- -- Vorwärts marsch!” +Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die +Musikanten mit dem türkischen Schellenbaum, die Tamboure, +sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die +Schützen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so +marschierten die Heerscharen links, rechts -- links, rechts zur +damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vorüber, +dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach +Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der +Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte +hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des +Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem +ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser +Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine +Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie +hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen +wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich +glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle +meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln +oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht, +monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück +zu zwei Pfennige. Die mußte ich ihm vom Krämer holen, +weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er +rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht +vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer +Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte +er:</p> + +<p>„Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche +Begeisterung für Gott, für König und +Vaterland!”</p> + +<p>„Aber was bringt sie ein?” fragte die Frau Kantorin.</p> + +<p>„Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre +Glück!”</p> + +<p>Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu +streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein +Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte +über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, +König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre +Glück; das wollte und mußte ich mir merken! +Später hat dann das Leben an diesen drei Worten +herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die +Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.</p> + +<p>Von allen, die heut ausgezogen waren, um große +Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul +zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten +übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als +Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das +Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar +erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister +Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen +Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein +Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel +geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus +triftigen Gründen entlassen worden waren und die die +Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz +bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg <tt>[sic]</tt> geschickt habe, das dortige +Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die +überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, +daß man aus Freiburg <tt>[sic]</tt> die Weisung erhalten habe, sofort +wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die +Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe +für den König und die Regierung nicht das Geringste +mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es +heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich +empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß +einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels +zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden +Vätern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde +ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder +Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter +klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg +hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um +uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend +in Empfang zu nehmen.</p> + +<p>Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des +tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die +Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals +zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was +später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick +im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich +gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der +Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir +selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der +frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf +mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors +vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu +Geist und Seele geworden sind.</p> + +<p>Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, +früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder +Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte +dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige +Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem +guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen +nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell +treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So kam +es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli +übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für +teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor +mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht +angängig war, da komponierte er selbst. Und er war +Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammt aus dem +kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen, +ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium +förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor +wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden +können und sah einen Taler für ein Vermögen an, +von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die +Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu +machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher +Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die +komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und +hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, +wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre. +Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden +Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz +sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und +einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er +sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von +Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders +auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein +wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als +zweiunddreißigfüßiger „Prinzipal” +ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer +sanften <tt>„Vox humana”</tt> zugebilligt wurde. Sie +besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, +deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit +verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder +teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits +erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben, +als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich +hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als +Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. +Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal +gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen +Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete +keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen +verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen +Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat +sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, +ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht +daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es +ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu +sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den +begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen +kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter +Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine +ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine +Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein +armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und +außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen +war.</p> + +<p>Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. +Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine +selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz +selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn +zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht +einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der +Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau +Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der +Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der +Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: „Es +gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike +hält es nicht aus; sie hat Migräne”. Manchmal +hieß es auch „sie hat Vapeurs”. Was das war, wußte +ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem, +was ich auch nicht wußte, nämlich von der +Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, +wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der +gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach +und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der +Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren +brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so +weit bin ich jetzt noch nicht.</p> + +<p>Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in +dem, was er meine „Erziehung” nannte. Notabene mich „erzog” +er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte +alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das +erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich +nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig +höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm +nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein +sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er +aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der +geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im +Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken +vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein +hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine +Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein +Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in +andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht +wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er +glaubte stets an das, was er wünschte, und war +vollständig überzeugt, es erreichen zu können. +Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und +über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, +nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse, +die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum +größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, +daß selbst das allergrößte Opfer eines armen +Teufels dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein +Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine +Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er dazu +gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. +Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie +möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und +hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.</p> + +<p>Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der +man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir +leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester +ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben +gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die +ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald +klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein +großes, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so +viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht +einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da +begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung +aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr +lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die +nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren +waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so +drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge +darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger +Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß. +In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer +Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies +allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen +großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich +bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, +zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den +Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, +für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der +andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter +Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und +schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen +Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich +von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr +klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich +verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich +bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige, +höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der +Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele +auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr +ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes +Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es +ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, +was man als „Jugend” bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein +echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie +beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, +daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat +fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; +man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, +daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen +gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben +vermag.</p> + +<p>Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, +beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf +die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten +Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein +oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er +brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder +gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser +behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte +Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte +Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie +Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, +mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter +einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht +mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir +dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es +war eine Verfütterung und Ueberfütterung +sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zu Grunde +gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der +äußerst schmalen Kost so überaus kräftig +entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen +ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden +der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und +keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er +pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich +die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt +wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen +seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es +wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte +Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr +Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der +Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um +Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets +dabei und ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich +gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben +zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm, +in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch +nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein +Verständnis. Ich konnte da Dinge hören, und +Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten +blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten +Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn +niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein +regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für +sieben Pfennige und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder +für sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei +besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen +für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, +mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen, +selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen +einstellte. Diese Herren wenigstens mußten doch wissen, +daß ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen +Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer +Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die +mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht +frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf +Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu +hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus +meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg +gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben +mußten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich +mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei +ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten +konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, daß +dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. +Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es +konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis +emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so +nötig war.</p> + +<p>Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich +seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur +ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch +Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei +Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen +Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit +Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige +für uns beide. Es wurde gegeben: „Das +Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena.” Meine Augen +brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber +sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und +haßten; sie duldeten; sie faßten große, +kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf König und +für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals +gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause +gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie +die Puppen bewegt werden.</p> + +<p>„An einem Holzkreuze,” erklärte sie mir. „Von diesem +Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder +der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das +Kreuz bewegt.”</p> + +<p>„Aber sie sprechen doch!” sagte ich.</p> + +<p>„Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen +hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen +Leben.”</p> + +<p>„Wie meinst du das?”</p> + +<p>„Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber +verstehen lernen.”</p> + +<p>Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals +zu gehen. Es wurde gespielt „Doktor Faust oder Gott, Mensch und +Teufel.” Es wäre ein resultatloses Beginnen, den Eindruck, +den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. +Das war nicht der Göthesche Faust, sondern der Faust des +uralten Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze +Philosophie eines großen Dichters aufgestapelt wurde und +auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten +Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um +Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich +hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn +mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals +wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust hätte +mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt mir, +aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der +Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese +Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was sie sagten, das +war groß, unendlich groß, weil es so einfach, so +unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott +zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und +die Fäden, diese Fäden; die alle nach oben gehen, +mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten +bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am +Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist +überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel +tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch +nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in +dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht +direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich +mußte als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die +Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, +jemals einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber +ich bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller +Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich +tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie +damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das +Theater bis auf den heutigen Tag als eine Stätte erschienen, +durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber, +häßlich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor +fragte, wer dieses Theaterstück ausgesonnen und +niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner +Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein +großer, berühmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe +geheißen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht, +welches nicht für Puppen, sondern für lebende Menschen +geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: „Herr Kantor, ich will +auch so ein großer Dichter werden, der nicht für +Puppen, sondern nur für lebende Menschen schreibt! Wie habe +ich das anzufangen?” Da sah er mich sehr lange und unter einem +fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: „Fange es an, +wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen +sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.” Diesen +Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen; +aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf +meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine +Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, +daß die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht +von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was +ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob +ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der +Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in +den Händen hält, um das Volk der Menschen zu +beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst +später an den Folgen zu ersehen.</p> + +<p>Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die +nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das +Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem +ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ +sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernsttal +nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um +ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als +mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25 +Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10 +Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb +täglich über die Hälfte der Sitze leer. Die +„Künstler” fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde +himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen; +da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war -- -- -- ich. +Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine +Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß Vater +schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: „Karl, hole deine +Trommel herunter; wir müssen sie putzen!” „Wozu?” fragte +ich. „Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal +über die ganze Bühne herumzutrommeln”. „Wer ist die +Preziosa?” „Eine junge, schöne Zigeunerin, die eigentlich +eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt. +Jetzt kommt sie zurück und findet ihre Eltern. Du bist der +Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit +weißer Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt +gemacht. Wird das „Haus” voll, so gibt der Herr Direktor dir +fünf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du +nichts. Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe.”</p> + +<p>Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne +schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Knöpfe! +Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne herum! +Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht sehr +wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr pünktlich zur +Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich gefiel sämtlichen +Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau Direktorin +streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein +intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles +Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht. +Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit +dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. +Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter, +denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt und +ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die +fünfzig Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen +Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die +Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der jenseitigen +Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schloßvogt Pedro +spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das +Zeichen für mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach +einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu +verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht +irren. Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe +mit. Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über +dreißig Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf +meine Weste. Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut +mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster +hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich +eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da +wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichtes +empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart +gefüllt, daß schnell ganz vorn noch einige „Logen” +eingerichtet wurden mit dem Preise von zehn Neugroschen pro +Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und +Großmutter hatten Freiplätze bekommen. Ich war eben an +diesem Tage ein höchst wertvolles Menschenkind. Diese +Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, daß die Frau +Direktorin sich bewogen fühlte, mir meine fünf +Neugroschen schon ehe der Vorhang zum ersten Male aufging, in die +rechte Hosentasche zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit +und meine künstlerische Begeisterung bedeutend.</p> + +<p>Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke +meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte in +Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in der +Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der Bühne +gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel +an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don +Fernando und Donna Klara und noch irgend wer standen auf der +Bühne. In der gegenüberliegenden Kulisse lehnte der +Schloßvogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er +sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, daß er +glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. +Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber +nahm das ganz selbstverständlich für das verabredete +Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen, +begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um +die Bühne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor +Schreck ganz starr. „Lausbub!” schrie mir der Schloßvogt +zu, als ich an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse +heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon +war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte man mir, +doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem, +was ausgemacht worden war, nämlich dreimal rund um die +Bühne herum. „Lausbub!” brüllte der Schloßvogt, +als ich zum zweiten Mal an ihm vorüberkam, und zwar tat er +das so laut, daß es trotz des Trommelwirbels auch hinaus- +und über den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes +Gelächter antwortete von dorther; ich aber begann meine +dritte Runde. „Bravo, bravo!” erklangen die Beifallsrufe des +Publikums. Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn +Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, +faßte meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und +die Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich +an:</p> + +<p>„Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch +auf!</p> + +<p>„Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!” rief +man im Zuschauerraum lachend.</p> + +<p>„Ja, weiter, immer weiter!” antwortete auch ich, indem ich +mich von ihm losriß. „Die Zigeuner haben zu kommen! Raus +mit der Bande, raus mit der Bande!”</p> + +<p>„Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!” schrie, +brüllte und johlte das Publikum.</p> + +<p>Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von +neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen, +voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die Andern alle +hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rund +um und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich +das Publikum nicht zufrieden. Es rief: „Heraus mit der Bande, +heraus!” und wir mußten den Umzug von neuem beginnen und +immer wieder von neuem. Und am Schluß des Aktes mußte +ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich +eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr +Direktor ließ mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze +Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der +Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine +Sache gut machen würde, versprach er mir noch weitere +fünfzig Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf +mein Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der +Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal +trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die +„hohen Herrschaften” zu bitten, sich noch nicht gleich zu +entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu +Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts zu verkaufen, so +billig, wie sie morgen, übermorgen und auch fernerhin +unmöglich abgegeben werden könnten. Als Reminiszenz auf +den Wortlaut des heutigen Beifalles hatte der Herr Direktor dem +Schlusse dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: „Also +rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, +rrrraus!”</p> + +<p>Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem +Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten Erfolg. +Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion +als auch diejenigen aller übrigen Künstlerinnen und +Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam +nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, sondern dazu auch +noch ein Freibillett, welches für den ganzen, diesmaligen +Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es wiederholt +benutzt, und zwar für Stücke, in welche Vater mich +gehen lassen konnte. Uebrigens gab es bei dieser braven Truppe +wohl kaum eine sittliche Gefahr für die Zuhörerschaft, +denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben +beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er +alle zärtlichen Liebesszenen so ängstlich aus seinen +Stücken streiche, antwortete er: „Teils aus moralischem +Pflichtgefühl und teils aus kluger Erwägung. Unsere +erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu +häßlich für solche Rollen.”</p> + +<p>In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach +dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen hangen. +Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer späteren +Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott, +den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir +sogar noch heut sehr häufig, obwohl diese drei Foktoren +<tt>[sic]</tt> nicht nur die +bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren +Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt, +als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon +und ließ mir von der leeren, hohlen Oberflächlichkeit +gewaltig imponieren, wie jedes andere größere oder +kleinere Kind. Die Menschen, die solche Stücke schrieben, +die auf die Bühne gegeben wurden, kamen mir wie Götter +vor. Wäre ich ein so bevorzugter Mensch, so würde ich +nicht von geraubten Zigeunerinnen erzählen, sondern von +meinem herrlichen Sitara-Märchen, von Ardistan und +Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der +Erlösung aus der Erdenqual und allen anderen, ähnlichen +Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener +Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und +der auch mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, +in die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten +Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch +Anderes kam hinzu.</p> + +<p>Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß +war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, genoß +evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich +vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch +konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen +Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns +weder für besser noch für berufener als sie. Unser +alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es +gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche seines Kirchenamtes +religiösen Haß zu säen. Unsere Lehrer dachten +ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich +Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei +ursprünglich tief religiös aber von jener angeborenen, +nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit +einläßt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe +stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich +dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich +hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über +religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: „Ein +Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.” Das habe ich mir +gemerkt. Ich habe bereits gesagt, daß ich an jedem Sonn- +und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein +oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe +täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch +heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang +beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe +und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch +unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.</p> + +<p>Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und +zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine +jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir +heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an +denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz +besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war +folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet +worden waren, beteiligten sich am darauf folgenden grünen +Donnerstag zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen +Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung, +sonst während des ganzen Jahres nicht, standen die ersten +vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares, +um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, +Priesterrock, Bäffchen <tt>[sic]</tt> und weißes Halstuch. Sie +standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden +Kommunikanten und hielten schwarze, goldgeränderte +Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten +heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende +gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe +ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen, +gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare wirken noch +heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.</p> + +<p>Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am ersten +Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des +Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu +besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis +mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser +Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht +selten vor, daß der Organist dem kleinen Sänger zur +Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren. +Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die +Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir +fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner +Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner +Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden +und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden +Gemeinde gesungen hat, daß ein helles Licht erscheine und +von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn +er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von +Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, +wenn alle andern Sterne verlöschen.</p> + +<p>Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt +wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf einen +der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach +dem andern unter den Füßen hinweggenommen wurde, so +daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu +schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde +mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein +Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu, +dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm +emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen +sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten würden, von allem +Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu +sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner +sogenannten Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut +noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, +durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen +Qual geworden ist.</p> + +<p>Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim +richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa +hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet, +sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam +und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters. +Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns +führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen, +das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen +unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen +Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im +Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher, +die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa +eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle +Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten +bis zum letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt das +für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch +der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, wenn auch nur +scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle +Beteiligung an den „Unarten” anderer Knaben. Er erzog mich, wie +man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich +mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu +„lernen”! Von dem Handschuhnähen wurde ich nach und nach +befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine +Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine +Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und +lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, +mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, +war dies höchst gefährlich. Saß ich dann +betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem +Buche, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür +hinaussteckte und erbarmend sagte: „So geh schnell ein +bißchen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst +schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!” O, +diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da +wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der +schlage in meinen „Himmelsgedanken” das Gedicht auf Seite 105 +auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine +Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah +Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen +Königstochter, die für mich und meine Leser als +„Menschheitsseele” gilt.</p> + +<p>Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von +Büchern jeden Genres in Privathänden befand, +zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben +resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab +deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des +Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich +auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte, +Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur +Bücher zum Lernen, und für diese letzteren sei ich +jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, +denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr +nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge +in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch +war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt +fehlte, doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:</p> + +<p class="poem"> +„Ein <tt>buer</tt> <tt>[sic]</tt> lernen muß,<br/> +Wenn er will werden <tt>dominus</tt>,<br/> +Lernt er aber mit Verdruß,<br/> +So wird er ein <tt>asinus</tt>!” +</p> + +<p>Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und +meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein +<tt>asinus</tt>, sondern ein <tt>dominus</tt> werde. Also nun +schnell und fleißig lateinisch lernen!</p> + +<p>Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den +Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika +auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist +so viel wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich +ganz von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet +auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch +in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder mit +Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin +gedruckt und „Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm, +Prinz von Preußen” gewidmet. Darum mußte es gut und +von sehr hohem Werte sein! Der Titel lautete: <tt>„Chansons +maçonniques”,</tt> und zu der Melodie, die mir am besten +gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste +hierhergesetzt sein mag:</p> + +<p class="poem"> +„Nons vénérous de l’Arabie<br/> +La sage et noble antiquité,<br/> +Et la célèbre Confrairie [sic]<br/> +Transmise à la postérité”. +</p> + +<p>Das Wort „Freimaurerlieder” reizte ganz besonders. Welch +eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu +können! Glücklicherweise erteilte der Herr Rektor +für Privatschüler auch französischen Unterricht. +Er gestattete mir, in diesem „Zirkle” einzutreten, und so kam +es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und +Französischen zugleich zu befassen hatte.</p> + +<p>Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen +weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. Sein +Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte von +geographischen und ethnographischen Werken, die er meinem Vater +alle für mich zur Verfügung stellte. Ich fiel über +diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr +freute sich darüber, ohne irgendein doch so naheliegendes +Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte, +war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer +freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in +seinen Worten, als vielmehr in den Büchern aus, die er +besaß. Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr +Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph, +sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit +ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich schon +gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zunächst +alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei +Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und +andern guten Menschen fügte. So kam es, daß ich vom +Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen +Wohltätigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor +daneben einen Missionsbericht, in welchem über das +offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit +bittere Klage geführt wurde. In der Bibliothek des einen +lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene „Großen” +kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen, +und in der Bibliothek des zweiten alle jene andern +„Großen”, denen die religiöse Offenbarung himmelhoch +über jedem wissenschaftlichen Ergebnisse steht. Und dabei +war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz +dummer Junge; aber noch viel törichter als ich waren die, +welche mich in diese Konflikte fallen und sinken ließen, +ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so +verschiedenen Büchern stand, konnte gut, ja konnte +vortrefflich sein; mir aber mußte es zum Gifte werden.</p> + +<p>Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche +Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt +werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise +zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner +Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer +gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Uebung besaß, +und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr +viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch +außerdem dafür geopfert! Der Kegelschub war ein +vielbesuchter, zugebauter und heizbarer, so daß er zur +Sommer- und zur Winterszeit und bei jeder Witterung benutzt +werden konnte. Es wurde täglich geschoben. Von jetzt an +hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen +Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und +dauerte bis zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war +der Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, an dem die +Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen, +ihre Einkäufe zu machen und -- <tt>last not least</tt> -- +eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden +fünf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen +Montagen vor, daß ich mich von Mittags zwölf Uhr an +bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur fünf +Minuten ausruhen zu können. Zur Stärkung bekam ich des +Nachmittags und des Abends ein Butterbrod <tt>[sic]</tt> und ein Glas abgestandenes, +zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein +mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte, +mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister +anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen +Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig +man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da +wöchentlich zusammenbrachte, war gar nicht unbedeutend. Ich +bekam pro Stunde ein Fixum und außerdem für jedes +Honneur, welches geschoben wurde, einen festbestimmten Satz. +Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert, +so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache Höhe. Es +hat Montage gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach +Hause brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu +unserer Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.</p> + +<p>Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht +den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches, +billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde +an anderer Stelle nachweisen, daß es sich hier nicht um +Leute handelte, welche das kannten, was man unter Rücksicht +oder gar Zartgefühl versteht. Man platzte mit allem, was auf +die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich +da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute +Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches da +vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu +mir. Alles, was Großmutter und Mutter in mir aufgebaut +hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das +empörte sich gegen das, was ich hier zu hören bekam. Es +war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene +kräftige, kerngesunde Fröhlichkeit wie z. B. bei einem +oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute, +welche aus der brusttötenden Atmosphäre ihres +Webstuhles direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich +für einige Stunden ein Vergnügen vorzutäuschen, +welches aber nichts weniger als ein Vergnügen war, für +mich jedenfalls eine Qual, körperlich sowohl als auch +seelisch.</p> + +<p>Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel +schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche +böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was +für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und +äußerlich geradezu ruppige, äußerst +gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals +gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war +die einzige, die es in den beiden Städtchen gab. +Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Veränderung, die sie +erlitt, war die, daß die Einbände immer schmutziger +und die Blätter immer schmieriger und abgegriffener wurden. +Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von neuem +verschlungen, und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und +zu meiner Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich +einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden +steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, +mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der +Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo +Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der +wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle +auf dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige <tt>[sic]</tt> Bandit. Die schöne +Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der +Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von +Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsrück oder +der Raubritter als Beschützer der Armen. Emilia, die +eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der +Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der König als +Mörder. Die Sünden des Erzbischofs u. s. w. u. s. +w.</p> + +<p>Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da +waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen +darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne sie alle +lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las sie; +ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm +sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang, +glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts +dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl +verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten +gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche +Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was +da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen +Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, +noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, +nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.</p> + +<p>Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung +begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu +unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie +scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man +behauptet, daß der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama +sei. Soll ich mich dem anschließen, so darf ich das, was +auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist und das, +was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander +verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen +gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur +das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was +für eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monströs +dicken, wasserköpfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt +worden. Der sehr gut, ja vielleicht außergewöhnlich +veranlagte Knabe hatte sich zu einer unartikulierten geistigen +Mißgestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besaß +als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat, +ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erwähnten starken, +unzerreißbaren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der +Erde festgehalten, daß ich für König und +Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als +materielle Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an +denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet hatten, +den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und seine Regierung +von dem Untergange zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser +Halt genommen, und zwar durch die Lektüre dieser +schändlichen Leihbibliothek. Alle die Räuberhauptleute, +Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle +Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte +Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die +grausame Obrigkeit geworden. Sie besaßen wahre +Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose +Wohltätigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller +Armen, aller Bedrückten und Bedrängten auf. Sie zwangen +die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser +herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders +die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. +Und vor allen Dingen die Fülle des Lebens, der +Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern +herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas +Hochinteressantes, irgend eine große, schwere, kühne +Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den +Büchern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah +in den Traktätchen des Pfarrers? In seinen langweiligen, +nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz +guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? Da waren +große, weite und ferne Länder beschrieben, aber es +ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und +Völker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten +nichts. Das war alles nur Geographie, nur Geographie, weiter +nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnographie, nur +Ethnographie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott, +kein Mensch und auch kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden +in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es +gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt, +nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er +allein es ist, für den die Bücher geschrieben werden. +Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab, +denn diese bedeutet für sie den Tod. Welch ein Reichtum des +Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen +auf die Eigenheiten und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch +in die Hände nimmt! Kaum fühlt er während des +Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und +welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. +Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal +Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder +böse Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, +Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt +bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche +Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit +und Unumstößlichkeit der göttlichen und der +menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch +unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den +Rinaldo Rinaldini geschrieben!</p> + +<p>Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in +meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner +Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam +die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in +hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und +Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur +Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je +länger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern +überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, +von „edlen” Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer +verschenkten. Daß sie diese Reichtümer vorher andern +abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns +irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige +Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und +gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und +bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo +Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür +hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch +zählte und dabei sagte; „Das ist für euren Knaben; er +mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke +schreibt!” Das letztere war mir nämlich, seit ich den +„Faust” gesehen hatte, zum Ideal geworden.</p> + +<p>Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen +Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich +zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in +anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar +nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche +Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren, +und schließlich bleibt nur die traurige Negation +zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen +verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die +Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung +zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! das +führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, +die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon +ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer, +immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.</p> + +<p>Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was nach +der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich +gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber +hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mußte mit +meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim +Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen +uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, +mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm +verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte +ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er +versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität +und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns +nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir +recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem +Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur +eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das +hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir +glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur +einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer +Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte +sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich +ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns +fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn +wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung +bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange +Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: „Meine +liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind +arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe, +und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen +weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muß für +sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen. +Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht +fleißig, so wird sich ganz gewiß zur rechten Zeit +jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!”</p> + +<p>Das war abends. Ich saß da und las in einem +Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was Herr +Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus Empörung über +solche Art der Frömmigkeit, als über die Abweisung +selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand er auf und +ging. Unter der Tür aber sagte er: „Einen solchen Versuch +machen wir nicht mehr! Karl geht auf das Seminar, und wenn ich +mir die Hände blutig arbeiten soll!” Als er fort war, +saßen wir andern noch lange Zeit traurig beisammen. Dann +gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. +Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, in +dem ich gelesen hatte, führte den Titel „Die +Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller +Bedrängten.” Als Vater nach Hause gekommen und dann +eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich aus der +Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: „Ihr +sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich gehe nach +Spanien; ich hole Hilfe!” Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, +steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu +einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, +öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und +schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es +höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz +hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der +über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, +nach Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus der +Not. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap04"></a>IV.<br/> +Seminar- und Lehrerzeit.</h2> + +<p class="noindent"> +Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten +aufzuspeichern hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie +entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in +dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen, +aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als +mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er +in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm +alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die +Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer +den Heimatboden und die Jugendatmosphäre eines „Gewordenen” genau kennt und +richtig zu beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, welche +Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile +aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine +der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die +Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht +geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit +aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese +Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, +die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und +gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben +„Nächsten”, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die +Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen +sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld. +</p> + +<p>Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen +ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen, +so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend welchen Teil +meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen, +sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu +zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die +Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung +und Entwicklung hin genau zu untersuchen.</p> + +<p>Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe bei einander +liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre +Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände +zwischen einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der +Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen +Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden, +dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus +zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus +Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist +Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände +zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier +weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem +ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, „das +erste Licht der Welt erblickte”. Die ersten und ältesten +Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer +beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern +auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so +viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. +Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar +einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an +der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete +die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft +überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es +wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit. +Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig +heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte +man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche +Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der +Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten, +damit, wenn die Haussuchung kam, nichts gefunden werden +könne. Es galt für die armen Weber, fleißig zu +sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug +ein jeder sein „Stück zu Markte”. Für jeden Fehler, +der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte +gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann wurde +ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der Heiterkeit und -- -- -- +dem Schnaps gewidmet. Man fand sich beim Nachbar ein. Da ging die +Bulle rundum. Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen +Familien sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern +regierte die Karte. Da wurde „gelumpt”, „geschafkopft” oder +gar „getippt”. Das letztere ist ein verbotenes +Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche +opferte. Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von +Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während der +Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem Gang in das +Freie war man mit Branntwein versehen. Da saß man im +Grünen und trank. Schnaps war überall dabei; man mochte +ihn nicht entbehren. Man betrachtete ihn als den einzigen +Sorgenbrecher und nahm seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich +das so ganz von selbst verstände.</p> + +<p>Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über +die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in ganz +geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden +Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, die +man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht. +Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch +gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt, +dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen, +sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war die ganze +Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige und der +allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, die man jetzt kaum +mehr für möglich hält. Im persönlichen +Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als die +wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, welches ich +da anführe, diene der Name Wolf. Es gab einen +Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, einen +Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter Wölfe. Die +Häuser waren klein, die Gassen eng. Ein jeder konnte in die +Fenster des andern sehen und alles beobachten, was geschah. So +wurde es fast zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu +haben. Und da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder +seinen Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg. +Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ +man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch +zur immerwährenden, aber stillen Hechelei <tt>[sic]</tt>, zur niedrigen Ironie, zu einem +scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles +an sich hatte. Das war ungesund und griff immer weiter um sich, +ohne daß man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie +Gift. So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein +lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, +verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel zu +pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der +Zubereitung und im Gebrauch von falschen Karten zu üben. Sie +etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie +schickten Zubringer aus, um Opfer einzufangen. Da saß man +nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da +mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben war +im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von jedem +neuen Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten +Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man +diese Betrügereien verwarf. Man verkehrte mit den +Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen +Vorschub. Ja, man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und +man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen +wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze +Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer +beteiligt wurde und daß jedermann, der von diesen +Gaunereien wußte, sich, streng genommen, als Hehler zu +betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals +gesagt hätte, daß dies einen beklagenswerten, +allgemeinen moralischen Tiefstand bedeute, der wäre wohl +ausgelacht worden, oder gar noch Schlimmeres. Das allgemeine +Rechtsgefühl war irregeführt. Man bewunderte die +Falschspieler, wie man die Rinaldo Rinaldini’s und die Himlo +Himlini’s der alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände +man verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden +Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der +Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener +Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um +ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der +ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man +ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das +alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck +gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und +sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie +wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich +sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht +gehabt hat oder nicht?</p> + +<p>Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden +Namen „Batzendorf” und die „Lügenschmiede”. Der erstere +leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und schweizer +Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war +eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals +beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig +zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen +Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene +Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden +Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das +der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde +zum Batzendorfer Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm +darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der +alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie +war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war +Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und +tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief +herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das +alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war +Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die +tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu +werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, +Verheiratung zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne +Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung +eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar +sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden +und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte +von allem das Beste. Er sagte immer: „Nur nicht +übertreiben, nur nicht übertreiben!” Damit glaubte er, +seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor +schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich +mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er +den Mut, meinen Vater zu warnen: „Machen Sie nicht mit, Herr +Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie +und auch nicht gut für den Karl. Was man da treibt, ist +alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und +Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand +rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen +noch zu hören bekommen!”</p> + +<p>Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses „Batzendorf”, in dem man +nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren +bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere +Wirkung gehabt. Da lockerten sich „die Bande frommer Scheu”. Da +gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die +Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und +höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen +bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer +Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und +Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte +es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche +nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden +auch mit hinein geführt und haben sehr viel von unserer +Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten +schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt +in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage +treten, nicht mehr einzudämmen sind.</p> + +<p>Die „Lügenschmiede” war etwas neueren Datums. Indem ich +von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das, +was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen +Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute, +welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr +achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in +andern, größeren Verhältnissen durch diese +Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie +unten in den kleinen Verhältnissen hangen und konnten also +auch nur Kleinliches und Gewöhnliches, oft sogar nur sehr +Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!</p> + +<p>Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste, +brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in +diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für +Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu +errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese +wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration +hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so +wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man +nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt, +den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen +Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein +Anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er +etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn +los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, +der nicht zu widerstehen war. Er wurde „gemacht”, wie man es +nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen +stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine +wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er +mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich, +mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er +zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche +beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. Diese +Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden +kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit +dem Wirt und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine +Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.</p> + +<p>Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte +einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen +Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten +Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und +Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu +bezahlen, denn Jeder wußte, die Blamage kommt dann +hinterher. Bessere Gäste hatten keine so gewöhnlichen +Witze zu befürchten. Die ließ man warten. „Der +muß erst noch reif werden,” pflegte der Lügenschmied +zu sagen. Und Jeder wurde reif, Jeder, mochte er sein, wer oder +was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt +oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber +mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast, +der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei +nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war +aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den +Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne +daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der +Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen, +vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht +sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der +Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheiter als alle, +ihn könne niemand foppen. Einem andern Gaste wurde +weisgemacht, sein Bruder sei heut’ Vormittag auf dem Jahrmarkt +verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen +und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe +ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen +müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam +aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden +Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde +verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu +Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet +wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und +oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse zu +verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne +unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie Alles, was +unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze +wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich +verausgabt. Und ein Jeder, der die Lügenschmiede betrat, +glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu +dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher +Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und +Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur +Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur +unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede +ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht. +Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei +nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken +fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün +und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele +hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten +Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, leider bin +auch ich einer von denen, die sehr und schwer darunter zu leiden +hatten und noch heutigen Tages leiden müssen. Daß +meine Gegner es wagen konnten, den Karl May, der ich in +Wirklichkeit und Wahrheit bin, in die verlogenste aller +Karikaturen zu verwandeln und mich sogar als Marktweiberbandit +und Räuberhauptmann durch alle Zeitungen zu schleppen, das +wurde zum größten Teil durch die Lügenschmiede +ermöglicht, deren Stammgäste gar nicht bedachten, was +sie an mir begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen +über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten traktierten. +Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück und habe hier +noch ganz kurz zu sagen: Was ich über jene +Falschspielergesellschaft, über „Batzendorf” und über +die „Lügenschmiede” zu berichten hatte, sind nur einige +kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner +Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus +erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich +und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in den meine +Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, will dies aber +gern und mit Vergnügen unterlassen, weil ich kürzlich +zu meiner Freude gesehen habe, wieviel sich dort verändert +hat. Ich hatte meine Vaterstadt schon lange Zeit gemieden und +wollte sie auch ferner meiden, als ich durch eine Rechtssache +gezwungen wurde, sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm +enttäuscht. Das meine ich nicht äußerlich, +sondern innerlich. Ich habe der Städte und Orte genug +gesehen; da kann mich nichts überraschen und auch nichts +enttäuschen. Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir +bisher fremden Menschen zunächst und vor allen Dingen seine +Seele kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden Ortes, +den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals war zwar +noch die alte; das sah ich sofort; aber sie hatte sich gehoben; +sie hatte sich gereinigt; sie hatte ein anderes, besseres und +würdigeres Aussehen bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie +einige Tage lang beobachten zu können, und darf wohl sagen, +daß mir diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand +Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich begegnete +einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie +früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, mehr +Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse +zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in das Ideale. +Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich gehoben und zeigte die +Fähigkeit, sich auch fernerhin und zusehends zu veredeln. +Ich begegnete alten Bekannten, aus denen in Wirklichkeit „Etwas +geworden” war. Das war mir eine Genugtuung, die ich nicht +erwartet hatte. Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten +Gesichter mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, +sondern die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, +von gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War +dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her? +Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet +werden kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben +auffrischend, stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe +aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen +Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere und von +Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare +Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder sein +möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten +vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit +jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit dem Erfolg +kommt auch der Segen.</p> + +<p>Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst +zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus +Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen +Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht, +daß dies eine „verrückte” Idee gewesen sei. Ich war +geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch +schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge +des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben +hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die +überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte +die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.</p> + +<p>Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend +von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein. +Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu +bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und +gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien +liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und +machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen, +sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den +Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit, +wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren +arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei +ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach +entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie +wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir +anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für +sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der +jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz +anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte +mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich +und sagte: „Mach so Etwas niemals wieder, niemals!” Dann ging +er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.</p> + +<p>Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit +still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand. +Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich +eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und +hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor, +ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir +erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken +sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach +Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner +Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich +müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort +gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener +verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen +war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande +der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte +ein gutes Wort für mich bei unserem Kirchenpatron, dem +Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine +Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, +die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu +besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis +bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu +Waldenburg und wurde dort interniert.</p> + +<p>Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht +akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch! +Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich +dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige +Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf +sie bezog. Freilich stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im +Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das +über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem +ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke +für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und +Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als +gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich, +daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich +zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch +meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich +an sich und bat:</p> + +<p>„Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in +Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg +wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an +die, welche dich zurückhalten wollen!”</p> + +<p>„Und die Geisterschmiede?” fragte ich. „Muß ich da +hinein?”</p> + +<p>„Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,” +antwortete sie. „Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben +ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.”</p> + +<p>„Ich will aber hinein; ich will!” rief ich mutig aus.</p> + +<p>Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte +lächelnd:</p> + +<p>„Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn +nie in deinem Leben!”</p> + +<p>Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich +ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer +geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit +dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt +hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der +auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, +sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche +Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es +mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich +diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu +geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist +es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von +außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, +daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte +ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie +und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab +täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder +Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz +richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich <tt>in +corpore</tt> in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. +Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für +Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und +zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche +Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich +ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und +Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es +gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen +religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab +keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine +Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es +fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu +begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren +diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu +erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die +Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu +Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten +und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab, +das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz +unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das +klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie +gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in +sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer +andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von +Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe +unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der +jemals ein sympathisches Wort über diese Art des +Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen +gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien +Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich +selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das +auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar +habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner +Mitschüler fürchtete.</p> + +<p>Ich hätte gern über diese religiösen +Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich +die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen +inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. +Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar +vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige +reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man +sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein +Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit +meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich +erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich +vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und +ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war. +Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir +selbst.</p> + +<p>Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf +ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was +ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine +regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir +nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. +Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren +Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an +und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv +heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr +beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten +zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag +wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres +Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich +fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und +sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine +stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen +Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider +nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich +aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames +Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer +wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich +absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den +Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren +Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des +hiesigen Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als +daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam. +Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als +vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man +lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das +Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu +schmerzende Trockenheit des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen +fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften +zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. +Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich +hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber +keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In +meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf +das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder +innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und +darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen +vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose +Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer +krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers +vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und +fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit +keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch +bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl +sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, +welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich +fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie +beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was +ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen +versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr +und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und +arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich +innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, +ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja +auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer +Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so +unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, +keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine +Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach +stehen lassen.</p> + +<p>Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach +geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte +demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja, +ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte, +wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das +sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas +Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz +selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz +selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz +selbstverständlich von der „Gartenlaube”, die vor einigen +Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann +gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das +Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf +ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich +nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach +weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück, +um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief +von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten +lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu +schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz +tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig +schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft +alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in +der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin +milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem +dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er +nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich +nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte +von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber +daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse +gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den +ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für +einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr +unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich +stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite +Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes +Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so +überklingendes Kapital geschlagen haben.</p> + +<p>Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die +Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem +eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als „Wochner” +bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen +„Ordnungswochner” und in der zweiten einen „Lichtwochner”, +welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu +übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe +von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein +anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte +täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter +vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den +steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste +wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu +Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren +allgemein als wertlos anzusehen.</p> + +<p>Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, +Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie +jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen +unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern, um +meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches +ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft +es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg +machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal +kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es +stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen +Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, +für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. +Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert +<tt>[sic]</tt> werden konnte nichts, gar +nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter +für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel +der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen +Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für +fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige +zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man +sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand +das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich +soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte. +„Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte +machen?” fragte sie. „Ganz leicht,” antwortete ich. „Man +braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter +nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist +nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.” „Wenn +auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für +die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?” „Eigentlich +Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn +wegwirft oder nicht, ist seine Sache.” „Also wäre es wohl +nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach +Hause nähmen?” „Gestohlen. Lächerlich! Fällt +keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige +wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei +kleine Weihnachtslichte.”</p> + +<p>Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist +stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse +über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein +Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit +an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich +dabei, ging fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor +kam in eigener Person, den „Diebstahl” zu untersuchen. Ich +gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den +„Raub”, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte +wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen +„infernalischen Charakter” und rief die Lehrerkonferenz +zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon +nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war +aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir +beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester -- -- -- in die +heiligen Christferien -- -- -- ohne Talg für die +Weihnachtsengel -- -- -- es waren das sehr trübe, dunkle +Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, +daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, +nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen +löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert +gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen +Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die +unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken +und Heiden verfahren würden.</p> + +<p>Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus +und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, +verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich +erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen +Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in +dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach +zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich +meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach +Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren +Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen +Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu +beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit +gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern +mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.</p> + +<p>Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen +hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere +Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als +Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine +wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und +andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht +bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das +heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und +nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig +umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf +das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht +absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die +doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat, +fast unentbehrlich ist.</p> + +<p>Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte +kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte +sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies +Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein +besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit +mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und +seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, +und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich +ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahelag, +sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien. +Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm +möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah, +daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des +Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die +Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen +Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun +nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. +Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie +mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab, +denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue, +bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich +zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir +den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu +mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet +sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der +ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule +zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später +unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der +Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie +nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern +lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf +Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner +Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder +gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete +mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich +merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht +behage.</p> + +<p>Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die +Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete +mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich +abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. +Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach +Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr +zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht +gedacht. Als ich bemerkte; daß sie sich in meiner Tasche +befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht +der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei +den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die +Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam +Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger +Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung +vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft, +über meine Ideale, die für mich alle im hellsten +Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die +Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue +Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich +noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über +mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich +bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, +vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und +mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller +werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! +Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten +Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für +Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken +schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der +Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem +Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur +Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen +Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies +bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu +kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. +Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde +zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. +Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber +bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte +meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit +angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, +und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das +benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:</p> + +<p>„Sie sind arretiert! Wissen Sie das?”</p> + +<p>„Nein,” antwortete ich, tödlich erschrocken. +„Warum?”</p> + +<p>„Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen +haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis +und werden als Lehrer abgesetzt!”</p> + +<p>Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe +mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte +an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, +und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!</p> + +<p>„Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!” +stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.</p> + +<p>„Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm +heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, +schnell!”</p> + +<p>Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger +klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb +aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die +Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck +wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, +nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht +gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm +zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun +geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den +Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach +ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, +anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war +ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den +Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage +anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und +wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich +mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu +irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt +meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage +sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig +entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen +Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie +möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das +Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, +über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben +werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß +nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und +daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders +der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt +hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich +nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes +Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die +Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, +noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich +ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir, +mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der +Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns +erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er +versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher, +so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat +mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er +keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere +verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere +verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst +wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch +Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des +Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder +gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant +und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf +der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen +Vorwurf zu machen.</p> + +<p>Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht. +Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß +die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und +daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher +aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die +Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern +vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten +hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu +zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals +wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die +es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie +gelöst. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap05"></a>V.<br/> +Im Abgrunde.</h2> + +<p class="noindent"> +Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die +schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist. Es liegt mir +in der schreibenden Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung jene +psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung zu geben, welche am +besten geeignet wäre, das, was damals in mir vorgegangen ist, für den Fachmann +begreiflich zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen +Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine Bücher gelesen werden, und +habe mich also aller Versuche, Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde +infolge dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen bildlichen +Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der nicht allgemein verständlich ist. +</p> + +<p>Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie ein +Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter +dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach +zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur +äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer +Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es +grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung +verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, ob ich +Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein Rechtsmittel +ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß nur +noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, zwei +andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. Man +schien mich also für ungefährlich zu halten, sonst +hätte man mich nicht mit Personen zusammengesperrt, die noch +nicht abgeurteilt waren. Der Eine war ein Bankbeamter, der Andere +ein Hotelier. Weshalb sie in Untersuchung saßen, das +kümmerte mich nicht. Sie zeigten sich lieb zu mir und gaben +sich Mühe, mich aus dem Zustande innerlicher Versteinerung, +in dem ich mich befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich +verließ die Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben +Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging +heim, zu den Eltern.</p> + +<p>Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter noch +den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe zu machen. Und das +war geradezu entsetzlich! Als ich damals in meinem kindlichen +Unverstand nach Spanien wollte und Vater mich heimholte, hatte +ich mir vorgenommen, ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu +betrüben, und es war so ganz anders und so viel schlimmer +gekommen! Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir +nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun +da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht erst +seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für +immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende die Ideale +lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug. +Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am +Großen, Schönen, Edlen mich emporarbeiten aus der +jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen +lernen, und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! Und am +Schlusse dieses schweren, arbeitsreichen Lebens für die +andere Bühne schreiben, für das Theater, um dort die +Rätsel zu lösen, die mich schon seit frühester +Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar fühlte, aber +noch lange, lange, lange nicht begriff!</p> + +<p>Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang +war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich +aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das +strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige +freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige +Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie +hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur +auf die Seele, nicht auch auf den Geist. Ich war seelenkrank, +aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu +jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen +Aufgabe. Ich hatte den schärfsten Einblick in alles, was +außer mir lag; aber sobald es sich mir näherte, um zu +mir in Beziehung zu treten, hörte diese Einsicht auf. Ich +war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu +verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen +kam ein Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu +wissen, was ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten +bis zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich +ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem Buche gelesen +hatte. Und ich war mir dieses seelischen Zustandes geistig sehr +wohl bewußt, besaß aber nicht die Macht, ihn zu +ändern oder gar zu überwinden. Es bildete sich bei mir +das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, +sondern eine gespaltene Persönlichkeit, ganz dem neuen +Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der +Mensch. In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde +Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch +sehr genau voneinander unterschieden.</p> + +<p>Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das +Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es +steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es besaß +große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte alle seine +Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets nur in der Ferne. Es +glich einer Fee, einem Engel, einer jener reinen, +beglückenden Gestalten aus Großmutters +Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte, wenn +ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam war. Die +dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern +seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, +häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster +und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich +sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich +hörte sie auch; sie sprach. Sie sprach oft ganze Tage und +ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie +das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich +war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst +jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie einmal +still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt und aufmerksam +zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut und so bekannt vor, +als ob ich sie schon tausendmal gesehen hätte. Dann +wechselte ihre Gestalt, und es wechselte auch ihr Gesicht. Bald +stammte sie aus Batzendorf, aus dem Kegelschub oder aus der +Lügenschmiede. Heut sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, +morgen wie der Raubritter Kuno von der Eulenburg und +übermorgen wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem +Talgpapiere stand.</p> + +<p>Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit einem Male, +sondern nach und nach. Es vergingen viele, viele Monate, bis sie +sich in mir so weit entwickelt hatten, daß ich sie mit dem +geistigen Auge fassen und durch das Gedächtnis festhalten +konnte. Und da begann ich zu begreifen, um was es sich eigentlich +handelte. Was sich in jedem Menschen vollzieht, ohne daß er +es bemerkt oder auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich +es sah und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade? +Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig, +sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese +Beobachtungen mit einer Objektivität und +Kaltblütigkeit, als ob es sich nicht um mich selbst, sondern +um einen ganz anderen, mir vollständig fremden Menschen +handle. Und ich lebte das gewöhnliche, alltägliche +Leben ganz so, wie jede gesunde Person es lebt, die von +derartigen psychologischen Vorgängen nicht angefochten wird. +Es kehrte mir die Kraft und der Wille zum Leben zurück. Ich +arbeitete. Ich gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich +dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine +Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, einzuüben +und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder dieser +Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, mit dem ich +öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. Und ich +begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann +„Erzgebirgische Dorfgeschichten”. Ich hatte nicht die geringste +Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind +äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen +gingen aus einer Zeitung in die andere. Es war eine Freude, zu +sehen, wie sich das so vortrefflich entwickelte. Aber diese +Freude wurde in der grausamsten Weise durch eine andere +Entwicklung vergällt, die sich zu gleicher Zeit und dem +konform in meinem Innern vollzog. Die Spaltung dort griff weiter +um sich. Jede Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen +zu wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, +mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten. +Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören. +Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher außer mir +selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die helle und die +dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen. Und je länger +es dauerte, daß sie sich von einander unterschieden, um so +deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften da zwei einander +feindliche Heerlager gegen einander: Großmutters helle, +lichte Bibel- und Märchengestalten gegen die schmutzigen +Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner +Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die übererbten +Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren wurde, gegen die +beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. Die +Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit gegen die +reinen, beseligenden Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich +in die Zukunft schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das +Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen +die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um +zum Edelmenschen zu werden.</p> + +<p>Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, der +vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es Gedanken und +Empfindungen, die gegeneinander streiten. Bei mir aber hatten +diese Gedanken und Regungen sich zu sichtbaren und hörbaren +Gestalten verdichtet. Ich sah sie bei geschlossenen Augen, und +ich hörte sie, bei Tag und bei Nacht; sie störten mich +aus der Arbeit; sie weckten mich aus dem Schlafe. Die dunklen +waren mächtiger als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit +gab es keinen Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte +Ruhe in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu +arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede wollte +die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam es sehr auf das +Thema an, welches ich behandelte. Gegen eine lustige Humoreske +hatte niemand etwas. Die konnte ich ohne Streit und Störung +vollenden. Bei einer ernsten Dorfgeschichte aber erhoben sich +zahlreiche Stimmen für und gegen mich. In diesen +Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß +Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genauso +straft, wie man sündigt. Hiergegen empörten sich +gewisse Gestalten in mir. Den größten Widerstand aber +fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten oder meiner Lektüre +noch höhere Linien bestieg. Wenn ich mir ein religiös +oder ethisch oder ästhetisch hohes Thema stellte, +empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit aller Macht +dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz unaussprechlich sind. +Um zu zeigen, in welcher Weise das vor sich ging und was für +Qualen das waren, will ich ein erläuterndes Beispiel +bringen: Ich hatte den Auftrag erhalten, eine Parodie von „des +Sängers Fluch” von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die +Parodie bekam den Titel „des Schneiders Fluch”. Ein Schneider +verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen +und winziges Gärtchen, in dem nur zwei +Stachelbeerbüsche standen. Bei der Verfluchung des +Häuschens kam es zu folgenden Zeilen:</p> + +<p class="poem"> +„Die Hypotheken lauern<br/> + Schon heut auf euern Sturz.<br/> +Ihr hörts, verruchte Mauern,<br/> + Ich mach’ es mit euch kurz!” +</p> + +<p class="noindent">Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich +dabei gestört zu sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht +die geringste Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt +verschwand; sie trauerte, denn mein Können reichte zu +Besserem und Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein +Lehrgedicht zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende +Strophen gegenwärtig sind:</p> + +<p class="poem"> +„Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,<br/> + Das euer Heiland euch gelehrt<br/> +Und es in euren eig’nen Landen<br/> + Befolgt und mit Gehorsam ehrt,<br/> +Dann einet sich zu einem Strome<br/> + Die Menschheit all von nah und fern<br/> +Und kniet anbetend in dem Dome<br/> + Der Schöpfung vor dem einen Herrn.<br/> +Dann wird der Glaube triumphieren,<br/> + Der einen Gott und Vater kennt;<br/> +Die Namen sinken, und es führen<br/> + Die Wege all zum Firmament.” +</p> + +<p>Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu diesem +hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat eine seltene +Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln der lichten +Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken eilten herbei, um +von mir aufgenommen zu werden. Ich griff zur Feder. Da aber war +es plötzlich, als ob ein schwarzer Vorhang in mir +niederfalle. Die Klarheit war vorüber; die lichte Gestalt +verschwand; die dunkle tauchte auf, höhnisch lachend, und +überall, durch mein ganzes inneres Wesen, erscholl es wie +mit hundert Stimmen „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, +des Schneiders Fluch u. s. w.!” So klang es stunden- und +stundenlang in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die +geringste Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern +wirklich, wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir, +sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich +gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch war +das, solange ich die Feder in der Hand hielt und zum Schreiben +sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich aufstand, klangen sie +fort, und nur als mir der Gedanke kam, auf das Lehrgedicht zu +verzichten, trat augenblicklich Schweigen ein. Da ich aber mein +Versprechen, es anzufertigen, halten mußte, so griff ich +bald wieder zur Feder. Sofort erklang der Stimmenchor von neuem +„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!” und als ich +trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte, +kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu „Die Hypotheken +lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte Mauern, +ihr hörts, verruchte Mauern!” Das ging den ganzen Tag und +die ganze Nacht hindurch und auch dann noch immer weiter. Kein +anderer Mensch sah und hörte es; Niemand ahnte, was und wie +furchtbar ich litt. Jeder Andere hätte das als Wahnsinn +bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und +beobachtete mich. Ich setzte es trotz aller Gegenwehr durch, +daß mein Gedicht zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber +derartige Siege hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach +dann innerlich zusammen.</p> + +<p>Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung +meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und +Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch auf +meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun. Es war, +als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs Wochen lang +eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge unsichtbarer +Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, die es nun als +ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir einzunisten und mich +ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich sah sie nicht; ich sah nur die +finstere, höhnische Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf +und den Hohensteiner Schundromanen; aber sie sprachen auf mich +ein; sie beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen +sträubte, so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und +so zu ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand +verlor. Die Hauptsache war, daß ich mich rächen +sollte, rächen an dem Eigentümer jener Uhr, der mich +angezeigt hatte, nur um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, +rächen an der Polizei, rächen an dem Richter, +rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an +jedermann! Ich war ein Mustermensch, weiß, rein und +unschuldig wie ein Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine +Zukunft, um mein Lebensglück. Wodurch? Dadurch, daß +ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, nämlich ein +Verbrecher.</p> + +<p>Das war es, was die Versucher in meinem Innern von mir +forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte, so weit meine +Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich damals schrieb, +besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng +gesetzliche, eine königstreue Tendenz. Das tat ich, nicht +nur andern sondern auch mir selbst zur Stütze. Aber wie +schwer, wie unendlich schwer ist mir das geworden! Wenn ich nicht +tat, was diese lauten Stimmen in mir verlangten, wurde ich von +ihnen mit Hohngelächter, mit Flüchen und +Verwünschungen überschüttet, nicht nur +stundenlang, sondern halbe Tage und ganze Nächte lang. Ich +bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und +hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen. Es hat +mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat +fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es +zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand erfuhr, was +in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich +kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch +eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein +fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden, +sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt. +Ob irgend Jemand an meiner Stelle das ausgehalten hätte, +daß weiß ich nicht, ich glaube es aber kaum. Ich war +sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar +ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder +und müder. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze +Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da +wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In +solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig +verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es +ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes +tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie +im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens +Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der +tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben. +Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin +mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der +ich gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin +mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen +habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich +habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn +für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz +unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. +Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar +nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich +auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich habe bis +jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre Gefängnis +betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber in den +Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber gewesen. Doch +das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß der Abgrund nicht +vergeblich für mich offengestanden hatte. Ich war +hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis Zwickau +eingeliefert.</p> + +<p>Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite, habe +ich mich gegen einige Vorurteile und falsche Anschauungen zu +wenden, die sich gegen Alles, was mit dem Strafvollzug +zusammenhängt, richten und mit denen nun doch endlich einmal +aufgeräumt werden sollte. Ich habe manchen gebildeten +Mitgefangenen in begreiflicher, aber unberechtigter Erbitterung +drohen hören, daß er nach seiner Entlassung ein Buch +über seine Gefangenschaft schreiben werde, um die ebenso +schweren wie unzähligen Mängel unserer Rechtspflege und +unseres Strafvollzuges aufzudecken. Ein verständiger Mann +lächelt über solche Drohungen, die zwar ausgesprochen, +aber nur höchst selten ausgeführt werden. Jeder +entlassene Gefangene, der Ehrgefühl besitzt, ist froh, die +Zeit der Strafe hinter sich zu haben. Es fällt ihm nicht +ein, das, was bisher doch nur wenige wußten, nun, da es +überstanden ist, an die volle Oeffentlichkeit zu bringen. Er +schweigt also. Und das ist gut, weil sein Buch, wenn er es +schriebe, gewiß beweisen würde, daß unter +tausend Gefangenen kaum einer ist, der über sich und seine +Bestrafung unbefangen und sachgemäß zu urteilen +vermag. Ich aber glaube, mich zu dieser Sachlichkeit und +Unbefangenheit emporgearbeitet zu haben; ich halte mein Urteil +für wohlerwogen und richtig und fühle mich +verpflichtet, hier folgende Punkte festzustellen:</p> + +<p>Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als +„Verbrecherschulen” bezeichnet werden durften, sind längst +vorüber. In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger +moralisch und nicht weniger human als in der Freiheit zu.</p> + +<p>Das, was man einst als „Verbrecherwelt” brandmarkte, gibt es +nicht mehr. Die Bewohnerschaft der heutigen Strafhäuser +rekrutiert sich aus allen Ständen des Volkes. Sie setzt sich +in Beziehung auf Beruf und Intelligenz aus denselben +Prozentsätzen zusammen wie die der „Unbestraften”.</p> + +<p>An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. Sie +hat ihn um ihrer selbst willen zu „ent”-schuldigen.</p> + +<p>Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses Satzes +wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter kennen +gelernt, auch unter denen, welche gegen mich entschieden, dem ich +einen Vorwurf machen könnte. Die zahlreichen Prozesse, zu +denen meine Gegner mich förmlich zwingen, geben mir +reichlich Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, und ich muß +sagen, daß ich alle diese Herren, sowohl Straf- als auch +Zivilrichter, nur hochachten kann. Ich habe sogar den Fall +erlebt, daß ein Dresdener Richter mir recht gab, obwohl +alle seine Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in +diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung und welch +ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand dies erweckt, das +weiß nur der, der Gleiches wie ich erlebte.</p> + +<p>In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe +auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft nicht +einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher kennen gelernt, der mir +in Beziehung auf Gerechtigkeit und Humanität Grund zu irgend +einem Tadel gegeben hätte. Ich behaupte sogar, daß die +Aufseher die Strenge des Dienstes viel stärker empfinden als +der Gefangene selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte, +eine Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich +gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und +kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in +welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen hat. +Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies zu +sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle mögliche +Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, vergessen zu machen. +Es gab Beamte, die ich herzlich lieb gewann, und ich bin +vollständig überzeugt, daß ihre Erwiderung dieser +meiner Zuneigung nicht etwa nur vorgetäuscht, sondern +ehrlich und aufrichtig war.</p> + +<p>Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres +Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns +wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch +nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die Ursachen +sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der +Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten +Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu +tief eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch in +unserer sogenannten, hochgepriesenen „Kriminalpsychologie”, an +welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht aber der wirkliche +Menschenkenner und noch viel weniger der, um den es sich hier +eigentlich handelt, nämlich der sogenannte -- -- -- +Verbrecher.</p> + +<p>Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue Straftaten +und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst +alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser +einzudämmen und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll +ich sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der +letzten, der „Kriminalpsychologie”, beginnen, so liegen vor mir +mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst +strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen +dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der Herren +Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet sich durch seine +zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung und den Strafvollzug +in mildere, humanere Bahnen zu lenken. Er hat sich dadurch einen +Namen gemacht. Er wird, wann und wo es sich um diese +Humanisierung handelt, oft genannt und würde ein Segen auf +diesem Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das +wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der +Humanität aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen +Namen, denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die +Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grade +beachtenswert, kann er als „Seelenforscher” in fast noch +höherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem er seine +öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen versucht, +läßt er sich so weit hinreißen, Personen, die +vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden sind, nun +aber sich in mühsam errungener, öffentlicher Stellung +befinden, mit in seine „psychiatrischen” Betrachtungen zu +ziehen und sie in seinen Schriften derart kenntlich zu machen, +daß jedermann weiß, wen er meint. Von einem +Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt, antwortete er, +daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt sei; es gebe +einen Paragraphen, der ihm das erlaube. Ich unterlasse es, +kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen. Aber selbst wenn es +wahr wäre, daß es einen solchen Paragraphen gibt, wer +zwingt den Herrn Staatsanwalt, einen derartigen Paragraphen +zuliebe gegen seine eigene, sonstige Humanität zu handeln +und Menschen, die ihm nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm +als dem Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem +Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser Paragraph in +Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für den Reichstag +höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu unterwerfen. +Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag er sich noch so hoch +emporgearbeitet haben, durch das Gesetz gezwungen ist, es sich +gefallen zu lassen, daß die Herren Kriminalpsychologen ihn +öffentlich an den wissenschaftlichen Pranger stellen, so +darf man sich gewiß nicht darüber wundern, daß +die Kriminalistik keine Neigung zur Besserung zeigt. Ich werde im +Verlaufe meiner Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen +müssen.</p> + +<p>Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, so brauche +ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der +Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber +hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen +Anwalt in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er +verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der arme +Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein Ehrenmann, +aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, den B. zu +vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen und sich von +ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann als Beschuldigter, +daß die Strafakten des Klägers vorgelegt werden. Das +geschieht. Sie werden in öffentlicher Verhandlung +vorgelesen. A. bekommt zehn Mark Beleidigungsstrafe; B. aber ist +in die frühere Verachtung und in das frühere Elend +zurückgeworfen und wird nun darauf schwören, daß +für den einmal Bestraften alle Vorsätze, sich zu +„bessern”, nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig wird, +ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider nicht wenige +Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken zu dem höchst +unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die in sachlicher Weise +nicht zu gewinnen sind, in persönlich gehässiger, +rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst habe +es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer gesehen, +daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz niemals +beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade +diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn +endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen, +durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken +ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst +Gesühntes wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende +Zahl der sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in +Wegfall kommen.</p> + +<p>Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des +„lieben Nächsten” anführte, geschah mit vollstem +Rechte. Sie ist und bleibt die Hauptursache der +Mißstände, die hier zu besprechen sind. Ich will +keineswegs behaupten, daß dies auf einem ethischen Mangel +beruht. Ich meine vielmehr, es liegen alte Vorurteile vor, die +sich so tief eingefressen haben, daß man sie gar nicht mehr +als Vorurteile erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an +denen niemand zu rütteln vermag. Der „Verbrecher” war +einst vogelfrei; er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf +ihn ein; ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er +suche Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem +andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und aberhundert +Punkte, von denen aus er als minderwertiger Mensch betrachtet und +behandelt wird, und es bedarf von seiner Seite einer +ungewöhnlichen Seelenruhe und einer seltenen Willenskraft, +dies immer wieder und immer weiter zu ertragen, ohne sich auf die +alte Bahn zurückwerfen zu lassen. Die größte +Gefahr für ihn liegt darin, daß ihm von dem lieben +Nächsten das Ehrgefühl nach und nach abgestumpft oder +gar getötet wird. Läßt er es so weit kommen, so +ist er verloren, und die Kriminalistik gibt ihr entweder +erbittertes oder vollständig gleichgültig gewordenes +Opfer nie wieder her. Dies wird und kann gar nicht anders werden, +so lange an dem alten, ebenso unsinnigen wie grausamen Vorurteil +festgehalten wird, daß jeder bestrafte Mensch für die +ganze Zeit seines Lebens als „Verbrecher” zu betrachten sei. +Kürzlich kam in Charlottenburg der Fall vor, daß +jemand, der vor über vierzig Jahren bestraft worden war, +sich seitdem aber gut geführt hatte, von einem +übelwollenden Menschen als „geborener Verbrecher” +bezeichnet wurde. Der Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch +dieser wurde freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen +Menschen, der sich mit äußerster Willenskraft aus dem +Abgrund emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt +hat, mit brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --</p> + +<p>Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter +berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der Weise zu +tun, wie aufregungsbedürftige, sensationslüsterne Leser +es wünschen. Es ist mehr als genug, wenn man solche Dinge +nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie zum zweitenmale zu +erleben, indem man sie für andere niederschreibt, so besitzt +man gewiß die Berechtigung, sich so kurz wie möglich +zu fassen. Von dieser Berechtigung mache ich hiermit +Gebrauch.</p> + +<p>Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt eine +ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer höflich +ist, sich den Hausgesetzen fügt und nicht dummer Weise +immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie über Härte +zu klagen haben. Was die Beschäftigung betrifft, die man +für mich auswählte, so wurde ich der Schreibstube +zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fürsorglich die +Verhältnisse der Gefangenen von der Direktion +berücksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fürsoge +in meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Nämlich ich +versagte als Schreiber so vollständig, daß ich als +unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener das +Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte ich nicht +fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, daß es mit mir eine +ganz besondere Bewandtnis haben müsse, denn schreiben +mußte ich doch können! Ich wurde Gegenstand besonderer +Beachtung. Man gab mir andere Arbeit, und zwar die +anständigste Handarbeit, die man hatte. Ich kam in den Saal +der Portefeuillearbeiter und wurde Mitglied einer Riege, in +welcher feine Geld- und Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese +Riege bestand mit mir aus vier Personen, nämlich einem +Kaufmann aus Prag, einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte +war, das konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. +Diese drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten +schon seit längerer Zeit zusammen, standen bei den +Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle mögliche +Mühe, mir die Lehrzeit und überhaupt die schwere Zeit +so leicht wie möglich zu machen. Nie ist ein unschönes +oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen. Unser Arbeitssaal +faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich habe unter ihnen +nicht einen einzigen bemerkt, dessen Verhalten an die Behauptung +erinnert hätte, daß das Gefängnis die hohe Schule +der Verbrecher sei. Im Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt +bemüht, einen möglichst guten Eindruck auf seine +Vorgesetzten und Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer +Pläne für die Zukunft habe ich während meiner +ganzen Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte +irgend einer gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er, +wenn nicht angezeigt, so doch auf das energischste +zurückgewiesen worden.</p> + +<p>Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt wurde, +dieser Visitation hieß Göhler. Ich nenne seinen Namen +mit großer, aufrichtiger Dankbarkeit. Er hatte mich zu +beobachten und kam, obwohl er von Psychologie nicht das geringste +verstand, nur infolge seiner Humanität und seiner reichen +Erfahrung meinem inneren Wesen derart auf die Spur, daß +seine Berichte über mich, wie sich später +herausstellte, die Wahrheit fast erreichten. Er hatte, wie wohl +alle diese Aufseher, früher beim Militär gestanden, und +zwar bei der Kapelle, als erster Pistonbläser. Darum war ihm +das Musik- und Bläserkorps der Gefangenen anvertraut. Er gab +des Sonntags in den Visitationen und Gefängnishöfen +Konzerte, die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei +Kirchenmusik die Sänger mit seiner Instrumentalmusik zu +begleiten. Leider aber besaß weder er noch der Katechet, +dem das Kirchenkorps unterstand, die nötigen theoretischen +Kenntnisse, die Stücke, welche gegeben werden sollten, +für die vorhandenen Kräfte umzuarbeiten oder, wie der +fachmännische Ausdruck heißt, zu arrangieren. Darum +hatten beide Herren schon längst nach einem Gefangenen +gesucht, der diese Lücke auszufüllen vermochte; es war +aber keiner vorhanden gewesen.</p> + +<p>Jetzt nun kam der Aufseher Göhler infolge seiner +Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich in +sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das vielleicht +von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei der Direktion an +und bekam die Erlaubnis. Dann fragte er mich, und ich sagte ganz +selbstverständlich auch nicht nein. Ich trat in die Kapelle +ein. Es war gerade nur das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein +Althorn in den Händen gehabt, blies aber schon bald ganz +wacker mit. Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich +noch mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre +getrieben habe und Musikstücke arrangieren könne. Er +meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die +Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des +Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich +damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neue zu +arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen +von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.</p> + +<p>Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen +Arbeiten nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs +von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder Gefangene pro Tag +zu liefern hat, wenn er vermeiden will, sich Unannehmlichkeiten +auszusetzen. Dieses Pensum ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder +Arbeitswillige kann es liefern. Wer geschickt ist, der liefert es +sogar in wenigen Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit +für meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die +ich nicht aufgab, auch als ich aus der Visitation der +Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir +nämlich mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu +werden.</p> + +<p>Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine Zelle +für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses +Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, da man +über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultate +kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und unmittelbar neben +dem Arbeitsraume des Inspektors desselben einquartiert. Er war +ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr, +dessen besonderer Schreiber ich wurde. Das war eine Stelle, die +es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den +psychologisch bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich +zur Zeit meiner Einlieferung vollständig unfähig +gewesen war, Schreiber zu sein, nun aber für fähig +gehalten wurde, eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche +große geistige Um- und Einsicht erforderte und die +höchste Vertrauensstelle war, die es in der ganzen Anstalt +gab. Mein Inspektor war nämlich neben seiner Direktion des +Isolierhauses noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese +seine Tätigkeit bezog sich auf die besondere Statistik +unserer Anstalt und auf das Wesen und die Aufgaben des +Strafvollzuges überhaupt. Er schrieb die hierauf +bezüglichen Berichte und stand mit allen hervorragenden +Männern des Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine +Aufgabe war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre +Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu +vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. Das war +an und für sich eine sehr schwere, anstrengende und +scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem +Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen und +diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, ihnen Sprache zu +verleihen, das war im höchsten Grade interessant, und ich +darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr viel gelernt habe +und daß mich diese Arbeiten in stiller, einsamer Zelle in +Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts +gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen +wäre. Daß mir hierzu nur die besten und +zuverlässigsten Unterlagen zu Gebote standen, versteht sich +ganz von selbst. Es sind mir da ganz eigenartige Lichter +aufgegangen. Ich habe da in die tiefsten Tiefen des +Menschenlebens geschaut und Dinge gesehen, die andere niemals +sehen werden, weil sie keine Augen dafür haben. Ich habe da +erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit +sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein +ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die +Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben +nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur +Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur +Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir von +größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst +befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von denen ich +weiter oben sprach, auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit +ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. Sie +kehrten zwar zurück; sie ließen sich wieder +hören, doch in immer längern Zwischenräumen, bis +ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für +immer stumm geworden seien.</p> + +<p>Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen zu +verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen. +Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa nur auf +Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren alle +Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen, +inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert +und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur die Werke +der Anstaltsbibliotheken, die mir zur Verfügung standen, +sondern man zeigte sich auch gern bereit, mir solche von +auswärts zugängig zu machen. Es war mir ein +unwiderstehliches Bedürfnis, die Ruhe und Ungestörtheit +der Zelle so viel wie möglich für mein geistiges +Vorwärtskommen auszunutzen, und die Beamten hatten ihre +Freude daran, mir hierzu in jeder, den Anstaltsgesetzen nicht +widersprechenden Weise behilflich zu sein. So verwandelte sich +für mich die Strafzeit in eine Studienzeit, zu der mir +größere Sammlung und größere +Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler +jemals in der Freiheit findet. Ich werde über diesen +großen, unschätzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft +mir brachte, noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz +besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten +war, mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch +den eigentlichen Grund zu meinen späteren Reisearbeiten zu +legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten sind, sondern +ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes Genre bilden sollen. Doch +ist es für jetzt nicht meine Absicht, mich über diese +meine Studien zu verbreiten, sondern ich habe mich hier allein +und ganz besonders mit dem Umstand zu befassen, daß die mir +anvertraute Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit +zu höchst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen gab, unter +deren Einfluß meine schriftstellerische Tätigkeit sich +zu der gestaltete, die sie geworden ist.</p> + +<p>Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen +Bedürfnisse, oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der +Volksseele kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst zu +nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder Volksbibliothekar +und jeder Leihbibliothekar genau dieselben Erfahrungen machen +könne, denn das ist nicht wahr. Ein Leser in Freiheit und +ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei +dem Letzteren kann das Lesen geradezu zum seelischen +Existenzbedürfnisse werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt +sich um. Die äußere Persönlichkeit hat unter der +Anstaltszucht ihre Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. +Und diese ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung +erkannt und gepackt werden muß, wenn der menschlich +große, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll, +moralische Erhebung und Festigung, Aussöhnung zwischen der +Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die sich beide +aneinander versündigten. Dieses Hervortreten der innern +Persönlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme, in der +Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene hat während +seiner Detention auf alle seine leiblichen Sonderrechte zu +verzichten. In leiblicher Beziehung ist er nicht mehr Person, +sondern nur noch Sache, eine Nummer, die in den Büchern +eingetragen wird und bei der man ihn auch nennt. Um so +kräftiger, ja ungestümer tritt seine innere Gestalt, +seine Seele hervor, um sich, ihre Rechte und Bedürfnisse +geltend zu machen. Der Leib ist gezwungen, sich in die +Gefängniskleidung und Gefängniskost zu fügen. +Wehe, wenn man den Fehler begeht, den gleichen Zwang auch auf die +Seele ausüben zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem +Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach +einer Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um +sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu +befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das +Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im +tiefsten Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur +körperlich sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der +scheinbar Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, +hungrige Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich +gut im ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den +sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen +Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? Aus dem +Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man beantworte diese +Fragen, wie man will, die Hauptquelle aller Erziehung, Besserung +und Emporhebung kann bei derartig gegebenen Verhältnissen +nur die Bibliothek sein. Der Gefangene, der sich so führt, +daß ihm das Lesen nicht verboten werden muß, bekommt +pro Woche ein Buch. Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang +die seelische Kost für den nach Nahrung Schmachtenden. Er +darf sich das Buch nicht wählen; er muß nehmen, was er +bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glück, kann ihm zum +Unglück werden, kann ihm Belehrung oder Strafe sein, kann +ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, ihn aber auch +empören und verhärten. Einer meiner Mitgefangenen, ein +geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre lang weiter nichts +als alte „Frauendorfer Blätter” zu lesen bekommen, +trockene Unterweisungen im Gartenbau, die ihn weder interessieren +noch ihm irgendeinen Nutzen bringen konnten. Er trug es in +steigender Erbitterung, bis ich die Bibliothek überkam <tt>[sic]</tt> und ihm Passenderes gab. Einen +Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias Gotthelfs +Erzählungen derart außer sich gebracht, daß er +nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu werden. Das +letzte, was er hatte lesen müssen, hatte den Titel gehabt +„Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich +umkommen.” Als ich ihm einen Band von Edmund Höfer gab, war +er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen geschenkt +hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister war einer +langen Reihe von Erbauungsbüchern zum Opfer gefallen. Er +schwor mir wütend zu, daß es schon um dieser +Bücher willen keinen Herrgott geben könne. Er habe nur +aus bitterer Not Bankrott gemacht; die Verfasser und Herausgeber +dieser Schriften aber seien aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut +bankrott und verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe +wie er.</p> + +<p>Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich +zunächst meine Bibliothek und sodann auch die +Bedürfnisse ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit +ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen verbunden +und führte zu dem betrübenden Schlußresultate, +daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten, +nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht nur in unserer +Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch überhaupt in der +Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, an die +Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund, der mich +da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich verglich. Da +dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner +der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch +ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter +Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur +allzu fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die +Bewohner der Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden +muß, damit der höhere, von oben stammende Teil unseres +Wesens zur Geltung kommen möge? Muß nicht +überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen +Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch +die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen +Ideale, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es +nicht die Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher +Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der +auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene, mit +angehöre!</p> + +<p>Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich zu +Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst +seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren. Es +wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie weiteten +sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich erkannte ich die +zwar verborgenen aber doch innigen Zusammenhänge zwischen +dem Kleinsten und dem Größten, dem Körperlichen +und dem Seelischen, dem Leiblichen und dem Geistigen, dem +Endlichen und dem Unendlichen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich +begann, die lieben, alten Märchen meiner Großmutter in +ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach +und dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, +verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und +alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor. Ich +stellte mir vor, die verloren gegangene Menschenseele zu sein, +die niemals wiedergefunden werden kann, wenn sie sich nicht +selbst wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann nie hoch oben in +Dschinnistan, sondern nur hier unten in Ardistan geschehen, im +Erdenleid, in der Menschheitsqual, bei der Träberkost des +verlorenen Sohnes unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie +begann, das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen +und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. Aber +nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in +jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als +Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine Marah +Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, der ich die +Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da tauchte zum +ersten Male mein Tatellah-Satah in mir auf, jener geheimnisvolle +„Bewahrer der großen Medizin”, den meine Leser im +dreiunddreißigsten meiner Bände kennen gelernt haben. +Und da wurde auch der Gedanke „Winnetou” geboren. +Wohlverstanden, nur der Gedanke, nicht aber er selbst, den ich +erst später fand. Damals habe ich die psychologischen Werke +der Beamtenbibliothek und alle andern, die mir zugängig +wurden -- fast verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber +das würde nicht wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort +für Wort zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer +Bedachtsamkeit in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich +nicht allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und +mit einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, meine +Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu werden. Und +als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen Wege zu befinden, da +griff ich in meine Kinderzeit zurück und holte den alten, +kühnen Wunsch hervor, „ein Märchenerzähler zu +werden, wie du, Großmutter bist.” Ich befand mich ja an +einem der größten und reichsten Fundorte alles dessen, +was da zu erzählen war, im Gefängnisse. Da kondensiert +und verdichtet sich alles, was draußen in der Freiheit so +leicht und so dünn vorüberfließt, daß man +es nicht ergreifen und noch viel weniger betrachten kann. Und da +erheben sich die Gegensätze, die draußen sich wie auf +ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, daß in dieser +Vergrößerung Alles offenbar wird, was anderwärts +in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich hatte sie vor mir +aufgeschlagen, die anspruchsvollen, hochgelehrten Werke über +Psychologie, besonders über Kriminalpsychologie. Fast jede +Zeile war mir eingeprägt. Sie enthielten die Theorie, ein +Konglomerat von Rätseln und Problemen. Die Praxis aber lag +rund um mich her, in ebenso klarer wie erschütternder +Aufrichtigkeit. Welch ein Unterschied zwischen beiden? Wo war die +Wahrheit zu suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in +der aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft ist +wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft irrt, und das +Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege führen über den +Irrtum zur Wahrheit; dort müssen sie sich treffen. Wo diese +Wahrheit liegt und wie sie lautet, das können wir nur ahnen. +Es ist nur einem einzigen Auge vergönnt, sie vorauszusehen, +und das ist das Auge des -- -- Märchens. Darum will ich +Märchenerzähler sein, nichts Anderes als +Märchenerzähler, ganz so, wie Großmutter es war! +Ich brauche nur die Augen zu öffnen, so sehe ich sie +aufgespeichert, diese Hunderte und Aberhunderte von +fleischgewordenen Gleichnissen und nach Erlösung trachtenden +Märchen. In jeder Zelle eins und auf jedem Arbeitsschemel +eins. Lauter schlafende Dornröschen, die darauf warten, von +der Barmherzigkeit und Liebe wachgeküßt zu werden. +Lauter in Fesseln schmachtende Seelen, in alten Schlössern, +die in Gefängnisse umgewandelt sind, oder in modernen +Riesenbauten, in denen Humanität von Zelle zu Zelle, von +Schemel zu Schemel geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des +Aufwachens und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen +Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse und +Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit +liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu erschauen vermag. +Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines +Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich getroffen +hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich will die Strenge +des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid +mit allen denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und +Barmherzigkeit, vor der es schließlich kein „Verbrechen” +mehr und keine „Verbrecher” gibt, sondern nur Kranke, Kranke, +Kranke.</p> + +<p>Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich +erzähle, nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn +wüßte man das, so würde ich nie erreichen, was +ich zu erreichen gedenke. Ich muß selbst zum Märchen +werden, ich selbst, mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine +Kühnheit sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was +aber liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es +sich um große, riesig emporstrebende Fragen der ganzen +Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksälchen eines +verachteten Gefangenen, der für die Gesellschaft schon so +und überhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise, in +der man über das „Verbrechen” denkt und spricht, nicht +baldigst ändert!</p> + +<p>Das war ein Gedanke, der mir ganz plötzlich kam, sich +aber tief einnistete und mich nicht wieder verließ. Er +gewann Macht über mich; er wurde groß. Er nahm endlich +meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb, weil er in sich die +Erfüllung alles dessen barg, was schon von meiner Kindheit +an Wunsch und Hoffnung in mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen +Gedanken; ich erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn +aus. Er hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide +identisch. Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte +eine lange, lange Zeit, und es gingen noch trübere und noch +schwerere Tage dahin, als die gegenwärtigen waren, ehe ich +meinen Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, +daß an ihm nichts mehr zu ändern war. Ich nahm mir +vor, zunächst noch weiter an meinen Humoresken und +erzgebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen +Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich mich +absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege. Dann aber +wollte ich zu einem Genre greifen, welches im allgemeinsten +Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit +besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen +Erzählungen wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht +absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse und nur +Märchen sein, allerdings außerordentlich vielsagende +Gleichnisse und Märchen. Trotzdem aber waren Reisen +wünschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen +Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten sich zu +bewegen hatten. Vor allem galt es, sich tüchtig +vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde treiben. +Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben +meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets +der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich +erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich +mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu +fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu +verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen. +In die Prärie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des +Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des Wilden +Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste +Mitgefühl der Lesenden erwecken, so und nicht anders +mußten alle meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit +ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu +hatte ich in allen den Ländern, die zu beschreiben waren, +wenigstens theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein +Europäer es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, +schwer und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und +dazu war der stille ungestörte Gefängnisraum, in dem +ich lebte, grad so die richtige Stelle.</p> + +<p>Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische +Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch die +Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung gegeben. Die +Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu beweisen; was die +Offenbarung behauptet, wird von den Gelehrten höchstens als +glaubhaft, nicht aber als bewiesen betrachtet. So eine himmlische +Wahrheit steigt an den Strahlen der Sterne zur Erde nieder und +geht von Haus zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden. +Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein, +aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation +besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von +Land zu Land, ohne erhört und aufgenommen zu werden. Da +steigt sie am Strahl der Sterne wieder himmelan und kehrt zu dem +zurück, von dem sie ausgegangen ist. Sie klagt ihm weinend +ihr Leid. Er aber lächelt mild und spricht: „Weine nicht! +Geh’ wieder zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, +dessen Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn, dich +in das Gewand des Märchens zu kleiden, und versuche dann +dein Heil noch einmal!” Sie gehorcht. Der Dichter nimmt sie +liebend auf und kleidet sie. Sie beginnt ihren Gang als +Märchen nun von Neuem, und wo sie anklopft, ist sie jetzt +willkommen. Man öffnet ihr die Türen und die Herzen. +Man lauscht mit Andacht ihren Worten; man glaubt an sie. Man +bittet sie, zu bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber +muß weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr +aufgetragen worden ist. Doch geht sie nur als Märchen; als +Wahrheit aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht +sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, für alle +Folgezeiten.</p> + +<p>So, das ist das Märchen! Aber nicht das +Kindermärchen, sondern das wahre, eigentliche, wirkliche +Märchen, trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die +höchste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm +wohnenden Seele gemäß. Und einer jener Dichter, zu +denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, wollte +ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit des war. +Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten. Die Wahrheit ist +so verhaßt und das Märchen so verachtet, wie ich +selbst es bin; wir passen zueinander. Das Märchen und ich, +wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil +man nicht in die Tiefe dringt. Wie man behauptet, daß das +Märchen nur für Kinder sei, so bezeichnet man mich als +„Jugendschriftsteller”, der nur für unerwachsene Buben +schreibe. Kurz, ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, +daß ich so verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und +Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein „Leben +und Streben” schon an und für sich selbst einem +Märchen, und sind es doch fast unzählige Fabeln und +Märchen, mit denen meine Person von gegnerischer Seite +umkleidet worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so +glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Märchen glaubt. +Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich einmal zur +Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur Wahrheit werden, und +was man mir heut nicht glaubt, das wird man morgen glauben +lernen.</p> + +<p>Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben +beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie +sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag. Ich +wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser mit dem +Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu verwickeln. Und was ich +zu sagen hatte, das mußte ich suchen lassen; ich durfte es +nicht offen vor die Türen legen, weil man Alles, was man so +billig bekommt, liegen zu lassen pflegt und nur das zu +schätzen weiß, was man sich mühsam zu erringen +hat. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, gleich von +vornherein anzudeuten, daß meine Reiseerzählungen +bildlich zu nehmen seien. Man hätte mich einfach nicht +gelesen, und Alles, was ich lösen wollte, wäre Fabel +und Märchen geblieben. Der Leser mußte ungeahnt +finden, was ich gab; er betrachtete es dann als wohlerrungen und +hielt es für das Leben fest.</p> + +<p>Aber was war denn eigentlich das, was ich geben wollte? Das +war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich wollte +Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel +lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es gewollt; ich +habe es versucht und werde es weiter versuchen. Ob ich es +erreiche, kann weder ich noch ein Anderer wissen. Es mag bei der +Ausführung dann wohl mancher Fehler untergelaufen sein, denn +ich bin ein irrender Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein +gewesen. Ich wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur +Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft +worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das nicht noch +lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man es dafür +halten; ich aber habe an hundert und wieder hundert +unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum in +das Unglück geraten waren und nur darum darin stecken +blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen der ganzen +irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt +worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete +Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde und +frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind alle Schulen +da, von der A-B-C-Schützen-Schule bis hinauf zur +Universität, für die Seele aber keine einzige. Für +den Geist werden Millionen Bücher geschrieben, wie viele +für die Seele? Dem Menschengeiste werden tausend und +abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen die, welche +bestimmt sind, die Menschenseele zu verherrlichen? Wohlan, sage +ich mir, so will ich es sein, der für die Seele schreibt, +ganz nur für sie allein, mag man darüber lächeln +oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum werden viele meine Werke +entweder nicht oder falsch verstehen, aber das soll mich ja nicht +hindern, zu tun, was ich mir vorgenommen habe.</p> + +<p>Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber ich +wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. Ich sah um +mich herum das tiefste Menschenelend liegen; ich war für +mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch über uns lag die +Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir +emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war aber nicht allein die +unsrige, sondern sie ist allen Menschen erteilt; nur daß +wir, die wir um so viel tiefer lagerten als die Andern, weit mehr +und weit mühsamer aufzusteigen hatten als sie. Aus der Tiefe +zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern +Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen +müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem +orientalischen und an einem amerikanischen. Ich teilte mir die +Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, +in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt +die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische. An +diese beiden Rassen wollte ich meine Märchen, meine Gedanken +und Erläuterungen knüpfen. Darum galt es, mich vor +allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen und den +Indianerdialekten zu beschäftigen. Der unwandelbare +Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube an den +„großen, guten Geist” der Andern harmonierte mit meinem +eigenen, unerschütterlichen Gottesglauben. In Amerika sollte +eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal +bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken +hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh +geworden. Im Westen soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der +Savanne und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten +Höhen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten hat sie sich +das Treiben der Wüste bis nach dem hohen Gipfel des Dschebel +Marah Durimeh zu erheben. Darum beginnt mein erster Band mit dem +Titel „durch die Wüste.” Die Hauptperson aller dieser +Erzählungen sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, +ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen +Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte +er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara Ben Nemsi +heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein hatte, +verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst +erzählend, also als „Icherzähler” dargestellt werden. +Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische +Imagination. Doch, wenn dieses „Ich” auch nicht selbst +existiert, so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus +der Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden. +Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, also dieses +„Ich” ist als jene große Menschheitsfrage gedacht, welche +von Gott selbst geschaffen wurde, als er durch das Paradies ging +um zu fragen: „Adam, d. i. Mensch, wo bist Du?” „Edelmensch, +wo bist Du?” Ich sehe nur gefallene, niedrige Menschen!” Diese +Menschheitsfrage ist seitdem durch alle Zeiten und alle +Länder des Erdkreises gegangen, laut rufend und laut +klagend, hat aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat +Gewaltmenschen gesehen zu Millionen und Abermillionen, die +einander bekämpften, zerfleischten und vernichteten, nie +aber einen Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich +und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, daß ein Jeder +Engel seines Nächsten zu sein habe, um nicht an sich selbst +zum Teufel zu werden. Einmal aber muß und wird die +Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf die bis +dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende +Antwort erfolgt: „hier bin ich. Ich bin der erste Edelmensch, +und Andere werden mir folgen!” So geht auch Old Shatterhand und +so geht Kara Ben Nemsi durch die Länder, um nach +Edelmenschen zu suchen. Und wo er keinen findet, da zeigt er +durch sein eigenes edelmenschliches Verhalten, wie er sich ihn +denkt. Und dieser imaginäre Old Shatterhand, dieser +imaginäre Kara Ben Nemsi, dieses imaginäre „Ich” hat +nicht imaginär zu bleiben, sondern sich zu realisieren, zu +verwirklichen, und zwar in meinem Leser, der innerlich Alles +miterlebt und darum gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich +veredelt. In dieser Weise trage ich meinen Teil zur Lösung +der großen Aufgabe bei, daß sich der Gewaltmensch, +also der niedrige Mensch, zum Edelmenschen entwickeln +könne.</p> + +<p>Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte ich gar +wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer Gefahr +aussetzen würde, die für mich keine geringe war. Wie +nun, wenn man diese Imagination nicht verstand und dieses „Ich” +also nicht begriff? Wenn man glaubte, ich meine mich selbst? Lag +es da nicht nahe, daß ein Jeder, dem es an Intelligenz oder +gutem Willen fehlte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu +unterscheiden, mich als Lügner und Schwindler bezeichnen +würde? Ja, das lag allerdings in der Möglichkeit, aber +für wahrscheinlich hielt ich es nicht. Ich hatte dieses +„Ich,” also diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit +allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit im +Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. Mein Held +mußte die höchste Intelligenz, die tiefste +Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in +allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der +Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, +das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn ich, wie +ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig +Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen, +daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde, +daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne. +Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler +sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig +ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest +überzeugt, trotzdem ich mit dem „Ich” mich nicht selbst +meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können, +daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt +oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder +doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es +für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und +vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen, +daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar +niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus +seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem +imaginären „Ich”, also von der großen +Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme +richtig war, wird bald die Folge zeigen.</p> + +<p>Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in +orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich ganz +selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die +Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als +unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich +ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die +Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem +es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, +machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit +will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht länger +Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in +meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern +jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients +zu erwecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man +versichert mir heut, dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei +Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, +dies zu glauben.</p> + +<p>Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher +geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk, +für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile +desselben, für einzelne Stände, für einzelne +Altersklassen. Vor allen Dingen nicht etwa allein für die +Jugend! Auf diese letztere Versicherung habe ich das +größte Gewicht und den schärfsten Ton zu legen. +Wäre es meine Absicht gewesen, Jugendschriftsteller sein +oder werden zu wollen, so hätte ich ganz notwendigerweise +auf die Ausführung aller meiner Pläne und auf die +Erreichung aller meiner Ideale für immer verzichten +müssen. Und dies zu tun, ist mir niemals eingefallen. Zwar +hatte ich auch an die Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur +zeitlich die erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus +der sich das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie +ist es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten und +den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern Pionieren neu +gesichtete Terrain schnellsten Tempo’s zu besetzen. Aber wie sie +nur einen Teil des Volkes bildet, so konnte das, was ich an sie +zu richten hatte, auch nur ein Teil dessen sein, was ich für +das Volk als Ganzes schrieb. Wenn ich sage, daß ich +für das Volk schreiben wollte, so meine ich damit, für +den Menschen überhaupt, mag er so jung oder so alt sein, wie +er ist. Aber nicht jedes meiner Bücher ist für jeden +Menschen. Und doch auch wieder ist es für jeden Menschen, +aber nach und nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt, +je nachdem er älter und erfahrener wird, je nachdem er +fähig geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu +begreifen. Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben +begleiten. Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, +als Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer +Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit Ueberlegung +und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt, und zwar wahllos +verschlingt, um den ist es vielleicht schade; auf alle Fälle +aber ist es noch mehr schade um sie! Wer sie mißbraucht, +der soll nicht mich oder sie, sondern sich selbst zur +Verantwortung ziehen. Ich erinnere da an das Rauchen, an das +Essen und Trinken. Rauchen ist ein Genuß. Essen und Trinken +ist unerläßlich. Aber jederzeit zu rauchen, zu essen, +zu trinken, und Alles, was einem geboten wird, zu rauchen und zu +verzehren, würde nicht nur töricht, sondern sogar +schädlich sein. Eine gute, interessante Lektüre soll +man genießen, aber nicht wie ein Haifisch verschlingen! Da +meine Bücher nur Gleichnisse und Märchen enthalten, +versteht es sich ganz von selbst, daß man reiflich +über sie nachdenken soll und daß sie nur in die +Hände von Leuten gehören, die nicht nur nachdenken +können, sondern auch nachdenken wollen.</p> + +<p>Als ich damals diese Gedanken erwog und meine Pläne +faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben und +an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch nicht +eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als Künstler +zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller muß doch +zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich noch nicht +einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern nur erst +für einen außerhalb der Zunft herumtastenden +Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht. +Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende +Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so +hätte mir eigentlich himmelangst werden sollen, denn es +gehörten jedenfalls mehrere arbeitsreiche, ungestörte, +glückliche Menschenleben dazu, den vor mir liegenden Stoff +echt literarisch, also künstlerisch zu bewältigen. Aber +es wurde mir doch nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig +dabei. Ich fragte mich: Muß man denn Schriftsteller sein, +und muß man denn Künstler sein, um solche Sachen +schreiben zu dürfen? Wer will und kann es Einem verbieten? +Machen wir es ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen +wir es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, was +es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler mich als +„Kollegen” gelten lassen würden, das mußte mir +damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen Stolz +besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von Kunst +dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber diese meine +Gedanken waren anders als diejenigen anderer Leute, besonders der +Fachgenossen. Künstler zu sein, dünkte mich das +Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief in meinem Herzen +der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen, und sollte +es erst noch in der letzten Stunde vor meinem Tode sein. Jener +Kindheitsabend, an dem ich den „Faust” zu sehen bekam, stand +noch unvergessen in meiner Seele, und die Vorsätze, die ich +an ihn geschlossen hatte, besaßen noch ganz denselben +Willen und dieselbe Macht über mich wie vorher. Für das +Theater schreiben! Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt +wird, wie der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem +Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des niedern +Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße. Um so +Etwas schreiben zu können, muß man Künstler sein, +und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich nur da als +Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes als das, was die heutige +Kritik als Kunst bezeichnet, und so blieb mir weiter nichts +übrig, als alle meine Wünsche, die sich darauf bezogen, +als Literat ein Künstler, und zwar ein wahrer, wertvoller +Künstler sein zu dürfen, für lange, lange Jahre +zurückzustellen und bis dahin zu bleiben, was ich eben war, +nämlich ein unzünftiger Anfänger, der nicht die +geringste Prätentien <tt>[sic]</tt> +besaß, ein Zunftgenosse zu werden. Wie ich stets, seitdem +ich lebte, abgesondert und einsam gestanden hatte, so war ich +schon damals überzeugt, daß auch mein Weg als Literat +ein einsamer sein und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. +Was ich suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was +ich wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen +vollständig Fernliegendes. Und was ich für richtig +hielt, das war höchst wahrscheinlich für andere Leute +das Falsche. Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es +mir nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren +Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf Kunst war +ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die andern +recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt mich +mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach vollendeter Reife, +ein großes, schönes Dichterwerk zu schaffen, eine +Symphonie erlösender Gedanken, in der ich mich erkühne, +Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen, Glück aus +meinem Unglück, Freude aus meiner Qual. Dies für +später, wenn mir der Tod einst seinen ersten Wink erteilt. +Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu lernen und auf +dieses Werk vorzubereiten, damit es nicht mißlinge. Jetzt +Märchen und Gleichnisse geben, um dann am Schlusse des +Lebens aus ihnen die Wahrheit und die Wirklichkeit zu ziehen und +auf die Bühne zu bringen!</p> + +<p>Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke wie +z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern lange +Erzählungen, in denen viele Personen handelnd auftreten. Und +ihre Zahl ist groß; sie sollen eine ganze Reihe von +Bänden füllen und das Material für jene +spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine +Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine +sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur +Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an welche +nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur für +ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will und darf kein +kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern meine Aufgabe ist, aus +hochgelegenen Marmor und Alabasterbrüchen die Blöcke +für spätere Kunstwerke zu brechen, deren Form ich +höchstens andeuten kann, weil mir die Zeit zur +Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese Andeutung +gebe ich eben in Märchen, die meinen erzählenden +Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte bilden, um welche +sich das Interesse des Lesers konzentriert. Die +künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen +Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine +Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar +Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, schlichten Arm- +oder Fußringen der Araberinnen zu gleichen, die weiter +nichts sein sollen, als eben nur silberne Ringe. Der Wert liegt +im Metall, nicht in der Arbeit. Der Maler, welcher flüchtige +Skizzen zeichnet, um ein großes Gemälde vorzubereiten, +würde sich gewiß über den Kritiker verwundern, +der an diese Skizzen denselben Maßstab legen wollte, den er +dann später an das Gemälde zu legen hat.</p> + +<p>Soviel über die Pläne, welche damals in mir +entstanden und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf den +heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie kamen nicht +in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam, einer nach dem +andern. Und sie reiften nicht eilig aus, sondern es dauerte +monate- und jahrelang, ehe ich mir von dem einen Punkt bis zum +nächsten klar geworden war. Ich hatte aber auch genugsam +Zeit dazu. Ich legte mir eine Art von Buchhaltung über diese +Pläne und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig +aufgehoben und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde in +seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. Ich +stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den Inhalt +aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. Ich bin +zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen gegangen, aber +es hat mir doch viel genützt, und ich zehre noch heut von +Sujets, die schon damals in mir entstanden. Auch schriftstellerte +ich fleißig; ich schrieb Manuskripte, um gleich nach meiner +Entlassung möglichst viel Stoff zur Veröffentlichung zu +haben. Kurz, ich war begeistert für mein Vorhaben und +fühlte mich, obgleich ich Gefangener war, unendlich +glücklich in der Aussicht auf eine Zukunft, die, wie ich +wohl hoffen durfte, keine ganz gewöhnliche zu werden +versprach.</p> + +<p>Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden +zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für alles Leid +entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene Gabe: Ich +wurde begnadigt. Die Direktion hatte für mich ein +Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein volles Jahr meiner +Strafzeit erlassen bekam. Ich stand in der ersten +Disziplinarklasse und erhielt ein Vertrauenszeugnis ausgestellt, +welches mir den Rückweg in das Leben glättete und mich +aller polizeilichen Scherereien überhob. Der Kenner +weiß, was das bedeutet!</p> + +<p>Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt +verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen +Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach Hause geschrieben, um die +Meinigen von meiner Heimkehr zu benachrichtigen. Wie freute ich +mich auf das Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich +nicht zu haben; dies war ja schon längst durch Briefe +geordnet. Ich wußte, daß ich willkommen sei und +daß man mir mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten +freute ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich +gegrämt und gehärmt haben! Und wie gern würde sie +mir ihre alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie +entzückt würde sie über meine Pläne sein! Wie +sehr würde sie mir helfen, sie auszudenken und so tief wie +möglich auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach +Ernsttal, also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe +gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es +läßt sich denken, was für Gedanken mich auf +diesem Weg begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem +Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges +zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten! +Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für +deren Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr +zu leisten vermag? Das „Märchen von Sitara” tauchte vor +mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen, +wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend +zu schleudern, so daß sie verloren gehen? Alles +Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem +Untergange geweiht. Gilt das auch mir?</p> + +<p>Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr ich +mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von dort aus +böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe Zuversicht schien +mich verlassen zu wollen; ich mußte mir Mühe geben, +sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe aus schaute ich +über das Städtchen hin. Da schlängelten sich vor +meinen Augen die Wege, die ich damals so oft gegangen war, in +heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen inneren Stimmen +liegend, die mir Tag und Nacht hindurch in einem fort die Worte +„des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders +Fluch” zuriefen. Und was war das? Indem ich hieran dachte, +hörte ich ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz +deutlich, wie erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu +nähern, „des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des +Schneiders Fluch!” Sollte und wollte sich das etwa wiederholen? +Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte von +dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die Höhe +hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, nach Hause, +nach Hause!</p> + +<p>Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern wohnten +noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg die Treppe empor +und dann gleich noch eine zweite hinauf nach dem Bodenraume, wo +Großmutter sich immer am liebsten aufgehalten hatte. Ich +wollte zunächst zu ihr und dann erst zu Vater, Mutter und +Geschwistern. Da sah ich die wenigen Sachen, die sie besessen +hatte; sie selbst aber war nicht da. Da stand ihre Lade, mit +blauen und gelben Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der +Schlüssel abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war +leer. Ich eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die +Eltern. Die Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie +hatten gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar +nicht und fragte, wo Großmutter sei. „Tot -- -- -- +gestorben!” lautete die Antwort. „Wann?” „Schon voriges +Jahr.” Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den +Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir verschwiegen, um +mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft nicht noch zu +erschweren. Das war ja recht gut gedacht; nun aber traf es mich +um so wuchtiger. Sie war nicht eigentlich krank gewesen; sie war +nur so hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!</p> + +<p>Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die +Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir +später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige +einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des +Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu. +Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich +gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den +Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz +verbergen. Ich wollte nur von Großmutter wissen, jetzt +weiter nichts, und man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von +mir gesprochen, aber niemals ein Wort, welches mich hätte +kränken müssen, wenn ich dabeigewesen wäre. Und +sie hatte nie geklagt oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun +wisse sie, daß ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer +Geburt zur falschen Stelle geschleudert werden, um dort +vernichtet zu werden. Nun sei sie überzeugt, daß ich +durch die Geisterschmiede müsse, um alle irdischen Qualen +über mich ergehen zu lassen. Aber sie wisse, ich werde nicht +schreien, ich werde tragen, was zu tragen ist, und mir den Weg +nach Dschinistan <tt>[sic]</tt> +erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto +ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt +und desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An +einem der letzten Tage erzählte sie, daß der +längst verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen +sei. Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser +stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel +die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, aber nicht +in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, welches sie +noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, sei der Herr Kantor +erschienen. Er haben genauso ausgesehn wie damals, als er noch +lebte. Er sei langsam bis an ihr Bett gekommen, habe sie +freundlich lächelnd gegrüßt, wie es immer seine +Art und Weise war, und dann gesagt, daß sie sich ja nicht +um mich sorgen solle; ich könne wohl stürzen wie jeder +Andere, nicht aber liegen bleiben; es werde mir zwar schwer +gemacht, doch erreiche ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten +nickte er ihr wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie +er gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie +schloß sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde +wieder dunkel.</p> + +<p>Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob ein +Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes auf ihrem +Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch noch dann +darauf, als sie die Augen geschlossen hatte und nicht mehr +atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein friedlicher, ein seliger +gewesen; mir aber war gar nicht friedlich und gar nicht selig zu +Mute, als man mir von ihm erzählte. Es tauchten +Vorwürfe in mir auf, aber keine Vorwürfe, die nur +Gedanken sind, wie bei andern Leuten, die nicht von derselben +Veranlagung sind wie ich, sondern Vorwürfe viel +wesentlicherer, viel kompakterer Art. Ich sah sie in mir kommen, +und ich hörte, was sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, +jedes Wort! Das waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, +wirkliche Wesen, die nicht die geringste Identität mit mir +zu besitzen schienen und doch identisch waren. Welch ein +Rätsel! Aber welch ein ungewöhnliches, furchtbar +beängstigendes Rätsel! Sie glichen jenen in mir +schreienden, dunkeln Gestalten von früher her, mit denen ich +-- -- -- mein Gott, kaum hatte ich an sie gedacht, so waren sie +wieder da, ganz so, wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in +meinem Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre +Stimmen so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an +Stelle der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie +blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir schlafen. +Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht +schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere +Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten, +die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht +entdecken konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie +schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner +Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. Und +doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, weil +das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von meinem Willen +war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Der vor +mir liegende Teil meines Lebens sollte ein ganz anderer sein, als +der, welcher hinter mir lag. Diese Stimmen aber waren +bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit +zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß +ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen, +für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit! +Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich aber stemmte mich gegen +sie; ich tat, als ob ich nichts, gar nichts höre. Das war +aber selbst bei der größten Kraftaufwendung nicht +länger als höchstens nur einige Tage lang auszuhalten. +Indessen besuchte ich einige Verleger, um mit ihnen über die +Herausgabe der im Gefängnisse geschriebenen Manuskripte zu +verhandeln. Hierbei stellte es sich heraus, daß +während dieser meiner Abwesenheit die inneren Stimmen um so +mehr verstummten, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, +und wieder um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder +näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort +seßhaft seien und nur dann über mich herfallen +könnten, wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort +einzufinden. Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich +kassierte meine Honorare ein und machte eine längere +Auslandsreise. Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses Werkes +zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren Ergebnissen +ein größerer Raum gewidmet werden soll, als ich ihnen +hier gewähren könnte. Während dieser Reise +verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde +vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein +ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat +zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker +Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark, +daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. Ich +kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich Alles, +was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen +begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, +an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar +dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich +fühlte, daß ich, falls ich diesem Befehle Gehorsam +leiste, ein höchst gefährlicher Mensch sein werde, und +nahm alle mir gegebene Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche +Schicksal anzukämpfen.</p> + +<p>Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, +daß ich meinen Zustand keineswegs für pathologisch +hielt. Alle meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl +körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es +gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser Beziehung mir +angeheftet hatte, das war gewiß nicht von innen heraus +erzeugt, sondern von außen her an mich herangetreten. Ich +arbeitete fleißig, fast Tag und Nacht, wie ich +überhaupt an der Arbeit stets meine größte Freude +gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. Ich litt also +keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern wohnte, die sich jetzt +auch besser standen als früher. Ich hätte +vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts +verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was ich +schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas +Gewöhnliches schrieb, stellte sich nicht die geringste +Hinderung ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema +stellte, eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere +Aufgabe, wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen +empörten und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande +zu bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die +trivialsten, blödesten oder gar verbotensten Gedanken +dazwischenwarfen. Ich sollte nicht empor; ich sollte unten +bleiben. Hierzu gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter +Hallunke, dem Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so +schmeichelt; ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist +mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei. +Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, und auch +für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, welche man +empfinden muß, um ein Trinker zu werden. Jetzt aber +fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, wenn +ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause +vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht mehr +arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder hinzulegen und +in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat es aber nicht. Vater tat +es. Er konnte sein Glas einfaches Bier und sein Schnäppschen +<tt>[sic]</tt> nicht gut entbehren. Ich +aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das war mir nicht +etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa schwer, o nein. Ich +erzähle es nur des psychologischen Interesses wegen, weil es +mir höchst sonderbar erscheint, daß dieser meiner +ganzen Natur widersprechende und mir sonst vollständig +fremde Durst nach Spirituosen immer nur dann auftrat, wenn jene +Stimmen die Oberhand in mir hatten, sonst aber nie!</p> + +<p>Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter meine +Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich sprach +hierüber also mit den Eltern und Geschwistern. Vater hatte +jetzt Anderes zu denken. Er war in einer Art sozialer Mauserung +begriffen und darum für mich nicht zu haben, zumal er des +Abends nie daheim blieb. Auch die Schwestern hatten andere +Interessen. Mein ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb +mir nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem +Strickstrumpf still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte ihr +so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder +beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte +einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein +liebes, tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch +sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und sie +wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden +möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie fest +und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, da +glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter sein kann, +deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, auf die +Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. Ich aber +fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen +Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte +verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese +Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer +Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. Nichts war +mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. Aber ich +stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich +stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen +wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. Und mitten +in dieser Schutzlosigkeit wurde ich nun auch von andern Feinden +gepackt, die, obgleich sie keine inneren, sondern +äußerliche waren, doch ebenso wenig mit den +Händen gefaßt werden konnten.</p> + +<p>Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt in +andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. Man hatte +sie gern. Man teilte ihr Alles mit, ohne daß man sie um +Verschwiegenheit zu bitten brauchte. Sie erfuhr Alles, was im +Städtchen und in der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo +einen Einbruch gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter +war entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise +ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich +von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene gesetzt. Ich +hörte gar nicht hin, als man es erzählte, bemerkte aber +nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster als +gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu +sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich blieb +anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem +Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten; ich bat +aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein Gerücht, +ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher +sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen +Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber +war ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es +brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die +Stimmen schrien mir zu: „Wehre dich, wie du willst, wir geben +dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir zwingen dich, dich zu +rächen! Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein +Schurke bleiben, wenn du Ruhe haben willst!” So klang es bei +Nacht. Wenn ich am Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts +fertig. Ich konnte nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater +gesagt. Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu +nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten ja +genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus dem +Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles im Vertrauen +gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum gab es keinen Punkt, an +dem ich zugreifen konnte, mich zu wehren. Aber es kam schlimmer. +Die heimatliche Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit +Vertrauenszeugnis entlassen worden und darum ihrer Aufsicht +entgangen. Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich mit mir +zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche vor, +deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen Intelligenz +behaftet waren. Man glaubte, dies auf mich deuten zu müssen. +Das war zu derselben Zeit, in der sich die schon erwähnte +„Lügenschmiede” zu bilden begann. Neue Gerüchte +kursierten, romantisch ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister +erkundigte sich unter der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der +und der Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich +sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute +man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein guter Kerl, +ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt hatte und auch jetzt +noch an mir hing. Der war sprichwörtlich unbeholfen und +unverzeihlich aufrichtig. Er hielt grob sein für +Menschenpflicht. Der konnte es nicht länger aushalten. Er +kam zu mir und erzählte mir auf Handschlag und +Schweigepflicht Alles, was gegen mich im Schwange ging. Das war +so dumm und doch so empörend, so leichtsinnig und +gewissenlos, so -- -- so -- -- so -- -- so -- -- -- ich fand +keine Worte, dem armen, wohlmeinenden Menschen für seine +schmerzhafte Aufrichtigkeit zu danken. Aber als er mein Gesicht +sah, machte er sich so schnell wie möglich von dannen.</p> + +<p>Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es trieb +mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät +abends todmüde heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu +haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn, +fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem +Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom +Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; wohin, +wohin, das beachtete ich gar nicht. Es kam mir vor, als ob die +inneren Gestalten aus mir herausgetreten seien und neben mir +herliefen. Voran der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, +der mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von +Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Händen, und hierauf +die Raubritter, Räuber, Mönche, Nonnen, Geister und +Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das verfolgte +mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und +jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die +Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen +Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte +nicht weiter. Da hatten sie mich fest, und da ließen sie +mich nicht wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde, +bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern +herunterholten. Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den +ganzen Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen +und schlief ein. Wo, das weiß ich nicht. Es war auf einem +Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden Roggenfeldern. Ein +Donner weckte mich. Es war wieder Nacht, und der Gewitterregen +floß in Strömen herab. Ich eilte fort und kam an ein +Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus. +Mit der kam ich in den Wald, kroch unter die dicht bewachsenen +Bäume und aß. Hierauf schlief ich wieder ein. Aber ich +schlief nicht fest; ich wachte immer wieder auf. Die Stimmen +weckten mich. Sie höhnten unaufhörlich „Du bist ein +Vieh geworden, frissest Rüben, Rüben, Rüben!” Als +der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe, kehrte +in den Wald zurück und aß. Dann suchte ich mir eine +lichte Stelle auf und ließ mich von der Sonne bescheinen, +um trocken zu werden. Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir +Ruhe. Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen +Schlaf, während dessen Dauer ich mich immer von einer Seite +auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern +gequält wurde, die mir vorspiegelten, daß ich bald ein +Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus Preziosa und +bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser Schlaf ermüdete mich +nur noch mehr, statt daß er mich stärkte. Ich entwand +mich ihm, als der Abend anbrach, und verließ den Wald. +Indem ich unter den Bäumen hervortrat, sah ich den Himmel +blutigrot; ein Qualm stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein +Feuer. Das war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich +wußte nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer +zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt vorkam. +Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte in die Glut. +Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir. Und der Rauch, +dieser dicke, erstickende Rauch! Der war nicht da drüben +beim Feuer, sondern hier bei mir. Der hüllte mich ein, und +der drang mir in die Seele. Dort ballte er sich zu Klumpen, die +Arme und Beine und Augen und Gesichtszüge bekamen und sich +in mir bewegten. Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst +später, viel später klar über die Entstehung +solcher innerer Schreckgebilde geworden. Damals war ich es noch +nicht, und so konnten sie die entsetzliche Wirkung +äußern, gegen welche meine auf das Aeußerste +angespannten Nerven keine Widerstandskraft mehr besaßen. +Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben +zusammenfiel, als die Flammen niedriger und niedriger wurden und +endlich erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war +auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm. Mein +Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel +umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich suchte auch gar nicht +danach. Ich wankte beim Gehen. Ich lief irr. Ich torkelte weiter, +bis ich endlich einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die +Straße, auf der ich mich befand, vorüberführte. +Ich lehnte mich an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war +wohl unmännlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu +verhindern. Diese Tränen waren keine erlösenden. Sie +brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine Augen +zu reinigen und zu stärken. Ich sah plötzlich, +daß es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er +war mir ebenso vertraut wie die Straße, an der er lag; heut +aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.</p> + +<p>Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, über +den Markt hinüber und öffnete leise die Tür +unseres Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der +Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne +Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht. +Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür. +Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres +Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die +Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber +leise:</p> + +<p>„Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?”</p> + +<p>„Nein,” antwortete ich.</p> + +<p>„Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach +Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man +dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!”</p> + +<p>„Fort? Warum?” fragte ich.</p> + +<p>„Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses +Feuer!”</p> + +<p>„Was ist es mit dem Feuer?”</p> + +<p>„Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im Walde -- -- auf +dem Felde -- -- und gestern auch bei dem Haus, bevor es +niederbrannte!”</p> + +<p>Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!</p> + +<p>„Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!” stotterte ich. „Glaubst du +etwa, daß -- -- --”</p> + +<p>„Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater +auch,” unterbrach sie mich. „Alle Leute sagen es!”</p> + +<p>Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie +jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie +fuhr in demselben Atem fort:</p> + +<p>„Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen +Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute +aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier +warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht +länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, +kommst du wieder!”</p> + +<p>Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich +berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu +warten. Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach +dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und +Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht +etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war +der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung +aussah, wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!</p> + +<p>Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den Kleiderschrank zu +öffnen und einen andern, saubern Anzug anzulegen. Dann bin +ich fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im +Stich. Ich war wieder krank wie damals. Nicht geistig, sondern +seelisch krank. Die inneren Gestalten und Stimmen beherrschten +mich vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene +Zeit zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fünfzig +Jahren irgend ein Theaterstück gesehen hat und nach dieser +Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah +und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir +geblieben, doch so undeutlich, daß ich nicht behaupten +kann, was wahr daran ist und was nicht. Ich habe in jener Zeit +jenen dunklen Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich +beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen +unglaublich. Man beschuldigte mich, einen Kinderwagen gestohlen +zu haben! Wozu? Ein leeres Portemonnaie mit nur drei Pfennigen +Inhalt! Anderes ist schon glaublicher und Einiges direkt +erwiesen. Man hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen +war, da transportierte man mich als „hoffentlichen Täter” +hin. Das war eine hochinteressante Zeit für die +Habitu<tt>é</tt>s der Ernsttaler Lügenschmiede. Da +wurde fast täglich Neues erzählt oder Altes variiert, +was ich begangen haben sollte. Jeder Vagabund, der in den +Ortsbereich dieser Märchen kam, legte sich meinen Namen bei, +um auf meine Rechnung hin zu sündigen. Das war selbst +für einen äußerlich und innerlich Gefangenen +zuviel. Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln +und verschwand. Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in +dem ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu +berichten. Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu +erwähnen, nämlich, daß ich seelisch um so freier +wurde, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, daß +mich draußen in der Ferne ein unwiderstehlicher Trieb zur +Heimkehr packte und daß ich innerlich wieder um so freier +wurde, je mehr ich mich der Gegend meines Geburtsortes +näherte. Gibt es Jemand, der das zu ergründen vermag? +Ich folgte teils jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich +freiwillig zurück, und zwar um meiner guten Pläne und +um meiner Zukunft willen. Hatte ich gesündigt; so hatte ich +zu büßen; das verstand sich ganz von selbst. Und bevor +diese Buße nicht erledigt war, konnte es für mich +keine ersprießliche Arbeit und keine Zukunft geben. Ich +kehrte also nach fünf Monaten wieder heim, um mich dem +Gericht zu stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es +richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren +Gewalten, die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu +tun, was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war, +daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen +wurde. Das verschärfte meine Lage derart, daß ich die +Strenge des Richters, der mein Urteil fällte, +vollständig begreife. Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt +zu begreifen, der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt +wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, und zwar +in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein, bei dieser +billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben zu können +oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm nicht mehr als Alles, +was nötig ist, um eine solche Aufgabe auch nur +einigermaßen zu lösen. Ich hätte gar wohl leugnen +können, gab aber Alles, dessen man mich beschuldigte, +glattweg zu. Das tat ich, um die Sache um jeden Preis los zu +werden und so wenig wie möglich Zeitverlust zu erleiden. +Dieser Advokat war unfähig, mich oder überhaupt ein +nicht ganz alltägliches Seelenleben zu begreifen. Das Urteil +lautete auf 4 Jahre Zuchthaus und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So +schwer es mir fällt, dies für die Oeffentlichkeit +niederzuschreiben, ich kann mich nicht davon entbinden; es +muß so sein. Nicht mich bedaure ich, sondern meine armen, +braven Eltern und Geschwister, welch erstere mir noch im Grabe +leid tun, daß ihr Sohn, auf den sie so große, +vielleicht nicht ganz unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die +unendliche Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse +gezwungen ist, derartige Geständnisse zu machen.</p> + +<p>Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir +vorgeworfen werden, hier aufzuzählen. Mein Henker, Schinder +und Abdecker zu sein, überlasse ich jener abgrundtiefen +Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an das Kreuz +geschlagen und während dieser Zeit keinen Augenblick lang +aufgehört hat, immer neue Qualen für mich zu ersinnen. +Sie mag in diesen Fäkalienstoffen weiterwühlen, zum +Entzücken aller jener niedern Lebewesen, denen diese Stoffe +Lebensbedingungen sind. Und ebensowenig bin ich gewillt, mit +dieser meiner jetzigen Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich +habe schlicht und einfach über sie zu berichten, die +Wahrheit zu sagen und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen +Abgrund, der aber ganz und gar kein Abgrund ist, für immer +Valet zu sagen.</p> + +<p>Meine Strafe war schwer und lang, und der auf zwei Jahre +Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir bei meiner +Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen. Ich war also auf +strenge Behandlung gefaßt. Sie war ernst, aber sie tat +nicht weh. Eine Anstaltsdirektion handelt ganz richtig, wenn sie +sich nicht voreingenommen zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und +wie der Eingelieferte sich fügt. Nun, ich fügte mich! +Freilich wurde für dieses Mal auf meinen Stand keine +Rücksicht genommen. Man teilte mich derjenigen +Beschäftigung zu, in der grad Arbeiter gebraucht wurden. Ich +wurde Zigarrenmacher. Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete +es mir. Ich habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke +noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Rührung an sie +zurück, welche man stillen, nicht grausamen +Leidensstätten schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie +war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak kennen +und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der billigsten bis zur +teuersten. Das tägliche Pensum war nicht zu hoch gestellt. +Es kam auf die Sorte, auf den guten Willen und auf die +Geschicklichkeit an. Als ich einmal eingeübt war, brachte +ich mein Pensum spielend fertig und hatte auch noch stunden- und +halbe Tage lang übrige Zeit. Diese Zeit für mich +verwenden zu dürfen, war mein innigster Wunsch, und der +wurde mir eher, viel eher erfüllt, als ich es für +möglich hielt.</p> + +<p>Ich betone hier ein für allemal, daß es für +mich keinen Zufall gibt. Das weiß ein jeder meiner Leser. +Für mich gibt es nur eine Fügung. So auch in diesem +Falle. Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische +und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet +(Anstaltslehrer) fungierte während des katholischen +Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der Zeit so +mit neuen Pflichten und vieler Arbeit überbürdet +worden, daß er für das Orgelspiel einen Stellvertreter +suchen mußte, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen die +Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch noch die Orgel +übernehmen konnte. Die Direktion billigte ihm zu, sich einen +Vertreter unter den Gefangenen zu suchen. Er tat es. Es gab eine +ganze Anzahl bestrafter Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden +geprüft. Warum keiner von ihnen genommen wurde, das +weiß ich nicht. Sie waren alle länger da, als ich, +hatten also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches +zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war mit +nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte der +zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und +hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem +Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich, keinen +Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der Katechet kam in +meine Zelle, unterhielt sich eine Weile mit mir und ging dann +fort, ohne mir etwas zu sagen. Einige Tage später kam auch +der katholische Geistliche. Auch er entfernte sich nach kurzer +Zeit, ohne daß er sich über den Grund seines Besuches +äußerte. Aber am nächsten Tage wurde ich in die +Kirche geführt, an die Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt +und mußte spielen. Die Herren Beamten saßen unten im +Schiff der Kirche so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war +nur der Katechet, der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die +Prüfung und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir +eröffnete, daß ich zum Organisten bestellt sei und +mich also sehr gut zu führen habe, um dieses Vertrauens +würdig zu sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr +viel für mich und mein Innenleben entwickelte.</p> + +<p>Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer katholischen +Kirche! Das brachte mir zunächst einige Bewegungsfreiheiten +innerhalb der Anstaltsgebäude. Man konnte mir doch keinen +Aufseher mit an die Orgel stellen! Aber es brachte mir noch mehr, +nämlich Achtung und diejenige Rücksichtnahme, nach der +ich in Beziehung auf gewisse Aeußerlichkeiten strebte. Der +Aufseher unserer Visitation war ein stiller, ernster Mann, der +mir sehr wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich +katholischer Organist geworden sei, kam er verwundert in meine +Zelle, um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen +Einlieferungsakten ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als +evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. Da +sah er mich groß an und sagte:</p> + +<p>„Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt du -- -- -- +hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!”</p> + +<p>Die Gefangenen werden natürlich „Du” genannt; von jetzt +an aber sagte er „Sie”, und Andere taten ihm das nach. Das war +eine scheinbar kleine, aber trotzdem sehr wertvolle +Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere folgerte. Bald stellte +sich zu meiner freudigen Ueberraschung heraus, daß mein +Aufseher der Dirigent des Bläserkorps war. Ich erzählte +ihm von meiner musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da +brachte er mir schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu +erteilen. Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war +dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in +meiner freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher +ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und wir +haben, als er später pensioniert war und nach Dresden zog, +noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit einander +verkehrt.</p> + +<p>Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur Lehrer, +ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder +Beziehung, human wie selten Einer und von einer so reichen +erzieherischen, psychologischen Erfahrung, daß das, was er +meinte, einen viel größeren Wert für mich +besaß, als ganze Stöße von gelehrten +Büchern. Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit +mir. Er hielt mich für einen Protestanten und machte nicht +den geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung einzuwirken. +Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich zu ihm. Nie habe ich +ihm eine Frage nach dem Katholizismus vorgelegt. Was ich da +wissen mußte, das wußte ich bereits oder konnte es in +anderer Weise erfahren. Mir war das schöne Verhältnis +heilig, das nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne +daß sich störende Gegensätze in das rein +menschliche Wohlwollen schleichen durften. Er tat seinen +Kirchendienst, ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die +Religion zwischen uns vollständig unberührt und konnte +also umso direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein +Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen, +und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen +Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das Kleinste +groß zu nehmen weiß.</p> + +<p>Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt lernte +ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige Musikstücke +bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt, Musikverständnis +zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache Katechet gab mir Nüsse +zu knacken, die mir sehr zu schaffen machten. Was Musik +eigentlich ist, das begann ich erst jetzt zu ahnen, und die Musik +ist nicht etwa das allergeringste Mittel, durch welches die +Kirche wirkt.</p> + +<p>Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn eine +besondere Feststellung in Beziehung auf die Orgelbegleitung +nötig war. Er sprach nur das Allernötigste, über +Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat war es stets, +als ob bei mir die Sonne zu scheinen beginne. Solche +Sonnenmenschen sind selten, und doch müßte eigentlich +jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn der Laie ist nur +allzusehr geneigt, die Kirche so zu betrachten und zu beurteilen, +wie ihre Priester sich zu ihm stellen. Ueber den Unterschied +zwischen dem protestantischen und dem katholischen Gottesdienst +gehe ich hinweg, aber jeder vernünftige Mensch wird es +für ganz naturgemäß und selbstverständlich +halten, daß ich nicht vier Jahre lang an dem letzteren +teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm beteiligt sein konnte, ohne von +ihm beeinflußt zu werden. Wir sind doch keine Steine, von +denen alles Weiche abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, +wenn der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste waren +ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine unendliche Dankbarkeit +für diese Wärme und diese Güte in mir, die sich +meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf für mich hatte, +als alles Andere gegen mich war. Ich habe sie gesegnet bis auf +den heutigen Tag und werde sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm +müssen doch die Menschen innerlich sein, welche behaupten, +daß ich katholisiere! Es ist ganz unmöglich, daß +sie die Menschenseele und die in ihr liegenden Heiligtümer +kennen. Uebrigens habe ich über den katholischen Glauben gar +nichts geschrieben, über den mohammedanischen aber ganze +Bände. Der Vorwurf, daß ich islamitisiere, erscheint +also viel berechtigter, als der, daß ich katholisiere. +Warum macht man mir diesen nicht? Die Madonna ist von hundert +protestantischen Malern dargestellt und von hundert +protestantischen Dichtern, sogar von Goethe, behandelt worden. +Warum sagt man von diesen nicht, daß sie katholisieren? Ich +habe der katholischen Kirche für die hochsinnige +Gastfreundlichkeit, die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre +lang erwies, durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich +für meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich der +religiösen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des Geldes +wegen! Ich wiederhole: Wie arm müssen diese Menschen sein, +wie unendlich arm! -- --</p> + +<p>Ich muß konstatieren, daß diese vier Jahre der +ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich +sehr, sehr weit vorwärts gebracht haben. Es stand mir jedes +Buch zur Verfügung, das ich für meine Studien brauchte. +Ich stellte meine Arbeitspläne fertig und begann dann mit +der Ausführung derselben. Ich schrieb Manuskripte. Sobald +eines fertig war, schickte ich es heim. Die Eltern vermittelten +dann zwischen mir und den Verlegern. Ich schrieb diesen nicht +direkt, weil sie jetzt noch nicht erfahren sollten, daß der +Verfasser der Erzählungen, die sie druckten, ein Gefangener +sei. Einer aber erfuhr es doch, weil er persönlich zu den +Eltern kam. Das war der später noch viel zu erwähnende +Kolportagebuchhändler H. G. Münchmeyer in Dresden. Er +war Zimmergesell gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das +Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In dieser +Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal und lernte in +einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd kennen, die er +heiratete. Das fesselte ihn an die Gegend. Er wurde da bekannt +und erfuhr auch von mir. Was er da Tolles hörte, schien ihm +außerordentlich passend für seine Kolportage. Er +suchte meinen Vater auf und machte sich vertraut mit ihm. So +kamen ihm meine Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war +ihm zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, daß es ihn, wie er +sagte, entzückte. Er bat, es drucken zu dürfen, und +bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und legte das +Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht. Er schob es +zurück und forderte ihn auf, es mir persönlich zu +geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Münchmeyer sehr +gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann, den er gebrauchen +könne; er werde mich nach meiner Heimkehr aufsuchen und +alles Nähere mit mir besprechen.</p> + +<p>Dies erzähle und stelle ich für einstweilen fest. Es +ist für manches Folgende von großer Wichtigkeit, zu +wissen, daß Münchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, +wie sie in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles +gehört hatte, was hinzugelogen worden war.</p> + +<p>Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich Ruhe, +vollständige Ruhe. In den ersten vier Wochen der letzten +vier Jahre war es noch vorgekommen, daß die dunklen +Gestalten mich innerlich gequält und mit Zurufen +belästigt hatten; das hatte aber nach und nach +aufgehört und war schließlich still geworden, ohne +sich wieder zu regen. Wenn ich hierüber nachdachte, ohne auf +psychologische Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht, +daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie +man in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber die +letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder +schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der Katechet war +derselben Meinung. Ich hatte ihm von meinen inneren Anfechtungen +nichts erzählt, wie ich in rein persönlichen und +familiären Dingen überhaupt nie einen Menschen zu +meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen fiel doch ein Wort, +welches nicht andeuten sollte, aber doch andeutete. Er wurde +aufmerksam. Einmal kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, +von meinen dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu +sprechen; aber ich tat so, als ob ich von einem Andern +spräche, nicht von mir selbst. Da lächelte er. Er +wußte gar wohl, wen ich meinte. Am nächsten Tage +brachte er mir ein kleines Buch, dessen Titel lautete: „Die +sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der +Menschheitsspaltung überhaupt.” Ich las es. Wie +köstlich es war! Welche Aufklärung es gab! Nun +wußte ich auf einmal, woran ich mit mir war! Nun mochten +sie wiederkommen, diese Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu +fürchten! Später, als er sich das Buch wieder holte, +dankte ich ihm, der Freude entsprechend, die ich darüber +empfand. Da fragte er mich:</p> + +<p>„Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie +erzählten?”</p> + +<p>„Ja,” antwortete ich.</p> + +<p>„Haben Sie alles verstanden?”</p> + +<p>„Nein, noch nicht.”</p> + +<p>„Dieses hier?”</p> + +<p>Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: „Wer an diesen +schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor der Stelle, +an der er geboren wurde. Er wohne niemals längere Zeit dort. +Und vor allen Dingen, wenn er einmal heiratet, so hole er sich +seine Frau ja nicht von diesem Orte!”</p> + +<p>„Nein, das verstehe ich noch nicht,” gestand ich ein.</p> + +<p>„Ich auch nicht,” gab er zu. „Aber denken Sie darüber +nach!”</p> + +<p>Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich zu +keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein psychologische +Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende Lehrerin, und +diese Erfahrung mußte ich machen, ehe ich es begriff, +leider, leider! -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap06"></a>VI.<br/> +Bei der Kolportage.</h2> + +<p class="noindent"> +Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war ein stürmischer Frühlingstag, es +regnete und schneite. Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht +ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine Manuskripte gelesen und meine +Briefe fast auswendig gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine +Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei dieser Gelegenheit auch auf +Münchmeyer zu sprechen und darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle. +</p> + +<p>„Das wird vergeblich sein,” sagte ich. „Dieser Mann will +Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche +Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß +ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man über mich faselt, +einen Kolportageroman zusammenzuflicken, der ihm allerdings viel +Geld einbringen, mich aber vernichten würde. Da irrt er +sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!”</p> + +<p>Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt angekommen +waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem +nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes, +neugebautes Haus und fragte mich:</p> + +<p>„Kennst du das dort?”</p> + +<p>„Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?”</p> + +<p>„Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer +es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter sehr rasch +verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du. +Mutter wird es dir erzählen.”</p> + +<p>„O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie, +daß sie hierüber schweigen soll!”</p> + +<p>Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der +Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf +er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre lang; er +lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er kam schon am andern +Vormittag und warf sich derart in die Brust, daß man es +wirklich keinem in dieser Weise behandelten Menschen +übelnehmen kann, wenn er dadurch rückfällig wird. +Er behauptete, zwei Jahre lang mein Vorgesetzter zu sein, bei dem +ich mich täglich zu melden habe. Dann zog er die +betreffenden Gesetzesparagraphen aus der Tasche, um mir eine +Vorlesung über meine Pflichten zu halten. Ich sagte kein +Wort, sondern öffnete die Tür und gab ihm einen Wink, +sich zu entfernen. Als er das nicht sofort tat, tat ich es. Ich +ging zum Bürgermeister und machte kurzen Prozeß. Ich +forderte einen Auslandspaß, und als mir die Auskunft wurde, +daß dies nicht so ohne weiteres möglich sei, war ich +schon am nächsten Tage ohne Paß unterwegs.</p> + +<p>Im Zuge saß ich in einem sonst leeren +Coup<tt>é</tt>. Es ging über die Grenze. Da begann es +plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu +schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem +die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte +von Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen das +kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber +ließ es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht +hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. Ich +reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach ganz von +selber still werden.</p> + +<p>Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite +Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um nach mir zu +fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er das Honorar und ging +unverrichteter Sache wieder heim. Ungefähr dreiviertel Jahre +später erschien er wieder, und zwar nicht allein, sondern +mit seinem Bruder. Dieses Mal fand er mich daheim, denn ich war +wieder da, um meine „Geographischen Predigten” zu schreiben und +in Druck zu geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann +auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut +gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in +Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte einen +Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das war mir +unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie etwas zu tun +gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und +weder ihn noch seine Lage kannte. Er erklärte sie mir. Er +war ein klug berechnender, sehr beredter Mann, und sein Bruder +sekundierte ihm in so trefflicher Weise, daß ich beide +nicht kurzer Hand abwies, sondern sie aussprechen ließ. +Aber als sie das getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, +obgleich ich es nie für möglich gehalten hätte, +daß ich jemals zu der „Kolportage” in irgend eine +Geschäftsbeziehung treten könne.</p> + +<p>Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden +Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was er +herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er sprach +von einem sogenannten „Schwarzen Buch” mit lauter +Verbrechergeschichten, von einem sogenannten „Venustempel”, der +eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen Werken gleicher +Art. Für heut aber handle es sich um ein Wochenblatt, +welches er unter dem Titel „Der Beobachter an der Elbe” +herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes sei ein aus +Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr +geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher +Beziehung höchst gefährlicher Mensch. Dieser habe sich +mit ihm überworfen, sei plötzlich aus der Redaktion +gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein +ganz ähnliches Blatt wie den „Beobachter an der Elbe” +herausgeben, um ihn tot zu machen. „Wenn ich nicht sofort einen +anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist und +es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!” schloß +Münchmeyer seinen Bericht.</p> + +<p>„Aber wie kommen Sie da grad auf mich?” erkundigte ich mich. +„Ich bin weder Redakteur noch in irgend einer Weise +bewährt!”</p> + +<p>„Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel von Ihnen +gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre Manuskripte +gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!”</p> + +<p>„Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur Kolportage +wird mich niemand bringen!”</p> + +<p>„Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch Gutes mit ihr +leisten. Was haben Sie denn vor?”</p> + +<p>Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; er +begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten, +die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom Niedrigen +leben.</p> + +<p>„Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!” rief er aus. +„Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am besten und +schnellsten bei mir!”</p> + +<p>„Wieso?”</p> + +<p>„Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen diesen +Freytag und sein neues Blatt damit tot!”</p> + +<p>„Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr +,Beobachter an der Elbe’ nicht gefällt? Ich kenne ihn ja +nicht.”</p> + +<p>„So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein neues +Blatt an seiner Stelle!”</p> + +<p>„Was für eines?”</p> + +<p>„Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke +paßt!”</p> + +<p>Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon +mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne +ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch weitere +Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht machte, auf +seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine eigenen +Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet die +prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die +Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher +Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte +für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde mir +wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den <tt>[sic]</tt> Münchmeyer mir zahlen konnte, +war zwar nicht bedeutend, aber es flossen mir ja außerdem +derartige Honorare zu, daß ich ihn eigentlich gar nicht +brauchte. Und ich war gar nicht gebunden. Er bot mir +vierteljährige Kündigung an. Ich konnte also alle drei +Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.</p> + +<p>„Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!” forderte er mich auf, +indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.</p> + +<p>„Wann hätte ich anzutreten?” fragte ich.</p> + +<p>„Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag +darf uns nicht vorauskommen.”</p> + +<p>„Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!”</p> + +<p>„Ich weiß Alles. Das tut aber nichts.”</p> + +<p>„Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!”</p> + +<p>„Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut nichts. +Grad weil dies so ist, sind Sie mir der Allerliebste! Schlagen +Sie ein!”</p> + +<p>Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand hin; +Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab ich ihm den +Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.</p> + +<p>Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein +möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald +mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur Verfügung, und ich +kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand den Verlag ganz ungemein +häßlich. Das „Schwarze Buch” war geradezu +empörend verbrecherisch. Der „Venustempel” zeigte sich als +ein scheußliches, auf die niedrigste Sinnenlust berechnetes +Unternehmen mit zotenhaften Beschreibungen und entsetzlich +nackten, aufregenden Abbildungen. Beigegeben war eine +Hausapotheke für Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen +verdient wurden, die mir fast unglaublich erschienen. Diese +schamlosen Hefte und Bilder lagen überall umher. Die +Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier +Töchter Münchmeyers, damals noch im Schul- und +Kindesalter, lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau +Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: „Was +denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine Masse +Geld!” Ich nahm mir vor, dies müsse entweder anders werden +oder ich würde ohne Kündigung wieder fortgehen. Was den +„Beobachter an der Elbe” betrifft, dessen Redaktion ich +übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick, +daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so +vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen das Blatt +eingehen, und ich gründete drei andere an seiner Stelle, +nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter, +welche „Deutsches Familienblatt” und „Feierstunden” betitelt +waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt für Berg-, +Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die Ueberschrift +„Schacht und Hütte” gab. Diese drei Blätter waren +darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der +Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und +Herzen zu bringen. In Beziehung auf „Schacht und Hütte” +bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die großen +Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür zu +interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis +war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte. +Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu +Weihnachten ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab +sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, +mußte sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen +lassen.</p> + +<p>In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß +Münchmeyer von auswärtigen Behörden wegen der +Verbreitung des „Venustempels” angezeigt wurde. Verfasser +dieses Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, der +nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil dieser ihn +an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht partizipieren +ließ. Das Buch enthielt eine lüstern geschriebene +Abteilung über „die Prostitution”, die zu Polizeianzeigen +allerdings direkt herausforderte. Es wurde Münchmeyer von +irgend einer Seite verraten, von welcher, das weiß ich +nicht, daß eine Haussuchung nach dem „Venustempel” +stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte +Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu +verhüten. Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir +aber sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen +Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte ganze +Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern +Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte jede +verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der gefährdeten +Bücher in die Privatwohnungen und verbarg sie sogar unter +den Betten der Kinder. Das ging so schnell und gelang so gut, +daß die Polizei, als sie sich einstellte, kaum eine ganz +geringe Nachlese fand, und noch lange hat man sich im +Münchmeyerschen Hause des Schnippchens gerühmt, welches +damals der sonst so findigen Dresdener Behörde geschlagen +worden sei. Ich erfuhr erst später, viel später hiervon +und zog meine Konsequenzen. Meines Bleibens war hier nicht. Ich +wollte aus dem Abgrund heraus, nicht aber wieder hinunter!</p> + +<p>Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig +gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die +Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag +zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir, +daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb, +so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann +gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten +Blätter mit der Ausführung meiner literarischen +Pläne. Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser +Beziehung mein Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, +nämlich auf die Indianer und auf die islamitischen Volker +richten wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das +„Deutsche Familienblatt” für die Indianer und die +„Feierstunden” für den Orient. Im ersteren Blatte begann +ich sofort mit „Winnetou”, nannte ihn aber einem anderen +Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich +war überzeugt, daß diese beiden Blätter eine +Zukunft hätten, und ich bildete mir ein, für eine ganze +Reihe von Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da +gab es Raum und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz +selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, +die ich wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich +bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, weit +ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes +Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt war, +ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine Anerkennung, eine +Förderung bedeuten. Man machte mir nämlich, um mich an +die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau +Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen, +meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als +Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau +Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte +grad das Gegenteil. Ich sagte „nein” und kündigte, denn +nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben +konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen +Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das +Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen zu +schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das Vierteljahr +vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht +von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im +geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige +Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt +berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht +geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und +Münchmeyer, der Verleger des „Venustempels”, wegen dieses +Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man +mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses +Venustempels hineingeheiratet zu haben!</p> + +<p>Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte +ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein +verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und +lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz +eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses +meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare +Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als +körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein +Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser +meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine +häßliche Person schön und eine schöne +häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir +die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren +Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht +begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie +abstoßend wirken; ich kann nichts dafür. Und mit dem +Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine +andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich, +vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich +eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um +meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich +über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende +stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden +sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler +und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die +man bald als Barbier, bald als Feldscheer <tt>[sic]</tt>, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er +barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch +weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine +Tochter, die man für das schönste Mädchen der +beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt +begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch +zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine +dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für +eine Leiche sei.</p> + +<p>„Pollmers Tochter,” antwortete eine der beiden ersten +Frauen.</p> + +<p>„Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die +gestorben?”</p> + +<p>„An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses +wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem +die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann +nur Unheil.”</p> + +<p>„Was ist denn der Vater?”</p> + +<p>„Der? Es hat ja keinen!”</p> + +<p>„Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich +besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!”</p> + +<p>Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus. +Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der +Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den +Armen trug. Das war das Kind, der „Nickel”, der seine eigene +Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich +verstand von dem allem nichts. Was weiß ein +vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von +Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und +ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich +später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage, +warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und +schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. +Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was +die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von +Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis und an den +unglückseligen „Nickel” dachte. Sobald ich später +über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz +unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube +des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren +sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens, +herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das +Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas +Wohltuendes noch etwas Fürchterliches an sich. Später +begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten, +hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr +zwölfjähriges Mädchen an der Hand führte. Das +war der alte Pollmer mit seinem „Nickel”. Der Alte sah sehr +ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte +gar nichts an sich, was verriet, „daß seine Mutter an ihm +gestorben war”. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen, +als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen, +überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig +gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß +dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur +unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei +meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen +einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein +„Fräulein Pollmer” befand. Das war der „Nickel”; aber er +sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und +bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer +Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir. +Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz +eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort +über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, +gar nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so +herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das +gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, +nämlich Pollmer, meine „Geographischen Predigten” gelesen +hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie +erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den +Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur +einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag +psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste +oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land +war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, +dieses Land kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer +wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich +nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn +und eigentlich viel weniger als das.</p> + +<p>Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie +hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt, +mich nach der Lektüre meiner „Predigten” nun auch +persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir befriedigt zu +sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich +tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann, +als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging, +sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen +verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich +bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte +jemals gedacht, daß ich mit dem „Nickel”, der Einem „nur +Unheil bringt”, in Korrespondenz treten würde!</p> + +<p>Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten +Eindruck. Sie sprach da von meinem „schönen, hochwichtigen +Beruf”, von meinen „herrlichen Aufgaben”, von meinen „edlen +Zielen und Idealen”. Sie zitierte Stellen aus meinen +„Geographischen Predigten” und knüpfte Gedanken daran, +deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur +Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur +ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter, +solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht +möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu +halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lobe +„Fräulein Pollmers” über und lud mich für die +Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich +vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten +freundlich gesinnt gewesen ist und daß ich vor der Stelle, +an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht +entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort +verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf +Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat +einstellte, um das Seelenstudium des „Nickels”, der nun „mein +Nickel” werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu +dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie +sonst nur auf der Bühne zu sein pflegt. Nämlich als +Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und +lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer, +und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. +Ich wußte, daß er sich überall nur höchst +lobend über mich aussprach, und daß meine Vorstrafen +ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten, +vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte +auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und +wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt und daß er ganz +märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung +hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlende +Beaut<tt>é</tt>s der größte Reichtum ihrer +Familie seien und nur möglichst reich und vornehm +verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich +konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine +Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und +vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einflusse zu +entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu +Mittag zu essen:</p> + +<p>„Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht +nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen +darf.”</p> + +<p>Er horchte überrascht auf.</p> + +<p>„Um Emmas willen?” fragte er.</p> + +<p>„Ja.”</p> + +<p>„Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie +sie etwa heiraten?”</p> + +<p>„Allerdings.”</p> + +<p>„Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist aber +doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie dazu?”</p> + +<p>„Sie ist einverstanden.”</p> + +<p>Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot im Gesicht und +rief aus:</p> + +<p>„Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht +dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem +armen Teufel durch das Leben schindet! Die kann andere +Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten, +der, wenn es gut geht, nur von seiner Berühmtheit und nur +vom Hunger lebt!”</p> + +<p>„Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?” fragte +ich. „Das würde ich gelten lassen!”</p> + +<p>„Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen +Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das Zuchthaus +gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz andere +Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!”</p> + +<p>Er rief das sehr laut aus.</p> + +<p>„Oho!” antwortete ich.</p> + +<p>„Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole Ihnen, Sie +bekommen meine Tochter nicht!”</p> + +<p>Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck zu +verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. Es juckte +mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die Achsel zu legen +und ihm lachend zu sagen: „Gut, so behalten Sie sie!” Aber +dagegen bäumte sich das väterliche Erbteil in mir auf, +der zähe, unbedachte Zorn, der niemals das Richtige tut. Ich +brauste nun auch auf:</p> + +<p>„Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!”</p> + +<p>„Versuchen Sie das!”</p> + +<p>„Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde es tun, +wirklich tun!”</p> + +<p>Da lachte er.</p> + +<p>„Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte mir von +jetzt an jeden Besuch!”</p> + +<p>„Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage Ihnen im +voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu mir kommen und +mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt aber leben Sie wohl!”</p> + +<p>„Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!”</p> + +<p>Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte sie seiner +Tochter. Die lauteten: „Entscheide zwischen mir und Deinem +Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; wählst Du +mich, so komm sofort nach Dresden!” Dann reiste ich ab. Sie +wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen +hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich +fühlte mich als Sieger. Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, +die zwei erwachsene, hochgebildete Töchter besaß. +Durch den Umgang mit diesen Damen wurde es ihr möglich, sich +Alles, was sie noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von +da aus bekam sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft +führen zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit +sehr gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr +anständige Honorare. Ich hatte mit meinen +„Reiseerzählungen” begonnen, die sofort in Paris und Tours +auch in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich +herum; das imponierte sogar dem „alten Pollmer”. Er hörte +von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender, +vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da schrieb er an seine +Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen +verlassen hatte, und forderte sie auf, nach Hohenstein zu kommen, +ihn zu besuchen, mich aber mitzubringen. Sie erfüllte ihm +diesen Wunsch, und ich begleitete sie. Aber ich ging nicht zu +ihm, sondern nach Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach +mir; ich aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt +habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse er +persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!</p> + +<p>Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von +mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt, +daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen +werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese +Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen worden +war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer Verheiratung bei ihm in +Hohenstein zu bleiben. Ich hatte nichts dagegen und gab mein +Logis in Dresden auf, um bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es +war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und +äußerer Entwicklungen für mich. Ich schrieb und +machte Reisen. Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr +ich, kaum aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der +„alte Pollmer” gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. +Ich eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel gesagt. Er +war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber weder sprechen noch +sich bewegen. Sein Enkelkind saß in einer seitwärts +liegenden Stube bei einer klingenden Beschäftigung. Sie +hatte nach seinem Gelde gesucht und es gefunden. Es war nicht +viel; ich glaube kaum zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, +zu dem Kranken hinüber. Er erkannte mich und wollte reden, +brachte es aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem +Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde Arzt. +Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen untersucht, tat +dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, daß alle +Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt hatte, glitt die +Tochter des Sterbenden vor mir nieder und bat mich, sie ja nicht +zu verlassen. Ich versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich +habe sogar noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt, +in Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine Etage des +oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich leben +können, wenn uns ein solches Glück beschieden gewesen +wäre.</p> + +<p>Ich schrieb damals schon einige Jahre für Pustet in +Regensburg, in dessen „Deutschem Hausschatz” meine +„Reiseerzählungen” erschienen. Die Firma Pustet ist eine +katholische und der „Deutsche Hausschatz” ein katholisches +Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war +mir höchst gleichgültig. Der Grund, warum ich dieser +hochanständigen Firma treugeblieben bin, war kein +konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher. +Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei der +zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur Vinzenz +Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine +Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen Verlag +senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren +Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe er +sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel Geld! Es +wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem ein solches +Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden darauf ein. Rund +zwanzig Jahre lang ist das Honorar, wenn ich das Manuskript heute +zur Post sandte, genau übermorgen eingetroffen. Ich erinnere +mich keines einzigen Males, daß es später gekommen +wäre. Und niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch +nur die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe nie +mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und als Pustet es +mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus eigenem, freiem +Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf bezüglichen +Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern bleibt man +treu, auch ohne nach ihrem Glauben und ihrer Konfession zu +fragen.</p> + +<p>Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für +mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt +waren und sicher an- und aufgenommen wurden. Das machte es mir +möglich, meine auf die „Reiseerzählungen” +bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es war +mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit hinaus +sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen dann +später in Buchform herausgeben würde, war eine Frage, +die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt feindselige +Menschen, welche behaupten, daß ich mich nur um des Geldes +willen an diesen katholischen Verlag herangemacht habe. Das ist +eine Unwahrheit, für deren Gewissenlosigkeit und +Verwerflichkeit ich keine Worte finde. Ich habe ganz das +Gegenteil von dem getan, dessen man mich da beschuldigt. Ich habe +dem „Deutschen Hausschatz” und seinem Herausgeber Opfer +gebracht, von deren Größe die Familie Pustet keine +Ahnung hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef +Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem +ich sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich schrieb. Es +handelte sich um die bei Spemann in Stuttgart erscheinende Revue +„Vom Fels zum Meere”, für welche ich mitgearbeitet habe. +Der Brief lautet wie folgt:</p> + +<p class="center"> +„Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="letter"> +Sie haben inzwischen schon wieder für andere +Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich mit +dem längst Versprochenen noch immer im Stiche ließen. +Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte Sie dringend, nun +Ihr Versprechen mir gegenüber wahr zu machen. Ich will diese +Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, +ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden, +fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich +würde I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend +Mark pro „Fels”-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas +Derartiges schreiben würden.</p> + +<p class="center"> +In vorzüglicher Hochachtung +</p> + +<p class="right"> +Ihr ergebenster <br/> +Josef Kürschner. +</p> + +<p>Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war gegen diese +tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich scheue, seinen +Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet trotzdem vorgezogen habe, +so ist das ein gewiß wohl mehr als hinreichender Beweis, +daß ich für den „Hausschatz” nicht geschrieben habe, +um „mehr Geld zu machen, als ich von Andern bekam”. Auch meine +andern Verleger zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß +ich, um diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, +hiermit konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner +Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich +habe, der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet +zurück zu Münchmeyer zu wenden.</p> + +<p>Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau auf einer +Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte ihr Münchmeyer so +lebhaft geschildert, daß sie sich ein ganz richtiges Bild +von ihm machen konnte, obgleich sie ihn noch nicht gesehen hatte. +Sie wünschte aber sehr, ihn kennen zu lernen, von dem ihr +auch Andere gesagt hatten, daß er ein hübscher Kerl, +ein glanzvoller Unterhalter und für schöne Frauen +begeistert sei. Er pflegte in dieser Jahreszeit um die +Dämmerstunde in einer bestimmten Gartenrestauration zu +verkehren. Als ich ihr das sagte, bat sie mich, sie +hinzuführen. Ich tat es, obgleich es mir widerstrebte, ihm +diejenige zu zeigen, die ich seiner Schwägerin vorgezogen +hatte. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast +im ganzen Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig; +das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch +geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar so +zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den Kopf +in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich froh +und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er machte mir in +seiner Kolportageweise die unmöglichsten Komplimente, eine +so schöne Frau zu haben, und meiner Frau gratulierte er in +denselben Ausdrücken zu dem Glück, einen so schnell +berühmt gewordenen Mann zu besitzen. Er kannte meine +Erfolge, übertrieb sie aber, um uns beiden zu schmeicheln. +Er machte Eindruck auf meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er +begann, zu schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden. +Sie sei schön wie ein Engel, und sie solle sein +Rettungsengel werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in +seiner jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten, +indem sie mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und +nun erzählte er:</p> + +<p>Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen +passenden Redakteur für die von mir gegründeten +Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. +Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab; +sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte +überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust, +und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder +Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe +soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen +oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien +wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse +er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch +einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute +Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in +seinen Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese +derben Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau +vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch +zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise +vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen +schlimmen Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles +außerordentlich gut gestanden; aber daß ich seine +Schwägerin nicht habe heiraten wollen und aus der Redaktion +gegangen sei, das habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das +wieder gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu +verpflichtet, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.</p> + +<p>Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich gar +wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte damals meine +Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau Münchmeyer zu +heiraten, für so selbstverständlich gehalten, daß +überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß ich +den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen, +sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche +Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld +trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz +dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß +wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde auseinander +gegangen waren. Es konnte also wohl einen geschäftlichen, +nicht aber einen persönlichen Grund geben, seinen Wunsch +zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher Beziehung +lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. Zeit hatte ich; +ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In dem Umstand, daß +Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für +mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen +Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas +Besseres sein, eine organische Folge von Reiseerzählungen, +wie ich sie Pustet und anderen Verlegern lieferte. Tat ich das, +so war damit zugleich auch meinem Lebenswerke gedient, und ich +konnte das, was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso +später für mich in Bänden erscheinen lassen, wie +das für meine Hausschatzerzählungen bestimmt worden +war.</p> + +<p>Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während +Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. Ich +erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht +entschließen können, den gewünschten Roman zu +schreiben, doch nur unter der Bedingung, daß er nach einer +bestimmten Zeit mit sämtlichen Rechten wieder an mich +zurückfalle. Es dürfe an meinem Manuskripte absolut +kein Wort geändert werden; das wisse er ja von früher +her. Münchmeyer erklärte, hierauf einzugehen, doch +möge ich ihn mit dem Honorar nicht drücken. Er sei in +Not und könne nicht viel zahlen. Später, wenn mein +Roman gut einschlage, könne er das durch eine „feine +Gratifikation” ausgleichen. Das klang ja gut. Er bat, ihm keine +Zeit zu setzen, an welcher der Roman wieder an mich +zurückzufallen habe, sondern lieber eine Abonnentenzahl, +nach welcher, sobald sie erreicht worden sei, er aufzuhören +und mir meine Rechte wiederzugeben habe. Er berechnete, daß +er mit sechs- bis siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung +komme; was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug +ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, solle +Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten gehen +dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine „feine +Gratifikation” zu zahlen, und der Roman falle mit allen Rechten +an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das entsprechende +Honorar bei ihm oder bei einem anderen Verleger weiter erscheinen +lasse, sei lediglich meine Sache. Hierauf ging Münchmeyer +sofort ein, ich aber gab meine Zusage noch nicht definitiv; ich +erklärte, mir die Sache erst noch reiflich überlegen +und meine Entscheidung dann morgen geben zu wollen.</p> + +<p>Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser Hotel, +um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, halb freiwillig +und halb gezwungen. Meine Frau hatte nicht nachgelassen, bis ich +ihr das Versprechen gab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er +bekam den Roman zu den erwünschten Bedingungen, nämlich +nur bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er +für die Nummer 35 Mark zu bezahlen und beim Schluß +eine „feine Gratifikation”. Er gab den Handschlag. Unser +Kontrakt war also kein schriftlicher, sondern ein +mündlicher. Er sagte, wir seien beide ehrliche Männer +und würden einander nie betrügen. Es klinge für +ihn wie eine Beleidigung, von ihm eine Unterschrift zu verlangen. +Ich ging aus zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich +erstens durften nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel +eines Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt +werden; Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich +sein wollte, nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens +konnte ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht +und unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine +Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so +einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles +enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das habe ich +denn auch getan und seine Antworten mir heilig aufgehoben.</p> + +<p>Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort +beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst nach +Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine Frau +trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er hatte eine +persönliche Vorliebe für den nichtssagenden Titel „Das +Waldröschen”. Ich ging auch hierauf ein, hütete mich +aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen zu machen. Schon +nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman +„ging”. Dieses „ging” ist ein Fachausdruck, welcher einen +nicht gewöhnlichen Erfolg bedeutet. Ich bekam weder +Korrektur noch Revision zu lesen, und das war mir ganz lieb, denn +ich hatte keine Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil +sie mich verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare +nach Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit war +ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine Gelegenheit, +mein Originalmanuskript mit dem Druck zu vergleichen, aber das +machte mir keine Sorge. Es war ja bestimmt worden, daß mir +kein Wort geändert werden dürfe, und ich besaß +damals die Vertrauensseligkeit, dies für genügend zu +halten.</p> + +<p>Der Erfolg des „Waldröschens” schien nicht nur ein +guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer +zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er schrieb +wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer Zeit +für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman +so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte +den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben, +sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner +Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken mit +Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell +wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich +keineswegs. Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit +mehr und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem +Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, dieser +Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, an der ich +geboren worden war, seßhaft niedergelassen, sondern mir +auch eine Frau von dort genommen. Ich war für einige Zeit +geneigt gewesen, den Inhalt dieser Buchstelle als Aberglauben zu +betrachten, sah sie aber gar bald wieder mit dem Auge des +Psychologen an und wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen +gezwungen, einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer +unbedingt leichter über trübe Gewässer +hinüberlangt, als wenn er eine zweite Person mitzunehmen +hat, die weder schwimmen kann noch schwimmen will. Darum war mir +diese Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht +nicht nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir +Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da +sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es +entwickelte sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr +zwischen ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast +keine Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell +vorwärts, und sein Erfolg wuchs derart, daß +Münchmeyer mich bat, noch einen zweiten und womöglich +noch einige weitere zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß +meine Entscheidung über diesen seinen Wunsch eine für +mich hochwichtige sei und daß sie mir, falls sie bejahend +ausfallen sollte, zu einer Quelle unsagbaren Elendes und +unaussprechlicher Qual werden könne. Ich betrachtete nur die +angeblichen Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.</p> + +<p>Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus meinen +literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte diese +Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. Er +erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht +ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm +aufgab. Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein freier +Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, das zu tun, was +ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich brauchte das, was ich +schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge +auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg +hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman +erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte +mich. Hierzu kam das beständige Zureden meiner Frau, welche +die geringen Einwände, die ich zu erheben hatte, sehr leicht +zum Schweigen brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch +einige Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen +wie das „Waldröschen”. Diese Arbeiten hatten mir also auch +nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten mit allen Rechten wieder +zuzufallen, und dann war mir eine „feine Gratifikation” zu +zahlen. Es gab nur eine einzige Aenderung, nämlich die, +daß ich für diese Romane ein Honorar von fünfzig +Mark pro Heft bezog, anstatt nur fünfunddreißig bei +dem „Waldröschen”.</p> + +<p>Infolge dieser Abmachungen begann für mich von jetzt an +eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, zugleich aber +auch nicht ohne tiefe Beschämung denken kann. Ich frage +nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit blamiere; meine +Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter nichts. Es war ein +fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich damals arbeitete. Ich +brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach +Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von +ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu +finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig +durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu +schreiben. Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich +weder rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war +es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es +für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das, +welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so viel +und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß +ermöglichte es mir, zu vergessen, daß ich mich in +meinem Lebensglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer +lebte, als es vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, +innere Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede +auszufüllen, zu rastlosem Fleiße und machte mich +leider gleichgültig gegen die Notwendigkeit, +geschäftlich vorsichtig zu sein. Es kam bei Münchmeyer +so viel vor, was mich veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, +daß mehr als genugsam Grund vorlag, die Zukunft und +Integrität alles dessen, was ich für ihn schrieb, so +sicher wie möglich zu stellen. Daß ich hieran nicht +dachte, war ein Fehler, den ich zwar entschuldigen, mir aber +selbst heut noch nicht verzeihen kann.</p> + +<p>Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. Er hatte sich +in Blasewitz eine Art Gar<tt>ç</tt>onlogis gemietet, um +seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns verbringen zu +können. Er kam auch an Abenden der andern Tage und brachte +fast immer seinen Bruder, sehr oft auch andere Personen mit. Er +wünschte zwar, daß ich mich dadurch ja nicht in meiner +Arbeit stören lassen möge, doch konnte mich das nicht +hindern, Herr meiner Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies +nicht mehr möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und +aus Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue Wohnung +lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen, und mein +neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und +Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm +und überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause. +Grad das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und +äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. +Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür +aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen von +Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen durch +Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen waren ihr vom Arzt +geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte. Ich +mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil +dies der Wunsch meiner Frau war, deren Gründe ich leider +nicht zu würdigen verstand. Sie fand sich nicht in die +Abgeschiedenheit unserer jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit +dem Wirte. Ich mußte kündigen. Wir zogen aus, nach +einer Radauwohnung des amerikanischen Viertels, die über +einer Kneipe lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da +wurde sie krank. Der Arzt riet ihr sehr frühe +Spaziergänge nach dem großen Garten, dem weltbekannten +Dresdener Park. Solchen ärztlichen Verordnungen hat man zu +gehorchen. Es gab für mich keinen Grund, diese +Spaziergänge zu verhindern, die morgens vier bis fünf +Uhr begannen und ungefähr drei Stunden währten. Ich +wußte nicht, daß Frau Münchmeyer auch nicht +gesund war und daß auch sie von ihrem Arzt die Weisung +erhalten hatte, frühe Morgenspaziergänge nach dem +Großen Garten zu machen. Erst nach langer, sehr langer Zeit +erfuhr ich, was während dieser Spaziergänge geschehen +war. Meine Frau war mir nicht nur seelisch, sondern auch +geschäftlich verloren gegangen. Die beiden Damen saßen +tagtäglich früh morgens in einer Konditorei des +großen Gartens und trieben eine Hausfrauen- und +Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich erst später +verspürte. Ich machte Schluß und zog von Dresden fort, +nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt seiner +Vorortsperipherie.</p> + +<p>Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane für +Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf +geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn man +später vor Gericht behauptet hat, daß ich für +Münchmeyer nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so +bitte ich, mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und +zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat. +Hiermit sei für heut mit meiner „Kolportagezeit” +abgeschlossen. -- -- -- +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap07"></a>VII.<br/> +Meine Werke.</h2> + +<p class="noindent"> +Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich diejenigen meiner Bücher, +mit denen sich die Kritik beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen, +über welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen hat, können auch +hier übergangen werden. Zu diesen gehören meine Humoresken, meine +erzgebirgischen Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den +Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu sein. Ich könnte hierzu +auch noch meine „Himmelsgedanken” rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen +scheint, seit es Herrn Herman <tt>[sic]</tt> Cardauns +passierte, daß er sich mit ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb +bekanntlich: „Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,” +obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges lyrisches Gedicht +befindet! Auch meine sogenannten „Union- oder Spemannbände” brauche ich hier +nicht zu besprechen, weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur +als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die einzigen Sachen sind, +die ich für die Jugend geschrieben habe. Es handelt sich also nur um die +Fehsenfeldschen „Reiseerzählungen” und um die bei Münchmeyer erschienenen +„Schundromane”, welch letztere im nächsten Kapitel behandelt werden. +</p> + +<p>Meine „Reiseerzählungen” haben, wie bereits +erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel +Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der +Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege +soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis +des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die +Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum +beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der +„Wüste”. In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der +völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die +Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das +„Ich”, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die +Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, +ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen +Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten +Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei, +obgleich er schließlich zugeben muß, daß er +noch niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo +man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man sieht, +daß ich ein echt deutsches, also einheimisches, +psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand +kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen +zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte, +daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also +bildlich resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus +oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. Meine Bilder +sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter ihnen gar +nichts Mystisches zu verstecken vermag.</p> + +<p>Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt und auch +seinen Vater und Großvater noch als Hadschis hinten +anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich für +die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst zu +wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen hat. Dies +geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im +gelehrten Leben alltäglich, aber man ist derart blind +für diesen Fehler, daß ich eben arabische Personen und +arabische Zustände herbeiziehen muß, um diese blinden +Augen sehend zu machen. Ich schicke darum diesen Halef gleich in +den ersten Kapiteln nach Mekka, wodurch seine Lüge zur +Wahrheit wird, weil er nun wirklich Hadschi ist, und lasse ihn +dann sofort seine „Seele” kennen lernen -- -- -- Hannah <tt>[sic]</tt>, sein Weib.</p> + +<p>Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem ersten +Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und wie man meine +Bücher lesen muß, um ihren wirklichen Inhalt kennen zu +lernen. Ein zweites Beispiel mag folgen: Kara Ben Nemsi befindet +sich bei dem persischen Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll +von dem Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der Ustad, +der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum Schah, um ihn um +Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat aber den Schah noch nicht +erreicht, so kommen ihm schon die Heerscharen desselben entgegen, +die ihm sagen, daß sie vom Schah gesandt worden seien, den +Dschamikun Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des +Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah ist +aber Gott, und so interpretiere ich durch diese Erzählung +die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: „Euer Vater +weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn bittet!” +Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl May, und die +Dschamikun sind das Volk seiner Leser, welches von den Sillan +vernichtet werden soll. Ich erzähle also rein deutsche +Begebenheiten im persischen Gewande und mache sie dadurch +für Freund und Feind verständlich. Ist das nicht +Gleichnis? Nicht bildlich? Gewiß! Und ist es etwa mystisch? +Nicht im Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so +wenig mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das +Erstere bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch +erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will. +Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher Absicht +an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres finden, +daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. Und ist +er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben ihm ganz sicher +die zahlreichen Himmelsmärchen nicht verborgen, die in +diesen Gleichnissen eingestreut liegen und den eigentlichen, +tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen zu bilden haben. +Diese Märchen sind es auch, aus denen sich mein eigentliches +Lebenswerk am Schlusse meiner letzten Tage zu entwickeln hat.</p> + +<p>Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi +Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von +der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals wiedergefunden +werden kann, außer sie findet sich selbst. Und dieser +Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May! +Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine +eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und +so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden +ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich gewisse +Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht werden, +keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es einmal wagen, so +offen über sich selbst zu sprechen wie ich über mich, +so würde das sogenannte Karl May-Problem schon längst +in jenes Stadium getreten sein, in welches es zu treten hat, mag +man wollen oder nicht. Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein +Gleichnis. Es ist nichts Anderes, als jenes große, +allgemeine Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon +ungezählte Millionen gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares +zu erreichen. Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir +herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der traurigen +Karikatur, als die ich in den Gehirnen und in den Schriften Derer +lebe, die sich berufen wähnen, Probleme zu lösen, dies +aber immer nur da tun, wo keine vorhanden sind.</p> + +<p>Ich nenne ferner das Märchen von „Marah Durimeh”, der +Menschheitsseele, von „Schakara”, der edlen, gottgesandten +Frauenseele, der ich die Gestalt meiner jetzigen Frau gegeben +habe. Das Märchen vom „erlösten Teufel”, vom +„eingemauerten Herrgott”, vom „versteinerten Gebete”, von den +„verkalkten Seelen”, von den „Rosensäulen des +Beit-Ullah”, von dem „Sprung in die Vergangenheit”, von der +„Dschemma der Lebendigen und Toten”, von der „Schlacht am +Dschebel Allah”, vom „Mahalamasee”, vom „Berg der +Königsgräber”, vom „Mir von +Dsch<tt>î</tt>nnistan”, vom „Mir von Ardistan”, von der +„Stadt der Verstorbenen”, vom „Dschebel Muchallis”, von der +„Wasserscheide von El Hadd” und noch viele, viele andere. Wie +man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren +Inhalte meine Bücher als „Jugendschriften” und mich als +„Jugendschriftsteller” bezeichnen kann, würde +unbegreiflich sein, wenn man nicht wüßte, daß +Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen +oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst „Winnetou”, der +so leicht zu lesen zu sein scheint, bedarf, wenn er sich im +vierten Bande zum Schlusse neigt, eines Nachdenkens und eines +Verständnisses, welches doch gewiß keinem Quartaner +und keinem Backfisch zuzutrauen ist! Wenn man trotzdem noch +ferner bei den Ausdrücken „Jugendschriften” und +„Jugendschriftsteller” bleibt, so muß ich das als einen +gewollten Unfug bezeichnen, zu dem sich kein anständiger, +ernster Kritiker hergeben wird.</p> + +<p>Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu, +daß meine „Reiseerzählungen” nicht als +Jugendschriften verfaßt worden sind, so ist der jetzt +landläufig gewordenen Behauptung, daß sie +schädlich sind, aller Boden entzogen. Es lese sie doch nur +der, dem sie nicht schädlich sind; ich zwinge ja keinen +Andern dazu! Weshalb und wozu die Vorwürfe alle, die man mir +jetzt in hunderten von Zeitungen macht? Sieht man sich diese +Vorwürfe aber genauer an, so verlieren sie allen Wert. +Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist so +Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder in das +Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht nur Mode, sondern +Mache! Selbst wenn meine Bücher jetzt von keinem Menschen +mehr gelesen würden, könnte mich das doch nicht im +Geringsten beunruhigen, denn ich weiß, daß man sehr +bald hinter diese Mache kommen und sich demgemäß +verhalten wird. Ja, hätte ich meinen Lesern bloß nur +Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte ich von der +Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder aufzutauchen, und +würde ganz von selbst so verständig sein, mich darein +zu ergeben. Aber <b>ich habe während meines „Lebens und +Strebens” allzu viele und allzu große Fehler begangen, als +daß ich so mir nichts, dir nichts untergehen und für +immer verschwinden dürfte. Ich habe gutzumachen!</b> Was der +Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu +sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels +erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod +hinüberzunehmen, sondern sie schon hier zu bezahlen. Das +will ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, ich +behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem irdischen +Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was es von mir +zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr schuldig. Und was +über diese von Menschen gestellten Paragraphen hinausgeht, +das werde ich begleichen, indem ich das, was ich noch schreiben +werde, dem großen Gläubiger widme, der ganz genau +weiß, ob ich ihm mehr als jene Andern schuldig bin, die +sich besser dünken als May.</p> + +<p>Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit +sie mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber +auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich mir +keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen +„Reiseerzählungen” erreicht habe, wird erst nach meinem +Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, die aber +selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen bekommt; +veröffentlicht werden sie nicht. Man pries diese Werke und +schwärmte für sie, bis es eines Tages einem +gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu behaupten, +daß ich außer ihnen auch noch andere, aber +„abgrundtief” unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst wenn +dies wahr gewesen wäre, hätte das die +„Reiseerzählungen” weder innerlich noch +äußerlich im Geringsten verändern können. +Dennoch wurden sie von jenem Tage an zunächst mit +Mißtrauen betrachtet, dann mehr und mehr verleumdet und +endlich gar für direkt schädlich erklärt und aus +den Bibliotheken gestoßen, in denen sie früher +willkommen geheißen worden waren. Warum? Waren sie anders +geworden? Nein! Hatten sich die bibliographischen +Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze verändert? Nein! +Waren die Bedürfnisse der Leser andere geworden? Auch nicht! +Aber aus welchem Grunde denn sonst? Einfach einer Schund- und +Kolportageklique wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie +sich selbst auszudrücken pflegte, „kaput zu machen”. Aber +ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique +einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf +Literatur und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe im +nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte +scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen +Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu gebärden! +Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen meiner +Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang mit allen +möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage aber noch +nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten Vorwurf gemacht +haben. Ich bezeichne das als eine Schande!</p> + +<p>Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich +fünfzig Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das +ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt. +Ein einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, kann +dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten, und es +gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma Münchmeyer +achtundfünfzig -- man lese und staune -- achtundfünfzig +solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! Man rechne; man +multipliziere! Welche Verluste! Welch eine ungeheure Summe von +Gift und Unheil! Wie viel hunderte, ja tausende von Menschen +arbeiten daran, dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und +nun schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den +Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich +macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet, +verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May, immer wieder +Karl May und nur und nur Karl May! Wo sieht und liest man jemals +einen andern Namen, als nur diesen einen? Was habe ich denn +getan, daß man mich überhaupt zum Schunde zählt? +Wo stecken die zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, +welche jahraus, jahrein rastlos dafür sorgen, daß in +Deutschland und Deutschösterreich der Schund kein Ende +nimmt? Vor Gericht, in „wissenschaftlichen” Werken, bei +Kommissionssitzungen, in öffentlichen Vorträgen, von +Schriftstellern, Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, +Künstlern, Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden +Gelegenheiten, wo von „Jugendverderbnis” die Rede ist, da +bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, nur er! Er ist der +Typus der Jugendvergifter! Er ist der Vater aller ruchlosen +Kapitän Thürmers, Nick Carters und Buffalo Bills! Mein +Gott, wissen diese Herren denn wirklich nicht, was sie tun? Wie +sie sich versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser +wissen, von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen Fall, +wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, daß Jemand +durch eines meiner Bücher verdorben worden ist! Hunderte von +Schundgeschichten der verderblichsten Art hat so ein Bube +gelesen, dabei auch einen Band oder einige Bände von Karl +May. Den kennt man, die Andern aber nicht; darum muß er es +sein, dessen Namen man nennt und den man als Täter +bezeichnet! Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus +fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt, +auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen +Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das +ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und +vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum nennt man +ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie nicht fest? Es gibt +hunderte von Verlegern und Literaten, die wegen Verbreitung von +unzüchtigen Schriften bestraft worden sind. Und noch +größer ist die Zahl derer, die in voller Absicht +Jugendschund herausgeben, nur um Geld zu machen. Warum nennt man +sie nicht? Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem man +ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke duldet? Warum +wirft man sich nicht auf sie, sondern nur auf mich, den +Sündenbock für den ganzen literarischen Mob? Sehr +einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! Und es kann nichts +Anderes als Mache sein, weil so viel, wie man auf mich wirft, +kein Einzelner zu begehen vermag! Ich habe das im nächsten +Kapitel des Näheren zu beleuchten.</p> + +<p>Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, sind bisher +immer nur Behauptungen gewesen. Zu keiner von ihnen wurde ein +wirklicher Beweis erbracht. Ich habe infolge dieser +Anschuldigungen Ungezählte meiner Leser brieflich oder +mündlich gefragt, ob es ihnen möglich ist, mir eine der +Reiseerzählungen oder eine Stelle aus ihnen zu nennen, von +der man behaupten darf, daß sie schädlich wirke. Es +hat mir Niemand auch nur eine einzige derartige Zeile nennen +können. Ist doch sogar meine unerbittlichste Gegnerin, die +„Kölnische Volkszeitung”, gezwungen gewesen, mir das +Attest auszustellen: „Alles für die Jugend +Anstößige <b>ist sorgfältig vermieden,</b> +obgleich Mays Werke <b>nicht etwa bloß für diese</b> +bestimmt sind; <b>viele tausend Erwachsene</b> haben aus diesen +bunten Bildern schon Erholung und Belehrung im reichsten +Maße geschöpft!” Schon aus diesem Atteste geht die +jetzige „Mache” hervor, denn meine Bücher sind seit jener +Zeit genau dieselben geblieben, und derselbe Herr, der dieses +öffentliche Zeugnis aus stellte <tt>[sic]</tt>, war der Erste, der dieser Mache +erlag und hat sich seitdem nicht wieder aufrichten +können.</p> + +<p>Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen mich +erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung des +nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion zu begehen, +die mir der von mir hoch und aufrichtig verehrte Herr aber wohl +verzeihen wird. Doktor Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli +dieses Jahres aus Krieglach:</p> + +<p class="center"> +„Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="letter"> +Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der Charlottenburger +Gerichtsverhandlung, und sobald wieder das Gericht, und zwar zu +Ihren Gunsten, entscheidet, werde ich mit größter +Freude davon Notiz nehmen.<br/> + Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als solcher +möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine Meinung zu sagen +darauf hin, in welcher Weise Sie sich am besten rechtfertigen +könnten.<br/> + Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles +ausschalten, was sich nicht sachlich auf die Anschuldigungen +bezieht. Das, was Sie aus Ihrer Jugendzeit selbst eingestanden +haben, ist damit wohl auch abgetan und würde Ihnen kaum ein +rechtlich denkender Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das +Gericht tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht +persönlich erlebt haben, daß es nur Erzählungen +in „Ichform” sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln. +So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu +erbringen, daß die berührten obszönen Stellen +nicht Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was die +Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen doch +Sachverständige entscheiden können, inwiefern es +Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete +Stoffe und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben mit +den neuen Auflagen verglichen, müßte doch klar zu +stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und der Stil der neu +eingefügten Sätze sich organisch an Ihre Art und an das +Buch anschließen oder nicht. Auf solche Wirklichkeiten, +meine ich, sollten Sie nun Ihre ganze Abwehr konzentrieren und +ununterbrochen drängen, daß die Dinge endlich vor +Gericht zur Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer +Freunde, die nur so im Allgemeinen herumreden über die +Vorzüge Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können +für die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere +Wirkung erzielen.<br/> + Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer gerichtlichen +Genugtuung zu kommen. Gelingt das nicht, so ist absolutes +Schweigen das Beste, und gelingt es, so muß doch auch die +Presse Ihrer jetzigen Gegner die gerichtliche Ehrenrettung +anerkennen und in das Volk tragen.<br/> + Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen Sie diese +Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen entspringt, und seien Sie +gegrüßt</p> + +<p class="center"> +von Ihrem ergebenen +</p> + +<p class="right"> + P e t e r R o s e g g e r.” +</p> + +<p class="letter"> +Krieglach, 2. 7. 1910. +</p> + +<p>Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende +und human denkende geistige Aristokrat, das, was er über +meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan betrachtet, +versteht sich ganz von selbst. In derartigen Bodensätzen und +Rückständen können nur niedrige Menschen waten. +Hierdurch habe ja auch ich selbst schon längst meinen Strich +gemacht und habe einen Jeden, der sich mit mir beschäftigt, +nach dem Maße zu beurteilen, welches mir hier in Roseggers +Brief gegeben wird. Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht +verziehen; das ist im Himmel und auf Erden Recht.</p> + +<p>Was die „Obszönitäten” und den Nachweis betrifft, +daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen +Gegenstand im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier +eine mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt. +Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese +unsittlichen Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir +zu beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so +selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen +Richter einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der +spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der +Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der +Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er +unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten +Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen +Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für +Münchmeyer das „Buch der Liebe” geschrieben zu haben. Wie +kann ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, +es wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der +wahnsinnige Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, daß +Peter Rosegger den berüchtigten „Venustempel” geschrieben +habe. Würde Rosegger den Beweis antreten, daß dies +eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man die +Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? Ich bin +überzeugt, das Letztere. Und so thue <tt>[sic]</tt> auch ich. Ich verlange die Vorlegung +meiner Originalmanuskripte. Einen andern Beweis kann es nicht +geben.</p> + +<p>Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate +betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: Der +Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe von +Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben und ihnen die +Drohung vorangeschickt, daß er mir mit ihnen einen Strick +drehen werde, um mich „aus dem Tempel der deutschen Kunst +hinauszupeitschen”. Er hat sich da des richtigen Bildes bedient, +denn jede seiner Behauptungen, mit denen er mich hierauf +überschüttete, war nichts weiter als ein +Peitschenknall, spitz, scharf, hart, lieblos und +tierquälerisch, darum die Leser empörend und ohne +Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer Knall mit der +Knabenpeitsche war es auch, als er mich des Plagiates bezichtigte +und sich erfolglose Mühe gab, die Wahrheit seiner Behauptung +zu beweisen. Er sprach da wie ein Unwissender und konnte darum +auch weiter nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit +erreichen. Die „Grazer Tagespost” schreibt hierüber:</p> + +<p>„Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich +unlängst in echt christlicher Demut selbst das +schmückende Beiwort eines „anerkannten Kritikers” +beilegte, hat die moralische Niederlage, die er in seiner +Schimpfschlacht gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, +sehr bald vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder +voll usw. usw.”</p> + +<p>Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten, +ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch +nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die +ich schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen +lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken +entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht sehr +häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann niemals +Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, liegt nur +dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile eines +Gedankenwerkes aneignet und diese in der Art verwendet, daß +sie dann wesentliche Bestandteile des Werkes des Plagiators +bilden und dabei als seine eigenen Gedanken erscheinen. So Etwas +habe ich aber nie getan und werde es auch nie tun. Geographische +Werke können, besonders wenn sie geistiges Allgemeingut +geworden sind, ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich +nicht um das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen +handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des +Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In +der Einleitung zum Voigtländerschen „Urheber- und +Verlagsrecht” heißt es:</p> + +<p>„Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus sich +selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was Andere vor ihm +oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben haben. Dann erst, im +besten Falle, beginnt seine ureigene Schöpfung. Selbst die +am meisten schöpferische Tätigkeit, die des Dichters, +steht dann am höchsten, erreicht dann ihre +größten Erfolge, wenn sie die Weihe der +künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich +sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form ist +ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird von der gebildeten +Sprache geliefert, „die für dich dichtet und denkt”, und +die Manchem, der sich Dichter zu sein dünkt, mehr als die +Form, die ihm auch Gedanken oder deren Schein leiht. Kurz, der +Schriftsteller und Künstler steht mit seinem Wissen und +Können inmitten und auf der Kulturarbeit von Jahrtausenden. +Goethe, auf einer einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht +Goethe geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet, +daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen Schritt hat +weiter bringen können, weil er an das von den Vorfahren +Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es nicht mehr als +billig, <b>daß sein Werk zur gegebenen Zeit wieder Andern +zu zwangslosem Gebrauche diene, nicht nur der Inhalt, sondern +auch die Form.</b>”</p> + +<p>So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm ist nicht zu +widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal begangen habe, was er +hier gestattet, bin also vollständig gerechtfertigt. Ein +anderer schreibt: „Alles ist mehr oder weniger Plagiat an +errungener Kultur-, Geistes- oder Phantasieproduktion. Der +Intellektadel, die obern Träger der Bildung und Kultur +schöpfen ja doch alle mehr oder minder aus <b>einem</b> +Reservoir, welches von den Leistungen Anderer, Früherer, +Größerer gespeist worden ist.”</p> + +<p>In Nr. 268 der „Feder”, der Halbmonatsschrift für +Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: „Aus den +Fingern kann sich der popularwissenschaftliche <tt>[sic]</tt> Schriftsteller nun einmal nichts +saugen, und bis zu einem gewissen Grade muß deshalb auch +Jeder ein Plagiator sein. Wenn das eigentliche +Gedankengebäude neu ist, dann ist man wohl berechtigt, +passende Zierformen von schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach +Emmerson ist <b>der größte Genius zugleich auch der +größte Entlehner.</b> Es kommt da ganz auf das Wie an. +<b>Man darf das Gute nehmen, wo man es findet,</b> wenn man einen +großen Zweck damit erreichen will; aber man darf es sich +nicht merken lassen; man muß mit dem Entlehnten etwas +wirklich Neues hervorbringen.”</p> + +<p>Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner +Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben hat. +Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn aus und +ließ das Stück ruhig unter seinem Namen erscheinen. +Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied aus dem +Freischütz: „Wir winden dir den Jungfernkranz” nicht von +Weber, sondern von einem fast ganz unbekannten Gothaer +Musikdirektor ist. Weber hörte es und nahm es in seinen +Freischütz auf, ohne sich etwas aus der Gefahr zu machen, +als Plagiator und Dieb bezeichnet zu werden. Shakespeare war +bekanntlich der größte literarische Entwender, den wir +kennen. Wenn es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen +ginge, würden sogar verschiedene Verfasser biblischer +Bücher als literarische Diebe bezeichnet werden müssen. +So könnte ich noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen +weiterführen, will mich aber damit begnügen, nur noch +unsern Allergrößten, den Altmeister Goethe und den +erfolgreichsten Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas +anzuführen. Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er +konnte ohne fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit +über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist +es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe „Der +Goldkäfer” zu den spannendsten Stellen in seinem „Grafen +Monte Christo” ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, so +zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich unter der +Ueberschrift „Goethe über das Plagiat” durch die Zeitungen +ging:</p> + +<p>„Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage +sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen, +absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der er +diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben Freund hat +Jedermann, der den glücklich entdeckten Plagiator an den +vermeintlichen Pranger stellt. Richard von Kralik ist +unlängst des Plagiates beschuldigt worden, weil er -- ohne +seine Schuld -- mangelhaft zitiert worden ist. Solchen +Plagiatschnüfflern möchten wir die Ansicht Goethes +über das Plagiat in das Gedächtnis rufen. Der +Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und Eckermann am 18. +Januar 1825 waren Lord Byrons angebliche Plagiate. Siehe +„Eckermanns Gespräche mit Goethe”, 3. Auflage Band +<tt>I</tt> S. 133. Da sagte Goethe: „Byron weiß sich auch +gegen dergleichen, ihn selbst betreffende unverständige +Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte +sich stärker dagegen ausdrücken sollen. <b>Was da ist, +das ist mein,</b> hätte er sagen sollen. <b>Ob ich es aus +dem Leben oder aus dem Buche genommen habe, das ist gleichviel; +es kam bloß darauf an, daß ich es richtig +gebrauchte!</b> Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem +„Egmont”, und er hatte ein Recht dazu, <b>und weil es mit +Verstand geschah, so ist er zu loben.</b> So hat er auch den +Charakter meiner „Mignon” in einem seiner Romane nachgebildet, +ob aber mit ebenso viel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord +Byrons „verwandelter Teufel” ist ein fortgesetzter +Mephistopheles, und das ist recht. Hätte er aus origineller +Grille ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen +müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von +Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir +die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von +Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat +daher auch die Exposition meines „Faust” mit der des „Hiob” +einige Aehnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin +deswegen eher zu loben als zu tadeln.”</p> + +<p>Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen. Was haben +unsere Berühmtesten getan, ohne daß man sie +beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich als den +niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt? Ich habe, +ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner kleinen, +asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen +geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, welche +ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit +angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes Recht. +Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft mich +öffentlich als einen <b>„Freibeuter auf +schriftstellerischem Gebiete, für ewige Zeiten das +Musterbeispiel eines literarischen Diebes!</b> Emerson, der +Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika, sagt: „Der +größte Genius ist zugleich auch der größte +Entlehner”. Und Goethe sagt: „Was da ist, das ist mein. Ob ich +es aus dem Leben oder aus dem Buche nehme, das ist gleich!” Wie +hätte da wohl das entsprechende Urteil Pater Pöllmanns +über diese beiden Heroen zu lauten? Sie hätten für +ihn „für ewige Zeiten die schlimmsten aller literarischen +Bestien” zu sein, stinkend vor Raubgier und Verworfenheit! Eine +Kritik, die so unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend +und so wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine +Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das +ganze Volk.</p> + +<p>Ich habe in diesen meinen „Reiseerzählungen” genau so +geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, für die +Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur für sie +allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben ist, soll +es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen und begreifen. +Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder. Ein +Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für Musterleser +schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals sein und niemals +werden. Haben wir es erst so weit gebracht, daß wir nur +noch Musterautoren, Musterleser und Musterbücher haben, dann +ist das Ende da! Ich bin so kühn, zu behaupten, daß +wir uns nicht die vorhandenen Musterbücher, sondern den +vorhandenen Schund zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen +wollen, was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben. +Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, +sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es +verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen! +Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke +und Ziele. Schreibt für die große Seele! Schreibt +nicht für die kleinen Geisterlein, für die Ihr Eure +Kraft verzettelt und verkrümelt, ohne daß sie es Euch +danken. Denn gebt Ihr Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall +zu erringen, so behaupten sie doch, es besser zu können als +Ihr, obgleich sie gar nichts können! Und schreibt nichts +Kleines, wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure +Augen empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es +zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen wohnt das +wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch Fehler macht, so +viele Fehler und so große Fehler wie Karl May, das schadet +nichts. Es ist besser, auf dem Wege zur Höhe zuweilen zu +stolpern und diese Höhe aber doch zu erreichen, als auf dem +Wege zur Tiefe nicht zu stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder +gar erhobenen Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen +Aequator immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst +anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu +sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale, hochgelegene +Haltepunkte und Ziele.</p> + +<p>Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und laufe +darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; aber ich +befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und was +ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche es nicht +zu wiederholen. Und ich habe schon so viele steile Höhen zu +überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich +für einen jener armen Teufel halten kann, die immer auf +ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt Leute, welche +meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt Andere, welche sagen, +ich habe keinen Stil; und es gibt Dritte, die behaupten, +daß ich allerdings einen Stil habe, aber es sei ein +außerordentlich schlechter. Die Wahrheit ist, daß ich +auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. Ich schreibe nieder, +was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie +ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie, und ich +feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein +„Stil”, sondern meine Seele soll zu den Lesern reden. Auch +befleißige ich mich keiner sogenannten künstlerischen +Form. Mein schriftstellerisches Gewand wurde von keinem Schneider +zugeschnitten, genäht und dann gar gebügelt. Es ist +Naturtuch. Ich werfe es über und drapiere es nach Bedarf +oder nach der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, was +ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche +Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will +nicht fesseln, nicht den Leser von außen festhalten, +sondern ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, +in sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann und +darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen noch +störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie mich die +Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das haben +mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt. +Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich +mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur allein +durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine Leser nicht +andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche +stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen +Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch +höhere Form zu geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt +skizziere ich noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie +sind.</p> + +<p>Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten +abgerechnet, in meinen Werken keine einzige Gestalt, die ich +künstlerisch durchgeführt und vollendet hatte, selbst +Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, über die ich doch am +meisten geschrieben habe. Ich bin ja mit mir selbst noch nicht +fertig, bin ein Werdender. Es ist in mir noch Alles in +Vorwärtsbewegung, und alle meine inneren Gestalten, alle +meine Sujets bewegen sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis +ich es erreicht habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine +Gedanken sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer Dichter +und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer großen +Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er innerlich reif +geworden ist, aber ich bin auch in dieser Beziehung als Outsider +zu betrachten, werde von Vielen sogar als Outlaw oder Outcast +bezeichnet und darf mir darum noch lange nicht erlauben, was +Andere sich gestatten. Was bei Andern selbstverständlich +ist, das ist bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und +was bei Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung gilt, +das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein einziges Mal etwas +künstlerisches schreiben wollen, mein „Babel und Bibel”. +Was war die Folge? Es ist als „elendes Machwerk” bezeichnet und +derart mit Spott und Hohn überschüttet worden, als ob +es von einem Harlekin oder Affen verfaßt worden sei. Da +weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt +gewiß. Man kann wohl literarische Hanswürste +beseitigen, nicht aber Geistesbewegungen unterdrücken, die +unbesiegbar sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen +aufzustellen, denen doch keine Folge gegeben würde. +Unterlassen aber darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des +hier berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein +einziges, welches so deutlich spricht, daß ich ohne +Weiteres auf alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein +Verein, dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und +Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich +mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich +stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die +Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen +kursierende Auskunft: „Hierseits wird zwar von dem weitern +Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand genommen, und werden die +Bücher nicht mehr durch unsere Verzeichnisse angeboten, +damit wollen wir aber nicht sagen, daß der Inhalt der +Mayschen Reiseerzählungen zu verwerfen ist, und wir muten +auch den Vorständen unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese +Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige +ablehnende Stellungnahme gilt nicht den <b>Schriften,</b> sondern +der <b>Persönlichkeit</b> des Verfassers. <b>Sie können +also ohne Bedenken die Bände weiter ausleihen.</b>” Das +genügt gewiß! Meinen Büchern ist nichts +anzuhaben; meine Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum? +Infolge jener „Mache”, von der ich schon weiter oben sprach. +Denn man glaube ja nicht, daß die „Karl May-Hetze”, oder, +ein wenig anständiger ausgedrückt, das „Karl +May-Problem” eine literarische Angelegenheit sei. Es handelt +sich hier keineswegs um schriftstellerische oder gar um ethische +Gründe, sondern, die Sache beim richtigen Namen genannt, um +eine rein persönliche Abschlachtung aus moralisch ganz +niedrigen, prozessualen Gründen. Was man da von sittlichen +und journalistischen Notwendigkeiten sagt, ist nichts als +Spiegelfechterei, um die Wahrheit zu verstecken. Wollte man +hierüber einen Roman schreiben, so könnte dieser der +sensationellste aller Kolportageromane werden, und die +Hauptpersonen würden folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. +<tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. +Pauline Münchmeyer in Dresden, der Franziskanermönch +<tt>Dr.</tt> Expeditus Schmidt in München, der aus der +christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf +Lebius in Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar +Pöllmann in Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse +Münchmeyer, <tt>Dr.</tt> Gerlach in Niederlößnitz +bei Dresden. Dieser Roman würde für die Beleuchtung der +gegenwärtigen Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein +und auch über andere Verhältnisse, gesellschaftliche, +geschäftliche, psychologische, überraschende +Streiflichter werfen. Es würde da viel Schmutz, sehr viel +Schmutz zu sehen sein, der nichts weniger als appetitlich ist, +und so will ich, da ich ihn auch hier zu erwähnen und zu +zeigen habe, mich bemühen, so schnell wie möglich +über ihn hinwegzukommen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap08"></a>VIII.<br/> +Meine Prozesse.</h2> + +<p class="noindent"> +Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt in seiner Parabel „Der +Schatten” zum Dichter: „Sie wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und +schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie +wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem +weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches +Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in +Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern +und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, <b>daß wir Andern das leben, was Ihr +Dichter schreibt.</b> Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches +wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; +wir sind unsittlich, wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach Eurem +Glauben oder Eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder +leichtfertig, wie es die Weiber sind, die Ihr verherrlicht.” +</p> + +<p>Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht +ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die +seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit +größern, entweder schaffenden oder zerstörenden, +reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten +Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie +behauptet, nämlich „Nicht Einzelwesen, Drama ist der +Mensch”, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers +unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur +eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt bin, +bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung bewußt, +welche auf uns Schreibenden ruht, sobald wir zur Feder greifen. +So oft ich dieses Letztere tue, tue ich es in der aufrichtigen +Absicht, als Schaffender nur Gutes, niemals aber Böses zu +schaffen. Man kann sich also denken, wie erstaunt ich war, als +ich erfuhr, daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer +„abgrundtief unsittliche” Bücher geschrieben haben solle. +Der Ausdruck „abgrundtief unsittlich” ist von Cardauns, dessen +Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den +übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist +dann Alles nicht nur erwiesen, sondern „zur Evidenz erwiesen”, +nicht ausgesonnen, sondern „raffiniert ausgesonnen”, nicht +entstellt, sondern „bis zur Unkenntlichkeit entstellt”. Darum +genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, weil sie +angeblich von mir waren, das einfache Wort „unsittlich” nicht, +sondern es war ganz selbstverständlich, daß sie gleich +„abgrundtief unsittlich” sein mußten.</p> + +<p>Die erste Spur von diesen meinen „Unsittlichkeiten” tauchte +drüben in den Vereinigten Staaten auf. Kommerzienrat Pustet, +welcher da drüben Filialen besitzt, schrieb mir von diesem +Gerücht und wünschte, daß ich mich darüber +äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, daß ich +von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache untersuchen +lassen werde, wenn es sein müsse sogar gerichtlich. Das +Resultat werde ich ihm dann mitteilen. Damit war für ihn die +Sache abgemacht. Er war ein Ehrenmann, ein Mann von Geist und +Herz, dem es niemals eingefallen wäre, durch +Hintertüren zu verkehren. Wir hatten einander gern. Auf ihn +fällt ganz gewiß auch nicht die geringste Spur von +Schuld an der unbeschreiblich schmutzigen und widerlich +leidenschaftlichen Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus +Amerika kam, hatte ich zunächst drüben zu +recherchieren. Das erforderte lange Zeit, und es war mir +unmöglich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte +nur, daß sich das Gerücht auf meine +Münchmeyerschen Romane bezog, doch fand ich Niemand, der +imstande war, mir die Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in +denen die Unsittlichkeit lag. Und auf ein bloßes, vages +Gerücht hin alle fünf Romane, also ungefähr +achthundert Druckbogen nach Dingen, die ich gar nicht kannte, +mühsam durchzuforschen, dazu hatte ich keine +überflüssige Zeit, und das war mir auch gar nicht +zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich anzuklagen, der +mußte die unsittlichen Stellen genau kennen und war +verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf wartete ich. Es meldete +sich aber Keiner, der es tat. Auch Pustet tat es nicht. +Wahrscheinlich kannte er die angeblichen Unsittlichkeiten ebenso +wenig als ich. Leider war ich nach einiger Zeit gezwungen, ihm +meine Mitarbeiterschaft zum zweiten Male aufzusagen. Das erste +Mal hatte ich es getan, als Heinrich Keiter noch lebte. Dieser +hatte mir eine meiner Arbeiten ganz bedeutend gekürzt, ohne +mich um Erlaubnis zu fragen. Ich habe Korrekturen und +Kürzungen nie geduldet. Der Leser soll mich so kennen +lernen, wie ich bin, mit allen Fehlern und Schwächen, nicht +aber wie der Redakteur mich zustutzt. Darum teilte ich Pustet +mit, daß er von mir kein Manuskript mehr zu erwarten habe. +Er versuchte, mich brieflich umzustimmen, doch vergeblich. Da kam +er, der alte Herr, persönlich nach Radebeul. Das war +rührend, hatte aber auch keinen Erfolg. Er schickte dann +seinen Neffen, ganz selbstverständlich mit demselben +negativen Resultate, denn sie beide waren es doch nicht, die sich +an meinen Rechten vergriffen hatten. Da kam der Richtige, +Heinrich Keiter selbst. Er versprach mir, daß es nie wieder +geschehen solle, und daraufhin nahm ich meine Absage zurück. +Man hat mir das von gewisser Seite bis heut noch nicht vergessen. +Man drückt das folgendermaßen aus: „Heinrich Keiter +hat Kotau vor Karl May machen müssen.” Ich besitze +hierüber Zuschriften aus nicht gewöhnlichen +Händen. Aber er trug selbst die Schuld, nicht ich. Ich habe +Heinrich Keiter geachtet, wie Jedermann ihn achtete. Ich erkenne +alle seine Verdienste an, und es tut mir noch leid, daß ich +damals gezwungen war, Charakter zu zeigen. Es ging nicht anders. +Ich mußte die Buchform meiner „Reiseerzählungen” +nach dem Texte des „Hausschatzes” drucken lassen und durfte +darum nicht zugeben, daß an meinen Manuskripten +herumgeändert wurde.</p> + +<p>Später schrieb ich für Pustet meinen +vierbändigen Roman „Im Reiche des silbernen Löwen”. +Ich war grad bis zum Schluß des zweiten Bandes gelangt, da +bekam ich von befreundeten Redaktionen einen Waschzettel des +„Hausschatzes” geschickt, dessen Inhalt mich veranlaßte, +meine damalige Absage zu wiederholen. Ich telegraphierte Pustet, +daß ich mitten in der Arbeit aufhören müsse und +kein Wort weiter für ihn schreiben werde. Er mußte mir +sogar das in seinen Händen befindliche, noch ungedruckte +Manuskript wieder senden, wofür ich ihm das darauf +entfallende Honorar wiederschickte. Ich würde hierüber +kein Wort verlieren, wenn mir nicht vor kurzer Zeit, allerdings +von sehr unmaßgeblicher Seite, mit Enthüllungen aus +jener Zeit gedroht worden wäre. Ich habe darum die +Gelegenheit wahrgenommen, hier die Wahrheit festzustellen. Und +ich stelle zugleich noch weiter fest, daß ich mit Herrn +Kommerzienrat Pustet niemals persönlich gebrochen habe und +eine aufrichtige Freude und Genugtuung empfand, als er nach einer +Reihe von ungefähr zehn Jahren seinen jetzigen +Hausschatzredakteur, Herrn Königlichen Wirklichen Rat +<tt>Dr.</tt> Otto Denk, zu mir nach Hotel Leinfelder in +München sandte, um mich zu veranlassen, wieder Mitarbeiter +des „Hausschatzes” zu werden. Ich habe ihm daraufhin den „Mir +von Dschinnistan” geschrieben.</p> + +<p>Damit bin ich den mir gemachten Vorwürfen der +Cardaunsschen „abgrundtiefen Unsittlichkeit” vorausgeeilt und +kehre nun zu ihnen zurück, um dieser Angelegenheit auf Grund +und Wurzel zu gehen. Der Grund heißt Münchmeyer, und +die Wurzel heißt ebenso. Die hierher gehörigen +Tatsachen bilden eine über dreißig Jahre lange Kette, +deren Ringe logisch, geschäftlich und juristisch innig +ineinander greifen. Das Meiste von ihnen ist erwiesen. Einiges +liegt noch in den Akten, um an das Tageslicht gezogen zu werden. +Ich bin nicht gewillt, den laufenden Prozessen vorzugreifen, und +werde also nur diejenigen Punkte besprechen, über die volle +Klarheit herrscht.</p> + +<p>Ich habe bereits gesagt, daß Münchmeyer meine +Vorstrafen kannte. Er wußte sogar Alles, was man +hinzugelogen hatte. Er wünschte sehr, daß ich einen +Roman hierüber schreiben möchte; ich lehnte das aber +entschieden ab. Ich habe im Kreise seiner Familie und Bekannten +meine Vergangenheit nicht verheimlicht, sondern ganz unbefangen +davon erzählt und meine Ansichten über Verbrecher und +Verbrechen, Schuld, Strafe und Strafvollzug ausführlich +dargelegt. Kein einziges Glied der Münchmeyerschen Familie +darf behaupten, nicht davon gewußt zu haben. Auch die +Arbeiter der Firma erfuhren es, Setzer, Drucker und alle Andern, +ebenso die mitarbeitenden Schriftsteller. „May ist bestraft; er +hat gesessen,” das drang bald leiser, bald lauter, aber +überall durch. Es ist also grundfalsch, jetzt nun von +plötzlichen „Enthüllungen” oder gar von meiner +„Entlarvung” zu sprechen. Wer behauptet, er habe mich entlarvt, +der lügt.</p> + +<p>Wichtig ist, daß Münchmeyer eine ganz +ausgesprochene geschäftliche Vorliebe grad für +bestrafte Mitarbeiter hatte. Geht man die Schriftsteller und +Schriftstellerinnen durch, die für ihn geschrieben haben, so +bilden die Bestraften einen ganz bedeutenden Prozentsatz von +ihnen. Das bemerkte ich schon bald, nachdem ich bei ihm +eingetreten war. Auch Walter, sein Hauptfaktotum, von dem er +alles tun ließ, was Niemand wissen durfte, war vorbestraft. +Gleich nach meiner Uebernahme der Redaktion brachte er mir einen +Wiener Postbeamten, der sich an der Kasse vergriffen hatte, als +Mitarbeiter. Als sich ähnliche Fälle wiederholten und +ich ihn nach seinen Gründen fragte, antwortete er: „Mit +einem Schriftsteller, der bestraft worden ist, kann man machen, +was man will, denn er fürchtet, daß seine Vorstrafen +verraten werden.” „Also auch ich?!” rief ich aus, erstaunt +über diese Aufrichtigkeit. „Unsinn!” entgegnete er. „Mit +Ihnen ist das etwas ganz Anderes. Wir sind Freunde! Und Sie sind +doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit sich machen +läßt, was man will! Selbst wenn ich Sie nicht +aufrichtig lieb hätte, bei Ihnen zöge man den +Kürzern!” Er gab sich Mühe, das in mir erwachte +Mißtrauen zu beseitigen, aber es wollte doch nicht ganz +verschwinden und trug auch mit dazu bei, daß ich +kündigte und wegen des Heiratsangebotes die Redaktion +aufgab. Auch später, als ich nach sechs Jahren das +„Waldröschen” für ihn zu schreiben begann, tauchte +dieses Bedenken gegen ihn wieder in mir auf. Aber die +Ausnahmestellung, die er mir persönlich und +geschäftlich bei sich einräumte, das Ausnahmehonorar, +welches er mir zahlte, und vor allen Dingen die Einwürfe, +die mir meine Frau bei jeder Gelegenheit gegen mein +Mißtrauen machte, das alles wirkte dahin, daß ich +schließlich zu meinem früheren Vertrauen +zurückkehrte.</p> + +<p>Daß ich von meinen Münchmeyerschen Romanen keine +Korrekturen zu lesen und also auch meine Manuskripte nicht mehr +zurückbekam, habe ich bereits erwähnt. Ich konnte also +nicht kontrollieren, ob der Druck mit meinem Originalmanuskript +übereinstimmte. Doch war mir hier so bestimmt Ehrlichkeit +versprochen worden, daß ich einen Betrug für +ausgeschlossen hielt. Auch daß Münchmeyer später +einmal behaupten könne, meine Romane mit allen Rechten nicht +bloß bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten, sondern +für immer erworben zu haben, erschien mir als +unmöglich, denn erstens hatte ich mir alle seine Briefe +aufgehoben, in denen er Alles, was wir schriftlich miteinander +ausgemacht hatten, nach und nach wiederholte, und zweitens hatte +ich auch noch einen andern vollgültigen Beweis in der Hand, +daß er diese Rechte nicht für immer besaß. Er +hatte nämlich den schriftlichen Versuch gemacht, diese +Rechte noch nachträglich zu erwerben. Er hatte das durch +einen Revers getan, den er mir durch jenes vorbestrafte Faktotum +Walter schickte und zur Unterschrift vorlegen ließ. Ich +wies aber diesen außerordentlich pfiffigen Boten mit seinem +Revers zurück. Dieser Walter war es auch, durch den ich auf +meine Anfragen immer die schriftliche oder mündliche +Versicherung bekam, daß die Zwanzigtausend noch nicht +erreicht sei. Uebrigens hatte ich nicht die geringste Sorge, +weder um meine Rechte noch um meine „feinen Gratifikationen”. +Meine Rechte waren mir sicher, und Münchmeyers standen sich +jetzt in pekuniärer Beziehung so, daß sie, wie ich +glaubte, mehr als bloß zahlungsfähig waren. Daß +er mit schlechtgehenden Romanen wieder verlor, was er an +gutgehenden verdiente, und daß er sich auf +Wechselreitereien eingelassen hatte, durch welche seine +Kapitalkraft arg geschädigt wurde, davon wußte ich +nichts. Ich war also überzeugt, ruhig warten zu können +und gar keine Veranlassung zu haben, verfrühte und darum +beleidigende Forderungen zu stellen. Uebrigens war meine Frau so +vollständig gegen alles geschäftliche Drängen und +Treiben, daß ich nun auch um den äußeren +häuslichen Frieden besorgt sein mußte, falls ich gegen +Münchmeyer nicht so nachsichtig war, wie sie wünschte. +Auch behaupten die Kolportageverleger, daß es in ihrer +Buchführung viel schwieriger sei und viel längere Zeit +erfordere, als bei andern Verlegern, nachzuweisen, wieviel feste +Abonnenten man habe. Es springen beständig welche ab, und es +kommen beständig welche hinzu, darum hatte ich Geduld.</p> + +<p>Im Jahre 1891 lernte ich meinen jetzigen Verleger F. E. +Fehsenfeld, Freiburg, Breisgau, kennen. Ich übergab ihm den +Buchverlag der bei Pustet in Regensburg erschienenen Werke und +vereinbarte mit ihm, nach diesen dann auch die +Münchmeyerschen herauszugeben. Er nahm die ersten sofort in +Angriff, und sie gingen ausgezeichnet. Wir waren beide +überzeugt, daß wir mit den Münchmeyerschen nicht +weniger Erfolg haben würden, stellten die letzteren aber bis +zur Vollendung der Pustetschen Serie zurück. Jede der beiden +Serien sollte dreißig Bände umfassen. Was daran +fehlte, hatte ich noch hinzuzuschreiben. Das ergab für die +Pustetsche Serie ungefähr zehn Bände, die ich noch zu +liefern hatte. Das war eine Arbeit, die mir keine Zeit +ließ, mich jetzt um meine Münchmeyerschen Sachen zu +bekümmern. Darum mußte mich auch die unerwartete +Nachricht, daß Münchmeyer plötzlich gestorben +sei, geschäftlich vollständig gleichgültig lassen. +Ich erkundigte mich nur nach seiner Nachfolge, und als ich +hörte, daß seine Witwe das Geschäft im Namen der +Erben weiterführe, war ich für mich beruhigt.</p> + +<p>Da geschah etwas Ueberraschendes. Frau Pauline Münchmeyer +schickte mir einen Boten, der den Auftrag hatte, mich +auszuforschen, ob ich vielleicht geneigt sein werde, ihr einen +neuen Roman zu schreiben. Dieser Bote war auch ein +„Vorbestrafter”. Ich ließ ihn unverrichteter Sache wieder +gehen, ohne über die Ursache seiner Sendung besonders +nachzudenken. Ich wußte damals nicht, was ich erst viel +später erfuhr, nämlich daß es mit +Münchmeyers nicht so glänzend stand, wie ich dachte. +Man hatte einen Familienrat gehalten und war zu dem Entschlusse +gelangt, durch einen neuen Roman von Karl May die Lage zu +verbessern. Ich hatte weder Zeit noch Lust, ihn zu schreiben, +beschloß aber für den Fall, daß man den Versuch +erneuern werde, trotzdem in Verhandlungen einzutreten, um +über die Erfolge meiner bisherigen Romane etwas Bestimmtes +zu erfahren. Und die Wiederholung des Versuches kam. Frau +Münchmeyer stellte sich selbst und persönlich bei uns +ein. Sie besuchte uns wiederholt. Sie bat. Sie bot sogar +Vorausbezahlung des Honorars. Sie schickte auch das Faktotum +Walter und ließ Briefe durch ihn schreiben. Ich gab den +Bescheid, daß ich nicht eher etwas Neues liefern +könne, als bis über das Alte volle Klarheit geschafft +worden sei. Ich müsse unbedingt erst wissen, wie es mit der +Abonnentenzahl meiner fünf Romane stehe; die Zwanzigtausend +müsse doch schon längst erreicht worden sein. Frau +Münchmeyer versprach Bescheid. Sie lud mich und meine Frau +zum Essen zu sich ein, um da diesen Bescheid zu erteilen. Wir +stellten uns ein. Sie gestand ein, daß die Zwanzigtausend +erreicht seien, und zwar bei allen Romanen, nicht nur bei einem; +nur müsse es erst noch genau berechnet werden, und das sei +in der Kolportage so ungemein schwierig und zeitraubend. Ich +möge mich also in Geduld fassen. Was meine Rechte betreffe, +so fallen diese mir hiermit wieder zu, ich könne die Romane +nun ganz für mich verwenden. Da forderte ich sie auf, mir +meine Manuskripte zu schicken, nach denen ich setzen und drucken +lassen werde. Sie sagte, die seien verbrannt; sie werde mir an +ihrer Stelle die gedruckten Romane senden und sie vorher extra +für mich in Leder binden lassen. Das geschah. Nach kurzer +Zeit kamen die Bücher durch die Post; ich war wieder Herr +meiner Werke -- -- -- so glaubte ich! Freilich war es mir +unmöglich, sie sofort herauszugeben, weil die Pustetschen +vorher zu erscheinen hatten. Ich legte die Bücher also +für einstweilen zurück, ohne mich mit der Prüfung +ihres Inhaltes befassen zu können. Ich hatte meinen Zweck +erreicht, und von der Abfassung eines neuen Romanes war keine +Rede mehr. Frau Münchmeyer ließ nichts mehr von sich +hören. Ich schrieb das auf Rechnung des Umstandes, daß +nun doch die „feinen Gratifikationen” fällig waren, deren +Zahlung man mit Schweigen zu umgehen suchte. Ich aber +drängte nicht; ich hatte mehr zu tun und brauchte das Geld +nicht zur Not. Ich will den Umstand nicht übergehen, +daß meine Frau während dieser ganzen Zeit sich alle +Mühe gab, mich von geschäftlicher Strenge gegen Frau +Münchmeyer abzuhalten. Diese ihre Vorliebe für +Münchmeyer und seine Witwe bilden den Hauptgrund der sonst +unbegreiflichen Nachsicht, die ich übte.</p> + +<p>Ich stand grad im Begriff, eine längere Reise nach dem +Orient anzutreten, als ich erfuhr, daß Frau Münchmeyer +ihr Geschäft verkaufen wollte. Ich schrieb ihr sofort einen +Brief, in dem ich sie warnte, etwa meine Romane mit zu verkaufen. +Ich legte ihr alles hierauf Bezügliche dar und ging +zunächst nach Oberägypten. Von dort nach Kairo +zurückgekehrt, fand ich Briefe vor, aus denen ich erfuhr, +daß der Verkauf trotz meiner Warnung geschehen sei; der +Verkäufer <tt>[sic]</tt> +heiße Fischer. Ich zögerte nicht, an diesen Herrn zu +schreiben. Er antwortete mir im Kolportageton, daß er das +Münchmeyersche Geschäft nur wegen der Romane von Karl +May gekauft habe. Alles Andere sei nichts wert. Er werde diese +meine Sachen so ausbeuten, wie es nur möglich sei, und mich, +falls ich ihn daran hindere, auf Schadenersatz verklagen. Dieser +Ton fiel mir auf. In dieser Weise pflegt man nur mit sehr +minderwertigen Menschen zu sprechen. Ich mußte diesem mir +vollständig unbekannten Herrn Fischer in einer Art +geschildert worden sein, die ihn zu dieser Achtungslosigkeit +verleitete. Ich forderte meine Frau auf, mir über diesen +Fall sofort und so ausführlich wie möglich zu +berichten. Ich gab ihr zu diesem Zwecke meine Reiseroute genau +an. Ich wartete in Kairo sechs Wochen, in Beirut vierzehn Tage, +in Jerusalem mehrere Wochen. Ich schrieb und telegrafierte, doch +vergebens; es kam kein Bericht. Endlich erhielt ich einige +Zeilen, in denen sie mir sagte, daß sie in Paris gewesen +sei, aber weiter nichts. Als in Massaua, der Hauptstadt von +Erythräa am roten Meere, mein arabischer Diener mir die Post +brachte, quoll mir eine Menge deutscher Zeitungen entgegen, aus +denen ich, der gar nichts Ahnende, ersah, was sich in der Heimat +inzwischen gegen mich ereignet hatte. Fischer hatte meine +Abwesenheit benutzt, mit einer illustrierten Ausgabe meiner +Münchmeyerschen Romane zu beginnen, und zwar mit derartigen +Reklametrompetenstößen, daß alle Welt auf dieses +Unternehmen aufmerksam werden mußte. Mein Name war genannt, +obgleich ich diese Romane, nur einen ausgenommen, pseudonym +geschrieben und Münchmeyer verpflichtet hatte, diese +Pseudonymität auf keinen Fall zu brechen. Zugleich stellte +sich heraus, daß mit den Romanen eine Umarbeitung +vorgenommen werden sollte. Mir wurde himmelangst. Ich schrieb +heim und beauftragte einen dortigen Freund, dem ich +vollständig vertrauen konnte, sich einen Rechtsanwalt zu +Hilfe zu nehmen und meine Sache bis zu meiner Heimkehr zu +führen, wenn nötig sogar gerichtlich.</p> + +<p>Dieser Freund hieß Richard Plöhn und war der +Besitzer der „Sächsischen Verbandstoffabrik” in Radebeul, +die er gegründet hatte. Man wird bald sehen, warum ich +für kurze Zeit bei ihm verweile. Er war +außerordentlich glücklich verheiratet. Seine Familie +bestand nur aus ihm, seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Wir +waren so innig mit einander befreundet, daß wir einander Du +nannten und, sozusagen, eine einzige Familie bildeten. Aber +außer zu mir auch noch zu meiner Frau Du zu sagen, das +brachte Plöhn nicht fertig. Er versicherte, daß ihm +dies unmöglich sei. Frau Plöhn ist jetzt meine Frau. Es +ist mir also nicht erlaubt, von ihren Eigenschaften oder gar +Vorzügen zu sprechen. Die letzteren waren rein seelische. +Meine damalige Frau hat nie in einem meiner Bücher gelesen. +Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr ebenso unbekannt +und gleichgültig wie meine Ziele und Ideale überhaupt. +Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin von mir und +besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis für +all mein Hoffen, Wünschen und Wollen. Ihr Mann freute sich +darüber. Er sah mein Ringen, mein angestrengtes Arbeiten, +oft dreimal wöchentlich die ganze Nacht hindurch, keine +helfende Hand, kein warmer Blick, kein aufmunterndes Wort; ich +stand innerlich allein, allein, allein, wie stets und allezeit. +Das tat ihm wehe. Er versuchte, durch seine Frau auf die meinige +einzuwirken, damit diese mir wenigstens die störende +Korrespondenz abnahm, vergeblich. Da bat er mich, seiner Frau zu +erlauben, daß diese es tue; das werde für sie und ihn +eine große Freude sein. Ich gestattete es den beiden guten +Menschen. Von da an lag mein Briefwechsel in der Hand von Frau +Plöhn. Tausenden von Leserinnen und Lesern ist über der +Unterschrift von „Emma May” geantwortet worden, ohne daß +sie wußten, daß es nicht meine Frau, sondern eine +schwesterliche Helferin war, die mir meine Last erleichterte. Sie +arbeitete sich mehr und mehr in meine Gedankenwelt und meinen +Briefwechsel ein, so daß ich ihr schließlich die +ganze, umfangreiche Korrespondenz getrost überlassen konnte. +Ihr Mann war stolz darauf. Noch stolzer fast war ihre Mutter, +eine einfach gewöhnte, sehr arbeitsame, praktische Frau, die +gar zu gern auch mitgeholfen hätte, wenn es möglich +gewesen wäre, denn auch sie besaß eine Seele, die +nicht unten bleiben wollte, sondern nach oben strebte.</p> + +<p>Also diesen Freund beauftragte ich, meine Angelegenheit so +kräftig wie möglich in die Hand zu nehmen, und er tat +es, so gut er konnte. Er übergab die prozessuale +Durchführung einem Dresdener Rechtsanwalt und +benachrichtigte die gesamte deutsche Presse davon, daß ich +augenblicklich in Asien sei, nach meiner Heimkehr aber nicht +zögern werde, mich bei der beabsichtigten Vergewaltigung zu +erwehren. Mehr konnte für den Augenblick nicht getan werden, +weil es mir unmöglich war, meine Reise abzubrechen. Von +meiner Frau bekam ich keine Nachricht. Es war ihr unmöglich, +sich um so ernste, geschäftliche Angelegenheiten zu +bekümmern. Plöhns aber schrieben, doch konnten mich +diese Briefe erst in Padang auf der Insel Sumatra erreichen. Sie +lauteten aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen +Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in +einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden +Gerüchte über mich verbreitet, die teils +lächerlich, teils gewissenlos waren. Man las in den +Zeitungen, daß ich mich gar nicht im Orient befinde, +sondern mich wegen einer bösartigen Krankheit im Jodbad +Tölz, Oberbayern, versteckt habe. Hätte ich geahnt, +daß das in dieser lügenhaften, gehässigen und +böswilligen Weise ein ganzes Jahrzehnt weitergehen werde, so +würde ich meine Reise doch unterbrochen und schleunigst nach +Hause zurückgekehrt sein. Hätte ich das getan, so +wären mir alle die unmenschlichen Martern und Qualen, die +ich während dieser langen Zeit ausgestanden habe, erspart +geblieben. Leider aber wußte ich damals noch nicht, was mit +meinen Romanen vorgegangen war und welche Leitgedanken im +Münchmeyerschen Geschäft über mich kursiert hatten +und heute noch kursierten. Ich glaubte, die Sache noch aus der +Ferne beilegen zu können und hielt nichts weiter für +nötig, als eine genaue Information, aus der sich die +einzuschlagenden Schritte zu ergeben hätten. Ich schrieb +also heim, daß meine Frau mit Plöhns nach Aegypten +kommen möchte, wo ich in Kairo mit ihnen zusammentreffen +würde. Sie kamen, aber sehr verspätet, weil Plöhn +unterwegs krank geworden war. Was ich von ihnen erfuhr, lautete +keineswegs günstig und klang außerdem sehr unbestimmt. +Der Rechtsanwalt stand immer noch erst bei den Vorbereitungen. +Fischer hatte erklärt, sich auf das Aeußerste wehren +zu wollen; meine Romane habe er von Frau Münchmeyer gekauft; +sie seien sein wohlerworbenes, bar bezahltes Eigentum, mit dem er +machen könne, was er wolle. Die Zeitungen waren gegen mich +eingenommen. Meine Münchmeyerschen Romane wurden als +Schundromane bezeichnet. Ich sah ein, daß ein Prozeß +mit Münchmeyers nicht zu umgehen war, und fragte meine Frau +nach den für mich hierzu nötigen Dokumenten.</p> + +<p>Ich habe bereits gesagt, daß ich mir Münchmeyers +Briefe aufgehoben hatte. Ihr Inhalt war für einen +Prozeß gegen Münchmeyer derart beweiskräftig, +daß ich ihn glattweg gewinnen mußte. Diese Briefe +waren nebst andern gleichwichtigen Sachen in einem bestimmten +Schreibtischkasten aufbewahrt. Ich hatte vor meiner Abreise meine +Frau auf diesen Kasten und seinen Inhalt ganz besonders +aufmerksam gemacht, ihr den Zweck der Briefe ganz besonders +erklärt und sie aufgefordert, dafür zu sorgen, +daß ja nicht das geringste Blättchen davon verloren +gehe. Als ich sie jetzt in Kairo nach diesen Dokumenten fragte, +versicherte sie mir, daß sie noch genau so lägen, wie +ich sie ihr übergeben habe. Kein Mensch habe sie +berührt. Das beruhigte mich, denn das bedeutete den sicher +gewonnenen Prozeß. Als meine Frau mir diese Versicherung +gab, stand Frau Plöhn dabei und hörte es. Sie sah sie +groß an, sagte aber nichts. Das fiel mir damals nicht auf; +später aber, als ich mich dieses großen, erstaunten, +mißbilligenden Blickes erinnerte, wußte ich nur allzu +gut, was er hatte sagen sollen. Meine Frau war nämlich eines +Abends zu Frau Plöhn gekommen und hatte ihr mitgeteilt, +daß sie soeben unsern Trauschein verbrannt habe, der +Vorbedeutung wegen, die sich damit verbinde. Und einige Zeit +später hatte sie ihr in derselben lachenden Weise gesagt, +daß sie nun auch die Dokumente aus dem Schreibtischkasten +genommen und verbrannt habe; sie wolle dadurch verhindern, +daß ich Münchmeyers verklage. Frau Plöhn war +hierüber entsetzt gewesen, hatte aber die vollendete +Tatsache nicht zu ändern vermocht. Jetzt, als sie die +Versicherung meiner Frau mit anhören mußte, daß +die Briefe noch unberührt vorhanden seien, gab es in ihr den +ersten Riß zu jener innern Scheidung, die erst dann auch +äußerlich zu Tage trat, als nichts mehr verheimlicht +werden konnte. Wir reisten nach Aegypten, Palästina, Syrien, +über Konstantinopel, Griechenland und Italien nach Hause. +Während dieser Zeit ist meine Frau auf wiederholte Anfragen +immer dabei geblieben, daß die Dokumente völlig +unverletzt noch in dem betreffenden Kasten lägen. Sie wurde +schließlich zornig und verbat sich jede weitere +Erwähnung. Aber als ich nach Hause kam und mein erster +Schritt nach dem Schreibtisch war, fand ich den Kasten -- -- -- +leer! Hierüber zur Verantwortung gezogen, erklärte sie, +daß sie die Briefe allerdings verbrannt und vernichtet +habe. Sie sei stets eine Freundin Münchmeyers gewesen und +sei es auch noch heute. Sie wisse zwar, daß ich recht habe, +aber sie dulde nicht, daß ich Münchmeyers verklage. +Darum habe sie die Papiere verbrannt. Man kann sich denken, wie +mir zu Mute war, aber ich beherrschte mich und tat, was ich schon +jahrelang in solchen Fällen zu tun gewohnt war, ich war +still, nahm den Hut und ging.</p> + +<p>Inzwischen waren die Presseangriffe gegen mich immer +zahlreicher und deutlicher geworden. Man beschuldigte mich, zu +gleicher Zeit fromm und unsittlich geschrieben zu haben. Ich nahm +die Romane her, die mir Frau Münchmeyer hatte einbinden +lassen, und fand, daß man von meinen Originalmanuskripten +abgewichen war und sie verändert hatte. Also darum hatte man +die Manuskripte verbrannt, anstatt sie für mich aufzuheben! +Ich sollte die Aenderungen nicht nachweisen können! Das +Erste, was ich tat, war, daß ich die Presse hiervon +benachrichtigte und sie bat, die gerichtliche Entscheidung +abzuwarten. Sodann stellte ich schleunigst Klage. Ich wollte die +Sache nicht auf dem Wege des Zivil-, sondern des Strafprozesses +verfolgen, stieß dabei aber auf solchen Widerstand bei +meiner Frau, daß ich darauf verzichtete. Ich befragte mich +bei verschiedenen Rechtsanwälten, nicht nur in Dresden, +sondern auch in Berlin und anderswo. Ich hätte so gern +gleich direkt wegen der „abgrundtiefen Unsittlichkeiten”, die +mir vorgeworfen wurden, verklagt, doch wurde mir einstimmig +versichert, daß dies unmöglich sei. Eine Klage +könne nicht auf ideale Dinge gerichtet, sondern müsse +materiell begründet sein. Ich müsse vor allen Dingen +beweisen, daß ich der rechtmäßige +Eigentümer der betreffenden Romane sei, und also das Recht +besitze, zu verklagen. Am Besten sei es, die Klage auf +„Rechnungslegung” zu richten. Das geschah.</p> + +<p>Um diese Zeit war es, daß sich der Käufer des +Münchmeyerschen Geschäftes, Herr Fischer, bei mir +meldete. Ich hatte keinen vernünftigen Grund, ihn +abzuweisen; er wurde angenommen. Die Unterredung war eine +hochinteressante, sowohl psychologisch als auch prozessual. +Fischer machte gar kein Hehl daraus, daß er wisse, ich sei +vorbestraft. Er meinte, wer solches Werg am Rocken habe, der +solle sich wohl sehr hüten, zu prozessieren, sonst +könne die Sache sehr leicht ein anderes Ende nehmen, als man +denke. Meine Romane seien jetzt sein Eigentum. Man habe sie schon +früher verändert, und nun lasse er sie von Neuem +umarbeiten, ganz so, wie es ihm gefalle. Wenn ich gegen ihn +prozessiere, so könne das länger als zehn Jahre dauern; +aber bis dahin sei ich längst kaput. Er sei aber gekommen, +mir die Hand zu bieten, all diesem Aerger zu entgehen. Ich solle +ihm siebzigtausend Mark zahlen, so verzichte er auf meine Romane +und liefere sie mir mit allen Rechten aus. Dann sei es mir +leicht, die ganze Aufregung der Presse gegen mich mit einem +einzigen Schlage zum Schweigen zu bringen. Er biete mir seine +Hilfe dazu an. Er wisse mehr, als ich ahne. Er kenne die ganze +Münchmeyerei. Man habe ihm Alles gesagt. Aber unter +siebzigtausend Mark könne er nicht verzichten, denn er habe +hundertfünfundsiebzigtausend Mark bezahlt.</p> + +<p>Es ist ganz selbstverständlich, daß ich auf diesen +Vorschlag nicht einging. Ich erklärte ihm, daß ich +keinen Pfennig geben werde und zur Klage fest entschlossen sei. +Da wollte er wissen, gegen wen ich diese Klage richten werde, ob +gegen ihn oder gegen Münchmeyers Witwe. Er rate mir zu dem +Letzteren, weil er mir da wahrscheinlich als Zeuge dienen +könne, denn er sei mit dieser Frau keineswegs zufrieden, +sondern stehe in immerwährendem Streit mit ihr. Hierauf +entfernte er sich mit der Warnung, mich ja mit meinen Vorstrafen +in Acht zu nehmen.</p> + +<p>Ich war gewillt, Frau Münchmeyer zu verklagen. Aber meine +Frau und, wohl infolgedessen, auch mein Rechtsanwalt bestimmten +mich, hiervon abzusehen. So wurde also Fischer verklagt. Aber die +Witwe schien keine Lust zu haben, sich von diesem Rechtshandel +ausscheiden zu lassen. Sie trat als Nebenintervenientin bei und +ist bis heut meine Gegnerin geblieben. Es gelang mir, gegen +Fischer eine einstweilige Verfügung zu erreichen, welche ihm +verbot, meine Romane weiterzudrucken. Er durfte nur noch +komplettieren. In dieser für ihn sehr heiklen Lage kam er +mit meinem Rechtsanwalt zu sprechen und klagte über den +Verlust, der ihm dadurch entstehe; dieser betrage schon +vierzigtausend Mark. Wenn das nicht aufhöre, müsse er +sich noch ganz anders wehren als bisher und mich durch die +Veröffentlichung meiner Vorstrafen in allen Zeitungen vor +ganz Deutschland kaput machen. Als mein Rechtsanwalt mir diese +Drohung mitteilte, ging mir ein Licht auf; ich begann zu +begreifen und fühlte mich verpflichtet, dieses Terrain zu +sondieren. Es kam eine Unterredung zwischen Fischer und mir +zustande, in einer separierten Weinstube, unter vier Augen. Da +wurde er offenherzig. Er sagte mir Alles, was er während der +Verkaufsverhandlungen von Münchmeyers über mich und +meine Romane erfahren hatte. Ich erfuhr den ganzen Feldzugsplan, +von dem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. Es war ihm +weisgemacht worden, ich sei vorbestraft, und zwar mit Zuchthaus, +weil ich als Lehrer Umgang mit Schulmädchen gepflogen habe. +Das passe außerordentlich zu dem Vorwurf der Zeitungen, +daß ich unsittliche Romane geschrieben habe. Man brauche +das nur zu veröffentlichen, so sei ich für immer kaput. +Ich sei jetzt ein berühmter Mann und habe mich vor solchen +Veröffentlichungen zu hüten; das wisse man ebenso gut +wie ich selbst. Was ich mit Münchmeyer über meine +Romane ausgemacht habe, sei gleichgültig. Münchmeyer +sei tot. Es komme darauf an, wer zu schwören habe. Und +daß May den Eid nicht bekomme, dafür werde man zu +sorgen wissen. Seine Vorstrafen seien die beste Hilfe, die es +gebe. Man brauche ihm nur mit der Veröffentlichung zu +drohen, so nehme er gewiß jeden Prozeß zurück. +Es genügen zwei Zeilen an ihn, so ist er still. „Den haben +wir in der Hand!”</p> + +<p>In dieser Weise hatte man zu Fischer gesprochen, und daraufhin +hatte er das Geschäft gekauft. So versicherte er mir. +Daß meine Romane verändert worden seien, das wisse er. +Nur wisse er nicht genau, von wem. Wahrscheinlich von Walter. Der +habe ja weiter gar nichts Anderes als solche Sachen zu machen und +dann die Korrekturen zu lesen gehabt. Und das sei gar nicht +schwer und gehe sehr schnell. Man braucht nur ein Wort zu +ändern oder einige Worte hinzuzufügen, so ist die +„Unsittlichkeit” da, ohne die es bei solchen Romanen nun einmal +nicht abgehen will. Ich könne diese Aenderungen sehr leicht +nachweisen; ich brauche nur meine Originalmanuskripte +vorzulegen.</p> + +<p>„Aber die sind ja verbrannt!” fiel ich ein.</p> + +<p>Das stellte Fischer aber ganz entschieden in Abrede. Er +behauptete, sie seien noch da. Er könne sie mir verschaffen, +aber freilich unter den jetzigen Verhältnissen nicht, wo ich +sein Prozeßgegner sei und ihn mit meiner einstweiligen +Verfügung zugrunde richte. Er könne nur dann mein +Helfer sein und als Zeuge für mich eintreten, wenn ich diese +Verfügung fallen lasse und mich mit ihm vergleiche.</p> + +<p>Diese Unterredung war für mich von unendlicher +Wichtigkeit. Es galt, vorsichtig zu sein. Ich fragte mich, ob ich +trauen dürfe. Waren die Originalmanuskripte wirklich noch +da, so konnte ich allerdings alle gegen mich gerichteten +Vorwürfe, wie Fischer gesagt hatte, mit einem Schlage +verstummen machen. Aber er konnte mich täuschen wollen oder +auch selbst getäuscht worden sein. Ich durfte nicht +vorschnell entscheiden; ich mußte beobachten und +überlegen, zumal diese Wendung meiner Angelegenheit in eine +Zeit fiel, in der mich schwere, innerliche Kämpfe derart +beschäftigten, daß ich für Anderes weder Zeit +noch Raum zu finden vermochte. Das war die Zeit meiner +Ehescheidung.</p> + +<p>Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen +Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament sei. Wenn ich +nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich diesen Schritt +schon längst getan und nicht erst dann, als es meine +Gesundheit, mein Leben und meine ganze innere und +äußere Existenz zu retten galt. Man hat mir diesen +Schritt in hohem Grade übelgenommen, sehr mit Unrecht. +Katholische Kritiker, die anstatt auf sachlichem Gebiete zu +bleiben, ihre Angriffe auf das persönliche +hinüberspielten, haben mir in einem Atem vorgeworfen, +daß ich Protestant sei und mich von meiner Frau habe +scheiden lassen. Wie unlogisch! Grad weil ich als Protestant +gelte, hat kein Mensch das Recht, mir den zweiten Vorwurf zu +machen. Für jeden nur einigermaßen anständigen +Menschen ist die Ehescheidung eine Angelegenheit von +selbstverständlichster Diskretion. Die meinige aber hat man +in den Zeitungen herumgetragen, mit den widerlichsten Randglossen +versehen und zu den ungeheuerlichsten Verdächtigungen +ausgenutzt. Ich will das Alles hier übergehen, um meine +Bemerkungen, falls ich zu ihnen gezwungen werde, an anderer +Stelle zu machen. Diese Zeit war nicht nur für mich, sondern +auch für Frau Plöhn eine beinahe tödliche, weil +sie ihr den Mann raubte, den sie mit einer Aufopferung liebte, +wie selten ein Mann geliebt worden ist. Ich habe bereits gesagt, +daß Plöhn auf der Reise nach Aegypten krank geworden +sei. Er erholte sich nur scheinbar wieder. Das Uebel repetierte, +nachdem er in die Heimat zurückgekehrt war. Ein Jahr +später kam der Tod. Frau Plöhn brach fast zusammen. +Wäre ihre Mutter nicht gewesen, so wäre sie ihrem Manne +sicher nachgestorben. Glücklicherweise bot ihr auch die +Korrespondenz, die sie für mich mit meinen Lesern +führte, die seelische Erleichterung und Unterstützung, +deren sie bedurfte. Sie besaß zwei Zinshäuser in +Dresden, die sie gern gegen ein ihr angebotenes +Landgrundstück verkaufen wollte, welches zu dem Dorfe +Niedersedlitz gehörte. Dorthin hatte Fischer seine +Buchdruckerei verlegt. Auch seine Privatwohnung lag da. Frau +Plöhn bat mich, sie zur Besichtigung dieses +Grundstückes zu begleiten, und als wir uns nun einmal in +Niedersedlitz befanden, lag der Gedanke nahe, dies Fischer wissen +zu lassen. Er lud uns nach seiner Privatwohnung ein, und es +entspann sich da eine Verhandlung, welche am nächsten Tage +zu einem Vergleiche führte.</p> + +<p>Ich will so kurz wie möglich sein. Fischer klagte +darüber, daß er sich durch den Kauf des +Münchmeyerschen Geschäftes zum „Schundverleger” +degradiert habe; er versicherte, daß er sich heraussehne, +und er behauptete, daß ich ihm dazu behilflich sein +könne wie kein Anderer. Dieses Letztere war auch ich +überzeugt. Er hatte die veränderten Romane erworben, +ohne daß Frau Münchmeyer das Recht besaß, sie +ihm zu verkaufen. Wenn er dafür sorgte, daß ich meine +Originalmanuskripte zurückerhielt, konnte er die +Schundarbeiten fallen lassen und an ihrer Statt meine Originale +herausgeben; da war ihm und zugleich auch mir geholfen; er war +kein Schundverleger mehr, und ich konnte beweisen, daß ich +nichts Unsittliches geschrieben hatte. Das war der Grundgedanke +des Vergleiches, und als wir ihn unterschrieben, war ich +überzeugt, daß aller Streit gehoben sei. Fischer +bezeugte mir damals öffentlich in den Zeitungen, daß +die unsittlichen Stellen meiner Münchmeyerromane <b>nicht +aus meiner Feder stammen, sondern von dritter Hand hineingetragen +worden seien.</b></p> + +<p>Leider aber erwiesen sich meine Hoffnungen als +trügerisch. Fischer konnte meine Originalmanuskripte nicht +bekommen; sie waren nicht mehr da; sie waren wirklich vernichtet. +Es war ihm also unmöglich, sich aus einem +„Schundverleger”, wie er sich in einem Briefe an mich +bezeichnete, in einen Buchverleger zu verwandeln. Er machte zwar +den Versuch, auch ohne meine Originalmanuskripte zu einem +Originalroman zu kommen, um den Schund dann fallenlassen zu +können, aber ich mußte ihm dabei die Hilfe, die er von +mir forderte, versagen. Er verlangte nämlich von mir, +daß ich den Schund aus dem Gedächtnisse in seine +frühere, einwandfreie Fassung zurückverändere; das +aber war bei einer Fülle von ungefähr +dreißigtausend engbeschriebenen Seiten ein Ding der +absolutesten Unmöglichkeit. Er bestand aber auf seinen <tt>[sic]</tt> +Schein, auf unsern <tt>[sic]</tt> Vergleich, und obgleich er das nicht +leisten konnte, was er versprochen hatte, sollte ich doch Alles +tun, was grad seinetwegen unmöglich war. Daraus ergab sich +ein neuer Zwist und ein neues Kämpfen, welches sich +über seinen Tod hinaus erstreckte und erst von seinen Erben +zum friedlichen Ende geführt worden ist. Diese sahen klarer +als er, und sie waren ruhigen, unbefangenen Gemütes. Sie +waren Fachleute, nämlich Rechtsanwälte, Kaufleute, +Buchdruckerei- und Buchbindereibesitzer. Sie vereinigten sich zu +folgender Erklärung:</p> + +<p><b>„In einem zwischen Herrn Karl May und den Erben des Herrn +Adalbert Fischer anhängig gewesenen Rechtsstreite haben die +Fischerschen Erben erklärt, daß die im Verlage der +Firma H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des +Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit durch Einschiebungen +und Abänderungen von dritter Hand eine derartige +Veränderung erlitten haben, daß sie in ihrer jetzigen +Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten +können. Herr May ist zur Veröffentlichung dieser +Erklärung ermächtigt worden.</b></p> + +<p><b>Dresden, im Oktober 1907.</b><br/> +</p> + +<p>Unterzeichnet ist diese Erklärung von Frau Elisabeth +verw. Fischer durch Kaufmann Arthur Schubert, +Buchdruckereibesitzer Otto Fischer, Buchbindereibesitzer Alfred +Sperling, Rechtsanwalt Trummler, Rechtsanwalt Bernstein, +Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Elb. Leichtfertige Menschen haben +behauptet, daß diese Erklärung nur von Kindern und +unmündigen Personen abgegeben worden sei. Man sieht auch +hieraus, mit welchen Waffen man gegen mich kämpft. Für +mich aber ist die Abteilung Fischer meines +Münchmeyerprozesses hiermit abgetan. Die Abteilung Pauline +Münchmeyer aber besteht nach wie vor. Ihr habe ich mich in +Folgendem nun zuzuwenden.</p> + +<p>Ich scheue mich nicht, dieser Abteilung das Programm, welches +ich von Fischer erfuhr, voranzusetzen, nämlich:</p> + +<p><b>„May ist vorbestraft. Er hat das zu verheimlichen. Wir +haben ihn in der Hand. Zwei Zeilen genügen, so ist er still. +Wenn er uns verklagt, so machen wir ihn durch +Veröffentlichung seiner Vorstrafen in allen Zeitungen durch +ganz Deutschland kaput. Was May mit Münchmeyer ausgemacht +hat, ist gleichgültig. Hauptsache ist, wer den Eid bekommt. +Und daß May ihn nicht bekommt, dafür wird man zu +sorgen wissen.”</b></p> + +<p>Fischer hat dieses Programm nicht etwa nur privatim +geäußert, sondern auch durch seine Aussage in den +Akten festgelegt, und es ist im Verlaufe des nun +neunjährigen Rechtsstreites ununterbrochen bestätigt +worden. Von dem, was Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> Gerlach im Namen +seiner Klientin Pauline Münchmeyer alles unrichtiger Weise +behauptet oder abgeleugnet hat, will ich hier nicht sprechen. +Mich aber hat er gleich von allem Anfang an als einen Menschen +hingestellt, der in höchstem Grade eidesunwürdig ist. +Es ist mir unmöglich, alle die beleidigenden Schimpfworte +hier aufzuzählen, mit denen er mich nun schon seit neun +Jahren überschüttet, ohne daß ich ihn dafür +bestrafen lassen kann, weil er als Anwalt unter dem Schutz grad +jenes Paragraphen steht, welcher mich zwingt, von ihm zu dulden, +was sich kein Anderer jemals erlaubt. Von den Richtern wiederholt +zurechtgewiesen und von andern Anwälten zur Rede gestellt, +bleibt er dieser seiner Spezialität doch treu. Zur +Ausführung des Münchmeyerschen Programms war es +zunächst nötig, zu meiner Strafliste zu gelangen. Zu +diesem Zweck wurde eine Beleidigungsklage fingiert, die man +sofort zurücknahm, als der Zweck erreicht war. Von da an +tauchten in den Zeitungen mehr oder weniger verblümte +Notizen über meine Vergangenheit auf. „Ich weiß noch +mehr!” schrieb der Eine; „Sie wissen wohl, was ich meine, Herr +May?” fragte der Andere. Das „Kaputmachen” begann. Aber der +<tt>Spiritus rector</tt>, der eigentliche Täter, blieb stets +schlau hinter dem Busch; er zeigte sich nie; er wirkte stets +durch Andere. Sein Arbeitsfeld ist weit über seine +Berufspflichten hinaus ausgedehnt, sein Briefwechsel ein sehr +umfangreicher, fast nur Karl May betreffend. Er steht mit allen +meinen literarischen Gegnern in inniger Beziehung, und wo in +einem Blatt von mir die Rede ist, da pflegt ein Brief von ihm +oder von einem seiner Vertrauten sich einzustellen. Und man +glaubt ihm fast überall. Man glaubt ihm, wie Cardauns +seinerzeit dem Lügner glaubte, der ihm weismachte, daß +ich die Münchmeyerromane genau so geschrieben habe, wie sie +im Druck erschienen sind.</p> + +<p>Dieser Herr <tt>Dr.</tt> Hermann Cardauns ist von dem sehr +dunklen und sehr häßlichen Punkte, den man in der +zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze +bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders gewollt. Er +steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er eigentlich nicht +gehört. Er hat auch das gewollt. Sein niederschmetternder +Stil, seine infallible Ausdrucksweise, seine „abgrundtiefen” +oder „evidenten” Verdoppelungsworte haben Schule gemacht, +besonders bei denen, welche mir Stricke drehen, um mich „aus der +deutschen Kunst hinauszupeitschen.” Aber alles, was er in +Vorträgen und Zeitungen gegen mich zusammengesprochen und +zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule, +an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus lauter +vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, dessen Schnur +niemand mehr halten will, es sei denn Herr Cardauns selbst. Es +ist gewiß sehr viel blinder Glaube dazu nötig, gleich +ihm zu denken, daß meine „Unsittlichkeiten” auch noch in +anderer Weise bewiesen werden können, als nur durch +Vorlegung meiner Originalmanuskripte. Der Wortschwall tut es +nicht; auch Behauptungen bleiben ohne Erfolg, wenn sie nicht +bewiesen werden. Man liest in den Cardaunsschen Aufsätzen +gegen mich zwar viel von Akten, Dokumenten und sonstigen +Beweisen, die er über meine Schuld besitze; aber bis jetzt +habe ich noch kein einziges Aktenstück und kein einziges +Dokument zu sehen bekommen. Es scheint, dieser Herr besitzt einen +älteren Münchmeyerschen Druck und eine spätere +Fischersche Ausgabe und hält den ersteren für +gleichlautend mit meinem Originale. Es ist für mich aber +wirklich unmöglich, daß einem „Haupt- oder +Chefredakteur” solche Irrungen passieren können. Ich gebe +ja gern zu, daß er keine Ahnung davon hat, wie es in einem +berüchtigten Schund- und Kolportageverlag zugeht und was +für Schwindel da getrieben wird, aber das ist keine +Entschuldigung, sondern eine Belastung für ihn, denn wenn er +das nicht weiß, so sollte er sich auch nicht gestatten, +Schlüsse mit der Logik des Kolportageschmutzes zu ziehen, +die man nur mit der Logik ehrenhafter Leute ziehen darf. Die +ungeheuren Erfolge der umgearbeiteten Schundromane hatte Fischer +nur den überlauten Trommel- und Paukenschlägen des +Herrn Cardauns zu verdanken. Selbst der unfähigste Politikus +weiß, daß man solche Dinge durch Schweigen +tötet, nicht aber durch Gongs und Tamtams. Mir aber, der ich +durch diese Tamtams, diese Vorträge und Zeitungsartikel +erschlagen werden sollte, wurde es durch sie unmöglich +gemacht, den Schund so, wie ich wollte, gänzlich aus der +Welt zu schaffen. Mein Wollen war gut; da aber der Herr Cardauns +meine Gegner förderte, indem er mich hinderte, hat er sich +um die Münchmeyersche Kolportage ein Verdienst erworben, +welches man ihm nie vergessen wird. Er ist während der +ganzen, langen Zeit bis hierher ihr treuer Champion gewesen, ob +gewollt oder ungewollt, ist in Beziehung auf die Wirkung +gleich.</p> + +<p>Der zweite, den ersten auch geistig hoch überragende +Champion für die Münchmeyersache ist der aus der +christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Herr Rudolf +Lebius in Charlottenburg. Ich gebe über ihn einen Auszug +meines Schriftsatzes an die vierte Strafkammer des +Königlichen Landgerichtes <tt>III</tt> in Berlin:</p> + +<p>„Ich reiste im Jahre 1902 im Süden und wurde am Gardasee +von einer heimatlichen Postsendung erreicht, bei der sich auch +eine Zuschrift eines gewissen Lebius befand, der sich in ganz +überschwenglicher Weise als einen großen Kenner und +Bewunderer meiner Werke bezeichnete und die Bitte aussprach, mich +einmal besuchen zu dürfen. Diese Ueberschwänglichkeit +erregte sofort meinen Verdacht. „Der will Geld, weiter nichts,” +sagte ich mir. Ich antwortete ihm, daß ich nicht daheim sei +und ihn also nicht empfangen könne. Hierauf schrieb er mir +am 7. April 1904:</p> + +<p class="letter"> +„Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="letter"> +Schon vor anderthalb Jahren versuchte ich, mich Ihnen zu +nähern, wovon die inliegende Karte ein Beweis ist. +Inzwischen habe ich hier eine neue Zeitung herausgegeben, die +großen Anklang findet. Können Sie mir vielleicht etwas +für mein Blatt schreiben? Vielleicht etwas Biographisches, +die Art, nach der Sie arbeiten, oder über derartige +Einzelheiten, für die sich die deutsche May-Gemeinde +interessiert. Ich würde Sie auch gern interviewen.</p> + +<p class="letter"> +<b>Mit vorzüglicher Verehrung</b></p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius, <br/> +Verleger und Herausgeber.” +</p> + +<p>Lebius hatte also meine damalige Karte sorgfältig +aufgehoben, um sich Eingang bei mir zu verschaffen. Er +unterschrieb sich „mit vorzüglicher Verehrung.” Ich sagte +mir wieder: „der will nur Geld.” Die Behauptung, daß +seine neue Zeitung „großen Anklang finde”, entsprach der +Wahrheit nicht. Ich sollte damit geködert werden. Man darf +den Besuch solcher Leute nicht abweisen, zumal wenn sie mit einer +wenn auch noch so kleinen Zeitung bewaffnet sind, sonst +rächen sie sich. Ich schrieb ihm also, daß er kommen +dürfe, und er antwortete am 28. April:</p> + +<p class="letter"> +„Vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Schreiben. +Ihrer freundlichen Einladung leiste ich natürlich gern +Folge. Falls Sie mir nicht eine andere Zeit angeben, komme ich am +Montag, den 2. Mai 3 Uhr zu Ihnen (Abfahrt 3,31).<br/> + <b>Mit großer Hochachtung und Verehrung</b></p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Er kam. Doch durfte er mich nicht interviewen. Ich duldete das +nicht. Er wurde von meiner Frau, die ihn empfing, nur unter den +Bedingung zu mir gelassen, daß absolut nichts +veröffentlicht werde. Er gab erst ihr und dann auch mir sein +Wort darauf. Er blieb zum Kaffee, und er blieb bis nach dem +Abendessen. Er sprach sehr viel; er sprach fast immerfort. Ich +war absichtlich schweigsam. Ich sagte nur, was unbedingt +nötig war. Ich traute ihm nicht und hatte, um später +einen Schutzzeugen zu haben, zugleich mit ihm den +Militärschriftsteller und Redakteur Max Dittrich eingeladen, +der an meiner Stelle die Unterhaltung leitete.</p> + +<p>Lebius trank viel Wein, während ich nur nippte. Er wurde +um so lebhafter, je ruhiger und wägsamer ich blieb. Er gab +sich alle Mühe, mich und meine Frau davon zu +überzeugen, daß er „ein ganzer Kerl” sei. So lautete +sein Lieblingsausdruck, den er oft gebrauchte. Er sprach +unablässig von seinen Grundsätzen, seinen Ansichten, +seinen Plänen, von seiner großen Geschicklichkeit, +seinen reichen Erfahrungen und seinen ausgezeichneten Erfolgen +als Journalist und Redakteur, Herausgeber und Verleger, +Herdenführer und Volkstribun.</p> + +<p>Der Versuch dieses Mannes, uns zu imponieren, geschah in einer +Weise eines ganz gewöhnlichen, unvorsichtigen Menschen, der +so von seinen eigenen Vorzügen überzeugt ist, daß +er gar nicht daran denkt, andere könnten darüber +lachen. Als er sah, daß nichts bei mir verfing, wurden +seine Anstrengungen krampfhafter. Ich mußte von seiner +Vortrefflichkeit überzeugt werden, um jeden Preis! Denn er +brauchte Geld, viel Geld! Und die Hoffnung, die er auf mich +gesetzt hatte, schien seine letzte zu sein! Darum offenbarte er +uns in seiner Geldangst seine verborgensten Geschäfts- und +Lebensgrundsätze. Er glaubte infolge des vielen Weines, uns +dadurch zu gewinnen, stieß uns dadurch aber um so sicherer +ab. Da ich mich hier kurz zu fassen habe, gebe ich von diesen +seinen Grundsätzen nur die drei wichtigsten wieder. +Nämlich:</p> + +<p class="letter"> +1. +Wir Redakteure und Journalisten haben gewöhnlich kein +Geld. Darum dürfen wir uns auch keine eigene Meinung +gestatten. Wir wollen leben. Darum verkaufen wir uns. <b>Wer am +meisten zahlt, der hat uns!</b> +</p> + +<p class="letter"> +2. +Jeder Mensch hat dunkle Punkte in seinem Charakter und in +seinem Leben. <b>Auch jeder Arbeitgeber, jeder Beamte, jeder +Polizist, jeder Richter oder Staatsanwalt hat solches Werg an +seinem Rocken.</b> Das muß man klug und heimlich zu +erfahren suchen. Keine Mühe darf dabei verdrießen. Und +ist es erforscht, so hat man gewonnenes Spiel. Man bringt in +seinem Blatte eine Bemerkung, die dem Betreffenden sagt, +daß man alles weiß, doch so, daß er nicht +verklagen kann. Dann hat man ihn in der Hand und kann mit ihm +machen, was man will. Er gibt klein bei. In dieser Weise habe ich +meinen Lesern schon außerordentlich viel genützt! +</p> + +<p class="letter"> +3. +Die Menschen zerfallen in sozialer Beziehung in Schafe und +Böcke, in Herren und Knechte, in Gebietende und Gehorchende. +Wer aufhören will, Herdenmensch zu sein, <b>der hat das +Herdengewissen bei Seite zu legen.</b> Wenn er das tut, dann +laufen alle, die dieses Gewissen noch mit sich schleppen, hinter +ihm her. Es ist ganz gleich, zu welcher Herde er gehören +will. Er kann von einer zur anderen übertreten, kann +wechseln. Das schadet ihm nichts. Nur hat er dafür zu +sorgen, daß es mit der nötigen Wärme und +Ueberzeugung geschieht, denn das begeistert. Laufen ihm die +Sozialdemokraten nicht nach, so laufen ihm die Anderen nach! +</p> + +<p>Als wir drei diese erstaunlichen Belehrungen hörten, +brauste Max Dittrich einige Male zornig auf; meine Frau war still +vor Erstaunen; ich aber ging hinaus, um den Ekel zu verwinden! +Lebius bekam infolge dessen weder Geld noch sonst etwas von mir. +Da sah er ein, daß diese beispiellose Selbstentlarvung +nicht nur ganz umsonst gewesen sei, sondern daß er sich +durch sie in unsere Hände geliefert hatte. Wir drei waren +nun die gefährlichsten Menschen, die es für ihn gab. +<b>Er durfte uns nie vor Gericht zu Worte kommen lassen,</b> +sondern mußte alles tun, <b>uns als unglaubhafte, +eidesunwürdige Personen hinzustellen.</b> Ich lege +großen Wert darauf, dies ganz besonders zu betonen, +denn</p> + +<p class="letter"> +<b>es ist der einzig richtige Schlüssel zu +seinem ganzen späteren Verhalten, welches man ohne diesen +Schlüssel wohl kaum begreifen könnte, weil der +Haß dieses Mannes gegen uns drei fast unmenschlich +erscheint.</b> +</p> + +<p>Noch ehe er sich an diesem Abend mit Max Dittrich entfernte, +beklagte ich mich absichtlich über die vielen Zuschriften, +in denen man mich, den gar nicht reichen Mann, mit Bitten um Geld +überschüttet, und tat dies in einer Weise, die jeden +gebildeten, ehrenhaften Mann abhalten mußte, mir mit +ähnlichen Wünschen zu kommen. Schon gleich am +nächsten Tag schrieb er mir folgenden Brief:</p> + +<p class="right"> +„Dresden-A., den 3. 5. 04. +</p> + +<p class="letter"> +Sehr geehrter Herr Doktor!<br/> + Indem ich Ihnen herzlich für den freundlichen Empfang und +die erwiesene Gastfreundschaft danke, bitte ich Sie, wenn Sie die +Kunstausstellung besuchen oder sonst einmal nach Dresden kommen, +bei uns zu Mittag essen oder den Kaffee einnehmen zu wollen.<br/> + In einem Punkte muß ich unser gestriges Abkommen +widerrufen. Ihre unentgeltliche Mitarbeit kann ich nicht +annehmen. Wir zahlen zehn Pfennig für die Zeile, was wohl +derselbe Preis sein wird, den Sie von anderen Blättern +erhalten haben.<br/> + Was Sie mir gestern erzählt haben, habe ich heute noch +einmal überdacht. Es will mir scheinen, als ob trotz des +kolossalen Absatzes Ihrer Werke der Umsatz noch erheblich +gesteigert werden könnte. Meine Buchhändler- und +Verlagserfahrungen haben mich gelehrt, daß der Wert einer +richtig geleiteten Propaganda und direkten Reklame gar nicht +überschätzt werden kann.<br/> + Meine Frau und ich empfehlen sich Ihrer werten Frau Gemahlin +und Ihnen in <b>Verehrung</b> und <b>Dankbarkeit</b> +ergebenst +</p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Ich mache darauf aufmerksam, daß er mich „Doktor” +titulierte, obgleich ich ihm während seines Besuches +bedeutet hatte, und zwar wiederholt, hiervon abzusehen. Er tat +dies aber nicht, denn dieser Doktor sollte ihm ja als Waffe gegen +mich dienen!</p> + +<p>Um diese Zeit schrieb Max Dittrich eine Broschüre +über mich und meine Werke. Er war so unvorsichtig, das +Manuskript Lebius zu zeigen. Dieser kam sofort nach Radebeul +geeilt, um mich zu bitten, mich bei Dittrich dafür zu +verwenden, daß dieser ihm, Herrn Lebius, das Werk in Verlag +gebe. Er wurde ganz selbstverständlich mit dieser Bitte +abgewiesen, und ich schrieb Herrn Max Dittrich, daß ich +niemals wieder mit ihm verkehren würde, wenn es ihm +einfalle, diesem Manne die Broschüre zu überlassen.</p> + +<p>Dieser zweite Besuch des Herrn Lebius dauerte höchstens +zehn Minuten lang. Als er fort war, fehlte mir eine Photographie, +die er mir entwendet hatte. Er durfte nie wiederkommen. Trotzdem +hat er wiederholt behauptet, in meinem Hause vielfach verkehrt zu +sein und mich sehr genau studiert zu haben.</p> + +<p>Am folgenden Tage schrieb er mir:</p> + +<p class="right"> +„Dresden-A., 12. 7. 04.<br/> +Fürstenstraße 34. +</p> + +<p class="letter"> +Sehr geehrter Herr Doktor!<br/> + <b>Ich möchte sehr gern die Dittrichsche Broschüre +verlegen und würde mir auch die größte Mühe +geben, sie zu vertreiben.</b> Durch den Rücktritt von der +„Sachsenstimme” -- offiziell scheide ich erst am 1. Oktober d. +J. aus -- bin ich aber etwas kapitalschwach geworden.<br/> + <b>Würden Sie mir vielleicht ein auf drei Jahre +laufendes, 5prozentiges Darlehen</b> gewähren? Ich zahle +Ihnen die Schuld vielleicht schon in einem Jahre zurück.<br/> + <b>Als Dank dafür würde ich die Broschüre so +lancieren, daß alle Welt von dem Buche spricht. Ich habe ja +auf diesem Gebiete besonders große Erfahrung.</b><br/> + Meine Zeitung kommt zu Stande und zwar auf ganz solider Basis. +Nun heißt es arbeiten und zeigen, <b>daß man ein +ganzer Kerl ist</b> usw. usw. Beste Empfehlung an Ihre Frau +Gemahlin</p> + +<p class="right"> +Ihr Ihnen ergebener <br/> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Ich antwortete nicht. Ich war der Ansicht, daß jemand, +der Ehre besitzt, auf ein solches Schweigen nicht weitergehen +könne, zumal ich Herrn Lebius <b>mit der Broschüre +total abgewiesen hatte.</b> Aber am 8. August schrieb er trotzdem +wieder:</p> + +<p class="letter"> +„Die „Sachsenstimme” ist am 4. d. zu vorteilhaften +Bedingungen an mich allein übergegangen. Ich kann jetzt +schalten und walten, wie ich will. Um mich von dem Drucker etwas +unabhängig zu machen, <b>würde ich gern einige tausend +Mark (3--6) auf ein halbes Jahr als Darlehen aufnehmen.</b> Ein +Risiko ist ausgeschlossen. Hinter mir stehen die jüdischen +Interessentenfirmen, die mich, wie die letzte Saison bewiesen +hat, in weitgehendem Maße unterstützten. Das +Weihnachtsgeschäft bringt wieder alles ein. <b>Würden +Sie mir das Darlehen gewähren? Zu Gegenleistungen bin ich +gern bereit.</b> Die große Zahl von akademischen +Mitarbeitern erhebt mein Blatt über die Mehrzahl der +sächsischen Zeitungen. Wir können außerdem die +Artikel, auf die Sie Wert legen, an 300 oder mehr deutsche und +österreichische Zeitungen versenden und den betreffenden +Artikel blau anstreichen. So etwas wirkt unfehlbar. In Dresden +lasse ich mein Blatt allen Wirtschaften (1760) zugehen. Mit +vorzüglicher Hochachtung</p> + +<p class="right"> +Rudolf Lebius.” +</p> + +<p>Zu derselben Zeit erfuhr ich, daß Lebius gar nichts +besaß, sondern den Offenbarungseid geleistet hatte, +daß er den Drucker seines Blattes nicht bezahle, daß +er überhaupt nur Schulden habe und daß er sogar +Honorar schuldig bleibe. Daß seine Zeitung eine solide +Basis habe, war unwahr, ebenso die „große Zahl der +akademischen Mitarbeiter” und Anderes. Dergleichen absichtliche +Täuschungen gehören eigentlich vor den Staatsanwalt. +Ich mache auf seine Ueber- und Unterschriften aufmerksam: „Sehr +geehrter Herr . . . . Mit vorzüglicher Verehrung!” „Mit +großer Hochachtung und Verehrung!” „Sehr geehrter Herr +Doktor . . . . In Verehrung und Dankbarkeit.” Als er sah, +daß diese Höflichkeiten nicht zogen, schrieb er nicht +mehr an mich, sondern an Dittrich. So am 15. August 1904:</p> + +<p class="letter"> +„Werter Herr Dittrich!<br/> + Ich gebe Ihnen für die Vermittlung ein Prozent. <b>Mehr +als 10 000 Mk. brauche ich nicht.</b> Ich würde aber auch +mit weniger vorlieb nehmen. Das Honorar sende ich am 20. d. wie +verabredet.<br/> + Können Sie nicht <tt>Dr.</tt> May +<b>b e a r b e i t e n, </b> daß er mir Geld +vorschießt?<br/> + Freundlichen Gruß</p> + +<p class="right"> +R. Lebius.” +</p> + +<p>Dann am 27. August:</p> + +<p class="letter"> +„Werter Herr Dittrich!<br/> + Meine Frau kommt am 1. September zu Herrn <tt>Dr.</tt> Klenke, +einen kleinen Betrag zu kassieren. Bei dieser Gelegenheit gibt +sie Ihnen Ihr Honorar. Sie haben meine schriftliche Zusage, +daß ich Ihnen 1 Prozent von dem Gelde gebe, welches Sie mir +von H. V. oder <tt>Dr.</tt> M. (May) vermitteln. Sie erhalten das +Geld sofort . . . .<br/> + Freundlichen Gruß +</p> + +<p class="right"> +Lebius.” +</p> + +<p>Er war nämlich Herrn Max Dittrich ein Honorar von 37 Mark +45 Pfennigen schuldig, welches er trotz der Kleinheit dieses +Betrages nicht bezahlen konnte. Es wurde ihm daraufhin ein +Spiegel gerichtlich abgepfändet. Als er von Dittrich, +anstatt der 10 000 Mark von mir, eine Mahnung um diese 37 Mark 45 +Pfennig bekam, schrieb er ihm am 3. September:</p> + +<p class="letter"> +„Geehrter Herr Dittrich!<br/> + Ich habe Herrn <tt>Dr.</tt> <tt>med.</tt> Klenke ersucht, +Ihnen 40 Mk. zu meinen Lasten gutzuschreiben. Ihr Verhalten mir +gegenüber finde ich höchst sonderbar, um nicht zu sagen +beleidigend.<br/> + Achtungsvoll +</p> + +<p class="right"> +R. Lebius.” +</p> + +<p>Diesem <tt>Dr.</tt> Klenke fiel es aber auch nicht ein, die +Schulden des Herrn Lebius zu bezahlen, und so kam in logischer +Folgerichtigkeit am 7. September in Form einer Postkarte folgende +Drohung bei mir an:</p> + +<p class="letter"> +„Werter Herr!<br/> + Ein gewisser Herr Lebius, Redakteur der „Sachsenstimme”, +erzählte einem Herrn, daß er einen Artikel gegen Sie +schreibt. Ich habe es im Lokal gerade gehört. Es warnt Sie +ein Freund vor dem Manne. +</p> + +<p class="right"> +B.” +</p> + +<p>Ueber den Verfasser und den Zweck dieser Karte war ich mir +natürlich sofort im Klaren. Auch das Gutachten der +<b>vereideten Sachverständigen</b> lautet dahin, +<b>daß sie unbedingt von Lebius selbst geschrieben ist.</b> +Jedenfalls erwartete er ganz bestimmt, daß ich auf diese +Erpressung hin die 10 000 Mark zahlen werde. Gab ich sie nicht, +so waren mir nicht nur der jetzt angedrohte, sondern noch weitere +Racheartikel sicher und auch noch anderes dazu, was mich in +Besorgnis setzen mußte. Aber ich ließ auch jetzt +nichts von mir hören und sah mit gutem Gewissen dem +unvermeidlichen Artikel entgegen, der am 11. September 1904 in +Nummer 33 des Lebiusschen Blattes, der „Sachsenstimme” erschien +und die dreifache Ueberschrift hatte:<br/> +<br/> +</p> + +<p class="noindent"> +<b>„Mehr Licht über Karl May</b> +</p> + +<p class="center"> +<b>160 000 Mark Schriftstellereinkommen</b> +</p> + +<p class="right"> +<b>Ein berühmter Dresdner Kolportageschriftsteller.” </b> +</p> + +<p>Dieser Mann hatte meiner Frau und mir sein Wort gegeben, +nichts zu veröffentlichen. Er war sogar nur unter diesem +Versprechen bei uns hereingelassen worden, und nun +veröffentlichte er doch, und zwar in welcher Weise und aus +welchen Gründen! Er stellte alles auf den Kopf; er drehte +alles um! Er legte uns alles, was ihm beliebte, in den Mund, und +was wir wirklich gesagt hatten, das verschwieg er, um sich nicht +zu blamieren. Dieser Aufsatz enthält über 70 moralische +Unsauberkeiten, Verdrehungen und direkte Unwahrheiten. Aber das +war nur der Anfang; die Fortsetzungen folgten baldigst nach. +Dieser Artikel in Nr. 33 der „Sachsenstimme” war so gehalten, +daß Lebius wieder umlenken konnte, falls ich das Geld nun +endlich noch gab. Und schon in Nr. 34 kam ein sehr deutlicher +Wink, der mir sagte, was geschehen werde, falls ich mich nicht +zum Zahlen bewegen lasse. Dieser Wink bestand in einer +Münchmeyerschen Annonce, die ganze Bände zu mir sprach. +Der Besitzer der Firma Münchmeyer hatte nämlich zu mir +gesagt: „Die Veröffentlichung der andern Romane tut Ihnen +noch gar nicht viel; aber sobald ich mit dem „Verlorenen Sohn” +fertig bin und ihn annonciere, sind Sie verloren! Der wird so +happig, daß es Ihnen dann unmöglich ist, als +Schriftsteller weiter zu existieren!” Und dieser „Verlorene +Sohn” wurde jetzt in Nr. 34 der „Sachsenstimme” annonciert. +Das war genau so, als ob mir mit Riesenbuchstaben geschrieben +worden wäre: „Nun aber endlich Geld her, sonst geht es in +diesem Tone weiter!” Der gefährlichste Erpresser ist der, +welcher es in dieser raffinierten Weise anfängt, die noch +deutlicher ist, als das gesprochene Wort, aber von keinem +Staatsanwalt verfolgt werden kann. Ich gab aber trotzdem nichts. +Da kam in Nr. 44 ein zweites Elaborat, in Nr. 46 ein drittes und +in Nr. 47 ein viertes. In Nr. 46 wurde mir die Verbindung des +Herrn Lebius mit der Firma Münchmeyer schon deutlicher +gezeigt, denn es wurde da gesagt, der Inhaber dieser Firma habe +einen ganzen Haufen alter Briefe von mir in der Hand und +könne also ganz genaue Auskunft über mich geben, wenn +er nur wolle. In Wahrheit aber besaß er nicht einen +einzigen alten Brief von mir, doch wußte ich nun genau, +daß Lebius die Ausführung des Münchmeyerschen +Programms, mich durch meine Vorstrafen „in den Zeitungen vor +ganz Deutschland kaput zu machen”, übernommen hatte. Ich +war überzeugt, daß die Zahlung der 10 000 Mark ihn +sofort zum Schweigen bringen würde, hätte mich aber vor +mir selbst geschämt, ihm auch nur einen einzigen Pfennig zu +geben.</p> + +<p>Wie ich gedacht hatte, so geschah es: Schon die Nr. 48 brachte +die ohne alle Veranlassung frei aus der Luft niederfallende +Verkündigung: „Die vier Jahre, die Herr Karl May in +Waldheim verbüßte, waren nach unserer Information die +Folge eines Einbruchdiebstahls in einem Uhrenladen.” Ich habe +aber niemals einen Einbruch verübt. Man sieht, daß es +nicht auf die Wahrheit ankam, sondern nur auf das +„Kaputmachen”. Diese Nr. 48 erschien am +Weihnachtsheiligenabend. Da hingen an den Fenstern der Dresdener +Buchhandlungen Plakate aus, auf denen die „Sachsenstimme” mit +den großen roten Buchstaben <b>„Die Vorstrafen Karl +Mays”</b> angekündigt wurde. Einen schreienderen Beweis, +daß es sich nicht um eine literarische Tat, sondern nur um +die Ausführung ganz niedriger Absichten handelt, kann es +wohl kaum geben! Daher mag es hier genug sein des grausamen +Spiels. Es widerstrebt mir, die Heldentaten des Herrn Lebius +einzeln aufzuzählen. Ich will nur in Summa sagen, daß +er in dieser Weise fortfuhr, bis er nach einiger Zeit aus Dresden +verschwinden mußte. Ich habe die Unwahrheiten, die er in +seinen Dresdener Artikeln über mich verbreitete, +zusammengestellt, um sie gerichtlich zu beweisen. Es sind ihrer +trotz der Kürze der Zeit nicht weniger als +hundertzweiundvierzig. Mehr hat bisher wohl noch kein Mensch +geleistet! Ich betone aber ausdrücklich, daß diese +Aufstellung nicht etwa alles, sondern nur eine Auswahl +enthält. Ich könnte diese Ziffer trotz ihrer Höhe +gut verdoppeln. Ich habe lange dazu geschwiegen, bis es nicht +mehr zum Aushalten war. Da mußte ich mich endlich wehren. +Ich erstattete bei der Staatsanwaltschaft Anzeige wegen +Erpressung. Ich legte seine Briefe bei. Auch die drohende Karte +vom 7. September 1904. Die Sachverständigen erklärten, +daß Lebius sie unbedingt geschrieben habe. Die +erwähnte Behörde aber war der Ansicht, daß dies +nicht zureiche, eine Untersuchung zu eröffnen. Und Lebius +gab sich bei seinen Auskünften die größte +Mühe, mich als einen Menschen hinzustellen, dem man nicht +glauben dürfe. Das Meisterstück hat er dabei abgelegt, +indem er der Königlichen Staatsanwaltschaft in Dresden +berichtete, daß der Wirt des Hotels auf dem Berge Sinai in +Dresden gewesen sei und sich sehr schlecht über mich +ausgesprochen habe. Nun weiß aber Jedermann, daß es +auf dem Berg Sinai bis heutigen Tages noch nie ein Hotel gegeben +hat! Ich zeige damit wohl zur Genüge, was man von der +Erfindungsgabe des Herrn Lebius alles erwarten kann. Ich erhob +zweimal Privatklage gegen ihn. Die eine zog ich während der +Verhandlung aus reinem Ekel vor dem Schmutz, in dem ich da waten +sollte, zurück. Die andere brachte ihm in der ersten Instanz +eine Geldstrafe von 30 Mark; in der zweiten Instanz aber wurde er +freigesprochen, weil mein Anwalt krank geworden war und einen +Vertreter stellte, der die Sache führte, ohne orientiert zu +sein.</p> + +<p>Das ist alles, was ich gegen die ebenso zahlreichen wie +unausgesetzten Angriffe des Herrn Lebius getan habe. Gewiß +wenig genug! Daß ich Berichterstattern Auskunft gab, wenn +sie kamen, mich zu fragen, versteht sich ganz von selbst. Es kann +mir niemand zumuten, diesen Herren aus Angst vor Herrn Lebius die +Unwahrheit zu sagen. Dennoch behauptet er noch heute, daß +nicht ich von ihm, sondern er von mir verfolgt und angegriffen +werde.</p> + +<p>Selbst als er aus Dresden mit Hinterlassung einer ganz +bedeutenden Schuldenlast verschwunden war, hörten seine +Angriffe gegen mich nicht auf. Ich erwähne da nur den +Aufsatz in der österreichischen Lehrerzeitung, durch den er +ca. 40 000 Lehrer auf mich hetzte. Ich schwieg. Ich schwieg +selbst dann, als er in der Wilhelm Bruhnschen „Wahrheit” in +Berlin einen geradezu empörenden Angriff gegen mich brachte, +in dem er mich als „atavistischen Verbrecher” brandmarkte, der +wegen „fortgesetzter Einbruchdiebstähle” fast ein +Jahrzehnt im Gefängnis und Zuchthaus gesessen habe! Er +behauptete da, daß ich eine schwere, chronische Krankheit +durchgemacht habe, die „offenbar kulturhemmend” gewirkt habe. +Hiermit hatte er begonnen, sein in Dresden unterbrochenes Werk in +Berlin gegen mich fortzusetzen. Leider war ich gezwungen, ihn +dort persönlich aufzusuchen, weil ich in dem großen +Münchmeyerprozeß eine Frage an ihn zu richten hatte, +die nicht zu umgehen war. Ich fuhr zu diesem Zwecke mit meiner +Frau nach Berlin. Wir entdeckten seine Wohnung. Wir hörten, +daß er ein neues Blatt herausgab, der „Bund” genannt. Wir +telefonierten ihm. Er bestellte uns nach Caf<tt>é</tt> +Bauer. Wir folgten dieser seiner Weisung. Er kam mit seiner Frau +und deren Schwester. Er beantwortete meine Frage nicht. Er +leugnete alles. Ich sagte ihm, daß ich sein neues Blatt +sehen möchte. Das war ganz ehrlich und gut gemeint, ohne +alle böse Absicht. Er aber begehrte sofort zornig auf und +fragte drohend: „Haben Sie etwas vor? Dann gehe ich auf der +Stelle von neuem gegen Sie los! Hier in Berlin gibt es über +zwanzig Blätter wie die „Dresdener Rundschau”. Die stehen +mir alle zu Gebote, wenn ich Sie totmachen will! Hier dauert das +gar nicht lang!”</p> + +<p>Ich antwortete, daß es mir gar nicht einfalle, wieder in +den alten Sumpf zu steigen. Meine Frau sagte zu seiner Frau in +ruhiger, freundlicher Weise, daß es die schönste +Aufgabe verheirateter Frauen sei, versöhnend zu wirken und +die Härten des Lebens zu mildern; dann entfernten wir +uns.</p> + +<p>Das war am 2. oder 3. September. <b>Einen Monat +später,</b> am 1. Oktober, kam folgender Brief aus Berlin; +ich war verreist:</p> + +<p class="letter"> +Geehrter Herr!<br/> + Obwohl völlig unbekannt, erlaube ich mir, bei Ihnen +einmal anzufragen, ob Sie mir nähere Mitteilungen über +einen Herrn Lebius, seinerzeit in Dresden, machen könnten. +Genannter Herr, ehemaliger Sozialdemokrat, hat gegen mich als den +seinerzeit verantwortlich zeichnenden Redakteur des +„Vorwärts” die Privatbeleidigungsklage angestrengt. Es +wird vor Gericht meine Aufgabe sein müssen, Herr Lebius als +„Ehrenmann” zu kennzeichnen. Auf den Rat eines Dresdener +Kollegen wende ich mich vertrauensvoll an Sie, ob Sie mir +über diesen Herrn vielleicht einige Auskunft geben +könnten. Sollte dies der Fall sein, so sehe ich Ihrer +Freundlichkeit sehr verbunden entgegen.<br/> + Mit größter Hochachtung +</p> + +<p class="right"> +Carl Wermuth, <br/> +Redakteur des „Vorwärts”. +</p> + +<p>Ich wiederhole, daß ich verreist war und also auf dessen +Wunsch, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht eingehen +konnte. Am 5. April 1908, also</p> + +<p class="center"> +<b>ein volles halbes Jahr später,</b> +</p> + +<p class="noindent"> +erhielt ich von der Redaktion des „Vorwärts” eine weitere +Zuschrift: +</p> + +<p class="letter"> +<b>„Zu unserem Bedauern haben Sie es bisher unterlassen, +sich</b> über die gegen Sie gerichteten Angriffe des Lebius +<b>zu äußern</b> resp. <b>uns die notwendigen +Beweismittel</b> der ehrenabschneiderischen Tätigkeit des +Lebius in Bezug auf Ihre Person <b>zur Verfügung zu +stellen.</b> Wie ich von meinem Kollegen Wermuth erfuhr, hat Ihre +Frau mitgeteilt, daß Sie sich zur Zeit auf Reisen befinden +und <b>nicht in der Lage seien, uns mit dem gewünschten +Material gegen Lebius zu versehen.</b> Ich hoffe, daß Sie +inzwischen von der Reise zurückgekehrt sind und nunmehr . . +. .”</p> + +<p>Hiermit ist wohl zur vollsten Genüge bewiesen, +<b>daß nicht ich Herrn Lebius verfolge, sondern er +mich.</b> Herr Lebius behauptet, daß ich mich damals, am +Sedanstage, an ihn gemacht habe, um dem „Vorwärts” +beizustehen. Hier beweise ich, daß ich damals von jener +Beleidigungsklage noch gar nichts gewußt habe, sondern +daß der „Vorwärts” es mir erst einen Monat +später mitteilte und dann aber nach wieder sechs Monaten +<b>noch gar keine Antwort bekommen hat!</b> Ich hatte also Herrn +Lebius volle sechs Monate geschont, wo es mir doch durch die +Sozialdemokratie so bequem und leicht gemacht worden war, mich an +ihm zu rächen. <b>Daß ich ihn nicht verfolge, sondern +von ihm fort und fort zur Notwehr gezwungen werde,</b> ist +übrigens auch schon dadurch erwiesen, daß ich es bis +heut umgangen habe, als Zeuge gegen ihn auszusagen. Mit dieser +Zeugenschaft für den „Vorwärts”-Redakteur hatte es +damals folgende Bewandtnis:</p> + +<p>Lebius hatte den „Vorwärts” wegen Beleidigung verklagt, +und der „Vorwärts” hatte mich, natürlich ohne erst +viel zu fragen, als Zeugen angegeben. Das Gewissen des Lebius +sagte ihm, daß er von diesem Zeugen wohl nicht viel +freundliches zu erwarten habe. Ja, es kam ihm sogar der Gedanke, +daß ich von dieser Zeugenschaft schon im +Caf<tt>é</tt> Bauer gewußt habe. Das erzürnte +ihn. Er schickte seine Frau zu meiner Frau nach Radebeul, um mir +zu drohen. Meine Frau wünschte diese Zusammenkunft in meinem +Hause; aber darauf ging Frau Lebius nicht ein. Die beiden Frauen +trafen sich im Restaurant unseres Bahnhofes. Dort wollte Frau +Lebius uns im Auftrage ihres Mannes vorschreiben, was und wie ich +als Zeuge auszusagen habe. Insonderheit sollte ich vor Gericht +erklären, daß er jene drohende Postkarte vom 7. +September in Dresden nicht geschrieben habe. Tue ich das nicht, +so müsse er den alten Kampf gegen mich von Neuem beginnen. +Meine Frau lehnte das ganz entschieden ab, denn wir waren jetzt +mehr als je überzeugt, daß er der Verfasser sei. Seine +Frau kehrte also unverrichteter Sache nach Berlin +zurück.</p> + +<p>Als Lebius diesen Versuch mißlungen sah, beschloß +er, mich eidesunwürdig zu machen, und zwar durch eine +Broschüre, die noch vor dem Termin, an dem ich als Zeuge +aufzutreten hatte, herausgegeben werden mußte. Da aber +diese Broschüre, wenn sie wirken sollte, derart abzufassen +war, daß sie ganz unbedingt eine Bestrafung des Verfassers +nach sich zog, die Lebius von sich abwenden wollte, so sah er +sich nach einem Strohmanne um, der ihn und Karl May noch nicht +kannte und unerfahren, vertrauensselig und bedürftig genug +war, sich für einige Hundert Mark <b>völlig +ungeahnt</b> in die ganz sicher zu erwartende +<b>Gefängnisstrafe stürzen zu lassen.</b> Er fand ihn +in einem gewissen Herrn F. W. Kahl aus Basel, zog ihn in sein +Netz und umspann ihn derart mit Selbstvergötterungs- und +Lügenfäden, daß der junge, völlig ehrliche +Mann es fast für eine Ehre hielt, sich in den Dienst eines +so bedeutenden, geistig, sozial und auch juristisch +hervorragenden Mannes stellen zu dürfen.</p> + +<p>Lebius ging, wie überhaupt und immer, auch hierbei +außerordentlich schlau und raffiniert zu Werke. Er +verschwieg anfänglich, daß es sich <b>nur</b> um eine +Broschüre gegen <b>mich</b> handle. Er machte dem jungen +Manne weis, daß er ein w i s s e n s ch a f t l i c h e s +Werk über berühmte resp. berüchtigte Männer +schreiben solle. Er nannte ihm die Namen derselben; darunter +befand sich auch der meinige. Aber als Kahl sich an das Werk +machte und täglich seine Instruktionen erhielt, lauteten +diese so, daß nach und nach alle diese „Berühmten und +Berüchtigten” verschwanden und nur Karl May allein +übrig blieb. Aus dem „wissenschaftlichen” Werke aber +sollte ein Pamphlet allerniedrigsten und allergefährlichsten +Ranges werden. Kahl erkannte das von Tag zu Tag immer deutlicher. +Er begann zu ahnen, daß er mit aller Liebenswürdigkeit +in das Verderben geführt werden solle. Als er das Herrn +Lebius zu verstehen gab, hielt dieser es für geraten, ihm +den ganzen Zweck der Broschüre einzugestehen. Er gab +folgendes zu:</p> + +<p><b>Lebius hat den Redakteur des „Vorwärts” wegen +Beleidigung verklagt.</b></p> + +<p><b>Der „Vorwärts” hat Karl May als Zeugen gegen Lebius +angegeben.</b></p> + +<p><b>Darum ist es für Lebius notwendig, Karl May kaput zu +machen.</b></p> + +<p><b>Um das zu erreichen, gibt er die hier in Arbeit liegende +Broschüre heraus.</b></p> + +<p><b>Der Termin, in dem Karl May als Zeuge verhört wird, +findet anfangs April statt.</b></p> + +<p><b>Darum muß die Broschüre ganz unbedingt bis zum +1. April fertig zum Versenden sein.</b></p> + +<p><b>Wenn die Broschüre erst später fertig wird, hat +sie keinen Zweck; dann braucht man sie überhaupt gar nicht +erst zu schreiben.</b></p> + +<p><b>Sie wird an die Zeitungen versandt, die darüber +berichten. Das soll auf die Richter wirken.</b></p> + +<p><b>Sie wird auch den Richtern direkt vorgelegt. Sobald dies +geschieht, ist May als Zeuge kaput.</b></p> + +<p>Als der ehrliche, junge Mann das hörte, wurden seine +Bedenken noch größer, als sie vorher gewesen waren. +Als er diese äußerste und seiner Besorgnis, +gerichtlich bestraft zu werden, Ausdruck gab, stellte Lebius ihm +folgendes vor:</p> + +<p><b>Wir Schriftsteller stehen überhaupt und stets mit +einem Fuße im Gefängnisse.</b></p> + +<p><b>Bestraft zu sein ist für uns eine gute Reklame. Auch +ich bin schon oft vorbestraft.</b></p> + +<p><b>Sie brauchen sich vor dem Gericht gar nicht zu +fürchten. Sie sind noch nicht vorbestraft, Sie dürfen +schwören. May aber darf nicht schwören.</b></p> + +<p><b>May steht unter Polizeiaufsicht. Es ist ihm verboten, in +einer Stadt zu wohnen. Darum wohnt er in Radebeul.</b></p> + +<p><b>I ch b i n e i n g r o ß e s, +f o r e n s i s ch e s T a l e n t. W e n n i ch +a n f a n g e z u s p r e ch e n, s i n d d i e +R i ch t e r a l l e m e i n!</b></p> + +<p><b>W e n n m a n i n e i n e m P r o z e s s e +st e ck t u n d m a n s ch r e i b t e i n e +s o l ch e B r o s ch ü r e, d a s w i r k t +u n g e h e u e r b e i d e n R i ch t e r n!</b></p> + +<p><b>Die Frau May hat mich mit Tränen in den Augen um Gnade +für ihren Mann gebeten.</b></p> + +<p><b>May muß durch die Broschüre totgemacht werden. +Alles übrige ist Beiwerk, u m d e n w a h r e n +Z w e ck z u v e r s ch l e i e r n!</b></p> + +<p>Die Folge von diesen und ähnlichen sonderbaren +Expektorationen war, daß Kahl beschloß, sich von +dieser Sache zurückzuziehen. Er verbot Lebius, etwas von ihm +zu drucken oder gar etwa seinen Namen für diese +Broschüre zu mißbrauchen. Er richtete ganz dasselbe +Verbot auch an den Verleger. Er glaubte, damit ganz sicher aus +diesem Sumpfe wieder herausgestiegen zu sein. Aber er kannte +Lebius und dessen Unverfrorenheit noch nicht. Die Broschüre +erschien, und zwar genau am ersten April. Ihr Titel war:</p> + +<p class="center"> +<b> K a r l M a y, <br/> + ein Verderber der deutschen Jugend</b><br/> +von<br/> +<b>F. W. Kahl-Basel.</b> +</p> + +<p>Kahl erfuhr erst durch eine Schweizer Zeitung, daß die +Broschüre doch noch erschienen sei, und zwar unter seinem +Namen. Er tat sofort die geeigneten Schritte. Der von Lebius +gefürchtete Termin, an dem ich als Zeuge vernommen werden +sollte, hat nicht stattgefunden. Ob er den Herren Richtern die +Broschüre dennoch vorgelegt hat oder nicht, ist mir +unbekannt. Aber an die Zeitungen versandt hat er sie schleunigst, +und zwar mit Waschzetteln, Begleitworten usw., von deren +verleumderischer Natur man eine Ahnung bekommt, wenn man nur +folgende Zeilen liest, die er an die „Neue Züricher +Zeitung” schickte:</p> + +<p>„Herr May hat sich an mir dadurch gerächt, daß er +durch Verleumdungen meine wirtschaftliche Stellung untergrub und +mich in den Bankrott trieb. Sobald ich in einer andern Stadt +festen Fuß gefaßt hatte, erschien er wieder auf der +Bildfläche, um dasselbe Manöver zu wiederholen. Dabei +liebt er es, bevor er zu einem neuen Schlage gegen mich ausholt, +mich jeweils in meiner Wohnung aufzusuchen und mit tränenden +Augen um Frieden zu bitten.”</p> + +<p>Ueber den Inhalt dieser Broschüre habe ich hier nicht zu +sprechen. Ganz selbstverständlich waren meine Vorstrafen +aufgezählt und auch noch etwas mehr dazu. Das schickte er in +alle Welt hinaus, um mich nach Münchmeyerschem Rezept +„kaput” zu machen. Ich erlangte eine einstweilige +Verfügung gegen sie. Sie durfte nicht weitergedruckt und +weiterverarbeitet werden. Und ich erhob Privatanklage wegen +Beleidigung gegen ihn. Diese Privatklage konnte nicht zur +Verhandlung kommen, weil mein Rechtsanwalt alle meine Beweise, +und deren waren weit über hundert, verloren hatte. Sie +fanden sich erst dann, als es zu spät war, bei ihm wieder. +Ich war also gezwungen, auf die Vergleichsvorschläge, welche +der Vorsitzende machte, einzugehen. Lebius nahm alle seine +Anwürfe gegen mich, materielle wie formelle, zurück, +drückte sein Bedauern aus, mich angegriffen zu haben, und +versprach, mich von nun an in Ruhe zu lassen. Das tat er durch +seine Unterschrift. Es war mir unmöglich, einem solchen, vor +Gericht gegebenen Versprechen nicht zu glauben. Und doch war es +eine Untreue und Gewissenlosigkeit sondergleichen, daß er +mir dieses Versprechen gab, denn er konnte es mir nicht anders +geben, als <b>in der Absicht, es nicht zu halten.</b> Er hatte +sich nämlich mit meiner geschiedenen Frau in Verbindung +gesetzt. Sie fühlte, wie meist alle geschiedenen Frauen, +eine unverständige Schärfe gegen ihren geschiedenen +Mann; die trachtete er, für sich auszunutzen. Er suchte sie +in Weimar auf, wo sie wohnte. Sie lebte da ruhig und zufrieden +von einer Rente von 3000 Mark, die ich ihr gab, obgleich ich ihr +nichts zu geben brauchte, weil sie die Alleinschuldige war. Auch +hatte ich sie in jeder Weise reichlich ausgestattet. Da kam +dieser Mann zu ihr und entlockte ihr alle ihre Selbsterbitterung, +um daraus mit Hilfe seiner eigenen Hinzufügungen und +Verdrehungen einen Strick für mich zu fertigen. Er versprach +ihr ebenso heilig und teuer, wie damals mir, daß nichts, +gar nichts veröffentlicht werde, ging aber sofort hin und +schrieb für seinen „Bund” vom 28. März 1909 einen +Aufsatz unter der Ueberschrift „Ein spiritistisches +Schreibmedium als Hauptzeuge der „Vorwärts”-Redaktion.” +Mit diesen angeblichen Schreibmedium war meine jetzige Frau +gemeint.</p> + +<p>Es ist ein geradezu unglaublicher Schmutz, der da über +mich und meine jetzige Frau ausgegossen wird, und zwar mit +raffinierter Benutzung und Bearbeitung der Bitterstoffe, die im +Gemüte geschiedener Frauen vorhanden sind. Als das arme, +unglückliche Weib das las, erschrak sie. Er schwieg also +nicht! Er hatte nicht Wort gehalten! Sie eilte sofort zu ihm nach +Berlin, um ihn zur Rede zu stellen. Er behielt sie gleich dort. +Er übergab sie seinem Schwager Heinrich Medem, einem +früher gewesenen Rechtsanwalt und Notar, der vereint mit ihm +ihr Beistand wurde. Beide veranlaßten sie zunächst, +auf ihre 3000 Mark Rente zu verzichten, und zwangen sie sodann, +ihre Pretiosen zu versetzen, damit es „nach außen einen +besseren Eindruck mache”. Das heißt doch wohl, damit man +denken möge, daß ich es sei, der diese Frau in solche +Armut und solches Elend gestürzt habe! Das hat Lebius in +seinem Briefe an die Kammersängerin vom Scheidt, welcher den +Gegenstand der vorliegenden Privatklage bildet, wörtlich +eingestanden, und der Vorsitzende der ersten Instanz hat ihn +gelobt, indem er öffentlich sagte: „Das ist sehr edel von +Ihnen!”</p> + +<p>Lebius hat dieser Frau, als sie nun ohne alles Einkommen war +und vor dem Nichts stand, eine Rente für das ganze Leben von +monatlich 100 Mark versprochen, er, der wegen zwei oder drei Mark +vergeblich ausgepfändet worden ist! Sie hat es ihm +zunächst geglaubt; er aber hat sehr wohl gewußt, +daß dieses Versprechen nicht rechtsverbindlich war. Nichts +als Spiegelfechterei! Sie borgte bei Bekannten 500 Mark, um leben +zu können. Von ihm aber bekam sie nach und nach nur 200 +Mark, aber nicht etwa geschenkt, sondern nur geliehen, denn als +er merkte, daß sie von ihm weg und wieder zu mir strebte, +drohte er ihr, sie wegen dieser 200 Mark um 300 Mark zu +verklagen.</p> + +<p>Und was hatte sie davon, daß sie auf ihr ganzes +Einkommen verzichtete, daß sie aus ihren schönen, +wohlgeordneten Verhältnissen in die schmutzige Not und Sorge +sprang, daß sie sogar ihre Kleinodien verkaufte und +versetzte? Nichts, weiter gar nichts, als daß sie das +Rachewerkzeug des Herrn Lebius wurde, daß er sie +abrichtete, so über mich zu denken, zu sprechen und zu +schreiben, wie es ihm beliebte, und daß sie ihm und seinem +Schwager Medem in jeder Beziehung gänzlich in die Hand +gegeben war. Denn als ich infolge des obigen Artikels im „Bund” +gezwungen war, meine geschiedene Frau zu verklagen, machten +Lebius und Medem ihr die Schriftsätze ganz so, daß +Lebius für seine Angriffe gegen mich den ganzen Nutzen davon +hatte und sie dabei Dinge unterschreiben mußte, von deren +Zweck und Tragweite sie keine Ahnung besaß! Es kam vor, +daß sie unter Tränen sich sträubte, einen +derartigen Schriftsatz zu unterschreiben. Man zwang sie aber +doch! Bis sie endlich doch einsah, daß es unmöglich +auf diesem Wege und in dieser Weise weitergehen könne, wenn +sie nicht vollständig zu Grunde gehen wolle! Sie wendete +sich an mich und bat um Verzeihung. Mich erbarmte das arme, +verführte Weib. Ich nahm den Strafantrag und den +Beleidigungsprozeß gegen sie zurück. Und nun erfuhr +ich, in welch raffinierter Weise sie von Lebius aus ihrer +sicheren, ruhigen Position zu ihm hinübergelockt worden war, +um wirtschaftlich vernichtet und moralisch ausgebeutet resp. +gegen mich ausgespielt zu werden. Er sagt in seinem Briefe, +welcher den Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens +bildet:</p> + +<p><b>„Auf Anraten meines Rechtsanwaltes habe ich allerdings im +Hinblick auf meine gerichtliche Einigung mit May verlangt, +daß Frau Emma erst einen Teil ihrer Schmucksachen versetzt, +weil das nach außen hin einen bessern Eindruck +macht.”</b></p> + +<p>Also weil ich mich gerichtlich mit ihm geeinigt habe, weil er +mir seine Beleidigungen gerichtlich abgebeten hat und weil er +gerichtlich versprochen hat, mich nun für immer in Ruhe zu +lassen, also darum, <b>„im Hinblick darauf”</b> mußte die +Frau nun ihre Kleinodien versetzen, damit man <b>mich</b> als den +Schurken bezeichne, durch den sie in solches Elend getrieben +worden sei! Wie nennt man so ein Verhalten? Und nachdem er sie in +dieser Weise um ihr ganzes, früheres Einkommen und um ihre +Schmucksachen gebracht hat, schreibt er in diesem seinem Briefe: +„Ich habe auch durch meinen Syndikus Herrn Geheimrat Ueberhorst +Schritte vorbereiten lassen, <b>um wieder zu meinem Gelde zu +kommen!”</b> Gibt es hier überhaupt einen Ausdruck, durch +den man imstande wäre, die Lebiussche Denk- und +Handlungsweise erschöpfend zu charakterisieren?</p> + +<p>Diese arme, von Lebius in fast jeder Beziehung +vollständig ausgezogene Frau ist nicht etwa die erste oder +einzige geschiedene Frau, deren er sich bemächtigte, um +seine Zwecke zu erreichen. Es ist vielmehr eine ganz besondere +taktische Gewohnheit von ihm, geschiedene Frauen gegen ihre +Männer auszuspielen. Das eklatanteste Beispiel hiervon ist +der Fall „Max Dittrich”. Indem ich ihn hier kurz erwähne, +bitte ich um <b>ganz besondere Aufmerksamkeit,</b> weil er +für die Beurteilung des Herrn Lebius <b>von +allergrößter Wichtigkeit ist.</b></p> + +<p>Ich hatte bekanntlich, als dieser Herr seinen Besuch bei mir +machte, den Redakteur und Militärschriftsteller Max Dittrich +als Zeugen dazu geladen, aus Mißtrauen und Vorsicht, um +gegen etwaige spätere Lügen und Schwindeleien des Herrn +Lebius durch einen vollgültigen Zeugen geschützt zu +sein. Herr Dittrich war damals vom Anfang bis zum Ende anwesend +und hatte jedes von mir gesprochene Wort gehört. Einen +solchen Zeugen zu haben, wurde Herr Lebius mit der Zeit immer +peinlicher, immer gefährlicher. Er beschloß darum, +<b>ihn eidesunwürdig zu machen,</b> also ganz dasselbe, was +er auch bei mir getan hat <b>und noch heute tut.</b> Es ist das, +wie sich später zeigen wird, <b>ein persönlicher +Trick</b> von ihm, den er <b>für unfehlbar</b> hält -- +-- -- eidesunwürdig machen!</p> + +<p>Er befolgt dabei den Grundsatz, den er uns während seines +Besuches bei uns vortrug: Jeder Mensch, jeder Polizist und +Richter, jeder Beamte hat Werg am Rocken, hat eine Schuld auf +sich, die er verheimlichen muß. Man muß das +<b>entdecken</b> und <b>in die Zeitung bringen;</b> dann wird man +Herrscher und als <b>„tüchtiger Kerl”</b> bekannt. So tat +Herr Lebius auch hier. Die erste Frau Max Dittrichs war +gestorben; von der zweiten Frau hatte er sich scheiden lassen; +jetzt war er infolge eines Schiffbruchs, bei dem er nur +gefährlich verletzt dem Tode entging, schwer nervenkrank +geworden. Das gab ein hochinteressantes Material, aus dem sich +jedenfalls etwas machen ließ! Herr Lebius ging also aus, um +nach dem „Werg am Rocken”, nach der „heimlichen” Schuld und +Sünde zu suchen. Er forschte überall, schriftlich, +mündlich, persönlich. Er stellte sich überall ein, +wo er glaubte, etwas erfahren zu können. Er scheute sich +nicht, sogar zu Dittrichs Verwandten zu gehen. Er schlich sich zu +Dittrichs alter Schwägerin, zu Dittrichs Neffen und Nichte, +sogar zu Dittrichs zweiter Frau, die wieder verheiratet war und +in glücklicher, stiller Ehe lebte. Er forschte sie aus, ohne +daß sie ahnten, warum und wozu. Sie antworteten +vertrauensvoll und unbefangen. Aber als er plötzlich zu +ihrem Entsetzen die Worte „Gericht” und „Eid” fallen +ließ, da fühlten sie die Krallen, in die sie geraten +waren. Sie hatten nichts Böses sagen können und baten, +sie aus dem Spiele zu lassen. Er versprach es ihnen. Besonders +entsetzt über die Aussicht, in diesen Lebiusschen Schmutz +verwickelt zu werden, war Dittrichs zweite Frau. Ihr jetziger +Mann war ein lieber, guter, aber in Beziehung auf die „Ehre” +sehr streng denkender, unerbittlicher Herr. Seine Frau in +<b>solcher</b> Angelegenheit an Lebius’ Seite, das wäre +unbedingt von den schwersten Folgen für ihn und sie gewesen! +Sie bat also Lebius, sie ja nicht mit darin zu verwickeln, und er +scheute sich nicht, es ihr hoch und heilig zu versprechen. Dann +aber ging er schleunigst hin und brachte in Nummer 12 seiner +„Sachsenstimme” einen Bericht, dem ich nur einige Punkte +entnehme, die nicht einmal die schlimmsten sind, +nämlich:</p> + +<p>„Max Dittrich hatte von seiner ersten Frau keine Kinder, wohl +aber zwei von seiner Stieftochter, bevor diese das 16. Lebensjahr +erreichte.”</p> + +<p>„Seine Frau härmte sich über die Ausschweifungen +ihres Mannes zu Tode.”</p> + +<p>„Obgleich seine zweite Frau sehr tolerant war, trieb Dittrich +es schließlich so schlimm, daß eine Ehescheidung +unvermeidlich wurde.”</p> + +<p>„Mit der 16jährigen mit im Hause wohnenden Nichte seiner +Frau unterhielt er ein mehrjähriges Verhältnis.”</p> + +<p>„Dann fing er ein Verhältnis mit einem jungen +Mädchen an.”</p> + +<p>„Seine Frau ließ ihn durch ein Detektivbureau +beobachten.”</p> + +<p>„Während des Ehescheidungsprozesses wohnte Dittrich mit +seiner Braut zusammen und hatte auch seine Tochter bei +sich.”</p> + +<p>„Jetzt ist er wegen schweren, syphilitischen Nervenleidens +Halbinvalide” usw.</p> + +<p>Man kann sich den Schreck der Verwandten denken, als sie das +lasen und dann als Zeugen vor Gericht beordert wurden, weil Max +Dittrich ganz selbstverständlich Herrn Lebius verklagte! Die +Nichte mußte im Hause vernommen werden; sie lag krank. Die +geschiedene Frau Dittrichs ging in ihrer Herzensangst zum Richter +und sagte ihm aufrichtig, daß diese entsetzliche Sache ein +absoluter Totschlag für das Glück ihrer jetzigen Ehe +sei; sie werde das wohl kaum überleben. Dieser vortreffliche +Herr hatte nicht nur das Gesetz im Kopfe, sondern dazu auch ein +menschliches Herz in der Brust und erledigte die Vernehmung in +entsprechender humaner Weise.</p> + +<p>Selbst angenommen, daß die von Lebius angegebenen Punkte +alle auf Wahrheit beruhten, so liegt doch wohl für jeden nur +einigermaßen gebildeten und nicht verrohten Menschen die +Frage nahe, ob die Veröffentlichung solcher Dinge +<b>gesetzlich</b> resp. <b>preßmoralisch statthaft</b> sei. +Ich bin überzeugt, daß jedermann, außer Lebius, +diese Frage mit einem „Nein!” beantworten wird. Das würde +zur Charakterisierung dieses Herrn jedenfalls genügen, ist +aber noch lange nicht alles, denn wenn man Gelegenheit findet, +die Akten Dittrich <tt>contra</tt> Lebius aufzuschlagen, so sieht +man am Schlusse derselben Herrn Lebius in noch ganz anderer Weise +beleuchtet. Er gesteht da nämlich ein, daß seine +Verleumdungen gegen Max Dittrich</p> + +<p class="center"> +<b>nicht wahr gewesen seien,</b> +</p> + +<p class="noindent"> +und erklärt sich bereit, die Kosten des Verfahrens zu +tragen! Ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, um diesen +Herrn nun zu kennen. +</p> + +<p>Ob jemand aus dem Busch herausspringt und den anderen +ermordet, oder ob jemand aus den Spalten seines Rowdyblattes +heraus die Menschen niederknallt, so oft es ihm beliebt, das wird +von der Strafgesetzgebung der Zukunft wohl ganz anders betrachtet +und ganz anders behandelt werden als heutigen Tages. Doch gibt +es, Gott sei Dank, auch jetzt schon geistige und +menschheitsethische Instanzen, welche den Totschlag einer +Menschen<b>seele</b> für wenigstens ebenso strafbar halten +wie die Ermordung eines Menschen<b>körpers.</b></p> + +<p>Am 27. März 1905 hatte Lebius die oben aufgeführten +Anklagen in seiner „Sachsenstimme” gegen Max Dittrich +geschleudert, und am 18. November darauf erklärte er in der +zweiten Strafkammer des Königlichen Landgerichtes Dresden zu +Protokoll:<br/> +</p> + +<p><b>„Ich erkläre, daß ich die gegen den +Privatkläger in der „Sachsenstimme” vom 27. März 1905 +erhobenen, beleidigenden Behauptungen</b></p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b> +</p> + +<p class="noindent"> +<b>hiermit zurücknehme und mein Bedauern über die +gemachten Aeußerungen in der „Sachsenstimme” +ausdrücke und den Privatkläger deshalb</b> +</p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! um Verzeihung bitte ! ! !</b> +</p> + +<p>Als dann einige Jahre später Lebius in Berlin Streit und +Prozesse mit dem „Vorwärts” begann, gab dieser den +Militärschriftsteller Dittrich als Zeugen gegen ihn an. +Sofort griff Lebius zu seinem wohlbekannten Trick, Zeugen durch +die Presse unschädlich zu machen. Er veröffentlichte +genau dasselbe wieder, was er damals über Dittrich +veröffentlicht und dann vor dem Dresdener Landgericht</p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! als unwahr ! ! !</b> +</p> + +<p class="noindent"> +mit der Bitte um Verzeihung zurückgenommen hatte. Dittrich +war demzufolge gezwungen, ihn wieder zu verklagen und auf jene +Zurücknahme und Bitte um Verzeihung hinzuweisen. Was tat +Lebius? Er erklärte in seinem an das Königliche +Amtsgericht Charlottenburg gerichteten Schriftsatz vom 24. +Dezember 1909, daß er damals jene Abbitte und jenes +Eingeständnis der Unwahrheit seiner Behauptungen lediglich +</p> + +<p class="center"> +<b>„aus Gründen wirtschaftlicher Natur”</b> +</p> + +<p class="noindent"> +abgelegt habe. Seine Verhältnisse seien damals so +bedrängt gewesen, daß er nicht zu den Gerichtsterminen +nach Dresden habe reisen können. Er selbst also ist es, der +das folgende moralische Porträt von sich liefert: +</p> + +<p><b>Lebius verleumdet den Militärschriftsteller Dittrich +1905 in seinem Dresdener Blatte.</b></p> + +<p><b>Lebius erklärt 1905 vor dem Dresdener Landgericht, +daß diese Verleumdungen erlogen seien, und bittet um +Verzeihung.</b></p> + +<p><b>Lebius bringt 1909 in seinem Berliner Blatte jene von ihm +als Lügen bezeichneten Verleumdungen als Wahrheiten +wieder.</b></p> + +<p><b>Lebius erklärt 1909 in seinem Schriftsatz an das +Amtsgericht Charlottenburg, daß er damals das Landgericht +Dresden angelogen habe.</b></p> + +<p>Und warum dieser Rattenkönig von Lügen vor Gericht! +Und wie ist es möglich, daß ein Mensch, der doch Ehr- +und Schamgefühl besitzen muß, sich vor Gericht als +Lügner erklären und dann auch diese Erklärung als +Lüge bezeichnen kann? Er selbst gibt uns die Antwort auf +diese Frage: Er befand sich in bedrängter Lage;</p> + +<p class="center"> +<b>! ! ! er hatte kein Geld ! ! !</b> +</p> + +<p>Also wenn Lebius kein Geld hat, so ist das ein für ihn +vollständig genügender Grund, <b>Richter und +Gerichtsämter zu belügen und sich als einen Charakter +hinzustellen, dem kein vorsichtiger Mensch mehr etwas glauben +kann!</b><br/> +</p> + +<p>Ich könnte stundenlang fortfahren, in dieser Weise von +Lebius zu erzählen. Für meine heutigen Zwecke aber +genügt das, was ich bis hierher sagte. Ich habe mir die +Unwahrheiten, welche Lebius über mich verbreitete, notiert, +nicht alle, sondern nur die augenfälligsten. Es sind jetzt +<b>über fünfhundert,</b> die ich ihm gerichtlich +beweisen kann. Er hat mir allein in den letzten drei Wochen vier +Beleidigungsklagen zugeschickt, obgleich ich an diesen +Beleidigungen ganz unbeteiligt bin. Das nennt man Hinrichtung! +Und dabei legt er, wie bereits erwähnt, den +größten Nachdruck immer darauf, daß ich ihn +verfolge, nicht aber er mich. Auf seine vielen und +fürchterlichen Artikel in den Jahren 1904 und 1905 habe ich +nur einmal bei der Staatsanwaltschaft und zweimal beim Gericht +Hilfe gesucht. Ich habe dann zu allen seinen ferneren Angriffen +geschwiegen, bis er mich durch die angebliche Kahl-Broschüre +zwang, mich zu verteidigen, weil ich <b>„vor den Richtern kaput +gemacht” werden sollte.</b> Und selbst da habe ich ihm +verziehen, habe mich mit ihm verglichen, habe gegen sein +Versprechen, mich fortan in Ruhe zu lassen, meinen Strafantrag +zurückgezogen, obgleich der betreffende Richter sagte, +daß Lebius <b>eine schwere Strafe</b> erleiden werde, falls +es zur Verhandlung komme. Siehe Gerichtsakten 20 <tt>B.</tt> 254 +08/34, gezeichnet Schenk, Nauwerk. Ich habe es ertragen, +daß Lebius trotz seines gerichtlichen Versprechens, mich +künftig in Ruhe zu lassen, meine geschiedene Frau gegen mich +verführte, ausbeutete, ihres Einkommens und ihrer +Schmucksachen beraubte <b>und sie fast an den Bettelstab +brachte.</b> Sie wurde von ihm zu gerichtlichen Schritten gegen +mich verleitet, die man fast wahnsinnig nennen muß. Und +dabei hatte er den Mut, in der ersten Instanz des vorliegenden +Beleidigungsprozesses zu behaupten,</p> + +<p class="letter"> +<b>„daß er ihre Interessen vertreten habe und also den +Schutz des § 193 beanspruchen dürfe!”</b> +</p> + +<p>Niemals ist eine größere Unwahrheit ausgesprochen +worden als diese! Lebius hat durch die Verführung der Frau +Pollmer nur seine eigenen Privat- und Prozeßinteressen +verfolgt, <b>die Interessen dieser armen Frau aber geradezu mit +Füßen getreten.</b> Es ist unerhört, daß er +dafür auch noch den Schutz des § 193 verlangt!</p> + +<p>Es ist wiederholt von ihm in den Zeitungen behauptet worden, +daß er ein Mensch sei, „der über Leichen geht.” +Meine geschiedene Frau hat anstatt „Mensch” sogar ein anderes, +äußerst schlimmes Wort gebraucht, ohne daß er es +gewagt hat, sie darüber gerichtlich zu belangen. Ob dieser +Vorwurf wahr ist oder ob er zu viel sagt, das könnte ich mit +vielen Beispielen belegen; ich will aber nur das eine bringen: +Nach der in den Blätterberichten völlig korrumpierten +Charlottenburger Verhandlung vom 12. April dieses Jahres brachte +der „Boston American” in Boston, Massachusetts, folgende ihm +aus Berlin zugegangene Depeschennotiz:</p> + +<p>„Autor frommer Bücher, ein Bandit. Berlin -- -- -- Herr +Charles May, der Millionär, Philanthrop, Autor frommer +Bücher und eine hervorragende Persönlichkeit +Deutschlands, wurde heute von einer Jury als der Verüber +vieler, schwerer Verbrechen in der Gebirgsgegend des +südlichen Sachsens, wo er vor 40 Jahren eine +Räuberbande anführte, gebrandmarkt. <b>May brach +zusammen und wurde unter den Schutz seiner Freunde gestellt, um +zu verhindern, daß er Selbstmord begehe</b> usw.” Sich +solche monströse Unwahrheiten aussinnen, um mich „kaput zu +machen”, das ist doch wohl über Leichen gegangen. Oder +nicht? Doch hiermit genug über diesen Herrn Lebius. Alles +Andere gehört vor das Gericht, nicht aber hierher. Um meine +Leser klar sehen zu lassen, ist nur noch zu konstatieren, +daß der Münchmeyersche Rechtsanwalt <tt>Dr.</tt> +Gerlach auch sein Rechtsanwalt ist und daß Beide einander +gegenseitig die weitgehendste Hilfe und Unterstützung +leisten. Ich habe noch zwei äußerst interessante +Münchmeyersche Champions zu erwähnen, die in Beziehung +auf geistige Bedeutung zwar weder an Gerlach noch an Lebius +kommen, aber als fromme, katholische Klosterbrüder mitten +unter protestantischen oder gar aus der Kirche ausgetretenen +Kolportageinteressenten doch einen frappierenden Eindruck +machen.</p> + +<p>Der Eine von Ihnen ist der Benediktinerpater Ansgar +Pöllmann in Beuron. Ich habe schon einmal einem +Benediktinerpater vor Gericht gegenübergestanden. Der +hieß Willibrord Beßler und bezeichnete sich als +Professor. Er veröffentlichte eine schwere Beleidigung im +„Stern der Jugend” gegen mich. Ich machte die Benediktinerabtei +Seckau in Steiermark als seinen Wohnsitz ausfindig, reiste hin +und ließ ihn vor das Kreisgericht Leoben zitieren. Da +stellte sich heraus, daß er gar nicht das Recht +besaß, einen Professortitel zu führen. Er leistete mir +folgende schriftliche Abbitte:</p> + +<p class="letter"> +„Indem ich die mir in Schriftstücken beigelegten +Bezeichnungen „Professor” und „Jugendschriftsteller” auf +Wunsch näher dahin bestimme, daß ich Lehrer an der +Privat-Gymnasial-Lehranstalt der Abtei Seckau und Korrespondent +der Jugendzeitschrift „Stern der Jugend” bin, erkläre ich +hiermit der Wahrheit gemäß, daß ich die in +genannter Zeitschrift (1903 Nro. 25) enthaltene Notiz über +Krankheitserscheinungen des Schriftstellers Karl May bedauere und +die von ihm gerichtlich inkriminierten Worte in aller Form +zurücknehme.<br/> + Seckau, den 20. Oktober 1904.</p> + +<p class="right"> +Pater Willibrord Beßler<br/> +<tt>O.S.P.</tt>” <tt>[sic]</tt> +</p> + +<p>Und jetzt nun wieder ein Benediktinerpater, den ich +gerichtlich belangen muß! Der Abt scheint hier wie dort +Ildefons Schober zu heißen. Ist es vielleicht derselbe? +Nicht in Seckau und nicht in Beuron, sondern anderwärts, +haben die Benediktiner mir meine „Reiseerzählungen” ohne +mein Wissen in Menge nachgedruckt, bis ich es ihnen untersagte. +Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein +Orden meine Werke ganz auf eigene Faust drucken und verbreiten +und mich doch so öffentlich beleidigen und verfolgen resp. +mich und meine selben Werke in Acht und Bann erklären kann! +Ich bemühe mich vergeblich, beides logisch zusammen zu +bringen. Denn daß ich diesen Nachdruck unmöglich +dulden konnte, versteht sich ganz von selbst! Uebrigens ist +dieser Beuroner Pater derselbe, der mir „einen Strick drehen +will, um mich damit aus dem Tempel der deutschen Kunst +hinauszupeitschen”. Also, erst druckt man meine Bücher +nach, ohne mich zu fragen, und dann peitscht man mich hinaus! In +dieser Weise charakterisiert Pater Pöllmann seinen eigenen +Orden, der sich doch wahrlich mehr als genug Verdienste um unsere +Literatur erworben hat, als daß er von einem seiner +Angehörigen in dieser Weise beleumundet werden sollte!</p> + +<p>Pater Pöllmann hat in der katholischen Zeitschrift +„Ueber den Wassern” eine Reihe von Artikeln gegen mich +geschrieben, und ich habe hierauf in der Wiener „Freistatt” +geantwortet. Damit wären wir nun eigentlich mit einander +fertig, und das Publikum hätte zwischen ihm und mir zu +entscheiden. Aber während ich in meinen Antworten ganz +selbstverständlich so sachlich und höflich wie +möglich war, ist er in seinen Artikeln aus den Beleidigungen +fast nicht herausgekommen, so daß er sich zu einem Gang vor +das Gericht zu bequemen haben wird. Und außerdem ist sein +persönliches und literarisches Verhältnis zu Herrn +Lebius, dem Rechtsanwalt Gerlach und dem Münchmeyerschen +Programm, mich in den Zeitungen „kaput zu machen”, +festzustellen. Er hat geleugnet, mit Lebius, Gerlach u. s. w. in +Beziehung zu stehen; es sind ihm aber derartige Beziehungen ganz +unschwer nachzuweisen. Hierüber ist Klarheit zu schaffen. +Denn daß er in dieses „Kaputmachen” auf das +Kräftigste mit eingegriffen hat, kann nicht einmal er selbst +in Abrede stellen. Seine „Wasser”-Artikel werden sowohl im +Lebius- als auch im Pauline Münchmeyer-Prozeß auf das +Eifrigste gegen mich verwendet. Er ist sogar von Lebius als Zeuge +oder „Sachverständiger” benannt und wird als solcher in +Berlin auszusagen haben.</p> + +<p>Herr Pater Pöllmann befolgt in Beziehung auf unsern +Beleidigungsprozeß eine Taktik, die ich nicht +gutheißen kann. Ich muß mich fragen, ob es in dieser +seiner Taktik liegt, das Leserpublikum irre zu führen. +Zuerst erschienen von Zeit zu Zeit gewisse, ironisch von oben +herab klingende Notizen darüber, daß ich es +unterlassen habe, meine Drohung, ihn zu verklagen, +auszuführen. Und nun sich herausstellt, daß ich dieses +Versprechen doch gehalten habe, wird in gewissen, mir feindlich +gesinnten Zeitungen fort und fort behauptet, daß meine +Beleidigungsklage bald hier bald dort zurückgewiesen worden +sei und ich sämtliche Kosten zu tragen habe. Das ist nicht +fair, vielleicht sogar unwürdig. Es handelt sich hier um die +Zuständigkeitsfrage, um weiter nichts. Als ich den +Strafantrag gegen Pater Pöllmann stellte, gehörte ich +in den Bezirk des Amtsgerichts Dresden. Inzwischen wurde das +Amtsgericht Kötzschenbroda eröffnet, dem ich jetzt nun +zuständig bin. Darum fragt es sich, ob die Sache +infolgedessen hier oder dort oder anderswo zu verhandeln ist. Bis +das entschieden ist, hat sie zu ruhen. Wer es anders darstellt, +kann nur entweder unwissend oder böswillig sein. Von Kosten +weiß ich kein Wort.</p> + +<p>Ganz ähnlich liegt es mit meiner Beleidigungsklage gegen +Pater Expeditus Schmidt in München. Sie wurde in Dresden +eingereicht und in Kötzschenbroda erstmalig verhandelt. Auch +hier sind Zuständigkeitsfragen erhoben worden, doch nicht +von mir. Mir kann es sehr gleichgültig sein, an welchem Orte +das Urteil gesprochen wird, denn meine Sache ist gerecht. Ich +habe nicht nötig, spitzfindig zu erwägen, an welchem +Orte, bei welchem Gerichte und in welchem Falle ich meinen +Prozeß gewinne oder verliere. Ich habe mich nicht an solche +Nebendinge zu klammern, sondern an die Sache selbst und ihre +Wahrheit zu halten; das Uebrige überlasse ich den +Richtern.</p> + +<p>Mir sind diese Schiebereien nicht hinderlich, sondern +förderlich gewesen. Sie haben mir Gelegenheit gegeben, die +Karten meiner Gegner kennen zu lernen. Vor allen Dingen hat es +sich herausgestellt, daß die beiden Pater Schmidt und +Pöllmann in naher Beziehung zu dem Namen und der Sache +Münchmeyer stehen. Ihr Anwalt steht in Verbindung mit dem +Münchmeyerschen und Lebiusschen Rechtsanwalt. Ich werde die +Beweise erbringen, und dann wird sich der Zusammenhang mit dem +Münchmeyerschen Programm, mich „in allen Zeitungen vor ganz +Deutschland kaput zu machen”, ganz von selbst ergeben. Um einen +kurzen Rundblick über den jetzigen Stand der Dinge zu +ermöglichen, schließe ich dieses Kapitel mit einem +Artikel, den das „Wiener Montags-Journal” am 17. Oktober dieses +Jahres brachte. Er lautet: +</p> + +<p class="center"> +<b>Karl May als Schriftsteller.</b><br/> +(Eine Genugtuung.) +</p> + +<p>Vor uns liegt eine stattliche Reihe von Bänden, die +Tätigkeit eines ungemein fruchtbaren und erfolgreichen +Schriftstellers. Zugleich aber auch seine Ehrenrettung. Denn +nicht oft noch ist die schriftstellerische Tätigkeit eines +Menschen der Grund für solch bodenlos gemeine und +hinterhältige Angriffe gewesen, wie sie Karl May zur +Zielscheibe hatten. Ehe wir in eine ausführliche +Würdigung der so reichen Phantasie eines deutschen +Romanziers eingehen, wollen wir dem Geschmähten selbst das +Wort zu einer Verteidigung geben, die jetzt, nach den +erfolgreichen Prozessen gegen seine hämischen und boshaften +Widersacher, zugleich eine Genugtuung ist. Herr May schreibt +uns:</p> + +<p>Die ganze sogenannte „Karl May-Hetze” ist auf Unwahrheiten +aufgebaut. Die erste dieser Unwahrheiten ist, daß ich +Jugendschriftsteller sei und meine Reiseerzählungen für +unerwachsene junge Leute geschrieben habe. Die meisten dieser +Erzählungen sind im „Deutschen Hausschatz” erschienen, der +doch gewiß niemals eine Knabenzeitung gewesen ist. Und den +später erschienenen Bänden sieht jedes ehrliche Auge +sofort an, daß sie nur von geistig erwachsenen Leuten +verstanden werden können. Hiermit fallen alle Vorwürfe, +die man mir als angeblichem „Jugendverderber” macht, in sich +selbst zusammen. Wenn die Jugend meine Bücher trotzdem +liest, und zwar sehr gerne, so beweist das doch nicht, daß +ich sie für sie bestimmt habe, sondern daß die +Jugendseele in ihnen findet, was ihr von andern vorenthalten +wird.</p> + +<p>Eine zweite Unwahrheit ist die, daß ich in diesen meinen +Reiseerzählungen schwindle. Wer das behauptet, ahnt +gewiß nicht, welch ein schlimmes Zeugnis er seiner eigenen +Intelligenz erteilt. Reicht doch der Scharfblick eines Tertianers +aus, zu erkennen, daß alles, was ich erzähle, nur mit +den Wurzeln in das reale Leben greift, im übrigen aber nach +Regionen strebt, die nicht alltäglich sind. Jeder Leser, der +mich begreift, weiß, daß ich Länder und +Völker beschreibe, die bis heute fast nur in Märchen +existieren, für uns aber nach und nach in das Reich der +absoluten Wirklichkeit zu treten haben. Wenn ich das, was anderen +noch ein Märchen ist, als Wirklichkeit erschaue und +beschreibe, kann dies nur für unwissende oder +übelwollende Menschen ein Grund sein, zu behaupten, +daß ich schwindle.</p> + +<p>Früher ist es keinem Menschen eingefallen, in dieser +beleidigenden Weise über mich zu urteilen. Wer mich nicht +begriff, der sagte höchstens, daß meine Phantasie eine +sehr ausgiebige sei. Erst als die größte aller +Unwahrheiten, die es über mich gibt, verbreitet wurde, +nämlich die, daß ich „abgrundtief unsittliche +Schundromane” geschrieben habe, wagte man es, in einem solchen +Tone mit mir zu sprechen. Diese unwahre Behauptung ging von einer +Kolportagebuchhandlung aus, in deren Interesse es lag, sie zu +verbreiten, um durch meinen Namen möglichst viel Geld zu +verdienen. Sie fand in Herrn Cardauns, dem damaligen +Hauptredakteur der „Kölnischen Volkszeitung”, den Mann, +der durch seine Veröffentlichungen für diese +Verbreitung mehr als reichlich sorgte und es sogar unternahm, die +sogenannten „Beweise” zu liefern, daß die betreffenden +Unsittlichkeiten aus keiner anderen als nur aus meiner Feder +stammen. Ganz selbstverständlich konnte der wahre, +unanfechtbare Beweis nur durch die Vorlegung der von mir +geschriebenen Originalmanuskripte geführt werden. Jeder +andere Beweis konnte nur durch absichtliche Täuschung oder +Selbstbetrug ermöglicht sein und mußte sich +schließlich zur Spiegelfechterei gestalten.</p> + +<p>Welche Art des Beweises nun führte Herr Cardauns? Er +brachte Behauptung über Behauptung. Er führte eine +ganze Reihe von „inneren Gründen” an, hinter denen sich +der Mangel an wirklichen Gründen versteckte. Er sprach von +Beweisen, Belegen, untrüglichen Aktenstücken und +dergleichen. Das Wiener „Neuigkeits-Weltblatt” weist ihm sogar +die Behauptung nach, er besitze die Originalbelege dafür, +daß May unzweifelhaft schuldig sei. Jedermann mußte +hierauf annehmen, daß er meine Originalmanuskripte in den +Händen habe, und darum glaubte man ihm, zumal die +Blätter, in denen er seine Behauptungen aufstellte, mir die +Aufnahme meiner Entgegnungen beharrlich verweigerten. Er machte +mit seiner Selbsttäuschung Schule: andere täuschten +sich mit, bis sie mit der Zeit dann ganz von selbst zur richtigen +Einsicht kamen. Heute glauben nur noch Wenige seinen +Ausführungen. Andere akzeptieren sie aus prozessualen und +ähnlichen guten Gründen. Ob Pater Expeditus Schmidt und +Pater Ansgar Pöllmann, meine beiden neuesten Gegner, +wirklich an ihren Cardauns glauben, das weiß ich nicht; ich +kann da nur vermuten. Was sie behaupten, gilt für mich noch +lange nicht als Beweis. Aber sie fußen in allem, was sie +gegen mich tun, auf altem Cardaun’schem Grund und Boden und +scheinen wirklich überzeugt zu sein, daß ich +nächstens unter ihren und den Anschuldigungen ihrer +Verbündeten zusammenbrechen werde.</p> + +<p>Diese Verbündeten sind: die frühere Kolporteuse Frau +Pauline Münchmeyer, Herausgeberin des berüchtigten, von +der Polizei konfiszierten „Venustempels”. Ferner der +Rechtsanwalt dieser Frau, Dr. Gerlach in Dresden, der nun schon +seit neun Jahren unausgesetzt gegen mich im Felde liegt. Und +endlich der wohlbekannte Herr Rudolf Lebius in Charlottenburg, +der aus der christlichen Kirche ausgetretene Sozialist, dem ich +3000 bis 6000 Mark und dann sogar 10 000 Mark geben sollte, +dafür wolle er mich in seinem Blatt loben und preisen. Ich +gab ihm nichts. Da ging er zu Münchmeyers über und war +seitdem der unermüdlichste meiner Gegner. Ich bemerke +ausdrücklich, daß auch er Herrn Advokaten Gerlach zum +Anwalt hat. Und wenn ich nun hinzufüge, daß dieser +Münchmeyersche Herr Gerlach zugleich auch Anwalt und Berater +von Pater Expeditus Schmidt und Pater Ansgar Pöllmann ist, +so ergibt sich folgendes drastische Hetzjagdbild: Ich bin +vollständig eingekreist. Rund um mich stehen Herr Cardauns, +Frau Kolporteuse Pauline Münchmeyer, Herr Advokat Gerlach, +Pater Schmidt, Herr Lebius und Pater Pöllmann. Diese alle +sind jederzeit schußbereit. Sie leugnen zwar den +gegenseitigen Verkehr, geben sich aber in ihren Prozessen +gegenseitig als Zeugen und Sachverständige an und helfen +einander bei Sammlung von Beweismaterial gegen mich und bei der +Anfertigung von Eingaben und Schriftsätzen für das +Gericht. Der Ueberragendste von ihnen ist aber dieser +Münchmeyersche Advokat, der alles und alle dirigiert, sogar +die beiden Patres. Der unschädlichste und erfreulichste aber +ist Herr Cardauns, der meines Wissens niemals zu dem +Eingeständnis gebracht werden konnte, daß er meine +Originalmanuskripte nicht besitze, kürzlich aber in Bonn in +meiner Gegenwart vor dem beauftragten Richter als Zeuge zugeben +mußte, daß er sie noch nie gesehen habe.</p> + +<p>Ob mich die Dame Münchmeyer mit Hilfe ihrer fünf +weltlichen und geistlichen Genossen zur Strecke bringen wird, ist +eine schon längst entschiedene Frage. Kein Kenner der +Verhältnisse stellt sie mehr auf. -- --</p> + +<p>Radebeul-Dresden, Oktober 1910.</p> + +<p class="right"> +Karl May. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap09"></a>IX.<br/> +Schluß.</h2> + +<p class="noindent"> +Wie meine „Reiseerzählungen” nur Skizzen sind, so ist auch das vorliegende Werk +nur Skizze. Es kann gar nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch +nicht zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwungener Prozesse wie drohende +Revolver auf mich gerichtet sind. Außerdem verhindern mich brutale +Körperschmerzen, in der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang +täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift +und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules +aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir nicht das +Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins +Wanken gekommen. Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden, +hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahre ist mir +der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich +zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber +unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu +denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, +fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir +die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß +brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen +und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, +sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil +meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen. +</p> + +<p>Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich, +endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber +doch eine ganz, ganz andere. Ich sagte bereits: Das Karl +May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein +Menschheitsproblem im Einzelnen. Aber während die meisten +Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise +gewisse Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es +noch Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben +zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im Einzelnen, sondern +im Ganzen zu liefern. Die Vielen stellen Menschheitsteile, diese +Wenigen aber stellen Menschheitsbilder dar. Die Vielen +können ihren engen Kreis sauber halten; sie sind +Dutzendmenschen; sie können sogar als Mustermenschen +erscheinen. Den Wenigen aber ist die Tugend und die Sünde, +die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem +Verhältnisse wie dieser zugeteilt; sie können +berühmte Feldherren oder rohe Mörder, große +Diplomaten oder berüchtigte Schwindler, segensreiche +Finanzgenies oder niedrige Taschendiebe, niemals aber +Mustermenschen werden. Ihnen ist nicht das wohltuende Glück +der unbewußten Mittelmäßigkeit beschieden. Ist +das Leben mächtiger als sie, so werden sie zwischen Tugend +und Laster, zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und +Verzweiflung hin- und hergezerrt, bis sie über den Wolken +zerstäuben oder in den Schluchten zerschellen. Sind sie +stärker als das Leben und sind sie im Glücke geboren, +so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; +kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und der +Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es +erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu +überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher +sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen +lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die +Augen für diese Welt zu schließen.</p> + +<p>Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von diesen +Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch wenigstens +verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. Das habe +ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß +ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu +beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen +tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um mich ebenso +beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie +die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die +Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben. +Ebenso bin ich überzeugt, daß es mir beschieden war, +dabei den hartnäckigen Widerstand zu finden, der sich mir +auch heute noch entgegenstellt, und daß ich mich nicht +über ihn beschweren darf, weil ich ihn mir ebenso selbst +bereitet habe, wie die Menschheit schneller vorwärtskommen +würde, wenn sie endlich aufhören wollte, sich ihren +eigenen Weg mit Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich +keinen anderen, als nur mich selbst anklage.</p> + +<p>Habe ich in diesem Buche einmal zu hart oder scharf +gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so war +dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern die immer noch +nicht ganz überwundene Anima ist es gewesen, die es mir +diktierte. So lange sich der Mensch im Niedrigen bewegt, und das +mußte ich in dieser meiner Lebensbeschreibung doch mehr als +reichlich tun, hat das Niedrige Macht über ihn, und ich +durfte nicht unwahr sein; ich mußte so schreiben, wie das +Milieu es mit sich brachte. Nun ich aber zum Schlusse gelange und +bessere, reinere Luft zu atmen beginne, bin ich auch reiner und +freier in dem, was ich schreibe, und bekomme die Kraft +zurück, alles das, was mich verbittern will, zu +überwinden.</p> + +<p>Und mich zu verbittern, war mehr als genugsam Grund vorhanden. +Ich spreche da nur von den letztvergangenen zehn Jahren und den +Begleiterscheinungen des Münchmeyerprozesses. Dieser wurde +von Seiten meiner Gegner resp. ihres Rechtsanwalts Gerlach in +einer Weise geführt, die ich vorher für +vollständig unmöglich hielt. Ich ahnte nicht, in wie +weitgehender Weise das Gesetz in dieser Beziehung den Anwalt +schützt. Wenn es gilt, den Gegner in den Augen der Richter +herabzusetzen, darf er sich erlauben, was sich sonst Niemand +erlauben darf. Er steht unter dem Schutze des Paragraphen 193, +denn er handelt im Interesse seines Klienten. Ich bringe eine +Musterauswahl der Ausdrücke, die ich mir vom +Münchmeyerischen Advokaten <tt>Dr.</tt> Gerlach gefallen +lassen mußte, weil er sich ihrer in seiner Eigenschaft als +Anwalt bediente:</p> + +<p>Er beschuldigte mich „frecher Anzapfungen”, „unberechtigter +Forderungen”, zahlreicher „Dreistigkeiten” und „faulen +Zaubers”. Er nannte mich „raffiniert”, „frech”, „dreist”, +„verleumderisch”, „pathologisch zur Unwahrheit reizend”, +„Lügner”, „Lügenmay”, Renommist”, +„Münchhausen”, „Aufschneider”, „Betrüger”, +„Lump”, „Schwindler”, „Allerweltsschwindler”, +„Einbrecher”, „Hochstabler” <tt>[sic]</tt>, „Zuchthäusler” usw. usw. Ich +frage: Sind dergleichen Beschimpfungen, selbst wenn sie die +Wahrheit enthielten, im gewöhnlichen Leben erlaubt? +Würde ein wirklich gebildeter Mann mit Einem, der sich ihrer +schuldig macht, verkehren wollen? Nun, im Verkehr vor Gericht +sind sie gestattet, denn ich habe diesen Anwalt auf sie hin wegen +Beleidigung verklagt und bin abgewiesen worden. Aber noch mehr: +Er erhob auf diese meine Klage hin Gegenklage gegen mich, und +diese wurde nicht zurückgewiesen. Der Richter ist hieran +völlig unschuldig; er kann nicht anders; das Gesetz verlangt +es so! Eines Tages, als die Zeugenaussagen für die +Münchmeyersche Partei nicht günstig ausgefallen waren, +sagte dieser Anwalt zum Richter: „Aber es ist doch ganz +unmöglich, daß ein vorbestrafter Mensch, wie May, den +Prozeß gewinnen kann!” „Das haben Sie abzuwarten,” +antwortete ihm der Richter. Ich stand dabei und mußte mir +die Beleidigung gefallen lassen, denn das Gesetz erlaubte sie +ihm. Das ist nun fast zehn Jahre lang so gegangen und geht noch +heut in diesem Tone und in dieser Weise fort. Ein sehr hoch +stehender Richter sagte, hierauf bezüglich, zu meinem +Rechtsanwalt: „Niemals in meiner ganzen, langen Praxis ist mir +eine Sache seelisch so nahe getreten, wie die von Karl May. Was +muß dieser arme, alte Mann gelitten haben! Er hätte +getrost hinzufügen können: „Was leidet er noch, und +was wird er noch weiter leiden!” Dieser Richter kannte meine +Vorstrafen genau; er hatte die hierüber vorhandenen Akten +studiert. Ich gewann trotzdem und trotz aller gegnerischen +Schmähungen den Prozeß in sämtlichen Instanzen, +gewiß ein laut sprechender Beweis, daß der deutsche +Richter sich durch anwaltliche Invektiven nicht beeinflussen +läßt; aber ruhig anzuhören hatte ich sie doch und +habe ich sie noch heut. Und sie wirken, wenn nicht auf das +Urteil, so doch ganz bestimmt nach anderer Seite hin. Sie +verrohen den Parteiverkehr und greifen aus dem Verhandlungszimmer +hinaus in das öffentliche und hinein sogar in das private +Leben. Man wird alle die beleidigenden Ausdrücke über +mich, die ich oben angeführt habe, schon in den Zeitungen +gelesen haben und ihnen ebenso auch im Privatverkehr begegnet +sein. Das ist die notwendige Folge der Freiheiten, die jeder +übelwollende, rücksichtslose Rechtsanwalt sich nehmen +darf, wenn er einsieht, daß die Roheit ihn weiter +führt als die Humanität. Er schreibt diese Roheiten in +seine Schriftsätze und lanciert sie von da als +beweiskräftiges Aktenmaterial hinaus in die Zeitungen. Oder +er schickt sie zuerst in die Zeitungen und legt sie dann in +gedruckter Form dem Gericht als Beweise vor, ohne zu sagen, +daß sie von ihm stammen. Stehen einem derartigen Anwalte +einige gleichgesinnte, von ihm gewonnene Blätter oder +Blättchen zur Seite, so ist es ihm ein Leichtes, eine jede +Existenz, und stehe sie noch so fest, in kurzer Zeit zu +erschüttern oder wohl gar zu vernichten. „In den Zeitungen +von ganz Deutschland kaput machen,” nennt man das. Und das +Gesetz begünstigt dieses Treiben!</p> + +<p>Es liegt mir da noch ein anderes, hochinteressantes Beispiel +nahe, welches nichts weniger als empfehlend für mich klingt. +Ich bringe es aber trotzdem, weil ich, wenn ich der Allgemeinheit +nützen will, nicht fragen darf, ob ich mir selbst etwa +dadurch schade. Meine erste Frau hatte die Frau eines Dresdener +Schriftstellers beleidigt, welcher von Münchmeyers aus +wußte, daß ich vorbestraft bin. Er rächte sich +dadurch, daß er mich bei einem deutschen Fürsten +denunzierte und ihm mitteilte, daß seine Verwandten meine +Bücher läsen und mich auch persönlich besuchten. +Der Fürst antwortete durch Schweigen. Da kam eine zweite +Denunziation, und nun war der Fürst gezwungen, sich nach +Dresden zu wenden, um zu erfahren, was mit meinen Vorstrafen sei. +Er erhielt die eingehendste Auskunft. Es wurde ein Beamter nach +Radebeul geschickt, um sich an Ort und Stelle zu erkundigen. Er +erfuhr, daß meine Ehe keine glückliche sei, weshalb +ich in meinen freien Stunden nicht zu Hause bleibe, und daß +ich in meinen Büchern über Länder schreibe, in +denen ich gar nicht gewesen sei; Alles, was ich da berichte, sei +nicht wahr. Infolge dessen steht in den Dresdener Polizeiakten +über mich verzeichnet, daß ich einen unsoliden +Lebenswandel führe und ein literarischer Hochstabler <tt>[sic]</tt> sei. Das wurde dem Fürsten +mitgeteilt, und einer der betreffenden Verwandten erzählte +es mir bei nächster Gelegenheit sehr ausführlich +wieder. Er wußte sehr wohl, was an der Sache war, bat mich +aber um Diskretion, so daß ich gezwungen war, hierüber +zu schweigen. Ich glaubte auch, schweigen zu können, weil +ich annahm, daß derartige Polizeiakten zu den +verschwiegendsten Dingen der Verwaltung gehören. Jetzt aber +werden sie zu meinem Erstaunen von Lebius veröffentlicht und +von meinen Gegnern entsprechend ausgebeutet. Wie kommt ein aus +der Kirche ausgetretener Sozialdemokrat a. D. zu diesen geheimen +Dresdener Polizeiakten? Das Gesetz gestattet es! Ganz +selbstverständlich fühle ich mich nun nicht mehr zur +Diskretion verpflichtet und werde darauf dringen, daß diese +Akten revidiert und berichtigt werden.</p> + +<p>Ein weiterer Fall führt mich nach Leipzig, wo ich wie auf +Seite 119 berichtet, vor nun fünfundvierzig Jahren auf +ungesetzlichen Wegen ergriffen wurde. Das ist so lange her, +daß die betreffenden Gerichtsakten längst vernichtet +worden sind, denn die Menschlichkeit verlangt, daß solche +Spuren nur von einer ganz bestimmten Dauer seien, und diese Dauer +ist vorüber. Wer hat nun daran gedacht, daß auch bei +der dortigen Polizei Notizen hierüber gemacht worden und +vielleicht noch vorhanden sein können? Herr Lebius hat sie +kürzlich veröffentlicht! Wie kommt ein Mann, wie er, +nun auch zu den Leipziger Polizeiakten? Das Gesetz erlaubt +es!</p> + +<p>Ebenso hat er meine Scheidungsakten veröffentlicht. Sie +sind doch gewiß von diskretester Natur und gehen ihn gar +nichts an. Aber das Gesetz erlaubt es ihm!</p> + +<p>Er ist über Alles unterrichtet, was sich auf meine +prozessualen Verhältnisse bezieht. Wer erlaubt ihm das, und +wer ermöglicht es ihm? Das Gesetz und der +Münchmeyersche Rechtsanwalt, der zugleich auch der seinige +ist. Beide arbeiten einander aus der Hand in die Hand. Es ist +sogar vorgekommen, daß Lebius meine geschiedene Frau in +Berlin zum Unterschreiben eines Vollmachtsblanketts +veranlaßte, dieses aber nach Dresden zum +Münchmeyerschen Rechtsanwalt schickte, der es dann für +sich ausfüllte, wie es für seine besonderen Zwecke +paßte. Das sind nur einige wenige Beispiele aus meiner +reichen, persönlichen Erfahrung dafür, daß das +Gesetz Dinge nicht nur erlaubt, sondern sogar begünstigt, +die es eigentlich auf das strengste verbieten sollte. Dem steht +selbst der rechtlichste und humanste Richter machtlos +gegenüber, und das war es, woran ich dachte, als ich weiter +oben sagte, daß ich meine Aufgabe endlich, endlich erkannt +habe. Ich bin vor nun vierzig und fünfzig Jahren +unfreiwillig da hinunter gestiegen, wo die Verachteten wohnen, +denen es so schwer gemacht wird, sich die ihnen geraubte Achtung +zurück zu erwerben. Ich habe sie kennen gelernt, und ich +weiß, daß sie nicht weniger wert sind, als alle die, +welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder +niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit +besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu +ihnen hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht +gezwungen, sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschlusse. +Ich will ihnen sagen, was ihnen noch Niemand zu sagen wagte, +nämlich daß ihnen Niemand helfen kann, wenn sie sich +nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren sind, +außer sie retten sich durch eigene Kraft. Durch engsten +Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen mein +Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. Will ihnen +zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe fruchtet, wenn +bei Andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen zeigen, daß ein +einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser eine, einzige +Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten und die +besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen Liebe und +der Humanität mit einem Schlage zunichte zu machen. Ich will +ihnen sagen, daß es eine Sünde von der Menschheit ist, +ihre Mitschuld an der Schuld der Schuldigen zu verbergen. +Daß es aber auch von diesen ein Fehler ist, zu +verheimlichen, daß sie einst schuldig waren. Unser Leben, +mein Leben, ihr Leben soll frei vor Gottes Auge liegen, besonders +aber auch frei vor unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir +nicht, und dann grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum +wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und sehen wir +das ein, so können wir uns selbst verzeihen, und wer sich +selbst verzeihen darf, dem wird verziehen werden. Weg also mit +der falschen Scham, und heraus mit der Offenheit! Nur das +Geheimnis, in das wir uns hüllen, gibt jenem Paragraphen und +jedem gewissenlosen Menschen die Macht, sich höher und +besser zu dünken als wir, und doch unser -- -- -- Henker zu +sein!</p> + +<p>Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie alles +Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur Skizze sein. Aber +ich fühle das Bedürfnis, das, was Andere Böses an +mir taten, für meine Mitmenschen in Gutes zu verwandeln. Ich +werde es denjenigen, die gleiches Schicksal, wie ich, hatten, +ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich +diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind. Was +nützt alle sogenannte „Gerechtigkeit”, alle sogenannte +„Milde des Gerichtes”, alle sogenannte „Humanisierung des +Strafvollzuges”, alle sogenannte „Fürsorge für +entlassene Strafgefangene”, wenn es nur eines einzigen +spitzfindigen Anwaltes oder eines einzigen fragwürdigen +Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen +Bestrebungen erwuchs, in einem einzigen Augenblicke zu +vernichten? Wie kann man von dem Gefallenen verlangen, daß +er wieder aufstehe und sich bessere, wenn man es +unterläßt, auch die Verhältnisse, in die man ihn +zurückversetzt, zu verbessern? Ist es eine Ermunterung +für ihn, zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch, +so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der +Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen +ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen? +Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um +gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, +sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei +und stellt ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich +von einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein +„wissenschaftlichen” Gründen an diesen Pranger genagelt +worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht einmal meinen +Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagaphen zu +dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man +denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich +in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches +Lächeln zeigt, welches verrät, wie es eigentlich steht. +Und da fühlt man mit den Hunderttausenden, die hierunter +leiden, das brennende Bedürfnis, einmal alle die +Paragraphen, an denen der gute Wille der Menschheit scheitert, an +das Tageslicht zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen +müssen, um durchschaut zu werden -- -- -- vor die +Oeffentlichkeit, vor den Reichstag!</p> + +<p>Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es +hat schon Einige gegeben, die als „entlassene Gefangene” ihre +Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das +war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen +bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine +Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige +Menschenschicksale, die, auch im klassischen Sinne, wirkliche +Schicksale sind. <b>Und das meinige ist ein solches.</b> Ich +fühle mich verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den +Dienst der Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das +wird man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.</p> + +<p>Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die +Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl May, +sondern auch mit dem Menschen May befaßte und daß +Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf den letzten +Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das Eine war +berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, Schinder- und +Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen lassen +mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld von dieser +Qual und Marter zu befreien. Das war die Geisterschmiede meines +Märchens, in der man auf mich losschlug, daß die +Funken durch alle Zeitungen flogen. Sie fliegen sogar noch heut. +Doch wird bald Ruhe werden. Die Zeit des Hammers ist +vorüber; es kommt nur noch die Feile, und dann ist es gut. +Daß all das Leid, welches über mich kam, auch meine +andere, die schriftstellerische Aufgabe, beeinflussen +mußte, versteht sich ganz von selbst. Auch da gab es +Schlacken, und zwar mehr als genug. Auch sie mußten +herunter. Es flog der Ruß, der Schmutz, der Staub, der +Hammerschlag. Noch liegt das alles um mich her, doch nun wird +ausgeräumt, damit das reine, edle Werk beginne.</p> + +<p>Es war überhaupt ein großes, ein schweres und ein +höchst schmerzhaftes Auf- und Ausräumen. Nicht nur in +meinem Innern, sondern auch in meinem Aeußern, in meiner +Arbeit, meinem Berufe, meinem Hause, meiner Ehe. Alles, was mich +in die Schmiede und dem Schmerze in die Arme getrieben hatte, +mußte weichen. An seine Stelle trat, was rein und ehrlich +war und mit nach oben strebte, aus Ardistan nach Dschinnistan, +dem Land der Edelmenschen. Das gab eine Scheidung von Gut und +Bös, die nur unter Kämpfen und Opfern ausgeführt +werden konnte. Nun ist sie vollzogen. Die Wetter gingen +vorüber. Zwar rauscht noch hier oder da ein trübes +Wasser, irgend ein Beleidigungsprozeß, eine +Staatsanwaltschaftsanzeige, doch auch das geht bald vorbei, und +dann wird Ruhe und Friede um mich sein, so daß ich endlich, +endlich Zeit und Raum und Stimmung gewinne, an mein eigentliches, +an mein einziges und letztes „Werk” zu gehen.</p> + +<p>Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin ich +voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine „Hetze” +wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde steht, noch nie in +der Literatur irgend eines Landes, eines Volkes gegeben. Das gab +Zeitungsstürme, Stürme in den Gerichtssälen, +Stürme im eigenen Hause und Stürme im eigenen Innern. +Mein alter, treuer, guter Freund, der Körper, behauptet +zwar, nicht länger mitmachen zu können, aber ich bin +überzeugt, daß er doch wieder so bereitwillig und +verständig wird, wie er immer gewesen ist. Er hat ertragen +müssen, was eigentlich wohl nicht zu ertragen war. +Zunächst sechs Jahre lang die drei Instanzen des ersten +Münchmeyerprozesses mit allen Aufregungen und +Armseligkeiten, die mit ihm verbunden waren. Sodann die +zweiundzwanzig Monate währende Untersuchung wegen Meineid +und Verleitung dazu. Denn der Münchmeyersche Rechtsanwalt +hatte, nachdem der Prozeß für ihn verloren war, mich +und meine Zeugen beim Staatsanwalte wegen Meineides angezeigt. +Der Staatsanwalt war, nach seiner eigenen Aussage auf diese +Anzeige eingegangen, um endlich einmal Klarheit zu schaffen. +Dieser fast zwei Jahre lange Kampf endete ganz +selbstverständlich damit, daß man weder mir noch +meinen Zeugen etwas Strafbares nachweisen konnte. Aber damit noch +nicht genug, gesellte sich noch Anderes dazu, was fast noch +schlimmer als alles Vorhergehende war. Die ersten Lebiusangriffe. +Eine doppelseitige Lungenentzündung, die mich monatelang +zwischen Tod und Leben schweben ließ. Die Beschuldigungen, +welche meine geschiedene Frau auf mich, meine jetzige Frau und +ihre Mutter wälzte und mit denen sie uns in schwere Strafe +bringen wollte. Die Staatsanwaltschaftsanzeigen, welche sie dann +wegen dieser Beschuldigungen durch einen Freund gegen uns erheben +ließ. Dieselben Staatsanwaltsanzeigen, von Lebius in Berlin +wiederholt. Glücklicher Weise hatte diese geschiedene Frau +Alles, was sie dann nach der Scheidung leugnete, während des +Scheidungsprozesses ganz fremden Leuten und ohne all mein Zutun +freiwillig erzählt und eingestanden, so daß sie zu +diesem späteren Leugnen nur verführt sein konnte. Die +Vorlegung dieser Beweise zeigte alle Anklagen gegen mich als +Lügen. Ferner der Antrag des Lebius an die +Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Sein +Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich verfolgen zu lassen. Die +zahllosen Artikel gegen mich in seinem Blatte, der „Bund”. +Seine Flugblätter mit den gräßlichsten +Unwahrheiten, welche die Runde durch Deutschland, Oesterreich, +Schweiz, Italien, Frankreich, England, Nord- und Südamerika +machten. Da beschuldigte er mich sogar, meinen Schwiegervater +erwürgt zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit. +Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des +Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier +Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich wegen +Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren Zuchthaus +bestraft wird. Man sieht, daß man zu den +alleräußersten Mitteln greift, mich „kaput zu +machen”! Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den +Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und Lebenskraft zu +verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum jeder fähig ist. +Ich habe es ertragen, ohne mich zur Selbsthilfe reizen zu lassen, +weil ich keinen Augenblick lang an Gott und seiner Liebe zu +zweifeln vermag und weil mir in dieser überschweren Zeit ein +Wesen zur Seite gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende +Seele mich wie auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, +dem ich verfallen sollte, nämlich meine jetzige Frau. Wenn +man berechtigt gewesen ist, Bücher über das Thema „die +Bestie im Weibe” zu schreiben, so könnte ich mich wohl +verpflichtet fühlen, demgegenüber ein Buch zu +veröffentlichen, welches den Titel „Der Himmel im Weibe” +führt.</p> + +<p>Mit einer solchen Frau an der Seite, die mir eine Quelle alles +menschlich Reinen, menschlich Edeln und menschlich Ewigen ist, +läßt sich in Beziehung auf das Erdenleid Alles +erlangen und in Beziehung auf die noch vor mir liegende Arbeit +Alles leisten, was menschenmöglich ist. Ich bin nicht mehr +so fürchterlich allein. Ich habe nicht mehr immer nur aus +mir selbst herauszuschöpfen, sondern es hat sich mir ein +köstlich reiches seelisches Leben zugesellt, durch dessen +Einfluß sich Alles, was in mir zum guten Ziele führt, +verdoppelt. Körperlich schwer leidend, bin ich geistig +frisch und seelisch wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der +Jugendzeit. Ich bin nicht töricht genug, mir zu +verheimlichen, daß man mich als einen Ausgestoßenen +betrachtet, ausgestoßen aus Kirche, Gesellschaft und +Literatur. Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich +für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten halt; der +Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer +heimlich Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig +bringen, sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen sie +die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als +gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe +nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft +gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen +war, kennen zu lernen. Uebrigens haben wir beide alten Leute, +meine Herzensfrau und ich, in Beziehung auf das Innenleben +aneinander so vollauf genug, daß wir es gar nicht fertig +bringen, uns nach „Gesellschaft” zu sehnen. Und was meine +literarische Ausstoßung betrifft, so kann ich mich auch mit +ihr zufrieden geben. Den Weg, auf dem ich mich befinde, ist noch +kein Anderer gegangen; ich wäre also auch ohne den +Haß, den man auf mich richtet, gezwungen, ein Einsamer zu +sein. Auch bin ich überzeugt, daß später, wenn +man mich und das, was ich will, erst richtig kennen gelernt hat, +sich Manche, vielleicht sogar Viele von dem großen Haufen +absondern werden, um sich mir zuzugesellen. Alte Wege können +höchstens zu alten, toten Schätzen führen. Wer +aber nach neuen, lebendigen Schätzen sucht, der soll auch +neue, nicht alte Wege gehen. Und der meinige ist ein neuer! Das +Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch ihren Wert +oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. Taugen sie etwas, so +werden sie bleiben, ganz gleich, ob man sie gegenwärtig lobt +oder tadelt. Taugen sie nichts, so werden sie verschwinden, ganz +gleich, ob man sie jetzt verwirft oder nicht. Und, was die +Hauptsache ist, derjenige, der über ihren Wert oder Unwert +bestimmt, bin nur ich allein. Keiner meiner Gegner, und sei er +literarisch noch so mächtig und einflußreich, kann +auch nur den geringsten Einfluß darauf haben. Das klingt +stolz und prahlerisch, ist aber wahr. Diese Werke sind +Skizzensammlungen, sind Vorübungen, sind Vorbereitungen auf +Späteres. Gelingt mir dieses Spätere, so ist alles, +durch was ich mich darauf vorbereitete, gerechtfertigt, mag man +jetzt darüber denken und schreiben, wie oder was man +will.</p> + +<p>Nun bleibt nur noch eine Schlußbemerkung in Beziehung +auf die Münchmeyerromane übrig. Einer meiner +erbittertsten Gegner schrieb, ich solle es ja Niemandem +weißmachen, daß ein Schundverlag sittliche Romane in +unsittliche verwandeln könne; das würde eine +Riesenarbeit sein, der Niemand gewachsen ist. Dieser Herr scheint +so glücklich zu sein, dem Leben und Treiben eines +Schundverlages unendlich fern zu stehen. Erstens wenn Jemand der +Zeit und der Mühe gewachsen ist, einen Roman zu schreiben, +so muß man doch noch viel mehr der kürzeren Zeit und +der geringeren Mühe gewachsen sein, diesen Roman +umzuändern! Zweitens erfordert eine solche Umänderung +keineswegs soviel Zeit und Arbeit, wie mein Gegner anzunehmen +scheint. Die Einfügung von einigen Worten genügt +vollständig, einen „moralischen” Druckbogen in einen +„unmoralischen” zu verwandeln. Drittens sind Kräfte mehr +als genug für solche Umarbeitungen vorhanden, und sie +besitzen eine so erstaunliche Routine darin, daß selbst der +Kenner sich über die Masse, die sie bewältigen, +wundert. Ich habe hierüber Beweise erbracht und werde auch +noch weitere bringen. Das oft erwähnte Faktotum Walther +saß bei Münchmeyers täglich von früh bis +abends, nur um solche Arbeiten zu machen und dann die Korrektur +zu lesen, die der Verfasser niemals zu sehen bekam. Was erst +Fischer, der Käufer des Münchmeyerschen +Geschäftes, und dann einige Jahre später seine Erben +mir über diese Umarbeitung meiner Romane materiell und +gerichtlich bezeugten, ist bekannt. Hierzu hat Münchmeyers +Neffe, der Obermaschinenmeister war, als Zeuge im Prozeß +bestätigt, daß Münchmeyer mit seiner eigenen Hand +ganze Kapitel verändert hat. Ein anderer Zeuge hat +beschworen, Münchmeyer habe ihm eingestanden, daß er +an meinen Romanen große, umfangreiche Aenderungen vornehme, +ohne es mir sagen zu dürfen. Ich brauche hier wohl nicht +noch weitere Beispiele, die mir zur Verfügung stehen, +anzuführen, um es begreiflich zu machen, daß ich +absolut die Vorlegung meiner Originalmanuskripte verlange, deren +Beweiseskraft doch jedenfalls eine ganz andere ist als etwa die +dunkle Erinnerung eines alten Schriftsetzers, der man es zumutet, +sich nach dreißig Jahren in dem Tohu wa bohu der damaligen +Münchmeyerschen Schriftkästen zurechtzufinden. +Uebrigens stechen diese Aenderungen oft so scharf von meinem +Urtexte ab, daß sehr zahlreiche Leser mir versichern, ganz +genau sagen zu können, wo die Fälschung beginnt und wo +sie endet.</p> + +<p>Zuletzt kann ich es nicht unterlassen, auf einen Trick meiner +Gegner und besonders des Herrn Lebius aufmerksam zu machen, den +man anwendet, um meine den höhern Kreisen angehörenden +Leser gegen mich zu empören. Da wird zum Beispiel an +auffälliger Stelle gesagt, daß ich in hervorragender +Gesellschaft in Dresden verkehre und daß ich mir +überhaupt die größte Mühe gebe, mit +hochstehenden Leuten bekannt zu werden. Hiervon ist kein Wort, +kein Buchstabe wahr. Bin ich „Hans für mich”, so +fühle ich mich am wohlsten, und ich wünsche in dieser +Beziehung weiter nichts, als „Hans für mich” zu bleiben. +Ich möchte den Menschen sehen, der mir den Nachweis liefern +wollte, ich hätte mich ihm gesellschaftlich +aufgedrängt! An andern Stellen wird emphatisch behauptet, +daß ich an „Höfen” verkehre. Das ist erst recht +nicht wahr. Wenn irgend eine aristokratische Persönlichkeit, +die zu irgend einem „Hofe” gehört, meine Bücher liest +und gelegentlich einige Worte mit mir spricht, so bin grad ich +der Allerletzte, der dies dahin auslegt, daß ich „bei Hofe +verkehre”. Es kann diesen Behauptungen, die pure Erfindungen +sind, nur die Absicht zu Grunde liegen, mich den betreffenden +Kreisen als indiskret oder gar als Lügner zu kennzeichnen +und mich selbst da zu schädigen, wohin ich absolut nicht +gehöre. -- -- --<br/> +-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --</p> + +<p>Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang +zurück, auf mein altes, liebes Märchen von „Sitara”, +von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, so wird man +dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen, und zwar als die +greifbarste, die es gibt. Es ist die Aufgabe des begonnenen, +gegenwärtigen Jahrhunderts, unsere ungeübten Augen +für die große, erhabene Symbolik des alltäglichen +Lebens zu schärfen und uns zu der beglückenden und +erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß es höhere und +unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als diejenigen, mit denen +der Werk- und Wochentag uns beschäftigt. Die Skizzen, die +ich zeichnete und veröffentlichte, sollen der Vorbereitung +zu dieser Erkenntnis dienen. Darum sind sie symbolisch +geschrieben und, um verstanden zu werden, nur bildlich zu nehmen. +Man möchte sich eigentlich darüber wundern, daß +dies dem gewöhnlichen Leser so schwer zu fallen scheint. Es +ist doch wohl keine allzu harte Nuß, sich beim Lesen eines +Gleichnisses irgend etwas zu denken. Wenn ich unter Ardistan das +Land der ethisch niedrig stehenden und unter Dschinnistan das +Land der hochstehenden, edel denkenden Menschen meine, so kann es +doch keiner geradezu akademischen Bildung bedürfen, +einzusehen, was ich meine, wenn ich eine Reise von Ardistan nach +Dschinnistan beschreibe. Der Leser hat sich einfach aus seiner +Alltagswelt in meine Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch +wohl auch nicht schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu +verlassen, um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.</p> + +<p>Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, so will ich +durch meine Erzählungen das Innere meiner Leser vom +äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken klingen +hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem +Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil +der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt. So +leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich zu nehmen, so leicht +ist es auch, meine Bücher zu verstehen und ihren Inhalt zu +begreifen. Ich will, daß meine Leser das Leben nicht +länger als ein nur materielles Dasein betrachten. Diese +Anschauung ist für sie ein Gefängnis, über dessen +Mauern sie nicht hinaus in das von der Sonne beschienene freie, +weite Land zu schauen vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber +will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie +ich mich selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen, +seit langer, langer Zeit. Damals, als ich mich im +Gefängnisse befand, da war ich frei. Da lebte ich im Schutze +der Mauern. Da meinte es ein Jeder gut und ehrlich, der zu mir in +die Zelle trat. Da durfte mich niemand berühren. Da war es +keinem erlaubt, den Werdegang meines inneren Menschen zu +stören. Kein Schurke hatte Macht über mich. Was ich +besaß und was ich erwarb, das war mein sicheres, +unantastbares Eigentum, bis ich -- -- entlassen wurde, +länger nicht! Denn mit dieser Entlassung verlor ich meine +Freiheit und meine Menschenrechte. Was andere, die nur materiell +zu reden wissen, als Freiheit bezeichnen, das ist für mich +ein Gefängnis, ein Arbeitshaus, ein Zuchthaus gewesen, in +dem ich nun schon sechsunddreißig Jahre lang geschmachtet +habe, ohne, außer meiner jetzigen Frau, einen einzigen +Menschen zu finden, mit dem ich hätte sprechen können +wie damals mit dem unvergeßlichen katholischen Katecheten. +Ich lebte und arbeitete nicht für mich, sondern nur für +Andere. Was ich erwarb, um das wurde ich betrogen. Was ich mir +sparte, das stahl man mir. Ein Jeder durfte mit mir machen, was +ihm beliebte, denn überall fand er einen Anwalt, der seine +Sache führte. Ein Jeder durfte mich verdächtigen, mich +beleidigen, auf mich einschlagen, denn überall gab es einen +Paragraphen, der ihn schützte. Ich mußte um meines +Eigentums willen sechs Jahre lang prozessieren, und als ich den +Prozeß gewonnen hatte, bekam ich noch lange nichts und +wurde wegen Meineides zweiundzwanzig Monate lang in +Voruntersuchung genommen. Nun prozessiere ich schon fast zehn +Jahre lang und habe noch immer kein Resultat. Das Gesetz will es +nicht anders. Inzwischen aber bin ich wie ein Züchtling +gewesen, den Jeder stäupen, quälen und martern darf, +wie es ihm beliebt, wenn es ihm nur gelingt, sich mit einem jener +Paragraphen zu bewaffnen, welche die Ideale aller „schneidigen” +Anwälte sind. Jawohl, ich bin Gefangener, Zuchthäusler, +noch immer! Ein Dutzend Prozesse haben mich festgehalten, damit +ich ja nicht entweichen könne, und Jeder, der Geld von mir +wollte, aber keines bekam, hat sich als Zuchtmeister +gebärdet und auf mich eingeschlagen. Ich habe das Beste +aller derer, für die ich schreibe, gewollt, ihr inneres und +äußeres Heil, ihr gegenwärtiges und ihr +zukünftiges Glück. Was gab man mir für diesen +meinen guten Willen? Verachtung, Spott und Hohn! Als ich +Zuchthäusler war, da war ich keiner. Und nun ich aber keiner +bin, da bin ich einer. Warum?</p> + +<p>Und Ihr lacht darüber, daß ich bildlich schreibe? +Ist für uns, die wir die Allerärmsten sind, nicht +selbst die Hölle und das Fegefeuer bildlich? Wo gibt es die +Hölle, wenn nicht bei Euch? Und wo gibt es das Fegefeuer, +wenn nicht bei uns? Dieses Fegefeuer meine ich, wenn ich +symbolisch von meiner „Geisterschmiede” erzähle, deren +fürchterliche Zeit ich heut oder morgen überwunden +haben werde. Ich zürne Euch nicht, denn ich weiß, es +mußte so sein. Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu +tragen und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen und +durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit zu +verwenden. Ich bin nicht verbittert, denn ich kenne meine Schuld. +Und was andere gezwungen an mir taten, das trage ich nicht nach. +Ich bitte nur um das Eine: Laßt mir endlich, endlich Zeit, +mit dieser Arbeit zu beginnen! +</p> + +<hr /> + +<p class="poem"> +Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag<br/> + Soll Feierabend sein im heil’gen Alter.<br/> +Und was ich hier vielleicht noch schauen mag,<br/> + Das sing ich Euch zur Harfe und zum Psalter.<br/> +Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt;<br/> + Ich gab Euch alles, was mir Gott beschieden,<br/> +Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,<br/> + So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.<br/> +<br/> +Nach meines Lebens schwerem Leidenstag<br/> + Leg allen Gram ich nun in Gottes Hände.<br/> +Und was mich hier vielleicht noch treffen mag,<br/> + Das führe er in mir zum frohen Ende.<br/> +Ich hab’ die Schuld, die Ihr auf mich gelegt,<br/> + Gewißlich nicht allein für mich getragen,<br/> +Doch was dafür sich irdisch in mir regt,<br/> + Das will ich gern nur noch dem Himmel sagen.<br/> +<br/> +Nach meines Lebens schwerem Prüfungstag<br/> + Wird nun wohl bald des Meisters Spruch erklingen,<br/> +Doch, wie auch die Entscheidung fallen mag,<br/> + Sie kann mir nichts als nur Erlösung bringen.<br/> +Ich juble auf. Des Kerkers Schloß erklirrt;<br/> + Ich werde endlich, endlich nun entlassen.<br/> +Ade! Und wer sich weiter in mir irrt,<br/> + Der mag getrost mich auch noch weiter hassen! +</p> + +<p class="center"> +E n d e. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 2779 ***</div> +</body> +</html> + + |
