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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44639 ***
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+ Text wurde folgendermaßen markiert:
+ _Antiqua_
+ =gesperrt=
+
+ Zeichensetzung und Rechtschreibung wurden weitgehend übernommen,
+ außer bei offensichtlichen Fehlern.
+
+
+
+
+ Wilhelm Raabe
+
+ Bücherei
+
+ Erste Reihe:
+
+ Kleinere
+ Erzählungen
+
+ Zweiter Band
+
+
+
+
+ Berlin-Grunewald
+
+ Verlagsanstalt für Litteratur und
+ Kunst/Hermann Klemm
+
+
+
+
+ Wilhelm Raabe
+
+ Der Junker von
+ Denow
+
+ Ein Geheimnis
+
+ Ein Besuch
+
+ Auf dem Altenteil
+
+ Erzählungen
+
+
+ Dritte Auflage
+ 11.-16. Tausend
+
+
+
+
+ Berlin-Grunewald
+
+ Verlagsanstalt für Litteratur und
+ Kunst/Hermann Klemm
+
+
+
+
+ Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
+ Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
+ Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig
+
+
+
+
+ ******************************
+ * *
+ * Der *
+ * *
+ * Junker von Denow *
+ * *
+ * Historische Novelle *
+ * *
+ ******************************
+
+
+
+
+ I.
+
+
+Wer am Abend des sechsten Septembers alten Stils, am Donnerstag vor
+Mariä Geburt im Jahre unsers Herrn Eintausendfünfhundertneunundneunzig,
+nach Sonnenuntergang einen Blick aus der Vogelschau über die Rheinebene
+von Rees bis Emmerich und weit nach Ost und West ins Land hinein hätte
+werfen können, der würde eines erschrecklichen Schauspiels teilhaftig
+geworden sein.
+
+Schwarze regendrohende Wolken verhingen das Himmelsgewölbe, und es würde
+eine dunkle Nacht gewesen sein, wenn nicht der Mensch diesmal dafür
+gesorgt hätte, daß es auf der weiten Fläche nicht ganz finster wurde.
+Auf den Wällen von Rees leitete, an der Spitze seiner Hispanier,
+Burgunder und Wallonen, Don Ramiro de Gusman die Verteidigung der Stadt
+und Festung gegen das Reichsheer, welches schläfrig und matt genug der
+Belagerung oblag, dafür aber auf andere Weise desto mehr Lärm machte,
+wie es einer Armee des heiligen römischen Reichs deutscher Nation
+zukam. Ein fahles, blitzartiges Leuchten lag hier über der Gegend, denn
+wenn auch das schwere Geschütz seit Mittag schwieg, so knatterte doch
+das Musketenfeuer, schwächer oder stärker, rund um die Stadt fort und
+fort, und manch ein Wachtfeuer flackerte auf beiden Ufern des Flusses,
+welcher manche Leiche in seinen nachtschwarzen Fluten mit sich hinab
+führte in das leichenvolle Holland, wo der finstere Admiral von
+Aragonien, Don Francisco de Mendoza, und der Sohn der schönen Welserin,
+der bigotte Kardinal Andreas von Österreich, die Zeiten Albas
+erneuerten. --
+
+Wir haben es jedoch nur mit der rechten Seite des Rheines zu tun, wo
+tief in das Land hinein unter den zusammengewürfelten Tausenden des
+Reichsheeres, Hessen, Brandenburgern, Braunschweigern, Westfalen, der
+_furor teutonicus_, die sinnlose, trunkene, deutsche Furie ausgebrochen
+war und in Verwüstungen aller Art sich Luft machte. In allen Dörfern
+und Lagerplätzen Sturmglocken, Trommeln und rufende Trompeten --
+Geschrei und Jammer des elenden, geplünderten, mißhandelten Landvolkes
+-- bittende, drohende Befehlshaber -- flüchtende Herden, Weiber,
+Kinder, Kranke, Greise -- Reitergeschwader, die sich sammelten,
+Reitergeschwader, die auseinanderstoben -- brennende Häuser und
+Zeltreihen, und zwischen allem die Cleveschen Milizen, die
+»Hahnenfedern«, zur Wut gebracht durch die Ausschweifungen derer,
+welche da Hilfe bringen sollten gegen die Ausschweifungen des fremden
+Feindes! Überall Blut und Feuer und Brand -- ein unbeschreibliches,
+wüstes, grauenhaftes Durcheinander, zu dessen Schilderung Menschenrede
+nicht hinreicht!...
+
+Lange genug hatte an diesem Abend Don Ramiro, hinter seiner Brustwehr an
+eine zerschossene Lafette gelehnt, hinübergeschaut nach den Laufgräben
+und Angriffswerken der tollgewordenen Belagerer; jetzt stieg er langsam
+herab von seinem Lugaus, und begleitet von zwei Fackelträgern und
+mehreren seiner Unterbefehlshaber schritt er durch die Gassen von Rees,
+dessen zitternde Bewohner jedes Fenster hatten erhellen müssen, und
+dessen Straßen dumpf dröhnten unter den Schritten der gegen die
+östlichen Ausfallspforten heranmarschierenden Besatzung.
+
+»Francisco Orticio!« sagte der spanische Kommandant, und im nächsten
+Augenblick stand der Geforderte vor ihm.
+
+»Alles bereit?« fragte Don Ramiro wieder.
+
+Der gerüstete Führer senkte stumm den Degen und wies mit der Linken auf
+die Haufen der Krieger, welche jetzt alle an den ihnen bestimmten
+Plätzen dicht gedrängt, regungslos standen. Des Spaniers Auge flog mit
+düsterer Befriedigung über all diese im Glanz der Fackeln blitzenden
+Harnische, Sturmhauben, Piken und Schwerter -- er nickte. »Sie würden
+sich da draußen untereinander selbst fressen, gleich den hungrigen
+Wölfen,« sagte er, »aber wir wollen zur Ehre Gottes und der heiligen
+Jungfrau« -- hier lüftete er den Hut, und alle Umstehenden taten
+das Gleiche -- »unsern Teil an dem Verdienst haben, die Ketzer zu
+vertilgen! Erinnert Euch, Orticio, mit dem Schlage Elf beginnt das Feuer
+wiederum -- mit dem Schlage Elf hinaus auf sie! Spanien und die
+Jungfrau! die Losung.«
+
+»An eure Plätze, ihr Herren!« erschallte das Kommandowort Francisco
+Orticios -- ein dumpfes Gerassel und Geklirr der sich aneinander
+reibenden Harnische -- Don Ramiro de Gusman schritt langsam prüfend die
+Reihen entlang; dann stieg er schweigend wieder zu dem Walle empor, nach
+einem letzten Wink und Gruß für Orticio, welcher sein Wehrgehäng fester
+zog.
+
+»Noch eine halbe Stund'! Spanien und die Jungfrau, Spanien und die
+Jungfrau!« ging es dumpf durch die Reihen der harrenden Krieger. -- --
+
+Unsere Geschichte beginnt!
+
+»So hole der Teufel die meineidigen Schufte und meuterischen Hunde!«
+schrie der Hauptmann Burghard Hieronymus Rußwurmb in Verzweiflung,
+im Lager der dreizehn Fähnlein gewappneter Knechte, Reisiger und
+Fußsöldner, welche Herr Heinrich Julius, postulierter Bischof zu
+Halberstadt, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg als Obrister des
+niedersächsischen Kreises zufolge des Koblenzschen Reichsabschieds
+für diesen Krieg geworben und aus aller deutschen Herren Ländern
+zusammengebracht hatte. »Ist denn die Welt ganz umgekehrt? Es ist zum
+Rasendwerden!... So schlage zum letzten Mal die Trommel, Hans Niekirche
+-- o heiliges Wort Gottes, das ist das Jüngste Gericht!«
+
+Hans Niekirche aus Braunschweig, der Trommelschläger, ein blutjunger
+Wicht, welcher einem Schneider seiner Geburtsstadt aus der Lehre
+gelaufen war, hatte, hierhin gestoßen, dahin gezerrt, sich fast zwischen
+die langen Beine seines Hauptmanns gerettet und fing nun mit zitternden
+Händen von neuem an, das Kalbfell zu bearbeiten; während der Hauptmann
+hin und her lief, mit beiden Händen das Haupthaar durchwühlend. Er hatte
+wohl das Recht, zornig zu sein, der Wackere! Dicht hinter sich hatte er
+ein geplündertes Bauernhaus, dessen Fenster und Türen eingeschlagen
+waren, und auf dessen Schwelle ein junges Weib mit zerrissenen Kleidern,
+in der im letzten Krampf zusammengekniffenen Hand ein Büschel roter
+Haare, leblos ausgestreckt lag. An sein linkes Bein hing sich jetzt auch
+noch ein arm Kindlein in seiner Todesangst, zu seiner Rechten schlug
+Niekirch seine Wirbel, und rings um ihn her schrie und stampfte, fluchte
+und drohete sein meuterisch Fähnlein und rasaunte durcheinander, wie ein
+aufgestört Rattennest.
+
+»O ihr Schelme, ihr Hunde, das soll euch heimgezahlt werden!« brüllte
+der Hauptmann. »Warte, Hans Diroff von Kahla, warte, Koburger, Christoph
+Stern von Saalfeld, an den Galgen und aufs Rad kommt ihr; oder die
+Gerechtigkeit ist krepiert auf Erden. Warte, du Schmalz von Gera, dein
+Fett soll all werden, wie eine Kerze im Feuer! O Tag des Zorns, o Hunde!
+Hunde!«
+
+»Gebt Raum, Hauptmann!« schrie ein riesenhafter Kerl, genannt Valentin
+Weisser von Roseneck, dem Führer den Büchsenkolben vor die Brust
+setzend. »Ihr seid die Verräter, die Schelme, Ihr und Eure saubern
+Gesellen und Euer Graf von Hohenlohe, der Holländer! Wollt Ihr uns nicht
+etwa über das Wasser, über den Rhein, von des Reiches Boden führen? He,
+sprecht!«
+
+»Nicht über den Rhein! nicht über den Rhein! nicht vor Bommel! nicht vor
+Bommel!« schrie es von allen Seiten, und weit über das Feld durch alle
+Tausende wälzte sich dasselbe Wort. Der Hauptmann schlug den Kolben von
+seiner Brust zur Seite.
+
+»Du wirst gehängt, wie ein Spatz, Rosenecker,« schrie er.
+
+»Ihr sollt es wenigstens nit erschauen!« brüllte der Schütz wieder, die
+brennende Lunte über dem Haupte schwingend. Er nahm sich nicht die Mühe,
+sie aufzuschrauben, das Feuerrohr lag auf der Gabel -- im nächsten
+Augenblick wäre der Hauptmann ein Kind des Todes gewesen, wenn nicht
+plötzlich zwischen dem Bedrohten und dem Drohenden ein Reiter im vollen
+Galopp angehalten und dem wütenden Musketierer den Büchsenlauf in die
+Höhe geschlagen hätte, daß der Schuß in die Luft ging.
+
+»Der Junker! der Junker!« schrie es auf allen Seiten. »Der Junker
+zurück! sprecht, sprecht, was ist's? was sagt der Graf? Haben sie uns
+verkauft an die holländischen Juden, ihnen ihre Festung Bommel zu
+entsetzen?... Der Junker, der Junker! Nicht nach Bommel, nicht vor
+Bommel! nicht über den Rhein! nicht über den Rhein! In die Spieße der
+von Hollach!«
+
+»Ja, schreit nur, bis ihr berstet!« zischte blau vor Grimm der
+Hauptmann durch die zusammengebissenen Zähne und ballte die Hände, daß
+die Nägel tief ins Fleisch drangen. »Schreit nur -- es ist noch nicht
+im Topf, darin es gekocht wird -- Christoph von Denow, sprecht zu den
+Meutmachern! sagt den räudigen Hunden Eure Botschaft!«
+
+Der junge Reiter richtete sich hoch auf im Sattel, und alle die wilden
+Gesichter im Fackelschein ringsumher wandten sich ihm zu.
+
+»Der wohlgeborene und edle Graf Philipp von Hohenlohe, unser gnädiger
+Feldhauptmann --«
+
+»Nichts von dem Grafen von Hollach, dem Verräter, dem Judas!« schrien
+einige. »Stille! Ruhe! Hört ihn!« riefen die andern und gewannen die
+Oberhand, daß der Reiter fortfahren konnte.
+
+»Der Graf läßt den Fähnlein des braunschweigischen Regiments zu Roß und
+zu Fuß vermelden, daß ihr Begehren und Gebaren unehrlich und treulos
+sei, deutscher Nation zu Schimpf und Schande und großem Schaden
+gereiche --«
+
+Ein allgemeines Wut- und Spottgebrüll unterbrach den Redner, der erst
+nach langem Harren weiter rufen konnte.
+
+»Es sagt der Graf von Hohenlohe, daß er befehle, Generalmarsch zu
+schlagen vor jeglichem Quartier und auszurücken in die Linien gen Rees,
+auf weitern Befehl! Da kommt unser gnädigster Obrister, der Herr von
+Rethen.«
+
+Neues Geschrei empfing den ebenfalls im vollen Rosseslauf erscheinenden
+Führer, welcher den schriftlichen Befehl des Grafen mit sich führte;
+aber ebenfalls vergeblich durch Bitten, Drohungen, Erinnerungen an den
+Artikelbrief das Volk zur Ruhe zu bringen versuchte. Atemlos,
+zornesbleich hielt er zuletzt in dem kleinen Kreise der Hauptleute und
+Offiziere und der wenigen treugebliebenen Söldner. Der Junker aber
+befand sich, willenlos fortgerissen, inmitten des wildesten Getümmels
+der aufrührerischen Knechte, die von Mord und Blut sprachen, und
+bereits ihre Spieße senkten, ihre Feuergewehre richteten auf das
+Häuflein der Getreuen, welche einen Ring schlossen um die Führer und die
+geretteten Feldzeichen, und sich rüsteten, ihr Leben so teuer als
+möglich zu verkaufen.
+
+Auch das Reiterlager hatte sich in Bewegung gesetzt, von Minute
+zu Minute wuchs der Tumult, und inmitten all dieser drohenden
+Spieße, Schwerter und Büchsen, unter all diesen scheu gewordenen,
+ausschlagenden, stampfenden Rossen und trunkenen Männern taucht jetzt
+für uns eine Gestalt auf, klein und zierlich gebaut, aber trutzig und
+unverzagt, im Heerlager aufgewachsen, gebräunt von Wind und Wetter,
+abgehärtet in mancher bösen Sturmnacht am schwächlichen Lagerfeuer, ein
+klein Hütlein, geziert mit einer Häherfeder, auf den krausen, wirren
+Locken, ein Dolchmesser im Gürtel, -- bekannt bei Führern, Knechten und
+Reisigen; zu Roß, zu Fuß, zu Wagen stets dem Heere zur Hand: =Anneke
+Mey= von Stadtoldendorf, des braunschweigschen Regiments Marketenderin
+und Schenkin!
+
+»Hab' ich dich auf den Fuß getreten, Anneke?« fragte ganz kleinmütig der
+wilde Valentin Weisser, der eben das Feuergewehr gegen den Hauptmann
+hatte losgehen lassen. »Nimm dich in acht, daß sie dich nicht
+erdrücken, Engel-Anneke -- stelle dich hinter mich, du wirst gleich dein
+blaues Wunder sehen.«
+
+»Nehmet Ihr Euch in acht, Rosenecker,« lachte das wildherzige Kind, »Ihr
+spielt ein hoch Spiel diese Nacht!«
+
+Der Riese warf einen trotzigen, lachenden Blick über die hin und her
+wogenden Massen. --
+
+»Hoho, sind wir nicht unsrer genug, zu gewinnen? Nicht vor Bommel!
+Ju -- ho! ho! nicht vor Bommel! nicht übern Rhein! Fort mit den
+Hauptleuten, fort mit dem Grafen von Hollach!«
+
+In diesem Augenblick riefen wieder Hunderte von Stimmen nach dem
+Junker -- dem Christoph von Denow. Da zuckte ein seltsamer Glanz über
+das Gesicht des Mädchens. Es stellte sich zuerst auf die Zehen, dann
+kletterte es mit katzengleicher Behendigkeit und Schnelligkeit auf einen
+Schutthaufen, wo sich bereits mehrere Soldatenweiber mit ihren Kindern
+und Habseligkeiten zusammengedrängt hatten und alle zugleich in den Lärm
+hineinkreischten.
+
+»Mein Mann! mein Mann! Jesus, sie würgen sich alle! Gottes Sohn --
+Franz! Franz!«
+
+»Was macht der Junker? wo ist der Junker?« rief Anneke Mey, eine Hand,
+welche ihr entgegengestreckt wurde, ergreifend.
+
+»Da! da! er spricht zu denen vom vierten Fähnlein -- da -- da -- Jesus,
+sie werfen den Hauptmann Eberbach nieder, und mein Mann, Jesus, mein
+Mann!« --
+
+Die Augen der Armen wurden starr, mit einem Sprung war sie von der Höhe
+herab und stürzte sich mitten in das Getümmel; über den am Boden
+liegenden Hauptmann sank unter den Hieben und Stößen der Meutrer der
+Doppelsöldner Franz Hase von Erfurt zusammen. Vergeblich hatte sich
+Christoph von Denow unter die Piken und Hellebarden geworfen, mit seinem
+Schwert die Spitzen niederschlagend; im vollen Lauf stürzte jetzt das
+aufrührerische Kriegsvolk auf die Treugebliebenen und die Befehlshaber,
+Schüsse krachten hinüber und herüber. Ihr Messer aus der Scheide reißend
+trieb Anneke Mey in den Aufruhr hinein. Christoph von Denow sah sie
+plötzlich an seiner Seite unter den Füßen der Kämpfenden; -- noch ein
+Augenblick, und sie war verloren, noch ein Augenblick, und er hatte sie,
+fast ohne zu wissen, was er tat, zu sich emporgezogen aufs Pferd; alles
+drehte sich um ihn her -- »Mordio! Mordio!« brüllte es auf allen
+Seiten -- -- Da -- -- urplötzlich -- -- blieben alle die zum Verbrechen
+gezückten und geschwungenen Waffen, wie durch ein Zauberwort aufgehalten
+in der Luft -- jeder Wut- und Angstschrei erstarrte auf den Lippen --
+Angreifer und Angegriffene standen lautlos, bewegungslos!
+
+Im Westen über Rees hatte sich, begleitet von einem donnerartigen
+Krachen, der dunkle Nachthimmel blutig-rot gefärbt. Alle Geschütze auf
+den Wällen, alle Geschütze in den Angriffslinien brüllten los; im Lager
+des Reichsheeres flog ein Pulvervorrat in die Luft, dazwischen rollte,
+immer stärker werdend, das kleine Gewehrfeuer.
+
+Mit einem Male hatte sich die Szene im aufrührerischen Lager vollständig
+verändert.
+
+»Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!« ging es von Mund zu Mund.
+»Sturm! Sturm! Gen Rees! gen Rees!«
+
+Und als peitsche der Satan sie vorwärts, seiner Hölle zu, hatte sich
+plötzlich diese ganze Masse von Kriegern, Führern, Weibern, Troßknechten
+in Bewegung gesetzt, dem flammenden Vulkan im Westen entgegen. Gier nach
+Beute, unbefriedigte Gier nach Blut trieb sie von dannen. Im wildesten
+Taumel, Reiter und Fußvolk und Wagen bunt durcheinander, raste sie über
+das Feld durch die Nacht. Im wildesten Taumel und Traum, das Schwert am
+Faustriemen, vor sich auf dem Sattel das Mädchen aus den Weserbergen,
+saß Christoph von Denow auf seinem schwarzen Roß. -- --
+
+»Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen! Vivat der Graf! Vivat der Graf
+von Hollach! Vorwärts! Vorwärts!«
+
+Ein sekundenlanges Anhalten in dieser wüsten Menschenflut war eine
+Unmöglichkeit, ein Fehltritt, ein Straucheln der sichere Tod. Schon
+hörte man zwischen dem Donnern und Krachen um die Stadt den Schlachtruf
+der Feinde: »Spanien und die Jungfrau! Spanien und die Jungfrau!« und
+lauter und näher den Ruf der angegriffenen Belagerer: »Das Reich! das
+Reich! Vorwärts, das Reich!«
+
+Hinein in die Atmosphäre von Blut und Feuer brauste die anstürzende
+Menschenmasse, und die Letzten drängten bereits die Vordersten
+in die angegriffenen Laufgräben, aus denen eine andere Flut ihnen
+entgegen wogte. Das waren die Hessischen, die schlecht bewaffneten,
+halbverhungerten, im Regen und Rheinwasser fast ertränkten
+Schanzgräber, welche dem wilden Anprall der Spanier nicht hatten
+widerstehen können.
+
+»Spanien! Spanien! Spanien und die Jungfrau!« rief Francisco Orticio,
+sich über einen Schanzkorb in die Höhe schwingend.
+
+»Spanien! Spanien und die Jungfrau!« wiederholten seine Krieger ihm
+nachdringend.
+
+»Rette, Hessen! Rette!« schrien die flüchtigen Söldner des Landgrafen im
+panischen Schrecken.
+
+»Braunschweig! Braunschweig!« brüllte es von den Höhen der Böschungen.
+
+»Up dei Düvels!« schrie Heinrich Weber aus Schöppenstedt, eine Fackel in
+der Hand mitten unter die Hessen springend. Der flammende Brand flog im
+weiten Bogen gegen die Spanier -- ein zweiter Satz -- die zu Grund, der
+Bergstadt im Harz, gehämmerte Hellebarde schmetterte nieder auf eine zu
+Cordova geschmiedete Sturmhaube: Diego Lua aus Toboso stürzte mit einem
+»_Valga me Dios!_« tot zurück.
+
+»Braunschweig! Braunschweig!« brauste es dem Schöppenstedter nach, und
+»Braunschweig! Braunschweig!« jubelten auch die Hessen, welche mit neuem
+Mut sich wandten gegen ihre Verfolger.
+
+»Braunschweig! Braunschweig!« rief Christoph von Denow, dem es gelungen
+war, sich von seinem Pferde zu werfen, welches sich auf der Böschung
+hoch bäumte, im nächsten Augenblick aber, von einer Kugel getroffen,
+zusammenbrach. Anneke Mey stand unbeschädigt auf den Füßen, doch auch
+sie wurde mit hinabgerissen in die Gräben, wo sie jedoch samt Hans
+Niekirche hinter einem Haufen umgestürzter Schanzkörbe den verlorenen
+Atem wieder gewinnen konnte.
+
+Und jetzt Angriff und wütende Verteidigung, Flüche in sechs Sprachen,
+Todesrufe; -- auf engstem Raum Vernichtung jeder Art! -- Alle Hauptleute
+der Braunschweiger: Adebar, Maxen, Wulffen, Wobersnau, Rußwurmb, Dux,
+Statz, und wie sie hießen, hatten ihre Stellen als Befehlshaber wieder
+eingenommen und drängten tapfer kämpfend die Spanier zurück. Tapfer
+stritten aber auch die Spanier. Sechs Geschütze hatten sie in den
+hessischen Schanzen genommen und in den Rheingraben versenkt, Schritt
+für Schritt wichen sie zu den flammenden Mauern und Wällen der Stadt
+über die Leichen ihrer Landsleute und ihrer Feinde. Der Graf von
+Hohenlohe in vollster Rüstung mit seinen Herren führte stets neue
+Truppen an; Haufen auf Haufen ließ Don Ramiro de Gusman hervorbrechen.
+
+Dicht an den Spaniern kämpfte Christoph von Denow, das Blut rieselte aus
+einer Stirnwunde, -- er merkte es nicht. Anneke Mey hatte sich mutig auf
+ihren Schanzkorb geschwungen und den widerstrebenden Niekirche
+nachgezogen. Sie hielt ihr Messer noch immer gezückt in der Rechten, mit
+der Linken hielt sie den schlotternden Trommelschläger am Kragen.
+
+»So schlage den Sturmmarsch, Junge!« rief sie lachend. »Willst' nicht?
+Wart, gleich fliegst du herunter, daß sie dich drunten zu Brei
+vertreten, Feigling!«
+
+»Ja! ja! ich will!« jammerte Hans. »Ach wär' ich doch daheim! Ach wär'
+ich doch zu Haus! Mein Mutter! mein Mutter!«
+
+»Na, na, schlage nur immer zu, du kommst noch davon!« sagte Anneke
+begütigend und ließ den Kragen des Armen los. »Dein' Mutter wartet schon
+a bissel! Schau, wie lustig das aussieht -- da, guck, sie geben's den
+welschen Bluthunden! Wär' ich 'n Knab, wie du -- hei, ich wollt's ihnen
+auch schon zeigen!« Und mit heller Stimme fing das Mädchen an zu
+singen:
+
+ »Mein Vater wollt' ein Knäbelein,
+ Mein Mutter wollt' ein Mägdelein,
+ Mein' Mutter tät gewinnen,
+ Des muß den Flachs ich spinnen -- Ja spinnen!
+ Das ist mir großes Leid!«
+
+Immer mutiger schlug Hans Niekirche, durch seine Gefährtin aufgemuntert,
+seine Wirbel, und unter beiden Kindern vorbei drängten ununterbrochen
+die Scharen des Reichs vor und zurück, wie der Kampf vor- und
+zurückwich; bis die Spanier in die Stadt gedrängt waren, und das Zeichen
+zum Sammeln von allen Seiten den Deutschen gegeben wurde. Don Ramiro
+hatte die Rheinschleusen, welche er in seiner Gewalt hatte, öffnen
+lassen.
+
+»Sieh das Wasser! das Wasser!« rief Hans Niekirche in neuer Angst. »Laß
+uns fort, Anneke, sie wollen uns ersäufen, wie die jungen Katzen.«
+
+Ein allgemeiner Schrei erhob sich unter dem Getümmel in den Laufgräben;
+schon standen manche Haufen bis an den Gürtel in der reißend schnell
+steigenden Flut.
+
+»Halt, halt!« rief Anneke Mey. »Er ist noch nicht zurück; aber -- geh
+nur -- geh -- ich bleib'!«
+
+»Und ich bleib' auch!« schrie Hans der Trommler.
+
+»Zurück! zurück!« tönte es aus den rückwärts weichenden Scharen des
+Reichsheeres: »Das Wasser! Der Rhein! Das Wasser!« Und immerfort
+donnerte das Geschütz der Spanier von den Wällen, immerfort schlugen die
+Kugeln verheerend in das wirre, verzweiflungsvolle Durcheinander.
+
+Es war eine böse Belagerung -- die Belagerung der Stadt Rees am Rhein:
+es war kein Glück, es war keine Ehre dabei zu holen.
+
+»Der Junker! der Junker! Christoph! Christoph von Denow!« schrie die
+junge Dirne auf ihrer Höhe, die Hände ringend, und das Wasser stieg und
+stieg. Schon waren die letzten der Haufen unter ihr vorüber, und die
+Toten, von den Fluten gehoben, wirbelten um sie her. Da griff eine Hand
+aus den Wassern nach dem Schanzkorbe, auf welchem sie stand, und ein
+bleiches Haupt erhob sich zu ihren Füßen: »Rette! Rette!«
+
+»Christoph! Christoph!« schrie das Mädchen, sie lag auf den Knien, sie
+faßte die triefenden Locken, sie faßte den Schwertriemen -- der Junker
+von Denow war gerettet. Valentin Weisser, der Riese, dessen Blutdurst
+und Mut durch den Kampf und den Rhein bedeutend gekühlt war, brachte
+mit Hilfe gutwilliger Genossen den wunden Junker, die Dirne und Hans,
+den Trommelschläger, glücklich auf das Trockene und weit hinein ins
+Feld, wo die gelichteten, zerrissenen, wunden Krieger des Reichsheeres
+um die Wachtfeuer murrend und grollend in stumpfsinniger Ermattung lagen
+und die Führer bereits wieder unheimliche und drohende Worte zu hören
+bekamen.
+
+
+
+
+ II.
+
+
+Trübe dämmerte der Morgen. Auf die wüste Nacht folgte ein ebenso wüster
+Tag. Vergeblich hatte Herr Otto Heinrich von Beylandt, Herr zu Rethen
+und Brembt, Leib und Leben und Seligkeit den Meuterern zum Pfande
+eingesetzt, daß sie nicht von des Reichs Boden weggeführt werden
+sollten; vergeblich hatte der Graf von Hohenlohe geflucht, gebeten und
+gedroht. Zwischen sieben und acht Uhr waren zehn Fähnlein des
+braunschweigischen Regiments aufgebrochen und aus dem Feld gezogen,
+Münster zu. Weiber, Kinder, Dirnen folgten jetzt dem plündernden,
+ehrvergessenen, eidbrüchigen Haufen durch den grauen Nebelregen. Keiner
+befahl, keiner gehorchte. Die einen meinten, es gehe gradaus zum Herzog
+von Braunschweig, ihrem Zahlherrn, nach Wolfenbüttel; andere glaubten,
+es gehe gegen den Bischof von Münster; die meisten aber dachten gar
+nichts, und so schwankte der tolle Zug, einem Betrunkenen gleich, hier
+vom Wege ab, dort vom Wege ab, jetzt auf ein Dorf zu, jetzt auf ein
+einsames Gehöft. Kleinere Banden schweiften zur Seite, oder vor und
+nach -- fort und fort über die Heide; hier im Kampfe mit einer
+ergrimmten Bauernschar, dort im Hader untereinander. Der Nebel ward
+Regen und hing sich in perlenden Tropfen an die letzten Blüten des
+Heidekrauts und träufelte von den Stacheln und Zweigen der Dornbüsche.
+Krähenscharen begleiteten den Zug lautkrächzend, oder flatterten in
+dichten Haufen westwärts dem Rhein zu, wo von Rees her das Feuer der
+Berennung nur noch in einzelnen Schlägen dumpf grollte. Stärker und
+stärker ward der Regen, die blutigen Spuren der vergangenen Nacht, der
+Schlamm der Laufgräben mischten sich auf den pulvergeschwärzten
+Gesichtern, den zerrissenen, verbrannten Kleidern, den verrosteten
+Waffenstücken -- die Männer fluchten und sangen, die Weiber ächzten, die
+Kinder schrien, und Anneke Mey auf ihrem Wagen, mit einem Bierfaß
+beladen, hielt tröstend das Haupt des wunden Christoph von Denow in
+ihrem Schoß und sprach ihm zu und verhüllte ihn, wie eine Mutter ihr
+Kind, mit einem groben Soldatenmantel; während Hans Niekirche
+zähneklappernd das magere Roß leitete, welches vor dem Karren ging. --
+Lange Zeit hatte der Junker wie besinnungslos gelegen, jetzt hob er den
+Kopf mühsam empor und strich die Haare aus der Stirn und warf einen
+Blick auf seine Umgebung.
+
+»O Anneke, weshalb hast mich nicht gelassen in dem Wasser -- oh! oh!«
+
+»Still, still, lieget ruhig, Herr! Die ganze Welt ist auseinander --«
+
+»Weshalb hast mich nicht gelassen im Lager -- im Heer vor Rees?«
+
+»Es ist aus, aus! Alles aus, sagen sie. Alles läuft auseinander --«
+
+»Und wohin gehen wir?«
+
+»Weiß nicht! weiß nicht!«
+
+»Bin also so weit! Ein Spießgesell von Räubern und Mördern und
+landesflüchtigem Gesindel! Krächzt nur, ihr schwarzen Galgenvögel, ihr
+habt einen feinen Geruch, wittert den Fraß, wann er noch lustig auf den
+Beinen herumstolpert und den Bauerngänsen die Hälse abhaut und die
+Rinder aus dem Stall zieht. O Christoph! Christoph! Und du könntest
+einen adeligen Schild führen!«
+
+Der junge Gesell stieß solch einen herzbrechenden Seufzer aus, daß ein
+neben dem Karren reitender Söldner aufmerksam wurde. Er drängte sein
+Pferd näher heran, zog seine Feldflasche hervor und reichte sie dem
+Wunden zu.
+
+»Hoho, Junker, was spinnst für Hanf? Da wärme dir das Herz, bis wir uns
+den Münsterschen Dompfaffen in die warmen Nester legen! Aufgeschaut,
+aufgeschaut, Christoffel! 's ist beschlossen, Ihr sollt unser Obrister
+werden!«
+
+Der Junker machte eine unwillige Handbewegung und antwortete nicht.
+
+»Auch gut,« brummte der Reiter. »Der Satan hol' alle diese Maulhänger!
+Möcht' nur wissen, was die Gesellen für einen Narren an ihm gefressen
+haben. Hat den Vorspruch gemacht gestern beim Grafen nach ihrem Willen
+und soll den Führer spielen, und kann den Kopf nicht grad halten -- Bah!
+Hätten hundert Bessere gefunden; kann mit seinem Adel weder den Mantel
+noch die Ehre flicken. Fort, Mähre, was scheust? Dacht ich's doch, da
+liegt wieder einer der trunkenen Schelme im Wege. Vorwärts, Schecke, laß
+liegen, was nicht mehr laufen mag. Was will die Trompete? Holla, was ist
+das?«
+
+Ja, was wollte die Trompete? Auf der rechten Seite des Weges der
+Meuterer waren zwar von Zeit zu Zeit vereinzelte Schüsse gefallen,
+niemand hatte sie aber beachtet, weil man sie nur den obenerwähnten
+Scharmützeln mit den Bauern und Hahnenfedern zuschrieb. Jetzt aber wurde
+das Feuer regelmäßiger, Reitertrompeten erschallten. Der Zug stutzte und
+hielt. Gestalten, schattenhaft, tummelten sich in dem dichten Nebel, und
+erschreckte Stimmen erklangen: »Die Spanier! Die Spanier!«
+
+»Zum Henker die Spanier; wie kommen die Spanier soweit über den Rhein?«
+brummte der Reiter, welcher eben dem Junker die Feldflasche geboten
+hatte. Er lockerte aber nichtsdestoweniger das Schwert in der Scheide
+und wickelte den rechten Arm aus dem Mantel los.
+
+»Der Feind! der Feind! die Speerreiter!« riefen die im Lauf
+rückkehrenden Plünderer, zu den Genossen stoßend, und einige brachten
+eine frische Wunde mit zurück. Näher und näher hörte man die Trompeten
+und den Schlachtruf »_España! España!_« und dann »Hohenlohe! Hohenlohe!«
+
+Keiner von den Meutmachern machte Miene, an dem Gefechte teilzunehmen;
+aber die Musketen waren auf die Gabeln gelegt, die Lunten aufgeschroben,
+die Spieße gesenkt, und man hatte instinktmäßig einen Kreis um die Wagen
+mit den Weibern und Kindern und den Raub geschlossen.
+
+Jetzt schienen die Spanier wieder zurückgedrängt zu werden; der Lärm des
+Kampfes verlor sich in der Ferne. Der Zug der Aufrührer wollte sich
+bereits wieder in Bewegung setzen.
+
+»Halt, halt!« rief einer der Fußknechte, »da kommen sie wieder!
+Rossestrab!« Er kniete nieder und legte das Ohr an den Boden. »Viel
+Pferde im Galopp!« Man konnte kaum zehn Schritte weit im Nebel und Regen
+deutlich sehen; es waren wieder nur unbestimmte Schatten, die man nahen
+sah.
+
+Ein »Halt« wurde ihnen zugerufen, und sie hielten, und eine einzelne
+Gestalt löste sich von dem Haufen ab. Aus dem Ring der aufrührerischen
+Söldner des Reichs traten ihr einige entgegen.
+
+»Wer seid Ihr? Woher des Weges? Was für Begehr?«
+
+Der Nahende ritt, ohne zu antworten, näher heran.
+
+»Haltet, oder wir schießen!«
+
+»Nur zu, eidbrüchig Gesindel; versucht, ob ihr einen ehrlichen
+Reitersmann trefft!«
+
+Wilde Flüche und der Ruf »Feuer, Feuer!« ertönten, und manche Büchse
+wurde in Anschlag gebracht; aber dazwischen riefen auch Stimmen: »Halt,
+halt, das sind keine Spanier, keine Speerreiter!«
+
+»Nein, das sind keine Spanier,« rief der Reisige zurück. »Das sind auch
+keine Meuterer, Mörder oder Diebshalunken; -- ehrliche Hohenlohesche
+Reiter sind's, die euch Lumpengesindel wahren sollen, daß ihr nicht dem
+Galgen entlauft! Glaubt's, der Graf hätte meinetwegen andere dazu
+schicken mögen, als uns -- nehmt das Ab -- Henkermahl drauf!«
+
+»Der Graf von Hollach hat Euch geschickt?« fragte es verwundert aus dem
+Haufen, und mancher der wilden Kerle drängte sich vor, näher an den
+Reitersmann.
+
+»Zurück!« rief dieser, »wir gehen mit euch, wie befohlen, jagen die
+Speerreiter, die euch die Gurgel abschneiden könnten, -- man sparte nur
+die Stricke -- und schützen das arme Landvolk vor euch Hunden. Damit
+holla! -- na, wohin geht der Marsch?«
+
+»Packt Euch zum Teufel, wir brauchen Euch nicht!« schrie Jobst Bengel
+aus Heiligenstadt. »Wer hat Euch gerufen? Sagt dem Grafen, dem
+Holländer, unsern schönsten Dank und wir könnten unsern Weg allein
+finden.«
+
+»Geht nicht! Alles auf Befehl! Kümmert euch so wenig als möglich um uns;
+ihr handelt nach Belieben, wir nach Befehl!«
+
+»Aber unser Belieben ist, daß ihr euch hinschert, woher ihr gekommen
+seid!« brüllte Hans Römer aus Erfurt. »Geht, oder es setzt mein' Seel
+blutige Köpfe!«
+
+»Unser Befehl ist, daß wir gehen, wohin euch der Satan treibt. Am
+Höllentor kehren wir um, das ist der Befehl. Genug der Worte.«
+
+Damit wandte der Hohenlohesche Rittmeister sein Roß und sprengte zurück
+zu seinen Reitern, welche unbeweglich auf einer kleinen Erderhöhung
+hielten und im Gegensatz zu dem tobsüchtigen, wüsten Gebaren der
+Meuterer nur leise Worte des Zorns und der Verachtung hatten.
+
+Auf seinem Schmerzenslager hatte Christoph von Denow halbblinden Auges
+und klingenden Ohres den Vorgang angesehen und angehört. Jetzt mußte er
+auch ohnmächtiger Zeuge der wilden Reden um ihn her sein.
+
+»Das ist solch ein falsch Spiel von dem Grafen -- das ist eine Falle.
+Sollen uns schützen vor den Speerreitern! -- Lauter Sorg und Lieb, bis
+sie uns den Hals zuschnüren! -- Nichts von dem Grafen von Hollach! Fort
+mit den Reitern des Holländers! Feuer auf sie! In die Spieße! in die
+Spieße mit ihnen!«
+
+»Die Rasenden! die Niederträchtigen!« stöhnte Christoph von Denow, die
+Hände ringend. »Und hier liegen zu müssen gleich einem abgestochenen
+Schaflamme! Halt, halt, was wollen sie tun?!«
+
+Seine schwache Stimme ging verloren in dem Lärm »fort mit Holländern,
+fort mit dem Grafen von Hollach!«
+
+Mit einem Schlage setzte die ganze Masse der Meuterer im Sturmlauf an
+gegen das kleine Häuflein der Reiter.
+
+»Hab's mir wohl gedacht,« brummte der Rittmeister in den grauen Bart.
+»Achtung, Gesellen! Stand gehalten -- das ist der Befehl. Herunter mit
+den Schuften, wenn sie euch nahe kommen.«
+
+Sie griffen wirklich an. Im nächsten Augenblick war die Reiterschar
+umringt, durchbrochen. Die meisten sanken nach tapfrer Gegenwehr vom
+Pferd; nur wenige schlugen sich durch und flohen über die Heide.
+Zuletzt kämpfte noch ein einzelner. Das war der tapfere alte Führer, der
+sich wie ein Verzweifelter wehrte. Endlich erstach ihm Balthasar
+Eschholz aus Berlin das Roß, und eine Kugel durchfuhr seine treue Brust.
+
+Einige Minuten standen die Mörder wie erstarrt. Schlug ihnen diesmal das
+Herz? Sie wagten es nicht, die Gefallenen zu berauben, ein plötzlicher
+Schrecken kam über sie, wie von Gott dem Richter gesandt, und Mann und
+Roß und Wagen stürzten von dannen, hinein in den Nebel, der sie
+verschlang, als seien sie nicht wert, von Himmel und Erde gesehen zu
+werden.
+
+»Das ist ein schlechter -- schlechter Tod!« seufzte der zu Boden
+liegende Reiterhauptmann. »Ein schlechter Tod! -- In deine Hände -- aber
+alles der Befehl -- nun kann der Rat von Nürnberg mein Weib und meine
+Jungen auffüttern -- ein schlechter Tod -- Amen! Alles -- der --
+Befehl!«
+
+Er griff noch einmal mit beiden Händen krampfhaft in das Heidekraut --
+es war vorüber.
+
+Ein Wäglein und drei Menschenkinder waren zurückgeblieben beim
+Fortstürzen der Mörderschar. Das waren Anneke Mey aus Stadtoldendorf,
+welche das Haupt des Erschlagenen stützte, das war Christoph von Denow,
+der auf seinem Lager das Vaterunser weiter betete, welches der
+Rittmeister nicht hatte zu Ende bringen können. Das war Hans Niekirche,
+der Trommelschläger, welcher schluchzend das Rößlein vor dem Wagen
+hielt!........
+
+
+
+
+ III.
+
+
+Nicht Leben, nicht Tod; nicht Vergessenheit, nicht Sinnesklarheit; nicht
+Schlaf, nicht Wachen; -- alles ein wildes, wirres Chaos in dem
+fieberkranken Kopfe Christoph von Denows! Jetzt legte es sich ihm, einem
+feurigen Schleier gleich, vor die Augen, tausend Sturmglocken und der
+Verzweiflungsschrei einer eroberten Stadt füllten ihm Ohr und Hirn; --
+jetzt versank er wieder in ein endloses graues Nichts, in welchem ihn
+allerlei unerkennbare Schatten umschwebten; -- jetzt vermochte er es
+wieder, sich und seine Umgebung zu unterscheiden, ohne sich klar darüber
+werden zu können, wer ihn von dannen führe und wohin man ihn führe.
+Manchmal war der Himmel über ihm grau und ihn fror, dann wieder schaute
+er empor in das reine Blau, und die Sonne schien herab auf ihn. Manchmal
+glaubte er sich in einem auf dem Wasser fahrenden Schifflein zu
+befinden, manchmal sah er wieder grüne Zweige über sich und hörte die
+Vögel singen. Er gab es auf, zu denken, sich zu erinnern: willenlos
+überließ er sich seinem Geschick. Es zog und zuckte durch seinen
+Geist! -- Da ist der weite, kühle Saal in der väterlichen Burg, dem
+einstmals am weitesten in das Polen- und Tartarenland vorgeschobenen
+Posten des deutschen Wesens. Durch die bunten Scheiben der spitzen
+Fenster fällt das Licht der Sonne und wirft die farbigen, flimmernden
+Schattenbilder der gemalten Wappen und Heiligen auf den Estrich. Da
+steht der Sessel des Ritters von Denow neben dem großen Kamine, und der
+Sessel und der Gebetschemel der Mutter in der Fenstervertiefung, da
+glitzern im Winkel auf dem künstlich geschnitzten Schenktisch die
+riesigen, wie Silber glänzenden Zinnkrüge und Geschirre. Da blickt ernst
+von der Wand der Ahnherr mit dem Ringpanzer auf der Brust, und manch
+wunderlich Gewaffen aus den Polen- und Preußenschlachten hängt an dem
+Mittelpfeiler, welcher den Saal stützt....
+
+Feuer! Feuer! Das ist nicht der Widerschein der Abendsonne an den
+Wänden. Feuer! Feuer! und das Wimmern der Burgglocken und der Schall der
+Sturmhörner! -- Wo blieb das süße, mildlächelnde Bild der Mutter, das
+eben noch durch den stillen dämmerigen Saal glitt? Feuer und Sturm! Die
+Polen! die Polen! Allverloren! Allgewonnen! Allgewonnen!
+
+Da taucht ein ehrliches bärtiges Gesicht auf -- das ist der Knecht
+Erdwin Wüstemann, welcher den kleinen Christoph aus der brennenden
+väterlichen Burg auf den Schultern trug und rettete.... Nun rauscht der
+Wald, nun murmelt der Bach -- das ist die verlorene Forsthütte, wo der
+treue Knecht und das Kind hausten so lange Jahre hindurch. Die Hunde
+zerren bellend an der Kette, der Falk schaukelt sich auf seiner Stange.
+Wilde Gesellen und Weiber -- fahrende Soldaten, Sänger und Studenten und
+demütige Juden verlangen Obdach vor dem nahen Gewitter oder dem
+Schneesturm. Sie lagern auf nackter Erde um das Feuer, an welchem die
+Hirschkeule bratet. Der Weinkrug geht im Kreise umher; Lieder
+erschallen! Lieder vom freien Landsknechtsleben, lutherische Lieder,
+Spottlieder gegen den Papst und den Türken und lateinische Lieder
+vom wandernden Scholarentum. Jetzt gerät der rote Heinz mit dem
+landflüchtigen Leibeigenen oder dem Zigeuner in Streit; die Messer
+blitzen, der Knecht Erdwin wirft sich zwischen die Kämpfenden -- es
+rauscht der Wald, es murmelt der Bach, es klingt die Harfe des blinden
+Sängers -- ah Wasser, Wasser und Waldfrische in dieser Glut, welche das
+Gehirn verdorrt und die Knochen versengt!
+
+Einen Augenblick lang öffnete der Kranke die Augen, er hörte Stimmen um
+sich her; jemand hielt ihm einen Krug voll frischen Wassers an die
+heißen Lippen. Er hatte nicht fragen können, wo er sei, wer ihm helfe in
+seiner Not? -- von neuem ergriff ihn der Fiebertraum.
+
+Aus dem Kinde ist im lustigen Wildschützenleben ein wackerer Bub
+geworden. Hinaus aus dem grünen Wald zieht der Knecht Erdwin mit dem
+Schützling. Die Zeiten sind danach -- wer kühn die Würfel wirft, kann
+wohl den Venuswurf werfen. Mancher gelangte in der Fremde zu hohen Ehren
+und Würden, der im Vaterlande kaum den heilen Rock trug. Gern kaufen
+Franzosen, Spanier, Holländer mit rotem Golde rotes deutsches Blut.
+Ho, so hattest du dir die Welt draußen vor dem Wald wohl nicht gedacht,
+Christoph von Denow? Hei, das waren andere Gestalten und Bilder:
+Städte, Klöster und Burgen; Fürsten mit Rittern und Rossen, schöne
+Damen, Äbte und Bischöfe mit reichem Gefolge, Bürgeraufzüge, bunte
+Landsknechtsrotten auf dem Wege nach Italien, nach Frankreich -- für den
+Kaiser und wider den Kaiser!
+
+Aus dem Reitersbuben ist ein Reitersmann geworden, welcher nichts sein
+nennt, als sein gutes Schwert, und welchem von den Vätern her nichts
+geblieben ist, als der eiserne Siegelring mit dem Wappen derer von
+Denow, welchen er am Finger trägt.
+
+Immer weiter hinein in das bunte Leben, in den bunten Traum -- tagelang,
+wochenlang im Wundfieber kämpfend zwischen Sein und Vernichtung, bis
+endlich eine Glocke dumpf und feierlich erklingt, eine Glocke, die nicht
+mehr allein in dem Gehirn des Kranken läutet!
+
+»Wo bin ich?... Die Glocke, was will die Glocke?« murmelte Christoph
+von Denow, die Augen aufschlagend.
+
+Anneke Mey stieß einen Freudenschrei aus und hob das Haupt des Junkers
+ein wenig aus ihrem Schoße: »Er lebt, o guter Gott, er wird leben!«
+
+»Die Glocke! die Glocke?«
+
+»Still, lieget still, Herr! das ist Sankt Lambert zu Münster, und da --
+horcht! das ist der Dom! Morgen ist der heilige Matthiastag -- still,
+still, lieget ruhig.«
+
+Es wurde dunkel über dem Junker; das Wäglein fuhr in diesem Augenblick
+durch die Torwölbung. Der Junker schloß die Augen wieder, er glaubte
+einen Wortwechsel zu hören, er glaubte zu bemerken, daß der Wagen hielt,
+Annekes Stimme erklang ängstlich und bittend dazwischen. Er glaubte ein
+bärtiges Gesicht über sich zu sehen und einen Ausruf des Schreckens zu
+hören. Der Wagen bewegte sich wieder -- er fuhr aus dem dunklen Tor in
+das Licht der Straße hinein. -- --
+
+Das war das Gesicht des alten Knechts Erdwin, welches der Junker von
+Denow über sich sah, bis im folgenden Moment alles verschwand und es
+wieder Nacht war im Geiste Christophs. -- Allmählich aber wurde diese
+Nacht jetzt Dämmerung; die Gedanken ordneten sich mehr und mehr.
+Christoph von Denow erwachte wieder zum Leben.
+
+Er fühlte den wohltuenden Strahl der milden Herbstsonne, er vernahm die
+Worte der Freunde um sich her. Jetzt erzählte Erdwin, der Knecht, jetzt
+sprach Anneke Mey, jetzt lachte Hans der Trommelschläger. Die Landschaft
+glitt an ihm vorüber, Städte, Dörfer, Flecken, er sah blaue Höhenzüge im
+Osten auftauchen und vernahm, wie ein Wanderer dem Knechte Erdwin sagte,
+das sei der altberühmte große Teutoburger Wald. Er schlummerte abermals
+ein, und als er abermals erwachte, fand er sich mitten in den Bergen,
+und ein Wasser rauschte seitwärts in das Dickicht. »Das Wässerlein kenn'
+ich,« rief Anneke, »das ist die Else, die fließt in die Werre, und die
+Werre fließt in die Weser, nun sind wir der Heimat nahe.«
+
+»Und wie ziehen wir nun, Anneke?« fragte der getreue Knecht Erdwin,
+welcher munter neben dem Wagen, den Spieß auf der Schulter, herschritt.
+
+»Wo die Sonne aufgeht, fahren wir zu; aus dem Teutoburger Wald in den
+Lippeschen Wald, zuletzt wird doch mal ein Berg kommen, von dem wir die
+Weser glitzern sehen können. Dann sind wir zu Hause!«
+
+»Anneke, Anneke!« murmelte Christoph.
+
+»O, wachet Ihr wieder, Junkerlein? geduldet Euch und lieget still, wir
+sind alle noch da, und der Meister Erdwin ist auch da und hat mir alles
+von Euch erzählt und ich ihm auch alles von Euch.«
+
+»O Junker, Junker, seid Ihr wach?« rief der Knecht Erdwin und schauete
+über den Rand des Wagens. »Das Mütterlein im Himmel muß über uns wachen,
+daß ich Euch grad am Tor zu Münster treffen mußt'. Von der Reichsschanze
+bis nach Münster bin ich kreuz und quer Euern Spuren nachgezogen. Habt
+mich schön in Angst und Not gebracht! Haltet das Maul, Junkerlein. Dem
+Herzmädel da dankt Ihr Euer jung Leben. Lasset Euch tränken und atzen
+und schlaft wieder ein, wir halten Euch oben, Hans und Anneke und ich!«
+
+Christoph drückte schwach die Hand des wackern Alten, er wollte nach dem
+Heere fragen, nach den Meuterern, aber er vergaß es. Sein wunder Kopf
+ruhte noch immer an der Brust der jungen Dirne. Aus schwimmenden Augen
+blickte er auf zu dem braunen, wildfreundlichen Gesicht über ihm.
+
+»Ach, Anneke Mey, Anneke Mey, wohin willst du mich führen?«
+
+»In meiner Heime ist es gar schön,« sagte das Mädchen. »Da sind die
+Berge und die Wiesen so grün, da schaut die alte Burg, sie heißen sie
+die Homburg herab auf das Städtel. Da sind die hohen weißen Felsen ganz
+weiß, weiß -- da wohnen die klugen Zwerge in tiefen runden Löchern. Das
+ist wahr, ganz gewiß wahr! Es ist auch schaurig da, manchmal rührt sich
+der Boden, und der Wald sinkt ein in die Erde, tief, tief, -- und ein
+Wässerlein springt dann unten in dem Grund auf; das Wasser trinken die
+Leut nicht gern. Aber mitten in den Bergen, da ist ein kühler Bronn, der
+Wellborn geheißen, aus dem kommt das Wasser durch Röhren in die Stadt,
+und die Brunnen rauschen und plätschern immer zu. Und vor dem Burgtor
+ist ein klein Haus dicht an der Stadtmauer, da sitzt meine alte Muhme,
+die Alheit -- mein Vater und Mutter sind lang tot im Lager von Lafere,
+wo wir mit dem französischen König Heinrich waren -- und ihre Katz sitzt
+neben ihr, und wenn sie, ich mein' die Muhme -- an mich gedenkt, so
+brummt und keift und bet't sie ein Vaterunser, grade weil sie mich gern
+hat. Schläfst noch nicht, Junkerlein? Mach die Augen zu und kümmre dich
+nicht um die Welt.«
+
+Mit leiser Stimme fing das Mädchen an zu singen:
+
+ »Musikanten zum Spielen,
+ Schöne Mädchen zum Lieben:
+ So lasset uns fahren,
+ Mit Roß und mit Wagen,
+ In unser Quartier!
+ In unser Quartier!«
+
+»Ach, der Wagen stößt zu hart; wisset Ihr was, Meister Erdwin? singet
+Ihr weiter.«
+
+»Wollen's versuchen!« sagte der Knecht Wüstemann und begann im Ton der
+Schlacht von Pavia das Lied von der Schlacht vor Bremen, in welche er
+als junger Bursch mit den Reitern des Grafen von Oldenburg gezogen war,
+und frisch schallte sein Baß in den Wald hinein.
+
+ »-- Unser Feldherr das vernahm,
+ Graf Albrecht von Mansfelde,
+ Sprach zu seinem Kriegsvolk lobesam:
+ Ihr lieben Auserwählten,
+ Nun seid ganz frisch und wohlgemut,
+ Ritterlich wolln wir fechten;
+ Gewinnen wolln wir Ehr und Gut,
+ Gott wird helfen dem Rechten.«
+
+Als der Endvers kam, war Christoph wirklich eingesungen zu sanftem
+Schlummer, und Hans Niekirche behielt den braunschweigschen Gassenhauer,
+den er eben zum besten geben wollte, auf das Ersuchen des alten Erdwins
+für sich. Mit einbrechender Nacht wurde bei einem Köhler mitten im Forst
+das Nachtquartier aufgeschlagen.
+
+»Was ist denn da draußen vorgegangen in der Welt?« fragte der schwarze
+Waldmann. »Ihr seid die Ersten nicht, die hier durchkommen sind und hier
+angehalten haben. Das ist ja auf einmal, als ob alles Kriegsvolk im
+deutschen Land sich hier auf den Wald niedergeschlagen hätt', wie ein
+Immenschwarm auf den Schlehenbusch. Ist es wahr, daß das Reichsheer
+auseinandergelaufen ist?«
+
+»Es ist wahr,« sagte der Knecht Erdwin düster. »Es ist aus, -- alles
+vorbei!«
+
+»Vorgestern zog hier ein Trupp durch, fast zehn Fähnlein stark, aber
+anzusehen wie ein wüst Raubgesindel, Fußvolk und Reiter durcheinander.
+Wollten gen die Weser und ließen sich vernehmen, sie wollten ihrem
+Zahlherrn, dem Braunschweiger Herzog --«
+
+»Die Braunschweiger?!« riefen Erdwin und Anneke und Hans Niekirche. »Die
+Braunschweiger?!« murmelte Christoph von Denow und richtete sich halb
+auf seinem Lager auf.
+
+»Gehöret Ihr zu ihnen?« fragte der Köhler mißtrauisch. »Nehmt Euch in
+acht; ich hab' einen gesprochen, der sagte, der Braunschweiger habe
+seine Leibguardia und Reiter die Menge abgesandt, ihnen den Weg zu
+verlegen. Sein Feldhauptmann, der Graf von Hohenlohe, ist auch, von
+Mitternacht her, gegen sie aufgebrochen. Das kann ein übel Ende nehmen!«
+
+»Gegen die Weser sind sie gezogen?«
+
+»Wie ich Euch sagte, Maidlein.«
+
+»Herr Gott, so müssen wir ab vom Weg!«
+
+»Ihr gehört also nicht zu ihnen?«
+
+»Nein! nein! nein!« riefen Christoph und Erdwin und Anneke.
+
+»Und Ihr wollt auch über die Weser?«
+
+»In meine Heimat!« rief Anneke.
+
+»Mit dem wunden Mann? Geht nicht, wahrlich geht nicht! Weg und Steg sind
+verlegt.«
+
+Alle schwiegen erschrocken und verstört einige Minuten.
+
+»Saget doch,« fuhr der Köhler dann fort, »weshalb wollt Ihr nicht bei
+mir bleiben im Walde, bis der Kopf des Burschen dort wieder heil und
+ganz ist? Hunger und Durst sollt Ihr nicht leiden. Ihr erzählet mir
+alles, was da draußen in der Welt vorgegangen ist, dafür geb' ich Euch
+Futter und Obdach. Gefällt's Euch?«
+
+»Ihr wolltet --?«
+
+»Gewiß will ich; ich will Euch sogar noch großen Dank schuldig sein
+dafür!«
+
+»Angenommen, Landsmann!« rief der Knecht Wüstemann freudig. »Junker, nun
+streckt Euch lang auf Euerm Lager, und wehe dem ersten Rehbock, der mir
+vor die Armbrust gerät, welche ich dort an der Wand sehe.«
+
+So kamen am Tage Cornelii des Hauptmanns die vier Flüchtlinge des
+Reichsheeres zum ersten Mal zu Ruhe.
+
+
+
+
+ IV.
+
+
+Dominus Basilius Sadler, der heiligen Schrift Doktor und fürstlicher
+Hofprediger zu Wolfenbüttel, hatte seine Predigt beendet und das
+Vaterunser gebetet. Unter den letzten Klängen der Orgel strömte die
+Menge aus der Marienkapelle in den dunkeln nebligen Herbsttag hinaus.
+Man schrieb den vierten November 1599.
+
+Was hatte das andächtige Volk? Statt ruhig und gemessen wie
+gewöhnlich am heiligen Sonntag ihren Wohnungen und dem Sonntagsbraten
+zuzuschreiten, blieben die Männer in Gruppen auf dem Kirchplatz stehen
+und steckten die Köpfe zusammen; selbst die Weiber waren von derselben
+Aufregung ergriffen. Kaum war nämlich der letzte Orgelton verhallt, so
+durchzitterte von der Dammfestung her ein anhaltender Trommelwirbel die
+stille Luft und schwieg dann einige Augenblicke. Darauf näherten sich
+die kriegerischen Klänge im Marschtakt, und manche der Bürger eilten
+ihnen, ihre Knaben an der Hand, entgegen; der größte Teil der Menge
+blieb jedoch zurück und erwartete die Dinge, welche da kommen sollten.
+»Nun geht es an! Das ist der Beginn!« hieß es unter dem Volk.
+
+»Das ist der Gerichtswebel, Martin Braun von Kolberg,« sagte ein
+Goldschmied, der von allem genau Bescheid wußte. »Der verkündet nun das
+kaiserliche Malefizrecht an allen vier Orten der Welt.«
+
+»Sie kommen! sie kommen!« hieß es unter der Menge, und eine Gasse
+bildete sich jetzt, um die Nahenden durchzulassen. Von der Dammbrücke
+her durchzog mit seinen drei Trommlern der Gerichtswebel, begleitet von
+einigen Hellebardierern, feierlich und langsam die Heinrichsstadt gegen
+das Kaisertor hin.
+
+Wir lassen ihn ziehen und lassen das Volk seine Betrachtungen anstellen
+und schreiten quer über den Platz vor der Marienkapelle, durch die
+Löwenstraße, über die Dammbrücke an dem Schloß vorüber nach dem
+Mühlentorturm, dessen Eingänge von einer stärkern Wache als gewöhnlich
+umgeben sind. Wir führen den Leser in das obere Stockwerk des Gebäudes.
+Ein weites Gewölbe tut sich uns hier auf, so dunkel, daß das Auge sich
+erst an die Finsternis gewöhnen muß, ehe es irgend etwas in dem Raum
+erkennen kann. Ist das geschehen, so bemerken wir, daß das trübe,
+herbstliche Tageslicht, durch viele, aber enge und stark vergitterte
+Fenster fällt. Die Wände entlang ist Stroh aufgeschichtet, auf welchem
+dunkle Gestalten in den mannigfaltigsten Stellungen und Lagen sich
+dehnen. Von dunkeln Gestalten sind auch einige hie und da aufgestellte
+Tische umgeben. Ein Kohlenfeuer glimmt in dem Kamin unter dem gewaltigen
+Rauchfang. Allmählich erkennen wir mehr in dem dunsterfüllten Raume:
+bleiche, wilde Gesichter, umgeben von wirren zerzausten Haaren,
+schlechtverbundene, mit blutigen Binden umwickelte Glieder. Ein leiseres
+oder lauteres Klirren und Rasseln von Ketten erschreckt uns; -- wir sind
+unter den -- Meuterern von Rees! Gekommen ist's, wie es kommen mußte;
+morgen wird der Obriste des niedersächsischen Kreises, Herr Heinrich
+Julius von Braunschweig, das Gericht über sie angehen lassen. Dumpf tönt
+der ferne Trommelschlag des um die Wälle der Festung ziehenden
+Gerichtswebels Martin Braun in ihr Gefängnis herüber. Lauschen wir ein
+wenig den Worten der gefangenen wilden Gesellen!
+
+»Ta, ta, ta! Was das für ein Wesen ist? Sollte man nicht meinen, der
+Teufel sei den Kerlen in den Lärmkasten gefahren? Es gehet alles zum
+Schlechteren, selbsten das Trommelschlagen,« sagte eine baumlange
+Gestalt, sich über die Genossen erhebend.
+
+»Sollt' meinen, Valtin, wir hätten uns um anderes zu kümmern als den
+Trommelschlag,« sagte unwirsch ein zweiter Söldner.
+
+Valentin Weisser ließ sich jedoch nicht von seinem Thema abbringen.
+»Horchet nur, ist das die alte freudige deutsche Art? Aber jetzt will
+jeder ein Neues einbringen! Auch die Hispanier machen's so; da lob' ich
+mir die Italiener, die haben aufgehoben, was wir nicht mehr mochten, und
+ziehen mit den fünf gleichen Schlägen bis ans Ende der Welt. Topp, topp,
+topp, topp, topp! das erwecket das Herz zu Freud und Tapferkeit und
+hilfet zu Leibeskräften. Topp, topp, topp, topp, topp! Hüt dich Bau'r,
+ich komm'! -- das ist's! oder --«
+
+»Hauptmann, gib uns Geld!« fiel lachend ein Dritter ein.
+
+»Füg dich zu der Kann!« brummte Hans Römer von Erfurt, der Schmerbauch.
+
+»Mach dich bald davon!« sang eine schrille Stimme dazwischen.
+
+»Hüt dich vor dem Mann!« brummte Jobst Bengel von Heiligenstadt.
+»Möchte nur wissen, wie lang wir noch in diesem Loch stecken sollen?
+Alle blutigen Teufel, ich wollt', der Blitz schlüg' gleich mitten
+unter uns, und nähme uns mit herauf oder herunter, ins Paradies oder
+die Hölle! 's sollt' mir gleich sein -- 's wär' wenigstens eine
+Veränderung!«
+
+»Das greuliche Fluchen ist auch nicht an der Zeit!« sagte eine ernste
+und finstere Stimme.
+
+»Hilft auch zu nichts, Meister Wüstemann,« grinste der Vorige wieder.
+»Dem Galgen entläuft man nit so leichtlich -- mit Verlaub, Junker, das
+war nicht auf Euch gesagt.« Wir folgen dem höhnischen Blick des
+Sprechenden. Neben dem Kamin, an die feuchtschwarze Wand gelehnt, steht
+Christoph von Denow, gebrochen an Leib und Seele. Er schaute starr,
+gradaus vor sich hin, bei den Worten Jobsts aber fuhr er auf, sank
+jedoch in demselben Augenblick mit einer abwehrenden Bewegung der Hand
+in seine vorige Stellung zurück. Die Entgegnung übernahm Erdwin
+Wüstemann, der drohend seine gefesselten Fäuste nach dem schon
+zurückweichenden Jobst ausstreckte: »Den Schädel zerschmettere ich dir
+an der Wand, wenn du den Rachen nicht hältst, du Sohn einer Hündin --
+sage noch ein Wort --«
+
+»Auf ihn! so ist's recht!« schrien einige der Gefangenen. »Halt, halt!
+trennt sie!« riefen andere.
+
+»Seid ruhig, Erdwin,« sagte der Junker, »laß ihn, Alter, -- er hat
+recht, der Strick des Hangmanns droht uns allen.«
+
+»Euch nicht! Euch nicht!« rief der alte Wüstemann, die ihm
+entgegengestreckte Hand seines Schützlings fassend. »O Ihr -- Ihr in
+diesen Banden -- das Herz bricht mir darüber -- o die Schurken, die
+Schurken!«
+
+Ein Murren, welches bald in lautere Drohungen überging, folgte den
+Verwünschungen des Alten, der alle ihn Umgebenden mit allen Flüchen
+überhäufte, welche ihm auf die Zunge gerieten.
+
+Wer weiß, was geschehen wäre, wenn man nicht plötzlich draußen vor der
+eisenbeschlagenen Tür des Gefängnisses Schritte und eine befehlende
+Stimme vernommen hätte. Hellebardenschäfte und Musketenkolben rasselten
+nieder auf den Steinboden. Eine allgemeine Stille trat ein unter den
+Gefangenen, die Schlösser der Tür kreischten und knarrten. Sie öffnete
+sich, ein Gefreiter mit der Partisane auf der Schulter schritt herein
+mit zwei Büchsenschützen, deren Lunten glimmten. Ihnen folgte ein
+kleines schwarzes Männlein, welchem zur Seite, von Kopf bis zu Fuß
+geharnischt, der Leutnant der Festung, Hans Sivers, sich hielt. Durch
+die geöffnete Tür sah man den Gang angefüllt mit Bewaffneten von der
+Besatzung.
+
+»Tut Eure Pflicht, Herr Notarius!« sagte der Leutnant, und das kleine
+schwarze Männlein -- Herr Friedericus Ortlepius, _notarius publicus_ und
+des peinlichen Gerichts zu Wolfenbüttel bestallter und beeidigter
+Gerichtsschreiber, räusperte sich, nahm das Barett vom Haupt und
+entfaltete ein Papier, welches er in der Rechten trug. Ein Söldner, der
+eine Lampe hielt, näherte sich. Der Leutnant hob den Arm gegen die
+Gefangenen, abermals räusperte sich Herr Ortlepius und las dann seine
+Schrift ab wie folgt:
+
+»Daß der Hochwürdige, Durchlauchtige, Hochgeborne Fürst und Herr,
+Herr Heinrich Julius, postulierter Bischof des Stifts Halberstadt,
+Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, unser allerseits gnädiger Fürst
+und Herr, unlängst nach Besage und Inhalt des Koblenzschen Abschieds,
+als verordneter Kriegsobrister dieses niedersächsischen Kreises,
+zur Beschützung des lieben Vaterlandes wider das tyrannische Einfallen
+des hispanischen Kriegsvolkes, unter andern ein Regiment deutscher
+Knechte von dreizehn Fähnlein hat werben lassen, solches ist _notorium_
+und männiglich bekannt. Sind dieselben auch nachher von Seiner
+Fürstlichen Gnaden selbst gemustert, bewehrt, und haben sie in
+derselben persönlichen Gegenwart in dem Ring, altem löblichem
+Kriegsgebrauch nach, auf den Artikulbrief geschworen.
+
+Ob nun wohl I. F. G. sich gänzlich versehen und verhofft, nachdem
+I. F. G. es so treulich gemeinet, auch dem gemeinen Vaterland zum Besten es
+sich so sauer haben werden lassen, -- es würde gemeldetes Regiment sich
+vermöge geschworenen Eides, Treu und Pflicht, wie Solches ehrlichen,
+redlichen Kriegsleuten eignet und gebühret, verhalten haben, so hat sich
+aber befunden, daß zehn Fähnlein von solchem Regiment, ohne einige
+rechtmäßige gegebene Ursach, wider ihre geschworene Treu und Pflicht,
+I. F. G. zu sonderlichen Schimpf, der ganzen deutschen Nation zum
+sonderlichen Spott und Hohn, dieser Kriegsexpedition zum Nachteil, dem
+Feind aber zum Frohlocken mit fliegenden Fähnlein aus dem Felde gezogen
+sind. Haben ihre verordnete Obrigkeit nicht bei sich leiden wollen, auch
+in solcher Meuterei so lange kontinuiret, bis daß I. F. G., zur
+Erhaltung Deroselben Autorität, ein' Ernst zu diesen Sachen haben tun
+müssen, und sie durch ihren damaligen Statthalter und Generallieutenant
+den Wohlgebornen und Edeln Grafen Philipp zu Hohenlohe, auf der Heide
+zwischen der Ucht und Barenburg, hinter dem Moor, genannt das hessische
+Darlaten, haben trennen und zum Gehorsam bringen lassen. Und obwohl
+I. F. G. damals nach Kriegsgebrauch und scharfen Rechten sie zu
+massakrieren und sämtlich zu Schelmen zu machen, und über sie als
+Schelmen die Fähnlein abreißen und schleifen zu lassen, befugt gewesen
+sein, so haben doch I. F. G. zu Deroselbst eigenen Glimpf den
+gelindesten Weg für die Hand nehmen wollen und haben sich resolviret,
+euch die bestrickten Knechte, welche eines Teils bei I. F. G. als die
+Prinzipalisten Meutemacher angegeben sind, andernteils von ihren eigenen
+Spießgesellen dafür geliefert worden sind, -- vor ein öffentlich
+Malefizrecht stellen zu lassen.
+
+So fordere ich also auf unsers allerseits gnädigen Fürsten und Herrn
+gnädigen Befehl euch: Christoph von Denow, Detlof Schrader von
+Rendsburg, Erich Südfeld von Hannover usw. usw. -- so fordere ich euch
+auf morgen früh um sieben Uhr, das ist den fünften November dieses
+Jahres Eintausendfünfhundertneunundneunzig vor kaiserliches Recht in
+den Ring, wo ihr gerichtet werden sollt, wie es am Jüngsten Tage vor
+Gott dem Allmächtigen, wenn Gottes Sohn kommen wird zu richten die
+Lebendigen und Toten, zu verantworten ist!« -- --
+
+Fünfundachtzig Namen rief der Notarius Friedrich Ortlepp auf, und jeder
+der Gefangenen antwortete durch ein: »Ist hier gegenwärtig.« Als die
+Liste zu Ende gebracht war, hob der kleine schwarze Mann noch einmal,
+lächelnd, die bebrillte Nase und ließ seine Äuglein wohlwollend über die
+Gefangenen hingleiten; dann nickte er dem Geharnischten zu, dieser
+winkte dem Gefreiten, welcher seine Partisane anzog, sein Kommandowort
+rief. Die Musketierer schulterten ihre Büchsen, und die Beamten
+schritten heraus aus dem Gewölbe, dessen Tür sogleich hinter ihnen
+wieder zufiel.
+
+Noch einen Augenblick tiefster Stille, dann ein dumpfes Gemurmel, dann
+wildester Losbruch aller mächtig zusammengepreßten Gefühle und
+Leidenschaften der gefesselten Meuterer! Ein wildes Durcheinander, --
+Ausrufe des Zorns, des Hohns, der Besorgnis, der Angst, --
+Kettengerassel!
+
+»O Junker, Junker!« rief verzweiflungsvoll der Knecht Erdwin, das Haupt
+seines jungen Herrn an seine breite Brust ziehend. »O Junker, Junker,
+wenn das Euer Vater erlebt hätte!«
+
+»Ja, meine Mutter, meine Mutter! 's ist gut, daß sie tot ist!« seufzte
+Christoph von Denow, die Hand über die Augen legend. -- -- -- -- -- --
+
+In den überfüllten Schenken der Stadt erschallte der tobende Gesang der
+zum Kriegsgericht eingeforderten Söldner und Hauptleute; viel Zank und
+Streit blieb nicht aus in den Gassen. Die Bürger zeigten sich nicht
+allzuhäufig außerhalb ihrer Haustüren, und wenn es ja einen Nachbar oder
+Gevatter allzusehr drängte, die Ereignisse des Tages mit einem Gevatter
+oder Nachbar zu besprechen und abzuhandeln, so schlich er so vorsichtig
+als möglich im Schatten der Hauswände dahin. Der Nebel ward dichter und
+dichter, je mehr die Dämmerung Besitz ergriff von Stadt und Land. Der
+Herzog auf dem Schloß ließ mehr Holz in den Kamin seines Gemaches
+werfen, und der Geringste seiner Untertanen ahmte ihm darin so gut als
+möglich nach. Immer unfreundlicher ward die Nacht.
+
+Auf dem Prellsteine unter dem Torgewölbe des Mühlenturmes kauerte eine
+weibliche, verhüllte Gestalt. Einen grauen Mantel von schwerem,
+grobem Tuch hatte sie dicht um sich geschlagen, das spitze Hütlein,
+durch welches ein klein rundes Loch ging, gleich der Spur einer
+Büchsenkugel -- tief in die Stirn gedrückt; ein Bündel lag neben ihr.
+Das war Anneke Mey aus Stadtoldendorf!
+
+Ihr Haupt stützte sie auf beide Hände und starrte regungslos auf die
+schwarzen Massen des fürstlichen Schlosses, welches jenseits des
+Ockergrabens hoch emporragte in den dunkeln Nachthimmel, und in welchem
+hie und da ein erleuchtetes Fenster schimmerte. -- So hatte Anneke den
+ganzen lieben langen Tag über gesessen, so saß sie noch, als es schon
+vollständig Nacht geworden war, und die Ronde sich näherte, das Tor zu
+schließen.
+
+»Sitzt die Dirn da noch!« rief der Weibel. »Heda, Schätzchen, fort mit
+dir, daß dir das Fallgatter nicht auf den Kopf fällt. Marsch, Liebchen!
+weiß nicht, was du hier suchen könntest?« Anneke rührte sich nicht von
+ihrem Platze.
+
+»Na, wird's bald? Nimm Vernunft an, Kind, 's gibt wärmere Nester.« Damit
+faßte er den Arm der Kauernden, um sie in die Höhe zu ziehen.
+
+»O lasset mich hier! lasset mich hier!«
+
+»Hoho, geht nicht, geht nicht. Aber nun lasset doch auch einmal Euch ins
+Gesicht schauen. Hebt die Laterne hoch! Mädel, Kopf in die Höhe!«
+
+Der Schein der Laterne fiel in das bleiche gramvolle Gesicht des
+Mädchens. --
+
+»Alle Teufel, das ist ja die Anneke, die Anneke Mey von Rees her!« rief
+einer der Büchsenschützen sich vordrängend. »Weibel, mit der mußt du
+säuberlich umgehen. Fürcht dich nit, Anneke -- wo kommst du her?«
+
+»Aus dem Moor, aus dem hessischen Darlaten, Arendt Jungbluth!« sagte
+Anneke tonlos.
+
+»Wo sie die Meutmacher niedergelegt haben? Ei, ei, Anneke, und du bist
+mit ihnen gezogen?«
+
+»Sie sind im Wald über uns gekommen, weil sie der Graf von Hollach
+abgedrängt hatt' von der Weser, und sie haben den Junker aufs Pferd
+gezwungen, und er hat nichts anders gekonnt, er hat sie müssen führen;
+nun aber haben sie doch geraubt und gebrannt und sind gezogen, wo sie
+wollten, und wir haben müssen mit ihnen durch die Wiehenberge, ins Land
+Hoya. Da ist es zum Ende gekommen -- da hat uns der Graf gestellt, und
+Hans Niekirche ist tot, ist auch nicht heimgekommen zu seiner Mutter --
+Gnade Gott uns allen!«
+
+Lautlos umstanden die Söldner das junge Mädchen; endlich sagte der
+Weibel: »So ist es geschehen, dagegen kann keiner sagen -- arm Mädel,
+was sitzest nur hier auf dem kalten Stein?« Stumm deutete Anneke nach
+dem Gefängnis im Turm über ihr; dann sagte sie: »Sie führten uns zuerst
+auf das feste Haus Stolzenau; nun sind wir hier zum Gericht!«
+
+»Und der Junker, von welchem du gesprochen hast, ist da oben bei den
+andern?« fragte der Weibel.
+
+Anneke nickte.
+
+»Das ist der Knab Christoph von Denow, von den Reitern?« fragte wieder
+der Gefreite Arendt Jungbluth, welcher zuerst Anneke erkannt hatte. »Ist
+das dein Schatz?«
+
+Ein leises Zittern überlief den Körper des Mädchens, sie antwortete
+nicht und schüttelte das Haupt und senkte das Gesicht in die Hände und
+legte den Kopf auf die Knie.
+
+»Arm Kind! arm Mädel!« murmelten die Krieger. »Aber sie kann hier nicht
+bleiben,« brummte der Weibel. »Wir müssen fort, der Böse fährt uns sonst
+auf den Buckel!«
+
+»Lasset mich einmal mit ihr sprechen,« sagte Arendt Jungbluth. Er beugte
+sich nieder zu der Armen und flüsterte ihr zu; plötzlich stieß sie einen
+Schrei aus, einen Freudenschrei und stand auf den Füßen: »Wirklich,
+wirklich? Ihr könnt? Ihr wollt? O, Gott segne Euch tausendmal!«
+
+»Herauf die Brücke! Herunter das Gatter! Ist's geschehen? -- Fort nach
+der Schloßwach! -- Jürgen, marsch, voran mit der Laterne!« kommandierte
+der Weibel. »Anneke, Ihr gehört zu uns, niemand tut Euch was zu Leid.
+Marsch, marsch!«
+
+Die Hellebarden lagen wieder auf der Schulter: inmitten der
+Wachtmannschaft ging Anneke Mey, und Jürgen trug außer der Laterne auch
+noch das Bündlein des Soldatenkindes.
+
+
+
+
+ V.
+
+
+Eins schlug die Uhr des Schloßturmes, und die Krähen fuhren auf aus
+ihren Nestern und umflatterten krächzend die Spitze und die Wetterfahne,
+bis der Klang ausgezittert hatte.
+
+»So geh zu ihm!« flüsterte Arendt Jungbluth. »Um drei Uhr ist meine
+Wacht zu Ende, dann klopf' ich und du kommst heraus. Nun gehab dich
+wohl; des Wärtels Margaret lauert drunten am Gang.«
+
+»Dank Euch, dank Euch!« flüsterte Anneke Mey. Die Gefängnistür im
+Mühlenturm öffnete sich kaum weit genug, um das schmächtige junge
+Mädchen einzulassen, und schloß sich sogleich wieder.
+
+Die qualmende Hängelampe war wie ein roter Punkt in dem dunsterfüllten
+Raume anzuschauen; die meisten der Gefangenen schnarchten auf dem Stroh
+die Wände entlang, viele hatten aber auch die Köpfe auf den Tisch gelegt
+und schliefen so. -- Dann und wann erklirrte leise eine Fessel, oder ein
+Stöhnen und Geseufz ging durch die Wölbung. Niemand hatte den Eintritt
+des Mädchens bemerkt.
+
+Einige Minuten stand Anneke dicht an die Mauer gedrückt. Sie vermochte
+kaum Atem zu holen. Wie sollte sie in dieser Hölle den finden, welchen
+sie suchte?
+
+Plötzlich ward es hell in ihr: anfangs leise, dann lauter begann sie das
+alte Lied vom Falkensteiner zu singen:
+
+ »Sie ging den Turm wohl um und um:
+ Feinslieb bist du darinnen?
+ Und wenn ich dich nicht sehen kann,
+ So komm' ich von meinen Sinnen.
+
+ Sie ging den Turm wohl um und um,
+ Den Turm wollt' sie aufschließen:
+ Und wenn die Nacht ein Jahr läng wär',
+ Keine Stunde tät' mich verdrießen!«
+
+Von ihrem Lager richteten sich die Schläfer auf, stärker klirrten die
+Ketten an ihren Armen und Beinen.
+
+ »Ei, dürft' ich scharfe Messer tragen,
+ Wie unsers Herrn sein' Knechte,
+ Ich tät' mit dem Herrn vom Falkenstein,
+ Um meinen Herzliebsten fechten!«
+
+»Was ist das? Wer ist das? Wer singet hier?« tönte es wild
+durcheinander. »Anneke, Anneke, Anneke Mey,« rief die Stimme Christoph
+von Denows dazwischen, und Erdwin Wüstemann hielt das junge Mädchen in
+den Armen: »Hier, hier halt' ich sie, hier ist sie, wie ein Engel vom
+Himmel mit ihrer Lerchenstimme! O Kind, Kind, was willst hier in dieser
+Wüstenei? Junker, Junker, wo seid Ihr?«
+
+»O Anneke! Anneke!« rief Christoph von Denow.
+
+»Vivat Anneke, Anneke Mey!« riefen alle andern Gefangenen. »Das ist ein
+wackeres Mädel! Vivat des Regiments Schenkin!«
+
+Es fiel keine schnöde, böse Rede: im Gegenteil, es war, als ob durch das
+Erscheinen des Kindes jedes trotzige wilde Herz milder geworden wäre.
+Man hätte sie gern auf den Händen getragen, da sie das aber nicht leiden
+wollte, suchte man ihr den bequemsten Platz aus und breitete Mäntel
+unter ihre Füße, um sie vor der feuchten Kälte der Steinplatten zu
+schützen. Eine Bank wurde zerschlagen, um das erlöschende Feuer im Kamin
+damit zu nähren.
+
+»So hast du uns nicht verlassen, Anneke!« rief Christoph und hielt ihre
+beiden Hände in den seinigen, und der Knecht Erdwin wischte verstohlen
+eine Träne aus den grauen Wimpern. »O, wie können wir dir je das
+wiedervergelten?«
+
+»Wie könnt ich Euch verlassen? Und wenn sie Euch zum Tode führen, ich
+geh' mit Euch!«
+
+Sie saßen beieinander, Christoph und Anneke, neben dem Kamin, und die
+Dirne schluchzte und lächelte durch ihre Tränen. Sie vergaßen alles um
+sich her, und der alte Wüstemann stand dabei, seufzte tief und schwer
+und schüttelte das greise Haupt:
+
+»Jammer, o Jammer!«
+
+Um drei Uhr krähte zum ersten Mal der Hahn, um drei Uhr klopfte Arendt
+Jungbluth an die Tür.
+
+»Nun muß ich scheiden!« sagte Anneke. »Gott schütze uns; wenn das
+Gericht angeht, steh' ich auf Eurem Wege, Herr.«
+
+»Anneke, Gott lohn's dir, was du an uns tust!«
+
+»Fahre wohl! Fahre wohl, Anneke!« riefen die gefangenen Meuterer. »Gott
+segne dich, Anneke!«
+
+Christoph von Denow schlug die Hände vors Gesicht; -- die Tür war hinter
+dem jungen Mädchen zugefallen. Im Osten zeigte ein weißer Streif am
+Nachthimmel, daß der Morgen nicht mehr fern sei, und der Wind machte
+sich auf, fuhr von den Harzbergen nach dem deutschen Meer und verkündete
+dasselbe.
+
+ -- -- -- -- --
+
+Sechs schlug die Uhr des Schloßturmes; wieder schossen die Krähen aus
+ihren Nestern und umflatterten die Spitze, krochen aber diesmal nicht
+wieder zurück in ihre Schlupfwinkel, sondern ließen sich, eine bei der
+andern, nieder auf dem Rande der Galerie, welche nahe dem Dach, den Turm
+umzieht. Neugierig reckten sie die Hälse und blickten herab in den
+dichten weißen Nebel unter ihnen, aus welchem kaum die höchsten Giebel
+der Stadt und Festung hervorlugten. Trommelschall erdröhnte auf dem
+Schloßhofe und hallte wider von den Wällen, während eine kriegerische
+Musik aus der Ferne dem Weckauf der Besatzung antwortete. Auf der
+Festung trat die Soldateska unter die Waffen, und in der Heinrichsstadt
+verkündete das klingende Spiel, daß die Bürgerschaft in Wehr und
+Harnisch aufzog.
+
+Von Zeit zu Zeit löste sich einer der schwarzen Vögel aus der Reihe der
+Genossen los und flatterte mit kurzen Flügelschlägen hinein in den
+Nebel, als wolle er Kundschaft holen über das Fest, welches ihm drunten
+bereitet wurde. Kehrte er zurück, so wußte er mancherlei zu erzählen,
+und freudekreischend erhoben sich die andern und wirbelten durcheinander
+und überschlugen sich in der grauen Luft, um endlich wieder
+zurückzufallen auf ihre Plätze in Reih und Glied.
+
+Gegen sieben Uhr verflüchtigte sich der Schleier, welcher über der Stadt
+lag, um sieben Uhr trat alles ins Licht! Vor dem fürstlichen Marstalle
+waren die Schranken aufgestellt. Ein mit rotem Tuch bekleideter Tisch
+und ebenso überzogene Bänke für den Gerichtsschulzen und die Beisitzer
+standen in der Mitte. Das Volk umwogte dicht gedrängt den Platz. Jetzt
+zog »mit dem Gespiel« die fürstliche Leibgarde aus dem Schloßtor, den
+Graben entlang, und besetzte zwei Seiten der Schranken. Nach ihr rückte
+in drei Fähnlein die Bürgerschaft von der Dammfestung, der Heinrichstadt
+und dem Gotteslager heran und schloß die beiden andern Seiten ein. Der
+Ring war gebildet; die Fahnen wurden zusammengewickelt und unter sich
+gekehrt, die Obergewehre mit den Spitzen in die Erde gestoßen, nach
+Kriegsgebrauch bei kaiserlichem Malefizrecht.
+
+Abermals entstand eine Bewegung unter der Volksmenge; wieder schritt
+ein Zug durch die gebildete Gasse feierlich und langsam vom Schloß her.
+Das war der Gerichtsschulze Melchior Reicharts mit seinen einundzwanzig
+Richtern, Hauptleuten, Gefreiten und Gemeinen, und dem Gerichtsschreiber
+Fridericus Ortlepius die allesamt paarweise in den Ring eintraten.
+
+Zuerst ließ sich der _notarius publicus_ nieder, zur linken Hand an dem
+roten Tisch. Er ordnete seine Papiere, guckte in sein Tintenfaß, rückte
+das Sandfaß zurecht, und der trübe Himmel und die Krähen auf dem
+Schloßturm schauten ihm dabei zu. Er prüfte die Spitze seiner Feder auf
+dem Daumennagel, das Murmeln und Murren der tausendköpfigen Menge machte
+einer Totenstille Platz; von dem Mühlenturm her erklang ein taktmäßiges
+Rasseln und Klirren und verkündete das Nahen der Gefangenen. -- -- -- --
+
+»O mein Gott, hilf ihm und mir!« stöhnte Anneke Mey von Stadtoldendorf,
+als an dem Mühlenturm die Pforte sich öffnete und die davor aufgestellte
+Reiterwache, die Pferde rückwärtsdrängend, das Volk auseinander trieb.
+
+»Da sind sie! die Meutmacher! die Schufte! Da sind die falschen
+Schurken!« ging der unterdrückte Schrei durch das zornige Volk. Aus der
+Gefängnispforte hervor glitt ein verwildertes, trotziges oder verzagtes
+Gesicht nach dem andern an der zitternden Anneke vorüber.
+
+Und jetzt --
+
+»Christoph!« durchdrang grell und schneidend ein Schrei die schwere
+graue Luft, daß der Herzog Heinrich Julius, welcher an einem Fenster
+seines Schlosses stand und auf das Getümmel unter sich finster
+herabblickte, unwillkürlich den Kopf nach der Richtung hin neigte.
+
+Da schritt er einher, der Junker von Denow, bleich, wankend, gestützt
+auf den Arm des getreuen Knechtes Erdwin.
+
+»O Christoph! Christoph von Denow!«
+
+Der junge Reiter erhob das Auge; es haftete auf dem jungen Mädchen,
+welches hinter der Reihe der begleitenden Hellebardierer die Hände ihm
+entgegenstreckte; -- ein trübes Lächeln glitt über das Gesicht
+Christophs, dann schüttelte er das Haupt; er wollte anhalten.
+
+»Hast doch recht gehabt, Anneke!« lachte höhnisch Valentin Weisser,
+der Rosenecker. »Waren unsrer doch zu wenig. Puh -- 's ist am End
+einerlei -- Kugel oder Strick. Vorwärts, Junker Stoffel; ich tret' dir
+sonst die Hacken ab!«
+
+»Vorwärts! vorwärts!« rief der Führer der Geleitsmannschaft -- vorüber
+schritt Christoph von Denow. --
+
+Im Ring aber schwuren die Richter mit aufgerichtetem Finger und lauter
+Stimme:
+
+»Ich lobe und schwöre, daß ich diesen Tag und alles dasjenige, was vor
+diesem Malefizrecht vorkommen wird, urteilen und richten will, es sei
+gleich über Leib und Blut, Geld oder Geldeswert, als ich will, daß mich
+Gott am Jüngsten Tage richten soll -- den Armen als den Reichen. Will
+hierinnen weder Freundschaft noch Feindschaft, Gunst noch Ungunst, weder
+Haß, Geschenke, Gaben, Geld ober Geldeswert ansehen, oder mich
+verhindern lassen! So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort!«
+
+Alle Beisitzer saßen darauf nieder an ihren Plätzen, und nur der
+Gerichtsschulze blieb stehen und tat eine Umfrage. Darauf verkannte er
+das Recht: erstens im Namen der heiligen unzerteilbaren Dreifaltigkeit,
+dann im Namen des Fürsten, dem Richter und Angeklagte als Kriegsleute
+geschworen hatten, zuletzt kraft seines eignen angeordneten Amts und
+Stabes, daß »keiner innerhalb oder außerhalb dem Rechten wolle einreden.
+Solle auch niemand einem Richter heimlich zusprechen. Dem Profoß solle
+eine freie Gasse gelassen werden, damit er guten Raum habe, damit er
+desto baß mit den Gefangenen vom Rechten ab- und zugehen möge, bei Pön
+eines rheinischen Gülden in Gold«.
+
+»Derhalben,« fuhr er fort, »wer nun vor diesem Kaiserlichen Recht zu
+schicken oder zu schaffen hat, es sei gleich Kläger oder Antworter oder
+sonsten einer, der dem löblichen Regiment etwas anzuzeigen hat: die
+stehen in den Ring und klagen, wie man pflegt zu klagen und Antwort zu
+geben, auf Red und Widerred, wie in Kaiserlichen Rechten der Gebrauch
+ist. -- Gerichtswebel, habt Ihr gestern den Profoß, wie auch die
+Angeklagten fürgeboten, zitieret und geladen?«
+
+Und der Gerichtswebel stand auf und antwortete: »Herr Schultheiß, ich
+habe sie gestern früh mit drei Trommeln an den vier Orten der Welt
+zitieret!«
+
+Und des Regiments Profoß, Karsten Fricke, trat in den Ring, und der
+Gerichtswebel führt die Angeklagten hinein, jedes Fähnlein für sich
+zusammengeschlossen. --
+
+
+
+
+ VI.
+
+
+Liege still, Kind,« sagte am zwanzigsten November bei Tagesanbruch auf
+der Hauptwache im Schloß zu Wolfenbüttel der Gefreite Arendt Jungbluth.
+»Liege ruhig und schlaf weiter: der Morgen ist dunkel und dräuet Schnee.
+Es geht noch nicht an.«
+
+Anneke Mey hatte sich auf der harten Holzbank, erschreckt aus tiefem
+Traum auffahrend, in die Höhe gerichtet, bei dem Ruf der Wacht draußen,
+die zur Ablösung herausrief.
+
+»Schlafe wieder ein, Anneke, ich wecke dich, wenn es Zeit ist,« sagte
+Arendt, die Sturmhaube auf den Kopf stülpend.
+
+»Der letzte Tag!« murmelte das Soldatenkind, und das müde Haupt sank
+wieder zurück auf das harte Lager, die Augen schlossen sich wieder.
+
+»Hui, der Wind -- Teufel!« brummte Arendt, als die Söldner wieder
+zurücktraten in die Wachtstube. »Schläft sie wieder? -- Richtig! ach,
+ich wollt', sie verschlief' es ganz. Ruhig, Kerle -- haltet eure Mäuler!
+Donner -- ist es nicht grad, als ob der Sturm den alten Kasten einem
+über dem Kopf zusammenreißen wollte? Das wird das rechte Wetter sein für
+die da draußen im Ring, das bläst ihnen die Urteile vom Munde weg. Wie
+sie da liegt! ist das nicht ein Jammer? Ich wollt', sie verschlief' die
+böse Stund.«
+
+Wild jagte der Wind die schweren Schneewolken vor sich her und heulte
+und pfiff in den Gängen des Schlosses wie der böse Feind, klapperte mit
+den Ziegeln, rüttelte an den Fenstern und trieb die Wetterfahnen mit den
+Löwen auf den Turmspitzen im Kreise umher, heftiger und heftiger, wie
+der Tag zunahm.
+
+Anneke Mey lag noch immer, nicht im Schlaf, sondern in stumpfsinniger
+Erschöpfung. Was kein Kriegszug vollbracht hatte, das hatten die letzten
+vierzehn Tage getan; sie hatten das Kind gebrochen, es matt und müd
+gemacht bis zum Tode. Vergeblich sahen sich diesmal auf ihrem Wege zum
+Gericht Christoph von Denow und Erdwin Wüstemann nach dem abgehärmten
+Gesicht ihres Schutzengels um.
+
+»Gottlob, gottlob, sie verschläft's!« murmelte Arendt Jungbluth, sich
+über das Lager der Armen beugend.
+
+Im Ring, unter dem düstern, schwarzen Himmel mit den jagenden Wolken las
+Friedrich Ortlepp, der Gerichtsschreiber, ein Todesurteil nach dem
+andern; einen Stab nach dem andern brach der Schultheiß und warf ihn auf
+den Richtplatz.
+
+»Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit. Amen!« sprach er bei jeder weißen
+Rute, welche zerknickt auf den Boden fiel.
+
+Und jetzt -- jetzt der letzte Spruch!
+
+»Auf eingebrachte Klage des Profoßen, Gegenrede des Beklagten,
+produzierte Kundschaft und Zeugnis, ist durch einhellige Umfrage zu
+Recht erkannt, daß -- =Christoph von Denow= nicht gebührt hat, sich für
+einen Vorsprecher bei der vorgesetzten Obrigkeit, noch für einen
+Hauptmann aufzuwerfen, noch die Befehle zu vergeben und auszuteilen,
+noch die Wacht zu bestellen. Warum er dem Profoß überantwortet werden
+soll, welcher ihn in sein Gewahrsam führen und ihn dem Nachrichter
+einantworten und befehlen soll, daß er ihn hinausführe und an den
+nächsten Galgen hänge und mit dem Strange zwischen Himmel und Erde
+erwürge, damit der Wind unter ihm und über ihn durchwehen könne, ihm zu
+verwirkter Strafe und andern zum abscheulichen Exempel!«
+
+Wieder fiel der gebrochene Stab zu den anderen auf die Erde.
+
+»Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit, Amen!«
+
+Auf die Knie stürzten dreiundachtzig der Verurteilten: »Gnade, Gnade!
+Gnade ist besser denn Recht!«
+
+Hochauf richteten sich Christoph von Denow und Erdwin Wüstemann, und der
+Junker hob die gefesselte Rechte zum Himmel, während der Wind seine
+Locken zerwühlte und die Schneewolken sich öffneten und das weiße
+Gestöber wirbelnd herabfuhr:
+
+»Keine Gnade! Recht! Recht! Recht ist besser denn Gnade!«
+
+In den Ring sprang der Profoß mit der Wache und stürzte sich auf die
+Gefangenen -- wild und anhaltend brach das Geschrei des Volkes los, die
+Kommandoworte erschallten dazwischen, die Trommeln wirbelten, die
+Trompeten schmetterten, aus der Erde wurden die Waffen gerissen und hoch
+in die Luft geschwungen, die Fähnlein entfalteten sich im Winde. Die
+Krähen aber schossen in einem schwarzen Haufen herab von dem Schloßturm
+und umflatterten krächzend die Stätte des Gerichts. Gleich dem bewegten
+Meer wogte und donnerte das Volk, und durch die Menschenflut kämpfte
+sich mit zerrissenen Kleidern, losgegangenen Haarflechten Anneke Mey.
+
+»Christoph! Christoph! O du heiliger Gott im Himmel! verloren!
+verloren!«
+
+Dem Herzog am geöffneten Fenster seines Gemachs riß der Sturm den Griff
+des Flügels aus der Hand, daß er klirrend zuschlug. Über den Schloßhof
+schritt der Gerichtsschultheiß Melchior Reicharts mit den Hauptleuten
+Georg Frost, Peter Köhler, Heinrich Jordans und Moritz Ahlemann nach
+getaner Pflicht den jungen Fürsten, Zahlherrn und Kreis-Obersten für
+die Verurteilten zu bitten. Fridericus Ortlepius trug »fürsichtiglich
+und sorgsamlich« die Akten und Protokolle. Tief in die Nacht hinein saß
+der Herzog mit den sechs Männern über diesen Papieren. Vierundzwanzig
+Todesurteile bestätigte er, und unter diesen befand sich das Christoph
+von Denows. Zweiunddreißig der Verurteilten begnadigte er dahin, »daß
+sie zur Straf sich verpflichten sollen, im Land zu Ungarn auf dem
+Grenzhause Groß-Wardein wider den Erbfeind der Christenheit zu Wasser
+und zu Lande, in Sturm und Schlachten jederzeit, wie ehrlichen
+Kriegsleuten solches gebührt, sich gebrauchen zu lassen«. --
+Siebenundzwanzig Männern wurde auf einen gewöhnlichen »Urfried« das
+Leben und die Ehre geschenket und sie ihrem Fähnlein wieder
+einverleibt. -- Zweien wurde das Leben und die Ehre ohne Bedingung
+geschenkt. Der erste war Erdwin Wüstemann, der andere ein Söldner,
+genannt Klaus Rischemann von Calvörde. Alle diese Schlüsse wurden den
+Gefangenen noch in derselben Nacht bekannt gemacht.
+
+
+
+
+ VII.
+
+
+Der Schnee lag hoch in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt und
+Festung Wolfenbüttel. Der Sturm hatte sich mit Anbruch des Tages ganz
+gelegt, es war wieder still und ruhig geworden, und leise träufelte es
+von den Dächern, denn die Luft war warm und mit Feuchtigkeit gefüllt;
+mit dumpfem Geräusch bewegte sich das Volk in den Gassen.
+
+Die Fenster der Schloßkirche glänzten rötlich in die trübe
+Morgendämmerung herein, und feierlich erklang die Orgel und der Gesang
+vieler Menschenstimmen:
+
+ Allein zu dir, Herr Jesu Christ,
+ Mein Hoffnung steht auf Erden. --
+
+Im Schein der Lichter und Lampen erglänzte Harnisch an Harnisch in dem
+heiligen Gebäude: den Verurteilten sollte ihre letzte Predigt gehalten
+und das Abendmahl ihnen gereicht werden. Der junge Herzog saß in seinem
+Stuhl, das Gebetbuch vor sich; alle Offiziere der Besatzung waren in
+Wehr und Waffen zugegen, und die Wände entlang und im Schiff der Kirche
+drängte sich ein bärtiges ernstes Kriegergesicht an das andere. Die
+Vierundzwanzig, die sterben sollten, saßen auf einer niedern Bank unter
+der Kanzel, auf welcher der Magister Basilius im schwarzen Chorrock mit
+der Halskrause stand, bereit, seine Rede über die beiden Schächer am
+Kreuz zu beginnen. In einem dunkeln Winkel unter der Orgel stand Erdwin
+Wüstemann und hielt die schluchzende Anneke im Arm; um sie her knieten
+oder standen die vom Tode losgesprochenen Meuterer, denen man die
+Fesseln abgenommen hatte.
+
+Und jetzt schwieg die Orgel und der Gesang. Das Wort des Evangelisten
+Lukas wurde gelesen:
+
+»Aber der Übeltäter einer, die da gehängt waren, lästerte ihn und
+sprach: Bist du Christus, so hilf dir selber und uns! -- Da antwortete
+der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor
+Gott, der du in gleicher Verdammnis bist? Wir sind billig darinnen, denn
+wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts
+Ungeschicktes gehandelt! -- Und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an
+mich, wenn du in dein Reich kommst! -- und Jesus sprach zu ihm:
+Wahrlich, ich sage dir, heut wirst du mit mir im Paradiese sein!« --
+
+Überlaut riefen bei diesen letzten Worten des Textes einige der
+Verurteilten: »Das helfe uns der allmächtige Gott!« und hoben die
+kettenklirrenden Hände gefaltet hoch empor. Das Auge Christoph von
+Denows aber leuchtete plötzlich in einem Glanz, welcher darin bereits
+für immer erloschen schien. Hatte er eine Vision? Rief ihm eine süße
+bekannte Stimme von oben? Erschien ihm winkend die tote Mutter?
+
+Christoph von Denow war zum Sterben bereit. --
+
+»Gott, Gott, laß so nicht das Haus Denow zu End kommen!« stöhnte in
+seinem Winkel Erdwin, der Knecht. »Herr, schenke du ihm einen adeligen
+Tod! Laß diesen Kelch an mir vorüber gehen!«
+
+»Er soll mir den Kopf zertreten und über meinen leblosen Leib weggehen,
+wenn er mich nicht hören will!« sagte Anneke Mey tonlos.
+
+Und Dominus Basilius Sadler begann seine Buß- und Trostpredigt und
+teilte sie in die zwei Punkte:
+
+Erstlich, wie sich der »heilige« Schächer am Kreuz in einer letzten Not
+gehalten.
+
+Zum andern, wie herrlich ihn Christus getröstet habe.
+
+Der Himmel im Osten aber färbte sich immer purpurner, und die Lichter
+und Lampen der Kapelle erblaßten mehr und mehr vor dem Glanz, welchen
+Gott über die winterliche Welt leuchten ließ. Die Gefangenen neigten die
+Häupter tiefer und tiefer.
+
+»-- Euer Weib und Kinder befehlet ihr, die ihr welche habt, Gott dem
+Allmächtigen, der ist der Waisen Vater und der Witwen Richter. Ist schon
+dieser Tod vor der Welt schmählich, so gedenket, wenn ihr euch bekehret,
+daß ihr Gottes Kinder seid, dann wird solch Leiden ehrlich und herrlich.
+Denn der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn.« --
+
+»Einen ehrlichen Tod! o Gott, schenke ihm einen adeligen Tod!« murmelte
+Erdwin, der Knecht.
+
+»So gebe Gott der Allmächtige euch allen die Gnade seines heiligen
+Geistes, daß ihr euer' Sünd von Herzen erkennt und euch leid sein
+lasset, euch im wahren Glauben zu Christo wendet und darin bis ans Ende
+verharret, euer' Seel in Geduld fasset, allen Menschen von Herzen
+vergebet und verzeihet, heut, diesen Tag, Gott eure Seele opfert und
+überantwortet und am großen Tag des Herrn mit Freuden auferstehet und
+mit Leib und Seele ewig lebet! Amen, Amen, Amen!«
+
+Der Sand war verlaufen in der Uhr auf der Kanzel. Der Herzog verließ mit
+seinen Hofbeamten seinen Stuhl, Anneke Mey verschwand von der Seite
+Erdwins, ohne daß dieser es bemerkte; -- unter den Klängen des alten
+traurigen Chorales: Wenn mein Stündlein vorhanden ist -- wurde den
+Verurteilten das Abendmahl gereicht.
+
+Nun war auch das geschehen; in die letzten Klänge der Orgel mischte sich
+grell und schneidend ein anderer Klang -- der Schall des
+Armensünderglöckchens: Der Henker wartete an der Tür des Hauses Gottes!
+
+Im langsamen Zug traten die Verurteilten und Gefangenen, von ihren
+Wächtern umgeben, hinaus aus der Schloßkirche, vor welcher sie die
+harrende Menge mit wildem Geschrei und Droh- und Schmähworten empfing.
+Der schwere Gang begann, in das goldne Morgenrot hinein, über den
+Schloßplatz, die Dammbrücke, durch die Heinrichsstadt dem Kaisertor zu.
+Alle Gassen, durch welche der Zug ging, waren mit herzoglichen Reitern
+und den gewaffneten Bürgern besetzt, um den Andrang des Volks zu
+bändigen.
+
+Vor dem Kaisertor waren die vier Galgen gebaut, woran die vierundzwanzig
+Leben enden sollten. Fast eine halbe Stund verging, ehe die Verurteilten
+unter ihnen standen. Der Ring war geschlossen auf zwei Seiten von den
+Hellebardierern, auf den beiden andern Seiten von den Musketenschützen,
+deren Röhre auf den Gabeln lagen, deren glimmende Lunten zum
+augenblicklichen Gebrauch aufgeschroben waren. Dicht vor dem Gefreiten
+Arendt Jungbluth hielten sich Erdwin Wüstemann und der Junker Christoph
+von Denow.
+
+Der Alte hatte den Arm um seinen jungen Herrn geschlungen, und dieser
+das Haupt an die Brust des treuen Knechts gelegt. Sie sprachen leise
+zueinander.
+
+»Weiß nicht, wo sie geblieben ist! weiß nicht, wo sie bleibt!« sagte der
+Alte.
+
+»Sie hat mich nicht sterben sehen wollen; -- 's ist auch besser so! O
+schütze sie -- halte sie, trag sie auf den Händen und im Herzen und
+verlaß sie nie und nimmer -- ich will meiner Mutter von ihr sagen, wenn
+ich zu ihr komm'.«
+
+»O Junker, Junker, und Euer Vater« --
+
+»Vergiß nicht, was du ihm versprochen hast.«
+
+»Es wird geschehen, so wahr mir Gott helfe!« sagte dumpf der Alte.
+
+»Schau, es geht an -- da hast du den Ring -- mein Schwert liegt versenkt
+im Moor, es ist ein gutes, tadelloses Schwert geblieben! -- Ihr sag -- o
+Anneke! Anneke!« Der Junker brach ab; er vermochte es nicht, weiter zu
+sprechen.
+
+Unterdessen war eine Totenstille in der Menschenmenge eingetreten, die
+aber jedesmal, wenn die Henker einen der Meuterer des Reichsheeres von
+der Leiter stießen, in ein gräßliches, langanhaltendes Geheul, durch
+welches scharf das Wirbeln der Trommel klang, überging. -- --
+Dreiundzwanzig Mal hatte das Volk aufgeschrien. --
+
+»Christoph von Denow!« rief nun der Profoß mit lauter Stimme.
+
+Zum letztenmal lagen sich Christoph und Erdwin in den Armen.
+
+»Lebe wohl! lebe wohl!« flüsterte der erste -- »vergiß nicht!« --
+
+»So gnade Gott mir und Euch!« schrie der Knecht Wüstemann und strich die
+langen greisen Haare aus der Stirn zurück. Der Junker von Denow stand
+am Fuße der Leiter!
+
+Er drückte die Hand auf das Herz und setzte den Fuß auf die erste
+Staffel: »O Anneke, süße Anneke!«
+
+Der Gedanke kam ihm, er würde sie erblicken in der Menge, welche wieder
+in unheimlichster Stille den Richtplatz bedeckte; mit einem Sprung war
+er oben an der Seite des Henkers, der ihn mit dem Strick in der Hand
+erwartete. Er stieß die Hand desselben zurück -- seine Augen schweiften
+über all die Tausende emporgerichteter Gesichter. --
+
+»O Anneke Mey, liebe Anneke, wo bist du? wo bist du? weshalb hast du
+mich verlassen?!«
+
+Wieder streckte der Henker die Hand nach ihm aus; er hielt ein Blech,
+auf welchem die Worte standen »Meutmacher und Meineidiger« und wollte es
+dem Verurteilten an einem Bande um den Hals werfen.
+
+»Lebe wohl, süße Anneke Mey!« flüsterte Christoph von Denow; er schlug
+die Hand des Henkers abermals zur Seite, klirrend fiel das Blech, die
+Leiter nieder, zur Erde. --
+
+Mit einem wilden, entsetzlichen Schrei sprang Erdwin Wüstemann einen
+Schritt zurück, mit einem Griff riß er das Feuerrohr aus den Händen
+Arendt Jungbluths und an seine Wange. Der Schuß krachte -- »Gnade Gott
+mir und dir!«
+
+»Dank, Erdwin -- hast -- Wort gehalten!« sprach Christoph von Denow. Er
+schwankte -- breitete die Arme aus: »Lebe -- wohl -- süße -- Anneke!«
+Der entsetzte Henker wollte ihn halten, aber im dumpfen Fall stürzte der
+Körper die Leiter herab in den blutigen Schnee.
+
+Aufbrüllte die Menge und tobte durcheinander, der Ring löste sich -- die
+Offiziere, die Beamten, der Gewaltiger stürzten sich auf den Knecht
+Erdwin, welcher regungslos dastand, das abgeschossene Rohr in der Hand.
+
+Und jetzt ein neues Geschrei von der Stadt her: »Haltet, haltet!«
+
+Ein Reiter mit einem Papier in der Hand, im Galopp ansprengend! Ihm nach
+ein zweiter Reiter, vor sich auf dem Pferd ein halbohnmächtiges,
+todtbleiches Mädchen. --
+
+»Halt, halt! Befehl, den Verurteilten Christoph von Denow zurückzuführen
+ins Gewahrsam!«
+
+Anneke Mey leblos auf dem leblosen Körper des Erschossenen -- Erdwin
+Wüstemann besinnungslos in den Armen Arendt Jungbluths -- -- --
+Trompetenschall von der Torwache; von der Stadt her eine neue
+Reiterschar: »Der Herzog! der Herzog! -- Zu spät! zu spät!« -- -- -- --
+
+In dem wiedergebildeten Ring hielt der junge Fürst mit seinem Gefolge;
+vor ihm stand barhäuptig der Profoß neben der schrecklichen Gruppe am
+Boden und erzählte das Vorgefallene. Als er geendet, stieg der junge
+Fürst ab von seinem Hengst und näherte sich dem treuen Knecht des Hauses
+Denow:
+
+»Weshalb hast du das getan?«
+
+Der Angeredete blickte irr und wirr im Kreise umher, antwortete nicht,
+sondern brach nur in ein herzzerreißendes Gelächter aus.
+
+Der Herzog legte die Hand an die Stirn; -- dann wandte er sich:
+
+»Hebt doch das Kind von der Leiche!«
+
+Der Leutnant von der Festung, Johannes Sivers, beugte sich nieder, um
+dem Befehl nachzukommen. Es gelang ihm mit Mühe:
+
+»O gnädiger Gott, tot, tot, fürstliche Gnaden!«
+
+Ein dumpfes Gemurmel ging durch die lauschende Menge; der Fürst schritt
+finster sinnend einige Minuten auf und ab. Dann hob er das Haupt:
+
+»Bei meinen Vätern, ich glaub', da ist ein bös Ding getan! leget die
+Dirne und den toten Knaben auf die Gewehrläufe -- es ist Unsere Meinung
+und Wille, daß das Gericht wieder beginne. Wir sind entschlossen,
+selbsten im Ring zu sitzen!«
+
+Während dieser letzten Worte hatte sich Erdwin Wüstemann langsam
+aufgerichtet; jetzt stand er wieder fest auf den Füßen. Der Herzog
+bemerkte es, er legte ihm die Hand auf die Schulter:
+
+»Ihr habet hart und schnell in unser Gericht eingegriffen. Stehet zu mir
+nun auch im Ring, daß die Wahrheit an den Tag kommt! Nachher, wenn's
+sich ausgewiesen hat, wie ich es mir zusammendenke, wollen Wir, daß Ihr
+die dort gen Ungarn führet als Unser Ehrbarer, Mannhafter und Getreuer!
+Höret Ihr, Hauptmann Erdwin Wüstemann?! Nun hebet die Leichen und rühret
+die Trommeln -- fort! fort!«
+
+Über der blutigen Morgenröte hatten sich die Wolken wieder dunkel
+zusammengezogen. Wieder sanken leise einzelne weiße Flocken herab. Sie
+mehrten sich von Augenblick zu Augenblick und deckten bald, einem
+Leichentuch gleich, die Körper Christophs und Annas, wie sie durch die
+Gassen der Stadt Wolfenbüttel, dem Zuge der Krieger und Bürger voran,
+dicht hinter dem Gefolge des Herzogs, welcher mit gesenktem Haupte
+vorausritt, der Gerichtsstätte am Schloß zugetragen wurden. Der alte
+Knecht Erdwin ging neben seinem jungen Herrn her; aber er wußte nichts
+davon -- dunkel war es in ihm und um ihn! --
+
+=So starb der Junker Christoph von Denow eines adeligen Todes!=
+
+
+
+
+ *********************************************
+ * *
+ * Ein Geheimnis *
+ * *
+ * Lebensbild aus den Tagen Ludwigs XIV. *
+ * *
+ *********************************************
+
+
+
+
+ I.
+
+ In der Gasse Quincampoix.
+
+
+Wenn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten in dieser Welt
+tagtäglich geschehen, so muß man sich sehr wundern, daß es immerfort
+Leute gegeben hat und noch gibt, welche sich abmühten und abmühen,
+selbst seltsame Abenteuer zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen
+Nebenmenschen durch Schrift und Wort für Wahrheit aufzubinden. Die
+Leute, die solches tun, verfallen denn auch meistens -- wenn sie ihr
+leichtfertig Handwerk nicht ins Große treiben und was man nennt große
+Dichter werden, -- der öffentlichen Mißachtung als Flausenmacher und
+Windbeutel, und alle Vernünftigen und Verständigen, die sich durch ein
+ehrlich Handwerk ernähren, als wie Prediger, Leinweber und Juristen,
+Bürstenbinder, Ärzte, Schneider, Schuster und dergleichen, blicken mit
+mitleidiger Geringschätzung auf sie herab, und das mit Recht!
+
+So sage ich denn reu- und wehmütig _confiteor, confiteor; -- mea culpa,
+mea culpa!_ so beginne ich denn meine -- =wahre Geschichte=.
+
+Es war in dem durch die Seeschlacht von La Hogue für das Glück und den
+Glanz des französischen Königs und Volkes so unheilvollen Jahre 1692.
+Viel Not und Elend herrschte im Lande; in Guienne, Bearn, Languedoc und
+der Dauphinée starben die Menschen zu Tausenden vor Hunger; Bankerotte,
+greuliche Mordtaten, Aufstände waren an der Tagesordnung; -- es war, als
+wolle es abwärts gehen mit dem großen Louis. Es regnete, und der
+Novemberwind fuhr in kurzen Stößen scharf über die Stadt Paris und durch
+die Gasse Quincampoix, welche letztere gar wüst, schmutzig und
+verwahrlost ausschauete. Und sah die Gasse Quincampoix an diesem düstern
+Novembernachmittag häßlich aus, so gewährten die Menschen, welche sie
+bevölkerten, einen noch schlimmern Anblick. War es nicht, als ob das
+allgemeine Unglück jedem Gesicht seinen Stempel aufgedrückt habe? -- O
+wie verkommen erschien diese französische Nation, welche sich für die
+erste der Welt hielt.
+
+Vier Uhr schlug's, als ein junger Mensch von ungefähr achtundzwanzig
+Jahren, hager, bleichgelblich von Gesicht, schwarzhaarig, schwarzäugig,
+in luftigen, ärmlichen, schäbigen Kleidern, in der Gasse Quincampoix in
+die Kneipe zum Dauphinswappen trat, um seine letzten Sols an eine
+Mahlzeit zu wenden. =Stefano Vinacche= hieß dieser junge Mann; ein
+Neapolitaner war er von Geburt, ein Abenteurer vom reinsten Wasser. Als
+er in die Gargotte eintrat, herrschte in derselben ein wahrer
+Höllenlärm; ein Sergeant vom Regiment Villequier war mit einem Kornet
+vom Regiment Ruffey über dem Spiele in Streit geraten, ein
+Perückenmacher zankte mit einem Lakaien der Prinzessin von Conti über
+die Frage: ob es recht sei, daß Monsieur de Pomponne, der
+Staatsminister, so viel einzunehmen habe, als ein Prinz von Geblüt; --
+andere Gäste unterhielten sich über andere Gegenstände mit so viel Lärm
+als möglich. Im Hinterzimmer, welches an die Kneipstube grenzte, war ein
+äußerst hitziger Wortkampf ausgebrochen zwischen dem Wirt zum
+Dauphinswappen, Claude Bullot, und seiner hübschen galanten Tochter, --
+kurz, alles ging drunter und drüber, und nur Margot die Kellnerin, eine
+Picarde, bewahrte ihren Gleichmut, blickte vom Kamin aus mit
+untergeschlagenen Armen in das Getümmel und gab Achtung, daß dem
+Sergeanten und dem Kornet jede zerbrochene Flasche, jedes zertrümmerte
+Glas richtig angekreidet wurden. Margot die Picarde wußte, daß im
+Notfall die Marechaussée in der Gaststube alles schon ins Gleichgewicht
+bringen würde, und was im Hinterzimmer vorging, zwischen ihrem Herrn und
+der Mademoiselle, machte ihr das höchste Vergnügen. --
+
+Am Kamin legte Margot die Picarde dem Neapolitaner das Kuvert, und der
+Fremde war allzu ausgehungert und allzu naß, um anfangs an etwas anderes
+zu denken, als den Hunger aus dem Magen und die Kälte aus den übrigen
+Gliedern zu verjagen. Ruhig setzte er sich auf den ihm angewiesenen
+Platz, aß und trank, trocknete seine Kleider, bis er allgemach wieder
+auflebte und fähig wurde, seine Aufmerksamkeit den Vorgängen in seiner
+Umgebung zuzuwenden. Der Sergeant vom Regiment Villequier erhielt
+richtig einen Degenstoß in die Schulter, verhaftet wurde darüber der
+Kornet vom Regiment Ruffey; die Bürger, Lakaien, Diebe und Tagediebe
+zerstreuten sich mit einbrechender Dämmerung, um sich vor der Dunkelheit
+zu retten, oder in der Dunkelheit ihren lichtscheuen Geschäften
+nachzugehen. Es wurde still in der Gargotte, nur im Hinterzimmer konnte
+man sich immer noch nicht beruhigen. In der Tür, welche auf die Gasse
+führte, stand die Kellnerin Margot und blickte in den Regen und die
+Nacht hinaus, das Feuer im Kamine prasselte und knatterte und warf
+seinen roten Schein über die Tische und Bänke des weiten Gemaches, die
+trübe Hängelampe qualmte an der geschwärzten Decke; niemand störte jetzt
+mehr den jungen Neapolitaner in seinen trüben Gedanken. Mechanisch
+klimperte er mit den wenigen Geldstücken in seiner Tasche; -- was sollte
+er beginnen, um nicht Hungers zu sterben, um nicht in den Gassen dieses
+schmutzigen, kalten, stinkenden Paris zu erfrieren? »O Neapel, Neapel!«
+seufzte Stefano Vinacche.
+
+Jawohl, etwas anderes war es, eine Nacht obdachlos am Strande des
+tyrrhenischen Meeres, ein anderes, eine Nacht obdachlos am Ufer der
+Seine zuzubringen. Eine Art stumpfsinniger Schlaftrunkenheit überkam den
+jungen Italiener, seine Augen schlossen sich unwillkürlich, und immer
+dumpfer und verworrener vernahm er das Schluchzen der Mademoiselle
+Bullot und die kreischende Stimme des zornigen Vaters.
+
+Aber was war das? Plötzlich schwand jedes Zeichen von Ermüdung, von
+Erschöpfung an dem Italiener. Vorgebeugt saß er auf seinem Stuhle und
+horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach der Tür hin, welche in
+das Hinterzimmer führte. Das Wechselgespräch zwischen Vater und Tochter
+war dem Fremden auf einmal interessant geworden durch einen Namen, der
+soeben mehrere Male darin vorgekommen war.
+
+Immer gespannter horchte Vinacche.
+
+Hatte nicht Meister Claude Bullot, ehe ihm Monseigneur der Herzog von
+Chaulnes die Kneipe zum Dauphinswappen einrichtete, als Seifensieder
+Bankerott gemacht?
+
+War nicht Mademoiselle Bullot ein reizendes Schätzchen, dem man schon
+etwas zu Gefallen tun konnte?
+
+Hoch spitzte Stefano Vinacche die Ohren beim Namen des Herzogs von
+Chaulnes.
+
+»Oho, Stefano, solltest du da unvermutet in den Honigtopf gefallen sein?
+Oho, Glück geht immer über Verstand, -- _va' piu un' oncia di fortuna,
+che una libra di sapere_. Achtung, Achtung, Vinacche!«
+
+Mancherlei sprach der Vater im Hinterzimmer der Kneipe zum Wappen des
+Dauphins. Mancherlei sprach das Töchterlein dagegen; immer fröhlicher
+rieb sich Stefano die Hände, bis endlich die Verbindungstür mit Macht
+aufgerissen wurde und Mademoiselle -- _éplorée_ in das Schenkzimmer
+stürzte. Hinter ihr erschien der zornige Papa, einen zusammengedrehten
+Strick in der Hand:
+
+»Warte, Kreatur!«
+
+Stefano Vinacche wußte schon längst, was er zu tun hatte. Er warf sich
+auf den ergrimmten Gargottier und packte seinen erhobenen Arm.
+
+»Monsieur?!«
+
+»Monsieur!«
+
+»Laßt mich frei! was fällt Euch ein?«
+
+»Ich leid's nicht, daß Ihr Mademoiselle mißhandelt; -- tretet hinter
+mich, Mademoiselle!«
+
+»Margot, Margot!« rief endlich der Wirt zum Dauphinswappen.
+
+Margot erschien, stemmte aber nur die Arme in die Seite und sah der
+Szene zu, ohne ihrem Herrn zu Hilfe zu kommen.
+
+»Haltet ihn, um Gottes willen, haltet ihn, er wird mich ermorden, wenn
+Ihr ihn freilaßt!« rief Mademoiselle Bullot.
+
+»Seid ruhig, Schönste; er soll Euch nichts zuleide tun. Pfui, schämt
+Euch, Monsieur, wie könnt Ihr eine liebenswürdige Tochter also
+behandeln?«
+
+»Ich frage Euch zum letztenmal, wollt Ihr mich loslassen?«
+
+»In Ewigkeit nicht, wenn Ihr mir nicht den Strick gebt, Signor, und
+versprecht artig zu sein gegen die Damen, Signor!«
+
+»Morbleu!« schrie der Wirt zum Dauphinswappen, und der Himmel weiß, was
+geschehen wäre, wenn nicht der Eintritt eines in einen Mantel
+gewickelten Mannes der Szene ein Ende gemacht hätte.
+
+Der Mantel fiel zur Erde, und Wirt und Töchterlein und Kellnerin und
+Italiener riefen mit einer Stimme:
+
+»Monseigneur!«
+
+Der Eingetretene war Karl d'Albert, Herzog von Chaulnes, Pair von
+Frankreich, Vidame von Amiens, ein ältlicher Mann, dem man den »großen
+Herrn« nicht im mindesten ansah, woran der bürgerliche Anzug durchaus
+nicht schuld war; ein Mann, von welchem einige Jahre später ein
+deutscher Schriftsteller sagte: »Er erwartet den Tod mitten in seinen
+Vergnügungen; er ist freigebig ohne Unterschied und von einem sehr
+abgenutzten Gehirne.«
+
+»Holla, das geht ja lustig her!« rief der Herzog. »_Notre Dame de
+Miracle_, und auch Vinacche dabei! Sagt mir um aller Teufel willen --«
+
+Mademoiselle Bullot ließ ihn nicht aussprechen; sie eilte auf den hohen
+Herrn zu und -- warf sich an seinen Hals, schluchzend, Gift und Galle
+speiend:
+
+»Monseigneur, ich halt's nicht mehr aus; Monseigneur, errettet mich aus
+den Händen meines Vaters! Wäre dieser edle junge Mann eben nicht
+dazwischen gekommen, er hätte mich gewißlich zu Tode geschlagen.«
+
+»Wieder das alte Lied? Bullot, Bullot, ich frage Euch um Gottes willen,
+glaubt Ihr in der Tat, ich habe Euch Eurer roten Nase wegen zum
+Eigentümer dieses Dauphinswappens gemacht? Ich sage Euch, auf den Knieen
+solltet Ihr Eure liebenswürdige Tochter verehren; -- _notre Dame de
+Miracle_, ich sage Euch zum allerletzten Male, behandelt Mademoiselle,
+wie es sich ziemt, oder --«
+
+»O Monseigneur!« flehte Meister Claude, welcher seinen Strick längst
+ganz verstohlen in den Winkel geworfen hatte und katzenbuckelnd so
+gemein und niederträchtig aussah, wie man unter der Regierung des
+großen Louis nur aussehen konnte. »O Monseigneur, ich versichere Euch,
+=sie= hat's darauf abgesehen, ihren unglückseligen Vater in ein
+frühzeitig Grab zu bringen. Monseigneur, Ihr kennt sie nur von der einen
+Seite; aber ich -- o Monseigneur!« --
+
+»Still! Ihr seid ein Schurke, und Mademoiselle ist ein Engel! --
+beruhige dich, Kind --«
+
+»Monseigneur, er ist zu boshaft. Monseigneur, wenn Ihr mich wirklich
+liebt, so laßt mich nicht in seiner Gewalt.«
+
+»Ruhig, ruhig, süßes Kind. Was ist denn nur eigentlich vorgefallen?«
+
+Ja, was war vorgefallen?
+
+Eine Zungenfertigkeit sondergleichen entwickelten Mademoiselle Bullot
+und Meister Claude Bullot gegeneinander, doch haben wir mit dem
+Ausgangspunkte des Streites nicht das mindeste zu schaffen und brauchen
+nur zu sagen, daß der Herzog von Chaulnes, obgleich er im Grunde seines
+Herzens dem erzürnten Papa recht geben mußte, in Anbetracht seiner
+zarten Stellung zu Mademoiselle sich auf deren Seite stellte. Sehr
+ärgerlich war der Herzog von Chaulnes! In äußerst lebendiger Stimmung
+war er durch die Gasse Quincampoix zum Dauphinswappen geschlichen, nun
+fand er statt Ruhe und Behagen, Unzufriedenheit und Streit; wo er
+Lächeln und Lachen erwartet hatte, mußte er Tränen trocknen; -- _notre
+Dame de Miracle_, es war zu ärgerlich!
+
+»Etienne,« sagte der Herzog zu Vinacche, »Etienne, ich bin dieses Lärms
+müde; ich will nach Haus und du magst mit mir kommen. Meister Claude,
+ich versichere Euch meiner gnädigsten Ungnade! Mademoiselle, Eure
+rotgeweinten Augen betrüben mich sehr -- gute Nacht, Mademoiselle --
+dazu zweihundert Louisdor im Landsknecht verloren -- kommt, Etienne
+Vinacche, Ihr mögt mit mir zum Hotel fahren, ich habe Euch etwas zu
+sagen; ich habe eine Idee!«
+
+Vergebens hing sich Mademoiselle Bullot an den Arm des Herzogs mit den
+süßesten Schmeicheleien und Liebkosungen. Er machte sich los, streckte
+dem niedergeschmetterten Wirt zum Dauphinswappen eine Faust entgegen,
+ließ sich von Vinacche den Mantel wieder um die Schultern legen und
+verließ, im höchsten Grade mißmutig gestimmt, mit seiner »Idee« die
+Gargotte, in welcher nach seinem Abzuge der Tanz zwischen Vater und
+Tochter von neuem anging, doch diesmal mit allem Vorteil auf Seiten von
+Mademoiselle. Meister Claude Bullot sah ein, daß er ein Esel -- ein
+gewaltiger Esel war; demütig kroch er zu Kreuze und nahm jede Injurie,
+welche ihm das Töchterlein an den Kopf warf, mit gekrümmtem Rücken in
+Empfang.
+
+Unterdessen wateten mühsam der Herzog und der Italiener durch den
+Schmutz und die Gefahren der Gassen von Paris, bis sie an einer Ecke zu
+der harrenden Karosse des Herzogs gelangten. Mit tiefen Bücklingen riß
+der Lakai den Wagenschlag auf.
+
+»Steig hinten auf, Etienne; ich habe mit dir zu reden,« sagte der Herzog
+und warf sich in die Kissen seiner Kutsche.
+
+»Achtung, Stefano, jetzt mag's in deinen Topf regnen!« murmelte der
+schlaue Neapolitaner, und schwerfällig setzte sich die Karosse in
+Bewegung.
+
+
+
+
+ II.
+
+ Gold.
+
+
+Während vor dem flackernden Kaminfeuer in seinem Hotel der Herzog von
+Chaulnes dem obdachlosen Vagabunden Stefano Vinacche den annehmbaren
+Vorschlag tut, Mademoiselle Bullot, das liebenswürdige Erzeugnis der
+Gasse Quincampoix, zu -- heiraten und dadurch nicht nur sich selbst,
+sondern auch Monseigneur aus mancherlei ärgerlichen Verdrießlichkeiten
+des Lebens herauszureißen, wollen wir erzählen, wer Stefano Vinacche
+eigentlich war. Im Jahre 1689 war der junge Neapolitaner als Lakai im
+Gefolge des Herzogs, dem er zu Rom mancherlei Dienste kurioser Art
+geleistet haben mochte, nach Frankreich gekommen, ohne jedoch in diesem
+Lande anfangs die Träume, welche ihm seine südliche Phantasie
+vorspiegelte, zu verwirklichen. Es wird uns nicht gesagt, was ihn im
+folgenden Jahre schon aus dem Dienste seines Gönners trieb, und ihn
+bewog, sich als gemeiner Soldat in das Regiment Royal-Roussillon
+aufnehmen zu lassen. Wir wissen nur, daß er im Jahre 1691 dem
+Regimentsschreiber Nicolle, seinem Schlafkameraden, einige
+Offiziersuniformen, welche derselbe ausbessern sollte, stahl und mit
+ihnen desertierte, welches Wagestück aber fast übel abgelaufen wäre. Auf
+dem Wege nach Paris, der Stadt, nach welcher von jeher eine dumpfe
+Ahnung künftiger Geschicke das seltsame Menschenkind trieb, gefangen und
+als Fahnenflüchtiger ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt,
+entging er nur durch Verwendung des Grafen von Auvergne dem Galgen. Im
+nächsten Jahre in Freiheit gesetzt, machte sich Stefano Vinacche von
+neuem auf den Weg nach Paris, und haben wir seiner Ankunft in der
+Gargotte zum Wappen des Dauphins in der Gasse Quincampoix soeben
+beigewohnt. --
+
+Ei, wie wunderlich, wunderlich spinnt sich ein Menschenleben ab! Wir
+armen blinden Leutlein auf diesem Erdenballe wandern freilich in einem
+dichten Nebel, der sich nur zeitweilig ein wenig hier und da lüftet, um
+im nächsten Augenblicke desto dichter sich wieder zusammenzuziehen. Wir
+getriebenen und treibenden Erdbewohner haben freilich nur eine dumpfe
+Ahnung von dem, was im Getümmel ringsumher vorgeht. Warum sollten wir
+uns auch in der kurzen Spanne Lebenszeit, die uns gegeben ist, viel um
+andere Leute bekümmern, da wir doch so viel mit uns selbst zu tun haben?
+Über allen Nebeln ist Gott; der mag zusehen, daß alles mit rechten
+Dingen zugeht; der mag acht geben, daß sich der Faden der Geschlechter,
+welchen er durch die Jahrtausende von dem Erdknäuel abwickelt, nicht
+verwirrt. Nur weil sie abgewickelt werden, drehen sich Sonne, Mond,
+Sterne; -- von jeder leuchtenden Kugel läuft ein Faden zu dem großen
+Knäuel in der Hand Gottes, zu dem großen letzten Knäuel, in welchem
+jeglicher Knoten, der unterwegs entstanden sein mochte, gelöst sein
+wird, in welchem alle Fäden nach Farben und Feinheit harmonisch sich
+zusammenfinden werden.
+
+Da ist solch ein Knötlein im Erdenfaden! wir finden es in unsrer
+Erdgeschichte am Ende des siebenzehnten und Anfang des achtzehnten
+Jahrhunderts nach Jesu Geburt, wo viel Sünde, Schande und Verderbnis
+sich häßlich ineinander schlingen, wo Krieg und Sittenlosigkeit das
+abscheulichste Bündnis geschlossen haben, daß das jetzige Gechlecht
+schaudernd darob die Hände über dem Kopfe zusammenschlägt.
+
+Der Erzähler aber, des letzten großen knotenlosen Knäuels in der Hand
+Gottes gedenkend, schlägt nicht die Hände über dem Kopfe zusammen; --
+den Handschuh hat er ausgezogen, mutig in die Wüstenei hineingegriffen,
+einen längst begrabenen, vermoderten, vergessenen Gesellen
+hervorgezogen. Da ist er -- =Stefano Vinacche= -- späterhin Monsieur
+Etienne de Vinacche, großer Arzt, berühmter Chemiker, -- Goldmacher,
+nächst Samuel Bernard der reichste Privatmann seiner Zeit!...
+
+»Also Etienne,« sprach der Herzog von Chaulnes zu dem halb verhungerten,
+obdachlosen Vagabunden, »eine allerliebste Frau und eine vortreffliche
+Aussteuer....«
+
+»_Servitore umilissimo!_«
+
+»Und, Etienne, eine Empfehlung an meinen Freund, den Herzog von Brissac.
+Ihr geht nach Anjou, -- lebt auf dem Lande, wie die Engel _à la Claude
+Gillot_, -- ich besuche Euch -- stehe Gevatter --«
+
+»Ah!« machte der Italiener mit einer unbeschreiblichen Bewegung des
+ganzen Oberkörpers.
+
+»_Plait-il?_«
+
+»O nichts, Monseigneur!« sagte der Italiener. »Ihr seid mein
+gnädigster, gütigster Herr und Gebieter.« Er machte eine Verbeugung bis
+auf den Boden.
+
+»Wann soll die Hochzeit sein, Monseigneur?«
+
+»So schnell als möglich -- ach!«
+
+»Monseigneur seufzt?!« rief Stefano schnell. »Noch ist's Zeit, daß
+Monseigneur Sein Wort zurücknehme; Mademoiselle Bullot ist ein reizendes
+Mädchen; aber wenn Monseigneur die hohe Gnade haben wollte, mich wieder
+zu seinem Kammerdiener zu machen --«
+
+»Nein, nein, nein, es bleibt dabei, Vinacche; Ihr heiratet die Schöne,
+und ich -- _ah notre Dame de Miracle_ -- ich will hingehen und sorgen,
+daß Madame von Maintenon und der Pater La Chaise davon zu hören
+bekommen. Also geht, Vinacche; bis zur Hochzeit gehört Ihr wieder zu
+meinem Haus. Der Intendant soll für Euch sorgen.«
+
+»Monseigneur ist der großmütigste Herr der Welt!« rief Vinacche, dem
+Herzog die Hand küssend. Unter tiefen Bücklingen schritt er rücklings
+zur Tür hinaus, und tief seufzend blickte ihm sein Gönner nach.
+
+Als sich die Tür hinter dem Italiener geschlossen hatte, murmelte
+dieser: »_Corpo di Bacco_, Achtung, Achtung, Vinacche, Stefano mein
+Söhnchen! Halte die Augen offen, mein Püppchen! Ist's mir nicht
+versprochen bei meiner Geburt, daß ich vierspännig fahren sollte in der
+Hauptstadt der Franzosen?!«
+
+Drinnen rieb sich der Herzog die Stirn und ächzte:
+
+»Ach, Madame von Maintenon ist eine große Dame! _Vive la messe!_«
+
+Acht Tage nach dem eben Erzählten war eine Hochzeit in der Gasse
+Quincampoix. Der Wirt zum Dauphinswappen Claude Bullot verheiratete zu
+seiner eigenen Verwunderung und zur Verwunderung sämtlicher Nachbaren
+und Nachbarinnen seine hübsche Tochter mit einem ganz unbekannten jungen
+Menschen, der nicht einmal ein Franzose war. Mancherlei Glossen wurden
+darüber gemacht, und allgemein hieß es, Mademoiselle Bullot sei eine
+Törin, welche nicht wisse, was man mit einem hübschen Gesicht und
+tadellosen Wuchs in Paris anfangen könne.
+
+Da aber Mademoiselle Bullot und Stefano Vinacche mit ziemlich vergnügten
+Mienen ihr Schicksal trugen, so mochten Papa und Nachbarschaft nach
+Belieben sich wundern, nach Belieben Glossen machen. Sämtliche
+Dienerschaft des Herzogs von Chaulnes verherrlichte die Hochzeit durch
+ihre Gegenwart; Flöten und Geigen erklangen in der Gargotte zum Wappen
+des Dauphins. Man sang, jubelte, trank auf das Wohl der Neuvermählten
+bis tief in die Nacht. Zuletzt artete das Gelage nach der Sitte der Zeit
+in eine wahre Orgie aus; blutige Köpfe gab's, und zum Schluß mußte der
+Polizeileutnant einschreiten und die ausgelassene Gesellschaft
+auseinander treiben. Am folgenden Tage machte das junge Paar sich auf
+den Weg zum Gouverneur von Anjou, dem Herzog von Brissac, einem »armen
+Heiligen, dessen Name nicht im Kalender steht«.
+
+Ein tüchtiges Schneegestöber wirbelte herab, als der Wagen der
+Neuvermählten hervorfuhr aus der Gasse Quincampoix. Auf der Schwelle
+seiner Tür stand der Vater Bullot mit der Kellnerin Margot, und beide
+blickten dem Fuhrwerk nach, so lange sie es sehen konnten. Dann zog der
+Wirt zum Dauphinswappen die Schultern so hoch als möglich in die Höhe
+und trat mit der Picarde zurück in die Schenkstube, welche noch deutlich
+die Spuren der Hochzeitsnacht an sich trug.
+
+»Alles in allem genommen, ist's doch ein Trost und ein Glück, daß ich
+sie los bin,« brummte der zärtliche Papa. »Es hätte noch ein Unglück
+gegeben; das war ja immer, als brenne der Scheuerlappen zwischen uns.
+Vorwärts, Margot! einen Kuß und an die Arbeit, mein Liebchen, auf daß
+das Haus rein werde.«
+
+Liebe Freunde, wer das Leben Stefano Vinacches beschreibt, der muß recht
+acht geben, daß er seinen Weg im Nebel nicht verliere. Schattenhaft
+gleitet die Gestalt des Abenteurers vor dem Erzähler her, bald zu einem
+Zwerg sich zusammenziehend, bald riesenhaft anwachsend, gleich jener
+seltsamen Naturerscheinung, die den Wanderer im Gebirge unter dem Namen
+des Nebelgespenstes erschreckt. Bald klarer, bald unbestimmter tritt
+Stefano Vinacche aus den Berichten seiner Zeitgenossen uns entgegen. Wir
+wissen nicht, was ihn mit seiner Frau so schnell aus Anjou nach Paris
+zurücktrieb; wir wissen nur, daß am neunten April 1693, an dem Tage, an
+welchem Roger von Rabutin, Graf von Bussy, sein wechselvolles Leben
+beschloß, der Papa Bullot in höchster Verblüffung die Hände über dem
+Kopfe zusammenschlug, als er Tochter und Schwiegersohn zu Fuß,
+kotbespritzt, mit höchst winziger Bagage, durch die Gasse Quincampoix
+auf das Dauphinswappen zuschreiten sah. Der gute Alte traute seinen
+Augen nicht und überzeugte sich nicht eher von der Wirklichkeit dessen,
+was er erblickte, bis ihm Madame Vinacche schluchzend um den Hals fiel,
+und Stefano ihn herzzerbrechend anflehte, ihn und sein Weib für eine
+Zeit wieder unter sein Dach zu nehmen.
+
+»Wir wollen auch recht artige Kinder sein!« bat Madame Vinacche.
+
+»Und wir werden nicht lange Euch zur Last sein!« rief Stefano.
+
+»_Diable! diable!_« ächzte Meister Claude Bullot, und Margot, die
+Picarde, gab ihm verstohlen einen Rippenstoß, daß er fest bleibe und
+sich nicht beschwatzen lasse.
+
+Wer hätte aber den beredten Worten Stefano Vinacches widerstehen können?
+Das Ende vom Liede war, daß das junge Ehepaar mit seinen armen
+Habseligkeiten einzog in die Kneipe zum Dauphinswappen, und daß Meister
+Bullot und Margot, die Kellnerin, nachdem Madame Vinacche die Schwelle
+überschritten hatte, seufzend sich in das Unvermeidliche fügten.
+
+»Ach, Margot, Margot, nun sind die schönen Tage wieder vorüber!« seufzte
+Meister Claude, und während die Heimgekehrten im oberen Stockwerk des
+Hauses ihre Einrichtungen trafen, saßen am Kamin in der leeren
+Schenkstube der Wirt und seine Kellnerin trübselig einander gegenüber
+und konnten sich nur durch das weise Wort, daß man das Leben nehmen
+müsse, wie es komme, -- trösten. Dann schlossen die beiden Parteien
+einen Kompromiß, in welchem festgestellt wurde, daß weder Monsieur
+Etienne noch Madame in die Angelegenheiten des Papas und der Kellnerin
+Margot sich mischen sollten, und daß sie durch ihnen passend scheinende
+Mittel für ihrer Leiber Nahrung und Kleidung selbst zu sorgen hätten.
+Wohnung, Licht und Feuerung versprachen Meister Bullot und Margot die
+Picarde zu liefern.
+
+Feierlich wurde dieser Vertrag von einem Stammgast der Gargotte, dem
+Sieur Le Poudrier, einem Winkeladvokaten, verbrieft und besiegelt, und
+man lebte fortan miteinander, wie man konnte.
+
+Da der Herzog von Chaulnes seine Verpflichtungen gegen das junge Ehepaar
+glänzend abgetragen zu haben glaubte, so floß die Quelle seiner Gnaden
+immer spärlicher und versiegte zuletzt ganz. Die Haushaltung im zweiten
+Stockwerk des Dauphinswappens mußte für Eröffnung anderer Geldquellen
+sorgen, zumal da noch im Laufe des Sommers ein kleiner Vinacchetto das
+Licht der Gasse Quincampoix erblickte. Die Not und der Zug der Zeit
+machten Stefano zu einem Charlatan; aber jedenfalls zu einem genialen
+Charlatan.
+
+»_Anima mia_, laß den Mut nicht sinken, wir fahren doch noch
+vierspännig!« sagte er zu seiner hungernden Frau und fing an, den
+Nachbarn und Nachbarinnen, sowie den Gästen, welche die Gargotte seines
+Schwiegervaters besuchten, Mittel gegen das Fieber und andere
+unangenehme Übel zu verkaufen.
+
+Allmählich verwandelte sich das Wohngemach der kleinen Familie in ein
+schwarzangeräuchertes chemisches Laboratorium; mit wahrer Leidenschaft
+warf sich Stefano Vinacche, obgleich er bis an sein Ende weder lesen
+noch schreiben lernte, auf das Studium der Simpla und der Mineralien.
+
+Eine gewaltige Veränderung ging mit dem seltsamen Menschen vor; -- nicht
+mehr war er der vagabondierende Abenteurer, der das Glück seines Lebens
+auf den Landstraßen, in den Gassen suchte. Tag und Nacht schritt er
+grübelnd einher, das Haupt zur Brust gesenkt, die Arme über der Brust
+gekreuzt. Wer konnte sagen, was er suchte?
+
+Eine fast ebenso überraschende Veränderung kam über das junge Weib
+Vinacches. Die frühere Mätresse des Herzogs von Chaulnes verehrte den
+ihr aufgedrungenen Mann auf den Knien, sie war die treuste, liebendste
+Gattin geworden, und ist es über den Tod Stefanos hinaus geblieben.
+
+=Sie= konnte lesen, =sie= konnte schreiben: --wie viele alte vergilbte
+Bouquins hat sie dem suchenden Forscher, in stillen Nächten, während sie
+ihr Kind wiegte, vorgelesen!
+
+Der Vater Bullot hatte nicht mehr Ursache, sich über das wilde,
+unbändige Gebaren seiner Tochter zu beklagen. Die eigentümliche Gewalt,
+welche Stefano Vinacche späterhin über die schärfsten, klarsten Geister
+hatte, trat auch jetzt in der engeren Sphäre schon bedeutend hervor.
+Papa Claude, Margot die Picarde, Gratien Le Poudrier der Rabulist, alle
+Nachbaren und alle Nachbarinnen beugten sich dem schwarzen, funkelnden
+Auge Stefanos. Der Stein war ins Wasser gefallen, und die Wellenringe
+liefen in immer weitern Kreisen fort; -- weit, weit über die Gasse
+Quincampoix hinaus verbreitete sich der Ruf Stefano Vinacches!
+
+Unterdessen schlug man sich in Deutschland, Flandern, Spanien, Italien
+und auf der See. In Deutschland verbrannte Melac Heidelberg, und der
+Feldmarschallleutnant von Hettersdorf, der »die _poltronnerie_ seines
+Herzens mit großen _Peruquen_ und bebremten Kleidern zu bedecken
+pflegte«, -- Hettersdorf, der elende Kommandant der unglücklichen Stadt,
+wurde auf einem Schinderkarren durch die Armee des Prinzen Ludwig von
+Baden geführt, nachdem ihm der Degen vom Henker zerbrochen worden war.
+Aus Flandern schickte der Marschall von Luxemburg durch d'Artagnan die
+Nachricht vom Sieg bei Neerwinden. Roses in Katalonien wurde erobert. Zu
+Versailles, zu Paris in der Kirche unserer lieben Frau sang man _Te Deum
+laudamus_; aber im Bischoftum Limoges starben gegen zehntausend Menschen
+Hungers. Zu Lyon wie zu Rouen fiel das Volk in den Gassen wie Fliegen,
+und ihrer viel fand man, welche den Mund voll Gras hatten, ihr elendes
+Leben damit zu fristen.
+
+Stefano Vinacche, nach einer Reise in die Bretagne, verließ die Gasse
+Quincampoix und das Haus seines Schwiegervaters und zog in die Gasse
+Bourg l'Abbé. Strahlend brach die Glückssonne Stefanos durch die Wolken.
+Fünf Monate war er in der Bretagne gewesen, und niemand hat jemals
+erfahren, was er dort getrieben, -- gesucht, -- gefunden hat! Zu Fuß
+zog er aus, in einer zweispännigen Karosse kehrte er zurück. Zwei
+Lakaien und ein Kammerdiener bedienten ihn in der Straße Bourg l'Abbé,
+wohin er aus der Gasse Quincampoix zog. Von neuem errichtete er in
+seiner jetzigen Wohnung seine chemischen Feuerherde, von neuem braute er
+seine Rezepte, und das Gerücht ging aus, Monsieur Etienne Vinacche suche
+den Stein der Weisen, und es sei Hoffnung vorhanden, daß er denselben
+binnen kurzem finden werde; und wieder tritt dem Erzähler der alte
+Gönner des unbegreiflichen Mannes, der Herzog von Chaulnes, entgegen,
+welcher ihm zum Ankauf von Kohlen, Retorten und dergleichen Apparaten
+zweitausend Taler gibt.
+
+Im Jahr der Gnade Eintausendsiebenhundert war das große Geheimnis
+gefunden; -- Stefano Vinacche hatte das Projektionspulver hergestellt,
+Etienne Vinacche machte --
+
+ =Gold!=
+
+In demselben Jahre Eintausendsiebenhundert kaufte =Monsieur de Vinacche=
+aus dem Inventar von Monsieur, dem Bruder des Königs, für sechzigtausend
+Livres Diamanten.
+
+
+
+
+ III.
+
+ Glück und Glanz.
+
+
+Wir schauen wie in ein Bild von Antoine Watteau durch das zarte
+frühlingsfrische Blätterwerk zu Coubron -- fünf Meilen von Paris -- wo
+Monsieur Etienne de Vinacche auf seinem reizenden Landsitze ein
+glänzendes Fest gibt. Die untergehende Maisonne des Jahres
+Siebzehnhunderteins übergießt die Landschaft mit rosigem Schein; --
+Lachen und Kosen und Flüstern des jungen Volkes ertönt im Gebüsch;
+geputzte ältere Herren und Damen durchwandeln gravitätisch die
+gradlinigen Gänge des Parkes. Karossen und Reitpferde mit ihrer
+Begleitung von Kutschern, Lakaien und Läufern halten vor dem vergoldeten
+Gittertor; Monsieur de Vinacche und seine Frau sind eben im Begriff, von
+einem Teil ihrer Gäste, der nach Paris oder den umliegenden Landhäusern
+zurückkehren will, Abschied zu nehmen.
+
+Die Dame Rochebillard, die Geliebte Tronchins, des ersten Kassierers
+Samuel Bernards, des »_fils de Plutus_«, -- wird von Madame de Vinacche
+zu ihrer Kutsche geleitet; Monsieur Etienne befindet sich im eifrigen
+Gespräch mit einem jungen Edelmann, dem Sieur de Mareuil. Für
+fünftausend Livres will Vinacche dem Herrn von Mareuil einen
+konstellierten Diamant, vermöge dessen man immerfort glücklich spielen
+soll, anfertigen. Ein wenig weiter zurück unterhalten sich die beiden
+reichen Bankiers van der Hultz, der Vater und der Sohn, mit Herrn
+Menager, _Sécrétaire du Roi_ und Handelsdeputierten von Rouen; -- auf
+einem Rasenplatz tanzen einige junge Paare nach den Tönen einer Schalmei
+und eines Dudelsacks ein Menuett; bunte Diener tragen Erfrischungen
+umher, für die abfahrenden Gäste erscheinen andere; der Chevalier von
+Serignan, Monsieur Nicolaus Buisson, der Sieur Destresoriers, Edelleute
+von der Robe, Edelleute vom Degen, Finanzleute, Beamte und so weiter mit
+ihren Frauen und Töchtern, allgesamt angezogen von dem Glanz, der Pracht
+und dem großen Geheimnis des einstigen neapolitanischen Bettlers Stefano
+Vinacche.
+
+Hat sich aber um Mitternacht dieser Schwarm der Gäste verloren, so
+erscheinen andere Gestalten. Aus verborgenen Schlupfwinkeln tauchen
+Männer auf, finstere bleiche Männer mit zusammengezogenen Augenbrauen
+und rauhen, rauchgeschwärzten Händen. Da ist Konrad Schulz, ein
+Deutscher, den Herr von Pontchartrain später verschwinden läßt, ohne daß
+man jemals wieder von ihm hört. Da sind Dupin und Marconnel,
+hocherfahren in der geheimen Kunst. Da ist Thuriat, ein wackerer
+Chemiker; da ist ein anderer Italiener, Martino Polli. Geheimnisvolle
+Wagen, von geheimnisvollen Fuhrleuten begleitet, langen an und fahren
+ab, und Säcke werden abgeladen und aufgeladen, die, wenn sie die Erde
+oder einen harten Gegenstand berühren, ein leises Klirren, als wären sie
+mit Goldstücken gefüllt, von sich geben, geheimnisvolle Feuer in
+geheimnisvollen Öfen flammen auf, -- Wacht hält Madame de Vinacche, daß
+die nächtlichen Arbeiter nicht gestört werden in ihrem Werke.
+
+Hüte dich, Stefano Vinacche! Im geheimen Staatsrat zu Versailles hat man
+von dir gesprochen: Monsieur Pelletier von Sousy, der Intendant der
+Finanzen, hat den Mann mit dem Kopf voll böser Anschläge, hat Monsieur
+d'Argenson aufmerksam auf dich gemacht.
+
+Hüte dich, Stefano Vinacche! --
+
+Wer klopft in dunkler Nacht an das Hinterpförtchen des Landhauses zu
+Coubron?
+
+Salomon Jakob, ein Jude aus Metz, welcher die Verbindung des
+»Unbegreiflichen« mit Deutschland vermittelt.
+
+Wer klopft in dunkler Nacht an die Pforte des Landhauses zu Coubron?
+
+Franz Heinrich von Montmorency-Luxemburg, Pair und Marschall von
+Frankreich, welchen Stefano Vinacche die Kunst lehren soll, den Teufel
+zu beschwören.
+
+In dunkler Nacht fährt nach Coubron der Herzog von Nevers, um sich in
+die geheimen Wissenschaften einweihen zu lassen.
+
+In dunkler Nacht fährt nach Coubron Karl d'Albert, Herzog von Chaulnes,
+und Madame de Vinacche empfängt ihn in brokatnen Gewändern, geschmückt
+mit einer Cordeliere und einem Halsband im Wert von sechstausend Livres.
+
+»_Notre Dame de Miracle_, wie habe ich für Euer Glück gesorgt,
+Allerschönste!« sagt der Herzog von Chaulnes, und die Tochter des Wirts
+zum Dauphinswappen verbeugt sich mit dem Anstand einer großen Dame und
+führt den hohen Gast und Gönner in ihren Salon, welcher den Vergleich
+mit jedem andern zu Paris aushält.
+
+Stefano Vinacche trägt nicht mehr sein eigenes Haar; eine wallende
+gewaltige Lockenperücke bedeckt sein kluges Haupt. Mit feiner Ironie
+sagt er, in den wallenden Stirnlocken dieser seiner Perücke halte er
+seinen _Spiritus familiaris_, sein »_folet_« verborgen und gefesselt.
+
+»_Notre Dame de Miracle_, Ihr seid ein großer Mann, Etienne!« sagt der
+Herzog von Chaulnes, und der Hausherr von Coubron verbeugt sich
+lächelnd:
+
+»O Monseigneur!«
+
+»Ja, ja, wer hätte das gedacht, als ich Euch in Italien von der
+Landstraße aufhob? Wer hätte das gedacht, als ich Euch durch den Grafen
+von Auvergne vom Galgen errettete; -- Vinacche, Ihr müßt mir sehr
+dankbar sein.«
+
+Stefano legt die Hand auf das Herz.
+
+»Monseigneur, ich habe ein gutes Gedächtnis für empfangene Wohltaten.
+Glaubt nicht, daß das Glück und die errungene Wissenschaft mich stolz
+mache. Fragt meine Frau, was gestern geschehen ist.«
+
+»Wahrlich, Monseigneur, es war eine tolle Szene. Stellt Euch vor, es
+befindet sich gestern eine glänzende Gesellschaft bei uns, Monsieur
+Despontis, Monsieur von Beaubriant und viele andere, als ein abgelumpter
+Mensch Etienne zu sprechen verlangt. Die Diener wollten ihn abweisen;
+aber Etienne hört den Lärm und läßt den Vagabunden kommen. _Mon Dieu_,
+was für eine Szene!«
+
+»Nun?!«
+
+»Nicolle war's, gnädigster Herr! Nicolle, meines Mannes Kamerad aus dem
+Regiment Royal-Roussillon!«
+
+»Oh, oh, oh! ah, ah, ah!« lacht der Herzog. »Dem Wiederfinden hätt' ich
+beiwohnen mögen. Das muß in der Tat eine eigentümliche Überraschung
+gegeben haben.«
+
+»Ich fiel in Ohnmacht, und Etienne -- fiel dem Vagabunden um den
+Hals --«
+
+»Und die Gesellschaft?«
+
+»Stand in starrer Verwunderung! Es war ein tödlicher Augenblick,« ruft
+Madame de Vinacche klagend, doch Etienne sagt:
+
+»Ich hatte dem Manne einst ein schweres Unrecht zugefügt, jetzt war mir
+die Gelegenheit gegeben, es wieder gutzumachen, und ich benutzte diese
+Gelegenheit.«
+
+»_Notre Dame de Miracle_, ich werde der Frau von Maintenon diese
+Geschichte erzählen. Ihr seid ein braver Gesell, Etienne. Ah, oh, _ou la
+vertu va-t-elle se nicher_? wie Monsieur Molière sagt, -- sagt er nicht
+so?«
+
+»Ich glaube, gnädiger Herr,« meint Vinacche, die Achsel zuckend, und
+setzt hinzu, als eben jemand an die Tür des Salons mit leisem Finger
+klopft: »Da kommt Konrad, uns zum Werk zu holen. Wenn es also beliebt,
+Monseigneur, so können wir unsere Arbeit von neuem aufnehmen; Zeit und
+Stunde sind günstig, jeder Stern steht an seinem rechten Platz, und gute
+Hände schüren die Flamme!«
+
+In die geöffnete Tür schaut das finstere Gesicht des deutschen Meisters
+Konrad Schulz:
+
+»Es ist alles bereit!«
+
+»Wir kommen!« sagt der Herzog von Chaulnes, mit zärtlichem Handkuß von
+Madame Vinacche Abschied nehmend. In das chemische Laboratorium herab
+schreiten die Männer.
+
+Um den schwarzen Herd stehen regungslos die Gehilfen des großen
+Goldmachers. Atemlos verfolgt der Herzog jede Bewegung des Alchymisten.
+
+Der Meister arbeitet!
+
+Tiegel voll Salpeter, Antimonium, Schwefel, Arsenik, Qecksilber gehen
+von Hand zu Hand. Die Phiole mit dem »Sonnenöl« reicht Martino Polli,
+das Blei bringt Konrad Schulz zum Fluß; -- der große Augenblick ist
+gekommen. Aus einem Loch in der schwarzen feuchten Mauer ringelt sich
+eine bunte Schlange hervor, sie steigt an dem Beine Stefano Vinacches
+empor, sie umschlingt seinen Arm und scheint ihm ins Ohr zu zischen. Ein
+Zittern überkommt den Goldmacher, aus der Brust zieht er ein winziges
+Fläschchen; -- im Tiegel gärt und kocht die metallische Masse, -- die
+Flammen züngeln, -- aus der Phiole in der Hand des Meisters fällt das
+Projektionspulver in den Tiegel -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+Das Werk ist vollbracht! In die Form gießt Konrad Schulz die kostbare,
+im höchsten Fluß befindliche Masse -- nach einigen Augenblicken wiegt
+der Herzog von Chaulnes eine glänzende Metallbarre in der Hand.
+»Reinstes Gold, Monseigneur!« sagt Stefano Vinacche. --
+
+
+
+
+ IV.
+
+ Was man in Versailles dazu sagte.
+
+
+Vinacche fuhr mit seiner Frau vierspännig durch die Straßen von Paris.
+Lange war Claude Bullot tot und erinnerte sie nicht mehr an die
+Dunkelheit ihrer Herkunft. In der Gasse Saint Sauveur besaß Stefano
+jetzt ein prächtiges Haus, wo er die beste Gesellschaft von Paris bei
+sich sah. Sein Leben strahlte im höchsten Glanz. Die Teilnehmer seiner
+wunderlichen Operationen hatte er durch Drohungen, Versprechungen, List
+und Überredung zu seinen Sklaven gemacht; er durfte ihnen drohen, sie
+bei der geringsten Auflehnung gegen seinen Willen als Fälscher, Kipper
+und Wipper hängen zu lassen. Seine Geschäftsverbindungen mit Samuel
+Bernard, Tronchin, Menager, mit den beiden van der Hultz, mit
+Saint-Robert und dem Sieur Buisson Destresoriers nahmen ihren
+ungestörten Fortgang. Man sah in seinen Gemächern oft fünfzehn, zwanzig,
+dreißig Säcke voll nagelneuer Louisdors aufgestellt. Neu geprägte
+Goldstücke fanden die Diener und Dienerinnen, von denen das Haus
+überquoll, im Kehricht, in den Winkeln, unter der schmutzigen Wäsche; --
+sie verkauften Stückchen von Goldbarren an die Juden, und Madame de
+Vinacche erschrak eines Tages heftig genug, als sie, ungesehen von
+ihnen, ein Gespräch zwischen ihrer Kammerfrau La Martion und einigen
+Lakaien ihres Mannes belauschte. --
+
+Der spanische Erbfolgekrieg hatte begonnen. War das Geld im Hause
+Stephano Vinacches im Überfluß vorhanden, so mangelte es um desto mehr
+im Hause des Königs Ludwig des Vierzehnten. Herrschte im Hause Stefano
+Vinacches Jubel und Übermut, so herrschte Mißmut, Angst, Sorge und Not
+zu Versailles. Ein gewaltiger Umschwung aller Dinge trat in diesem
+früher so glänzenden Frankreich mehr und mehr hervor. Auf die Zeit des
+phantastischen, lebenvollen Karnevals folgte der Aschermittwoch mit
+seinen Grabgedanken. Zu Grabe gegangen waren die Schriftsteller und
+Dichter: Pascal und Franz von La Rochefoucauld ergründeten nicht mehr
+die Tiefe des menschlichen Herzens. Jean de Lafontaine hielt nicht mehr
+den lustigen Spiegel der Welt vor, Jean war »davongegangen wie er
+gekommen war«; -- verstummt war die mächtige Leier des großen Corneille,
+Jean Racine hatte sein Schwanenlied gesungen und war hinabgesunken in
+die blaue Flut der Ewigkeit. Tot, tot war Molière, der gute Kämpfer
+gegen Dummheit, Heuchelei, Aberglauben und Laster; tot war Jean Baptiste
+Poquelin, genannt Molière, aber Tartuffe lebte noch!
+
+Die Heiterkeit des Daseins war erblaßt, auch die feierlichen Stimmen der
+großen Kanzelredner Bossuet, Bourdaloue, Flechier verstummten! König in
+Frankreich war der Pater La Chaise, Königin in Frankreich war Franziska
+d'Aubigné, die Witwe Paul Scarrons. Die Schutzherrschaft über das Land
+nahm man dem heiligen Michael und gab sie der Jungfrau Maria, wie man
+sie vorher dem heiligen Martin und vor diesem dem heiligen Denis
+genommen hatte. Schaffe Geld, schaffe Geld, Geld, Geld, o heilige
+Jungfrau Maria! Schaffe Geld, holde Schutzherrin, Geld zum Kampf gegen
+deine und unsere Feinde! Schaffe Geld und abermals Geld und wiederum
+Geld, süße Mutter Gottes! Schaffe Geld, Geld, Geld, o Schutzpatronin von
+Frankreich und Versailles, Marly und Trianon!
+
+Wiederum war ein Staatsrat gehalten worden zu Versailles über die besten
+Mittel, Geld zu bekommen, und niemand hatte Rat gewußt; weder
+Pontchartrain, noch Pomponne, noch du Harlay, Barbezieux, d'Argouges,
+d'Agnesseau. Wohl war manche neue Steuer vorgeschlagen worden; doch ohne
+zu einem Resultat gelangt zu sein, hatte Louis der Vierzehnte seine Räte
+entlassen müssen. Verstimmt im höchsten Grade, ratlos bis zur
+Verzweiflung schritt er auf und ab in seinem Gemach und seufzte:
+
+»O Colbert, o Louvois!«
+
+Der König von Frankreich befand sich vollständig in der Seelenstimmung
+Sauls, des Königs der Juden, als er Verlangen trug nach dem Geiste
+Samuels, des Hohenpriesters.
+
+Dazu war die Frau Marquise nach Saint Cyr zu ihren jungen Damen
+gefahren, und der Vater La Chaise gab einigen Brüdern in Christo in
+der Vorstadt Saint Antoine in seinem Hause ein kleines Fest. Armer,
+großer Louis! zu seinem letzten Mittel mußte er greifen, um sich zu
+zerstreuen; -- Fagon, sein Leibarzt, wurde gerufen. In der Unterhaltung
+mit diesem klugen Manne ging dem Monarchen, freilich doch langsam
+genug, dieser trübe Oktobernachmittag des Jahres 1703 hin, und zuletzt
+kam auch Madame von Maintenon zurück. Der König seufzte auf, gleich
+einem, der von einer schweren Last befreit wird; Fagon machte seine
+Verbeugungen und entfernte sich, ebenfalls höchlichst erfreut über seine
+Erlösung.
+
+Im klagenden Tone erzählte nun der König seiner Ratgeberin von seiner
+trüben Nachmittagsstimmung, von seiner Sehnsucht nach ihr, seiner
+einzigen Freundin, von der Dummheit der Ärzte und von der vergeblichen
+Ratssitzung.
+
+»Sire,« sagte die Marquise lächelnd, »ich bin Eure demütige Dienerin;
+die besten Ärzte sind die, welche die Seele zu heilen verstehen, was
+aber die Ratlosigkeit Eurer Räte betrifft, so ist hier ein Billett,
+welches die Mittel angibt, dem Staat Geld zu schaffen. Von unbekannter
+Hand wurde es mir in den Wagen geworfen. Leset es, Sire, wir haben schon
+einmal über den Mann gesprochen, von dem es handelt.«
+
+Der König nahm das Schreiben und überflog es.
+
+»Vinacche?! der Goldmacher!« murmelte er und zuckte die Achseln.
+
+»Ich höre Erstaunliches über den Mann,« meinte die Marquise. »Sein
+Luxus geht ins Grenzenlose. Die größten Herren Eures Hofes, Sire, gehen
+bei ihm ein und aus. Der Herzog von Brissac hat mir neulich stundenlang
+von dem geheimnisvollen Menschen gesprochen. Neulich war auch Madame von
+Chamillard bei mir; sie steht in Verbindung mit dem reichen
+holländischen Bankier van der Hultz. Auch dieser Mann soll vollständig
+überzeugt sein, Monsieur de Vinacche habe das Projektionspulver
+gefunden, Monsieur de Vinacche mache in Wahrheit Gold.«
+
+»Ach, Marquise, von wie vielen haben wir das geglaubt!«
+
+»Sire, wäre ich an Eurer Stelle, ich würde d'Argenson beauftragen,
+diesen Italiener etwas genauer zu beobachten.«
+
+Der König zuckte abermals die Achseln und gab das Billett zurück.
+
+»Wenn d'Argenson das für nötig hält, so mag er seine Anordnungen
+treffen; -- ich will nichts damit zu tun haben. Was beginnen Eure
+Fräulein zu Saint Cyr, Marquise?«
+
+Nachdem der König das Gespräch auf eine andere Bahn geleitet hatte, war
+es vergeblich, von neuem den verlassenen Punkt zu berühren; aber die
+Marquise schob das Billett in ihre Tasche und faßte einen Beschluß. Am
+andern Tage schickte sie ihren Stallmeister Manceau in die Gasse Saint
+Sauveur zu Vinacche, unter dem Vorgeben: er solle Diamanten kaufen für
+eine fremde Prinzessin. Manceau, von seiner Herrin bestens instruiert,
+ließ nichts in dem Hause des Alchymisten außer Augen und erzählte
+nachher Wunder von der Pracht und dem Glanze, die darinnen herrschten.
+Pferde, Gemälde, Silbergeschirr, Meubles, alles taxierte er, wie ein
+Auktionskommissär; auf seine Frage nach Juwelen antwortete aber
+Vinacche, er besitze deren wohl sehr schöne, aber er handle nicht damit.
+
+Fast schwindelnd von dem Geschauten kam der Abgesandte der Marquise nach
+Versailles zurück und stattete seiner Herrin Bericht ab. Einige Tage
+nachher wurde Stefano Vinacche selbst nach Versailles beschieden und
+daselbst sehr höflich und zuvorkommend von Herrn von Chamillard
+empfangen! Ein langes Gespräch hatten die beiden Herren miteinander, und
+hinter einem Vorhange lauschte die Marquise von Maintenon demselben.
+Aber aalglatt entschlüpfte Vinacche jeder Frage, die sich auf seine
+große Kunst bezog; er nahm Abschied und bestieg seine Karosse wieder,
+ohne daß die Marquise und Chamillard ihrem Ziel im geringsten
+nähergekommen wären.
+
+»Lassen wir d'Argenson kommen!« sagte Frau von Maintenon. »Um keinen
+Preis darf uns dieser Mann entgehen.«
+
+Monsieur de Chamillard verbeugte sich bis zur Erde, und -- d'Argenson
+ward gerufen.
+
+
+
+
+ V.
+
+ Das Ende.
+
+
+Und Monsieur d'Argenson streckte seine Hand aus; -- es fiel ein
+schwarzer Schatten über das glänzende, fröhliche Leben in der Gasse
+Saint Sauveur; nach allen Seiten hin zerstob das Getümmel der vornehmen,
+reichen und geistreichen Gäste. Die Flucht nahmen die Herzöge, die
+Marquis, die Chevaliers, die Abbés, die Poeten. Wer durfte wagen, da zu
+weilen, wohin Monsieur d'Argenson den Fuß gesetzt hatte?
+
+Aus dem Nebel ragt düster drohend die Bastille! Sie halten den Stefano
+Vinacche, auf daß ihnen sein köstliches Geheimnis »nicht entgehe«,
+und -- am 22. März 1704, einem Sonnabend -- scharren sie ihn ein auf dem
+Kirchhof von Sankt Paul, unter dem Namen =Etienne Durand=.
+
+Wer hat je das Genie durch Gewalt gezwungen, seine Schätze mitzuteilen?
+
+So liest man in den Registern der Bastille:
+
+»In der Nacht vom Mittwoch auf den grünen Donnerstag, als am 20. März
+1704, morgens um ein Viertel auf zwei Uhr verschied in Nummer drei der
+Bertaudiere Monsieur de Vinacche, ein Italiener, in der Gegenwart des
+Schließers La Boutonnière und des Korporals der Freikompagnie der
+Bastille, Michel Hirlancle. Nach dem Tode des Gefangenen gingen die
+beiden Wächter, Monsieur de Rosarges davon zu benachrichtigen, und erhob
+sich dieser und verfügte sich in die Zelle des Sieur Vinacche, welcher
+sich selbst getötet hat, indem er sich gestern, als am Mittwoch,
+ungefähr um zwei Uhr nachmittags mit seinem Messer die Kehle unter dem
+Kinn zerschnitt und sich also eine sehr große und weite Wunde
+beibrachte. Obgleich ihm alle mögliche Hilfe geleistet wurde, konnte man
+ihn doch nicht retten. Da der Sterbende einige Zeit hindurch das
+Bewußtsein wieder erlangte, so hat unser Almosenierer sein Bestes getan,
+ihn zur Beichte zu bewegen, jedoch ganz und gar vergeblich. Gegen neun
+Uhr abends habe ich Monsieur d'Argenson von dem Unglück Nachricht
+gegeben, und ist derselbe in aller Eile sogleich erschienen, um zu dem
+Sterbenden zu reden, jedoch auch ihm hat der Unglückliche keine Antwort
+gegeben.
+
+ In diesem Schlosse der Bastille 20. März 1704.
+
+ =Dujonca=,
+
+ Königsleutnant in der Bastille.
+
+Wohl mochte nachher d'Argenson in seinem Bericht an Chamillard von
+»_billonage_«, von Kipperei und Wipperei sprechen, es glaubte niemand
+daran, selbst der Berichterstatter glaubte nicht daran; man brauchte nur
+eine Rechtfertigung dem aufgeregten Publikum gegenüber. Zu Versailles
+wirkte die Nachricht von dem Tode Stefano Vinacches gleich einem
+Donnerschlag; der König Ludwig der Vierzehnte wurde darob ebenso zornig
+und niederschlagen, wie später in demselben Jahre über die Kunde von den
+Niederlagen auf dem Schellenberge und bei Höchstedt. Die Frau Marquise
+und die Herren de Chamillard und d'Argenson hatten einige bittere
+Stunden zu durchleben; aber was half das? Stefano Vinacche war tot und
+hatte sein Geheimnis mit in das Grab genommen!
+
+Der Witwe des Unglücklichen meldete man offiziell, ihr Gemahl sei in der
+Bastille am Schlagfluß verschieden; sie blieb im ungestörten Besitze
+aller der auf so geheimnisvolle Weise erworbenen ungeheuren Güter. Der
+alte Bericht, dem wir dieses seltsame Lebensbild nacherzählen,
+vergleicht den gemordeten Stefano mit jenem Künstler, welcher dem
+Imperator Tiberius ein köstliches Gefäß von biegsamem, hämmerbarem Glas
+überreichte. Der Kaiser bewunderte die vortreffliche Erfindung und
+fragte, ob dieselbe schon andern Menschen bekannt sei, welches der
+Künstler verneinte. Auf diese Antwort hin ließ der Tyrann dem genialen
+Erfinder den Kopf abschlagen und die Werkstatt desselben zerstören,
+damit nicht »Gold und Silber gemein und wertlos würden, wie der Kot in
+den Gassen von Rom«.
+
+»_Par notre Dame de Miracle_, Madame, Euer Gemahl war ein großer Mann,«
+sagte der Herzog von Chaulnes zu der trauernden Witwe Stefanos, »Euer
+Gemahl war in Wahrheit ein großer Mann; aber =einen= Fehler hatte er, er
+war zu verschwiegen! Wie oft hab' ich ihn beschworen, mir sein großes
+Geheimnis anzuvertrauen, -- Madame, auf meine Ehre, Monsieur Etienne war
+zu verschwiegen, viel zu verschwiegen.«
+
+»O Madame, Madame, die Welt ist nicht so beschaffen, daß sie ein großes
+Genie in sich dulden könnte!« sagte zur Frau Vinacche der Dichter Jean
+Baptiste Rousseau, der Freund Stefanos. »Madame, die Welt kann das
+Talent nur töten, und es gibt nur einen Trost:
+
+_c'est le même Dieu qui nous jugera tous!_«
+
+»Liebste Schwester,« sagte der Graf d'Aubigné zur Marquise von
+Maintenon, »liebste Schwester, in meinem Leben habe ich noch nichts
+erfunden, wohl aber traue ich mir viel Geschick zu, die Erfindungen
+anderer Leute herauszuholen. Ihr wißt das ja; _mon Dieu_, weshalb habt
+Ihr mir nicht diese Geschichte mit dem Italiener überlassen? Das war
+kein Charakter für die Kunst Monsieur d'Argensons.«
+
+Die Frau Marquise seufzte, zuckte die Achseln und griff nach ihrem
+Gebetbuch, Mademoiselle La Caverne, ihre Kammerfrau, meldete: Seine
+Majestät verfüge sich soeben in die Messe. Graf d'Aubigné, welcher »sich
+wegen seiner Schwester Regierung einbildete, er sei die dritte Person in
+dem Königreiche«, ließ die Unterlippe herabsinken und legte sein Gesicht
+in die frömmsten Falten.
+
+»Gehen wir, mein Bruder,« sagte die Marquise. »Wir wollen beten für die
+Seele dieses unglücklichen Monsieur de Vinacche und bitten, daß Gott uns
+seinen Tod nicht zurechne.«
+
+
+
+
+ ******************************
+ * *
+ * Ein Besuch *
+ * *
+ ******************************
+
+
+
+
+Es war schon Dämmerung, als der Besuch kam; so sehr Dämmerung, daß es
+uns unmöglich ist, zu sagen, wie der Besuch aussah. Es ist uns überhaupt
+nicht leicht gemacht, hierüber ganz deutlich zu werden. Helfen uns die
+Leserinnen selber nicht dabei, so werden wir auf diesem Blatt Papier mit
+Feder und Tinte wenig ausrichten.
+
+»Wieder ein Tag, Johanne, in Einsamkeit und mühseliger, geringen Nutzen
+bringender Arbeit; und zu der Arbeit trübe Gedanken den ganzen Tag über.
+Wegplaudern kann ich dir deine Sorgen nicht; da habe ich Schwestern, die
+das besser verstehen. Ich kann nur hier und da eine Stunde bei dir
+verweilen; laß mich das jetzt, vielleicht ist dir wohler nachher. Hast
+auch wohl schmerzende Augen von dem ewigen Schaffen so spät in den
+Jahren? Die darfst du dreist zumachen, derweil ich bei dir bin. Nur
+keine unnötigen Höflichkeiten unter Freunden. Laß dich gehen, ich lasse
+mich auch gehen und lege mir niemandes wegen Zwang an, und viel Zeit
+habe ich nie, das wißt ihr ja alle, die ihr mich dann und wann unter
+euerer übrigen Bekanntschaft in der Welt bei euch seht. Wo warst du
+eben, Johanne?«
+
+»Sie feierten ein Fest heute drunten im Hause, daran habe ich gequält,
+widerwillig teilnehmen müssen. Es war so viel Wagenrollen in der Gasse
+und vor dem Hause, die Leute waren so laut; es drang so viel lustiger
+Lärm zu mir herauf. Es war töricht: aber ich ließ mich von meiner
+Phantasie hinabführen zu meiner jungen, reichen, glücklichen
+Hausgenossin; und da wurde mein Schicksal bitterer, ich war den Tag über
+unzufriedener denn je mit meinem Lose; ach, da es nun wieder stiller
+geworden ist, will ich es nur gestehen: ich war recht böse den Tag über,
+voll Mißgunst, Neid und Eifersucht. Es war sehr unrecht.«
+
+»Ja freilich, du bist arm, und deine Hausgenossin ist reich; du bist alt
+geworden, und deine Hausgenossin ist noch jung. Niemand kommt zu dir als
+von Zeit zu Zeit ich, und jene führt das lebendigste Leben. Daran kann
+ich nichts ändern, nicht den kleinsten Stein des Anstoßes in der
+Körperlichkeit der Dinge kann ich dir aus dem Wege räumen; -- aber wie
+wäre es, wenn du dessenungeachtet jetzt doch einmal einige Wege mit mir
+gingest -- die ich dich führe?«
+
+Da die Frau Johanne jetzt lächelt, ist sie schon auf diesen Wegen mit
+ihrem Besuch -- dieser seltsamen Besucherin, die nicht plaudert, wenige
+Neuigkeiten weiß, sondern nur von Zeit zu Zeit die Hand oder auch nur
+den Zeigefinger erhebt. Frau Johanne hat dabei auch dem andern Rat ihres
+stillen Gastes Folge gegeben; sie hat die Augen geschlossen. Bei
+geschlossenen Augen sagt sie: »Ja es ist unrecht, und es nützt auch
+nichts, andern ihr Glück oder vielleicht auch nur den Schein des Glückes
+zu mißgönnen. Das Leben geht so rasch hin, und es wird so schnell Abend
+aus Morgen allen Leuten!
+
+Ist es nicht wie gestern, als es auch noch in meinem Leben Morgen war?
+als ich so jung war wie diese junge Nachbarin und auch über schöne
+Teppiche schritt? als die Wagen auch vor meiner Tür hielten und die
+Gäste zu mir kamen? als meine Gestalt aus dem Pfeilerspiegel im
+Festkleide mir zulächelte und Richard mir über meine Schulter
+zuflüsterte, was der Spiegel mir sagte?
+
+Hab' ich damals, an meinem Morgen, in meinem Frühling, in meiner Jugend
+viel daran gedacht, wie die Leute über meinem Haupte, unter meinen
+Füßen, die Nachbarn gegenüber lebten, und ob sie weniger jung, sorgenlos
+und glücklich als ich waren?«
+
+»Siehst du, es wandelt sich gut an meiner Hand,« nickte der Besuch. »Nur
+weiter, komm nur weiter, wir sind auf dem ganz richtigen Wege. Es ist
+nur, weil man in der mißmutigen Stunde nicht recht seine Gedanken
+zusammennehmen kann, daß man seine Tage so regenfarbig, seine Nächte so
+dunkel und sternenlos sieht. Was zeigte dir dein Spiegel noch außer
+deiner Gestalt im Haus- und im Festkleide und den Bildern deiner
+nächsten Umgebung?«
+
+Frau Johanne legt das Haupt in ihrem Stuhl zurück und die Hand auf die
+Stirn. Sie sitzt wieder vor ihrem hohen, vornehmen Spiegel, den Rücken
+gegen die Fenster gewendet. Aber aus dem zerbrechlichen Glase und der so
+leicht verwischbaren Folie von damals ist in Wahrheit ein Zauberspiegel
+geworden, aus dem sich wesenhaft, greifbar, voll Leben und Wirklichkeit
+die Hoffnung, der Trost, das beste Glück ihrer Witwenschaft, ihrer
+Kinderlosigkeit, ihres Alters loslösen.
+
+Es sind aber nicht die Abbilder ihrer nächsten Umgebung, die Möbel,
+Wände, Gemälde, Teppiche und Vorhänge ihres damaligen Gemaches, die sie
+nun mit ihren geschlossenen Augen wiedersieht. Es ist das Stück der
+Gasse, das gegenüberliegende Haus, das damals in den goldenen Rahmen
+zufällig mit hineinfiel und nun wieder lebendig in ihm leuchtet, nachdem
+Glas und Folie längst zersplittert und verwischt sind, wie Glanz und
+Glück jener lange vergangenen Tage.
+
+»Ich denke, wir wagen es noch einmal, folgen unserm guten Einfall und
+schlüpfen hinüber zu der unbekannten Nachbarin. Was meinst du, Johanne?«
+
+»Ein Einfall!« murmelt die Frau Johanne. »Nur ein seltsamer Einfall --
+_un concetto, una fantasia strana_, wie die Italiener sagen. Und mir
+vielleicht auch nur darum möglich, weil ich eben erst mit Richard von
+unserm schönen langen Aufenthalt in Italien nach Hause gekommen war.
+Dort, in Italien, folgen die Leute viel leichter als hier bei uns ihren
+Einfällen und schlüpfen so über die Gasse und halten gute Nachbarschaft,
+zumal wenn sie sich vom Fenster oder -- Spiegel aus schon längst kennen
+und unser Gatte einmal gesagt hat: 'Der Mann der hübschen kleinen Frau
+im blauen Kleide da drüben ist einer unserer besten, talentvollsten
+Unterbeamten, Johanne; das Weibchen mit seinem Kindchen ist wirklich
+allerliebst, schade, daß sie nicht zu uns gehören, d. h. nicht in unsere
+Gesellschaftskreise passen.'«
+
+»Ja, was würde aus euerer Welt werden, wenn ich nicht immer von neuem,
+zu jeder Zeit und überall eure närrischen Kreise störte und euch
+zusammenbrächte im Wachen und im -- Traum? Nur weiter, immer weiter,
+Johanne. Die Nachbarin wohnt in keinem vornehmen Hause; die Treppen, die
+zu ihr hinaufführen, sind steil und dunkel; aber wir sind auf dem
+rechten Wege -- ganz auf dem rechten Wege!«
+
+»Auf dem rechten Wege! Wie kommst du eigentlich hierzu, Johanne?« habe
+ich mich noch auf der steilen dunkeln Treppe gefragt. »Ihr habt euch ja
+noch nicht einmal zugenickt und noch weniger je ein Wort miteinander
+gesprochen. Wie wäre das auch möglich gewesen bei so vielem andern
+gesellschaftlichen Verkehr?«
+
+»Das weiß ich am besten, von welchen Kleinigkeiten alles abhängt,« sagt
+der Besuch. »Törichtes Menschenvolk! wo bliebet ihr, wenn nicht ich aus
+dem Kern den Baum, aus dem Funken das Licht, aus dem Hauch den Sturm
+machte? Dein Blut war noch abenteuerlich unruhig von den bunten
+Erlebnissen in der Fremde; du hattest viel gähnen müssen an jenem Tage;
+leugne es nicht, Johanne, du warst eigentlich in keiner angenehmen
+Stimmung, trotzdem daß du noch jung, reich und eine Schönheit warst. Zu
+verbraucht, alltäglich, gewöhnlich, abgenutzt und gering erschien dir
+alles in der behaglichen Heimat um dich herum.«
+
+»Und Richard hatte mir jetzt gesagt: Unsere Nachbarin hat Unglück
+während unserer Abwesenheit gehabt; der Mann ist ihr gestorben; wir
+werden nicht leicht einen so guten Arbeiter wieder bekommen. -- Da sah
+ich sie statt im blauen oder rosa Kleide in einem schwarzen am Fenster,
+bleich und kummervoll. Und sie trug ihr Kind auf dem Arme, ihr armes
+verwaistes Kindchen, und da --, da nickte ich ihr zu von meinem Fenster;
+und da --, da bin ich zu ihr gegangen!«...
+
+Und nun ist sie wieder bei ihr, die Träumende, -- die Freundin bei der
+Freundin, und die Zeiten -- die Stunden, Tage und Jahre vermischen sich
+wunderbar im süß-melancholischen Dämmerungstraum. Der Besuch könnte nun
+wohl gehen -- o wie lebendig, wie lebendig ist alles nun im Traum!...
+
+Im Traum. Die alte Frau schläft in ihrem Stuhl nach dem arbeitsvollen
+mühsamen Tage. Sie denkt nicht mehr über die Vergangenheit; sie träumt
+von ihr und süß und friedlich; denn der Besuch hatte ihr ja vorher
+leise, beruhigend die Hand auf die furchenvolle Stirn gelegt.
+
+Nun ist der Raum um sie her nicht mehr beschränkt und niedrig, nun sind
+die Gerätschaften nicht mehr ärmlich und abgenutzt; denn im gleichen
+Stübchen und unter gleichem Geräte führte ja die beste Freundin ihrer
+Jugend ihr =liebes=, stilles Leben. Zu solchem Stübchen schlich sie aus
+dem Glanz und der Fülle des eigenen Daseins, und alles ist im Traum wie
+damals um sie her.
+
+Wie viele Jahre gehen vorüber während der kurzen Augenblicke, in denen
+sie jetzt die Augen geschlossen hält? Wechselnde Schicksale -- viel
+Sorge und Angst im Mittage des Lebens auch im eigenen Hause. Was ist
+noch übrig von alledem, was damals war? Wo sind die hohen Spiegel, die
+Purpurvorhänge, die weichen Teppiche -- die Freunde, die Bekannten der
+Jugend? Ist doch der eigene Gatte so lange schon tot und die eigenen
+Kinder; und auch die Freundin schläft ja nun lange schon unter ihrem
+grünen Hügel und steigt nur dann und wann daraus hervor in der
+=Erinnerung= und im =Traum=, und lächelnd, tröstend und Geduld anratend
+zumeist auch nur dann, wenn vorher der Besuch gekommen ist, den die
+Greisin, die arme alte Frau Johanne, bei ihrer späten, beschwerlichen
+Lebensmühe wie in der Dämmerung des heutigen Abends bei sich empfangen
+hat.
+
+Von all den guten Freunden, den lieben Bekannten ist niemand übrig, ist
+niemand treu als das Kind, das einst die Träumerin zum erstenmal
+hinüberzog aus ihrer Lebensfreude und dem Glanz ihrer Jugend zu dem Leid
+der jungen Nachbarin im schwarzen Kleide. Und dieses Kind ist erwachsen,
+ist auch eine verheiratete Frau und weit in der Ferne. -- -- --
+
+Horch, ein Schritt auf der Treppe.
+
+Ist es die Stimme des Besuchs, welche die Frau Johanne noch in ihrem
+Traume vernimmt: »Nun gehe ich und lasse dich der Wirklichkeit. Wie gern
+käme ich zu allen so wie zu dir in den bösen Stunden des Erdenlebens,
+wie gern hülfe ich allen so wie dir hinweg über die dumpfen Pausen
+zwischen euern Schicksalen; wenn ich nur nicht so oft vor die
+verschlossene Tür käme. In den Büchern heiße ich eine vornehme Frau; mit
+einem großen Gefolge hoher Söhne und Töchter schreite ich durch die
+Jahrtausende, aber gern sitze ich nieder zu den Kindern, den Armen, den
+Bekümmerten -- mit Freuden komme ich zu denen, die aus Büchern nur wenig
+oder nichts von mir wissen. Nun lebe wohl, du närrisch alt Weiblein,
+lache und weine dich aus in dem Glück der Gegenwart und Wirklichkeit und
+halte mir deine Tür offen; ich klopfe nicht gern lange vergeblich.«...
+
+Es war nur der Briefträger, dessen Schritt man auf der Treppe gehört
+hatte. Der Brief aber, den er der Frau Johanne brachte, lautete freilich
+trotz der ganzen, vollen Wirklichkeit, die er verkündete, wie
+Glockenklang und Jubelruf aus Dichtung und Wahrheit.
+
+»Meine liebe andere Mutter, ich bin so glücklich -- Franz ist daheim!
+Gesund und so bärtig wie ein Bär und so sonnenverbrannt -- entsetzlich!
+Aber es hat ihm, Gott sei Dank, nichts geschadet, und ich bin so
+glücklich, so glücklich! Gestern sind sie eingezogen, und es war so
+wundervoll, und ich hatte einen so guten Platz. Ich brauchte den Leuten
+vor mir nur zu sagen: ich habe ja auch meinen Mann darunter, und sie
+trugen mich fast auf ihren Armen in die erste Reihe. Und wir -- ich und
+viele Hunderte und Tausende von meiner Sorte, hätten fast den ganzen
+Effekt gestört. Das war ja aber auch nur zu natürlich, und kein
+Feldmarschall und sonstiger großer General und Prinz durfte etwas
+dagegen einwenden. Ich hing ihm unter den Trommeln und Trompeten, den
+Pferden und Bajonetten am Halse, und wie ich nachher nach Hause gekommen
+bin, weiß ich nicht. Nun habe ich ihn aber selber wieder zu Hause --
+ganz und heil zu Hause: es lebe der Kaiser und mein Mann und mein Kind
+und du, mein liebes zweites Mütterchen! Und nun höre nur, über acht Tage
+sind wir alle bei dir, -- er, Franz, muß dir ja sein Eisernes Kreuz
+zeigen und ich dir unsern Jungen und meinen tapfern Ritter und
+Landwehrmann, den sie mir so unvermutet mitten im vorigen Sommer von
+seinem Zeichen- und meinem Nähtisch wegholten und für das Vaterland ins
+fürchterlichste Kanonenfeuer stellten. Was haben wir ausgestanden, Mama!
+Da war es ja noch ein Segen, daß der Junge noch zu klein und dumm war,
+um schon mit einsehen zu können, was der Mensch an Ängsten und Sorgen
+auf der Erde und im Kriege aushalten muß und kann. Aber eins hat er auch
+noch zuwege gebracht, und das ist herrlich -- ich meine der Krieg und
+nicht unser Junge natürlich -- ach, ich bin immer noch so konfus und
+habe es wie tausend Glocken im Ohr und wie Ameisen in allen Gliedern!
+nämlich die Privatingenieure sind im Preise gestiegen, und unser Weizen
+blüht endlich auch einmal. -- Darüber werden wir denn recht eingehend
+reden in acht Tagen in deinem lieben Stübchen; du sollst und darfst uns
+nun nicht mehr so einsam und allein sitzen, jetzt, da es uns so gut geht
+und noch viel besser gehen wird, was wir aber um Gottes willen ja nicht
+berufen, sondern ja bei dem Wort dreimal unter den Tisch klopfen wollen!
+Wir haben alle so viel ausstehen müssen und einander so wenig helfen
+können; aber nun soll's anders werden, sagt Franz. Eine bessere Stelle
+haben wir schon, nämlich Franz, und dies hat sich schon mitten im Kriege
+gemacht, wo merkwürdigerweise nicht bloß Leute zusammengeraten, die sich
+auf den Tod hassen, sondern auch solche, die einander recht gut
+gebrauchen können. Nun sagt er, jetzt gäbe er nicht mehr nach, und
+sollte er noch dreimal so lange wie vor dem schrecklichen Metz vor dir
+in die Erde gegraben liegen und dich belagern müssen. Er erzählt
+furchtbare Dinge von seiner Hartnäckigkeit und neugewonnenen Erfahrung
+in dergleichen Kriegskunststücken; und er behauptet, es wäre gar kein
+Zweifel, jetzt kriegte er dich -- wir kriegten dich! O könnten wir's dir
+doch zum tausendsten Teil vergelten, was du so viele kümmerliche Jahre
+durch bis in unsere Brautzeit und bis zu unserer Heirat an uns getan
+hast!
+
+Ich glaube meinem Manne natürlich auf sein Wort, daß du jetzt zu uns
+kommen wirst, aber ich verlasse mich eigentlich doch noch mehr auf
+meinen Jungen. Was soll das arme Kind ohne dich anfangen,
+Großmütterlein; jetzt, wo es anfängt zu laufen und ich doch nicht ewig
+aufpassen kann? Großmütterchen, du gehörst zu unserm Richard wie die
+Stadt Metz wieder zum Deutschen Reich, was aber eine recht schlechte
+Vergleichung ist; ich kann aber nichts dafür, weil ich als jetzige
+glorreiche Kriegsfrau so kurz nach den vielen Siegen und Eroberungen
+mich nur in solchen Vergleichungen bewegen kann und übrigens auch eben
+keine andere wußte.
+
+Wir mieten natürlich eine größere Wohnung, und es wird ein Leben wie in
+Frankreich, wo es freilich, wie Franz meint, die letzte Zeit durch kein
+gutes Leben gewesen ist, was also eigentlich wieder nicht paßt. Nein,
+wir wollen leben in Deutschland, wie ich es mir als das Schönste denke;
+und denke du dir es auch so lieb, als wenn alle Dichtung auf Erden, wenn
+du diesen Brief bekommst, eben zum Besuch bei dir gewesen wäre und dich
+leise auf unsere Pläne und Absichten mit dir vorbereitet hätte, daß dir
+der Schrecken nichts schade! Was ich dir eigentlich schreibe, weiß ich
+gar nicht, und den Jungen habe ich auch beim Schreiben auf dem Schoße.
+* Dieser Klex kommt auf seine Rechnung, denn greift er mir nicht in die
+Frisur, so führt er mir mit die Feder.
+
+Und nun nichts mehr; denn in acht Tagen sind wir bei dir; und obgleich
+ich hier jetzt an keiner Stunde am Tage was auszusetzen finde, so wollte
+ich doch, daß es erst über acht Tage wäre, um dir Auge in Auge, Mund auf
+Mund sagen zu können, wie ich bis in den Tod dein dankbares Kind bin und
+bleibe, du meine zweite Herzensmutter!«...
+
+Die Frau Johanne hat viel Unglück im Leben gehabt. Eigene Familie hat
+sie nicht mehr, ihr Mann ist tot, ihre Knaben sind ihr schon als Kinder
+genommen, ihren Wohlstand hat sie auch verloren, und doch gibt es keine
+andere Frau in der Stadt, die in dieser Stunde so glückliche Tränen
+weint wie diese, welche nie dem Besuch, der in der Dämmerung bei ihr
+war, die Tür verschloß, und die an seiner Hand in den Traum sich leiten
+ließ, bis die Wirklichkeit anklopfte und ihr die reife liebliche Frucht
+jenes »Einfalls« und Nachbarschaftsbesuchs der Tage der Jugend in den
+Schoß legte.
+
+
+
+
+ ******************************
+ * *
+ * Auf dem Altenteil *
+ * *
+ * Eine Silvester-Stimmung *
+ * *
+ ******************************
+
+
+
+
+ I.
+
+
+Sie hatten den Senioren der Familie alle Ehre angetan, wie sich das denn
+auch wohl so von Rechts wegen gebührte; aber der Lärm wurde den
+weißhaarigen Herrschaften allmählich doch ein wenig zu arg. Die alte
+Dame, die immer noch um ein paar Jahre jünger war als der alte Herr,
+hatte dem letzteren ein ihm schon längst wohlbekanntes kopfschüttelnd
+Lächeln gezeigt, welches weiter nichts bedeutete als:
+
+»Kind, Kind, bedenke den Morgen und deinen Rheumatismus! Es hat alles
+seine Zeit, und ich glaube, die unsrige ist jetzt vorhanden.«
+
+Der alte Herr hatte zuerst ganz erstaunt aufgesehen und sein Weib an:
+Nicht mehr bis Mitternacht, und in das neue Jahr hinein? Ei, ei, ei --
+hm!
+
+»Hm,« sagte der alte Herr, in dem fröhlichen Kreise erhitzter Gesichter
+umherblickend; »es hat freilich alles seine Zeit; aber es ist
+sonderbar, und, liebe Kinder, es kommt einem ganz kurios vor, wenn auch
+dieses -- zum erstenmal Zeit wird!«
+
+Dabei hatte er sich aber bereits etwas mühsam aus seinem Sessel erhoben.
+Den Kopf schüttelte er auch; jedoch ohne dabei zu lächeln wie seine
+Frau.
+
+»Du hast recht, Anna; es ist unsere Zeit gekommen, und so wünsche ich,
+wünschen wir euch jungem Volk --«
+
+Von einem Gewissen war bei diesem »jungen Volk« natürlich nicht die
+Rede. Dazu waren sie sämtlich (auch die Ältesten unter ihnen) noch viel
+zu jung, und viel zu vergnügt und viel zu aufgeregt durch die uralten,
+ewig jungen Stimmungen der letzten Stunden des scheidenden Jahres. Ein
+Gewühl von blonden und braunen Köpfchen und Köpfen, von Händen und
+Händchen erhob sich um die beiden Greise; und alle Verführungskünste,
+deren die Menschheit in ihrer Erscheinung als Familie in der
+Silvesternacht fähig ist, waren zur Anwendung gebracht worden.
+
+Einmal noch schadete es sicherlich gewiß nicht!... Großpapa und
+Großmama hatten noch nie so munter ausgesehen!... Es ging ja niemand zu
+Bett vor Mitternacht, selbst die Jüngsten nicht!...
+
+»Nun, Mutter! Einmal noch? Was meinst du?« Kleine weiße Händchen --
+weiße beringte Hände hatten ihre Verführungskünste nicht ohne Erfolg
+versucht; nun legte sich statt anderer Antwort auf die Frage des alten
+Herrn wieder eine Hand auf die seinige. Das war aber keine weiche, keine
+weiße, keine kräftige mehr; aber eine starke und treue war es auch;
+vielleicht wohl die stärkste und treueste.
+
+»Die Großmutter hat recht! Es hat alles seine Zeit, und die unsrige ist
+gekommen. Junges Volk, wir werden zu Bette geschickt von ihr, der Madame
+Zeit, während die Jüngsten aufbleiben dürfen. Der Kopf summt uns zu sehr
+morgen früh, wenn wir uns dagegen sperren und wehren; und es ist zwar
+hübsch von Großmama, wenn sie nur von Rheumatismus spricht; aber das
+rechte Wort ist es eigentlich nicht. Sie hätte ganz dreist Gicht sagen
+können, gerade so gut wie der Herr Schwiegersohn und _Doctor medicinae_
+da hinter seinem Punschglase, wenn er jetzt ein Gewissen hätte. Liebe
+Kinder, wir sind beide über siebenzig Jahre alt, und --«
+
+»Oh!...«
+
+»Und wir sind sehr glücklich und behaglich. Sehr wohl ist uns zumute
+und so wünschen wir euch allen zum erstenmal vor Ablauf des alten Jahres
+ein glückliches neues.... Bitte, lieber Sohn, ich weiß, was du sagen
+willst; aber wende dich damit an die Mama, die wird dich versichern, daß
+deine Frau, unsere liebe Sophie da, heute über dreißig Jahre sicherlich
+gleichfalls viel verständiger sein wird, als du. Wende dich an deine
+Mutter, mein Schmeichelkätzchen Marie. Sie hat immer gemeint, du seiest
+ganz ihr Vorbild, also wirst du wohl wissen, was in vierzig Jahren in
+der Neujahrsnacht deine Meinung sein wird, wenn die unverständige Jugend
+dir deinen Mann da verführen will. Schieben Sie die Kinder nicht so
+heran, lieber Schwiegersohn, sie machen der Großmama nur das Herz
+schwer. Es ist Zeit geworden für uns; -- -- -- ein fröhliches,
+segensreiches Jahr ihr -- alle!...«
+
+»Alle!« jubelten sie, und die Gläser hatten geklungen, und die Kinder,
+die Enkel hatten sich zugedrängt und ihre kleinen Becher hingehalten,
+ohne daß man sie dazu zu schieben brauchte. Sie hatten sehr gejubelt;
+und die Tonwellen der Gläser und der Stimmen waren verklungen.
+
+»Nun seid weiter vergnügt; aber die Kinder laßt ihr mir morgen
+ausschlafen. Begleitung nehmen wir nicht mit, die Trepp' hinauf. Wir
+finden unseren Weg schon allein, nicht wahr, Walter?« sagte die alte
+Dame, die Großmutter des Hauses.
+
+
+
+
+ II.
+
+
+Sie entschlüpften, wie man entschlüpft, wenn man das siebenzigste
+Lebensjahr hinter sich hat. Langsam stiegen die beiden die
+teppichbelegte Treppe in ihre Stube hinauf, der Greis gestützt auf den
+Arm der Greisin; und dann waren sie allein miteinander, noch einmal
+allein miteinander in der Neujahrsnacht.... Umgesehen hatten sie sich
+nicht auf der Treppe und einen leisen Schritt, einen Kinderschritt, der
+ihnen nachglitt, den hatten sie überhört. Ein so scharfes Ohr, wie vor
+Jahren, hatte keins von den zwei Alten mehr; aber diesen Schritt, diesen
+Geister-Kinderschritt würde auch wohl jedes andere jüngere Ohr überhört
+haben. --
+
+Auf dem Altenteil! Das kann eines der bittersten Worte sein, die das
+Schicksal den Menschen in dieser Welt zuruft; aber auch eines der
+behaglichsten. Für diese beiden Alten war es nach langer schwerer,
+mühseliger Arbeit ein behagliches geworden. Sie fanden ihre Gemächer
+durch ein verschleiertes Lampenlicht erhellt, ihre beiden Lehnstühle an
+den warmen Ofen gerückt und:
+
+»Mit dem Schlage Zwölf komme ich doch und poche an eurer Kammertür und
+spreche meinen Wunsch durchs Schlüsselloch. Ihr braucht aber nicht
+darauf zu hören; ich schicke ihn euch auch in den Schlaf hinein!« hatte
+das jüngste und am jüngsten verheiratete Töchterlein als letztes Wort im
+Festsaale da unten gesagt.
+
+»O mein Gott, da sitzt ihr noch?« rief dieselbe junge Frau unter dem
+Glockenklang und dem Neujahrschoral von den Türmen, unter dem plötzlich
+aufklingenden Gassenjubel und dem Jubel der Kinder und Enkel in dem
+Saale des Hauses. »Das ist doch ganz wider die Abrede, und heute übers
+Jahr werden wir euch da unten bei uns fester halten, ihr Lieben, Bösen,
+Besten!... Ein glückliches neues Jahr, Großpapa! ein glückliches neues
+Jahr, Großmama!«
+
+Da stand ein niedrig lehnenloses Sesselchen mit einem verblaßten
+gestickten Blumenstrauß darauf neben den zwei Stühlen der Greise. Die
+junge Frau, nachdem sie den Vater und die Mutter mit ihren Küssen fast
+erstickt hatte, saß nieder auf dem kleinen Stuhl und hatte keine Ahnung
+davon, wer eben vor ihr darauf gesessen und die Mutter und den Vater
+gegen die Abrede und gegen ihren eigenen festen Vorsatz wach gehalten
+hatte über die Mitternachtsstunde hinaus und aus dem alten Jahr in das
+neue hinein! Mit leise bebender Hand strich die alte Frau die blonden
+Haare der Tochter aus dem lebensfreudigen, glühenden, erhitzten
+Gesichte. Die blonden Locken, die sich eben vor ihr ringelnd bewegt
+hatten, waren schon vor vierzig Jahren zu Staub und Asche geworden: die
+junge Frau wußte nichts von ihnen, oder doch nur gerüchtweise. Lange vor
+ihrer Geburt war das erste, das älteste Kind gestorben, zwölf Jahre alt.
+Ein halbverwischtes Pastellbildchen, das über der Kommode der Mutter,
+der Großmutter des Hauses, hing, war alles, was von ihm übrig geblieben
+war in der Welt.
+
+Alles?
+
+
+
+
+ III.
+
+
+Ein leiser Schritt, ein unhörbarer Schritt; -- ein Geister-Kinderschritt
+in der Silvesternacht!... Wir haben gesagt, daß die beiden Greise vor
+einer Stunde die Treppe zu ihren Gemächern hinaufgestiegen und ihn, wie
+wir übrigen alle, nicht vernahmen. Ganz war es doch nicht so.
+
+Als der alte Herr der alten Dame mit immer noch zierlicher Höflichkeit
+die Tür öffnete, um sie zuerst über die Schwelle treten zu lassen, hatte
+die Frau einen Augenblick gezögert und zurückgesehen und gehorcht.
+
+Der alte Herr glaubte, sie horche noch einmal auf den fröhlichen Lärm,
+auf das heitere Stimmengewirr der Neujahrsnacht dort unten im Festsaal
+des Hauses.
+
+»Sie sind gottlob recht heiter,« meinte er, »wüßte auch nicht, weshalb
+nicht. Und auch wir, -- Mutter! -- nicht wahr, Alte?... Wie spät ist es
+denn eigentlich? Elf Uhr! Noch früh am Tage, wenngleich wirklich ein
+wenig spät im Jahre.«
+
+»Ja, Walter!« hatte die Greisin erwidert, aber nur, um doch eine Antwort
+zu geben. »Ich hörte eigentlich nicht auf dich; ich dachte an unser
+Ännchen,« fügte sie hinzu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen
+hatte und sie in der letzten Stunde des ablaufenden Jahres mit sich
+allein waren.
+
+
+
+
+ IV.
+
+
+Das junge Volk! Längst hat es drei Viertel des Hauses nach seinem
+Geschmack und Bedürfnis eingerichtet und mit vollem Rechte des Lebens.
+An das Reich der beiden Alten hat keine Hand gerührt; außer dann und
+wann eine Kinderhand, deren volles Recht des Lebens es freilich ist und
+immerdar sein wird, in der Großväter und der Großmütter Hausrat,
+Schubladen und Schränken zu wühlen und zu kramen und sich die vom Anfang
+der Welt an dazugehörigen erstaunungswürdigen, lustigen und traurigen
+Geschichten erzählen zu lassen.
+
+Es war einmal!... oh, noch einmal von dem, was war!... Und so war es
+gekommen, daß die jüngste Tochter des Hauses die Eltern um Mitternacht
+noch wach fand unter den Glocken, die das neue Jahr einläuteten. Eine
+Kinderhand aber war es wiederum gewesen, die an den Schleiern der
+Vergangenheit gezupft hatte: »Es war einmal! Ich bin da! -- Mama, du
+sagst in dieser Stunde nicht: Man hat doch keinen Augenblick Ruhe vor
+dir, Kind! -- Ich bin da; und nun laßt mich sitzen auf meinem Stuhl,
+laßt uns erzählen: Es war einmal!... laßt uns erzählen von dem, was
+einmal war!«...
+
+Und sie hatten davon erzählt, die beiden Greise nämlich. Das Kind hatte
+nur drein gesprochen.
+
+»Sie wäre gewiß auch eine stattliche Frau und eine gute geworden,« sagte
+die alte Dame. »Ich meine, am meisten hätte sie wohl der Theodore
+geglichen, wenn wir sie behalten hätten, das liebe Kind. Sie haben alle
+da unten, -- unsere meine ich, Papa! -- ein hübsches lustiges Lachen;
+aber ich kann nichts dafür, ich muß es sagen: wie das Kind, unser
+Ännchen, ist doch keins so glücklich in seinem Lachen gewesen. Die
+andern kennen wir ja auch nun schon lange mit ihren Sorgen und ihren
+Nöten und ihren unnützen Ärgernissen. Keins von ihnen lacht und kreischt
+und kichert so wie mein Ännchen es tat. Hätten wir die Enkel nicht, so
+würde das Haus wohl manchmal still genug sein; -- selbst dir, Großpapa.«
+
+Da war das Lachen, das vor so langen, langen Jahren zuerst das Haus hell
+und heiter gemacht hatte! Auch der alte Herr, der Großpapa, dem das
+Haus nie ruhig genug sein konnte, kannte es ganz genau.
+
+»Also, ihr wißt es doch noch, wie es war, als wir drei allein waren, und
+dein Haar noch nicht so weiß, Vater; und auch deines nicht so hübsch
+grau, mein Mütterchen, und ich euer liebes, einziges Mädchen! Hier sitze
+ich auf meinem Stuhl und behalte mein Recht, allen meinen Schwestern und
+Brüdern und allen meinen Nichten und Neffen zum Trotz. Ich bin die
+Älteste! Wer auch nach mir gekommen ist, wie viele auch gesessen haben
+auf diesem Schemelchen -- mir gehört es, mir habt ihr es hierher
+gestellt; das ist mein Sitz am Herde! Wer kann mir meinen Platz nehmen
+in eurer Seele? wer in dem Hause, das ihr gebaut habt und in dem ihr
+mich einmal euer Glück nanntet?!«
+
+»Du hast recht, Mutter,« sagte der alte Herr; »ich weiß eigentlich
+nicht, wie wir gerade jetzt darauf kommen; aber das Kind hat immer zu
+mir, -- zu uns gehört. Nur weil wir es wußten, haben wir nicht immer
+dran gedacht. So geht es aber mit allem Wissenswürdigen in der Welt.«
+
+»Mein Ännchen!« seufzte einfach die Greisin; doch die blonden Locken
+wurden wie mutwillig von neuem geschüttelt, und wieder legte sich der
+kleine Finger schalkhaft auf den Mund: »Ja, ich war immer da, wenn ihr
+auch nicht an mich zu denken glaubtet: an manchem schwülen Sommertage,
+in mancher kalten, dunkeln, trostlosen Winternacht. An manchem Feste in
+der lichtstrahlenden Winternacht, an manchem sonnigen, seufzervollen
+Frühlingsmorgen. Jetzt haben die andern da unten im Saale euere Sorgen,
+Freuden und Arbeiten. Ihr aber habt Zeit für mich. Eure andern, die nach
+mir gekommen sind, haben mir wohl mein altes Spielzeug verkramt und
+zerbrochen; aber mein Plätzchen im Hause haben sie mir nicht nehmen
+können. Ich habe es ihnen nur geliehen, einem nach dem andern; doch mein
+Eigentum ist es und bleibt es; nicht wahr, Papa und Mama?! Ihr habt zwar
+unter den andern gottlob nun auch wieder ein Ännchen -- ein Enkelkind
+mit meinem Namen -- aber das tut nichts, wir vertragen uns schon um
+diesen kleinen Stuhl und um -- euch!... Es war wohl ein kleiner Sarg,
+in den ihr mich legen mußtet; aber -- ich bin immer über meine Jahre
+klug gewesen. Ich habe es wohl oft heimlich erlauscht, wenn ihr das über
+mich sagtet. Damals wußte ich freilich nicht recht, was ihr damit sagen
+wolltet, und ob es eigentlich ein Lob für mich sei; jetzt aber weiß ich
+es. Ei ja, ich bin sehr klug für meine Jahre gewesen! nun lacht nur, wie
+ihr damals geweint habt, als ich von euch weggeführt wurde und nicht
+über die Schulter zurücksehen durfte. Seht ihr wohl, da lächelt ihr
+wenigstens schon. Die Jahre sind nun hingegangen; lange, lange Jahre!
+Heute abend habt ihr euch vorgenommen, noch einmal jung zu sein mit
+euren Kindern und Enkeln. Es ist euch auch wohl gelungen, doch nicht
+ganz. Ganz jung seid ihr erst jetzt wieder, da ich mich zu euch gesetzt
+habe, ich -- euere Älteste und euere Jüngste. Nimm meinen Krauskopf
+wieder zwischen deine Hände, Mutter, laß mich wieder auf deinem Knie
+sitzen, Väterchen; draußen schneit es sehr, und der Nordwind bläst, und
+es ist spät in der Nacht; ihr aber schickt mich diesmal noch nicht zu
+Bett; -- wir wollen jetzt einander noch nicht zu Bette schicken; wir
+wollen noch einmal ein Weilchen sitzen und erzählen von =dem, was einmal
+war=.«
+
+
+
+
+ V.
+
+
+Sie hatten nur noch fünf Minuten in ihren Großväterstühlen neben dem
+Ofen sitzen wollen, um sich von dem Feste, dem Händedrücken, all den
+Küssen und guten Wünschen zu dem neuen kommenden Jahre ein wenig zu
+erholen, wie es den ältesten Leuten in der Familie geziemt in der
+Silvesternacht, während die Jugend um die lichterglänzende Festtafel
+weiter jubelt und lärmt, nach der Uhr sieht und den Sekundenzeiger mit
+lachendem Auge verfolgt bis heran an den neuen ernsten Grenzstein ihrer
+Erdenzeit. Und sie, die bereits Greise waren, hatten nicht nach der Uhr
+gesehen; sie hatten gar nicht einmal daran gedacht. Die Sekunden der
+letzten Stunden des Jahres waren ihnen dahingeglitten, wie die vielen,
+langen arbeitsvollen, inhaltreichen Jahre ihres Daseins selber bis in
+dieses jüngste und das eben vor der Tür stehende hinein.
+
+»Du fragst wohl, Vater, wie wir gerade jetzt darauf kommen, und sagst,
+daß du an das Kind lange nicht gedacht hast,« sagte die alte Dame. »Es
+ist freilich lange her, daß wir ihren kleinen Sarg dort in dem Saale, wo
+sie jetzt gottlob so lustig sind, aufstellen mußten. Wie wunderlich es
+doch ist, daß ich gerade jetzt darauf komme, was für eine schöne
+Sommernacht es war, in welcher sie starb! Horch jetzt nur, wie der Wind
+den Schnee gegen die Fenster treibt. Wir haben die andern alle behalten
+und wir haben an unseren Kindeskindern Freude; aber an unsere Älteste
+habe ich doch immer gedacht. Was würde aus den Kindern werden, wenn ihre
+Mütter nicht immer an sie dächten. Selbst die Gestorbenen können ohne
+ihre Mutter nicht auskommen. -- Horch, wie sie es da unten treiben!
+eigentlich ist es recht unrecht von ihnen, daß sie auch die Jüngsten so
+lange aus dem Bette zurückhalten, und ich werde ihnen morgen früh auch
+jedenfalls meine Meinung darüber sagen. -- Als =sie= in ihrem Fieber
+lag, saß ich auch und zerrang mir die Hände und fragte mich Tag und
+Nacht, was ich hätte anders machen können, damit das Schreckliche nicht
+so zu kommen brauchte. Du warst wohl vernünftiger, wenn du aus deinem
+Kontor heraufkamst und mir zuredetest, Geduld zu haben. Wie konnte ich
+wohl verständig sein und Geduld haben? Und man sucht doch immer so, wie
+man einem andern die Schuld geben kann, und wäre man das auch selber!«
+
+»Ich meine, Mutter, wir geben das auf, uns den Kopf darüber zu
+zerbrechen, und noch dazu so spät in der Nacht, im Jahr und in den
+Jahren,« sprach der alte Herr, wiederum sehr vernünftig; und dann
+sprachen sie bis zu dem ersten Glockenschlage der Mitternacht nichts
+mehr miteinander. Dagegen aber füllte sich ihre Stube immer mehr mit den
+Bildern und den Klängen der Vergangenheit. Und der liebliche Spuk der
+Silvesternacht hatte nicht das geringste vom Phantasten an sich. Das
+älteste Kind des Hauses war noch einmal im vollen blühenden Leben Herrin
+im Reich und fand all sein altes verkramtes Spielzeug wieder, wie -- die
+zwei weißhaarigen Greise. Sie paßten wieder ganz zueinander, die Eltern
+und das Kind: der dunkle, geheimnisvolle Vorhang der Zukunft hatte sich
+bewegt, und es war eine Kinderhand, die sich aus den schwarzen Falten
+weiß und zierlich hervorstreckte und winkte. Sie aber, die Fröhlichen da
+unten im Festsaale des Hauses, hatten dem Vater und der Mutter, dem
+Großvater und der Großmutter -- den beiden Alten ein glückliches, ein
+segensreiches neues Jahr gewünscht und hatten zwischen Becherklang und
+lustigem Lachen ihren Wunsch wehmütig ernst gemeint, wie sich das
+gebührte.
+
+»Wie gut der Papa und die Mama heute abend aussahen,« meinten sie. »Es
+ist doch eine Freude, wie frisch sie sich erhalten und wie sie noch an
+allem teilnehmen. Aber verständig war es doch, daß sie nicht über ihre
+Zeit bei uns sitzen blieben. Morgen früh hätten wir uns doch Vorwürfe
+gemacht, wenn wir sie noch länger gequält hätten, das Vergnügen nicht
+durch ihr Weggehen zu stören.... Jetzt aber auf die Uhr gesehen! in
+fünf Minuten wird es Zwölf schlagen; -- ein bißchen leise, Kinder, daß
+=wir die alten Leute nicht wecken!=«...
+
+Zwölf Uhr und -- ein neues Jahr! Alle guten Geister haben einen leisen
+Schritt und gehen auf weichen Sohlen; so schlich sich die jüngste
+Tochter des Hauses weg aus dem jubelnden Kreis, glitt die Treppe hinauf
+und horchte an der Tür der »alten Leute«, die durch den Becherklang, die
+lauten Glückwünsche und alles, was sonst noch in die Stunde gehört,
+nicht gestört werden sollten in ihrer Ruhe auf dem Altenteil.
+
+»O mein Gott, da sitzt ihr noch? Das ist doch ganz wider die Abrede! Sie
+meinen alle da unten, daß ihr längst in den Federn liegt und euch
+behaglich in das neue Jahr hinübergeträumt habt.«
+
+»Das letztere haben wir auch getan, mein Kind,« sagte der alte Herr
+nachdenklich lächelnd.
+
+»Oh, und nun müßte ich sie alle -- alle die übrigen auch noch
+heraufrufen, daß sie euch ihre Meinung sagen. Sie werden es mit Recht
+sehr übel nehmen, wenn ich's nicht auf der Stelle tue, Mama!«
+
+»Laß es lieber, mein Herz,« meinte die alte Dame, leise die blonden
+Flechten vor ihr, die noch nicht Staub und Asche geworden waren,
+streichelnd. »Es würde den Vater doch zu sehr aufregen, und wir gehen
+nun wirklich gleich zu Bett. Wir haben vorher nur noch ein wenig an
+allerlei gedacht, was vor eurer -- vor deiner Zeit war.«
+
+»Ach ich bin so glücklich!« rief die junge Frau. »Wir sind so vergnügt
+da unten an unserem Tische, und ihr hier in euerer lieben, alten, guten
+Stube seht so jung aus und so hell aus den Augen, wie das Jüngste von
+uns -- euern andern! Oh, und mein Franz ist so drollig; der Mensch ist
+mir fast ein wenig zu ausgelassen, oh -- und also noch einmal: ein
+fröhliches, glückliches, gesegnetes neues Jahr euch vor allen und -- uns
+andern auch!«
+
+»Ja, ja!« sagten die =alten Leute= leise zu gleicher Zeit und nickten
+freundlich ihre Zustimmung zu dem guten Wunsch.
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis /
+Ein Besuch / Auf dem Altenteil, by Wilhelm Raabe
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44639 ***
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+<p>The cover image was created for this edition and is placed in the public domain.</p>
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+<div class="transnote">
+<p class="tn-header">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="noindent">Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt.
+Text, der im Original in Antiqua gesetzt ist, ist hier <i>kursiv</i>
+dargestellt.
+Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen;
+nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
+</p>
+</div>
+
+<p class="center huge" style="margin-top:1em"><b><i>Wilhelm Raabe</i></b></p>
+<hr class="r50"/>
+<p class="center huge"><span class="gesperrt"><b><i>Bücherei</i></b></span></p>
+<h1 class="center big"><i>Erste Reihe:<br />
+Kleinere<br />
+Erzählungen</i></h1>
+<hr class="r10"/>
+<p class="center big" style="padding-top:2em"><i>Zweiter Band</i></p>
+<p class="center big" style="padding-top:2.5em"><i>Berlin-Grunewald</i></p>
+<p class="center big" style="margin-bottom:0.5em"><i>Verlagsanstalt für Litteratur und
+Kunst/Hermann&nbsp;Klemm</i>
+</p>
+
+<p class="center huge newstory" style="margin-top:1em"><b><i>Wilhelm Raabe</i></b></p>
+<hr class="r50" />
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Junker">Der Junker von Denow</a></i></b></p>
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Geheimnis">Ein Geheimnis</a></i></b></p>
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Besuch">Ein Besuch</a></i></b></p>
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Silvester">Auf dem Altenteil</a></i></b></p>
+<p class="center big"><i>Erzählungen</i></p>
+<hr class="r10"/>
+<p class="center big"><i>Dritte Auflage<br />
+11.-16. Tausend</i></p>
+
+<p class="center big" style="padding:1em"><i>Berlin-Grunewald<br />
+Verlagsanstalt für Litteratur und
+Kunst/Hermann&nbsp;Klemm</i>
+</p>
+
+<p class="center" style="padding-top:10%">
+Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig<br />
+Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz<br />
+Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig<br />
+</p>
+
+<p class="newstory"></p>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Junker">
+Der<br />
+<span class="big">Junker von Denow</span><br />
+Historische Novelle<br />
+</a>
+</h2>
+
+<h3><a name="JunkerI" id="JunkerI">I.</a></h3>
+
+<p class="startchap">
+<img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>er am Abend des sechsten Septembers alten
+Stils, am Donnerstag vor Mariä Geburt
+im Jahre unsers Herrn Eintausendfünfhundertneunundneunzig,
+nach Sonnenuntergang einen
+Blick aus der Vogelschau über die Rheinebene von Rees
+bis Emmerich und weit nach Ost und West ins Land
+hinein hätte werfen können, der würde eines erschrecklichen
+Schauspiels teilhaftig geworden sein.</p>
+
+<p>Schwarze regendrohende Wolken verhingen das
+Himmelsgewölbe, und es würde eine dunkle Nacht gewesen
+sein, wenn nicht der Mensch diesmal dafür gesorgt
+hätte, daß es auf der weiten Fläche nicht ganz finster
+wurde. Auf den Wällen von Rees leitete, an der
+Spitze seiner Hispanier, Burgunder und Wallonen, Don
+Ramiro de Gusman die Verteidigung der Stadt und
+Festung gegen das Reichsheer, welches schläfrig und
+matt genug der Belagerung oblag, dafür aber auf
+andere Weise desto mehr Lärm machte, wie es einer
+Armee des heiligen römischen Reichs deutscher Nation
+zukam. Ein fahles, blitzartiges Leuchten lag hier über
+der Gegend, denn wenn auch das schwere Geschütz seit
+Mittag schwieg, so knatterte doch das Musketenfeuer,
+schwächer oder stärker, rund um die Stadt fort und fort,
+und manch ein Wachtfeuer flackerte auf beiden Ufern
+des Flusses, welcher manche Leiche in seinen nachtschwarzen
+Fluten mit sich hinab führte in das leichenvolle
+Holland, wo der finstere Admiral von Aragonien,
+Don Francisco de Mendoza, und der Sohn der schönen
+Welserin, der bigotte Kardinal Andreas von Österreich,
+die Zeiten Albas erneuerten. &mdash;</p>
+
+<p>Wir haben es jedoch nur mit der rechten Seite des
+Rheines zu tun, wo tief in das Land hinein unter den
+zusammengewürfelten Tausenden des Reichsheeres,
+Hessen, Brandenburgern, Braunschweigern, Westfalen,
+der <i>furor teutonicus</i>, die sinnlose, trunkene, deutsche
+Furie ausgebrochen war und in Verwüstungen aller
+Art sich Luft machte. In allen Dörfern und Lagerplätzen
+Sturmglocken, Trommeln und rufende Trompeten
+&mdash; Geschrei und Jammer des elenden, geplünderten,
+mißhandelten Landvolkes &mdash; bittende, drohende
+Befehlshaber &mdash; flüchtende Herden, Weiber, Kinder,
+Kranke, Greise &mdash; Reitergeschwader, die sich sammelten,
+Reitergeschwader, die auseinanderstoben &mdash; brennende
+Häuser und Zeltreihen, und zwischen allem die Cleveschen
+Milizen, die &bdquo;Hahnenfedern&ldquo;, zur Wut gebracht durch
+die Ausschweifungen derer, welche da Hilfe bringen
+sollten gegen die Ausschweifungen des fremden Feindes!
+Überall Blut und Feuer und Brand &mdash; ein unbeschreibliches,
+wüstes, grauenhaftes Durcheinander, zu dessen
+Schilderung Menschenrede nicht hinreicht!...</p>
+
+<p>Lange genug hatte an diesem Abend Don Ramiro,
+hinter seiner Brustwehr an eine zerschossene Lafette
+gelehnt, hinübergeschaut nach den Laufgräben und
+Angriffswerken der tollgewordenen Belagerer; jetzt
+stieg er langsam herab von seinem Lugaus, und begleitet
+von zwei Fackelträgern und mehreren seiner Unterbefehlshaber
+schritt er durch die Gassen von Rees,
+dessen zitternde Bewohner jedes Fenster hatten erhellen
+müssen, und dessen Straßen dumpf dröhnten
+unter den Schritten der gegen die östlichen Ausfallspforten
+heranmarschierenden Besatzung.</p>
+
+<p>&bdquo;Francisco Orticio!&ldquo; sagte der spanische Kommandant,
+und im nächsten Augenblick stand der Geforderte
+vor ihm.</p>
+
+<p>&bdquo;Alles bereit?&ldquo; fragte Don Ramiro wieder.</p>
+
+<p>Der gerüstete Führer senkte stumm den Degen und
+wies mit der Linken auf die Haufen der Krieger, welche
+jetzt alle an den ihnen bestimmten Plätzen dicht gedrängt,
+regungslos standen. Des Spaniers Auge flog mit
+düsterer Befriedigung über all diese im Glanz der
+Fackeln blitzenden Harnische, Sturmhauben, Piken und
+Schwerter &mdash; er nickte. &bdquo;Sie würden sich da draußen
+untereinander selbst fressen, gleich den hungrigen
+Wölfen,&ldquo; sagte er, &bdquo;aber wir wollen zur Ehre Gottes
+und der heiligen Jungfrau&ldquo; &mdash; hier lüftete er den Hut,
+und alle Umstehenden taten das Gleiche &mdash; &bdquo;unsern
+Teil an dem Verdienst haben, die Ketzer zu vertilgen!
+Erinnert Euch, Orticio, mit dem Schlage Elf beginnt
+das Feuer wiederum &mdash; mit dem Schlage Elf hinaus
+auf sie! Spanien und die Jungfrau! die Losung.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;An eure Plätze, ihr Herren!&ldquo; erschallte das
+Kommandowort Francisco Orticios &mdash; ein dumpfes
+Gerassel und Geklirr der sich aneinander reibenden
+Harnische &mdash; Don Ramiro de Gusman schritt langsam
+prüfend die Reihen entlang; dann stieg er schweigend
+wieder zu dem Walle empor, nach einem letzten Wink
+und Gruß für Orticio, welcher sein Wehrgehäng
+fester zog.</p>
+
+<p>&bdquo;Noch eine halbe Stund&rsquo;! Spanien und die Jungfrau,
+Spanien und die Jungfrau!&ldquo; ging es dumpf
+durch die Reihen der harrenden Krieger. &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Unsere Geschichte beginnt!</p>
+
+<p>&bdquo;So hole der Teufel die meineidigen Schufte und
+meuterischen Hunde!&ldquo; schrie der Hauptmann Burghard
+Hieronymus Rußwurmb in Verzweiflung, im Lager
+der dreizehn Fähnlein gewappneter Knechte, Reisiger
+und Fußsöldner, welche Herr Heinrich Julius, postulierter
+Bischof zu Halberstadt, Herzog zu Braunschweig und
+Lüneburg als Obrister des niedersächsischen Kreises
+zufolge des Koblenzschen Reichsabschieds für diesen
+Krieg geworben und aus aller deutschen Herren Ländern
+zusammengebracht hatte. &bdquo;Ist denn die Welt ganz
+umgekehrt? Es ist zum Rasendwerden!... So schlage
+zum letzten Mal die Trommel, Hans Niekirche &mdash; o
+heiliges Wort Gottes, das ist das Jüngste Gericht!&ldquo;</p>
+
+<p>Hans Niekirche aus Braunschweig, der Trommelschläger,
+ein blutjunger Wicht, welcher einem Schneider
+seiner Geburtsstadt aus der Lehre gelaufen war, hatte,
+hierhin gestoßen, dahin gezerrt, sich fast zwischen die
+langen Beine seines Hauptmanns gerettet und fing
+nun mit zitternden Händen von neuem an, das Kalbfell
+zu bearbeiten; während der Hauptmann hin und
+her lief, mit beiden Händen das Haupthaar durchwühlend.
+Er hatte wohl das Recht, zornig zu sein, der
+Wackere! Dicht hinter sich hatte er ein geplündertes
+Bauernhaus, dessen Fenster und Türen eingeschlagen
+waren, und auf dessen Schwelle ein junges Weib mit
+zerrissenen Kleidern, in der im letzten Krampf zusammengekniffenen
+Hand ein Büschel roter Haare, leblos ausgestreckt
+lag. An sein linkes Bein hing sich jetzt auch noch
+ein arm Kindlein in seiner Todesangst, zu seiner Rechten
+schlug Niekirch seine Wirbel, und rings um ihn her schrie
+und stampfte, fluchte und drohete sein meuterisch Fähnlein
+und rasaunte durcheinander, wie ein aufgestört
+Rattennest.</p>
+
+<p>&bdquo;O ihr Schelme, ihr Hunde, das soll euch heimgezahlt
+werden!&ldquo; brüllte der Hauptmann. &bdquo;Warte,
+Hans Diroff von Kahla, warte, Koburger, Christoph
+Stern von Saalfeld, an den Galgen und aufs Rad
+kommt ihr; oder die Gerechtigkeit ist krepiert auf Erden.
+Warte, du Schmalz von Gera, dein Fett soll all werden,
+wie eine Kerze im Feuer! O Tag des Zorns, o Hunde!
+Hunde!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Gebt Raum, Hauptmann!&ldquo; schrie ein riesenhafter
+Kerl, genannt Valentin Weisser von Roseneck, dem
+Führer den Büchsenkolben vor die Brust setzend. &bdquo;Ihr
+seid die Verräter, die Schelme, Ihr und Eure saubern
+Gesellen und Euer Graf von Hohenlohe, der Holländer!
+Wollt Ihr uns nicht etwa über das Wasser, über den
+Rhein, von des Reiches Boden führen? He, sprecht!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nicht über den Rhein! nicht über den Rhein! nicht
+vor Bommel! nicht vor Bommel!&ldquo; schrie es von allen
+Seiten, und weit über das Feld durch alle Tausende
+wälzte sich dasselbe Wort. Der Hauptmann schlug den
+Kolben von seiner Brust zur Seite.</p>
+
+<p>&bdquo;Du wirst gehängt, wie ein Spatz, Rosenecker,&ldquo;
+schrie er.</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr sollt es wenigstens nit erschauen!&ldquo; brüllte der
+Schütz wieder, die brennende Lunte über dem Haupte
+schwingend. Er nahm sich nicht die Mühe, sie aufzuschrauben,
+das Feuerrohr lag auf der Gabel &mdash; im
+nächsten Augenblick wäre der Hauptmann ein Kind des
+Todes gewesen, wenn nicht plötzlich zwischen dem Bedrohten
+und dem Drohenden ein Reiter im vollen
+Galopp angehalten und dem wütenden Musketierer
+den Büchsenlauf in die Höhe geschlagen hätte, daß
+der Schuß in die Luft ging.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Junker! der Junker!&ldquo; schrie es auf allen
+Seiten. &bdquo;Der Junker zurück! sprecht, sprecht, was ist&rsquo;s?
+was sagt der Graf? Haben sie uns verkauft an die
+holländischen Juden, ihnen ihre Festung Bommel zu
+entsetzen?... Der Junker, der Junker! Nicht nach
+Bommel, nicht vor Bommel! nicht über den Rhein!
+nicht über den Rhein! In die Spieße der von Hollach!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, schreit nur, bis ihr berstet!&ldquo; zischte blau vor
+Grimm der Hauptmann durch die zusammengebissenen
+Zähne und ballte die Hände, daß die Nägel tief ins
+Fleisch drangen. &bdquo;Schreit nur &mdash; es ist noch nicht im
+Topf, darin es gekocht wird &mdash; Christoph von Denow,
+sprecht zu den Meutmachern! sagt den räudigen Hunden
+Eure Botschaft!&ldquo;</p>
+
+<p>Der junge Reiter richtete sich hoch auf im Sattel,
+und alle die wilden Gesichter im Fackelschein ringsumher
+wandten sich ihm zu.</p>
+
+<p>&bdquo;Der wohlgeborene und edle Graf Philipp von
+Hohenlohe, unser gnädiger Feldhauptmann &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nichts von dem Grafen von Hollach, dem Verräter,
+dem Judas!&ldquo; schrien einige. &bdquo;Stille! Ruhe!
+Hört ihn!&ldquo; riefen die andern und gewannen die Oberhand,
+daß der Reiter fortfahren konnte.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Graf läßt den Fähnlein des braunschweigischen
+Regiments zu Roß und zu Fuß vermelden, daß ihr
+Begehren und Gebaren unehrlich und treulos sei,
+deutscher Nation zu Schimpf und Schande und großem
+Schaden gereiche &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>Ein allgemeines Wut- und Spottgebrüll unterbrach
+den Redner, der erst nach langem Harren weiter rufen
+konnte.</p>
+
+<p>&bdquo;Es sagt der Graf von Hohenlohe, daß er befehle,
+Generalmarsch zu schlagen vor jeglichem Quartier und
+auszurücken in die Linien gen Rees, auf weitern Befehl!
+Da kommt unser gnädigster Obrister, der Herr von
+Rethen.&ldquo;</p>
+
+<p>Neues Geschrei empfing den ebenfalls im vollen
+Rosseslauf erscheinenden Führer, welcher den schriftlichen
+Befehl des Grafen mit sich führte; aber ebenfalls vergeblich
+durch Bitten, Drohungen, Erinnerungen an den
+Artikelbrief das Volk zur Ruhe zu bringen versuchte.
+Atemlos, zornesbleich hielt er zuletzt in dem kleinen
+Kreise der Hauptleute und Offiziere und der wenigen
+treugebliebenen Söldner. Der Junker aber befand sich,
+willenlos fortgerissen, inmitten des wildesten Getümmels
+der aufrührerischen Knechte, die von Mord und
+Blut sprachen, und bereits ihre Spieße senkten, ihre
+Feuergewehre richteten auf das Häuflein der Getreuen,
+welche einen Ring schlossen um die Führer und die
+geretteten Feldzeichen, und sich rüsteten, ihr Leben so
+teuer als möglich zu verkaufen.</p>
+
+<p>Auch das Reiterlager hatte sich in Bewegung gesetzt,
+von Minute zu Minute wuchs der Tumult, und inmitten
+all dieser drohenden Spieße, Schwerter und
+Büchsen, unter all diesen scheu gewordenen, ausschlagenden,
+stampfenden Rossen und trunkenen Männern
+taucht jetzt für uns eine Gestalt auf, klein und zierlich
+gebaut, aber trutzig und unverzagt, im Heerlager aufgewachsen,
+gebräunt von Wind und Wetter, abgehärtet
+in mancher bösen Sturmnacht am schwächlichen Lagerfeuer,
+ein klein Hütlein, geziert mit einer Häherfeder,
+auf den krausen, wirren Locken, ein Dolchmesser im Gürtel,
+&mdash; bekannt bei Führern, Knechten und Reisigen; zu
+Roß, zu Fuß, zu Wagen stets dem Heere zur Hand:
+<em class="gesperrt">Anneke Mey</em> von Stadtoldendorf, des braunschweigschen
+Regiments Marketenderin und Schenkin!</p>
+
+<p>&bdquo;Hab&rsquo; ich dich auf den Fuß getreten, Anneke?&ldquo; fragte
+ganz kleinmütig der wilde Valentin Weisser, der eben
+das Feuergewehr gegen den Hauptmann hatte losgehen
+lassen. &bdquo;Nimm dich in acht, daß sie dich nicht erdrücken,
+Engel-Anneke &mdash; stelle dich hinter mich, du wirst gleich
+dein blaues Wunder sehen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nehmet Ihr Euch in acht, Rosenecker,&ldquo; lachte das
+wildherzige Kind, &bdquo;Ihr spielt ein hoch Spiel diese Nacht!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Riese warf einen trotzigen, lachenden Blick über
+die hin und her wogenden Massen. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Hoho, sind wir nicht unsrer genug, zu gewinnen?
+Nicht vor Bommel! Ju &mdash; ho! ho! nicht vor Bommel!
+nicht übern Rhein! Fort mit den Hauptleuten, fort mit
+dem Grafen von Hollach!&ldquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick riefen wieder Hunderte von
+Stimmen nach dem Junker &mdash; dem Christoph von
+Denow. Da zuckte ein seltsamer Glanz über das Gesicht
+des Mädchens. Es stellte sich zuerst auf die Zehen, dann
+kletterte es mit katzengleicher Behendigkeit und Schnelligkeit
+auf einen Schutthaufen, wo sich bereits mehrere
+Soldatenweiber mit ihren Kindern und Habseligkeiten
+zusammengedrängt hatten und alle zugleich in den Lärm
+hineinkreischten.</p>
+
+<p>&bdquo;Mein Mann! mein Mann! Jesus, sie würgen sich
+alle! Gottes Sohn &mdash; Franz! Franz!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Was macht der Junker? wo ist der Junker?&ldquo; rief
+Anneke Mey, eine Hand, welche ihr entgegengestreckt
+wurde, ergreifend.</p>
+
+<p>&bdquo;Da! da! er spricht zu denen vom vierten Fähnlein
+&mdash; da &mdash; da &mdash; Jesus, sie werfen den Hauptmann Eberbach
+nieder, und mein Mann, Jesus, mein Mann!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>Die Augen der Armen wurden starr, mit einem
+Sprung war sie von der Höhe herab und stürzte sich
+mitten in das Getümmel; über den am Boden liegenden
+Hauptmann sank unter den Hieben und Stößen der
+Meutrer der Doppelsöldner Franz Hase von Erfurt
+zusammen. Vergeblich hatte sich Christoph von Denow
+unter die Piken und Hellebarden geworfen, mit seinem
+Schwert die Spitzen niederschlagend; im vollen Lauf
+stürzte jetzt das aufrührerische Kriegsvolk auf die Treugebliebenen
+und die Befehlshaber, Schüsse krachten
+hinüber und herüber. Ihr Messer aus der Scheide
+reißend trieb Anneke Mey in den Aufruhr hinein.
+Christoph von Denow sah sie plötzlich an seiner Seite
+unter den Füßen der Kämpfenden; &mdash; noch ein Augenblick,
+und sie war verloren, noch ein Augenblick, und
+er hatte sie, fast ohne zu wissen, was er tat, zu sich
+emporgezogen aufs Pferd; alles drehte sich um ihn
+her &mdash; &bdquo;Mordio! Mordio!&ldquo; brüllte es auf allen
+Seiten &mdash; &mdash; Da &mdash; &mdash; urplötzlich &mdash; &mdash; blieben alle
+die zum Verbrechen gezückten und geschwungenen Waffen,
+wie durch ein Zauberwort aufgehalten in der Luft &mdash;
+jeder Wut- und Angstschrei erstarrte auf den Lippen
+&mdash; Angreifer und Angegriffene standen lautlos, bewegungslos!</p>
+
+<p>Im Westen über Rees hatte sich, begleitet von einem
+donnerartigen Krachen, der dunkle Nachthimmel blutig-rot
+gefärbt. Alle Geschütze auf den Wällen, alle Geschütze
+in den Angriffslinien brüllten los; im Lager des
+Reichsheeres flog ein Pulvervorrat in die Luft, dazwischen
+rollte, immer stärker werdend, das kleine Gewehrfeuer.</p>
+
+<p>Mit einem Male hatte sich die Szene im aufrührerischen
+Lager vollständig verändert.</p>
+
+<p>&bdquo;Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!&ldquo;
+ging es von Mund zu Mund. &bdquo;Sturm! Sturm! Gen
+Rees! gen Rees!&ldquo;</p>
+
+<p>Und als peitsche der Satan sie vorwärts, seiner Hölle
+zu, hatte sich plötzlich diese ganze Masse von Kriegern,
+Führern, Weibern, Troßknechten in Bewegung gesetzt,
+dem flammenden Vulkan im Westen entgegen. Gier
+nach Beute, unbefriedigte Gier nach Blut trieb sie von
+dannen. Im wildesten Taumel, Reiter und Fußvolk
+und Wagen bunt durcheinander, raste sie über das Feld
+durch die Nacht. Im wildesten Taumel und Traum,
+das Schwert am Faustriemen, vor sich auf dem Sattel
+das Mädchen aus den Weserbergen, saß Christoph von
+Denow auf seinem schwarzen Roß. &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!
+Vivat der Graf! Vivat der Graf von Hollach! Vorwärts!
+Vorwärts!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein sekundenlanges Anhalten in dieser wüsten Menschenflut
+war eine Unmöglichkeit, ein Fehltritt, ein
+Straucheln der sichere Tod. Schon hörte man zwischen
+dem Donnern und Krachen um die Stadt den Schlachtruf
+der Feinde: &bdquo;Spanien und die Jungfrau! Spanien
+und die Jungfrau!&ldquo; und lauter und näher den Ruf der
+angegriffenen Belagerer: &bdquo;Das Reich! das Reich!
+Vorwärts, das Reich!&ldquo;</p>
+
+<p>Hinein in die Atmosphäre von Blut und Feuer
+brauste die anstürzende Menschenmasse, und die Letzten
+drängten bereits die Vordersten in die angegriffenen
+Laufgräben, aus denen eine andere Flut ihnen entgegen
+wogte. Das waren die Hessischen, die schlecht bewaffneten,
+halbverhungerten, im Regen und Rheinwasser fast
+ertränkten Schanzgräber, welche dem wilden Anprall
+der Spanier nicht hatten widerstehen können.</p>
+
+<p>&bdquo;Spanien! Spanien! Spanien und die Jungfrau!&ldquo;
+rief Francisco Orticio, sich über einen Schanzkorb in die
+Höhe schwingend.</p>
+
+<p>&bdquo;Spanien! Spanien und die Jungfrau!&ldquo; wiederholten
+seine Krieger ihm nachdringend.</p>
+
+<p>&bdquo;Rette, Hessen! Rette!&ldquo; schrien die flüchtigen Söldner
+des Landgrafen im panischen Schrecken.</p>
+
+<p>&bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo; brüllte es von den
+Höhen der Böschungen.</p>
+
+<p>&bdquo;Up dei Düvels!&ldquo; schrie Heinrich Weber aus Schöppenstedt,
+eine Fackel in der Hand mitten unter die Hessen
+springend. Der flammende Brand flog im weiten Bogen
+gegen die Spanier &mdash; ein zweiter Satz &mdash; die zu Grund,
+der Bergstadt im Harz, gehämmerte Hellebarde
+schmetterte nieder auf eine zu Cordova geschmiedete
+Sturmhaube: Diego Lua aus Toboso stürzte mit
+einem &bdquo;<i>Valga me Dios!</i>&ldquo; tot zurück.</p>
+
+<p>&bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo; brauste es dem
+Schöppenstedter nach, und &bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo;
+jubelten auch die Hessen, welche mit neuem
+Mut sich wandten gegen ihre Verfolger.</p>
+
+<p>&bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo; rief Christoph von
+Denow, dem es gelungen war, sich von seinem Pferde
+zu werfen, welches sich auf der Böschung hoch bäumte,
+im nächsten Augenblick aber, von einer Kugel getroffen,
+zusammenbrach. Anneke Mey stand unbeschädigt auf
+den Füßen, doch auch sie wurde mit hinabgerissen in die
+Gräben, wo sie jedoch samt Hans Niekirche hinter einem
+Haufen umgestürzter Schanzkörbe den verlorenen Atem
+wieder gewinnen konnte.</p>
+
+<p>Und jetzt Angriff und wütende Verteidigung, Flüche
+in sechs Sprachen, Todesrufe; &mdash; auf engstem Raum
+Vernichtung jeder Art! &mdash; Alle Hauptleute der Braunschweiger:
+Adebar, Maxen, Wulffen, Wobersnau,
+Rußwurmb, Dux, Statz, und wie sie hießen, hatten ihre
+Stellen als Befehlshaber wieder eingenommen und
+drängten tapfer kämpfend die Spanier zurück. Tapfer
+stritten aber auch die Spanier. Sechs Geschütze hatten
+sie in den hessischen Schanzen genommen und in den
+Rheingraben versenkt, Schritt für Schritt wichen sie
+zu den flammenden Mauern und Wällen der Stadt
+über die Leichen ihrer Landsleute und ihrer Feinde.
+Der Graf von Hohenlohe in vollster Rüstung mit
+seinen Herren führte stets neue Truppen an; Haufen
+auf Haufen ließ Don Ramiro de Gusman hervorbrechen.</p>
+
+<p>Dicht an den Spaniern kämpfte Christoph von
+Denow, das Blut rieselte aus einer Stirnwunde, &mdash;
+er merkte es nicht. Anneke Mey hatte sich mutig auf
+ihren Schanzkorb geschwungen und den widerstrebenden
+Niekirche nachgezogen. Sie hielt ihr Messer noch immer
+gezückt in der Rechten, mit der Linken hielt sie den
+schlotternden Trommelschläger am Kragen.</p>
+
+<p>&bdquo;So schlage den Sturmmarsch, Junge!&ldquo; rief sie
+lachend. &bdquo;Willst&rsquo; nicht? Wart, gleich fliegst du herunter,
+daß sie dich drunten zu Brei vertreten, Feigling!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja! ja! ich will!&ldquo; jammerte Hans. &bdquo;Ach wär&rsquo;
+ich doch daheim! Ach wär&rsquo; ich doch zu Haus! Mein
+Mutter! mein Mutter!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Na, na, schlage nur immer zu, du kommst noch
+davon!&ldquo; sagte Anneke begütigend und ließ den Kragen
+des Armen los. &bdquo;Dein&rsquo; Mutter wartet schon a bissel!
+Schau, wie lustig das aussieht &mdash; da, guck, sie
+geben&rsquo;s den welschen Bluthunden! Wär&rsquo; ich &rsquo;n Knab,
+wie du &mdash; hei, ich wollt&rsquo;s ihnen auch schon zeigen!&ldquo;
+Und mit heller Stimme fing das Mädchen an zu
+singen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;Mein Vater wollt&rsquo; ein Knäbelein,<br /></span>
+<span class="i0">Mein Mutter wollt&rsquo; ein Mägdelein,<br /></span>
+<span class="i0">Mein&rsquo; Mutter tät gewinnen,<br /></span>
+<span class="i0">Des muß den Flachs ich spinnen &mdash; Ja spinnen!<br /></span>
+<span class="i0">Das ist mir großes Leid!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Immer mutiger schlug Hans Niekirche, durch seine
+Gefährtin aufgemuntert, seine Wirbel, und unter
+beiden Kindern vorbei drängten ununterbrochen die
+Scharen des Reichs vor und zurück, wie der Kampf vor-
+und zurückwich; bis die Spanier in die Stadt gedrängt
+waren, und das Zeichen zum Sammeln von allen Seiten
+den Deutschen gegeben wurde. Don Ramiro hatte die
+Rheinschleusen, welche er in seiner Gewalt hatte, öffnen
+lassen.</p>
+
+<p>&bdquo;Sieh das Wasser! das Wasser!&ldquo; rief Hans Niekirche
+in neuer Angst. &bdquo;Laß uns fort, Anneke, sie wollen
+uns ersäufen, wie die jungen Katzen.&ldquo;</p>
+
+<p>Ein allgemeiner Schrei erhob sich unter dem Getümmel
+in den Laufgräben; schon standen manche
+Haufen bis an den Gürtel in der reißend schnell steigenden
+Flut.</p>
+
+<p>&bdquo;Halt, halt!&ldquo; rief Anneke Mey. &bdquo;Er ist noch nicht
+zurück; aber &mdash; geh nur &mdash; geh &mdash; ich bleib&rsquo;!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und ich bleib&rsquo; auch!&ldquo; schrie Hans der Trommler.</p>
+
+<p>&bdquo;Zurück! zurück!&ldquo; tönte es aus den rückwärts
+weichenden Scharen des Reichsheeres: &bdquo;Das Wasser!
+Der Rhein! Das Wasser!&ldquo; Und immerfort donnerte
+das Geschütz der Spanier von den Wällen, immerfort
+schlugen die Kugeln verheerend in das wirre, verzweiflungsvolle
+Durcheinander.</p>
+
+<p>Es war eine böse Belagerung &mdash; die Belagerung der
+Stadt Rees am Rhein: es war kein Glück, es war keine
+Ehre dabei zu holen.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Junker! der Junker! Christoph! Christoph
+von Denow!&ldquo; schrie die junge Dirne auf ihrer Höhe, die
+Hände ringend, und das Wasser stieg und stieg. Schon
+waren die letzten der Haufen unter ihr vorüber, und die
+Toten, von den Fluten gehoben, wirbelten um sie her.
+Da griff eine Hand aus den Wassern nach dem Schanzkorbe,
+auf welchem sie stand, und ein bleiches Haupt
+erhob sich zu ihren Füßen: &bdquo;Rette! Rette!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph! Christoph!&ldquo; schrie das Mädchen, sie lag
+auf den Knien, sie faßte die triefenden Locken, sie faßte
+den Schwertriemen &mdash; der Junker von Denow war
+gerettet. Valentin Weisser, der Riese, dessen Blutdurst
+und Mut durch den Kampf und den Rhein bedeutend
+gekühlt war, brachte mit Hilfe gutwilliger Genossen
+den wunden Junker, die Dirne und Hans, den
+Trommelschläger, glücklich auf das Trockene und weit
+hinein ins Feld, wo die gelichteten, zerrissenen, wunden
+Krieger des Reichsheeres um die Wachtfeuer murrend
+und grollend in stumpfsinniger Ermattung lagen und
+die Führer bereits wieder unheimliche und drohende
+Worte zu hören bekamen.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerII" id="JunkerII">II.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/t.png" alt="T" width="60" height="60" class="floatl" />rübe dämmerte der Morgen. Auf die
+wüste Nacht folgte ein ebenso wüster Tag.
+Vergeblich hatte Herr Otto Heinrich von
+Beylandt, Herr zu Rethen und Brembt, Leib und
+Leben und Seligkeit den Meuterern zum Pfande
+eingesetzt, daß sie nicht von des Reichs Boden weggeführt
+werden sollten; vergeblich hatte der Graf von
+Hohenlohe geflucht, gebeten und gedroht. Zwischen
+sieben und acht Uhr waren zehn Fähnlein des braunschweigischen
+Regiments aufgebrochen und aus dem
+Feld gezogen, Münster zu. Weiber, Kinder, Dirnen
+folgten jetzt dem plündernden, ehrvergessenen, eidbrüchigen
+Haufen durch den grauen Nebelregen.
+Keiner befahl, keiner gehorchte. Die einen meinten,
+es gehe gradaus zum Herzog von Braunschweig, ihrem
+Zahlherrn, nach Wolfenbüttel; andere glaubten, es
+gehe gegen den Bischof von Münster; die meisten aber
+dachten gar nichts, und so schwankte der tolle Zug, einem
+Betrunkenen gleich, hier vom Wege ab, dort vom Wege
+ab, jetzt auf ein Dorf zu, jetzt auf ein einsames Gehöft.
+Kleinere Banden schweiften zur Seite, oder vor und
+nach &mdash; fort und fort über die Heide; hier im Kampfe
+mit einer ergrimmten Bauernschar, dort im Hader untereinander.
+Der Nebel ward Regen und hing sich in
+perlenden Tropfen an die letzten Blüten des Heidekrauts
+und träufelte von den Stacheln und Zweigen der
+Dornbüsche. Krähenscharen begleiteten den Zug lautkrächzend,
+oder flatterten in dichten Haufen westwärts
+dem Rhein zu, wo von Rees her das Feuer der Berennung
+nur noch in einzelnen Schlägen dumpf grollte.
+Stärker und stärker ward der Regen, die blutigen
+Spuren der vergangenen Nacht, der Schlamm der Laufgräben
+mischten sich auf den pulvergeschwärzten Gesichtern,
+den zerrissenen, verbrannten Kleidern, den verrosteten
+Waffenstücken &mdash; die Männer fluchten und
+sangen, die Weiber ächzten, die Kinder schrien, und
+Anneke Mey auf ihrem Wagen, mit einem Bierfaß
+beladen, hielt tröstend das Haupt des wunden Christoph
+von Denow in ihrem Schoß und sprach ihm zu und verhüllte
+ihn, wie eine Mutter ihr Kind, mit einem groben
+Soldatenmantel; während Hans Niekirche zähneklappernd
+das magere Roß leitete, welches vor dem Karren
+ging. &mdash; Lange Zeit hatte der Junker wie besinnungslos
+gelegen, jetzt hob er den Kopf mühsam empor und
+strich die Haare aus der Stirn und warf einen Blick
+auf seine Umgebung.</p>
+
+<p>&bdquo;O Anneke, weshalb hast mich nicht gelassen in dem
+Wasser &mdash; oh! oh!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Still, still, lieget ruhig, Herr! Die ganze Welt ist
+auseinander &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Weshalb hast mich nicht gelassen im Lager &mdash; im
+Heer vor Rees?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Es ist aus, aus! Alles aus, sagen sie. Alles läuft
+auseinander &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und wohin gehen wir?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Weiß nicht! weiß nicht!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Bin also so weit! Ein Spießgesell von Räubern und
+Mördern und landesflüchtigem Gesindel! Krächzt nur,
+ihr schwarzen Galgenvögel, ihr habt einen feinen Geruch,
+wittert den Fraß, wann er noch lustig auf den Beinen
+herumstolpert und den Bauerngänsen die Hälse abhaut
+und die Rinder aus dem Stall zieht. O Christoph!
+Christoph! Und du könntest einen adeligen Schild
+führen!&ldquo;</p>
+
+<p>Der junge Gesell stieß solch einen herzbrechenden
+Seufzer aus, daß ein neben dem Karren reitender Söldner
+aufmerksam wurde. Er drängte sein Pferd näher
+heran, zog seine Feldflasche hervor und reichte sie dem
+Wunden zu.</p>
+
+<p>&bdquo;Hoho, Junker, was spinnst für Hanf? Da wärme
+dir das Herz, bis wir uns den Münsterschen Dompfaffen
+in die warmen Nester legen! Aufgeschaut, aufgeschaut,
+Christoffel! &rsquo;s ist beschlossen, Ihr sollt unser Obrister
+werden!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Junker machte eine unwillige Handbewegung
+und antwortete nicht.</p>
+
+<p>&bdquo;Auch gut,&ldquo; brummte der Reiter. &bdquo;Der Satan hol&rsquo;
+alle diese Maulhänger! Möcht&rsquo; nur wissen, was die
+Gesellen für einen Narren an ihm gefressen haben.
+Hat den Vorspruch gemacht gestern beim Grafen nach
+ihrem Willen und soll den Führer spielen, und kann den
+Kopf nicht grad halten &mdash; Bah! Hätten hundert Bessere
+gefunden; kann mit seinem Adel weder den Mantel
+noch die Ehre flicken. Fort, Mähre, was scheust? Dacht
+ich&rsquo;s doch, da liegt wieder einer der trunkenen Schelme
+im Wege. Vorwärts, Schecke, laß liegen, was nicht
+mehr laufen mag. Was will die Trompete? Holla,
+was ist das?&ldquo;</p>
+
+<p>Ja, was wollte die Trompete? Auf der rechten Seite
+des Weges der Meuterer waren zwar von Zeit zu Zeit
+vereinzelte Schüsse gefallen, niemand hatte sie aber
+beachtet, weil man sie nur den obenerwähnten Scharmützeln
+mit den Bauern und Hahnenfedern zuschrieb.
+Jetzt aber wurde das Feuer regelmäßiger, Reitertrompeten
+erschallten. Der Zug stutzte und hielt. Gestalten,
+schattenhaft, tummelten sich in dem dichten
+Nebel, und erschreckte Stimmen erklangen: &bdquo;Die
+Spanier! Die Spanier!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Zum Henker die Spanier; wie kommen die Spanier
+soweit über den Rhein?&ldquo; brummte der Reiter, welcher
+eben dem Junker die Feldflasche geboten hatte. Er
+lockerte aber nichtsdestoweniger das Schwert in der
+Scheide und wickelte den rechten Arm aus dem Mantel
+los.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Feind! der Feind! die Speerreiter!&ldquo; riefen
+die im Lauf rückkehrenden Plünderer, zu den Genossen
+stoßend, und einige brachten eine frische Wunde mit
+zurück. Näher und näher hörte man die Trompeten
+und den Schlachtruf &bdquo;<i>España! España!</i>&ldquo; und dann
+&bdquo;Hohenlohe! Hohenlohe!&ldquo;</p>
+
+<p>Keiner von den Meutmachern machte Miene, an dem
+Gefechte teilzunehmen; aber die Musketen waren auf
+die Gabeln gelegt, die Lunten aufgeschroben, die Spieße
+gesenkt, und man hatte instinktmäßig einen Kreis um
+die Wagen mit den Weibern und Kindern und den Raub
+geschlossen.</p>
+
+<p>Jetzt schienen die Spanier wieder zurückgedrängt zu
+werden; der Lärm des Kampfes verlor sich in der Ferne.
+Der Zug der Aufrührer wollte sich bereits wieder in
+Bewegung setzen.</p>
+
+<p>&bdquo;Halt, halt!&ldquo; rief einer der Fußknechte, &bdquo;da kommen
+sie wieder! Rossestrab!&ldquo; Er kniete nieder und legte
+das Ohr an den Boden. &bdquo;Viel Pferde im Galopp!&ldquo;
+Man konnte kaum zehn Schritte weit im Nebel und
+Regen deutlich sehen; es waren wieder nur unbestimmte
+Schatten, die man nahen sah.</p>
+
+<p>Ein &bdquo;Halt&ldquo; wurde ihnen zugerufen, und sie hielten,
+und eine einzelne Gestalt löste sich von dem Haufen ab.
+Aus dem Ring der aufrührerischen Söldner des Reichs
+traten ihr einige entgegen.</p>
+
+<p>&bdquo;Wer seid Ihr? Woher des Weges? Was für Begehr?&ldquo;</p>
+
+<p>Der Nahende ritt, ohne zu antworten, näher heran.</p>
+
+<p>&bdquo;Haltet, oder wir schießen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nur zu, eidbrüchig Gesindel; versucht, ob ihr einen
+ehrlichen Reitersmann trefft!&ldquo;</p>
+
+<p>Wilde Flüche und der Ruf &bdquo;Feuer, Feuer!&ldquo; ertönten,
+und manche Büchse wurde in Anschlag gebracht; aber
+dazwischen riefen auch Stimmen: &bdquo;Halt, halt, das sind
+keine Spanier, keine Speerreiter!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nein, das sind keine Spanier,&ldquo; rief der Reisige
+zurück. &bdquo;Das sind auch keine Meuterer, Mörder oder
+Diebshalunken; &mdash; ehrliche Hohenlohesche Reiter sind&rsquo;s,
+die euch Lumpengesindel wahren sollen, daß ihr nicht
+dem Galgen entlauft! Glaubt&rsquo;s, der Graf hätte meinetwegen
+andere dazu schicken mögen, als uns &mdash; nehmt
+das Ab &mdash; Henkermahl drauf!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Der Graf von Hollach hat Euch geschickt?&ldquo; fragte
+es verwundert aus dem Haufen, und mancher der
+wilden Kerle drängte sich vor, näher an den Reitersmann.</p>
+
+<p>&bdquo;Zurück!&ldquo; rief dieser, &bdquo;wir gehen mit euch, wie befohlen,
+jagen die Speerreiter, die euch die Gurgel abschneiden
+könnten, &mdash; man sparte nur die Stricke &mdash; und
+schützen das arme Landvolk vor euch Hunden. Damit
+holla! &mdash; na, wohin geht der Marsch?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Packt Euch zum Teufel, wir brauchen Euch nicht!&ldquo;
+schrie Jobst Bengel aus Heiligenstadt. &bdquo;Wer hat Euch
+gerufen? Sagt dem Grafen, dem Holländer, unsern
+schönsten Dank und wir könnten unsern Weg allein
+finden.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Geht nicht! Alles auf Befehl! Kümmert euch so
+wenig als möglich um uns; ihr handelt nach Belieben,
+wir nach Befehl!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Aber unser Belieben ist, daß ihr euch hinschert,
+woher ihr gekommen seid!&ldquo; brüllte Hans Römer aus
+Erfurt. &bdquo;Geht, oder es setzt mein&rsquo; Seel blutige Köpfe!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Unser Befehl ist, daß wir gehen, wohin euch der
+Satan treibt. Am Höllentor kehren wir um, das ist der
+Befehl. Genug der Worte.&ldquo;</p>
+
+<p>Damit wandte der Hohenlohesche Rittmeister sein
+Roß und sprengte zurück zu seinen Reitern, welche unbeweglich
+auf einer kleinen Erderhöhung hielten und im
+Gegensatz zu dem tobsüchtigen, wüsten Gebaren der
+Meuterer nur leise Worte des Zorns und der Verachtung
+hatten.</p>
+
+<p>Auf seinem Schmerzenslager hatte Christoph von
+Denow halbblinden Auges und klingenden Ohres den
+Vorgang angesehen und angehört. Jetzt mußte er auch
+ohnmächtiger Zeuge der wilden Reden um ihn her sein.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist solch ein falsch Spiel von dem Grafen &mdash;
+das ist eine Falle. Sollen uns schützen vor den Speerreitern!
+&mdash; Lauter Sorg und Lieb, bis sie uns den Hals
+zuschnüren! &mdash; Nichts von dem Grafen von Hollach!
+Fort mit den Reitern des Holländers! Feuer auf sie!
+In die Spieße! in die Spieße mit ihnen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Die Rasenden! die Niederträchtigen!&ldquo; stöhnte
+Christoph von Denow, die Hände ringend. &bdquo;Und hier
+liegen zu müssen gleich einem abgestochenen Schaflamme!
+Halt, halt, was wollen sie tun?!&ldquo;</p>
+
+<p>Seine schwache Stimme ging verloren in dem Lärm
+&bdquo;fort mit Holländern, fort mit dem Grafen von Hollach!&ldquo;</p>
+
+<p>Mit einem Schlage setzte die ganze Masse der
+Meuterer im Sturmlauf an gegen das kleine Häuflein
+der Reiter.</p>
+
+<p>&bdquo;Hab&rsquo;s mir wohl gedacht,&ldquo; brummte der Rittmeister
+in den grauen Bart. &bdquo;Achtung, Gesellen!
+Stand gehalten &mdash; das ist der Befehl. Herunter mit
+den Schuften, wenn sie euch nahe kommen.&ldquo;</p>
+
+<p>Sie griffen wirklich an. Im nächsten Augenblick
+war die Reiterschar umringt, durchbrochen. Die meisten
+sanken nach tapfrer Gegenwehr vom Pferd; nur wenige
+schlugen sich durch und flohen über die Heide. Zuletzt
+kämpfte noch ein einzelner. Das war der tapfere alte
+Führer, der sich wie ein Verzweifelter wehrte. Endlich
+erstach ihm Balthasar Eschholz aus Berlin das Roß,
+und eine Kugel durchfuhr seine treue Brust.</p>
+
+<p>Einige Minuten standen die Mörder wie erstarrt.
+Schlug ihnen diesmal das Herz? Sie wagten es nicht,
+die Gefallenen zu berauben, ein plötzlicher Schrecken
+kam über sie, wie von Gott dem Richter gesandt, und
+Mann und Roß und Wagen stürzten von dannen,
+hinein in den Nebel, der sie verschlang, als seien sie nicht
+wert, von Himmel und Erde gesehen zu werden.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist ein schlechter &mdash; schlechter Tod!&ldquo; seufzte der
+zu Boden liegende Reiterhauptmann. &bdquo;Ein schlechter
+Tod! &mdash; In deine Hände &mdash; aber alles der Befehl &mdash;
+nun kann der Rat von Nürnberg mein Weib und meine
+Jungen auffüttern &mdash; ein schlechter Tod &mdash; Amen!
+Alles &mdash; der &mdash; Befehl!&ldquo;</p>
+
+<p>Er griff noch einmal mit beiden Händen krampfhaft
+in das Heidekraut &mdash; es war vorüber.</p>
+
+<p>Ein Wäglein und drei Menschenkinder waren zurückgeblieben
+beim Fortstürzen der Mörderschar. Das waren
+Anneke Mey aus Stadtoldendorf, welche das Haupt
+des Erschlagenen stützte, das war Christoph von Denow,
+der auf seinem Lager das Vaterunser weiter betete,
+welches der Rittmeister nicht hatte zu Ende bringen
+können. Das war Hans Niekirche, der Trommelschläger,
+welcher schluchzend das Rößlein vor dem Wagen
+hielt!........</p>
+</div>
+
+<div>
+
+<h3><a name="JunkerIII" id="JunkerIII">III.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/n.png" alt="N" width="60" height="60" class="floatl"/>icht Leben, nicht Tod; nicht Vergessenheit,
+nicht Sinnesklarheit; nicht Schlaf, nicht
+Wachen; &mdash; alles ein wildes, wirres
+Chaos in dem fieberkranken Kopfe Christoph von
+Denows! Jetzt legte es sich ihm, einem feurigen
+Schleier gleich, vor die Augen, tausend Sturmglocken
+und der Verzweiflungsschrei einer eroberten
+Stadt füllten ihm Ohr und Hirn; &mdash; jetzt versank er
+wieder in ein endloses graues Nichts, in welchem ihn
+allerlei unerkennbare Schatten umschwebten; &mdash; jetzt
+vermochte er es wieder, sich und seine Umgebung zu
+unterscheiden, ohne sich klar darüber werden zu können,
+wer ihn von dannen führe und wohin man ihn führe.
+Manchmal war der Himmel über ihm grau und ihn fror,
+dann wieder schaute er empor in das reine Blau, und die
+Sonne schien herab auf ihn. Manchmal glaubte er
+sich in einem auf dem Wasser fahrenden Schifflein zu
+befinden, manchmal sah er wieder grüne Zweige über
+sich und hörte die Vögel singen. Er gab es auf, zu
+denken, sich zu erinnern: willenlos überließ er sich seinem
+Geschick. Es zog und zuckte durch seinen Geist! &mdash; Da
+ist der weite, kühle Saal in der väterlichen Burg, dem
+einstmals am weitesten in das Polen- und Tartarenland
+vorgeschobenen Posten des deutschen Wesens.
+Durch die bunten Scheiben der spitzen Fenster fällt das
+Licht der Sonne und wirft die farbigen, flimmernden
+Schattenbilder der gemalten Wappen und Heiligen auf
+den Estrich. Da steht der Sessel des Ritters von Denow
+neben dem großen Kamine, und der Sessel und der
+Gebetschemel der Mutter in der Fenstervertiefung, da
+glitzern im Winkel auf dem künstlich geschnitzten Schenktisch
+die riesigen, wie Silber glänzenden Zinnkrüge
+und Geschirre. Da blickt ernst von der Wand der Ahnherr
+mit dem Ringpanzer auf der Brust, und manch
+wunderlich Gewaffen aus den Polen- und Preußenschlachten
+hängt an dem Mittelpfeiler, welcher den
+Saal stützt....</p>
+
+<p>Feuer! Feuer! Das ist nicht der Widerschein der
+Abendsonne an den Wänden. Feuer! Feuer! und das
+Wimmern der Burgglocken und der Schall der Sturmhörner!
+&mdash; Wo blieb das süße, mildlächelnde Bild der
+Mutter, das eben noch durch den stillen dämmerigen
+Saal glitt? Feuer und Sturm! Die Polen! die Polen!
+Allverloren! Allgewonnen! Allgewonnen!</p>
+
+<p>Da taucht ein ehrliches bärtiges Gesicht auf &mdash; das ist
+der Knecht Erdwin Wüstemann, welcher den kleinen
+Christoph aus der brennenden väterlichen Burg auf den
+Schultern trug und rettete.... Nun rauscht der Wald,
+nun murmelt der Bach &mdash; das ist die verlorene Forsthütte,
+wo der treue Knecht und das Kind hausten so lange
+Jahre hindurch. Die Hunde zerren bellend an der Kette,
+der Falk schaukelt sich auf seiner Stange. Wilde Gesellen
+und Weiber &mdash; fahrende Soldaten, Sänger und
+Studenten und demütige Juden verlangen Obdach vor
+dem nahen Gewitter oder dem Schneesturm. Sie lagern
+auf nackter Erde um das Feuer, an welchem die Hirschkeule
+bratet. Der Weinkrug geht im Kreise umher;
+Lieder erschallen! Lieder vom freien Landsknechtsleben,
+lutherische Lieder, Spottlieder gegen den Papst und den
+Türken und lateinische Lieder vom wandernden
+Scholarentum. Jetzt gerät der rote Heinz mit dem
+landflüchtigen Leibeigenen oder dem Zigeuner in Streit;
+die Messer blitzen, der Knecht Erdwin wirft sich zwischen
+die Kämpfenden &mdash; es rauscht der Wald, es murmelt
+der Bach, es klingt die Harfe des blinden Sängers &mdash; ah
+Wasser, Wasser und Waldfrische in dieser Glut, welche
+das Gehirn verdorrt und die Knochen versengt!</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang öffnete der Kranke die Augen,
+er hörte Stimmen um sich her; jemand hielt ihm einen
+Krug voll frischen Wassers an die heißen Lippen. Er
+hatte nicht fragen können, wo er sei, wer ihm helfe in
+seiner Not? &mdash; von neuem ergriff ihn der Fiebertraum.</p>
+
+<p>Aus dem Kinde ist im lustigen Wildschützenleben ein
+wackerer Bub geworden. Hinaus aus dem grünen
+Wald zieht der Knecht Erdwin mit dem Schützling. Die
+Zeiten sind danach &mdash; wer kühn die Würfel wirft, kann
+wohl den Venuswurf werfen. Mancher gelangte in der
+Fremde zu hohen Ehren und Würden, der im Vaterlande
+kaum den heilen Rock trug. Gern kaufen Franzosen,
+Spanier, Holländer mit rotem Golde rotes
+deutsches Blut. Ho, so hattest du dir die Welt draußen
+vor dem Wald wohl nicht gedacht, Christoph von Denow?
+Hei, das waren andere Gestalten und Bilder: Städte,
+Klöster und Burgen; Fürsten mit Rittern und Rossen,
+schöne Damen, Äbte und Bischöfe mit reichem Gefolge,
+Bürgeraufzüge, bunte Landsknechtsrotten auf dem
+Wege nach Italien, nach Frankreich &mdash; für den Kaiser
+und wider den Kaiser!</p>
+
+<p>Aus dem Reitersbuben ist ein Reitersmann geworden,
+welcher nichts sein nennt, als sein gutes Schwert,
+und welchem von den Vätern her nichts geblieben ist,
+als der eiserne Siegelring mit dem Wappen derer von
+Denow, welchen er am Finger trägt.</p>
+
+<p>Immer weiter hinein in das bunte Leben, in den
+bunten Traum &mdash; tagelang, wochenlang im Wundfieber
+kämpfend zwischen Sein und Vernichtung, bis
+endlich eine Glocke dumpf und feierlich erklingt, eine
+Glocke, die nicht mehr allein in dem Gehirn des Kranken
+läutet!</p>
+
+<p>&bdquo;Wo bin ich?... Die Glocke, was will die Glocke?&ldquo;
+murmelte Christoph von Denow, die Augen aufschlagend.</p>
+
+<p>Anneke Mey stieß einen Freudenschrei aus und hob
+das Haupt des Junkers ein wenig aus ihrem Schoße:
+&bdquo;Er lebt, o guter Gott, er wird leben!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Die Glocke! die Glocke?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Still, lieget still, Herr! das ist Sankt Lambert zu
+Münster, und da &mdash; horcht! das ist der Dom! Morgen
+ist der heilige Matthiastag &mdash; still, still, lieget ruhig.&ldquo;</p>
+
+<p>Es wurde dunkel über dem Junker; das Wäglein
+fuhr in diesem Augenblick durch die Torwölbung. Der
+Junker schloß die Augen wieder, er glaubte einen Wortwechsel
+zu hören, er glaubte zu bemerken, daß der Wagen
+hielt, Annekes Stimme erklang ängstlich und bittend
+dazwischen. Er glaubte ein bärtiges Gesicht über sich
+zu sehen und einen Ausruf des Schreckens zu hören.
+Der Wagen bewegte sich wieder &mdash; er fuhr aus dem
+dunklen Tor in das Licht der Straße hinein. &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Das war das Gesicht des alten Knechts Erdwin,
+welches der Junker von Denow über sich sah, bis im
+folgenden Moment alles verschwand und es wieder
+Nacht war im Geiste Christophs. &mdash; Allmählich aber
+wurde diese Nacht jetzt Dämmerung; die Gedanken
+ordneten sich mehr und mehr. Christoph von Denow
+erwachte wieder zum Leben.</p>
+
+<p>Er fühlte den wohltuenden Strahl der milden Herbstsonne,
+er vernahm die Worte der Freunde um sich her.
+Jetzt erzählte Erdwin, der Knecht, jetzt sprach Anneke
+Mey, jetzt lachte Hans der Trommelschläger. Die Landschaft
+glitt an ihm vorüber, Städte, Dörfer, Flecken, er
+sah blaue Höhenzüge im Osten auftauchen und vernahm,
+wie ein Wanderer dem Knechte Erdwin sagte,
+das sei der altberühmte große Teutoburger Wald. Er
+schlummerte abermals ein, und als er abermals erwachte,
+fand er sich mitten in den Bergen, und ein Wasser
+rauschte seitwärts in das Dickicht. &bdquo;Das Wässerlein
+kenn&rsquo; ich,&ldquo; rief Anneke, &bdquo;das ist die Else, die fließt in die
+Werre, und die Werre fließt in die Weser, nun sind wir
+der Heimat nahe.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und wie ziehen wir nun, Anneke?&ldquo; fragte der getreue
+Knecht Erdwin, welcher munter neben dem Wagen,
+den Spieß auf der Schulter, herschritt.</p>
+
+<p>&bdquo;Wo die Sonne aufgeht, fahren wir zu; aus dem
+Teutoburger Wald in den Lippeschen Wald, zuletzt wird
+doch mal ein Berg kommen, von dem wir die Weser
+glitzern sehen können. Dann sind wir zu Hause!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Anneke, Anneke!&ldquo; murmelte Christoph.</p>
+
+<p>&bdquo;O, wachet Ihr wieder, Junkerlein? geduldet Euch
+und lieget still, wir sind alle noch da, und der Meister
+Erdwin ist auch da und hat mir alles von Euch erzählt
+und ich ihm auch alles von Euch.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Junker, Junker, seid Ihr wach?&ldquo; rief der Knecht
+Erdwin und schauete über den Rand des Wagens. &bdquo;Das
+Mütterlein im Himmel muß über uns wachen, daß ich
+Euch grad am Tor zu Münster treffen mußt&rsquo;. Von der
+Reichsschanze bis nach Münster bin ich kreuz und quer
+Euern Spuren nachgezogen. Habt mich schön in Angst
+und Not gebracht! Haltet das Maul, Junkerlein. Dem
+Herzmädel da dankt Ihr Euer jung Leben. Lasset Euch
+tränken und atzen und schlaft wieder ein, wir halten
+Euch oben, Hans und Anneke und ich!&ldquo;</p>
+
+<p>Christoph drückte schwach die Hand des wackern Alten,
+er wollte nach dem Heere fragen, nach den Meuterern,
+aber er vergaß es. Sein wunder Kopf ruhte noch immer
+an der Brust der jungen Dirne. Aus schwimmenden
+Augen blickte er auf zu dem braunen, wildfreundlichen
+Gesicht über ihm.</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Anneke Mey, Anneke Mey, wohin willst du
+mich führen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;In meiner Heime ist es gar schön,&ldquo; sagte das
+Mädchen. &bdquo;Da sind die Berge und die Wiesen so grün,
+da schaut die alte Burg, sie heißen sie die Homburg
+herab auf das Städtel. Da sind die hohen weißen Felsen
+ganz weiß, weiß &mdash; da wohnen die klugen Zwerge in
+tiefen runden Löchern. Das ist wahr, ganz gewiß wahr!
+Es ist auch schaurig da, manchmal rührt sich der Boden,
+und der Wald sinkt ein in die Erde, tief, tief, &mdash; und
+ein Wässerlein springt dann unten in dem Grund auf;
+das Wasser trinken die Leut nicht gern. Aber mitten
+in den Bergen, da ist ein kühler Bronn, der Wellborn
+geheißen, aus dem kommt das Wasser durch Röhren in
+die Stadt, und die Brunnen rauschen und plätschern
+immer zu. Und vor dem Burgtor ist ein klein Haus dicht
+an der Stadtmauer, da sitzt meine alte Muhme, die
+Alheit &mdash; mein Vater und Mutter sind lang tot im
+Lager von Lafere, wo wir mit dem französischen König
+Heinrich waren &mdash; und ihre Katz sitzt neben ihr, und
+wenn sie, ich mein&rsquo; die Muhme &mdash; an mich gedenkt, so
+brummt und keift und bet&rsquo;t sie ein Vaterunser, grade
+weil sie mich gern hat. Schläfst noch nicht, Junkerlein?
+Mach die Augen zu und kümmre dich nicht um die
+Welt.&ldquo;</p>
+
+<p>Mit leiser Stimme fing das Mädchen an zu singen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i2">&bdquo;Musikanten zum Spielen,<br /></span>
+<span class="i0">Schöne Mädchen zum Lieben:<br /></span>
+<span class="i0">So lasset uns fahren,<br /></span>
+<span class="i0">Mit Roß und mit Wagen,<br /></span>
+<span class="i0">In unser Quartier!<br /></span>
+<span class="i0">In unser Quartier!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&bdquo;Ach, der Wagen stößt zu hart; wisset Ihr was,
+Meister Erdwin? singet Ihr weiter.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wollen&rsquo;s versuchen!&ldquo; sagte der Knecht Wüstemann
+und begann im Ton der Schlacht von Pavia das Lied
+von der Schlacht vor Bremen, in welche er als junger
+Bursch mit den Reitern des Grafen von Oldenburg
+gezogen war, und frisch schallte sein Baß in den Wald
+hinein.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;&mdash; Unser Feldherr das vernahm,<br /></span>
+<span class="i0">Graf Albrecht von Mansfelde,<br /></span>
+<span class="i0">Sprach zu seinem Kriegsvolk lobesam:<br /></span>
+<span class="i0">Ihr lieben Auserwählten,<br /></span>
+<span class="i0">Nun seid ganz frisch und wohlgemut,<br /></span>
+<span class="i0">Ritterlich wolln wir fechten;<br /></span>
+<span class="i0">Gewinnen wolln wir Ehr und Gut,<br /></span>
+<span class="i0">Gott wird helfen dem Rechten.&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Als der Endvers kam, war Christoph wirklich eingesungen
+zu sanftem Schlummer, und Hans Niekirche
+behielt den braunschweigschen Gassenhauer, den er
+eben zum besten geben wollte, auf das Ersuchen des
+alten Erdwins für sich. Mit einbrechender Nacht wurde
+bei einem Köhler mitten im Forst das Nachtquartier
+aufgeschlagen.</p>
+
+<p>&bdquo;Was ist denn da draußen vorgegangen in der Welt?&ldquo;
+fragte der schwarze Waldmann. &bdquo;Ihr seid die Ersten
+nicht, die hier durchkommen sind und hier angehalten
+haben. Das ist ja auf einmal, als ob alles Kriegsvolk
+im deutschen Land sich hier auf den Wald niedergeschlagen
+hätt&rsquo;, wie ein Immenschwarm auf den
+Schlehenbusch. Ist es wahr, daß das Reichsheer auseinandergelaufen
+ist?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Es ist wahr,&ldquo; sagte der Knecht Erdwin düster. &bdquo;Es
+ist aus, &mdash; alles vorbei!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Vorgestern zog hier ein Trupp durch, fast zehn
+Fähnlein stark, aber anzusehen wie ein wüst Raubgesindel,
+Fußvolk und Reiter durcheinander. Wollten
+gen die Weser und ließen sich vernehmen, sie wollten
+ihrem Zahlherrn, dem Braunschweiger Herzog &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Die Braunschweiger?!&ldquo; riefen Erdwin und Anneke
+und Hans Niekirche. &bdquo;Die Braunschweiger?!&ldquo; murmelte
+Christoph von Denow und richtete sich halb auf seinem
+Lager auf.</p>
+
+<p>&bdquo;Gehöret Ihr zu ihnen?&ldquo; fragte der Köhler mißtrauisch.
+&bdquo;Nehmt Euch in acht; ich hab&rsquo; einen gesprochen,
+der sagte, der Braunschweiger habe seine
+Leibguardia und Reiter die Menge abgesandt, ihnen
+den Weg zu verlegen. Sein Feldhauptmann, der
+Graf von Hohenlohe, ist auch, von Mitternacht her,
+gegen sie aufgebrochen. Das kann ein übel Ende
+nehmen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Gegen die Weser sind sie gezogen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wie ich Euch sagte, Maidlein.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Herr Gott, so müssen wir ab vom Weg!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr gehört also nicht zu ihnen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nein! nein! nein!&ldquo; riefen Christoph und Erdwin
+und Anneke.</p>
+
+<p>&bdquo;Und Ihr wollt auch über die Weser?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;In meine Heimat!&ldquo; rief Anneke.</p>
+
+<p>&bdquo;Mit dem wunden Mann? Geht nicht, wahrlich geht
+nicht! Weg und Steg sind verlegt.&ldquo;</p>
+
+<p>Alle schwiegen erschrocken und verstört einige
+Minuten.</p>
+
+<p>&bdquo;Saget doch,&ldquo; fuhr der Köhler dann fort, &bdquo;weshalb
+wollt Ihr nicht bei mir bleiben im Walde, bis der Kopf
+des Burschen dort wieder heil und ganz ist? Hunger und
+Durst sollt Ihr nicht leiden. Ihr erzählet mir alles,
+was da draußen in der Welt vorgegangen ist, dafür geb&rsquo;
+ich Euch Futter und Obdach. Gefällt&rsquo;s Euch?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr wolltet &mdash;?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Gewiß will ich; ich will Euch sogar noch großen
+Dank schuldig sein dafür!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Angenommen, Landsmann!&ldquo; rief der Knecht Wüstemann
+freudig. &bdquo;Junker, nun streckt Euch lang auf
+Euerm Lager, und wehe dem ersten Rehbock, der mir
+vor die Armbrust gerät, welche ich dort an der Wand
+sehe.&ldquo;</p>
+
+<p>So kamen am Tage Cornelii des Hauptmanns
+die vier Flüchtlinge des Reichsheeres zum ersten Mal
+zu Ruhe.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerIV" id="JunkerIV">IV.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/d.png" alt="D" width="60" height="60" class="floatl"/>ominus Basilius Sadler, der heiligen
+Schrift Doktor und fürstlicher Hofprediger
+zu Wolfenbüttel, hatte seine Predigt
+beendet und das Vaterunser gebetet. Unter den letzten
+Klängen der Orgel strömte die Menge aus der Marienkapelle
+in den dunkeln nebligen Herbsttag hinaus.
+Man schrieb den vierten November 1599.</p>
+
+<p>Was hatte das andächtige Volk? Statt ruhig und
+gemessen wie gewöhnlich am heiligen Sonntag ihren
+Wohnungen und dem Sonntagsbraten zuzuschreiten,
+blieben die Männer in Gruppen auf dem Kirchplatz
+stehen und steckten die Köpfe zusammen; selbst die Weiber
+waren von derselben Aufregung ergriffen. Kaum war
+nämlich der letzte Orgelton verhallt, so durchzitterte
+von der Dammfestung her ein anhaltender Trommelwirbel
+die stille Luft und schwieg dann einige Augenblicke.
+Darauf näherten sich die kriegerischen Klänge
+im Marschtakt, und manche der Bürger eilten ihnen,
+ihre Knaben an der Hand, entgegen; der größte Teil
+der Menge blieb jedoch zurück und erwartete die Dinge,
+welche da kommen sollten. &bdquo;Nun geht es an! Das ist
+der Beginn!&ldquo; hieß es unter dem Volk.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist der Gerichtswebel, Martin Braun von
+Kolberg,&ldquo; sagte ein Goldschmied, der von allem genau
+Bescheid wußte. &bdquo;Der verkündet nun das kaiserliche
+Malefizrecht an allen vier Orten der Welt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sie kommen! sie kommen!&ldquo; hieß es unter der
+Menge, und eine Gasse bildete sich jetzt, um die Nahenden
+durchzulassen. Von der Dammbrücke her durchzog mit
+seinen drei Trommlern der Gerichtswebel, begleitet von
+einigen Hellebardierern, feierlich und langsam die
+Heinrichsstadt gegen das Kaisertor hin.</p>
+
+<p>Wir lassen ihn ziehen und lassen das Volk seine
+Betrachtungen anstellen und schreiten quer über den
+Platz vor der Marienkapelle, durch die Löwenstraße,
+über die Dammbrücke an dem Schloß vorüber nach dem
+Mühlentorturm, dessen Eingänge von einer stärkern
+Wache als gewöhnlich umgeben sind. Wir führen den
+Leser in das obere Stockwerk des Gebäudes. Ein weites
+Gewölbe tut sich uns hier auf, so dunkel, daß das Auge
+sich erst an die Finsternis gewöhnen muß, ehe es irgend
+etwas in dem Raum erkennen kann. Ist das geschehen,
+so bemerken wir, daß das trübe, herbstliche Tageslicht,
+durch viele, aber enge und stark vergitterte Fenster fällt.
+Die Wände entlang ist Stroh aufgeschichtet, auf welchem
+dunkle Gestalten in den mannigfaltigsten Stellungen
+und Lagen sich dehnen. Von dunkeln Gestalten sind
+auch einige hie und da aufgestellte Tische umgeben.
+Ein Kohlenfeuer glimmt in dem Kamin unter dem
+gewaltigen Rauchfang. Allmählich erkennen wir mehr
+in dem dunsterfüllten Raume: bleiche, wilde Gesichter,
+umgeben von wirren zerzausten Haaren, schlechtverbundene,
+mit blutigen Binden umwickelte Glieder.
+Ein leiseres oder lauteres Klirren und Rasseln von
+Ketten erschreckt uns; &mdash; wir sind unter den &mdash; Meuterern
+von Rees! Gekommen ist&rsquo;s, wie es kommen mußte;
+morgen wird der Obriste des niedersächsischen Kreises,
+Herr Heinrich Julius von Braunschweig, das Gericht
+über sie angehen lassen. Dumpf tönt der ferne Trommelschlag
+des um die Wälle der Festung ziehenden Gerichtswebels
+Martin Braun in ihr Gefängnis herüber.
+Lauschen wir ein wenig den Worten der gefangenen
+wilden Gesellen!</p>
+
+<p>&bdquo;Ta, ta, ta! Was das für ein Wesen ist? Sollte
+man nicht meinen, der Teufel sei den Kerlen in den
+Lärmkasten gefahren? Es gehet alles zum Schlechteren,
+selbsten das Trommelschlagen,&ldquo; sagte eine baumlange
+Gestalt, sich über die Genossen erhebend.</p>
+
+<p>&bdquo;Sollt&rsquo; meinen, Valtin, wir hätten uns um anderes
+zu kümmern als den Trommelschlag,&ldquo; sagte unwirsch
+ein zweiter Söldner.</p>
+
+<p>Valentin Weisser ließ sich jedoch nicht von seinem
+Thema abbringen. &bdquo;Horchet nur, ist das die alte freudige
+deutsche Art? Aber jetzt will jeder ein Neues einbringen!
+Auch die Hispanier machen&rsquo;s so; da lob&rsquo; ich mir die
+Italiener, die haben aufgehoben, was wir nicht mehr
+mochten, und ziehen mit den fünf gleichen Schlägen bis
+ans Ende der Welt. Topp, topp, topp, topp, topp! das
+erwecket das Herz zu Freud und Tapferkeit und hilfet
+zu Leibeskräften. Topp, topp, topp, topp, topp! Hüt
+dich Bau&rsquo;r, ich komm&rsquo;! &mdash; das ist&rsquo;s! oder &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Hauptmann, gib uns Geld!&ldquo; fiel lachend ein
+Dritter ein.</p>
+
+<p>&bdquo;Füg dich zu der Kann!&ldquo; brummte Hans Römer von
+Erfurt, der Schmerbauch.</p>
+
+<p>&bdquo;Mach dich bald davon!&ldquo; sang eine schrille Stimme
+dazwischen.</p>
+
+<p>&bdquo;Hüt dich vor dem Mann!&ldquo; brummte Jobst Bengel
+von Heiligenstadt. &bdquo;Möchte nur wissen, wie lang wir
+noch in diesem Loch stecken sollen? Alle blutigen Teufel,
+ich wollt&rsquo;, der Blitz schlüg&rsquo; gleich mitten unter uns, und
+nähme uns mit herauf oder herunter, ins Paradies
+oder die Hölle! &rsquo;s sollt&rsquo; mir gleich sein &mdash; &rsquo;s wär&rsquo;
+wenigstens eine Veränderung!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Das greuliche Fluchen ist auch nicht an der Zeit!&ldquo;
+sagte eine ernste und finstere Stimme.</p>
+
+<p>&bdquo;Hilft auch zu nichts, Meister Wüstemann,&ldquo; grinste
+der Vorige wieder. &bdquo;Dem Galgen entläuft man nit so
+leichtlich &mdash; mit Verlaub, Junker, das war nicht auf
+Euch gesagt.&ldquo; Wir folgen dem höhnischen Blick des
+Sprechenden. Neben dem Kamin, an die feuchtschwarze
+Wand gelehnt, steht Christoph von Denow, gebrochen
+an Leib und Seele. Er schaute starr, gradaus vor sich
+hin, bei den Worten Jobsts aber fuhr er auf, sank
+jedoch in demselben Augenblick mit einer abwehrenden
+Bewegung der Hand in seine vorige Stellung zurück.
+Die Entgegnung übernahm Erdwin Wüstemann, der
+drohend seine gefesselten Fäuste nach dem schon zurückweichenden
+Jobst ausstreckte: &bdquo;Den Schädel zerschmettere
+ich dir an der Wand, wenn du den Rachen nicht hältst,
+du Sohn einer Hündin &mdash; sage noch ein Wort &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Auf ihn! so ist&rsquo;s recht!&ldquo; schrien einige der Gefangenen.
+&bdquo;Halt, halt! trennt sie!&ldquo; riefen andere.</p>
+
+<p>&bdquo;Seid ruhig, Erdwin,&ldquo; sagte der Junker, &bdquo;laß ihn,
+Alter, &mdash; er hat recht, der Strick des Hangmanns droht
+uns allen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Euch nicht! Euch nicht!&ldquo; rief der alte Wüstemann,
+die ihm entgegengestreckte Hand seines Schützlings
+fassend. &bdquo;O Ihr &mdash; Ihr in diesen Banden &mdash; das Herz
+bricht mir darüber &mdash; o die Schurken, die Schurken!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein Murren, welches bald in lautere Drohungen
+überging, folgte den Verwünschungen des Alten, der
+alle ihn Umgebenden mit allen Flüchen überhäufte,
+welche ihm auf die Zunge gerieten.</p>
+
+<p>Wer weiß, was geschehen wäre, wenn man nicht
+plötzlich draußen vor der eisenbeschlagenen Tür des
+Gefängnisses Schritte und eine befehlende Stimme vernommen
+hätte. Hellebardenschäfte und Musketenkolben
+rasselten nieder auf den Steinboden. Eine allgemeine
+Stille trat ein unter den Gefangenen, die Schlösser der
+Tür kreischten und knarrten. Sie öffnete sich, ein Gefreiter
+mit der Partisane auf der Schulter schritt herein
+mit zwei Büchsenschützen, deren Lunten glimmten.
+Ihnen folgte ein kleines schwarzes Männlein, welchem
+zur Seite, von Kopf bis zu Fuß geharnischt, der Leutnant
+der Festung, Hans Sivers, sich hielt. Durch die
+geöffnete Tür sah man den Gang angefüllt mit Bewaffneten
+von der Besatzung.</p>
+
+<p>&bdquo;Tut Eure Pflicht, Herr Notarius!&ldquo; sagte der Leutnant,
+und das kleine schwarze Männlein &mdash; Herr
+Friedericus Ortlepius, <i>notarius publicus</i> und des
+peinlichen Gerichts zu Wolfenbüttel bestallter und beeidigter
+Gerichtsschreiber, räusperte sich, nahm das
+Barett vom Haupt und entfaltete ein Papier, welches
+er in der Rechten trug. Ein Söldner, der eine Lampe
+hielt, näherte sich. Der Leutnant hob den Arm gegen
+die Gefangenen, abermals räusperte sich Herr Ortlepius
+und las dann seine Schrift ab wie folgt:</p>
+
+<p>&bdquo;Daß der Hochwürdige, Durchlauchtige, Hochgeborne
+Fürst und Herr, Herr Heinrich Julius, postulierter
+Bischof des Stifts Halberstadt, Herzog zu Braunschweig
+und Lüneburg, unser allerseits gnädiger Fürst
+und Herr, unlängst nach Besage und Inhalt des Koblenzschen
+Abschieds, als verordneter Kriegsobrister dieses
+niedersächsischen Kreises, zur Beschützung des lieben
+Vaterlandes wider das tyrannische Einfallen des hispanischen
+Kriegsvolkes, unter andern ein Regiment deutscher
+Knechte von dreizehn Fähnlein hat werben lassen,
+solches ist <i>notorium</i> und männiglich bekannt. Sind
+dieselben auch nachher von Seiner Fürstlichen Gnaden
+selbst gemustert, bewehrt, und haben sie in derselben
+persönlichen Gegenwart in dem Ring, altem löblichem
+Kriegsgebrauch nach, auf den Artikulbrief geschworen.</p>
+
+<p>Ob nun wohl I. F. G. sich gänzlich versehen und
+verhofft, nachdem I. F. G. es so treulich gemeinet, auch
+dem gemeinen Vaterland zum Besten es sich so sauer
+haben werden lassen, &mdash; es würde gemeldetes Regiment
+sich vermöge geschworenen Eides, Treu und Pflicht, wie
+Solches ehrlichen, redlichen Kriegsleuten eignet und
+gebühret, verhalten haben, so hat sich aber befunden,
+daß zehn Fähnlein von solchem Regiment, ohne einige
+rechtmäßige gegebene Ursach, wider ihre geschworene
+Treu und Pflicht, I. F. G. zu sonderlichen Schimpf,
+der ganzen deutschen Nation zum sonderlichen Spott und
+Hohn, dieser Kriegsexpedition zum Nachteil, dem Feind
+aber zum Frohlocken mit fliegenden Fähnlein aus dem
+Felde gezogen sind. Haben ihre verordnete Obrigkeit
+nicht bei sich leiden wollen, auch in solcher Meuterei so
+lange kontinuiret, bis daß I. F. G., zur Erhaltung
+Deroselben Autorität, ein&rsquo; Ernst zu diesen Sachen
+haben tun müssen, und sie durch ihren damaligen
+Statthalter und Generallieutenant den Wohlgebornen
+und Edeln Grafen Philipp zu Hohenlohe, auf der Heide
+zwischen der Ucht und Barenburg, hinter dem Moor,
+genannt das hessische Darlaten, haben trennen und zum
+Gehorsam bringen lassen. Und obwohl I. F. G. damals
+nach Kriegsgebrauch und scharfen Rechten sie zu massakrieren
+und sämtlich zu Schelmen zu machen, und über
+sie als Schelmen die Fähnlein abreißen und schleifen
+zu lassen, befugt gewesen sein, so haben doch I. F. G.
+zu Deroselbst eigenen Glimpf den gelindesten Weg für
+die Hand nehmen wollen und haben sich resolviret, euch
+die bestrickten Knechte, welche eines Teils bei I. F. G.
+als die Prinzipalisten Meutemacher angegeben sind,
+andernteils von ihren eigenen Spießgesellen dafür
+geliefert worden sind, &mdash; vor ein öffentlich Malefizrecht
+stellen zu lassen.</p>
+
+<p>So fordere ich also auf unsers allerseits gnädigen
+Fürsten und Herrn gnädigen Befehl euch: Christoph
+von Denow, Detlof Schrader von Rendsburg, Erich
+Südfeld von Hannover usw. usw. &mdash; so fordere ich euch
+auf morgen früh um sieben Uhr, das ist den fünften
+November dieses Jahres Eintausendfünfhundertneunundneunzig
+vor kaiserliches Recht in den Ring, wo ihr
+gerichtet werden sollt, wie es am Jüngsten Tage vor
+Gott dem Allmächtigen, wenn Gottes Sohn kommen
+wird zu richten die Lebendigen und Toten, zu verantworten
+ist!&ldquo; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Fünfundachtzig Namen rief der Notarius Friedrich
+Ortlepp auf, und jeder der Gefangenen antwortete durch
+ein: &bdquo;Ist hier gegenwärtig.&ldquo; Als die Liste zu Ende
+gebracht war, hob der kleine schwarze Mann noch einmal,
+lächelnd, die bebrillte Nase und ließ seine Äuglein wohlwollend
+über die Gefangenen hingleiten; dann nickte
+er dem Geharnischten zu, dieser winkte dem Gefreiten,
+welcher seine Partisane anzog, sein Kommandowort
+rief. Die Musketierer schulterten ihre Büchsen, und die
+Beamten schritten heraus aus dem Gewölbe, dessen Tür
+sogleich hinter ihnen wieder zufiel.</p>
+
+<p>Noch einen Augenblick tiefster Stille, dann ein
+dumpfes Gemurmel, dann wildester Losbruch aller
+mächtig zusammengepreßten Gefühle und Leidenschaften
+der gefesselten Meuterer! Ein wildes Durcheinander, &mdash;
+Ausrufe des Zorns, des Hohns, der Besorgnis, der
+Angst, &mdash; Kettengerassel!</p>
+
+<p>&bdquo;O Junker, Junker!&ldquo; rief verzweiflungsvoll der
+Knecht Erdwin, das Haupt seines jungen Herrn an seine
+breite Brust ziehend. &bdquo;O Junker, Junker, wenn das
+Euer Vater erlebt hätte!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, meine Mutter, meine Mutter! &rsquo;s ist gut, daß
+sie tot ist!&ldquo; seufzte Christoph von Denow, die Hand über
+die Augen legend. &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>In den überfüllten Schenken der Stadt erschallte
+der tobende Gesang der zum Kriegsgericht eingeforderten
+Söldner und Hauptleute; viel Zank und Streit blieb
+nicht aus in den Gassen. Die Bürger zeigten sich nicht
+allzuhäufig außerhalb ihrer Haustüren, und wenn es
+ja einen Nachbar oder Gevatter allzusehr drängte, die
+Ereignisse des Tages mit einem Gevatter oder Nachbar
+zu besprechen und abzuhandeln, so schlich er so vorsichtig
+als möglich im Schatten der Hauswände dahin. Der
+Nebel ward dichter und dichter, je mehr die Dämmerung
+Besitz ergriff von Stadt und Land. Der Herzog auf dem
+Schloß ließ mehr Holz in den Kamin seines Gemaches
+werfen, und der Geringste seiner Untertanen ahmte ihm
+darin so gut als möglich nach. Immer unfreundlicher
+ward die Nacht.</p>
+
+<p>Auf dem Prellsteine unter dem Torgewölbe des
+Mühlenturmes kauerte eine weibliche, verhüllte Gestalt.
+Einen grauen Mantel von schwerem, grobem Tuch
+hatte sie dicht um sich geschlagen, das spitze Hütlein,
+durch welches ein klein rundes Loch ging, gleich der Spur
+einer Büchsenkugel &mdash; tief in die Stirn gedrückt; ein
+Bündel lag neben ihr. Das war Anneke Mey aus
+Stadtoldendorf!</p>
+
+<p>Ihr Haupt stützte sie auf beide Hände und starrte
+regungslos auf die schwarzen Massen des fürstlichen
+Schlosses, welches jenseits des Ockergrabens hoch emporragte
+in den dunkeln Nachthimmel, und in welchem hie
+und da ein erleuchtetes Fenster schimmerte. &mdash; So
+hatte Anneke den ganzen lieben langen Tag über gesessen,
+so saß sie noch, als es schon vollständig Nacht
+geworden war, und die Ronde sich näherte, das Tor zu
+schließen.</p>
+
+<p>&bdquo;Sitzt die Dirn da noch!&ldquo; rief der Weibel. &bdquo;Heda,
+Schätzchen, fort mit dir, daß dir das Fallgatter nicht auf
+den Kopf fällt. Marsch, Liebchen! weiß nicht, was du
+hier suchen könntest?&ldquo; Anneke rührte sich nicht von
+ihrem Platze.</p>
+
+<p>&bdquo;Na, wird&rsquo;s bald? Nimm Vernunft an, Kind, &rsquo;s
+gibt wärmere Nester.&ldquo; Damit faßte er den Arm der
+Kauernden, um sie in die Höhe zu ziehen.</p>
+
+<p>&bdquo;O lasset mich hier! lasset mich hier!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Hoho, geht nicht, geht nicht. Aber nun lasset doch
+auch einmal Euch ins Gesicht schauen. Hebt die Laterne
+hoch! Mädel, Kopf in die Höhe!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Schein der Laterne fiel in das bleiche gramvolle
+Gesicht des Mädchens. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Alle Teufel, das ist ja die Anneke, die Anneke Mey
+von Rees her!&ldquo; rief einer der Büchsenschützen sich vordrängend.
+&bdquo;Weibel, mit der mußt du säuberlich umgehen.
+Fürcht dich nit, Anneke &mdash; wo kommst du
+her?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Aus dem Moor, aus dem hessischen Darlaten,
+Arendt Jungbluth!&ldquo; sagte Anneke tonlos.</p>
+
+<p>&bdquo;Wo sie die Meutmacher niedergelegt haben? Ei, ei,
+Anneke, und du bist mit ihnen gezogen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sie sind im Wald über uns gekommen, weil sie der
+Graf von Hollach abgedrängt hatt&rsquo; von der Weser, und
+sie haben den Junker aufs Pferd gezwungen, und er
+hat nichts anders gekonnt, er hat sie müssen führen;
+nun aber haben sie doch geraubt und gebrannt und sind
+gezogen, wo sie wollten, und wir haben müssen mit ihnen
+durch die Wiehenberge, ins Land Hoya. Da ist es zum
+Ende gekommen &mdash; da hat uns der Graf gestellt, und
+Hans Niekirche ist tot, ist auch nicht heimgekommen
+zu seiner Mutter &mdash; Gnade Gott uns allen!&ldquo;</p>
+
+<p>Lautlos umstanden die Söldner das junge Mädchen;
+endlich sagte der Weibel: &bdquo;So ist es geschehen, dagegen
+kann keiner sagen &mdash; arm Mädel, was sitzest nur hier
+auf dem kalten Stein?&ldquo; Stumm deutete Anneke nach
+dem Gefängnis im Turm über ihr; dann sagte sie:
+&bdquo;Sie führten uns zuerst auf das feste Haus Stolzenau;
+nun sind wir hier zum Gericht!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und der Junker, von welchem du gesprochen hast,
+ist da oben bei den andern?&ldquo; fragte der Weibel.</p>
+
+<p>Anneke nickte.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist der Knab Christoph von Denow, von den
+Reitern?&ldquo; fragte wieder der Gefreite Arendt Jungbluth,
+welcher zuerst Anneke erkannt hatte. &bdquo;Ist das
+dein Schatz?&ldquo;</p>
+
+<p>Ein leises Zittern überlief den Körper des Mädchens,
+sie antwortete nicht und schüttelte das Haupt und senkte
+das Gesicht in die Hände und legte den Kopf auf die Knie.</p>
+
+<p>&bdquo;Arm Kind! arm Mädel!&ldquo; murmelten die Krieger.
+&bdquo;Aber sie kann hier nicht bleiben,&ldquo; brummte der Weibel.
+&bdquo;Wir müssen fort, der Böse fährt uns sonst auf den
+Buckel!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Lasset mich einmal mit ihr sprechen,&ldquo; sagte Arendt
+Jungbluth. Er beugte sich nieder zu der Armen und
+flüsterte ihr zu; plötzlich stieß sie einen Schrei aus, einen
+Freudenschrei und stand auf den Füßen: &bdquo;Wirklich,
+wirklich? Ihr könnt? Ihr wollt? O, Gott segne Euch
+tausendmal!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Herauf die Brücke! Herunter das Gatter! Ist&rsquo;s
+geschehen? &mdash; Fort nach der Schloßwach! &mdash; Jürgen,
+marsch, voran mit der Laterne!&ldquo; kommandierte der
+Weibel. &bdquo;Anneke, Ihr gehört zu uns, niemand tut Euch
+was zu Leid. Marsch, marsch!&ldquo;</p>
+
+<p>Die Hellebarden lagen wieder auf der Schulter:
+inmitten der Wachtmannschaft ging Anneke Mey, und
+Jürgen trug außer der Laterne auch noch das Bündlein
+des Soldatenkindes.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerV" id="JunkerV">V.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/e.png" alt="E" width="60" height="60" class="floatl"/>ins schlug die Uhr des Schloßturmes, und
+die Krähen fuhren auf aus ihren Nestern
+und umflatterten krächzend die Spitze
+und die Wetterfahne, bis der Klang ausgezittert hatte.</p>
+
+<p>&bdquo;So geh zu ihm!&ldquo; flüsterte Arendt Jungbluth. &bdquo;Um
+drei Uhr ist meine Wacht zu Ende, dann klopf&rsquo; ich und
+du kommst heraus. Nun gehab dich wohl; des Wärtels
+Margaret lauert drunten am Gang.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Dank Euch, dank Euch!&ldquo; flüsterte Anneke Mey. Die
+Gefängnistür im Mühlenturm öffnete sich kaum weit
+genug, um das schmächtige junge Mädchen einzulassen,
+und schloß sich sogleich wieder.</p>
+
+<p>Die qualmende Hängelampe war wie ein roter
+Punkt in dem dunsterfüllten Raume anzuschauen; die
+meisten der Gefangenen schnarchten auf dem Stroh die
+Wände entlang, viele hatten aber auch die Köpfe auf
+den Tisch gelegt und schliefen so. &mdash; Dann und wann
+erklirrte leise eine Fessel, oder ein Stöhnen und Geseufz
+ging durch die Wölbung. Niemand hatte den Eintritt
+des Mädchens bemerkt.</p>
+
+<p>Einige Minuten stand Anneke dicht an die Mauer
+gedrückt. Sie vermochte kaum Atem zu holen. Wie
+sollte sie in dieser Hölle den finden, welchen sie suchte?</p>
+
+<p>Plötzlich ward es hell in ihr: anfangs leise, dann
+lauter begann sie das alte Lied vom Falkensteiner zu
+singen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;Sie ging den Turm wohl um und um:<br /></span>
+<span class="i0">Feinslieb bist du darinnen?<br /></span>
+<span class="i0">Und wenn ich dich nicht sehen kann,<br /></span>
+<span class="i0">So komm&rsquo; ich von meinen Sinnen.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Sie ging den Turm wohl um und um,<br /></span>
+<span class="i0">Den Turm wollt&rsquo; sie aufschließen:<br /></span>
+<span class="i0">Und wenn die Nacht ein Jahr läng wär&rsquo;,<br /></span>
+<span class="i0">Keine Stunde tät&rsquo; mich verdrießen!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Von ihrem Lager richteten sich die Schläfer auf,
+stärker klirrten die Ketten an ihren Armen und Beinen.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;Ei, dürft&rsquo; ich scharfe Messer tragen,<br /></span>
+<span class="i0">Wie unsers Herrn sein&rsquo; Knechte,<br /></span>
+<span class="i0">Ich tät&rsquo; mit dem Herrn vom Falkenstein,<br /></span>
+<span class="i0">Um meinen Herzliebsten fechten!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&bdquo;Was ist das? Wer ist das? Wer singet hier?&ldquo;
+tönte es wild durcheinander. &bdquo;Anneke, Anneke, Anneke
+Mey,&ldquo; rief die Stimme Christoph von Denows dazwischen,
+und Erdwin Wüstemann hielt das junge Mädchen
+in den Armen: &bdquo;Hier, hier halt&rsquo; ich sie, hier ist sie,
+wie ein Engel vom Himmel mit ihrer Lerchenstimme!
+O Kind, Kind, was willst hier in dieser Wüstenei?
+Junker, Junker, wo seid Ihr?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Anneke! Anneke!&ldquo; rief Christoph von Denow.</p>
+
+<p>&bdquo;Vivat Anneke, Anneke Mey!&ldquo; riefen alle andern
+Gefangenen. &bdquo;Das ist ein wackeres Mädel! Vivat des
+Regiments Schenkin!&ldquo;</p>
+
+<p>Es fiel keine schnöde, böse Rede: im Gegenteil, es
+war, als ob durch das Erscheinen des Kindes jedes trotzige
+wilde Herz milder geworden wäre. Man hätte sie
+gern auf den Händen getragen, da sie das aber nicht
+leiden wollte, suchte man ihr den bequemsten Platz aus
+und breitete Mäntel unter ihre Füße, um sie vor der
+feuchten Kälte der Steinplatten zu schützen. Eine Bank
+wurde zerschlagen, um das erlöschende Feuer im Kamin
+damit zu nähren.</p>
+
+<p>&bdquo;So hast du uns nicht verlassen, Anneke!&ldquo; rief
+Christoph und hielt ihre beiden Hände in den seinigen,
+und der Knecht Erdwin wischte verstohlen eine Träne
+aus den grauen Wimpern. &bdquo;O, wie können wir dir je
+das wiedervergelten?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wie könnt ich Euch verlassen? Und wenn sie Euch
+zum Tode führen, ich geh&rsquo; mit Euch!&ldquo;</p>
+
+<p>Sie saßen beieinander, Christoph und Anneke,
+neben dem Kamin, und die Dirne schluchzte und lächelte
+durch ihre Tränen. Sie vergaßen alles um sich her,
+und der alte Wüstemann stand dabei, seufzte tief und
+schwer und schüttelte das greise Haupt:</p>
+
+<p>&bdquo;Jammer, o Jammer!&ldquo;</p>
+
+<p>Um drei Uhr krähte zum ersten Mal der Hahn, um
+drei Uhr klopfte Arendt Jungbluth an die Tür.</p>
+
+<p>&bdquo;Nun muß ich scheiden!&ldquo; sagte Anneke. &bdquo;Gott
+schütze uns; wenn das Gericht angeht, steh&rsquo; ich auf
+Eurem Wege, Herr.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Anneke, Gott lohn&rsquo;s dir, was du an uns tust!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Fahre wohl! Fahre wohl, Anneke!&ldquo; riefen die
+gefangenen Meuterer. &bdquo;Gott segne dich, Anneke!&ldquo;</p>
+
+<p>Christoph von Denow schlug die Hände vors Gesicht;
+&mdash; die Tür war hinter dem jungen Mädchen zugefallen.
+Im Osten zeigte ein weißer Streif am Nachthimmel, daß
+der Morgen nicht mehr fern sei, und der Wind machte
+sich auf, fuhr von den Harzbergen nach dem deutschen
+Meer und verkündete dasselbe.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Sechs schlug die Uhr des Schloßturmes; wieder
+schossen die Krähen aus ihren Nestern und umflatterten
+die Spitze, krochen aber diesmal nicht wieder zurück in
+ihre Schlupfwinkel, sondern ließen sich, eine bei der
+andern, nieder auf dem Rande der Galerie, welche nahe
+dem Dach, den Turm umzieht. Neugierig reckten sie die
+Hälse und blickten herab in den dichten weißen Nebel
+unter ihnen, aus welchem kaum die höchsten Giebel der
+Stadt und Festung hervorlugten. Trommelschall erdröhnte
+auf dem Schloßhofe und hallte wider von
+den Wällen, während eine kriegerische Musik aus
+der Ferne dem Weckauf der Besatzung antwortete.
+Auf der Festung trat die Soldateska unter die Waffen,
+und in der Heinrichsstadt verkündete das klingende
+Spiel, daß die Bürgerschaft in Wehr und Harnisch
+aufzog.</p>
+
+<p>Von Zeit zu Zeit löste sich einer der schwarzen Vögel
+aus der Reihe der Genossen los und flatterte mit
+kurzen Flügelschlägen hinein in den Nebel, als wolle er
+Kundschaft holen über das Fest, welches ihm drunten
+bereitet wurde. Kehrte er zurück, so wußte er mancherlei
+zu erzählen, und freudekreischend erhoben sich die andern
+und wirbelten durcheinander und überschlugen sich in
+der grauen Luft, um endlich wieder zurückzufallen auf
+ihre Plätze in Reih und Glied.</p>
+
+<p>Gegen sieben Uhr verflüchtigte sich der Schleier,
+welcher über der Stadt lag, um sieben Uhr trat alles ins
+Licht! Vor dem fürstlichen Marstalle waren die Schranken
+aufgestellt. Ein mit rotem Tuch bekleideter Tisch und
+ebenso überzogene Bänke für den Gerichtsschulzen und
+die Beisitzer standen in der Mitte. Das Volk umwogte
+dicht gedrängt den Platz. Jetzt zog &bdquo;mit dem Gespiel&ldquo;
+die fürstliche Leibgarde aus dem Schloßtor, den Graben
+entlang, und besetzte zwei Seiten der Schranken. Nach
+ihr rückte in drei Fähnlein die Bürgerschaft von der
+Dammfestung, der Heinrichstadt und dem Gotteslager
+heran und schloß die beiden andern Seiten ein. Der
+Ring war gebildet; die Fahnen wurden zusammengewickelt
+und unter sich gekehrt, die Obergewehre mit den
+Spitzen in die Erde gestoßen, nach Kriegsgebrauch bei
+kaiserlichem Malefizrecht.</p>
+
+<p>Abermals entstand eine Bewegung unter der Volksmenge;
+wieder schritt ein Zug durch die gebildete Gasse
+feierlich und langsam vom Schloß her. Das war der
+Gerichtsschulze Melchior Reicharts mit seinen einundzwanzig
+Richtern, Hauptleuten, Gefreiten und Gemeinen,
+und dem Gerichtsschreiber Fridericus Ortlepius
+die allesamt paarweise in den Ring eintraten.</p>
+
+<p>Zuerst ließ sich der <i>notarius publicus</i> nieder, zur
+linken Hand an dem roten Tisch. Er ordnete seine
+Papiere, guckte in sein Tintenfaß, rückte das Sandfaß
+zurecht, und der trübe Himmel und die Krähen auf dem
+Schloßturm schauten ihm dabei zu. Er prüfte die Spitze
+seiner Feder auf dem Daumennagel, das Murmeln und
+Murren der tausendköpfigen Menge machte einer Totenstille
+Platz; von dem Mühlenturm her erklang ein taktmäßiges
+Rasseln und Klirren und verkündete das Nahen
+der Gefangenen. &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;O mein Gott, hilf ihm und mir!&ldquo; stöhnte Anneke
+Mey von Stadtoldendorf, als an dem Mühlenturm die
+Pforte sich öffnete und die davor aufgestellte Reiterwache,
+die Pferde rückwärtsdrängend, das Volk auseinander
+trieb.</p>
+
+<p>&bdquo;Da sind sie! die Meutmacher! die Schufte! Da
+sind die falschen Schurken!&ldquo; ging der unterdrückte Schrei
+durch das zornige Volk. Aus der Gefängnispforte hervor
+glitt ein verwildertes, trotziges oder verzagtes
+Gesicht nach dem andern an der zitternden Anneke
+vorüber.</p>
+
+<p>Und jetzt &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph!&ldquo; durchdrang grell und schneidend ein
+Schrei die schwere graue Luft, daß der Herzog Heinrich
+Julius, welcher an einem Fenster seines Schlosses
+stand und auf das Getümmel unter sich finster herabblickte,
+unwillkürlich den Kopf nach der Richtung hin
+neigte.</p>
+
+<p>Da schritt er einher, der Junker von Denow, bleich,
+wankend, gestützt auf den Arm des getreuen Knechtes
+Erdwin.</p>
+
+<p>&bdquo;O Christoph! Christoph von Denow!&ldquo;</p>
+
+<p>Der junge Reiter erhob das Auge; es haftete auf
+dem jungen Mädchen, welches hinter der Reihe der
+begleitenden Hellebardierer die Hände ihm entgegenstreckte;
+&mdash; ein trübes Lächeln glitt über das Gesicht
+Christophs, dann schüttelte er das Haupt; er wollte
+anhalten.</p>
+
+<p>&bdquo;Hast doch recht gehabt, Anneke!&ldquo; lachte höhnisch
+Valentin Weisser, der Rosenecker. &bdquo;Waren unsrer doch
+zu wenig. Puh &mdash; &rsquo;s ist am End einerlei &mdash; Kugel oder
+Strick. Vorwärts, Junker Stoffel; ich tret&rsquo; dir sonst die
+Hacken ab!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Vorwärts! vorwärts!&ldquo; rief der Führer der Geleitsmannschaft
+&mdash; vorüber schritt Christoph von
+Denow. &mdash;</p>
+
+<p>Im Ring aber schwuren die Richter mit aufgerichtetem
+Finger und lauter Stimme:</p>
+
+<p>&bdquo;Ich lobe und schwöre, daß ich diesen Tag und alles
+dasjenige, was vor diesem Malefizrecht vorkommen
+wird, urteilen und richten will, es sei gleich über Leib
+und Blut, Geld oder Geldeswert, als ich will, daß mich
+Gott am Jüngsten Tage richten soll &mdash; den Armen als
+den Reichen. Will hierinnen weder Freundschaft noch
+Feindschaft, Gunst noch Ungunst, weder Haß, Geschenke,
+Gaben, Geld ober Geldeswert ansehen, oder mich verhindern
+lassen! So wahr mir Gott helfe und sein heiliges
+Wort!&ldquo;</p>
+
+<p>Alle Beisitzer saßen darauf nieder an ihren Plätzen,
+und nur der Gerichtsschulze blieb stehen und tat eine
+Umfrage. Darauf verkannte er das Recht: erstens im
+Namen der heiligen unzerteilbaren Dreifaltigkeit, dann
+im Namen des Fürsten, dem Richter und Angeklagte
+als Kriegsleute geschworen hatten, zuletzt kraft seines
+eignen angeordneten Amts und Stabes, daß &bdquo;keiner
+innerhalb oder außerhalb dem Rechten wolle einreden.
+Solle auch niemand einem Richter heimlich zusprechen.
+Dem Profoß solle eine freie Gasse gelassen werden,
+damit er guten Raum habe, damit er desto baß mit den
+Gefangenen vom Rechten ab- und zugehen möge, bei
+Pön eines rheinischen Gülden in Gold&ldquo;.</p>
+
+<p>&bdquo;Derhalben,&ldquo; fuhr er fort, &bdquo;wer nun vor diesem
+Kaiserlichen Recht zu schicken oder zu schaffen hat, es
+sei gleich Kläger oder Antworter oder sonsten einer,
+der dem löblichen Regiment etwas anzuzeigen hat: die
+stehen in den Ring und klagen, wie man pflegt zu klagen
+und Antwort zu geben, auf Red und Widerred, wie in
+Kaiserlichen Rechten der Gebrauch ist. &mdash; Gerichtswebel,
+habt Ihr gestern den Profoß, wie auch die Angeklagten
+fürgeboten, zitieret und geladen?&ldquo;</p>
+
+<p>Und der Gerichtswebel stand auf und antwortete:
+&bdquo;Herr Schultheiß, ich habe sie gestern früh mit drei
+Trommeln an den vier Orten der Welt zitieret!&ldquo;</p>
+
+<p>Und des Regiments Profoß, Karsten Fricke, trat
+in den Ring, und der Gerichtswebel führt die Angeklagten
+hinein, jedes Fähnlein für sich zusammengeschlossen. &mdash;</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerVI" id="JunkerVI">VI.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/l.png" alt="L" width="60" height="60" class="floatl"/>iege still, Kind,&ldquo; sagte am zwanzigsten
+November bei Tagesanbruch auf der
+Hauptwache im Schloß zu Wolfenbüttel
+der Gefreite Arendt Jungbluth. &bdquo;Liege ruhig und schlaf
+weiter: der Morgen ist dunkel und dräuet Schnee. Es
+geht noch nicht an.&ldquo;</p>
+
+<p>Anneke Mey hatte sich auf der harten Holzbank,
+erschreckt aus tiefem Traum auffahrend, in die Höhe
+gerichtet, bei dem Ruf der Wacht draußen, die zur Ablösung
+herausrief.</p>
+
+<p>&bdquo;Schlafe wieder ein, Anneke, ich wecke dich, wenn es
+Zeit ist,&ldquo; sagte Arendt, die Sturmhaube auf den Kopf
+stülpend.</p>
+
+<p>&bdquo;Der letzte Tag!&ldquo; murmelte das Soldatenkind, und
+das müde Haupt sank wieder zurück auf das harte Lager,
+die Augen schlossen sich wieder.</p>
+
+<p>&bdquo;Hui, der Wind &mdash; Teufel!&ldquo; brummte Arendt, als
+die Söldner wieder zurücktraten in die Wachtstube.
+&bdquo;Schläft sie wieder? &mdash; Richtig! ach, ich wollt&rsquo;, sie verschlief&rsquo;
+es ganz. Ruhig, Kerle &mdash; haltet eure Mäuler!
+Donner &mdash; ist es nicht grad, als ob der Sturm den alten
+Kasten einem über dem Kopf zusammenreißen wollte?
+Das wird das rechte Wetter sein für die da draußen im
+Ring, das bläst ihnen die Urteile vom Munde weg.
+Wie sie da liegt! ist das nicht ein Jammer? Ich wollt&rsquo;,
+sie verschlief&rsquo; die böse Stund.&ldquo;</p>
+
+<p>Wild jagte der Wind die schweren Schneewolken vor
+sich her und heulte und pfiff in den Gängen des Schlosses
+wie der böse Feind, klapperte mit den Ziegeln, rüttelte
+an den Fenstern und trieb die Wetterfahnen mit den
+Löwen auf den Turmspitzen im Kreise umher, heftiger
+und heftiger, wie der Tag zunahm.</p>
+
+<p>Anneke Mey lag noch immer, nicht im Schlaf, sondern
+in stumpfsinniger Erschöpfung. Was kein Kriegszug
+vollbracht hatte, das hatten die letzten vierzehn Tage
+getan; sie hatten das Kind gebrochen, es matt und
+müd gemacht bis zum Tode. Vergeblich sahen sich diesmal
+auf ihrem Wege zum Gericht Christoph von Denow
+und Erdwin Wüstemann nach dem abgehärmten Gesicht
+ihres Schutzengels um.</p>
+
+<p>&bdquo;Gottlob, gottlob, sie verschläft&rsquo;s!&ldquo; murmelte
+Arendt Jungbluth, sich über das Lager der Armen
+beugend.</p>
+
+<p>Im Ring, unter dem düstern, schwarzen Himmel mit
+den jagenden Wolken las Friedrich Ortlepp, der
+Gerichtsschreiber, ein Todesurteil nach dem andern;
+einen Stab nach dem andern brach der Schultheiß und
+warf ihn auf den Richtplatz.</p>
+
+<p>&bdquo;Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit. Amen!&ldquo;
+sprach er bei jeder weißen Rute, welche zerknickt auf den
+Boden fiel.</p>
+
+<p>Und jetzt &mdash; jetzt der letzte Spruch!</p>
+
+<p>&bdquo;Auf eingebrachte Klage des Profoßen, Gegenrede
+des Beklagten, produzierte Kundschaft und Zeugnis, ist
+durch einhellige Umfrage zu Recht erkannt, daß &mdash;
+<em class="gesperrt">Christoph von Denow</em> nicht gebührt hat, sich
+für einen Vorsprecher bei der vorgesetzten Obrigkeit, noch
+für einen Hauptmann aufzuwerfen, noch die Befehle
+zu vergeben und auszuteilen, noch die Wacht zu bestellen.
+Warum er dem Profoß überantwortet werden
+soll, welcher ihn in sein Gewahrsam führen und ihn dem
+Nachrichter einantworten und befehlen soll, daß er ihn
+hinausführe und an den nächsten Galgen hänge und mit
+dem Strange zwischen Himmel und Erde erwürge, damit
+der Wind unter ihm und über ihn durchwehen könne,
+ihm zu verwirkter Strafe und andern zum abscheulichen
+Exempel!&ldquo;</p>
+
+<p>Wieder fiel der gebrochene Stab zu den anderen auf
+die Erde.</p>
+
+<p>&bdquo;Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit, Amen!&ldquo;</p>
+
+<p>Auf die Knie stürzten dreiundachtzig der Verurteilten:
+&bdquo;Gnade, Gnade! Gnade ist besser denn Recht!&ldquo;</p>
+
+<p>Hochauf richteten sich Christoph von Denow und
+Erdwin Wüstemann, und der Junker hob die gefesselte
+Rechte zum Himmel, während der Wind seine Locken
+zerwühlte und die Schneewolken sich öffneten und das
+weiße Gestöber wirbelnd herabfuhr:</p>
+
+<p>&bdquo;Keine Gnade! Recht! Recht! Recht ist besser denn
+Gnade!&ldquo;</p>
+
+<p>In den Ring sprang der Profoß mit der Wache und
+stürzte sich auf die Gefangenen &mdash; wild und anhaltend
+brach das Geschrei des Volkes los, die Kommandoworte
+erschallten dazwischen, die Trommeln wirbelten,
+die Trompeten schmetterten, aus der Erde wurden die
+Waffen gerissen und hoch in die Luft geschwungen, die
+Fähnlein entfalteten sich im Winde. Die Krähen aber
+schossen in einem schwarzen Haufen herab von dem
+Schloßturm und umflatterten krächzend die Stätte
+des Gerichts. Gleich dem bewegten Meer wogte und
+donnerte das Volk, und durch die Menschenflut kämpfte
+sich mit zerrissenen Kleidern, losgegangenen Haarflechten
+Anneke Mey.</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph! Christoph! O du heiliger Gott im
+Himmel! verloren! verloren!&ldquo;</p>
+
+<p>Dem Herzog am geöffneten Fenster seines Gemachs
+riß der Sturm den Griff des Flügels aus der Hand,
+daß er klirrend zuschlug. Über den Schloßhof schritt der
+Gerichtsschultheiß Melchior Reicharts mit den Hauptleuten
+Georg Frost, Peter Köhler, Heinrich Jordans und
+Moritz Ahlemann nach getaner Pflicht den jungen
+Fürsten, Zahlherrn und Kreis-Obersten für die Verurteilten
+zu bitten. Fridericus Ortlepius trug &bdquo;fürsichtiglich
+und sorgsamlich&ldquo; die Akten und Protokolle.
+Tief in die Nacht hinein saß der Herzog mit den sechs
+Männern über diesen Papieren. Vierundzwanzig Todesurteile
+bestätigte er, und unter diesen befand sich das
+Christoph von Denows. Zweiunddreißig der Verurteilten
+begnadigte er dahin, &bdquo;daß sie zur Straf sich verpflichten
+sollen, im Land zu Ungarn auf dem Grenzhause
+Groß-Wardein wider den Erbfeind der Christenheit
+zu Wasser und zu Lande, in Sturm und Schlachten
+jederzeit, wie ehrlichen Kriegsleuten solches gebührt, sich
+gebrauchen zu lassen&ldquo;. &mdash; Siebenundzwanzig Männern
+wurde auf einen gewöhnlichen &bdquo;Urfried&ldquo; das Leben
+und die Ehre geschenket und sie ihrem Fähnlein wieder
+einverleibt. &mdash; Zweien wurde das Leben und die Ehre
+ohne Bedingung geschenkt. Der erste war Erdwin
+Wüstemann, der andere ein Söldner, genannt Klaus
+Rischemann von Calvörde. Alle diese Schlüsse wurden
+den Gefangenen noch in derselben Nacht bekannt
+gemacht.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerVII" id="JunkerVII">VII.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/d.png" alt="D" width="60" height="60" class="floatl"/>er Schnee lag hoch in den Straßen und
+auf den Plätzen der Stadt und Festung
+Wolfenbüttel. Der Sturm hatte sich mit
+Anbruch des Tages ganz gelegt, es war wieder still und
+ruhig geworden, und leise träufelte es von den Dächern,
+denn die Luft war warm und mit Feuchtigkeit gefüllt;
+mit dumpfem Geräusch bewegte sich das Volk in den
+Gassen.</p>
+
+<p>Die Fenster der Schloßkirche glänzten rötlich in die
+trübe Morgendämmerung herein, und feierlich erklang
+die Orgel und der Gesang vieler Menschenstimmen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Allein zu dir, Herr Jesu Christ,<br /></span>
+<span class="i0">Mein Hoffnung steht auf Erden. &mdash;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Im Schein der Lichter und Lampen erglänzte Harnisch
+an Harnisch in dem heiligen Gebäude: den Verurteilten
+sollte ihre letzte Predigt gehalten und das Abendmahl
+ihnen gereicht werden. Der junge Herzog saß in seinem
+Stuhl, das Gebetbuch vor sich; alle Offiziere der Besatzung
+waren in Wehr und Waffen zugegen, und die
+Wände entlang und im Schiff der Kirche drängte sich
+ein bärtiges ernstes Kriegergesicht an das andere. Die
+Vierundzwanzig, die sterben sollten, saßen auf einer
+niedern Bank unter der Kanzel, auf welcher der Magister
+Basilius im schwarzen Chorrock mit der Halskrause
+stand, bereit, seine Rede über die beiden Schächer am
+Kreuz zu beginnen. In einem dunkeln Winkel unter der
+Orgel stand Erdwin Wüstemann und hielt die schluchzende
+Anneke im Arm; um sie her knieten oder standen die
+vom Tode losgesprochenen Meuterer, denen man die
+Fesseln abgenommen hatte.</p>
+
+<p>Und jetzt schwieg die Orgel und der Gesang. Das
+Wort des Evangelisten Lukas wurde gelesen:</p>
+
+<p>&bdquo;Aber der Übeltäter einer, die da gehängt waren,
+lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir
+selber und uns! &mdash; Da antwortete der andere, strafte
+ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor
+Gott, der du in gleicher Verdammnis bist? Wir sind
+billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Taten
+wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt!
+&mdash; Und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn
+du in dein Reich kommst! &mdash; und Jesus sprach zu ihm:
+Wahrlich, ich sage dir, heut wirst du mit mir im Paradiese
+sein!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>Überlaut riefen bei diesen letzten Worten des Textes
+einige der Verurteilten: &bdquo;Das helfe uns der allmächtige
+Gott!&ldquo; und hoben die kettenklirrenden Hände gefaltet
+hoch empor. Das Auge Christoph von Denows aber
+leuchtete plötzlich in einem Glanz, welcher darin bereits
+für immer erloschen schien. Hatte er eine Vision? Rief
+ihm eine süße bekannte Stimme von oben? Erschien ihm
+winkend die tote Mutter?</p>
+
+<p>Christoph von Denow war zum Sterben bereit. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Gott, Gott, laß so nicht das Haus Denow zu End
+kommen!&ldquo; stöhnte in seinem Winkel Erdwin, der Knecht.
+&bdquo;Herr, schenke du ihm einen adeligen Tod! Laß diesen
+Kelch an mir vorüber gehen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Er soll mir den Kopf zertreten und über meinen
+leblosen Leib weggehen, wenn er mich nicht hören will!&ldquo;
+sagte Anneke Mey tonlos.</p>
+
+<p>Und Dominus Basilius Sadler begann seine Buß-
+und Trostpredigt und teilte sie in die zwei Punkte:</p>
+
+<p>Erstlich, wie sich der &bdquo;heilige&ldquo; Schächer am Kreuz in
+einer letzten Not gehalten.</p>
+
+<p>Zum andern, wie herrlich ihn Christus getröstet
+habe.</p>
+
+<p>Der Himmel im Osten aber färbte sich immer purpurner,
+und die Lichter und Lampen der Kapelle erblaßten
+mehr und mehr vor dem Glanz, welchen Gott über
+die winterliche Welt leuchten ließ. Die Gefangenen
+neigten die Häupter tiefer und tiefer.</p>
+
+<p>&bdquo;&mdash; Euer Weib und Kinder befehlet ihr, die ihr welche
+habt, Gott dem Allmächtigen, der ist der Waisen Vater
+und der Witwen Richter. Ist schon dieser Tod vor der
+Welt schmählich, so gedenket, wenn ihr euch bekehret, daß
+ihr Gottes Kinder seid, dann wird solch Leiden ehrlich
+und herrlich. Denn der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten
+vor dem Herrn.&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Einen ehrlichen Tod! o Gott, schenke ihm einen
+adeligen Tod!&ldquo; murmelte Erdwin, der Knecht.</p>
+
+<p>&bdquo;So gebe Gott der Allmächtige euch allen die Gnade
+seines heiligen Geistes, daß ihr euer&rsquo; Sünd von Herzen
+erkennt und euch leid sein lasset, euch im wahren Glauben
+zu Christo wendet und darin bis ans Ende verharret,
+euer&rsquo; Seel in Geduld fasset, allen Menschen von Herzen
+vergebet und verzeihet, heut, diesen Tag, Gott eure
+Seele opfert und überantwortet und am großen Tag
+des Herrn mit Freuden auferstehet und mit Leib und
+Seele ewig lebet! Amen, Amen, Amen!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Sand war verlaufen in der Uhr auf der Kanzel.
+Der Herzog verließ mit seinen Hofbeamten seinen Stuhl,
+Anneke Mey verschwand von der Seite Erdwins, ohne
+daß dieser es bemerkte; &mdash; unter den Klängen des
+alten traurigen Chorales: Wenn mein Stündlein vorhanden
+ist &mdash; wurde den Verurteilten das Abendmahl
+gereicht.</p>
+
+<p>Nun war auch das geschehen; in die letzten Klänge
+der Orgel mischte sich grell und schneidend ein anderer
+Klang &mdash; der Schall des Armensünderglöckchens: Der
+Henker wartete an der Tür des Hauses Gottes!</p>
+
+<p>Im langsamen Zug traten die Verurteilten und
+Gefangenen, von ihren Wächtern umgeben, hinaus aus
+der Schloßkirche, vor welcher sie die harrende Menge
+mit wildem Geschrei und Droh- und Schmähworten
+empfing. Der schwere Gang begann, in das goldne
+Morgenrot hinein, über den Schloßplatz, die Dammbrücke,
+durch die Heinrichsstadt dem Kaisertor zu. Alle
+Gassen, durch welche der Zug ging, waren mit herzoglichen
+Reitern und den gewaffneten Bürgern besetzt, um
+den Andrang des Volks zu bändigen.</p>
+
+<p>Vor dem Kaisertor waren die vier Galgen gebaut,
+woran die vierundzwanzig Leben enden sollten. Fast
+eine halbe Stund verging, ehe die Verurteilten unter
+ihnen standen. Der Ring war geschlossen auf zwei Seiten
+von den Hellebardierern, auf den beiden andern Seiten
+von den Musketenschützen, deren Röhre auf den
+Gabeln lagen, deren glimmende Lunten zum augenblicklichen
+Gebrauch aufgeschroben waren. Dicht
+vor dem Gefreiten Arendt Jungbluth hielten sich
+Erdwin Wüstemann und der Junker Christoph von
+Denow.</p>
+
+<p>Der Alte hatte den Arm um seinen jungen Herrn
+geschlungen, und dieser das Haupt an die Brust
+des treuen Knechts gelegt. Sie sprachen leise zueinander.</p>
+
+<p>&bdquo;Weiß nicht, wo sie geblieben ist! weiß nicht, wo sie
+bleibt!&ldquo; sagte der Alte.</p>
+
+<p>&bdquo;Sie hat mich nicht sterben sehen wollen; &mdash; &rsquo;s ist
+auch besser so! O schütze sie &mdash; halte sie, trag sie auf den
+Händen und im Herzen und verlaß sie nie und nimmer
+&mdash; ich will meiner Mutter von ihr sagen, wenn ich zu ihr
+komm&rsquo;.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Junker, Junker, und Euer Vater&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Vergiß nicht, was du ihm versprochen hast.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Es wird geschehen, so wahr mir Gott helfe!&ldquo; sagte
+dumpf der Alte.</p>
+
+<p>&bdquo;Schau, es geht an &mdash; da hast du den Ring &mdash; mein
+Schwert liegt versenkt im Moor, es ist ein gutes, tadelloses
+Schwert geblieben! &mdash; Ihr sag &mdash; o Anneke!
+Anneke!&ldquo; Der Junker brach ab; er vermochte es nicht,
+weiter zu sprechen.</p>
+
+<p>Unterdessen war eine Totenstille in der Menschenmenge
+eingetreten, die aber jedesmal, wenn die Henker
+einen der Meuterer des Reichsheeres von der Leiter
+stießen, in ein gräßliches, langanhaltendes Geheul,
+durch welches scharf das Wirbeln der Trommel klang,
+überging. &mdash; &mdash; Dreiundzwanzig Mal hatte das Volk
+aufgeschrien. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph von Denow!&ldquo; rief nun der Profoß mit
+lauter Stimme.</p>
+
+<p>Zum letztenmal lagen sich Christoph und Erdwin in
+den Armen.</p>
+
+<p>&bdquo;Lebe wohl! lebe wohl!&ldquo; flüsterte der erste &mdash; &bdquo;vergiß
+nicht!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;So gnade Gott mir und Euch!&ldquo; schrie der Knecht
+Wüstemann und strich die langen greisen Haare aus der
+Stirn zurück. Der Junker von Denow stand am Fuße
+der Leiter!</p>
+
+<p>Er drückte die Hand auf das Herz und setzte den Fuß
+auf die erste Staffel: &bdquo;O Anneke, süße Anneke!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Gedanke kam ihm, er würde sie erblicken in der
+Menge, welche wieder in unheimlichster Stille den Richtplatz
+bedeckte; mit einem Sprung war er oben an der
+Seite des Henkers, der ihn mit dem Strick in der Hand
+erwartete. Er stieß die Hand desselben zurück &mdash; seine
+Augen schweiften über all die Tausende emporgerichteter
+Gesichter. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;O Anneke Mey, liebe Anneke, wo bist du? wo bist
+du? weshalb hast du mich verlassen?!&ldquo;</p>
+
+<p>Wieder streckte der Henker die Hand nach ihm aus; er
+hielt ein Blech, auf welchem die Worte standen &bdquo;Meutmacher
+und Meineidiger&ldquo; und wollte es dem Verurteilten
+an einem Bande um den Hals werfen.</p>
+
+<p>&bdquo;Lebe wohl, süße Anneke Mey!&ldquo; flüsterte Christoph
+von Denow; er schlug die Hand des Henkers abermals
+zur Seite, klirrend fiel das Blech, die Leiter nieder, zur
+Erde. &mdash;</p>
+
+<p>Mit einem wilden, entsetzlichen Schrei sprang Erdwin
+Wüstemann einen Schritt zurück, mit einem Griff
+riß er das Feuerrohr aus den Händen Arendt Jungbluths
+und an seine Wange. Der Schuß krachte &mdash;
+&bdquo;Gnade Gott mir und dir!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Dank, Erdwin &mdash; hast &mdash; Wort gehalten!&ldquo; sprach
+Christoph von Denow. Er schwankte &mdash; breitete die
+Arme aus: &bdquo;Lebe &mdash; wohl &mdash; süße &mdash; Anneke!&ldquo; Der
+entsetzte Henker wollte ihn halten, aber im dumpfen
+Fall stürzte der Körper die Leiter herab in den blutigen
+Schnee.</p>
+
+<p>Aufbrüllte die Menge und tobte durcheinander, der
+Ring löste sich &mdash; die Offiziere, die Beamten, der Gewaltiger
+stürzten sich auf den Knecht Erdwin, welcher
+regungslos dastand, das abgeschossene Rohr in der
+Hand.</p>
+
+<p>Und jetzt ein neues Geschrei von der Stadt her:
+&bdquo;Haltet, haltet!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein Reiter mit einem Papier in der Hand, im
+Galopp ansprengend! Ihm nach ein zweiter Reiter,
+vor sich auf dem Pferd ein halbohnmächtiges, todtbleiches
+Mädchen. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Halt, halt! Befehl, den Verurteilten Christoph
+von Denow zurückzuführen ins Gewahrsam!&ldquo;</p>
+
+<p>Anneke Mey leblos auf dem leblosen Körper des
+Erschossenen &mdash; Erdwin Wüstemann besinnungslos in
+den Armen Arendt Jungbluths &mdash; &mdash; &mdash; Trompetenschall
+von der Torwache; von der Stadt her eine neue
+Reiterschar: &bdquo;Der Herzog! der Herzog! &mdash; Zu spät! zu
+spät!&ldquo; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>In dem wiedergebildeten Ring hielt der junge Fürst
+mit seinem Gefolge; vor ihm stand barhäuptig der
+Profoß neben der schrecklichen Gruppe am Boden und
+erzählte das Vorgefallene. Als er geendet, stieg der
+junge Fürst ab von seinem Hengst und näherte sich
+dem treuen Knecht des Hauses Denow:</p>
+
+<p>&bdquo;Weshalb hast du das getan?&ldquo;</p>
+
+<p>Der Angeredete blickte irr und wirr im Kreise umher,
+antwortete nicht, sondern brach nur in ein herzzerreißendes
+Gelächter aus.</p>
+
+<p>Der Herzog legte die Hand an die Stirn; &mdash; dann
+wandte er sich:</p>
+
+<p>&bdquo;Hebt doch das Kind von der Leiche!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Leutnant von der Festung, Johannes Sivers,
+beugte sich nieder, um dem Befehl nachzukommen. Es
+gelang ihm mit Mühe:</p>
+
+<p>&bdquo;O gnädiger Gott, tot, tot, fürstliche Gnaden!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein dumpfes Gemurmel ging durch die lauschende
+Menge; der Fürst schritt finster sinnend einige Minuten
+auf und ab. Dann hob er das Haupt:</p>
+
+<p>&bdquo;Bei meinen Vätern, ich glaub&rsquo;, da ist ein bös Ding
+getan! leget die Dirne und den toten Knaben auf die
+Gewehrläufe &mdash; es ist Unsere Meinung und Wille, daß
+das Gericht wieder beginne. Wir sind entschlossen, selbsten
+im Ring zu sitzen!&ldquo;</p>
+
+<p>Während dieser letzten Worte hatte sich Erdwin
+Wüstemann langsam aufgerichtet; jetzt stand er wieder
+fest auf den Füßen. Der Herzog bemerkte es, er legte
+ihm die Hand auf die Schulter:</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr habet hart und schnell in unser Gericht eingegriffen.
+Stehet zu mir nun auch im Ring, daß die Wahrheit
+an den Tag kommt! Nachher, wenn&rsquo;s sich ausgewiesen
+hat, wie ich es mir zusammendenke, wollen Wir,
+daß Ihr die dort gen Ungarn führet als Unser Ehrbarer,
+Mannhafter und Getreuer! Höret Ihr, Hauptmann
+Erdwin Wüstemann?! Nun hebet die Leichen und rühret
+die Trommeln &mdash; fort! fort!&ldquo;</p>
+
+<p>Über der blutigen Morgenröte hatten sich die Wolken
+wieder dunkel zusammengezogen. Wieder sanken leise
+einzelne weiße Flocken herab. Sie mehrten sich von
+Augenblick zu Augenblick und deckten bald, einem Leichentuch
+gleich, die Körper Christophs und Annas, wie sie
+durch die Gassen der Stadt Wolfenbüttel, dem Zuge
+der Krieger und Bürger voran, dicht hinter dem Gefolge
+des Herzogs, welcher mit gesenktem Haupte vorausritt,
+der Gerichtsstätte am Schloß zugetragen wurden. Der
+alte Knecht Erdwin ging neben seinem jungen Herrn her;
+aber er wußte nichts davon &mdash; dunkel war es in ihm
+und um ihn! &mdash;</p>
+
+<p><em class="gesperrt">So starb der Junker Christoph von
+Denow eines adeligen Todes!</em></p>
+<p class="newstory"></p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Geheimnis">
+<span class="big">Ein Geheimnis</span><br />
+Lebensbild aus den Tagen Ludwigs XIV.
+</a>
+</h2>
+
+<h3><a name="IIn_der_Gasse_Quincampoix" id="IIn_der_Gasse_Quincampoix">I.<br />In der Gasse Quincampoix.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>enn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten
+in dieser Welt tagtäglich geschehen,
+so muß man sich sehr wundern, daß es
+immerfort Leute gegeben hat und noch gibt, welche
+sich abmühten und abmühen, selbst seltsame Abenteuer
+zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen Nebenmenschen
+durch Schrift und Wort für Wahrheit aufzubinden.
+Die Leute, die solches tun, verfallen denn auch meistens
+&mdash; wenn sie ihr leichtfertig Handwerk nicht ins Große
+treiben und was man nennt große Dichter werden, &mdash;
+der öffentlichen Mißachtung als Flausenmacher und
+Windbeutel, und alle Vernünftigen und Verständigen,
+die sich durch ein ehrlich Handwerk ernähren, als wie
+Prediger, Leinweber und Juristen, Bürstenbinder, Ärzte,
+Schneider, Schuster und dergleichen, blicken mit mitleidiger
+Geringschätzung auf sie herab, und das mit
+Recht!</p>
+
+<p>So sage ich denn reu- und wehmütig <i>confiteor,
+confiteor; &mdash; mea culpa, mea culpa!</i> so beginne ich
+denn meine &mdash; <em class="gesperrt">wahre Geschichte</em>.</p>
+
+<p>Es war in dem durch die Seeschlacht von La Hogue
+für das Glück und den Glanz des französischen Königs
+und Volkes so unheilvollen Jahre 1692. Viel Not und
+Elend herrschte im Lande; in Guienne, Bearn, Languedoc
+und der Dauphinée starben die Menschen zu
+Tausenden vor Hunger; Bankerotte, greuliche Mordtaten,
+Aufstände waren an der Tagesordnung; &mdash; es
+war, als wolle es abwärts gehen mit dem großen
+Louis. Es regnete, und der Novemberwind fuhr in
+kurzen Stößen scharf über die Stadt Paris und durch
+die Gasse Quincampoix, welche letztere gar wüst,
+schmutzig und verwahrlost ausschauete. Und sah die
+Gasse Quincampoix an diesem düstern Novembernachmittag
+häßlich aus, so gewährten die Menschen, welche
+sie bevölkerten, einen noch schlimmern Anblick. War
+es nicht, als ob das allgemeine Unglück jedem Gesicht
+seinen Stempel aufgedrückt habe? &mdash; O wie verkommen
+erschien diese französische Nation, welche sich für die erste
+der Welt hielt.</p>
+
+<p>Vier Uhr schlug&rsquo;s, als ein junger Mensch von ungefähr
+achtundzwanzig Jahren, hager, bleichgelblich
+von Gesicht, schwarzhaarig, schwarzäugig, in luftigen,
+ärmlichen, schäbigen Kleidern, in der Gasse Quincampoix
+in die Kneipe zum Dauphinswappen trat, um seine
+letzten Sols an eine Mahlzeit zu wenden. <em class="gesperrt">Stefano
+Vinacche</em> hieß dieser junge Mann; ein Neapolitaner
+war er von Geburt, ein Abenteurer vom reinsten Wasser.
+Als er in die Gargotte eintrat, herrschte in derselben
+ein wahrer Höllenlärm; ein Sergeant vom Regiment
+Villequier war mit einem Kornet vom Regiment Ruffey
+über dem Spiele in Streit geraten, ein Perückenmacher
+zankte mit einem Lakaien der Prinzessin von Conti
+über die Frage: ob es recht sei, daß Monsieur de Pomponne,
+der Staatsminister, so viel einzunehmen habe,
+als ein Prinz von Geblüt; &mdash; andere Gäste unterhielten
+sich über andere Gegenstände mit so viel Lärm als möglich.
+Im Hinterzimmer, welches an die Kneipstube
+grenzte, war ein äußerst hitziger Wortkampf ausgebrochen
+zwischen dem Wirt zum Dauphinswappen,
+Claude Bullot, und seiner hübschen galanten Tochter,
+&mdash; kurz, alles ging drunter und drüber, und nur Margot
+die Kellnerin, eine Picarde, bewahrte ihren Gleichmut,
+blickte vom Kamin aus mit untergeschlagenen
+Armen in das Getümmel und gab Achtung, daß dem
+Sergeanten und dem Kornet jede zerbrochene Flasche,
+jedes zertrümmerte Glas richtig angekreidet wurden.
+Margot die Picarde wußte, daß im Notfall die Marechaussée
+in der Gaststube alles schon ins Gleichgewicht
+bringen würde, und was im Hinterzimmer vorging,
+zwischen ihrem Herrn und der Mademoiselle, machte
+ihr das höchste Vergnügen. &mdash;</p>
+
+<p>Am Kamin legte Margot die Picarde dem Neapolitaner
+das Kuvert, und der Fremde war allzu ausgehungert
+und allzu naß, um anfangs an etwas
+anderes zu denken, als den Hunger aus dem Magen
+und die Kälte aus den übrigen Gliedern zu verjagen.
+Ruhig setzte er sich auf den ihm angewiesenen Platz,
+aß und trank, trocknete seine Kleider, bis er allgemach
+wieder auflebte und fähig wurde, seine Aufmerksamkeit
+den Vorgängen in seiner Umgebung zuzuwenden.
+Der Sergeant vom Regiment Villequier erhielt richtig
+einen Degenstoß in die Schulter, verhaftet wurde darüber
+der Kornet vom Regiment Ruffey; die Bürger,
+Lakaien, Diebe und Tagediebe zerstreuten sich mit einbrechender
+Dämmerung, um sich vor der Dunkelheit
+zu retten, oder in der Dunkelheit ihren lichtscheuen Geschäften
+nachzugehen. Es wurde still in der Gargotte,
+nur im Hinterzimmer konnte man sich immer noch nicht
+beruhigen. In der Tür, welche auf die Gasse führte,
+stand die Kellnerin Margot und blickte in den Regen
+und die Nacht hinaus, das Feuer im Kamine prasselte
+und knatterte und warf seinen roten Schein über die
+Tische und Bänke des weiten Gemaches, die trübe
+Hängelampe qualmte an der geschwärzten Decke; niemand
+störte jetzt mehr den jungen Neapolitaner in
+seinen trüben Gedanken. Mechanisch klimperte er mit
+den wenigen Geldstücken in seiner Tasche; &mdash; was
+sollte er beginnen, um nicht Hungers zu sterben, um
+nicht in den Gassen dieses schmutzigen, kalten, stinkenden
+Paris zu erfrieren? &bdquo;O Neapel, Neapel!&ldquo; seufzte
+Stefano Vinacche.</p>
+
+<p>Jawohl, etwas anderes war es, eine Nacht obdachlos
+am Strande des tyrrhenischen Meeres, ein anderes,
+eine Nacht obdachlos am Ufer der Seine zuzubringen.
+Eine Art stumpfsinniger Schlaftrunkenheit überkam
+den jungen Italiener, seine Augen schlossen sich unwillkürlich,
+und immer dumpfer und verworrener vernahm
+er das Schluchzen der Mademoiselle Bullot und
+die kreischende Stimme des zornigen Vaters.</p>
+
+<p>Aber was war das? Plötzlich schwand jedes Zeichen
+von Ermüdung, von Erschöpfung an dem Italiener.
+Vorgebeugt saß er auf seinem Stuhle und horchte
+mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach der Tür
+hin, welche in das Hinterzimmer führte. Das Wechselgespräch
+zwischen Vater und Tochter war dem Fremden
+auf einmal interessant geworden durch einen Namen,
+der soeben mehrere Male darin vorgekommen war.</p>
+
+<p>Immer gespannter horchte Vinacche.</p>
+
+<p>Hatte nicht Meister Claude Bullot, ehe ihm Monseigneur
+der Herzog von Chaulnes die Kneipe zum
+Dauphinswappen einrichtete, als Seifensieder Bankerott
+gemacht?</p>
+
+<p>War nicht Mademoiselle Bullot ein reizendes Schätzchen,
+dem man schon etwas zu Gefallen tun konnte?</p>
+
+<p>Hoch spitzte Stefano Vinacche die Ohren beim
+Namen des Herzogs von Chaulnes.</p>
+
+<p>&bdquo;Oho, Stefano, solltest du da unvermutet in den
+Honigtopf gefallen sein? Oho, Glück geht immer über
+Verstand, &mdash; <i>va&rsquo; piu un&rsquo; oncia di fortuna, che una
+libra di sapere</i>. Achtung, Achtung, Vinacche!&ldquo;</p>
+
+<p>Mancherlei sprach der Vater im Hinterzimmer der
+Kneipe zum Wappen des Dauphins. Mancherlei sprach
+das Töchterlein dagegen; immer fröhlicher rieb sich
+Stefano die Hände, bis endlich die Verbindungstür
+mit Macht aufgerissen wurde und Mademoiselle &mdash;
+<i>éplorée</i> in das Schenkzimmer stürzte. Hinter ihr erschien
+der zornige Papa, einen zusammengedrehten Strick
+in der Hand:</p>
+
+<p>&bdquo;Warte, Kreatur!&ldquo;</p>
+
+<p>Stefano Vinacche wußte schon längst, was er zu
+tun hatte. Er warf sich auf den ergrimmten Gargottier
+und packte seinen erhobenen Arm.</p>
+
+<p>&bdquo;Monsieur?!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monsieur!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Laßt mich frei! was fällt Euch ein?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich leid&rsquo;s nicht, daß Ihr Mademoiselle mißhandelt;
+&mdash; tretet hinter mich, Mademoiselle!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Margot, Margot!&ldquo; rief endlich der Wirt zum
+Dauphinswappen.</p>
+
+<p>Margot erschien, stemmte aber nur die Arme in die
+Seite und sah der Szene zu, ohne ihrem Herrn zu Hilfe
+zu kommen.</p>
+
+<p>&bdquo;Haltet ihn, um Gottes willen, haltet ihn, er wird
+mich ermorden, wenn Ihr ihn freilaßt!&ldquo; rief Mademoiselle
+Bullot.</p>
+
+<p>&bdquo;Seid ruhig, Schönste; er soll Euch nichts zuleide
+tun. Pfui, schämt Euch, Monsieur, wie könnt Ihr eine
+liebenswürdige Tochter also behandeln?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich frage Euch zum letztenmal, wollt Ihr mich loslassen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;In Ewigkeit nicht, wenn Ihr mir nicht den Strick
+gebt, Signor, und versprecht artig zu sein gegen die
+Damen, Signor!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Morbleu!&ldquo; schrie der Wirt zum Dauphinswappen,
+und der Himmel weiß, was geschehen wäre, wenn nicht
+der Eintritt eines in einen Mantel gewickelten Mannes
+der Szene ein Ende gemacht hätte.</p>
+
+<p>Der Mantel fiel zur Erde, und Wirt und
+Töchterlein und Kellnerin und Italiener riefen mit
+einer Stimme:</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Eingetretene war Karl d&rsquo;Albert, Herzog von
+Chaulnes, Pair von Frankreich, Vidame von Amiens,
+ein ältlicher Mann, dem man den &bdquo;großen Herrn&ldquo;
+nicht im mindesten ansah, woran der bürgerliche Anzug
+durchaus nicht schuld war; ein Mann, von welchem
+einige Jahre später ein deutscher Schriftsteller sagte:
+&bdquo;Er erwartet den Tod mitten in seinen Vergnügungen;
+er ist freigebig ohne Unterschied und von einem sehr
+abgenutzten Gehirne.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Holla, das geht ja lustig her!&ldquo; rief der Herzog.
+&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, und auch Vinacche dabei!
+Sagt mir um aller Teufel willen &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>Mademoiselle Bullot ließ ihn nicht aussprechen; sie
+eilte auf den hohen Herrn zu und &mdash; warf sich an seinen
+Hals, schluchzend, Gift und Galle speiend:</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur, ich halt&rsquo;s nicht mehr aus; Monseigneur,
+errettet mich aus den Händen meines Vaters!
+Wäre dieser edle junge Mann eben nicht dazwischen
+gekommen, er hätte mich gewißlich zu Tode geschlagen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wieder das alte Lied? Bullot, Bullot, ich frage
+Euch um Gottes willen, glaubt Ihr in der Tat, ich habe
+Euch Eurer roten Nase wegen zum Eigentümer dieses
+Dauphinswappens gemacht? Ich sage Euch, auf den
+Knieen solltet Ihr Eure liebenswürdige Tochter verehren;
+&mdash; <i>notre Dame de Miracle</i>, ich sage Euch zum
+allerletzten Male, behandelt Mademoiselle, wie es sich
+ziemt, oder &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Monseigneur!&ldquo; flehte Meister Claude, welcher
+seinen Strick längst ganz verstohlen in den Winkel geworfen
+hatte und katzenbuckelnd so gemein und niederträchtig aussah,
+wie man unter der Regierung des großen Louis
+nur aussehen konnte. &bdquo;O Monseigneur, ich versichere
+Euch, <em class="gesperrt">sie</em> hat&rsquo;s darauf abgesehen, ihren unglückseligen
+Vater in ein frühzeitig Grab zu bringen. Monseigneur,
+Ihr kennt sie nur von der einen Seite; aber ich &mdash; o
+Monseigneur!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Still! Ihr seid ein Schurke, und Mademoiselle
+ist ein Engel! &mdash; beruhige dich, Kind &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur, er ist zu boshaft. Monseigneur,
+wenn Ihr mich wirklich liebt, so laßt mich nicht in seiner
+Gewalt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ruhig, ruhig, süßes Kind. Was ist denn nur
+eigentlich vorgefallen?&ldquo;</p>
+
+<p>Ja, was war vorgefallen?</p>
+
+<p>Eine Zungenfertigkeit sondergleichen entwickelten
+Mademoiselle Bullot und Meister Claude Bullot
+gegeneinander, doch haben wir mit dem Ausgangspunkte
+des Streites nicht das mindeste zu schaffen und
+brauchen nur zu sagen, daß der Herzog von Chaulnes,
+obgleich er im Grunde seines Herzens dem erzürnten
+Papa recht geben mußte, in Anbetracht seiner zarten
+Stellung zu Mademoiselle sich auf deren Seite stellte.
+Sehr ärgerlich war der Herzog von Chaulnes! In
+äußerst lebendiger Stimmung war er durch die Gasse
+Quincampoix zum Dauphinswappen geschlichen, nun
+fand er statt Ruhe und Behagen, Unzufriedenheit und
+Streit; wo er Lächeln und Lachen erwartet hatte, mußte
+er Tränen trocknen; &mdash; <i>notre Dame de Miracle</i>, es war
+zu ärgerlich!</p>
+
+<p>&bdquo;Etienne,&ldquo; sagte der Herzog zu Vinacche, &bdquo;Etienne,
+ich bin dieses Lärms müde; ich will nach Haus und
+du magst mit mir kommen. Meister Claude, ich versichere
+Euch meiner gnädigsten Ungnade! Mademoiselle,
+Eure rotgeweinten Augen betrüben mich sehr &mdash; gute
+Nacht, Mademoiselle &mdash; dazu zweihundert Louisdor
+im Landsknecht verloren &mdash; kommt, Etienne Vinacche,
+Ihr mögt mit mir zum Hotel fahren, ich habe Euch
+etwas zu sagen; ich habe eine Idee!&ldquo;</p>
+
+<p>Vergebens hing sich Mademoiselle Bullot an den
+Arm des Herzogs mit den süßesten Schmeicheleien
+und Liebkosungen. Er machte sich los, streckte dem
+niedergeschmetterten Wirt zum Dauphinswappen eine
+Faust entgegen, ließ sich von Vinacche den Mantel
+wieder um die Schultern legen und verließ, im höchsten
+Grade mißmutig gestimmt, mit seiner &bdquo;Idee&ldquo; die
+Gargotte, in welcher nach seinem Abzuge der Tanz
+zwischen Vater und Tochter von neuem anging, doch
+diesmal mit allem Vorteil auf Seiten von Mademoiselle.
+Meister Claude Bullot sah ein, daß er ein
+Esel &mdash; ein gewaltiger Esel war; demütig kroch er zu
+Kreuze und nahm jede Injurie, welche ihm das Töchterlein
+an den Kopf warf, mit gekrümmtem Rücken in
+Empfang.</p>
+
+<p>Unterdessen wateten mühsam der Herzog und der
+Italiener durch den Schmutz und die Gefahren der
+Gassen von Paris, bis sie an einer Ecke zu der harrenden
+Karosse des Herzogs gelangten. Mit tiefen Bücklingen
+riß der Lakai den Wagenschlag auf.</p>
+
+<p>&bdquo;Steig hinten auf, Etienne; ich habe mit dir zu
+reden,&ldquo; sagte der Herzog und warf sich in die Kissen
+seiner Kutsche.</p>
+
+<p>&bdquo;Achtung, Stefano, jetzt mag&rsquo;s in deinen Topf
+regnen!&ldquo; murmelte der schlaue Neapolitaner, und schwerfällig
+setzte sich die Karosse in Bewegung.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="IIGold" id="IIGold">II.<br />Gold.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>ährend vor dem flackernden Kaminfeuer in
+seinem Hotel der Herzog von Chaulnes dem
+obdachlosen Vagabunden Stefano Vinacche
+den annehmbaren Vorschlag tut, Mademoiselle Bullot,
+das liebenswürdige Erzeugnis der Gasse Quincampoix,
+zu &mdash; heiraten und dadurch nicht nur sich selbst, sondern
+auch Monseigneur aus mancherlei ärgerlichen Verdrießlichkeiten
+des Lebens herauszureißen, wollen wir erzählen,
+wer Stefano Vinacche eigentlich war. Im Jahre 1689
+war der junge Neapolitaner als Lakai im Gefolge des
+Herzogs, dem er zu Rom mancherlei Dienste kurioser
+Art geleistet haben mochte, nach Frankreich gekommen,
+ohne jedoch in diesem Lande anfangs die Träume,
+welche ihm seine südliche Phantasie vorspiegelte, zu
+verwirklichen. Es wird uns nicht gesagt, was ihn im
+folgenden Jahre schon aus dem Dienste seines Gönners
+trieb, und ihn bewog, sich als gemeiner Soldat in das
+Regiment Royal-Roussillon aufnehmen zu lassen. Wir
+wissen nur, daß er im Jahre 1691 dem Regimentsschreiber
+Nicolle, seinem Schlafkameraden, einige Offiziersuniformen,
+welche derselbe ausbessern sollte, stahl
+und mit ihnen desertierte, welches Wagestück aber fast
+übel abgelaufen wäre. Auf dem Wege nach Paris, der
+Stadt, nach welcher von jeher eine dumpfe Ahnung
+künftiger Geschicke das seltsame Menschenkind trieb,
+gefangen und als Fahnenflüchtiger ins Gefängnis geworfen
+und zum Tode verurteilt, entging er nur durch
+Verwendung des Grafen von Auvergne dem Galgen.
+Im nächsten Jahre in Freiheit gesetzt, machte sich
+Stefano Vinacche von neuem auf den Weg nach Paris,
+und haben wir seiner Ankunft in der Gargotte zum
+Wappen des Dauphins in der Gasse Quincampoix soeben
+beigewohnt. &mdash;</p>
+
+<p>Ei, wie wunderlich, wunderlich spinnt sich ein
+Menschenleben ab! Wir armen blinden Leutlein auf
+diesem Erdenballe wandern freilich in einem dichten
+Nebel, der sich nur zeitweilig ein wenig hier und da
+lüftet, um im nächsten Augenblicke desto dichter sich
+wieder zusammenzuziehen. Wir getriebenen und treibenden
+Erdbewohner haben freilich nur eine dumpfe
+Ahnung von dem, was im Getümmel ringsumher
+vorgeht. Warum sollten wir uns auch in der kurzen
+Spanne Lebenszeit, die uns gegeben ist, viel um andere
+Leute bekümmern, da wir doch so viel mit uns selbst
+zu tun haben? Über allen Nebeln ist Gott; der mag
+zusehen, daß alles mit rechten Dingen zugeht; der mag
+acht geben, daß sich der Faden der Geschlechter, welchen
+er durch die Jahrtausende von dem Erdknäuel abwickelt,
+nicht verwirrt. Nur weil sie abgewickelt werden,
+drehen sich Sonne, Mond, Sterne; &mdash; von jeder leuchtenden
+Kugel läuft ein Faden zu dem großen Knäuel
+in der Hand Gottes, zu dem großen letzten Knäuel,
+in welchem jeglicher Knoten, der unterwegs entstanden
+sein mochte, gelöst sein wird, in welchem alle
+Fäden nach Farben und Feinheit harmonisch sich zusammenfinden
+werden.</p>
+
+<p>Da ist solch ein Knötlein im Erdenfaden! wir
+finden es in unsrer Erdgeschichte am Ende des siebenzehnten
+und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
+nach Jesu Geburt, wo viel Sünde, Schande und Verderbnis
+sich häßlich ineinander schlingen, wo Krieg und
+Sittenlosigkeit das abscheulichste Bündnis geschlossen
+haben, daß das jetzige Gechlecht schaudernd darob die
+Hände über dem Kopfe zusammenschlägt.</p>
+
+<p>Der Erzähler aber, des letzten großen knotenlosen
+Knäuels in der Hand Gottes gedenkend, schlägt nicht
+die Hände über dem Kopfe zusammen; &mdash; den Handschuh
+hat er ausgezogen, mutig in die Wüstenei hineingegriffen,
+einen längst begrabenen, vermoderten, vergessenen
+Gesellen hervorgezogen. Da ist er &mdash; <em class="gesperrt">Stefano
+Vinacche</em> &mdash; späterhin Monsieur Etienne de
+Vinacche, großer Arzt, berühmter Chemiker, &mdash; Goldmacher,
+nächst Samuel Bernard der reichste Privatmann
+seiner Zeit!...</p>
+
+<p>&bdquo;Also Etienne,&ldquo; sprach der Herzog von Chaulnes
+zu dem halb verhungerten, obdachlosen Vagabunden,
+&bdquo;eine allerliebste Frau und eine vortreffliche Aussteuer....&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Servitore umilissimo!</i>&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und, Etienne, eine Empfehlung an meinen Freund,
+den Herzog von Brissac. Ihr geht nach Anjou, &mdash; lebt
+auf dem Lande, wie die Engel <i>à la Claude Gillot</i>, &mdash;
+ich besuche Euch &mdash; stehe Gevatter &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ah!&ldquo; machte der Italiener mit einer unbeschreiblichen
+Bewegung des ganzen Oberkörpers.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Plait-il?</i>&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O nichts, Monseigneur!&ldquo; sagte der Italiener.
+&bdquo;Ihr seid mein gnädigster, gütigster Herr und Gebieter.&ldquo;
+Er machte eine Verbeugung bis auf den
+Boden.</p>
+
+<p>&bdquo;Wann soll die Hochzeit sein, Monseigneur?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;So schnell als möglich &mdash; ach!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur seufzt?!&ldquo; rief Stefano schnell. &bdquo;Noch
+ist&rsquo;s Zeit, daß Monseigneur Sein Wort zurücknehme;
+Mademoiselle Bullot ist ein reizendes Mädchen; aber
+wenn Monseigneur die hohe Gnade haben wollte, mich
+wieder zu seinem Kammerdiener zu machen &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nein, nein, nein, es bleibt dabei, Vinacche; Ihr
+heiratet die Schöne, und ich &mdash; <i>ah notre Dame de
+Miracle</i> &mdash; ich will hingehen und sorgen, daß Madame
+von Maintenon und der Pater La Chaise davon zu
+hören bekommen. Also geht, Vinacche; bis zur Hochzeit
+gehört Ihr wieder zu meinem Haus. Der Intendant
+soll für Euch sorgen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur ist der großmütigste Herr der Welt!&ldquo;
+rief Vinacche, dem Herzog die Hand küssend. Unter
+tiefen Bücklingen schritt er rücklings zur Tür hinaus,
+und tief seufzend blickte ihm sein Gönner nach.</p>
+
+<p>Als sich die Tür hinter dem Italiener geschlossen
+hatte, murmelte dieser: &bdquo;<i>Corpo di Bacco</i>, Achtung,
+Achtung, Vinacche, Stefano mein Söhnchen! Halte
+die Augen offen, mein Püppchen! Ist&rsquo;s mir nicht versprochen
+bei meiner Geburt, daß ich vierspännig
+fahren sollte in der Hauptstadt der Franzosen?!&ldquo;</p>
+
+<p>Drinnen rieb sich der Herzog die Stirn und ächzte:</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Madame von Maintenon ist eine große Dame!
+<i>Vive la messe!</i>&ldquo;</p>
+
+<p>Acht Tage nach dem eben Erzählten war eine Hochzeit
+in der Gasse Quincampoix. Der Wirt zum Dauphinswappen
+Claude Bullot verheiratete zu seiner
+eigenen Verwunderung und zur Verwunderung sämtlicher
+Nachbaren und Nachbarinnen seine hübsche
+Tochter mit einem ganz unbekannten jungen Menschen,
+der nicht einmal ein Franzose war. Mancherlei
+Glossen wurden darüber gemacht, und allgemein hieß
+es, Mademoiselle Bullot sei eine Törin, welche nicht
+wisse, was man mit einem hübschen Gesicht und tadellosen
+Wuchs in Paris anfangen könne.</p>
+
+<p>Da aber Mademoiselle Bullot und Stefano Vinacche
+mit ziemlich vergnügten Mienen ihr Schicksal
+trugen, so mochten Papa und Nachbarschaft nach Belieben
+sich wundern, nach Belieben Glossen machen.
+Sämtliche Dienerschaft des Herzogs von Chaulnes
+verherrlichte die Hochzeit durch ihre Gegenwart; Flöten
+und Geigen erklangen in der Gargotte zum Wappen
+des Dauphins. Man sang, jubelte, trank auf das
+Wohl der Neuvermählten bis tief in die Nacht. Zuletzt
+artete das Gelage nach der Sitte der Zeit in eine
+wahre Orgie aus; blutige Köpfe gab&rsquo;s, und zum Schluß
+mußte der Polizeileutnant einschreiten und die ausgelassene
+Gesellschaft auseinander treiben. Am folgenden
+Tage machte das junge Paar sich auf den Weg
+zum Gouverneur von Anjou, dem Herzog von Brissac,
+einem &bdquo;armen Heiligen, dessen Name nicht im Kalender
+steht&ldquo;.</p>
+
+<p>Ein tüchtiges Schneegestöber wirbelte herab, als
+der Wagen der Neuvermählten hervorfuhr aus der
+Gasse Quincampoix. Auf der Schwelle seiner Tür stand
+der Vater Bullot mit der Kellnerin Margot, und beide
+blickten dem Fuhrwerk nach, so lange sie es sehen
+konnten. Dann zog der Wirt zum Dauphinswappen
+die Schultern so hoch als möglich in die Höhe und trat
+mit der Picarde zurück in die Schenkstube, welche noch
+deutlich die Spuren der Hochzeitsnacht an sich trug.</p>
+
+<p>&bdquo;Alles in allem genommen, ist&rsquo;s doch ein Trost
+und ein Glück, daß ich sie los bin,&ldquo; brummte der
+zärtliche Papa. &bdquo;Es hätte noch ein Unglück gegeben;
+das war ja immer, als brenne der Scheuerlappen
+zwischen uns. Vorwärts, Margot! einen Kuß und an
+die Arbeit, mein Liebchen, auf daß das Haus rein
+werde.&ldquo;</p>
+
+<p>Liebe Freunde, wer das Leben Stefano Vinacches
+beschreibt, der muß recht acht geben, daß er seinen Weg
+im Nebel nicht verliere. Schattenhaft gleitet die Gestalt
+des Abenteurers vor dem Erzähler her, bald zu
+einem Zwerg sich zusammenziehend, bald riesenhaft
+anwachsend, gleich jener seltsamen Naturerscheinung,
+die den Wanderer im Gebirge unter dem Namen des
+Nebelgespenstes erschreckt. Bald klarer, bald unbestimmter
+tritt Stefano Vinacche aus den Berichten seiner Zeitgenossen
+uns entgegen. Wir wissen nicht, was ihn mit
+seiner Frau so schnell aus Anjou nach Paris zurücktrieb;
+wir wissen nur, daß am neunten April 1693,
+an dem Tage, an welchem Roger von Rabutin, Graf
+von Bussy, sein wechselvolles Leben beschloß, der Papa
+Bullot in höchster Verblüffung die Hände über dem
+Kopfe zusammenschlug, als er Tochter und Schwiegersohn
+zu Fuß, kotbespritzt, mit höchst winziger Bagage,
+durch die Gasse Quincampoix auf das Dauphinswappen
+zuschreiten sah. Der gute Alte traute seinen Augen
+nicht und überzeugte sich nicht eher von der Wirklichkeit
+dessen, was er erblickte, bis ihm Madame Vinacche
+schluchzend um den Hals fiel, und Stefano ihn herzzerbrechend
+anflehte, ihn und sein Weib für eine Zeit
+wieder unter sein Dach zu nehmen.</p>
+
+<p>&bdquo;Wir wollen auch recht artige Kinder sein!&ldquo; bat
+Madame Vinacche.</p>
+
+<p>&bdquo;Und wir werden nicht lange Euch zur Last sein!&ldquo;
+rief Stefano.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Diable! diable!</i>&ldquo; ächzte Meister Claude Bullot, und
+Margot, die Picarde, gab ihm verstohlen einen Rippenstoß,
+daß er fest bleibe und sich nicht beschwatzen lasse.</p>
+
+<p>Wer hätte aber den beredten Worten Stefano
+Vinacches widerstehen können? Das Ende vom Liede
+war, daß das junge Ehepaar mit seinen armen Habseligkeiten
+einzog in die Kneipe zum Dauphinswappen,
+und daß Meister Bullot und Margot, die Kellnerin,
+nachdem Madame Vinacche die Schwelle überschritten
+hatte, seufzend sich in das Unvermeidliche fügten.</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Margot, Margot, nun sind die schönen Tage
+wieder vorüber!&ldquo; seufzte Meister Claude, und während
+die Heimgekehrten im oberen Stockwerk des Hauses
+ihre Einrichtungen trafen, saßen am Kamin in der
+leeren Schenkstube der Wirt und seine Kellnerin trübselig
+einander gegenüber und konnten sich nur durch
+das weise Wort, daß man das Leben nehmen müsse,
+wie es komme, &mdash; trösten. Dann schlossen die beiden
+Parteien einen Kompromiß, in welchem festgestellt
+wurde, daß weder Monsieur Etienne noch Madame in
+die Angelegenheiten des Papas und der Kellnerin
+Margot sich mischen sollten, und daß sie durch ihnen
+passend scheinende Mittel für ihrer Leiber Nahrung und
+Kleidung selbst zu sorgen hätten. Wohnung, Licht und
+Feuerung versprachen Meister Bullot und Margot die
+Picarde zu liefern.</p>
+
+<p>Feierlich wurde dieser Vertrag von einem Stammgast
+der Gargotte, dem Sieur Le Poudrier, einem
+Winkeladvokaten, verbrieft und besiegelt, und man
+lebte fortan miteinander, wie man konnte.</p>
+
+<p>Da der Herzog von Chaulnes seine Verpflichtungen
+gegen das junge Ehepaar glänzend abgetragen zu haben
+glaubte, so floß die Quelle seiner Gnaden immer spärlicher
+und versiegte zuletzt ganz. Die Haushaltung im
+zweiten Stockwerk des Dauphinswappens mußte für
+Eröffnung anderer Geldquellen sorgen, zumal da noch
+im Laufe des Sommers ein kleiner Vinacchetto das
+Licht der Gasse Quincampoix erblickte. Die Not und
+der Zug der Zeit machten Stefano zu einem Charlatan;
+aber jedenfalls zu einem genialen Charlatan.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Anima mia</i>, laß den Mut nicht sinken, wir fahren
+doch noch vierspännig!&ldquo; sagte er zu seiner hungernden
+Frau und fing an, den Nachbarn und Nachbarinnen,
+sowie den Gästen, welche die Gargotte seines Schwiegervaters
+besuchten, Mittel gegen das Fieber und andere
+unangenehme Übel zu verkaufen.</p>
+
+<p>Allmählich verwandelte sich das Wohngemach der
+kleinen Familie in ein schwarzangeräuchertes chemisches
+Laboratorium; mit wahrer Leidenschaft warf sich Stefano
+Vinacche, obgleich er bis an sein Ende weder
+lesen noch schreiben lernte, auf das Studium der Simpla
+und der Mineralien.</p>
+
+<p>Eine gewaltige Veränderung ging mit dem seltsamen
+Menschen vor; &mdash; nicht mehr war er der vagabondierende
+Abenteurer, der das Glück seines Lebens
+auf den Landstraßen, in den Gassen suchte. Tag und
+Nacht schritt er grübelnd einher, das Haupt zur Brust
+gesenkt, die Arme über der Brust gekreuzt. Wer konnte
+sagen, was er suchte?</p>
+
+<p>Eine fast ebenso überraschende Veränderung kam
+über das junge Weib Vinacches. Die frühere Mätresse
+des Herzogs von Chaulnes verehrte den ihr aufgedrungenen
+Mann auf den Knien, sie war die treuste,
+liebendste Gattin geworden, und ist es über den Tod
+Stefanos hinaus geblieben.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Sie</em> konnte lesen, <em class="gesperrt">sie</em> konnte schreiben: &mdash;wie viele
+alte vergilbte Bouquins hat sie dem suchenden Forscher,
+in stillen Nächten, während sie ihr Kind wiegte, vorgelesen!</p>
+
+<p>Der Vater Bullot hatte nicht mehr Ursache, sich
+über das wilde, unbändige Gebaren seiner Tochter zu
+beklagen. Die eigentümliche Gewalt, welche Stefano
+Vinacche späterhin über die schärfsten, klarsten Geister
+hatte, trat auch jetzt in der engeren Sphäre schon bedeutend
+hervor. Papa Claude, Margot die Picarde,
+Gratien Le Poudrier der Rabulist, alle Nachbaren und
+alle Nachbarinnen beugten sich dem schwarzen, funkelnden
+Auge Stefanos. Der Stein war ins Wasser
+gefallen, und die Wellenringe liefen in immer weitern
+Kreisen fort; &mdash; weit, weit über die Gasse Quincampoix
+hinaus verbreitete sich der Ruf Stefano Vinacches!</p>
+
+<p>Unterdessen schlug man sich in Deutschland, Flandern,
+Spanien, Italien und auf der See. In Deutschland
+verbrannte Melac Heidelberg, und der Feldmarschallleutnant
+von Hettersdorf, der &bdquo;die <i>poltronnerie</i>
+seines Herzens mit großen <i>Peruquen</i> und bebremten
+Kleidern zu bedecken pflegte&ldquo;, &mdash; Hettersdorf,
+der elende Kommandant der unglücklichen Stadt, wurde
+auf einem Schinderkarren durch die Armee des Prinzen
+Ludwig von Baden geführt, nachdem ihm der Degen
+vom Henker zerbrochen worden war. Aus Flandern
+schickte der Marschall von Luxemburg durch d&rsquo;Artagnan
+die Nachricht vom Sieg bei Neerwinden. Roses in
+Katalonien wurde erobert. Zu Versailles, zu Paris in
+der Kirche unserer lieben Frau sang man <i>Te Deum
+laudamus</i>; aber im Bischoftum Limoges starben gegen
+zehntausend Menschen Hungers. Zu Lyon wie zu
+Rouen fiel das Volk in den Gassen wie Fliegen, und
+ihrer viel fand man, welche den Mund voll Gras hatten,
+ihr elendes Leben damit zu fristen.</p>
+
+<p>Stefano Vinacche, nach einer Reise in die Bretagne,
+verließ die Gasse Quincampoix und das Haus seines
+Schwiegervaters und zog in die Gasse Bourg l&rsquo;Abbé.
+Strahlend brach die Glückssonne Stefanos durch die
+Wolken. Fünf Monate war er in der Bretagne gewesen,
+und niemand hat jemals erfahren, was er dort
+getrieben, &mdash; gesucht, &mdash; gefunden hat! Zu Fuß zog
+er aus, in einer zweispännigen Karosse kehrte er zurück.
+Zwei Lakaien und ein Kammerdiener bedienten
+ihn in der Straße Bourg l&rsquo;Abbé, wohin er aus der
+Gasse Quincampoix zog. Von neuem errichtete er in
+seiner jetzigen Wohnung seine chemischen Feuerherde,
+von neuem braute er seine Rezepte, und das Gerücht
+ging aus, Monsieur Etienne Vinacche suche den Stein
+der Weisen, und es sei Hoffnung vorhanden, daß er
+denselben binnen kurzem finden werde; und wieder
+tritt dem Erzähler der alte Gönner des unbegreiflichen
+Mannes, der Herzog von Chaulnes, entgegen, welcher
+ihm zum Ankauf von Kohlen, Retorten und dergleichen
+Apparaten zweitausend Taler gibt.</p>
+
+<p>Im Jahr der Gnade Eintausendsiebenhundert war
+das große Geheimnis gefunden; &mdash; Stefano Vinacche
+hatte das Projektionspulver hergestellt, Etienne Vinacche
+machte &mdash;</p>
+
+<p class="center"><em class="gesperrt">Gold!</em>
+</p>
+
+<p>In demselben Jahre Eintausendsiebenhundert kaufte
+<em class="gesperrt">Monsieur de Vinacche</em> aus dem Inventar
+von Monsieur, dem Bruder des Königs, für sechzigtausend
+Livres Diamanten.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="IIIGlueck_und_Glanz" id="IIIGlueck_und_Glanz">III.<br />Glück und Glanz.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>ir schauen wie in ein Bild von Antoine Watteau
+durch das zarte frühlingsfrische Blätterwerk
+zu Coubron &mdash; fünf Meilen von
+Paris &mdash; wo Monsieur Etienne de Vinacche auf seinem
+reizenden Landsitze ein glänzendes Fest gibt. Die untergehende
+Maisonne des Jahres Siebzehnhunderteins
+übergießt die Landschaft mit rosigem Schein; &mdash; Lachen
+und Kosen und Flüstern des jungen Volkes ertönt im
+Gebüsch; geputzte ältere Herren und Damen durchwandeln
+gravitätisch die gradlinigen Gänge des Parkes.
+Karossen und Reitpferde mit ihrer Begleitung von
+Kutschern, Lakaien und Läufern halten vor dem vergoldeten
+Gittertor; Monsieur de Vinacche und seine
+Frau sind eben im Begriff, von einem Teil ihrer Gäste,
+der nach Paris oder den umliegenden Landhäusern
+zurückkehren will, Abschied zu nehmen.</p>
+
+<p>Die Dame Rochebillard, die Geliebte Tronchins,
+des ersten Kassierers Samuel Bernards, des &bdquo;<i>fils de
+Plutus</i>&ldquo;, &mdash; wird von Madame de Vinacche zu ihrer
+Kutsche geleitet; Monsieur Etienne befindet sich im
+eifrigen Gespräch mit einem jungen Edelmann, dem
+Sieur de Mareuil. Für fünftausend Livres will Vinacche
+dem Herrn von Mareuil einen konstellierten
+Diamant, vermöge dessen man immerfort glücklich
+spielen soll, anfertigen. Ein wenig weiter zurück
+unterhalten sich die beiden reichen Bankiers van der
+Hultz, der Vater und der Sohn, mit Herrn Menager,
+<i>Sécrétaire du Roi</i> und Handelsdeputierten von Rouen;
+&mdash; auf einem Rasenplatz tanzen einige junge Paare
+nach den Tönen einer Schalmei und eines Dudelsacks
+ein Menuett; bunte Diener tragen Erfrischungen umher,
+für die abfahrenden Gäste erscheinen andere; der
+Chevalier von Serignan, Monsieur Nicolaus Buisson,
+der Sieur Destresoriers, Edelleute von der Robe,
+Edelleute vom Degen, Finanzleute, Beamte und so
+weiter mit ihren Frauen und Töchtern, allgesamt angezogen
+von dem Glanz, der Pracht und dem großen
+Geheimnis des einstigen neapolitanischen Bettlers Stefano
+Vinacche.</p>
+
+<p>Hat sich aber um Mitternacht dieser Schwarm der
+Gäste verloren, so erscheinen andere Gestalten. Aus
+verborgenen Schlupfwinkeln tauchen Männer auf,
+finstere bleiche Männer mit zusammengezogenen Augenbrauen
+und rauhen, rauchgeschwärzten Händen. Da
+ist Konrad Schulz, ein Deutscher, den Herr von Pontchartrain
+später verschwinden läßt, ohne daß man
+jemals wieder von ihm hört. Da sind Dupin und
+Marconnel, hocherfahren in der geheimen Kunst. Da
+ist Thuriat, ein wackerer Chemiker; da ist ein anderer
+Italiener, Martino Polli. Geheimnisvolle Wagen, von
+geheimnisvollen Fuhrleuten begleitet, langen an und
+fahren ab, und Säcke werden abgeladen und aufgeladen,
+die, wenn sie die Erde oder einen harten Gegenstand
+berühren, ein leises Klirren, als wären sie mit
+Goldstücken gefüllt, von sich geben, geheimnisvolle
+Feuer in geheimnisvollen Öfen flammen auf, &mdash; Wacht
+hält Madame de Vinacche, daß die nächtlichen Arbeiter
+nicht gestört werden in ihrem Werke.</p>
+
+<p>Hüte dich, Stefano Vinacche! Im geheimen Staatsrat
+zu Versailles hat man von dir gesprochen: Monsieur
+Pelletier von Sousy, der Intendant der Finanzen,
+hat den Mann mit dem Kopf voll böser Anschläge, hat
+Monsieur d&rsquo;Argenson aufmerksam auf dich gemacht.</p>
+
+<p>Hüte dich, Stefano Vinacche! &mdash;</p>
+
+<p>Wer klopft in dunkler Nacht an das Hinterpförtchen
+des Landhauses zu Coubron?</p>
+
+<p>Salomon Jakob, ein Jude aus Metz, welcher die
+Verbindung des &bdquo;Unbegreiflichen&ldquo; mit Deutschland vermittelt.</p>
+
+<p>Wer klopft in dunkler Nacht an die Pforte des
+Landhauses zu Coubron?</p>
+
+<p>Franz Heinrich von Montmorency-Luxemburg, Pair
+und Marschall von Frankreich, welchen Stefano Vinacche
+die Kunst lehren soll, den Teufel zu beschwören.</p>
+
+<p>In dunkler Nacht fährt nach Coubron der Herzog
+von Nevers, um sich in die geheimen Wissenschaften
+einweihen zu lassen.</p>
+
+<p>In dunkler Nacht fährt nach Coubron Karl d&rsquo;Albert,
+Herzog von Chaulnes, und Madame de Vinacche empfängt
+ihn in brokatnen Gewändern, geschmückt mit
+einer Cordeliere und einem Halsband im Wert von
+sechstausend Livres.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, wie habe ich für Euer
+Glück gesorgt, Allerschönste!&ldquo; sagt der Herzog von
+Chaulnes, und die Tochter des Wirts zum Dauphinswappen
+verbeugt sich mit dem Anstand einer großen
+Dame und führt den hohen Gast und Gönner in
+ihren Salon, welcher den Vergleich mit jedem andern
+zu Paris aushält.</p>
+
+<p>Stefano Vinacche trägt nicht mehr sein eigenes
+Haar; eine wallende gewaltige Lockenperücke bedeckt
+sein kluges Haupt. Mit feiner Ironie sagt er, in den
+wallenden Stirnlocken dieser seiner Perücke halte er
+seinen <i>Spiritus familiaris</i>, sein &bdquo;<i>folet</i>&ldquo; verborgen und
+gefesselt.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, Ihr seid ein großer Mann,
+Etienne!&ldquo; sagt der Herzog von Chaulnes, und der
+Hausherr von Coubron verbeugt sich lächelnd:</p>
+
+<p>&bdquo;O Monseigneur!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, ja, wer hätte das gedacht, als ich Euch in
+Italien von der Landstraße aufhob? Wer hätte das
+gedacht, als ich Euch durch den Grafen von Auvergne
+vom Galgen errettete; &mdash; Vinacche, Ihr müßt mir sehr
+dankbar sein.&ldquo;</p>
+
+<p>Stefano legt die Hand auf das Herz.</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur, ich habe ein gutes Gedächtnis für
+empfangene Wohltaten. Glaubt nicht, daß das Glück
+und die errungene Wissenschaft mich stolz mache. Fragt
+meine Frau, was gestern geschehen ist.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wahrlich, Monseigneur, es war eine tolle Szene.
+Stellt Euch vor, es befindet sich gestern eine glänzende
+Gesellschaft bei uns, Monsieur Despontis, Monsieur
+von Beaubriant und viele andere, als ein abgelumpter
+Mensch Etienne zu sprechen verlangt. Die Diener
+wollten ihn abweisen; aber Etienne hört den Lärm und
+läßt den Vagabunden kommen. <i>Mon Dieu</i>, was für
+eine Szene!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nun?!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nicolle war&rsquo;s, gnädigster Herr! Nicolle, meines
+Mannes Kamerad aus dem Regiment Royal-Roussillon!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Oh, oh, oh! ah, ah, ah!&ldquo; lacht der Herzog. &bdquo;Dem
+Wiederfinden hätt&rsquo; ich beiwohnen mögen. Das muß
+in der Tat eine eigentümliche Überraschung gegeben
+haben.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich fiel in Ohnmacht, und Etienne &mdash; fiel dem
+Vagabunden um den Hals &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und die Gesellschaft?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Stand in starrer Verwunderung! Es war ein tödlicher
+Augenblick,&ldquo; ruft Madame de Vinacche klagend,
+doch Etienne sagt:</p>
+
+<p>&bdquo;Ich hatte dem Manne einst ein schweres Unrecht
+zugefügt, jetzt war mir die Gelegenheit gegeben, es
+wieder gutzumachen, und ich benutzte diese Gelegenheit.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, ich werde der Frau von
+Maintenon diese Geschichte erzählen. Ihr seid ein
+braver Gesell, Etienne. Ah, oh, <i>ou la vertu va-t-elle
+se nicher</i>? wie Monsieur Molière sagt, &mdash; sagt er
+nicht so?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich glaube, gnädiger Herr,&ldquo; meint Vinacche, die
+Achsel zuckend, und setzt hinzu, als eben jemand an die
+Tür des Salons mit leisem Finger klopft: &bdquo;Da kommt
+Konrad, uns zum Werk zu holen. Wenn es also beliebt,
+Monseigneur, so können wir unsere Arbeit von
+neuem aufnehmen; Zeit und Stunde sind günstig, jeder
+Stern steht an seinem rechten Platz, und gute Hände
+schüren die Flamme!&ldquo;</p>
+
+<p>In die geöffnete Tür schaut das finstere Gesicht des
+deutschen Meisters Konrad Schulz:</p>
+
+<p>&bdquo;Es ist alles bereit!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wir kommen!&ldquo; sagt der Herzog von Chaulnes,
+mit zärtlichem Handkuß von Madame Vinacche Abschied
+nehmend. In das chemische Laboratorium herab
+schreiten die Männer.</p>
+
+<p>Um den schwarzen Herd stehen regungslos die Gehilfen
+des großen Goldmachers. Atemlos verfolgt der
+Herzog jede Bewegung des Alchymisten.</p>
+
+<p>Der Meister arbeitet!</p>
+
+<p>Tiegel voll Salpeter, Antimonium, Schwefel,
+Arsenik, Qecksilber gehen von Hand zu Hand. Die
+Phiole mit dem &bdquo;Sonnenöl&ldquo; reicht Martino Polli, das
+Blei bringt Konrad Schulz zum Fluß; &mdash; der große
+Augenblick ist gekommen. Aus einem Loch in der
+schwarzen feuchten Mauer ringelt sich eine bunte
+Schlange hervor, sie steigt an dem Beine Stefano
+Vinacches empor, sie umschlingt seinen Arm und scheint
+ihm ins Ohr zu zischen. Ein Zittern überkommt den
+Goldmacher, aus der Brust zieht er ein winziges
+Fläschchen; &mdash; im Tiegel gärt und kocht die metallische
+Masse, &mdash; die Flammen züngeln, &mdash; aus der Phiole
+in der Hand des Meisters fällt das Projektionspulver
+in den Tiegel &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Das Werk ist vollbracht! In die Form gießt Konrad
+Schulz die kostbare, im höchsten Fluß befindliche
+Masse &mdash; nach einigen Augenblicken wiegt der Herzog
+von Chaulnes eine glänzende Metallbarre in der
+Hand. &bdquo;Reinstes Gold, Monseigneur!&ldquo; sagt Stefano
+Vinacche. &mdash;</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="IVWas_man_in_Versailles_dazu_sagte" id="IVWas_man_in_Versailles_dazu_sagte">IV.<br />Was man in Versailles dazu sagte.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/v.png" alt="V" width="60" height="60" class="floatl"/>inacche fuhr mit seiner Frau vierspännig
+durch die Straßen von Paris. Lange war
+Claude Bullot tot und erinnerte sie nicht
+mehr an die Dunkelheit ihrer Herkunft. In der Gasse
+Saint Sauveur besaß Stefano jetzt ein prächtiges
+Haus, wo er die beste Gesellschaft von Paris bei sich
+sah. Sein Leben strahlte im höchsten Glanz. Die Teilnehmer
+seiner wunderlichen Operationen hatte er durch
+Drohungen, Versprechungen, List und Überredung zu
+seinen Sklaven gemacht; er durfte ihnen drohen, sie
+bei der geringsten Auflehnung gegen seinen Willen
+als Fälscher, Kipper und Wipper hängen zu lassen.
+Seine Geschäftsverbindungen mit Samuel Bernard,
+Tronchin, Menager, mit den beiden van der Hultz, mit
+Saint-Robert und dem Sieur Buisson Destresoriers
+nahmen ihren ungestörten Fortgang. Man sah in
+seinen Gemächern oft fünfzehn, zwanzig, dreißig Säcke
+voll nagelneuer Louisdors aufgestellt. Neu geprägte
+Goldstücke fanden die Diener und Dienerinnen, von
+denen das Haus überquoll, im Kehricht, in den Winkeln,
+unter der schmutzigen Wäsche; &mdash; sie verkauften Stückchen
+von Goldbarren an die Juden, und Madame de
+Vinacche erschrak eines Tages heftig genug, als sie,
+ungesehen von ihnen, ein Gespräch zwischen ihrer
+Kammerfrau La Martion und einigen Lakaien ihres
+Mannes belauschte. &mdash;</p>
+
+<p>Der spanische Erbfolgekrieg hatte begonnen. War
+das Geld im Hause Stephano Vinacches im Überfluß
+vorhanden, so mangelte es um desto mehr im Hause
+des Königs Ludwig des Vierzehnten. Herrschte im
+Hause Stefano Vinacches Jubel und Übermut, so
+herrschte Mißmut, Angst, Sorge und Not zu Versailles.
+Ein gewaltiger Umschwung aller Dinge trat
+in diesem früher so glänzenden Frankreich mehr und
+mehr hervor. Auf die Zeit des phantastischen, lebenvollen
+Karnevals folgte der Aschermittwoch mit seinen
+Grabgedanken. Zu Grabe gegangen waren die Schriftsteller
+und Dichter: Pascal und Franz von La Rochefoucauld
+ergründeten nicht mehr die Tiefe des menschlichen
+Herzens. Jean de Lafontaine hielt nicht mehr
+den lustigen Spiegel der Welt vor, Jean war &bdquo;davongegangen
+wie er gekommen war&ldquo;; &mdash; verstummt war
+die mächtige Leier des großen Corneille, Jean Racine
+hatte sein Schwanenlied gesungen und war hinabgesunken
+in die blaue Flut der Ewigkeit. Tot, tot
+war Molière, der gute Kämpfer gegen Dummheit,
+Heuchelei, Aberglauben und Laster; tot war Jean
+Baptiste Poquelin, genannt Molière, aber Tartuffe
+lebte noch!</p>
+
+<p>Die Heiterkeit des Daseins war erblaßt, auch die
+feierlichen Stimmen der großen Kanzelredner Bossuet,
+Bourdaloue, Flechier verstummten! König in Frankreich
+war der Pater La Chaise, Königin in Frankreich war
+Franziska d&rsquo;Aubigné, die Witwe Paul Scarrons. Die
+Schutzherrschaft über das Land nahm man dem
+heiligen Michael und gab sie der Jungfrau Maria,
+wie man sie vorher dem heiligen Martin und vor
+diesem dem heiligen Denis genommen hatte. Schaffe
+Geld, schaffe Geld, Geld, Geld, o heilige Jungfrau
+Maria! Schaffe Geld, holde Schutzherrin, Geld zum
+Kampf gegen deine und unsere Feinde! Schaffe Geld
+und abermals Geld und wiederum Geld, süße Mutter
+Gottes! Schaffe Geld, Geld, Geld, o Schutzpatronin
+von Frankreich und Versailles, Marly und Trianon!</p>
+
+<p>Wiederum war ein Staatsrat gehalten worden zu
+Versailles über die besten Mittel, Geld zu bekommen,
+und niemand hatte Rat gewußt; weder Pontchartrain,
+noch Pomponne, noch du Harlay, Barbezieux, d&rsquo;Argouges,
+d&rsquo;Agnesseau. Wohl war manche neue Steuer
+vorgeschlagen worden; doch ohne zu einem Resultat
+gelangt zu sein, hatte Louis der Vierzehnte seine Räte
+entlassen müssen. Verstimmt im höchsten Grade, ratlos
+bis zur Verzweiflung schritt er auf und ab in seinem
+Gemach und seufzte:</p>
+
+<p>&bdquo;O Colbert, o Louvois!&ldquo;</p>
+
+<p>Der König von Frankreich befand sich vollständig
+in der Seelenstimmung Sauls, des Königs der Juden,
+als er Verlangen trug nach dem Geiste Samuels, des
+Hohenpriesters.</p>
+
+<p>Dazu war die Frau Marquise nach Saint Cyr zu
+ihren jungen Damen gefahren, und der Vater La Chaise
+gab einigen Brüdern in Christo in der Vorstadt Saint
+Antoine in seinem Hause ein kleines Fest. Armer,
+großer Louis! zu seinem letzten Mittel mußte er greifen,
+um sich zu zerstreuen; &mdash; Fagon, sein Leibarzt, wurde
+gerufen. In der Unterhaltung mit diesem klugen
+Manne ging dem Monarchen, freilich doch langsam
+genug, dieser trübe Oktobernachmittag des Jahres 1703
+hin, und zuletzt kam auch Madame von Maintenon
+zurück. Der König seufzte auf, gleich einem, der von
+einer schweren Last befreit wird; Fagon machte seine
+Verbeugungen und entfernte sich, ebenfalls höchlichst
+erfreut über seine Erlösung.</p>
+
+<p>Im klagenden Tone erzählte nun der König seiner
+Ratgeberin von seiner trüben Nachmittagsstimmung, von
+seiner Sehnsucht nach ihr, seiner einzigen Freundin, von
+der Dummheit der Ärzte und von der vergeblichen Ratssitzung.</p>
+
+<p>&bdquo;Sire,&ldquo; sagte die Marquise lächelnd, &bdquo;ich bin Eure
+demütige Dienerin; die besten Ärzte sind die, welche
+die Seele zu heilen verstehen, was aber die Ratlosigkeit
+Eurer Räte betrifft, so ist hier ein Billett, welches die
+Mittel angibt, dem Staat Geld zu schaffen. Von unbekannter
+Hand wurde es mir in den Wagen geworfen.
+Leset es, Sire, wir haben schon einmal über den Mann
+gesprochen, von dem es handelt.&ldquo;</p>
+
+<p>Der König nahm das Schreiben und überflog es.</p>
+
+<p>&bdquo;Vinacche?! der Goldmacher!&ldquo; murmelte er und
+zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>&bdquo;Ich höre Erstaunliches über den Mann,&ldquo; meinte
+die Marquise. &bdquo;Sein Luxus geht ins Grenzenlose. Die
+größten Herren Eures Hofes, Sire, gehen bei ihm ein
+und aus. Der Herzog von Brissac hat mir neulich
+stundenlang von dem geheimnisvollen Menschen gesprochen.
+Neulich war auch Madame von Chamillard
+bei mir; sie steht in Verbindung mit dem reichen holländischen
+Bankier van der Hultz. Auch dieser Mann soll
+vollständig überzeugt sein, Monsieur de Vinacche habe
+das Projektionspulver gefunden, Monsieur de Vinacche
+mache in Wahrheit Gold.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Marquise, von wie vielen haben wir das geglaubt!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sire, wäre ich an Eurer Stelle, ich würde d&rsquo;Argenson
+beauftragen, diesen Italiener etwas genauer zu
+beobachten.&ldquo;</p>
+
+<p>Der König zuckte abermals die Achseln und gab das
+Billett zurück.</p>
+
+<p>&bdquo;Wenn d&rsquo;Argenson das für nötig hält, so mag er
+seine Anordnungen treffen; &mdash; ich will nichts damit
+zu tun haben. Was beginnen Eure Fräulein zu Saint
+Cyr, Marquise?&ldquo;</p>
+
+<p>Nachdem der König das Gespräch auf eine andere
+Bahn geleitet hatte, war es vergeblich, von neuem
+den verlassenen Punkt zu berühren; aber die Marquise
+schob das Billett in ihre Tasche und faßte einen
+Beschluß. Am andern Tage schickte sie ihren Stallmeister
+Manceau in die Gasse Saint Sauveur zu Vinacche,
+unter dem Vorgeben: er solle Diamanten
+kaufen für eine fremde Prinzessin. Manceau, von
+seiner Herrin bestens instruiert, ließ nichts in dem
+Hause des Alchymisten außer Augen und erzählte nachher
+Wunder von der Pracht und dem Glanze, die
+darinnen herrschten. Pferde, Gemälde, Silbergeschirr,
+Meubles, alles taxierte er, wie ein Auktionskommissär;
+auf seine Frage nach Juwelen antwortete aber Vinacche,
+er besitze deren wohl sehr schöne, aber er handle nicht
+damit.</p>
+
+<p>Fast schwindelnd von dem Geschauten kam der Abgesandte
+der Marquise nach Versailles zurück und stattete
+seiner Herrin Bericht ab. Einige Tage nachher wurde
+Stefano Vinacche selbst nach Versailles beschieden und
+daselbst sehr höflich und zuvorkommend von Herrn
+von Chamillard empfangen! Ein langes Gespräch
+hatten die beiden Herren miteinander, und hinter einem
+Vorhange lauschte die Marquise von Maintenon demselben.
+Aber aalglatt entschlüpfte Vinacche jeder Frage,
+die sich auf seine große Kunst bezog; er nahm Abschied
+und bestieg seine Karosse wieder, ohne daß die Marquise
+und Chamillard ihrem Ziel im geringsten nähergekommen
+wären.</p>
+
+<p>&bdquo;Lassen wir d&rsquo;Argenson kommen!&ldquo; sagte Frau von
+Maintenon. &bdquo;Um keinen Preis darf uns dieser Mann
+entgehen.&ldquo;</p>
+
+<p>Monsieur de Chamillard verbeugte sich bis zur Erde,
+und &mdash; d&rsquo;Argenson ward gerufen.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="VDas_Ende" id="VDas_Ende">V.<br />Das Ende.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/u.png" alt="U" width="60" height="60" class="floatl"/>nd Monsieur d&rsquo;Argenson streckte seine Hand
+aus; &mdash; es fiel ein schwarzer Schatten über
+das glänzende, fröhliche Leben in der Gasse
+Saint Sauveur; nach allen Seiten hin zerstob das Getümmel
+der vornehmen, reichen und geistreichen Gäste.
+Die Flucht nahmen die Herzöge, die Marquis, die
+Chevaliers, die Abbés, die Poeten. Wer durfte wagen,
+da zu weilen, wohin Monsieur d&rsquo;Argenson den Fuß
+gesetzt hatte?</p>
+
+<p>Aus dem Nebel ragt düster drohend die Bastille!
+Sie halten den Stefano Vinacche, auf daß ihnen sein
+köstliches Geheimnis &bdquo;nicht entgehe&ldquo;, und &mdash; am
+22. März 1704, einem Sonnabend &mdash; scharren sie ihn
+ein auf dem Kirchhof von Sankt Paul, unter dem
+Namen <em class="gesperrt">Etienne Durand</em>.</p>
+
+<p>Wer hat je das Genie durch Gewalt gezwungen,
+seine Schätze mitzuteilen?</p>
+
+<p>So liest man in den Registern der Bastille:</p>
+
+<p>&bdquo;In der Nacht vom Mittwoch auf den grünen
+Donnerstag, als am 20. März 1704, morgens um ein
+Viertel auf zwei Uhr verschied in Nummer drei der
+Bertaudiere Monsieur de Vinacche, ein Italiener, in
+der Gegenwart des Schließers La Boutonnière und
+des Korporals der Freikompagnie der Bastille, Michel
+Hirlancle. Nach dem Tode des Gefangenen gingen die
+beiden Wächter, Monsieur de Rosarges davon zu benachrichtigen,
+und erhob sich dieser und verfügte sich
+in die Zelle des Sieur Vinacche, welcher sich selbst getötet
+hat, indem er sich gestern, als am Mittwoch, ungefähr
+um zwei Uhr nachmittags mit seinem Messer
+die Kehle unter dem Kinn zerschnitt und sich also eine
+sehr große und weite Wunde beibrachte. Obgleich ihm
+alle mögliche Hilfe geleistet wurde, konnte man ihn
+doch nicht retten. Da der Sterbende einige Zeit hindurch
+das Bewußtsein wieder erlangte, so hat unser Almosenierer
+sein Bestes getan, ihn zur Beichte zu bewegen,
+jedoch ganz und gar vergeblich. Gegen neun
+Uhr abends habe ich Monsieur d&rsquo;Argenson von dem
+Unglück Nachricht gegeben, und ist derselbe in aller
+Eile sogleich erschienen, um zu dem Sterbenden zu
+reden, jedoch auch ihm hat der Unglückliche keine Antwort
+gegeben.</p>
+
+<p class="right" style="margin-bottom:0.5em">
+In diesem Schlosse der Bastille 20. März 1704.</p>
+<p class="right" style="margin-bottom:1em">
+<em class="gesperrt" style="padding-right:3em">Dujonca,</em><br />
+<small>Königsleutnant in der Bastille.</small><br />
+</p>
+<p>Wohl mochte nachher d&rsquo;Argenson in seinem Bericht
+an Chamillard von &bdquo;<i>billonage</i>&ldquo;, von Kipperei und
+Wipperei sprechen, es glaubte niemand daran, selbst
+der Berichterstatter glaubte nicht daran; man brauchte
+nur eine Rechtfertigung dem aufgeregten Publikum
+gegenüber. Zu Versailles wirkte die Nachricht von dem
+Tode Stefano Vinacches gleich einem Donnerschlag;
+der König Ludwig der Vierzehnte wurde darob ebenso
+zornig und niederschlagen, wie später in demselben
+Jahre über die Kunde von den Niederlagen auf dem
+Schellenberge und bei Höchstedt. Die Frau Marquise
+und die Herren de Chamillard und d&rsquo;Argenson hatten
+einige bittere Stunden zu durchleben; aber was half
+das? Stefano Vinacche war tot und hatte sein Geheimnis
+mit in das Grab genommen!</p>
+
+<p>Der Witwe des Unglücklichen meldete man offiziell,
+ihr Gemahl sei in der Bastille am Schlagfluß verschieden;
+sie blieb im ungestörten Besitze aller der auf
+so geheimnisvolle Weise erworbenen ungeheuren Güter.
+Der alte Bericht, dem wir dieses seltsame Lebensbild
+nacherzählen, vergleicht den gemordeten Stefano mit
+jenem Künstler, welcher dem Imperator Tiberius ein
+köstliches Gefäß von biegsamem, hämmerbarem Glas
+überreichte. Der Kaiser bewunderte die vortreffliche
+Erfindung und fragte, ob dieselbe schon andern Menschen
+bekannt sei, welches der Künstler verneinte. Auf
+diese Antwort hin ließ der Tyrann dem genialen Erfinder
+den Kopf abschlagen und die Werkstatt desselben
+zerstören, damit nicht &bdquo;Gold und Silber gemein und wertlos
+würden, wie der Kot in den Gassen von Rom&ldquo;.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Par notre Dame de Miracle</i>, Madame, Euer Gemahl
+war ein großer Mann,&ldquo; sagte der Herzog von
+Chaulnes zu der trauernden Witwe Stefanos, &bdquo;Euer
+Gemahl war in Wahrheit ein großer Mann; aber
+<em class="gesperrt">einen</em> Fehler hatte er, er war zu verschwiegen! Wie
+oft hab&rsquo; ich ihn beschworen, mir sein großes Geheimnis
+anzuvertrauen, &mdash; Madame, auf meine Ehre, Monsieur
+Etienne war zu verschwiegen, viel zu verschwiegen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Madame, Madame, die Welt ist nicht so beschaffen,
+daß sie ein großes Genie in sich dulden könnte!&ldquo;
+sagte zur Frau Vinacche der Dichter Jean Baptiste
+Rousseau, der Freund Stefanos. &bdquo;Madame, die Welt
+kann das Talent nur töten, und es gibt nur einen Trost:</p>
+
+<p><i>c&rsquo;est le même Dieu qui nous jugera tous!</i>&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Liebste Schwester,&ldquo; sagte der Graf d&rsquo;Aubigné zur
+Marquise von Maintenon, &bdquo;liebste Schwester, in meinem
+Leben habe ich noch nichts erfunden, wohl aber
+traue ich mir viel Geschick zu, die Erfindungen anderer
+Leute herauszuholen. Ihr wißt das ja; <i>mon Dieu</i>,
+weshalb habt Ihr mir nicht diese Geschichte mit dem
+Italiener überlassen? Das war kein Charakter für die
+Kunst Monsieur d&rsquo;Argensons.&ldquo;</p>
+
+<p>Die Frau Marquise seufzte, zuckte die Achseln und
+griff nach ihrem Gebetbuch, Mademoiselle La Caverne,
+ihre Kammerfrau, meldete: Seine Majestät verfüge
+sich soeben in die Messe. Graf d&rsquo;Aubigné, welcher &bdquo;sich
+wegen seiner Schwester Regierung einbildete, er sei die
+dritte Person in dem Königreiche&ldquo;, ließ die Unterlippe
+herabsinken und legte sein Gesicht in die frömmsten Falten.</p>
+
+<p>&bdquo;Gehen wir, mein Bruder,&ldquo; sagte die Marquise.
+&bdquo;Wir wollen beten für die Seele dieses unglücklichen
+Monsieur de Vinacche und bitten, daß Gott uns seinen
+Tod nicht zurechne.&ldquo;</p>
+<p class="newstory"></p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Besuch">
+<span class="big">Ein Besuch</span>
+</a>
+</h2>
+
+<p class="newstory" style="padding-top:6em"></p>
+
+<p class="startchap"><img src="images/e.png" alt="E" width="60" height="60" class="floatl"/>s war schon Dämmerung, als der Besuch
+kam; so sehr Dämmerung, daß es uns unmöglich
+ist, zu sagen, wie der Besuch aussah.
+Es ist uns überhaupt nicht leicht gemacht, hierüber
+ganz deutlich zu werden. Helfen uns die Leserinnen
+selber nicht dabei, so werden wir auf diesem Blatt
+Papier mit Feder und Tinte wenig ausrichten.</p>
+
+<p>&bdquo;Wieder ein Tag, Johanne, in Einsamkeit und mühseliger,
+geringen Nutzen bringender Arbeit; und zu der
+Arbeit trübe Gedanken den ganzen Tag über. Wegplaudern
+kann ich dir deine Sorgen nicht; da habe ich
+Schwestern, die das besser verstehen. Ich kann nur
+hier und da eine Stunde bei dir verweilen; laß mich
+das jetzt, vielleicht ist dir wohler nachher. Hast auch
+wohl schmerzende Augen von dem ewigen Schaffen
+so spät in den Jahren? Die darfst du dreist zumachen,
+derweil ich bei dir bin. Nur keine unnötigen Höflichkeiten
+unter Freunden. Laß dich gehen, ich lasse mich
+auch gehen und lege mir niemandes wegen Zwang an,
+und viel Zeit habe ich nie, das wißt ihr ja alle, die ihr
+mich dann und wann unter euerer übrigen Bekanntschaft
+in der Welt bei euch seht. Wo warst du eben,
+Johanne?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sie feierten ein Fest heute drunten im Hause,
+daran habe ich gequält, widerwillig teilnehmen müssen.
+Es war so viel Wagenrollen in der Gasse und vor dem
+Hause, die Leute waren so laut; es drang so viel lustiger
+Lärm zu mir herauf. Es war töricht: aber ich ließ mich
+von meiner Phantasie hinabführen zu meiner jungen,
+reichen, glücklichen Hausgenossin; und da wurde mein
+Schicksal bitterer, ich war den Tag über unzufriedener
+denn je mit meinem Lose; ach, da es nun wieder stiller
+geworden ist, will ich es nur gestehen: ich war recht
+böse den Tag über, voll Mißgunst, Neid und Eifersucht.
+Es war sehr unrecht.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja freilich, du bist arm, und deine Hausgenossin
+ist reich; du bist alt geworden, und deine Hausgenossin
+ist noch jung. Niemand kommt zu dir als von Zeit zu
+Zeit ich, und jene führt das lebendigste Leben. Daran
+kann ich nichts ändern, nicht den kleinsten Stein des
+Anstoßes in der Körperlichkeit der Dinge kann ich dir
+aus dem Wege räumen; &mdash; aber wie wäre es, wenn du
+dessenungeachtet jetzt doch einmal einige Wege mit mir
+gingest &mdash; die ich dich führe?&ldquo;</p>
+
+<p>Da die Frau Johanne jetzt lächelt, ist sie schon auf
+diesen Wegen mit ihrem Besuch &mdash; dieser seltsamen Besucherin,
+die nicht plaudert, wenige Neuigkeiten weiß,
+sondern nur von Zeit zu Zeit die Hand oder auch nur
+den Zeigefinger erhebt. Frau Johanne hat dabei auch
+dem andern Rat ihres stillen Gastes Folge gegeben;
+sie hat die Augen geschlossen. Bei geschlossenen Augen
+sagt sie: &bdquo;Ja es ist unrecht, und es nützt auch nichts,
+andern ihr Glück oder vielleicht auch nur den Schein
+des Glückes zu mißgönnen. Das Leben geht so rasch
+hin, und es wird so schnell Abend aus Morgen allen
+Leuten!</p>
+
+<p>Ist es nicht wie gestern, als es auch noch in meinem
+Leben Morgen war? als ich so jung war wie diese
+junge Nachbarin und auch über schöne Teppiche schritt?
+als die Wagen auch vor meiner Tür hielten und die
+Gäste zu mir kamen? als meine Gestalt aus dem Pfeilerspiegel
+im Festkleide mir zulächelte und Richard
+mir über meine Schulter zuflüsterte, was der Spiegel
+mir sagte?</p>
+
+<p>Hab&rsquo; ich damals, an meinem Morgen, in meinem
+Frühling, in meiner Jugend viel daran gedacht, wie
+die Leute über meinem Haupte, unter meinen Füßen,
+die Nachbarn gegenüber lebten, und ob sie weniger
+jung, sorgenlos und glücklich als ich waren?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Siehst du, es wandelt sich gut an meiner Hand,&ldquo;
+nickte der Besuch. &bdquo;Nur weiter, komm nur weiter, wir
+sind auf dem ganz richtigen Wege. Es ist nur, weil
+man in der mißmutigen Stunde nicht recht seine Gedanken
+zusammennehmen kann, daß man seine Tage
+so regenfarbig, seine Nächte so dunkel und sternenlos
+sieht. Was zeigte dir dein Spiegel noch außer deiner
+Gestalt im Haus- und im Festkleide und den Bildern
+deiner nächsten Umgebung?&ldquo;</p>
+
+<p>Frau Johanne legt das Haupt in ihrem Stuhl
+zurück und die Hand auf die Stirn. Sie sitzt wieder
+vor ihrem hohen, vornehmen Spiegel, den Rücken
+gegen die Fenster gewendet. Aber aus dem zerbrechlichen
+Glase und der so leicht verwischbaren Folie von
+damals ist in Wahrheit ein Zauberspiegel geworden,
+aus dem sich wesenhaft, greifbar, voll Leben und Wirklichkeit
+die Hoffnung, der Trost, das beste Glück ihrer Witwenschaft,
+ihrer Kinderlosigkeit, ihres Alters loslösen.</p>
+
+<p>Es sind aber nicht die Abbilder ihrer nächsten Umgebung,
+die Möbel, Wände, Gemälde, Teppiche und
+Vorhänge ihres damaligen Gemaches, die sie nun mit
+ihren geschlossenen Augen wiedersieht. Es ist das
+Stück der Gasse, das gegenüberliegende Haus, das
+damals in den goldenen Rahmen zufällig mit hineinfiel
+und nun wieder lebendig in ihm leuchtet, nachdem
+Glas und Folie längst zersplittert und verwischt sind,
+wie Glanz und Glück jener lange vergangenen Tage.</p>
+
+<p>&bdquo;Ich denke, wir wagen es noch einmal, folgen unserm
+guten Einfall und schlüpfen hinüber zu der unbekannten
+Nachbarin. Was meinst du, Johanne?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ein Einfall!&ldquo; murmelt die Frau Johanne.
+&bdquo;Nur ein seltsamer Einfall &mdash; <i>un concetto, una fantasia
+strana</i>, wie die Italiener sagen. Und mir vielleicht
+auch nur darum möglich, weil ich eben erst mit
+Richard von unserm schönen langen Aufenthalt in
+Italien nach Hause gekommen war. Dort, in Italien,
+folgen die Leute viel leichter als hier bei uns ihren
+Einfällen und schlüpfen so über die Gasse und halten
+gute Nachbarschaft, zumal wenn sie sich vom Fenster
+oder &mdash; Spiegel aus schon längst kennen und unser
+Gatte einmal gesagt hat: &sbquo;Der Mann der hübschen
+kleinen Frau im blauen Kleide da drüben ist einer
+unserer besten, talentvollsten Unterbeamten, Johanne;
+das Weibchen mit seinem Kindchen ist wirklich allerliebst,
+schade, daß sie nicht zu uns gehören, d. h. nicht
+in unsere Gesellschaftskreise passen.&lsquo;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, was würde aus euerer Welt werden, wenn ich
+nicht immer von neuem, zu jeder Zeit und überall
+eure närrischen Kreise störte und euch zusammenbrächte
+im Wachen und im &mdash; Traum? Nur weiter, immer
+weiter, Johanne. Die Nachbarin wohnt in keinem
+vornehmen Hause; die Treppen, die zu ihr hinaufführen,
+sind steil und dunkel; aber wir sind auf dem
+rechten Wege &mdash; ganz auf dem rechten Wege!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Auf dem rechten Wege! Wie kommst du eigentlich
+hierzu, Johanne?&ldquo; habe ich mich noch auf der
+steilen dunkeln Treppe gefragt. &bdquo;Ihr habt euch ja
+noch nicht einmal zugenickt und noch weniger je ein
+Wort miteinander gesprochen. Wie wäre das auch
+möglich gewesen bei so vielem andern gesellschaftlichen
+Verkehr?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Das weiß ich am besten, von welchen Kleinigkeiten
+alles abhängt,&ldquo; sagt der Besuch. &bdquo;Törichtes
+Menschenvolk! wo bliebet ihr, wenn nicht ich aus dem
+Kern den Baum, aus dem Funken das Licht, aus dem
+Hauch den Sturm machte? Dein Blut war noch
+abenteuerlich unruhig von den bunten Erlebnissen in
+der Fremde; du hattest viel gähnen müssen an jenem
+Tage; leugne es nicht, Johanne, du warst eigentlich
+in keiner angenehmen Stimmung, trotzdem daß du
+noch jung, reich und eine Schönheit warst. Zu verbraucht,
+alltäglich, gewöhnlich, abgenutzt und gering
+erschien dir alles in der behaglichen Heimat um dich
+herum.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und Richard hatte mir jetzt gesagt: Unsere Nachbarin
+hat Unglück während unserer Abwesenheit gehabt;
+der Mann ist ihr gestorben; wir werden nicht
+leicht einen so guten Arbeiter wieder bekommen. &mdash;
+Da sah ich sie statt im blauen oder rosa Kleide in einem
+schwarzen am Fenster, bleich und kummervoll. Und
+sie trug ihr Kind auf dem Arme, ihr armes verwaistes
+Kindchen, und da &mdash;, da nickte ich ihr zu von meinem
+Fenster; und da &mdash;, da bin ich zu ihr gegangen!&ldquo;...</p>
+
+<p>Und nun ist sie wieder bei ihr, die Träumende, &mdash;
+die Freundin bei der Freundin, und die Zeiten &mdash; die
+Stunden, Tage und Jahre vermischen sich wunderbar
+im süß-melancholischen Dämmerungstraum. Der Besuch
+könnte nun wohl gehen &mdash; o wie lebendig, wie
+lebendig ist alles nun im Traum!...</p>
+
+<p>Im Traum. Die alte Frau schläft in ihrem Stuhl
+nach dem arbeitsvollen mühsamen Tage. Sie denkt
+nicht mehr über die Vergangenheit; sie träumt von ihr
+und süß und friedlich; denn der Besuch hatte ihr ja
+vorher leise, beruhigend die Hand auf die furchenvolle
+Stirn gelegt.</p>
+
+<p>Nun ist der Raum um sie her nicht mehr beschränkt
+und niedrig, nun sind die Gerätschaften nicht mehr
+ärmlich und abgenutzt; denn im gleichen Stübchen
+und unter gleichem Geräte führte ja die beste Freundin
+ihrer Jugend ihr <em class="gesperrt">liebes</em>, stilles Leben. Zu solchem
+Stübchen schlich sie aus dem Glanz und der Fülle des
+eigenen Daseins, und alles ist im Traum wie damals
+um sie her.</p>
+
+<p>Wie viele Jahre gehen vorüber während der kurzen
+Augenblicke, in denen sie jetzt die Augen geschlossen
+hält? Wechselnde Schicksale &mdash; viel Sorge und Angst
+im Mittage des Lebens auch im eigenen Hause. Was
+ist noch übrig von alledem, was damals war? Wo
+sind die hohen Spiegel, die Purpurvorhänge, die
+weichen Teppiche &mdash; die Freunde, die Bekannten der
+Jugend? Ist doch der eigene Gatte so lange schon tot
+und die eigenen Kinder; und auch die Freundin
+schläft ja nun lange schon unter ihrem grünen Hügel
+und steigt nur dann und wann daraus hervor in der
+<em class="gesperrt">Erinnerung</em> und im <em class="gesperrt">Traum</em>, und lächelnd,
+tröstend und Geduld anratend zumeist auch nur dann,
+wenn vorher der Besuch gekommen ist, den die Greisin,
+die arme alte Frau Johanne, bei ihrer späten, beschwerlichen
+Lebensmühe wie in der Dämmerung des
+heutigen Abends bei sich empfangen hat.</p>
+
+<p>Von all den guten Freunden, den lieben Bekannten
+ist niemand übrig, ist niemand treu als das Kind, das
+einst die Träumerin zum erstenmal hinüberzog aus
+ihrer Lebensfreude und dem Glanz ihrer Jugend zu
+dem Leid der jungen Nachbarin im schwarzen Kleide.
+Und dieses Kind ist erwachsen, ist auch eine verheiratete
+Frau und weit in der Ferne. &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Horch, ein Schritt auf der Treppe.</p>
+
+<p>Ist es die Stimme des Besuchs, welche die Frau
+Johanne noch in ihrem Traume vernimmt: &bdquo;Nun
+gehe ich und lasse dich der Wirklichkeit. Wie gern
+käme ich zu allen so wie zu dir in den bösen Stunden
+des Erdenlebens, wie gern hülfe ich allen so wie dir
+hinweg über die dumpfen Pausen zwischen euern
+Schicksalen; wenn ich nur nicht so oft vor die verschlossene
+Tür käme. In den Büchern heiße ich eine vornehme
+Frau; mit einem großen Gefolge hoher Söhne und
+Töchter schreite ich durch die Jahrtausende, aber gern
+sitze ich nieder zu den Kindern, den Armen, den Bekümmerten
+&mdash; mit Freuden komme ich zu denen, die
+aus Büchern nur wenig oder nichts von mir wissen.
+Nun lebe wohl, du närrisch alt Weiblein, lache und
+weine dich aus in dem Glück der Gegenwart und Wirklichkeit
+und halte mir deine Tür offen; ich klopfe nicht
+gern lange vergeblich.&ldquo;...</p>
+
+<p>Es war nur der Briefträger, dessen Schritt man auf
+der Treppe gehört hatte. Der Brief aber, den er der
+Frau Johanne brachte, lautete freilich trotz der ganzen,
+vollen Wirklichkeit, die er verkündete, wie Glockenklang
+und Jubelruf aus Dichtung und Wahrheit.</p>
+
+<p>&bdquo;Meine liebe andere Mutter, ich bin so glücklich &mdash;
+Franz ist daheim! Gesund und so bärtig wie ein Bär
+und so sonnenverbrannt &mdash; entsetzlich! Aber es hat
+ihm, Gott sei Dank, nichts geschadet, und ich bin so
+glücklich, so glücklich! Gestern sind sie eingezogen, und
+es war so wundervoll, und ich hatte einen so guten
+Platz. Ich brauchte den Leuten vor mir nur zu sagen:
+ich habe ja auch meinen Mann darunter, und sie trugen
+mich fast auf ihren Armen in die erste Reihe. Und wir
+&mdash; ich und viele Hunderte und Tausende von meiner
+Sorte, hätten fast den ganzen Effekt gestört. Das
+war ja aber auch nur zu natürlich, und kein Feldmarschall
+und sonstiger großer General und Prinz
+durfte etwas dagegen einwenden. Ich hing ihm unter
+den Trommeln und Trompeten, den Pferden und
+Bajonetten am Halse, und wie ich nachher nach Hause
+gekommen bin, weiß ich nicht. Nun habe ich ihn aber
+selber wieder zu Hause &mdash; ganz und heil zu Hause: es
+lebe der Kaiser und mein Mann und mein Kind und
+du, mein liebes zweites Mütterchen! Und nun höre
+nur, über acht Tage sind wir alle bei dir, &mdash; er, Franz,
+muß dir ja sein Eisernes Kreuz zeigen und ich dir unsern
+Jungen und meinen tapfern Ritter und Landwehrmann,
+den sie mir so unvermutet mitten im vorigen
+Sommer von seinem Zeichen- und meinem Nähtisch
+wegholten und für das Vaterland ins fürchterlichste
+Kanonenfeuer stellten. Was haben wir ausgestanden,
+Mama! Da war es ja noch ein Segen, daß der Junge
+noch zu klein und dumm war, um schon mit einsehen
+zu können, was der Mensch an Ängsten und Sorgen
+auf der Erde und im Kriege aushalten muß und kann.
+Aber eins hat er auch noch zuwege gebracht, und das
+ist herrlich &mdash; ich meine der Krieg und nicht unser Junge
+natürlich &mdash; ach, ich bin immer noch so konfus und
+habe es wie tausend Glocken im Ohr und wie Ameisen in
+allen Gliedern! nämlich die Privatingenieure sind im
+Preise gestiegen, und unser Weizen blüht endlich auch
+einmal. &mdash; Darüber werden wir denn recht eingehend
+reden in acht Tagen in deinem lieben Stübchen; du
+sollst und darfst uns nun nicht mehr so einsam und
+allein sitzen, jetzt, da es uns so gut geht und noch viel
+besser gehen wird, was wir aber um Gottes willen ja
+nicht berufen, sondern ja bei dem Wort dreimal unter
+den Tisch klopfen wollen! Wir haben alle so viel ausstehen
+müssen und einander so wenig helfen können;
+aber nun soll&rsquo;s anders werden, sagt Franz. Eine bessere
+Stelle haben wir schon, nämlich Franz, und dies hat
+sich schon mitten im Kriege gemacht, wo merkwürdigerweise
+nicht bloß Leute zusammengeraten, die sich auf
+den Tod hassen, sondern auch solche, die einander recht
+gut gebrauchen können. Nun sagt er, jetzt gäbe er nicht
+mehr nach, und sollte er noch dreimal so lange wie vor
+dem schrecklichen Metz vor dir in die Erde gegraben
+liegen und dich belagern müssen. Er erzählt furchtbare
+Dinge von seiner Hartnäckigkeit und neugewonnenen
+Erfahrung in dergleichen Kriegskunststücken; und er
+behauptet, es wäre gar kein Zweifel, jetzt kriegte er
+dich &mdash; wir kriegten dich! O könnten wir&rsquo;s dir doch
+zum tausendsten Teil vergelten, was du so viele kümmerliche
+Jahre durch bis in unsere Brautzeit und bis
+zu unserer Heirat an uns getan hast!</p>
+
+<p>Ich glaube meinem Manne natürlich auf sein Wort,
+daß du jetzt zu uns kommen wirst, aber ich verlasse
+mich eigentlich doch noch mehr auf meinen Jungen.
+Was soll das arme Kind ohne dich anfangen, Großmütterlein;
+jetzt, wo es anfängt zu laufen und ich doch
+nicht ewig aufpassen kann? Großmütterchen, du gehörst
+zu unserm Richard wie die Stadt Metz wieder zum Deutschen
+Reich, was aber eine recht schlechte Vergleichung
+ist; ich kann aber nichts dafür, weil ich als jetzige glorreiche
+Kriegsfrau so kurz nach den vielen Siegen und
+Eroberungen mich nur in solchen Vergleichungen bewegen
+kann und übrigens auch eben keine andere
+wußte.</p>
+
+<p>Wir mieten natürlich eine größere Wohnung, und
+es wird ein Leben wie in Frankreich, wo es freilich,
+wie Franz meint, die letzte Zeit durch kein gutes Leben
+gewesen ist, was also eigentlich wieder nicht paßt. Nein,
+wir wollen leben in Deutschland, wie ich es mir als
+das Schönste denke; und denke du dir es auch so lieb,
+als wenn alle Dichtung auf Erden, wenn du diesen
+Brief bekommst, eben zum Besuch bei dir gewesen wäre
+und dich leise auf unsere Pläne und Absichten mit dir
+vorbereitet hätte, daß dir der Schrecken nichts schade!
+Was ich dir eigentlich schreibe, weiß ich gar nicht, und
+den Jungen habe ich auch beim Schreiben auf dem
+Schoße. <span class="big">&bull;</span> Dieser Klex kommt auf seine Rechnung,
+denn greift er mir nicht in die Frisur, so führt er mir
+mit die Feder.</p>
+
+<p>Und nun nichts mehr; denn in acht Tagen sind
+wir bei dir; und obgleich ich hier jetzt an keiner Stunde
+am Tage was auszusetzen finde, so wollte ich doch,
+daß es erst über acht Tage wäre, um dir Auge in Auge,
+Mund auf Mund sagen zu können, wie ich bis in den
+Tod dein dankbares Kind bin und bleibe, du meine
+zweite Herzensmutter!&ldquo;...</p>
+
+<p>Die Frau Johanne hat viel Unglück im Leben gehabt.
+Eigene Familie hat sie nicht mehr, ihr Mann
+ist tot, ihre Knaben sind ihr schon als Kinder genommen,
+ihren Wohlstand hat sie auch verloren, und doch gibt
+es keine andere Frau in der Stadt, die in dieser Stunde
+so glückliche Tränen weint wie diese, welche nie dem
+Besuch, der in der Dämmerung bei ihr war, die Tür
+verschloß, und die an seiner Hand in den Traum sich
+leiten ließ, bis die Wirklichkeit anklopfte und ihr die
+reife liebliche Frucht jenes &bdquo;Einfalls&ldquo; und Nachbarschaftsbesuchs
+der Tage der Jugend in den Schoß
+legte.</p>
+<p class="newstory"></p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Silvester">
+<span class="big">Auf dem Altenteil</span><br />
+Eine Silvester-Stimmung
+</a>
+</h2>
+
+<h3><a name="SilvesterI" id="SilvesterI">I.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/s.png" alt="S" width="60" height="60" class="floatl"/>ie hatten den Senioren der Familie alle
+Ehre angetan, wie sich das denn auch wohl
+so von Rechts wegen gebührte; aber der
+Lärm wurde den weißhaarigen Herrschaften allmählich
+doch ein wenig zu arg. Die alte Dame, die immer noch
+um ein paar Jahre jünger war als der alte Herr, hatte
+dem letzteren ein ihm schon längst wohlbekanntes
+kopfschüttelnd Lächeln gezeigt, welches weiter nichts
+bedeutete als:</p>
+
+<p>&bdquo;Kind, Kind, bedenke den Morgen und deinen
+Rheumatismus! Es hat alles seine Zeit, und ich glaube,
+die unsrige ist jetzt vorhanden.&ldquo;</p>
+
+<p>Der alte Herr hatte zuerst ganz erstaunt aufgesehen
+und sein Weib an: Nicht mehr bis Mitternacht, und
+in das neue Jahr hinein? Ei, ei, ei &mdash; hm!</p>
+
+<p>&bdquo;Hm,&ldquo; sagte der alte Herr, in dem fröhlichen Kreise
+erhitzter Gesichter umherblickend; &bdquo;es hat freilich alles
+seine Zeit; aber es ist sonderbar, und, liebe Kinder, es
+kommt einem ganz kurios vor, wenn auch dieses &mdash;
+zum erstenmal Zeit wird!&ldquo;</p>
+
+<p>Dabei hatte er sich aber bereits etwas mühsam aus
+seinem Sessel erhoben. Den Kopf schüttelte er auch;
+jedoch ohne dabei zu lächeln wie seine Frau.</p>
+
+<p>&bdquo;Du hast recht, Anna; es ist unsere Zeit gekommen,
+und so wünsche ich, wünschen wir euch jungem Volk &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>Von einem Gewissen war bei diesem &bdquo;jungen Volk&ldquo;
+natürlich nicht die Rede. Dazu waren sie sämtlich
+(auch die Ältesten unter ihnen) noch viel zu jung, und
+viel zu vergnügt und viel zu aufgeregt durch die uralten,
+ewig jungen Stimmungen der letzten Stunden
+des scheidenden Jahres. Ein Gewühl von blonden
+und braunen Köpfchen und Köpfen, von Händen und
+Händchen erhob sich um die beiden Greise; und alle
+Verführungskünste, deren die Menschheit in ihrer Erscheinung
+als Familie in der Silvesternacht fähig ist,
+waren zur Anwendung gebracht worden.</p>
+
+<p>Einmal noch schadete es sicherlich gewiß nicht!...
+Großpapa und Großmama hatten noch nie so munter
+ausgesehen!... Es ging ja niemand zu Bett vor
+Mitternacht, selbst die Jüngsten nicht!...</p>
+
+<p>&bdquo;Nun, Mutter! Einmal noch? Was meinst du?&ldquo;
+Kleine weiße Händchen &mdash; weiße beringte Hände hatten
+ihre Verführungskünste nicht ohne Erfolg versucht;
+nun legte sich statt anderer Antwort auf die Frage des
+alten Herrn wieder eine Hand auf die seinige. Das
+war aber keine weiche, keine weiße, keine kräftige mehr;
+aber eine starke und treue war es auch; vielleicht wohl
+die stärkste und treueste.</p>
+
+<p>&bdquo;Die Großmutter hat recht! Es hat alles seine
+Zeit, und die unsrige ist gekommen. Junges Volk, wir
+werden zu Bette geschickt von ihr, der Madame Zeit,
+während die Jüngsten aufbleiben dürfen. Der Kopf
+summt uns zu sehr morgen früh, wenn wir uns dagegen
+sperren und wehren; und es ist zwar hübsch von
+Großmama, wenn sie nur von Rheumatismus spricht;
+aber das rechte Wort ist es eigentlich nicht. Sie hätte
+ganz dreist Gicht sagen können, gerade so gut wie der
+Herr Schwiegersohn und <i>Doctor medicinae</i> da hinter
+seinem Punschglase, wenn er jetzt ein Gewissen hätte.
+Liebe Kinder, wir sind beide über siebenzig Jahre alt,
+und &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Oh!...&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und wir sind sehr glücklich und behaglich. Sehr
+wohl ist uns zumute und so wünschen wir euch allen
+zum erstenmal vor Ablauf des alten Jahres ein glückliches
+neues.... Bitte, lieber Sohn, ich weiß, was
+du sagen willst; aber wende dich damit an die Mama,
+die wird dich versichern, daß deine Frau, unsere liebe
+Sophie da, heute über dreißig Jahre sicherlich gleichfalls
+viel verständiger sein wird, als du. Wende dich
+an deine Mutter, mein Schmeichelkätzchen Marie. Sie
+hat immer gemeint, du seiest ganz ihr Vorbild, also
+wirst du wohl wissen, was in vierzig Jahren in der
+Neujahrsnacht deine Meinung sein wird, wenn die
+unverständige Jugend dir deinen Mann da verführen
+will. Schieben Sie die Kinder nicht so heran, lieber
+Schwiegersohn, sie machen der Großmama nur
+das Herz schwer. Es ist Zeit geworden für uns;
+&mdash; &mdash; &mdash; ein fröhliches, segensreiches Jahr ihr &mdash;
+alle!...&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Alle!&ldquo; jubelten sie, und die Gläser hatten geklungen,
+und die Kinder, die Enkel hatten sich zugedrängt
+und ihre kleinen Becher hingehalten, ohne daß
+man sie dazu zu schieben brauchte. Sie hatten sehr gejubelt;
+und die Tonwellen der Gläser und der Stimmen
+waren verklungen.</p>
+
+<p>&bdquo;Nun seid weiter vergnügt; aber die Kinder laßt
+ihr mir morgen ausschlafen. Begleitung nehmen wir
+nicht mit, die Trepp&rsquo; hinauf. Wir finden unseren Weg
+schon allein, nicht wahr, Walter?&ldquo; sagte die alte Dame,
+die Großmutter des Hauses.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterII" id="SilvesterII">II.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/s.png" alt="S" width="60" height="60" class="floatl"/>ie entschlüpften, wie man entschlüpft, wenn
+man das siebenzigste Lebensjahr hinter sich
+hat. Langsam stiegen die beiden die teppichbelegte
+Treppe in ihre Stube hinauf, der Greis gestützt
+auf den Arm der Greisin; und dann waren sie allein
+miteinander, noch einmal allein miteinander in der
+Neujahrsnacht.... Umgesehen hatten sie sich nicht
+auf der Treppe und einen leisen Schritt, einen Kinderschritt,
+der ihnen nachglitt, den hatten sie überhört.
+Ein so scharfes Ohr, wie vor Jahren, hatte keins von
+den zwei Alten mehr; aber diesen Schritt, diesen
+Geister-Kinderschritt würde auch wohl jedes andere
+jüngere Ohr überhört haben. &mdash;</p>
+
+<p>Auf dem Altenteil! Das kann eines der bittersten
+Worte sein, die das Schicksal den Menschen in dieser
+Welt zuruft; aber auch eines der behaglichsten. Für
+diese beiden Alten war es nach langer schwerer, mühseliger
+Arbeit ein behagliches geworden. Sie fanden
+ihre Gemächer durch ein verschleiertes Lampenlicht erhellt,
+ihre beiden Lehnstühle an den warmen Ofen gerückt
+und:</p>
+
+<p>&bdquo;Mit dem Schlage Zwölf komme ich doch und poche
+an eurer Kammertür und spreche meinen Wunsch durchs
+Schlüsselloch. Ihr braucht aber nicht darauf zu hören;
+ich schicke ihn euch auch in den Schlaf hinein!&ldquo; hatte das
+jüngste und am jüngsten verheiratete Töchterlein als
+letztes Wort im Festsaale da unten gesagt.</p>
+
+<p>&bdquo;O mein Gott, da sitzt ihr noch?&ldquo; rief dieselbe junge
+Frau unter dem Glockenklang und dem Neujahrschoral
+von den Türmen, unter dem plötzlich aufklingenden
+Gassenjubel und dem Jubel der Kinder und Enkel
+in dem Saale des Hauses. &bdquo;Das ist doch ganz wider
+die Abrede, und heute übers Jahr werden wir euch da
+unten bei uns fester halten, ihr Lieben, Bösen, Besten!...
+Ein glückliches neues Jahr, Großpapa! ein glückliches
+neues Jahr, Großmama!&ldquo;</p>
+
+<p>Da stand ein niedrig lehnenloses Sesselchen mit
+einem verblaßten gestickten Blumenstrauß darauf
+neben den zwei Stühlen der Greise. Die junge Frau,
+nachdem sie den Vater und die Mutter mit ihren Küssen
+fast erstickt hatte, saß nieder auf dem kleinen Stuhl und
+hatte keine Ahnung davon, wer eben vor ihr darauf
+gesessen und die Mutter und den Vater gegen die Abrede
+und gegen ihren eigenen festen Vorsatz wach gehalten
+hatte über die Mitternachtsstunde hinaus und
+aus dem alten Jahr in das neue hinein! Mit leise
+bebender Hand strich die alte Frau die blonden Haare
+der Tochter aus dem lebensfreudigen, glühenden, erhitzten
+Gesichte. Die blonden Locken, die sich eben vor
+ihr ringelnd bewegt hatten, waren schon vor vierzig
+Jahren zu Staub und Asche geworden: die junge Frau
+wußte nichts von ihnen, oder doch nur gerüchtweise.
+Lange vor ihrer Geburt war das erste, das älteste Kind
+gestorben, zwölf Jahre alt. Ein halbverwischtes
+Pastellbildchen, das über der Kommode der Mutter,
+der Großmutter des Hauses, hing, war alles, was
+von ihm übrig geblieben war in der Welt.</p>
+
+<p>Alles?</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterIII" id="SilvesterIII">III.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/e.png" alt="E" width="60" height="60" class="floatl"/>in leiser Schritt, ein unhörbarer Schritt; &mdash;
+ein Geister-Kinderschritt in der Silvesternacht!...
+Wir haben gesagt, daß die
+beiden Greise vor einer Stunde die Treppe zu ihren
+Gemächern hinaufgestiegen und ihn, wie wir übrigen
+alle, nicht vernahmen. Ganz war es doch nicht so.</p>
+
+<p>Als der alte Herr der alten Dame mit immer noch
+zierlicher Höflichkeit die Tür öffnete, um sie zuerst über
+die Schwelle treten zu lassen, hatte die Frau einen
+Augenblick gezögert und zurückgesehen und gehorcht.</p>
+
+<p>Der alte Herr glaubte, sie horche noch einmal auf
+den fröhlichen Lärm, auf das heitere Stimmengewirr
+der Neujahrsnacht dort unten im Festsaal des Hauses.</p>
+
+<p>&bdquo;Sie sind gottlob recht heiter,&ldquo; meinte er, &bdquo;wüßte
+auch nicht, weshalb nicht. Und auch wir, &mdash; Mutter! &mdash;
+nicht wahr, Alte?... Wie spät ist es denn eigentlich?
+Elf Uhr! Noch früh am Tage, wenngleich wirklich ein
+wenig spät im Jahre.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, Walter!&ldquo; hatte die Greisin erwidert, aber nur,
+um doch eine Antwort zu geben. &bdquo;Ich hörte eigentlich
+nicht auf dich; ich dachte an unser Ännchen,&ldquo; fügte sie
+hinzu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte
+und sie in der letzten Stunde des ablaufenden Jahres
+mit sich allein waren.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterIV" id="SilvesterIV">IV.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/d.png" alt="D" width="60" height="60" class="floatl"/>as junge Volk! Längst hat es drei Viertel
+des Hauses nach seinem Geschmack und
+Bedürfnis eingerichtet und mit vollem
+Rechte des Lebens. An das Reich der beiden Alten hat
+keine Hand gerührt; außer dann und wann eine Kinderhand,
+deren volles Recht des Lebens es freilich ist und
+immerdar sein wird, in der Großväter und der Großmütter
+Hausrat, Schubladen und Schränken zu wühlen
+und zu kramen und sich die vom Anfang der Welt an
+dazugehörigen erstaunungswürdigen, lustigen und traurigen
+Geschichten erzählen zu lassen.</p>
+
+<p>Es war einmal!... oh, noch einmal von dem, was
+war!... Und so war es gekommen, daß die jüngste
+Tochter des Hauses die Eltern um Mitternacht noch
+wach fand unter den Glocken, die das neue Jahr einläuteten.
+Eine Kinderhand aber war es wiederum gewesen,
+die an den Schleiern der Vergangenheit gezupft
+hatte: &bdquo;Es war einmal! Ich bin da! &mdash; Mama,
+du sagst in dieser Stunde nicht: Man hat doch keinen
+Augenblick Ruhe vor dir, Kind! &mdash; Ich bin da; und
+nun laßt mich sitzen auf meinem Stuhl, laßt uns erzählen:
+Es war einmal!... laßt uns erzählen von dem,
+was einmal war!&ldquo;...</p>
+
+<p>Und sie hatten davon erzählt, die beiden Greise
+nämlich. Das Kind hatte nur drein gesprochen.</p>
+
+<p>&bdquo;Sie wäre gewiß auch eine stattliche Frau und eine
+gute geworden,&ldquo; sagte die alte Dame. &bdquo;Ich meine, am
+meisten hätte sie wohl der Theodore geglichen, wenn
+wir sie behalten hätten, das liebe Kind. Sie haben alle
+da unten, &mdash; unsere meine ich, Papa! &mdash; ein hübsches
+lustiges Lachen; aber ich kann nichts dafür, ich muß es
+sagen: wie das Kind, unser Ännchen, ist doch keins so
+glücklich in seinem Lachen gewesen. Die andern kennen
+wir ja auch nun schon lange mit ihren Sorgen und ihren
+Nöten und ihren unnützen Ärgernissen. Keins von ihnen
+lacht und kreischt und kichert so wie mein Ännchen es
+tat. Hätten wir die Enkel nicht, so würde das Haus
+wohl manchmal still genug sein; &mdash; selbst dir, Großpapa.&ldquo;</p>
+
+<p>Da war das Lachen, das vor so langen, langen Jahren
+zuerst das Haus hell und heiter gemacht hatte!
+Auch der alte Herr, der Großpapa, dem das Haus nie
+ruhig genug sein konnte, kannte es ganz genau.</p>
+
+<p>&bdquo;Also, ihr wißt es doch noch, wie es war, als wir
+drei allein waren, und dein Haar noch nicht so weiß,
+Vater; und auch deines nicht so hübsch grau, mein
+Mütterchen, und ich euer liebes, einziges Mädchen!
+Hier sitze ich auf meinem Stuhl und behalte mein Recht,
+allen meinen Schwestern und Brüdern und allen
+meinen Nichten und Neffen zum Trotz. Ich bin die
+Älteste! Wer auch nach mir gekommen ist, wie viele
+auch gesessen haben auf diesem Schemelchen &mdash; mir gehört
+es, mir habt ihr es hierher gestellt; das ist mein
+Sitz am Herde! Wer kann mir meinen Platz nehmen
+in eurer Seele? wer in dem Hause, das ihr gebaut
+habt und in dem ihr mich einmal euer Glück nanntet?!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Du hast recht, Mutter,&ldquo; sagte der alte Herr; &bdquo;ich
+weiß eigentlich nicht, wie wir gerade jetzt darauf kommen;
+aber das Kind hat immer zu mir, &mdash; zu uns
+gehört. Nur weil wir es wußten, haben wir nicht immer
+dran gedacht. So geht es aber mit allem Wissenswürdigen
+in der Welt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Mein Ännchen!&ldquo; seufzte einfach die Greisin; doch
+die blonden Locken wurden wie mutwillig von neuem
+geschüttelt, und wieder legte sich der kleine Finger schalkhaft
+auf den Mund: &bdquo;Ja, ich war immer da, wenn
+ihr auch nicht an mich zu denken glaubtet: an manchem
+schwülen Sommertage, in mancher kalten, dunkeln,
+trostlosen Winternacht. An manchem Feste in der lichtstrahlenden
+Winternacht, an manchem sonnigen, seufzervollen
+Frühlingsmorgen. Jetzt haben die andern da
+unten im Saale euere Sorgen, Freuden und Arbeiten.
+Ihr aber habt Zeit für mich. Eure andern, die nach mir
+gekommen sind, haben mir wohl mein altes Spielzeug
+verkramt und zerbrochen; aber mein Plätzchen im Hause
+haben sie mir nicht nehmen können. Ich habe es ihnen
+nur geliehen, einem nach dem andern; doch mein
+Eigentum ist es und bleibt es; nicht wahr, Papa und
+Mama?! Ihr habt zwar unter den andern gottlob
+nun auch wieder ein Ännchen &mdash; ein Enkelkind mit
+meinem Namen &mdash; aber das tut nichts, wir vertragen
+uns schon um diesen kleinen Stuhl und um &mdash; euch!...
+Es war wohl ein kleiner Sarg, in den ihr mich legen
+mußtet; aber &mdash; ich bin immer über meine Jahre klug
+gewesen. Ich habe es wohl oft heimlich erlauscht,
+wenn ihr das über mich sagtet. Damals wußte ich
+freilich nicht recht, was ihr damit sagen wolltet, und
+ob es eigentlich ein Lob für mich sei; jetzt aber weiß ich
+es. Ei ja, ich bin sehr klug für meine Jahre gewesen!
+nun lacht nur, wie ihr damals geweint habt, als ich
+von euch weggeführt wurde und nicht über die Schulter
+zurücksehen durfte. Seht ihr wohl, da lächelt ihr wenigstens
+schon. Die Jahre sind nun hingegangen; lange,
+lange Jahre! Heute abend habt ihr euch vorgenommen,
+noch einmal jung zu sein mit euren Kindern und Enkeln.
+Es ist euch auch wohl gelungen, doch nicht ganz. Ganz
+jung seid ihr erst jetzt wieder, da ich mich zu euch gesetzt
+habe, ich &mdash; euere Älteste und euere Jüngste. Nimm
+meinen Krauskopf wieder zwischen deine Hände,
+Mutter, laß mich wieder auf deinem Knie sitzen, Väterchen;
+draußen schneit es sehr, und der Nordwind bläst,
+und es ist spät in der Nacht; ihr aber schickt mich diesmal
+noch nicht zu Bett; &mdash; wir wollen jetzt einander noch
+nicht zu Bette schicken; wir wollen noch einmal ein
+Weilchen sitzen und erzählen von <em class="gesperrt">dem, was einmal
+war</em>.&ldquo;</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterV" id="SilvesterV">V.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/s.png" alt="S" width="60" height="60" class="floatl"/>ie hatten nur noch fünf Minuten in ihren
+Großväterstühlen neben dem Ofen sitzen
+wollen, um sich von dem Feste, dem Händedrücken,
+all den Küssen und guten Wünschen zu dem
+neuen kommenden Jahre ein wenig zu erholen, wie es
+den ältesten Leuten in der Familie geziemt in der Silvesternacht,
+während die Jugend um die lichterglänzende
+Festtafel weiter jubelt und lärmt, nach der Uhr
+sieht und den Sekundenzeiger mit lachendem Auge
+verfolgt bis heran an den neuen ernsten Grenzstein ihrer
+Erdenzeit. Und sie, die bereits Greise waren, hatten
+nicht nach der Uhr gesehen; sie hatten gar nicht einmal
+daran gedacht. Die Sekunden der letzten Stunden des
+Jahres waren ihnen dahingeglitten, wie die vielen,
+langen arbeitsvollen, inhaltreichen Jahre ihres Daseins
+selber bis in dieses jüngste und das eben vor der
+Tür stehende hinein.</p>
+
+<p>&bdquo;Du fragst wohl, Vater, wie wir gerade jetzt darauf
+kommen, und sagst, daß du an das Kind lange nicht
+gedacht hast,&ldquo; sagte die alte Dame. &bdquo;Es ist freilich lange
+her, daß wir ihren kleinen Sarg dort in dem Saale,
+wo sie jetzt gottlob so lustig sind, aufstellen mußten.
+Wie wunderlich es doch ist, daß ich gerade jetzt darauf
+komme, was für eine schöne Sommernacht es war, in
+welcher sie starb! Horch jetzt nur, wie der Wind den
+Schnee gegen die Fenster treibt. Wir haben die andern
+alle behalten und wir haben an unseren Kindeskindern
+Freude; aber an unsere Älteste habe ich doch immer
+gedacht. Was würde aus den Kindern werden, wenn
+ihre Mütter nicht immer an sie dächten. Selbst die Gestorbenen
+können ohne ihre Mutter nicht auskommen. &mdash;
+Horch, wie sie es da unten treiben! eigentlich ist es recht
+unrecht von ihnen, daß sie auch die Jüngsten so lange
+aus dem Bette zurückhalten, und ich werde ihnen morgen
+früh auch jedenfalls meine Meinung darüber sagen. &mdash;
+Als <em class="gesperrt">sie</em> in ihrem Fieber lag, saß ich auch und zerrang
+mir die Hände und fragte mich Tag und Nacht, was ich
+hätte anders machen können, damit das Schreckliche
+nicht so zu kommen brauchte. Du warst wohl vernünftiger,
+wenn du aus deinem Kontor heraufkamst und
+mir zuredetest, Geduld zu haben. Wie konnte ich
+wohl verständig sein und Geduld haben? Und man
+sucht doch immer so, wie man einem andern die
+Schuld geben kann, und wäre man das auch
+selber!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich meine, Mutter, wir geben das auf, uns den
+Kopf darüber zu zerbrechen, und noch dazu so spät in
+der Nacht, im Jahr und in den Jahren,&ldquo; sprach der
+alte Herr, wiederum sehr vernünftig; und dann sprachen
+sie bis zu dem ersten Glockenschlage der Mitternacht
+nichts mehr miteinander. Dagegen aber füllte sich ihre
+Stube immer mehr mit den Bildern und den Klängen
+der Vergangenheit. Und der liebliche Spuk der Silvesternacht
+hatte nicht das geringste vom Phantasten
+an sich. Das älteste Kind des Hauses war noch einmal
+im vollen blühenden Leben Herrin im Reich und fand
+all sein altes verkramtes Spielzeug wieder, wie &mdash; die
+zwei weißhaarigen Greise. Sie paßten wieder ganz
+zueinander, die Eltern und das Kind: der dunkle,
+geheimnisvolle Vorhang der Zukunft hatte sich bewegt,
+und es war eine Kinderhand, die sich aus den
+schwarzen Falten weiß und zierlich hervorstreckte und
+winkte. Sie aber, die Fröhlichen da unten im Festsaale
+des Hauses, hatten dem Vater und der Mutter,
+dem Großvater und der Großmutter &mdash; den beiden
+Alten ein glückliches, ein segensreiches neues Jahr gewünscht
+und hatten zwischen Becherklang und lustigem
+Lachen ihren Wunsch wehmütig ernst gemeint, wie sich
+das gebührte.</p>
+
+<p>&bdquo;Wie gut der Papa und die Mama heute abend
+aussahen,&ldquo; meinten sie. &bdquo;Es ist doch eine Freude, wie
+frisch sie sich erhalten und wie sie noch an allem teilnehmen.
+Aber verständig war es doch, daß sie nicht über
+ihre Zeit bei uns sitzen blieben. Morgen früh hätten
+wir uns doch Vorwürfe gemacht, wenn wir sie noch
+länger gequält hätten, das Vergnügen nicht durch ihr
+Weggehen zu stören.... Jetzt aber auf die Uhr gesehen!
+in fünf Minuten wird es Zwölf schlagen; &mdash; ein bißchen
+leise, Kinder, daß <em class="gesperrt">wir die alten Leute
+nicht wecken!</em>&ldquo;...</p>
+
+<p>Zwölf Uhr und &mdash; ein neues Jahr! Alle guten
+Geister haben einen leisen Schritt und gehen auf weichen
+Sohlen; so schlich sich die jüngste Tochter des Hauses
+weg aus dem jubelnden Kreis, glitt die Treppe hinauf
+und horchte an der Tür der &bdquo;alten Leute&ldquo;, die durch
+den Becherklang, die lauten Glückwünsche und alles,
+was sonst noch in die Stunde gehört, nicht gestört
+werden sollten in ihrer Ruhe auf dem Altenteil.</p>
+
+<p>&bdquo;O mein Gott, da sitzt ihr noch? Das ist doch ganz
+wider die Abrede! Sie meinen alle da unten, daß ihr
+längst in den Federn liegt und euch behaglich in das
+neue Jahr hinübergeträumt habt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Das letztere haben wir auch getan, mein Kind,&ldquo;
+sagte der alte Herr nachdenklich lächelnd.</p>
+
+<p>&bdquo;Oh, und nun müßte ich sie alle &mdash; alle die übrigen
+auch noch heraufrufen, daß sie euch ihre Meinung sagen.
+Sie werden es mit Recht sehr übel nehmen, wenn ich&rsquo;s
+nicht auf der Stelle tue, Mama!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Laß es lieber, mein Herz,&ldquo; meinte die alte Dame,
+leise die blonden Flechten vor ihr, die noch nicht Staub
+und Asche geworden waren, streichelnd. &bdquo;Es würde den
+Vater doch zu sehr aufregen, und wir gehen nun wirklich
+gleich zu Bett. Wir haben vorher nur noch ein wenig
+an allerlei gedacht, was vor eurer &mdash; vor deiner Zeit
+war.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ach ich bin so glücklich!&ldquo; rief die junge Frau. &bdquo;Wir
+sind so vergnügt da unten an unserem Tische, und ihr
+hier in euerer lieben, alten, guten Stube seht so jung
+aus und so hell aus den Augen, wie das Jüngste von
+uns &mdash; euern andern! Oh, und mein Franz ist so
+drollig; der Mensch ist mir fast ein wenig zu ausgelassen,
+oh &mdash; und also noch einmal: ein fröhliches, glückliches,
+gesegnetes neues Jahr euch vor allen und &mdash; uns
+andern auch!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, ja!&ldquo; sagten die <em class="gesperrt">alten Leute</em> leise zu
+gleicher Zeit und nickten freundlich ihre Zustimmung
+zu dem guten Wunsch.</p>
+</div>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44639 ***</div>
+</body>
+</html>
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+The Project Gutenberg EBook of Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis / Ein
+Besuch / Auf dem Altenteil, by Wilhelm Raabe
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis / Ein Besuch / Auf dem Altenteil
+ Erzählungen
+
+Author: Wilhelm Raabe
+
+Release Date: January 9, 2014 [EBook #44639]
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+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JUNKERVON DENOW / EIN ***
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+Produced by Norbert H. Langkau, Norbert Müller and the
+Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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+ Anmerkungen zur Transkription
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+ Text wurde folgendermaßen markiert:
+ _Antiqua_
+ =gesperrt=
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+ Zeichensetzung und Rechtschreibung wurden weitgehend übernommen,
+ außer bei offensichtlichen Fehlern.
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+ Wilhelm Raabe
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+ Bücherei
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+ Erste Reihe:
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+ Kleinere
+ Erzählungen
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+ Zweiter Band
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+ Berlin-Grunewald
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+ Verlagsanstalt für Litteratur und
+ Kunst/Hermann Klemm
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+ Wilhelm Raabe
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+ Der Junker von
+ Denow
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+ Ein Geheimnis
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+ Ein Besuch
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+ Auf dem Altenteil
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+ Erzählungen
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+ Dritte Auflage
+ 11.-16. Tausend
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+ Berlin-Grunewald
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+ Verlagsanstalt für Litteratur und
+ Kunst/Hermann Klemm
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+ Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
+ Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
+ Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig
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+ ******************************
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+ * Der *
+ * *
+ * Junker von Denow *
+ * *
+ * Historische Novelle *
+ * *
+ ******************************
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+ I.
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+Wer am Abend des sechsten Septembers alten Stils, am Donnerstag vor
+Mariä Geburt im Jahre unsers Herrn Eintausendfünfhundertneunundneunzig,
+nach Sonnenuntergang einen Blick aus der Vogelschau über die Rheinebene
+von Rees bis Emmerich und weit nach Ost und West ins Land hinein hätte
+werfen können, der würde eines erschrecklichen Schauspiels teilhaftig
+geworden sein.
+
+Schwarze regendrohende Wolken verhingen das Himmelsgewölbe, und es würde
+eine dunkle Nacht gewesen sein, wenn nicht der Mensch diesmal dafür
+gesorgt hätte, daß es auf der weiten Fläche nicht ganz finster wurde.
+Auf den Wällen von Rees leitete, an der Spitze seiner Hispanier,
+Burgunder und Wallonen, Don Ramiro de Gusman die Verteidigung der Stadt
+und Festung gegen das Reichsheer, welches schläfrig und matt genug der
+Belagerung oblag, dafür aber auf andere Weise desto mehr Lärm machte,
+wie es einer Armee des heiligen römischen Reichs deutscher Nation
+zukam. Ein fahles, blitzartiges Leuchten lag hier über der Gegend, denn
+wenn auch das schwere Geschütz seit Mittag schwieg, so knatterte doch
+das Musketenfeuer, schwächer oder stärker, rund um die Stadt fort und
+fort, und manch ein Wachtfeuer flackerte auf beiden Ufern des Flusses,
+welcher manche Leiche in seinen nachtschwarzen Fluten mit sich hinab
+führte in das leichenvolle Holland, wo der finstere Admiral von
+Aragonien, Don Francisco de Mendoza, und der Sohn der schönen Welserin,
+der bigotte Kardinal Andreas von Österreich, die Zeiten Albas
+erneuerten. --
+
+Wir haben es jedoch nur mit der rechten Seite des Rheines zu tun, wo
+tief in das Land hinein unter den zusammengewürfelten Tausenden des
+Reichsheeres, Hessen, Brandenburgern, Braunschweigern, Westfalen, der
+_furor teutonicus_, die sinnlose, trunkene, deutsche Furie ausgebrochen
+war und in Verwüstungen aller Art sich Luft machte. In allen Dörfern
+und Lagerplätzen Sturmglocken, Trommeln und rufende Trompeten --
+Geschrei und Jammer des elenden, geplünderten, mißhandelten Landvolkes
+-- bittende, drohende Befehlshaber -- flüchtende Herden, Weiber,
+Kinder, Kranke, Greise -- Reitergeschwader, die sich sammelten,
+Reitergeschwader, die auseinanderstoben -- brennende Häuser und
+Zeltreihen, und zwischen allem die Cleveschen Milizen, die
+»Hahnenfedern«, zur Wut gebracht durch die Ausschweifungen derer,
+welche da Hilfe bringen sollten gegen die Ausschweifungen des fremden
+Feindes! Überall Blut und Feuer und Brand -- ein unbeschreibliches,
+wüstes, grauenhaftes Durcheinander, zu dessen Schilderung Menschenrede
+nicht hinreicht!...
+
+Lange genug hatte an diesem Abend Don Ramiro, hinter seiner Brustwehr an
+eine zerschossene Lafette gelehnt, hinübergeschaut nach den Laufgräben
+und Angriffswerken der tollgewordenen Belagerer; jetzt stieg er langsam
+herab von seinem Lugaus, und begleitet von zwei Fackelträgern und
+mehreren seiner Unterbefehlshaber schritt er durch die Gassen von Rees,
+dessen zitternde Bewohner jedes Fenster hatten erhellen müssen, und
+dessen Straßen dumpf dröhnten unter den Schritten der gegen die
+östlichen Ausfallspforten heranmarschierenden Besatzung.
+
+»Francisco Orticio!« sagte der spanische Kommandant, und im nächsten
+Augenblick stand der Geforderte vor ihm.
+
+»Alles bereit?« fragte Don Ramiro wieder.
+
+Der gerüstete Führer senkte stumm den Degen und wies mit der Linken auf
+die Haufen der Krieger, welche jetzt alle an den ihnen bestimmten
+Plätzen dicht gedrängt, regungslos standen. Des Spaniers Auge flog mit
+düsterer Befriedigung über all diese im Glanz der Fackeln blitzenden
+Harnische, Sturmhauben, Piken und Schwerter -- er nickte. »Sie würden
+sich da draußen untereinander selbst fressen, gleich den hungrigen
+Wölfen,« sagte er, »aber wir wollen zur Ehre Gottes und der heiligen
+Jungfrau« -- hier lüftete er den Hut, und alle Umstehenden taten
+das Gleiche -- »unsern Teil an dem Verdienst haben, die Ketzer zu
+vertilgen! Erinnert Euch, Orticio, mit dem Schlage Elf beginnt das Feuer
+wiederum -- mit dem Schlage Elf hinaus auf sie! Spanien und die
+Jungfrau! die Losung.«
+
+»An eure Plätze, ihr Herren!« erschallte das Kommandowort Francisco
+Orticios -- ein dumpfes Gerassel und Geklirr der sich aneinander
+reibenden Harnische -- Don Ramiro de Gusman schritt langsam prüfend die
+Reihen entlang; dann stieg er schweigend wieder zu dem Walle empor, nach
+einem letzten Wink und Gruß für Orticio, welcher sein Wehrgehäng fester
+zog.
+
+»Noch eine halbe Stund'! Spanien und die Jungfrau, Spanien und die
+Jungfrau!« ging es dumpf durch die Reihen der harrenden Krieger. -- --
+
+Unsere Geschichte beginnt!
+
+»So hole der Teufel die meineidigen Schufte und meuterischen Hunde!«
+schrie der Hauptmann Burghard Hieronymus Rußwurmb in Verzweiflung,
+im Lager der dreizehn Fähnlein gewappneter Knechte, Reisiger und
+Fußsöldner, welche Herr Heinrich Julius, postulierter Bischof zu
+Halberstadt, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg als Obrister des
+niedersächsischen Kreises zufolge des Koblenzschen Reichsabschieds
+für diesen Krieg geworben und aus aller deutschen Herren Ländern
+zusammengebracht hatte. »Ist denn die Welt ganz umgekehrt? Es ist zum
+Rasendwerden!... So schlage zum letzten Mal die Trommel, Hans Niekirche
+-- o heiliges Wort Gottes, das ist das Jüngste Gericht!«
+
+Hans Niekirche aus Braunschweig, der Trommelschläger, ein blutjunger
+Wicht, welcher einem Schneider seiner Geburtsstadt aus der Lehre
+gelaufen war, hatte, hierhin gestoßen, dahin gezerrt, sich fast zwischen
+die langen Beine seines Hauptmanns gerettet und fing nun mit zitternden
+Händen von neuem an, das Kalbfell zu bearbeiten; während der Hauptmann
+hin und her lief, mit beiden Händen das Haupthaar durchwühlend. Er hatte
+wohl das Recht, zornig zu sein, der Wackere! Dicht hinter sich hatte er
+ein geplündertes Bauernhaus, dessen Fenster und Türen eingeschlagen
+waren, und auf dessen Schwelle ein junges Weib mit zerrissenen Kleidern,
+in der im letzten Krampf zusammengekniffenen Hand ein Büschel roter
+Haare, leblos ausgestreckt lag. An sein linkes Bein hing sich jetzt auch
+noch ein arm Kindlein in seiner Todesangst, zu seiner Rechten schlug
+Niekirch seine Wirbel, und rings um ihn her schrie und stampfte, fluchte
+und drohete sein meuterisch Fähnlein und rasaunte durcheinander, wie ein
+aufgestört Rattennest.
+
+»O ihr Schelme, ihr Hunde, das soll euch heimgezahlt werden!« brüllte
+der Hauptmann. »Warte, Hans Diroff von Kahla, warte, Koburger, Christoph
+Stern von Saalfeld, an den Galgen und aufs Rad kommt ihr; oder die
+Gerechtigkeit ist krepiert auf Erden. Warte, du Schmalz von Gera, dein
+Fett soll all werden, wie eine Kerze im Feuer! O Tag des Zorns, o Hunde!
+Hunde!«
+
+»Gebt Raum, Hauptmann!« schrie ein riesenhafter Kerl, genannt Valentin
+Weisser von Roseneck, dem Führer den Büchsenkolben vor die Brust
+setzend. »Ihr seid die Verräter, die Schelme, Ihr und Eure saubern
+Gesellen und Euer Graf von Hohenlohe, der Holländer! Wollt Ihr uns nicht
+etwa über das Wasser, über den Rhein, von des Reiches Boden führen? He,
+sprecht!«
+
+»Nicht über den Rhein! nicht über den Rhein! nicht vor Bommel! nicht vor
+Bommel!« schrie es von allen Seiten, und weit über das Feld durch alle
+Tausende wälzte sich dasselbe Wort. Der Hauptmann schlug den Kolben von
+seiner Brust zur Seite.
+
+»Du wirst gehängt, wie ein Spatz, Rosenecker,« schrie er.
+
+»Ihr sollt es wenigstens nit erschauen!« brüllte der Schütz wieder, die
+brennende Lunte über dem Haupte schwingend. Er nahm sich nicht die Mühe,
+sie aufzuschrauben, das Feuerrohr lag auf der Gabel -- im nächsten
+Augenblick wäre der Hauptmann ein Kind des Todes gewesen, wenn nicht
+plötzlich zwischen dem Bedrohten und dem Drohenden ein Reiter im vollen
+Galopp angehalten und dem wütenden Musketierer den Büchsenlauf in die
+Höhe geschlagen hätte, daß der Schuß in die Luft ging.
+
+»Der Junker! der Junker!« schrie es auf allen Seiten. »Der Junker
+zurück! sprecht, sprecht, was ist's? was sagt der Graf? Haben sie uns
+verkauft an die holländischen Juden, ihnen ihre Festung Bommel zu
+entsetzen?... Der Junker, der Junker! Nicht nach Bommel, nicht vor
+Bommel! nicht über den Rhein! nicht über den Rhein! In die Spieße der
+von Hollach!«
+
+»Ja, schreit nur, bis ihr berstet!« zischte blau vor Grimm der
+Hauptmann durch die zusammengebissenen Zähne und ballte die Hände, daß
+die Nägel tief ins Fleisch drangen. »Schreit nur -- es ist noch nicht
+im Topf, darin es gekocht wird -- Christoph von Denow, sprecht zu den
+Meutmachern! sagt den räudigen Hunden Eure Botschaft!«
+
+Der junge Reiter richtete sich hoch auf im Sattel, und alle die wilden
+Gesichter im Fackelschein ringsumher wandten sich ihm zu.
+
+»Der wohlgeborene und edle Graf Philipp von Hohenlohe, unser gnädiger
+Feldhauptmann --«
+
+»Nichts von dem Grafen von Hollach, dem Verräter, dem Judas!« schrien
+einige. »Stille! Ruhe! Hört ihn!« riefen die andern und gewannen die
+Oberhand, daß der Reiter fortfahren konnte.
+
+»Der Graf läßt den Fähnlein des braunschweigischen Regiments zu Roß und
+zu Fuß vermelden, daß ihr Begehren und Gebaren unehrlich und treulos
+sei, deutscher Nation zu Schimpf und Schande und großem Schaden
+gereiche --«
+
+Ein allgemeines Wut- und Spottgebrüll unterbrach den Redner, der erst
+nach langem Harren weiter rufen konnte.
+
+»Es sagt der Graf von Hohenlohe, daß er befehle, Generalmarsch zu
+schlagen vor jeglichem Quartier und auszurücken in die Linien gen Rees,
+auf weitern Befehl! Da kommt unser gnädigster Obrister, der Herr von
+Rethen.«
+
+Neues Geschrei empfing den ebenfalls im vollen Rosseslauf erscheinenden
+Führer, welcher den schriftlichen Befehl des Grafen mit sich führte;
+aber ebenfalls vergeblich durch Bitten, Drohungen, Erinnerungen an den
+Artikelbrief das Volk zur Ruhe zu bringen versuchte. Atemlos,
+zornesbleich hielt er zuletzt in dem kleinen Kreise der Hauptleute und
+Offiziere und der wenigen treugebliebenen Söldner. Der Junker aber
+befand sich, willenlos fortgerissen, inmitten des wildesten Getümmels
+der aufrührerischen Knechte, die von Mord und Blut sprachen, und
+bereits ihre Spieße senkten, ihre Feuergewehre richteten auf das
+Häuflein der Getreuen, welche einen Ring schlossen um die Führer und die
+geretteten Feldzeichen, und sich rüsteten, ihr Leben so teuer als
+möglich zu verkaufen.
+
+Auch das Reiterlager hatte sich in Bewegung gesetzt, von Minute
+zu Minute wuchs der Tumult, und inmitten all dieser drohenden
+Spieße, Schwerter und Büchsen, unter all diesen scheu gewordenen,
+ausschlagenden, stampfenden Rossen und trunkenen Männern taucht jetzt
+für uns eine Gestalt auf, klein und zierlich gebaut, aber trutzig und
+unverzagt, im Heerlager aufgewachsen, gebräunt von Wind und Wetter,
+abgehärtet in mancher bösen Sturmnacht am schwächlichen Lagerfeuer, ein
+klein Hütlein, geziert mit einer Häherfeder, auf den krausen, wirren
+Locken, ein Dolchmesser im Gürtel, -- bekannt bei Führern, Knechten und
+Reisigen; zu Roß, zu Fuß, zu Wagen stets dem Heere zur Hand: =Anneke
+Mey= von Stadtoldendorf, des braunschweigschen Regiments Marketenderin
+und Schenkin!
+
+»Hab' ich dich auf den Fuß getreten, Anneke?« fragte ganz kleinmütig der
+wilde Valentin Weisser, der eben das Feuergewehr gegen den Hauptmann
+hatte losgehen lassen. »Nimm dich in acht, daß sie dich nicht
+erdrücken, Engel-Anneke -- stelle dich hinter mich, du wirst gleich dein
+blaues Wunder sehen.«
+
+»Nehmet Ihr Euch in acht, Rosenecker,« lachte das wildherzige Kind, »Ihr
+spielt ein hoch Spiel diese Nacht!«
+
+Der Riese warf einen trotzigen, lachenden Blick über die hin und her
+wogenden Massen. --
+
+»Hoho, sind wir nicht unsrer genug, zu gewinnen? Nicht vor Bommel!
+Ju -- ho! ho! nicht vor Bommel! nicht übern Rhein! Fort mit den
+Hauptleuten, fort mit dem Grafen von Hollach!«
+
+In diesem Augenblick riefen wieder Hunderte von Stimmen nach dem
+Junker -- dem Christoph von Denow. Da zuckte ein seltsamer Glanz über
+das Gesicht des Mädchens. Es stellte sich zuerst auf die Zehen, dann
+kletterte es mit katzengleicher Behendigkeit und Schnelligkeit auf einen
+Schutthaufen, wo sich bereits mehrere Soldatenweiber mit ihren Kindern
+und Habseligkeiten zusammengedrängt hatten und alle zugleich in den Lärm
+hineinkreischten.
+
+»Mein Mann! mein Mann! Jesus, sie würgen sich alle! Gottes Sohn --
+Franz! Franz!«
+
+»Was macht der Junker? wo ist der Junker?« rief Anneke Mey, eine Hand,
+welche ihr entgegengestreckt wurde, ergreifend.
+
+»Da! da! er spricht zu denen vom vierten Fähnlein -- da -- da -- Jesus,
+sie werfen den Hauptmann Eberbach nieder, und mein Mann, Jesus, mein
+Mann!« --
+
+Die Augen der Armen wurden starr, mit einem Sprung war sie von der Höhe
+herab und stürzte sich mitten in das Getümmel; über den am Boden
+liegenden Hauptmann sank unter den Hieben und Stößen der Meutrer der
+Doppelsöldner Franz Hase von Erfurt zusammen. Vergeblich hatte sich
+Christoph von Denow unter die Piken und Hellebarden geworfen, mit seinem
+Schwert die Spitzen niederschlagend; im vollen Lauf stürzte jetzt das
+aufrührerische Kriegsvolk auf die Treugebliebenen und die Befehlshaber,
+Schüsse krachten hinüber und herüber. Ihr Messer aus der Scheide reißend
+trieb Anneke Mey in den Aufruhr hinein. Christoph von Denow sah sie
+plötzlich an seiner Seite unter den Füßen der Kämpfenden; -- noch ein
+Augenblick, und sie war verloren, noch ein Augenblick, und er hatte sie,
+fast ohne zu wissen, was er tat, zu sich emporgezogen aufs Pferd; alles
+drehte sich um ihn her -- »Mordio! Mordio!« brüllte es auf allen
+Seiten -- -- Da -- -- urplötzlich -- -- blieben alle die zum Verbrechen
+gezückten und geschwungenen Waffen, wie durch ein Zauberwort aufgehalten
+in der Luft -- jeder Wut- und Angstschrei erstarrte auf den Lippen --
+Angreifer und Angegriffene standen lautlos, bewegungslos!
+
+Im Westen über Rees hatte sich, begleitet von einem donnerartigen
+Krachen, der dunkle Nachthimmel blutig-rot gefärbt. Alle Geschütze auf
+den Wällen, alle Geschütze in den Angriffslinien brüllten los; im Lager
+des Reichsheeres flog ein Pulvervorrat in die Luft, dazwischen rollte,
+immer stärker werdend, das kleine Gewehrfeuer.
+
+Mit einem Male hatte sich die Szene im aufrührerischen Lager vollständig
+verändert.
+
+»Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!« ging es von Mund zu Mund.
+»Sturm! Sturm! Gen Rees! gen Rees!«
+
+Und als peitsche der Satan sie vorwärts, seiner Hölle zu, hatte sich
+plötzlich diese ganze Masse von Kriegern, Führern, Weibern, Troßknechten
+in Bewegung gesetzt, dem flammenden Vulkan im Westen entgegen. Gier nach
+Beute, unbefriedigte Gier nach Blut trieb sie von dannen. Im wildesten
+Taumel, Reiter und Fußvolk und Wagen bunt durcheinander, raste sie über
+das Feld durch die Nacht. Im wildesten Taumel und Traum, das Schwert am
+Faustriemen, vor sich auf dem Sattel das Mädchen aus den Weserbergen,
+saß Christoph von Denow auf seinem schwarzen Roß. -- --
+
+»Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen! Vivat der Graf! Vivat der Graf
+von Hollach! Vorwärts! Vorwärts!«
+
+Ein sekundenlanges Anhalten in dieser wüsten Menschenflut war eine
+Unmöglichkeit, ein Fehltritt, ein Straucheln der sichere Tod. Schon
+hörte man zwischen dem Donnern und Krachen um die Stadt den Schlachtruf
+der Feinde: »Spanien und die Jungfrau! Spanien und die Jungfrau!« und
+lauter und näher den Ruf der angegriffenen Belagerer: »Das Reich! das
+Reich! Vorwärts, das Reich!«
+
+Hinein in die Atmosphäre von Blut und Feuer brauste die anstürzende
+Menschenmasse, und die Letzten drängten bereits die Vordersten
+in die angegriffenen Laufgräben, aus denen eine andere Flut ihnen
+entgegen wogte. Das waren die Hessischen, die schlecht bewaffneten,
+halbverhungerten, im Regen und Rheinwasser fast ertränkten
+Schanzgräber, welche dem wilden Anprall der Spanier nicht hatten
+widerstehen können.
+
+»Spanien! Spanien! Spanien und die Jungfrau!« rief Francisco Orticio,
+sich über einen Schanzkorb in die Höhe schwingend.
+
+»Spanien! Spanien und die Jungfrau!« wiederholten seine Krieger ihm
+nachdringend.
+
+»Rette, Hessen! Rette!« schrien die flüchtigen Söldner des Landgrafen im
+panischen Schrecken.
+
+»Braunschweig! Braunschweig!« brüllte es von den Höhen der Böschungen.
+
+»Up dei Düvels!« schrie Heinrich Weber aus Schöppenstedt, eine Fackel in
+der Hand mitten unter die Hessen springend. Der flammende Brand flog im
+weiten Bogen gegen die Spanier -- ein zweiter Satz -- die zu Grund, der
+Bergstadt im Harz, gehämmerte Hellebarde schmetterte nieder auf eine zu
+Cordova geschmiedete Sturmhaube: Diego Lua aus Toboso stürzte mit einem
+»_Valga me Dios!_« tot zurück.
+
+»Braunschweig! Braunschweig!« brauste es dem Schöppenstedter nach, und
+»Braunschweig! Braunschweig!« jubelten auch die Hessen, welche mit neuem
+Mut sich wandten gegen ihre Verfolger.
+
+»Braunschweig! Braunschweig!« rief Christoph von Denow, dem es gelungen
+war, sich von seinem Pferde zu werfen, welches sich auf der Böschung
+hoch bäumte, im nächsten Augenblick aber, von einer Kugel getroffen,
+zusammenbrach. Anneke Mey stand unbeschädigt auf den Füßen, doch auch
+sie wurde mit hinabgerissen in die Gräben, wo sie jedoch samt Hans
+Niekirche hinter einem Haufen umgestürzter Schanzkörbe den verlorenen
+Atem wieder gewinnen konnte.
+
+Und jetzt Angriff und wütende Verteidigung, Flüche in sechs Sprachen,
+Todesrufe; -- auf engstem Raum Vernichtung jeder Art! -- Alle Hauptleute
+der Braunschweiger: Adebar, Maxen, Wulffen, Wobersnau, Rußwurmb, Dux,
+Statz, und wie sie hießen, hatten ihre Stellen als Befehlshaber wieder
+eingenommen und drängten tapfer kämpfend die Spanier zurück. Tapfer
+stritten aber auch die Spanier. Sechs Geschütze hatten sie in den
+hessischen Schanzen genommen und in den Rheingraben versenkt, Schritt
+für Schritt wichen sie zu den flammenden Mauern und Wällen der Stadt
+über die Leichen ihrer Landsleute und ihrer Feinde. Der Graf von
+Hohenlohe in vollster Rüstung mit seinen Herren führte stets neue
+Truppen an; Haufen auf Haufen ließ Don Ramiro de Gusman hervorbrechen.
+
+Dicht an den Spaniern kämpfte Christoph von Denow, das Blut rieselte aus
+einer Stirnwunde, -- er merkte es nicht. Anneke Mey hatte sich mutig auf
+ihren Schanzkorb geschwungen und den widerstrebenden Niekirche
+nachgezogen. Sie hielt ihr Messer noch immer gezückt in der Rechten, mit
+der Linken hielt sie den schlotternden Trommelschläger am Kragen.
+
+»So schlage den Sturmmarsch, Junge!« rief sie lachend. »Willst' nicht?
+Wart, gleich fliegst du herunter, daß sie dich drunten zu Brei
+vertreten, Feigling!«
+
+»Ja! ja! ich will!« jammerte Hans. »Ach wär' ich doch daheim! Ach wär'
+ich doch zu Haus! Mein Mutter! mein Mutter!«
+
+»Na, na, schlage nur immer zu, du kommst noch davon!« sagte Anneke
+begütigend und ließ den Kragen des Armen los. »Dein' Mutter wartet schon
+a bissel! Schau, wie lustig das aussieht -- da, guck, sie geben's den
+welschen Bluthunden! Wär' ich 'n Knab, wie du -- hei, ich wollt's ihnen
+auch schon zeigen!« Und mit heller Stimme fing das Mädchen an zu
+singen:
+
+ »Mein Vater wollt' ein Knäbelein,
+ Mein Mutter wollt' ein Mägdelein,
+ Mein' Mutter tät gewinnen,
+ Des muß den Flachs ich spinnen -- Ja spinnen!
+ Das ist mir großes Leid!«
+
+Immer mutiger schlug Hans Niekirche, durch seine Gefährtin aufgemuntert,
+seine Wirbel, und unter beiden Kindern vorbei drängten ununterbrochen
+die Scharen des Reichs vor und zurück, wie der Kampf vor- und
+zurückwich; bis die Spanier in die Stadt gedrängt waren, und das Zeichen
+zum Sammeln von allen Seiten den Deutschen gegeben wurde. Don Ramiro
+hatte die Rheinschleusen, welche er in seiner Gewalt hatte, öffnen
+lassen.
+
+»Sieh das Wasser! das Wasser!« rief Hans Niekirche in neuer Angst. »Laß
+uns fort, Anneke, sie wollen uns ersäufen, wie die jungen Katzen.«
+
+Ein allgemeiner Schrei erhob sich unter dem Getümmel in den Laufgräben;
+schon standen manche Haufen bis an den Gürtel in der reißend schnell
+steigenden Flut.
+
+»Halt, halt!« rief Anneke Mey. »Er ist noch nicht zurück; aber -- geh
+nur -- geh -- ich bleib'!«
+
+»Und ich bleib' auch!« schrie Hans der Trommler.
+
+»Zurück! zurück!« tönte es aus den rückwärts weichenden Scharen des
+Reichsheeres: »Das Wasser! Der Rhein! Das Wasser!« Und immerfort
+donnerte das Geschütz der Spanier von den Wällen, immerfort schlugen die
+Kugeln verheerend in das wirre, verzweiflungsvolle Durcheinander.
+
+Es war eine böse Belagerung -- die Belagerung der Stadt Rees am Rhein:
+es war kein Glück, es war keine Ehre dabei zu holen.
+
+»Der Junker! der Junker! Christoph! Christoph von Denow!« schrie die
+junge Dirne auf ihrer Höhe, die Hände ringend, und das Wasser stieg und
+stieg. Schon waren die letzten der Haufen unter ihr vorüber, und die
+Toten, von den Fluten gehoben, wirbelten um sie her. Da griff eine Hand
+aus den Wassern nach dem Schanzkorbe, auf welchem sie stand, und ein
+bleiches Haupt erhob sich zu ihren Füßen: »Rette! Rette!«
+
+»Christoph! Christoph!« schrie das Mädchen, sie lag auf den Knien, sie
+faßte die triefenden Locken, sie faßte den Schwertriemen -- der Junker
+von Denow war gerettet. Valentin Weisser, der Riese, dessen Blutdurst
+und Mut durch den Kampf und den Rhein bedeutend gekühlt war, brachte
+mit Hilfe gutwilliger Genossen den wunden Junker, die Dirne und Hans,
+den Trommelschläger, glücklich auf das Trockene und weit hinein ins
+Feld, wo die gelichteten, zerrissenen, wunden Krieger des Reichsheeres
+um die Wachtfeuer murrend und grollend in stumpfsinniger Ermattung lagen
+und die Führer bereits wieder unheimliche und drohende Worte zu hören
+bekamen.
+
+
+
+
+ II.
+
+
+Trübe dämmerte der Morgen. Auf die wüste Nacht folgte ein ebenso wüster
+Tag. Vergeblich hatte Herr Otto Heinrich von Beylandt, Herr zu Rethen
+und Brembt, Leib und Leben und Seligkeit den Meuterern zum Pfande
+eingesetzt, daß sie nicht von des Reichs Boden weggeführt werden
+sollten; vergeblich hatte der Graf von Hohenlohe geflucht, gebeten und
+gedroht. Zwischen sieben und acht Uhr waren zehn Fähnlein des
+braunschweigischen Regiments aufgebrochen und aus dem Feld gezogen,
+Münster zu. Weiber, Kinder, Dirnen folgten jetzt dem plündernden,
+ehrvergessenen, eidbrüchigen Haufen durch den grauen Nebelregen. Keiner
+befahl, keiner gehorchte. Die einen meinten, es gehe gradaus zum Herzog
+von Braunschweig, ihrem Zahlherrn, nach Wolfenbüttel; andere glaubten,
+es gehe gegen den Bischof von Münster; die meisten aber dachten gar
+nichts, und so schwankte der tolle Zug, einem Betrunkenen gleich, hier
+vom Wege ab, dort vom Wege ab, jetzt auf ein Dorf zu, jetzt auf ein
+einsames Gehöft. Kleinere Banden schweiften zur Seite, oder vor und
+nach -- fort und fort über die Heide; hier im Kampfe mit einer
+ergrimmten Bauernschar, dort im Hader untereinander. Der Nebel ward
+Regen und hing sich in perlenden Tropfen an die letzten Blüten des
+Heidekrauts und träufelte von den Stacheln und Zweigen der Dornbüsche.
+Krähenscharen begleiteten den Zug lautkrächzend, oder flatterten in
+dichten Haufen westwärts dem Rhein zu, wo von Rees her das Feuer der
+Berennung nur noch in einzelnen Schlägen dumpf grollte. Stärker und
+stärker ward der Regen, die blutigen Spuren der vergangenen Nacht, der
+Schlamm der Laufgräben mischten sich auf den pulvergeschwärzten
+Gesichtern, den zerrissenen, verbrannten Kleidern, den verrosteten
+Waffenstücken -- die Männer fluchten und sangen, die Weiber ächzten, die
+Kinder schrien, und Anneke Mey auf ihrem Wagen, mit einem Bierfaß
+beladen, hielt tröstend das Haupt des wunden Christoph von Denow in
+ihrem Schoß und sprach ihm zu und verhüllte ihn, wie eine Mutter ihr
+Kind, mit einem groben Soldatenmantel; während Hans Niekirche
+zähneklappernd das magere Roß leitete, welches vor dem Karren ging. --
+Lange Zeit hatte der Junker wie besinnungslos gelegen, jetzt hob er den
+Kopf mühsam empor und strich die Haare aus der Stirn und warf einen
+Blick auf seine Umgebung.
+
+»O Anneke, weshalb hast mich nicht gelassen in dem Wasser -- oh! oh!«
+
+»Still, still, lieget ruhig, Herr! Die ganze Welt ist auseinander --«
+
+»Weshalb hast mich nicht gelassen im Lager -- im Heer vor Rees?«
+
+»Es ist aus, aus! Alles aus, sagen sie. Alles läuft auseinander --«
+
+»Und wohin gehen wir?«
+
+»Weiß nicht! weiß nicht!«
+
+»Bin also so weit! Ein Spießgesell von Räubern und Mördern und
+landesflüchtigem Gesindel! Krächzt nur, ihr schwarzen Galgenvögel, ihr
+habt einen feinen Geruch, wittert den Fraß, wann er noch lustig auf den
+Beinen herumstolpert und den Bauerngänsen die Hälse abhaut und die
+Rinder aus dem Stall zieht. O Christoph! Christoph! Und du könntest
+einen adeligen Schild führen!«
+
+Der junge Gesell stieß solch einen herzbrechenden Seufzer aus, daß ein
+neben dem Karren reitender Söldner aufmerksam wurde. Er drängte sein
+Pferd näher heran, zog seine Feldflasche hervor und reichte sie dem
+Wunden zu.
+
+»Hoho, Junker, was spinnst für Hanf? Da wärme dir das Herz, bis wir uns
+den Münsterschen Dompfaffen in die warmen Nester legen! Aufgeschaut,
+aufgeschaut, Christoffel! 's ist beschlossen, Ihr sollt unser Obrister
+werden!«
+
+Der Junker machte eine unwillige Handbewegung und antwortete nicht.
+
+»Auch gut,« brummte der Reiter. »Der Satan hol' alle diese Maulhänger!
+Möcht' nur wissen, was die Gesellen für einen Narren an ihm gefressen
+haben. Hat den Vorspruch gemacht gestern beim Grafen nach ihrem Willen
+und soll den Führer spielen, und kann den Kopf nicht grad halten -- Bah!
+Hätten hundert Bessere gefunden; kann mit seinem Adel weder den Mantel
+noch die Ehre flicken. Fort, Mähre, was scheust? Dacht ich's doch, da
+liegt wieder einer der trunkenen Schelme im Wege. Vorwärts, Schecke, laß
+liegen, was nicht mehr laufen mag. Was will die Trompete? Holla, was ist
+das?«
+
+Ja, was wollte die Trompete? Auf der rechten Seite des Weges der
+Meuterer waren zwar von Zeit zu Zeit vereinzelte Schüsse gefallen,
+niemand hatte sie aber beachtet, weil man sie nur den obenerwähnten
+Scharmützeln mit den Bauern und Hahnenfedern zuschrieb. Jetzt aber wurde
+das Feuer regelmäßiger, Reitertrompeten erschallten. Der Zug stutzte und
+hielt. Gestalten, schattenhaft, tummelten sich in dem dichten Nebel, und
+erschreckte Stimmen erklangen: »Die Spanier! Die Spanier!«
+
+»Zum Henker die Spanier; wie kommen die Spanier soweit über den Rhein?«
+brummte der Reiter, welcher eben dem Junker die Feldflasche geboten
+hatte. Er lockerte aber nichtsdestoweniger das Schwert in der Scheide
+und wickelte den rechten Arm aus dem Mantel los.
+
+»Der Feind! der Feind! die Speerreiter!« riefen die im Lauf
+rückkehrenden Plünderer, zu den Genossen stoßend, und einige brachten
+eine frische Wunde mit zurück. Näher und näher hörte man die Trompeten
+und den Schlachtruf »_España! España!_« und dann »Hohenlohe! Hohenlohe!«
+
+Keiner von den Meutmachern machte Miene, an dem Gefechte teilzunehmen;
+aber die Musketen waren auf die Gabeln gelegt, die Lunten aufgeschroben,
+die Spieße gesenkt, und man hatte instinktmäßig einen Kreis um die Wagen
+mit den Weibern und Kindern und den Raub geschlossen.
+
+Jetzt schienen die Spanier wieder zurückgedrängt zu werden; der Lärm des
+Kampfes verlor sich in der Ferne. Der Zug der Aufrührer wollte sich
+bereits wieder in Bewegung setzen.
+
+»Halt, halt!« rief einer der Fußknechte, »da kommen sie wieder!
+Rossestrab!« Er kniete nieder und legte das Ohr an den Boden. »Viel
+Pferde im Galopp!« Man konnte kaum zehn Schritte weit im Nebel und Regen
+deutlich sehen; es waren wieder nur unbestimmte Schatten, die man nahen
+sah.
+
+Ein »Halt« wurde ihnen zugerufen, und sie hielten, und eine einzelne
+Gestalt löste sich von dem Haufen ab. Aus dem Ring der aufrührerischen
+Söldner des Reichs traten ihr einige entgegen.
+
+»Wer seid Ihr? Woher des Weges? Was für Begehr?«
+
+Der Nahende ritt, ohne zu antworten, näher heran.
+
+»Haltet, oder wir schießen!«
+
+»Nur zu, eidbrüchig Gesindel; versucht, ob ihr einen ehrlichen
+Reitersmann trefft!«
+
+Wilde Flüche und der Ruf »Feuer, Feuer!« ertönten, und manche Büchse
+wurde in Anschlag gebracht; aber dazwischen riefen auch Stimmen: »Halt,
+halt, das sind keine Spanier, keine Speerreiter!«
+
+»Nein, das sind keine Spanier,« rief der Reisige zurück. »Das sind auch
+keine Meuterer, Mörder oder Diebshalunken; -- ehrliche Hohenlohesche
+Reiter sind's, die euch Lumpengesindel wahren sollen, daß ihr nicht dem
+Galgen entlauft! Glaubt's, der Graf hätte meinetwegen andere dazu
+schicken mögen, als uns -- nehmt das Ab -- Henkermahl drauf!«
+
+»Der Graf von Hollach hat Euch geschickt?« fragte es verwundert aus dem
+Haufen, und mancher der wilden Kerle drängte sich vor, näher an den
+Reitersmann.
+
+»Zurück!« rief dieser, »wir gehen mit euch, wie befohlen, jagen die
+Speerreiter, die euch die Gurgel abschneiden könnten, -- man sparte nur
+die Stricke -- und schützen das arme Landvolk vor euch Hunden. Damit
+holla! -- na, wohin geht der Marsch?«
+
+»Packt Euch zum Teufel, wir brauchen Euch nicht!« schrie Jobst Bengel
+aus Heiligenstadt. »Wer hat Euch gerufen? Sagt dem Grafen, dem
+Holländer, unsern schönsten Dank und wir könnten unsern Weg allein
+finden.«
+
+»Geht nicht! Alles auf Befehl! Kümmert euch so wenig als möglich um uns;
+ihr handelt nach Belieben, wir nach Befehl!«
+
+»Aber unser Belieben ist, daß ihr euch hinschert, woher ihr gekommen
+seid!« brüllte Hans Römer aus Erfurt. »Geht, oder es setzt mein' Seel
+blutige Köpfe!«
+
+»Unser Befehl ist, daß wir gehen, wohin euch der Satan treibt. Am
+Höllentor kehren wir um, das ist der Befehl. Genug der Worte.«
+
+Damit wandte der Hohenlohesche Rittmeister sein Roß und sprengte zurück
+zu seinen Reitern, welche unbeweglich auf einer kleinen Erderhöhung
+hielten und im Gegensatz zu dem tobsüchtigen, wüsten Gebaren der
+Meuterer nur leise Worte des Zorns und der Verachtung hatten.
+
+Auf seinem Schmerzenslager hatte Christoph von Denow halbblinden Auges
+und klingenden Ohres den Vorgang angesehen und angehört. Jetzt mußte er
+auch ohnmächtiger Zeuge der wilden Reden um ihn her sein.
+
+»Das ist solch ein falsch Spiel von dem Grafen -- das ist eine Falle.
+Sollen uns schützen vor den Speerreitern! -- Lauter Sorg und Lieb, bis
+sie uns den Hals zuschnüren! -- Nichts von dem Grafen von Hollach! Fort
+mit den Reitern des Holländers! Feuer auf sie! In die Spieße! in die
+Spieße mit ihnen!«
+
+»Die Rasenden! die Niederträchtigen!« stöhnte Christoph von Denow, die
+Hände ringend. »Und hier liegen zu müssen gleich einem abgestochenen
+Schaflamme! Halt, halt, was wollen sie tun?!«
+
+Seine schwache Stimme ging verloren in dem Lärm »fort mit Holländern,
+fort mit dem Grafen von Hollach!«
+
+Mit einem Schlage setzte die ganze Masse der Meuterer im Sturmlauf an
+gegen das kleine Häuflein der Reiter.
+
+»Hab's mir wohl gedacht,« brummte der Rittmeister in den grauen Bart.
+»Achtung, Gesellen! Stand gehalten -- das ist der Befehl. Herunter mit
+den Schuften, wenn sie euch nahe kommen.«
+
+Sie griffen wirklich an. Im nächsten Augenblick war die Reiterschar
+umringt, durchbrochen. Die meisten sanken nach tapfrer Gegenwehr vom
+Pferd; nur wenige schlugen sich durch und flohen über die Heide.
+Zuletzt kämpfte noch ein einzelner. Das war der tapfere alte Führer, der
+sich wie ein Verzweifelter wehrte. Endlich erstach ihm Balthasar
+Eschholz aus Berlin das Roß, und eine Kugel durchfuhr seine treue Brust.
+
+Einige Minuten standen die Mörder wie erstarrt. Schlug ihnen diesmal das
+Herz? Sie wagten es nicht, die Gefallenen zu berauben, ein plötzlicher
+Schrecken kam über sie, wie von Gott dem Richter gesandt, und Mann und
+Roß und Wagen stürzten von dannen, hinein in den Nebel, der sie
+verschlang, als seien sie nicht wert, von Himmel und Erde gesehen zu
+werden.
+
+»Das ist ein schlechter -- schlechter Tod!« seufzte der zu Boden
+liegende Reiterhauptmann. »Ein schlechter Tod! -- In deine Hände -- aber
+alles der Befehl -- nun kann der Rat von Nürnberg mein Weib und meine
+Jungen auffüttern -- ein schlechter Tod -- Amen! Alles -- der --
+Befehl!«
+
+Er griff noch einmal mit beiden Händen krampfhaft in das Heidekraut --
+es war vorüber.
+
+Ein Wäglein und drei Menschenkinder waren zurückgeblieben beim
+Fortstürzen der Mörderschar. Das waren Anneke Mey aus Stadtoldendorf,
+welche das Haupt des Erschlagenen stützte, das war Christoph von Denow,
+der auf seinem Lager das Vaterunser weiter betete, welches der
+Rittmeister nicht hatte zu Ende bringen können. Das war Hans Niekirche,
+der Trommelschläger, welcher schluchzend das Rößlein vor dem Wagen
+hielt!........
+
+
+
+
+ III.
+
+
+Nicht Leben, nicht Tod; nicht Vergessenheit, nicht Sinnesklarheit; nicht
+Schlaf, nicht Wachen; -- alles ein wildes, wirres Chaos in dem
+fieberkranken Kopfe Christoph von Denows! Jetzt legte es sich ihm, einem
+feurigen Schleier gleich, vor die Augen, tausend Sturmglocken und der
+Verzweiflungsschrei einer eroberten Stadt füllten ihm Ohr und Hirn; --
+jetzt versank er wieder in ein endloses graues Nichts, in welchem ihn
+allerlei unerkennbare Schatten umschwebten; -- jetzt vermochte er es
+wieder, sich und seine Umgebung zu unterscheiden, ohne sich klar darüber
+werden zu können, wer ihn von dannen führe und wohin man ihn führe.
+Manchmal war der Himmel über ihm grau und ihn fror, dann wieder schaute
+er empor in das reine Blau, und die Sonne schien herab auf ihn. Manchmal
+glaubte er sich in einem auf dem Wasser fahrenden Schifflein zu
+befinden, manchmal sah er wieder grüne Zweige über sich und hörte die
+Vögel singen. Er gab es auf, zu denken, sich zu erinnern: willenlos
+überließ er sich seinem Geschick. Es zog und zuckte durch seinen
+Geist! -- Da ist der weite, kühle Saal in der väterlichen Burg, dem
+einstmals am weitesten in das Polen- und Tartarenland vorgeschobenen
+Posten des deutschen Wesens. Durch die bunten Scheiben der spitzen
+Fenster fällt das Licht der Sonne und wirft die farbigen, flimmernden
+Schattenbilder der gemalten Wappen und Heiligen auf den Estrich. Da
+steht der Sessel des Ritters von Denow neben dem großen Kamine, und der
+Sessel und der Gebetschemel der Mutter in der Fenstervertiefung, da
+glitzern im Winkel auf dem künstlich geschnitzten Schenktisch die
+riesigen, wie Silber glänzenden Zinnkrüge und Geschirre. Da blickt ernst
+von der Wand der Ahnherr mit dem Ringpanzer auf der Brust, und manch
+wunderlich Gewaffen aus den Polen- und Preußenschlachten hängt an dem
+Mittelpfeiler, welcher den Saal stützt....
+
+Feuer! Feuer! Das ist nicht der Widerschein der Abendsonne an den
+Wänden. Feuer! Feuer! und das Wimmern der Burgglocken und der Schall der
+Sturmhörner! -- Wo blieb das süße, mildlächelnde Bild der Mutter, das
+eben noch durch den stillen dämmerigen Saal glitt? Feuer und Sturm! Die
+Polen! die Polen! Allverloren! Allgewonnen! Allgewonnen!
+
+Da taucht ein ehrliches bärtiges Gesicht auf -- das ist der Knecht
+Erdwin Wüstemann, welcher den kleinen Christoph aus der brennenden
+väterlichen Burg auf den Schultern trug und rettete.... Nun rauscht der
+Wald, nun murmelt der Bach -- das ist die verlorene Forsthütte, wo der
+treue Knecht und das Kind hausten so lange Jahre hindurch. Die Hunde
+zerren bellend an der Kette, der Falk schaukelt sich auf seiner Stange.
+Wilde Gesellen und Weiber -- fahrende Soldaten, Sänger und Studenten und
+demütige Juden verlangen Obdach vor dem nahen Gewitter oder dem
+Schneesturm. Sie lagern auf nackter Erde um das Feuer, an welchem die
+Hirschkeule bratet. Der Weinkrug geht im Kreise umher; Lieder
+erschallen! Lieder vom freien Landsknechtsleben, lutherische Lieder,
+Spottlieder gegen den Papst und den Türken und lateinische Lieder
+vom wandernden Scholarentum. Jetzt gerät der rote Heinz mit dem
+landflüchtigen Leibeigenen oder dem Zigeuner in Streit; die Messer
+blitzen, der Knecht Erdwin wirft sich zwischen die Kämpfenden -- es
+rauscht der Wald, es murmelt der Bach, es klingt die Harfe des blinden
+Sängers -- ah Wasser, Wasser und Waldfrische in dieser Glut, welche das
+Gehirn verdorrt und die Knochen versengt!
+
+Einen Augenblick lang öffnete der Kranke die Augen, er hörte Stimmen um
+sich her; jemand hielt ihm einen Krug voll frischen Wassers an die
+heißen Lippen. Er hatte nicht fragen können, wo er sei, wer ihm helfe in
+seiner Not? -- von neuem ergriff ihn der Fiebertraum.
+
+Aus dem Kinde ist im lustigen Wildschützenleben ein wackerer Bub
+geworden. Hinaus aus dem grünen Wald zieht der Knecht Erdwin mit dem
+Schützling. Die Zeiten sind danach -- wer kühn die Würfel wirft, kann
+wohl den Venuswurf werfen. Mancher gelangte in der Fremde zu hohen Ehren
+und Würden, der im Vaterlande kaum den heilen Rock trug. Gern kaufen
+Franzosen, Spanier, Holländer mit rotem Golde rotes deutsches Blut.
+Ho, so hattest du dir die Welt draußen vor dem Wald wohl nicht gedacht,
+Christoph von Denow? Hei, das waren andere Gestalten und Bilder:
+Städte, Klöster und Burgen; Fürsten mit Rittern und Rossen, schöne
+Damen, Äbte und Bischöfe mit reichem Gefolge, Bürgeraufzüge, bunte
+Landsknechtsrotten auf dem Wege nach Italien, nach Frankreich -- für den
+Kaiser und wider den Kaiser!
+
+Aus dem Reitersbuben ist ein Reitersmann geworden, welcher nichts sein
+nennt, als sein gutes Schwert, und welchem von den Vätern her nichts
+geblieben ist, als der eiserne Siegelring mit dem Wappen derer von
+Denow, welchen er am Finger trägt.
+
+Immer weiter hinein in das bunte Leben, in den bunten Traum -- tagelang,
+wochenlang im Wundfieber kämpfend zwischen Sein und Vernichtung, bis
+endlich eine Glocke dumpf und feierlich erklingt, eine Glocke, die nicht
+mehr allein in dem Gehirn des Kranken läutet!
+
+»Wo bin ich?... Die Glocke, was will die Glocke?« murmelte Christoph
+von Denow, die Augen aufschlagend.
+
+Anneke Mey stieß einen Freudenschrei aus und hob das Haupt des Junkers
+ein wenig aus ihrem Schoße: »Er lebt, o guter Gott, er wird leben!«
+
+»Die Glocke! die Glocke?«
+
+»Still, lieget still, Herr! das ist Sankt Lambert zu Münster, und da --
+horcht! das ist der Dom! Morgen ist der heilige Matthiastag -- still,
+still, lieget ruhig.«
+
+Es wurde dunkel über dem Junker; das Wäglein fuhr in diesem Augenblick
+durch die Torwölbung. Der Junker schloß die Augen wieder, er glaubte
+einen Wortwechsel zu hören, er glaubte zu bemerken, daß der Wagen hielt,
+Annekes Stimme erklang ängstlich und bittend dazwischen. Er glaubte ein
+bärtiges Gesicht über sich zu sehen und einen Ausruf des Schreckens zu
+hören. Der Wagen bewegte sich wieder -- er fuhr aus dem dunklen Tor in
+das Licht der Straße hinein. -- --
+
+Das war das Gesicht des alten Knechts Erdwin, welches der Junker von
+Denow über sich sah, bis im folgenden Moment alles verschwand und es
+wieder Nacht war im Geiste Christophs. -- Allmählich aber wurde diese
+Nacht jetzt Dämmerung; die Gedanken ordneten sich mehr und mehr.
+Christoph von Denow erwachte wieder zum Leben.
+
+Er fühlte den wohltuenden Strahl der milden Herbstsonne, er vernahm die
+Worte der Freunde um sich her. Jetzt erzählte Erdwin, der Knecht, jetzt
+sprach Anneke Mey, jetzt lachte Hans der Trommelschläger. Die Landschaft
+glitt an ihm vorüber, Städte, Dörfer, Flecken, er sah blaue Höhenzüge im
+Osten auftauchen und vernahm, wie ein Wanderer dem Knechte Erdwin sagte,
+das sei der altberühmte große Teutoburger Wald. Er schlummerte abermals
+ein, und als er abermals erwachte, fand er sich mitten in den Bergen,
+und ein Wasser rauschte seitwärts in das Dickicht. »Das Wässerlein kenn'
+ich,« rief Anneke, »das ist die Else, die fließt in die Werre, und die
+Werre fließt in die Weser, nun sind wir der Heimat nahe.«
+
+»Und wie ziehen wir nun, Anneke?« fragte der getreue Knecht Erdwin,
+welcher munter neben dem Wagen, den Spieß auf der Schulter, herschritt.
+
+»Wo die Sonne aufgeht, fahren wir zu; aus dem Teutoburger Wald in den
+Lippeschen Wald, zuletzt wird doch mal ein Berg kommen, von dem wir die
+Weser glitzern sehen können. Dann sind wir zu Hause!«
+
+»Anneke, Anneke!« murmelte Christoph.
+
+»O, wachet Ihr wieder, Junkerlein? geduldet Euch und lieget still, wir
+sind alle noch da, und der Meister Erdwin ist auch da und hat mir alles
+von Euch erzählt und ich ihm auch alles von Euch.«
+
+»O Junker, Junker, seid Ihr wach?« rief der Knecht Erdwin und schauete
+über den Rand des Wagens. »Das Mütterlein im Himmel muß über uns wachen,
+daß ich Euch grad am Tor zu Münster treffen mußt'. Von der Reichsschanze
+bis nach Münster bin ich kreuz und quer Euern Spuren nachgezogen. Habt
+mich schön in Angst und Not gebracht! Haltet das Maul, Junkerlein. Dem
+Herzmädel da dankt Ihr Euer jung Leben. Lasset Euch tränken und atzen
+und schlaft wieder ein, wir halten Euch oben, Hans und Anneke und ich!«
+
+Christoph drückte schwach die Hand des wackern Alten, er wollte nach dem
+Heere fragen, nach den Meuterern, aber er vergaß es. Sein wunder Kopf
+ruhte noch immer an der Brust der jungen Dirne. Aus schwimmenden Augen
+blickte er auf zu dem braunen, wildfreundlichen Gesicht über ihm.
+
+»Ach, Anneke Mey, Anneke Mey, wohin willst du mich führen?«
+
+»In meiner Heime ist es gar schön,« sagte das Mädchen. »Da sind die
+Berge und die Wiesen so grün, da schaut die alte Burg, sie heißen sie
+die Homburg herab auf das Städtel. Da sind die hohen weißen Felsen ganz
+weiß, weiß -- da wohnen die klugen Zwerge in tiefen runden Löchern. Das
+ist wahr, ganz gewiß wahr! Es ist auch schaurig da, manchmal rührt sich
+der Boden, und der Wald sinkt ein in die Erde, tief, tief, -- und ein
+Wässerlein springt dann unten in dem Grund auf; das Wasser trinken die
+Leut nicht gern. Aber mitten in den Bergen, da ist ein kühler Bronn, der
+Wellborn geheißen, aus dem kommt das Wasser durch Röhren in die Stadt,
+und die Brunnen rauschen und plätschern immer zu. Und vor dem Burgtor
+ist ein klein Haus dicht an der Stadtmauer, da sitzt meine alte Muhme,
+die Alheit -- mein Vater und Mutter sind lang tot im Lager von Lafere,
+wo wir mit dem französischen König Heinrich waren -- und ihre Katz sitzt
+neben ihr, und wenn sie, ich mein' die Muhme -- an mich gedenkt, so
+brummt und keift und bet't sie ein Vaterunser, grade weil sie mich gern
+hat. Schläfst noch nicht, Junkerlein? Mach die Augen zu und kümmre dich
+nicht um die Welt.«
+
+Mit leiser Stimme fing das Mädchen an zu singen:
+
+ »Musikanten zum Spielen,
+ Schöne Mädchen zum Lieben:
+ So lasset uns fahren,
+ Mit Roß und mit Wagen,
+ In unser Quartier!
+ In unser Quartier!«
+
+»Ach, der Wagen stößt zu hart; wisset Ihr was, Meister Erdwin? singet
+Ihr weiter.«
+
+»Wollen's versuchen!« sagte der Knecht Wüstemann und begann im Ton der
+Schlacht von Pavia das Lied von der Schlacht vor Bremen, in welche er
+als junger Bursch mit den Reitern des Grafen von Oldenburg gezogen war,
+und frisch schallte sein Baß in den Wald hinein.
+
+ »-- Unser Feldherr das vernahm,
+ Graf Albrecht von Mansfelde,
+ Sprach zu seinem Kriegsvolk lobesam:
+ Ihr lieben Auserwählten,
+ Nun seid ganz frisch und wohlgemut,
+ Ritterlich wolln wir fechten;
+ Gewinnen wolln wir Ehr und Gut,
+ Gott wird helfen dem Rechten.«
+
+Als der Endvers kam, war Christoph wirklich eingesungen zu sanftem
+Schlummer, und Hans Niekirche behielt den braunschweigschen Gassenhauer,
+den er eben zum besten geben wollte, auf das Ersuchen des alten Erdwins
+für sich. Mit einbrechender Nacht wurde bei einem Köhler mitten im Forst
+das Nachtquartier aufgeschlagen.
+
+»Was ist denn da draußen vorgegangen in der Welt?« fragte der schwarze
+Waldmann. »Ihr seid die Ersten nicht, die hier durchkommen sind und hier
+angehalten haben. Das ist ja auf einmal, als ob alles Kriegsvolk im
+deutschen Land sich hier auf den Wald niedergeschlagen hätt', wie ein
+Immenschwarm auf den Schlehenbusch. Ist es wahr, daß das Reichsheer
+auseinandergelaufen ist?«
+
+»Es ist wahr,« sagte der Knecht Erdwin düster. »Es ist aus, -- alles
+vorbei!«
+
+»Vorgestern zog hier ein Trupp durch, fast zehn Fähnlein stark, aber
+anzusehen wie ein wüst Raubgesindel, Fußvolk und Reiter durcheinander.
+Wollten gen die Weser und ließen sich vernehmen, sie wollten ihrem
+Zahlherrn, dem Braunschweiger Herzog --«
+
+»Die Braunschweiger?!« riefen Erdwin und Anneke und Hans Niekirche. »Die
+Braunschweiger?!« murmelte Christoph von Denow und richtete sich halb
+auf seinem Lager auf.
+
+»Gehöret Ihr zu ihnen?« fragte der Köhler mißtrauisch. »Nehmt Euch in
+acht; ich hab' einen gesprochen, der sagte, der Braunschweiger habe
+seine Leibguardia und Reiter die Menge abgesandt, ihnen den Weg zu
+verlegen. Sein Feldhauptmann, der Graf von Hohenlohe, ist auch, von
+Mitternacht her, gegen sie aufgebrochen. Das kann ein übel Ende nehmen!«
+
+»Gegen die Weser sind sie gezogen?«
+
+»Wie ich Euch sagte, Maidlein.«
+
+»Herr Gott, so müssen wir ab vom Weg!«
+
+»Ihr gehört also nicht zu ihnen?«
+
+»Nein! nein! nein!« riefen Christoph und Erdwin und Anneke.
+
+»Und Ihr wollt auch über die Weser?«
+
+»In meine Heimat!« rief Anneke.
+
+»Mit dem wunden Mann? Geht nicht, wahrlich geht nicht! Weg und Steg sind
+verlegt.«
+
+Alle schwiegen erschrocken und verstört einige Minuten.
+
+»Saget doch,« fuhr der Köhler dann fort, »weshalb wollt Ihr nicht bei
+mir bleiben im Walde, bis der Kopf des Burschen dort wieder heil und
+ganz ist? Hunger und Durst sollt Ihr nicht leiden. Ihr erzählet mir
+alles, was da draußen in der Welt vorgegangen ist, dafür geb' ich Euch
+Futter und Obdach. Gefällt's Euch?«
+
+»Ihr wolltet --?«
+
+»Gewiß will ich; ich will Euch sogar noch großen Dank schuldig sein
+dafür!«
+
+»Angenommen, Landsmann!« rief der Knecht Wüstemann freudig. »Junker, nun
+streckt Euch lang auf Euerm Lager, und wehe dem ersten Rehbock, der mir
+vor die Armbrust gerät, welche ich dort an der Wand sehe.«
+
+So kamen am Tage Cornelii des Hauptmanns die vier Flüchtlinge des
+Reichsheeres zum ersten Mal zu Ruhe.
+
+
+
+
+ IV.
+
+
+Dominus Basilius Sadler, der heiligen Schrift Doktor und fürstlicher
+Hofprediger zu Wolfenbüttel, hatte seine Predigt beendet und das
+Vaterunser gebetet. Unter den letzten Klängen der Orgel strömte die
+Menge aus der Marienkapelle in den dunkeln nebligen Herbsttag hinaus.
+Man schrieb den vierten November 1599.
+
+Was hatte das andächtige Volk? Statt ruhig und gemessen wie
+gewöhnlich am heiligen Sonntag ihren Wohnungen und dem Sonntagsbraten
+zuzuschreiten, blieben die Männer in Gruppen auf dem Kirchplatz stehen
+und steckten die Köpfe zusammen; selbst die Weiber waren von derselben
+Aufregung ergriffen. Kaum war nämlich der letzte Orgelton verhallt, so
+durchzitterte von der Dammfestung her ein anhaltender Trommelwirbel die
+stille Luft und schwieg dann einige Augenblicke. Darauf näherten sich
+die kriegerischen Klänge im Marschtakt, und manche der Bürger eilten
+ihnen, ihre Knaben an der Hand, entgegen; der größte Teil der Menge
+blieb jedoch zurück und erwartete die Dinge, welche da kommen sollten.
+»Nun geht es an! Das ist der Beginn!« hieß es unter dem Volk.
+
+»Das ist der Gerichtswebel, Martin Braun von Kolberg,« sagte ein
+Goldschmied, der von allem genau Bescheid wußte. »Der verkündet nun das
+kaiserliche Malefizrecht an allen vier Orten der Welt.«
+
+»Sie kommen! sie kommen!« hieß es unter der Menge, und eine Gasse
+bildete sich jetzt, um die Nahenden durchzulassen. Von der Dammbrücke
+her durchzog mit seinen drei Trommlern der Gerichtswebel, begleitet von
+einigen Hellebardierern, feierlich und langsam die Heinrichsstadt gegen
+das Kaisertor hin.
+
+Wir lassen ihn ziehen und lassen das Volk seine Betrachtungen anstellen
+und schreiten quer über den Platz vor der Marienkapelle, durch die
+Löwenstraße, über die Dammbrücke an dem Schloß vorüber nach dem
+Mühlentorturm, dessen Eingänge von einer stärkern Wache als gewöhnlich
+umgeben sind. Wir führen den Leser in das obere Stockwerk des Gebäudes.
+Ein weites Gewölbe tut sich uns hier auf, so dunkel, daß das Auge sich
+erst an die Finsternis gewöhnen muß, ehe es irgend etwas in dem Raum
+erkennen kann. Ist das geschehen, so bemerken wir, daß das trübe,
+herbstliche Tageslicht, durch viele, aber enge und stark vergitterte
+Fenster fällt. Die Wände entlang ist Stroh aufgeschichtet, auf welchem
+dunkle Gestalten in den mannigfaltigsten Stellungen und Lagen sich
+dehnen. Von dunkeln Gestalten sind auch einige hie und da aufgestellte
+Tische umgeben. Ein Kohlenfeuer glimmt in dem Kamin unter dem gewaltigen
+Rauchfang. Allmählich erkennen wir mehr in dem dunsterfüllten Raume:
+bleiche, wilde Gesichter, umgeben von wirren zerzausten Haaren,
+schlechtverbundene, mit blutigen Binden umwickelte Glieder. Ein leiseres
+oder lauteres Klirren und Rasseln von Ketten erschreckt uns; -- wir sind
+unter den -- Meuterern von Rees! Gekommen ist's, wie es kommen mußte;
+morgen wird der Obriste des niedersächsischen Kreises, Herr Heinrich
+Julius von Braunschweig, das Gericht über sie angehen lassen. Dumpf tönt
+der ferne Trommelschlag des um die Wälle der Festung ziehenden
+Gerichtswebels Martin Braun in ihr Gefängnis herüber. Lauschen wir ein
+wenig den Worten der gefangenen wilden Gesellen!
+
+»Ta, ta, ta! Was das für ein Wesen ist? Sollte man nicht meinen, der
+Teufel sei den Kerlen in den Lärmkasten gefahren? Es gehet alles zum
+Schlechteren, selbsten das Trommelschlagen,« sagte eine baumlange
+Gestalt, sich über die Genossen erhebend.
+
+»Sollt' meinen, Valtin, wir hätten uns um anderes zu kümmern als den
+Trommelschlag,« sagte unwirsch ein zweiter Söldner.
+
+Valentin Weisser ließ sich jedoch nicht von seinem Thema abbringen.
+»Horchet nur, ist das die alte freudige deutsche Art? Aber jetzt will
+jeder ein Neues einbringen! Auch die Hispanier machen's so; da lob' ich
+mir die Italiener, die haben aufgehoben, was wir nicht mehr mochten, und
+ziehen mit den fünf gleichen Schlägen bis ans Ende der Welt. Topp, topp,
+topp, topp, topp! das erwecket das Herz zu Freud und Tapferkeit und
+hilfet zu Leibeskräften. Topp, topp, topp, topp, topp! Hüt dich Bau'r,
+ich komm'! -- das ist's! oder --«
+
+»Hauptmann, gib uns Geld!« fiel lachend ein Dritter ein.
+
+»Füg dich zu der Kann!« brummte Hans Römer von Erfurt, der Schmerbauch.
+
+»Mach dich bald davon!« sang eine schrille Stimme dazwischen.
+
+»Hüt dich vor dem Mann!« brummte Jobst Bengel von Heiligenstadt.
+»Möchte nur wissen, wie lang wir noch in diesem Loch stecken sollen?
+Alle blutigen Teufel, ich wollt', der Blitz schlüg' gleich mitten
+unter uns, und nähme uns mit herauf oder herunter, ins Paradies oder
+die Hölle! 's sollt' mir gleich sein -- 's wär' wenigstens eine
+Veränderung!«
+
+»Das greuliche Fluchen ist auch nicht an der Zeit!« sagte eine ernste
+und finstere Stimme.
+
+»Hilft auch zu nichts, Meister Wüstemann,« grinste der Vorige wieder.
+»Dem Galgen entläuft man nit so leichtlich -- mit Verlaub, Junker, das
+war nicht auf Euch gesagt.« Wir folgen dem höhnischen Blick des
+Sprechenden. Neben dem Kamin, an die feuchtschwarze Wand gelehnt, steht
+Christoph von Denow, gebrochen an Leib und Seele. Er schaute starr,
+gradaus vor sich hin, bei den Worten Jobsts aber fuhr er auf, sank
+jedoch in demselben Augenblick mit einer abwehrenden Bewegung der Hand
+in seine vorige Stellung zurück. Die Entgegnung übernahm Erdwin
+Wüstemann, der drohend seine gefesselten Fäuste nach dem schon
+zurückweichenden Jobst ausstreckte: »Den Schädel zerschmettere ich dir
+an der Wand, wenn du den Rachen nicht hältst, du Sohn einer Hündin --
+sage noch ein Wort --«
+
+»Auf ihn! so ist's recht!« schrien einige der Gefangenen. »Halt, halt!
+trennt sie!« riefen andere.
+
+»Seid ruhig, Erdwin,« sagte der Junker, »laß ihn, Alter, -- er hat
+recht, der Strick des Hangmanns droht uns allen.«
+
+»Euch nicht! Euch nicht!« rief der alte Wüstemann, die ihm
+entgegengestreckte Hand seines Schützlings fassend. »O Ihr -- Ihr in
+diesen Banden -- das Herz bricht mir darüber -- o die Schurken, die
+Schurken!«
+
+Ein Murren, welches bald in lautere Drohungen überging, folgte den
+Verwünschungen des Alten, der alle ihn Umgebenden mit allen Flüchen
+überhäufte, welche ihm auf die Zunge gerieten.
+
+Wer weiß, was geschehen wäre, wenn man nicht plötzlich draußen vor der
+eisenbeschlagenen Tür des Gefängnisses Schritte und eine befehlende
+Stimme vernommen hätte. Hellebardenschäfte und Musketenkolben rasselten
+nieder auf den Steinboden. Eine allgemeine Stille trat ein unter den
+Gefangenen, die Schlösser der Tür kreischten und knarrten. Sie öffnete
+sich, ein Gefreiter mit der Partisane auf der Schulter schritt herein
+mit zwei Büchsenschützen, deren Lunten glimmten. Ihnen folgte ein
+kleines schwarzes Männlein, welchem zur Seite, von Kopf bis zu Fuß
+geharnischt, der Leutnant der Festung, Hans Sivers, sich hielt. Durch
+die geöffnete Tür sah man den Gang angefüllt mit Bewaffneten von der
+Besatzung.
+
+»Tut Eure Pflicht, Herr Notarius!« sagte der Leutnant, und das kleine
+schwarze Männlein -- Herr Friedericus Ortlepius, _notarius publicus_ und
+des peinlichen Gerichts zu Wolfenbüttel bestallter und beeidigter
+Gerichtsschreiber, räusperte sich, nahm das Barett vom Haupt und
+entfaltete ein Papier, welches er in der Rechten trug. Ein Söldner, der
+eine Lampe hielt, näherte sich. Der Leutnant hob den Arm gegen die
+Gefangenen, abermals räusperte sich Herr Ortlepius und las dann seine
+Schrift ab wie folgt:
+
+»Daß der Hochwürdige, Durchlauchtige, Hochgeborne Fürst und Herr,
+Herr Heinrich Julius, postulierter Bischof des Stifts Halberstadt,
+Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, unser allerseits gnädiger Fürst
+und Herr, unlängst nach Besage und Inhalt des Koblenzschen Abschieds,
+als verordneter Kriegsobrister dieses niedersächsischen Kreises,
+zur Beschützung des lieben Vaterlandes wider das tyrannische Einfallen
+des hispanischen Kriegsvolkes, unter andern ein Regiment deutscher
+Knechte von dreizehn Fähnlein hat werben lassen, solches ist _notorium_
+und männiglich bekannt. Sind dieselben auch nachher von Seiner
+Fürstlichen Gnaden selbst gemustert, bewehrt, und haben sie in
+derselben persönlichen Gegenwart in dem Ring, altem löblichem
+Kriegsgebrauch nach, auf den Artikulbrief geschworen.
+
+Ob nun wohl I. F. G. sich gänzlich versehen und verhofft, nachdem
+I. F. G. es so treulich gemeinet, auch dem gemeinen Vaterland zum Besten es
+sich so sauer haben werden lassen, -- es würde gemeldetes Regiment sich
+vermöge geschworenen Eides, Treu und Pflicht, wie Solches ehrlichen,
+redlichen Kriegsleuten eignet und gebühret, verhalten haben, so hat sich
+aber befunden, daß zehn Fähnlein von solchem Regiment, ohne einige
+rechtmäßige gegebene Ursach, wider ihre geschworene Treu und Pflicht,
+I. F. G. zu sonderlichen Schimpf, der ganzen deutschen Nation zum
+sonderlichen Spott und Hohn, dieser Kriegsexpedition zum Nachteil, dem
+Feind aber zum Frohlocken mit fliegenden Fähnlein aus dem Felde gezogen
+sind. Haben ihre verordnete Obrigkeit nicht bei sich leiden wollen, auch
+in solcher Meuterei so lange kontinuiret, bis daß I. F. G., zur
+Erhaltung Deroselben Autorität, ein' Ernst zu diesen Sachen haben tun
+müssen, und sie durch ihren damaligen Statthalter und Generallieutenant
+den Wohlgebornen und Edeln Grafen Philipp zu Hohenlohe, auf der Heide
+zwischen der Ucht und Barenburg, hinter dem Moor, genannt das hessische
+Darlaten, haben trennen und zum Gehorsam bringen lassen. Und obwohl
+I. F. G. damals nach Kriegsgebrauch und scharfen Rechten sie zu
+massakrieren und sämtlich zu Schelmen zu machen, und über sie als
+Schelmen die Fähnlein abreißen und schleifen zu lassen, befugt gewesen
+sein, so haben doch I. F. G. zu Deroselbst eigenen Glimpf den
+gelindesten Weg für die Hand nehmen wollen und haben sich resolviret,
+euch die bestrickten Knechte, welche eines Teils bei I. F. G. als die
+Prinzipalisten Meutemacher angegeben sind, andernteils von ihren eigenen
+Spießgesellen dafür geliefert worden sind, -- vor ein öffentlich
+Malefizrecht stellen zu lassen.
+
+So fordere ich also auf unsers allerseits gnädigen Fürsten und Herrn
+gnädigen Befehl euch: Christoph von Denow, Detlof Schrader von
+Rendsburg, Erich Südfeld von Hannover usw. usw. -- so fordere ich euch
+auf morgen früh um sieben Uhr, das ist den fünften November dieses
+Jahres Eintausendfünfhundertneunundneunzig vor kaiserliches Recht in
+den Ring, wo ihr gerichtet werden sollt, wie es am Jüngsten Tage vor
+Gott dem Allmächtigen, wenn Gottes Sohn kommen wird zu richten die
+Lebendigen und Toten, zu verantworten ist!« -- --
+
+Fünfundachtzig Namen rief der Notarius Friedrich Ortlepp auf, und jeder
+der Gefangenen antwortete durch ein: »Ist hier gegenwärtig.« Als die
+Liste zu Ende gebracht war, hob der kleine schwarze Mann noch einmal,
+lächelnd, die bebrillte Nase und ließ seine Äuglein wohlwollend über die
+Gefangenen hingleiten; dann nickte er dem Geharnischten zu, dieser
+winkte dem Gefreiten, welcher seine Partisane anzog, sein Kommandowort
+rief. Die Musketierer schulterten ihre Büchsen, und die Beamten
+schritten heraus aus dem Gewölbe, dessen Tür sogleich hinter ihnen
+wieder zufiel.
+
+Noch einen Augenblick tiefster Stille, dann ein dumpfes Gemurmel, dann
+wildester Losbruch aller mächtig zusammengepreßten Gefühle und
+Leidenschaften der gefesselten Meuterer! Ein wildes Durcheinander, --
+Ausrufe des Zorns, des Hohns, der Besorgnis, der Angst, --
+Kettengerassel!
+
+»O Junker, Junker!« rief verzweiflungsvoll der Knecht Erdwin, das Haupt
+seines jungen Herrn an seine breite Brust ziehend. »O Junker, Junker,
+wenn das Euer Vater erlebt hätte!«
+
+»Ja, meine Mutter, meine Mutter! 's ist gut, daß sie tot ist!« seufzte
+Christoph von Denow, die Hand über die Augen legend. -- -- -- -- -- --
+
+In den überfüllten Schenken der Stadt erschallte der tobende Gesang der
+zum Kriegsgericht eingeforderten Söldner und Hauptleute; viel Zank und
+Streit blieb nicht aus in den Gassen. Die Bürger zeigten sich nicht
+allzuhäufig außerhalb ihrer Haustüren, und wenn es ja einen Nachbar oder
+Gevatter allzusehr drängte, die Ereignisse des Tages mit einem Gevatter
+oder Nachbar zu besprechen und abzuhandeln, so schlich er so vorsichtig
+als möglich im Schatten der Hauswände dahin. Der Nebel ward dichter und
+dichter, je mehr die Dämmerung Besitz ergriff von Stadt und Land. Der
+Herzog auf dem Schloß ließ mehr Holz in den Kamin seines Gemaches
+werfen, und der Geringste seiner Untertanen ahmte ihm darin so gut als
+möglich nach. Immer unfreundlicher ward die Nacht.
+
+Auf dem Prellsteine unter dem Torgewölbe des Mühlenturmes kauerte eine
+weibliche, verhüllte Gestalt. Einen grauen Mantel von schwerem,
+grobem Tuch hatte sie dicht um sich geschlagen, das spitze Hütlein,
+durch welches ein klein rundes Loch ging, gleich der Spur einer
+Büchsenkugel -- tief in die Stirn gedrückt; ein Bündel lag neben ihr.
+Das war Anneke Mey aus Stadtoldendorf!
+
+Ihr Haupt stützte sie auf beide Hände und starrte regungslos auf die
+schwarzen Massen des fürstlichen Schlosses, welches jenseits des
+Ockergrabens hoch emporragte in den dunkeln Nachthimmel, und in welchem
+hie und da ein erleuchtetes Fenster schimmerte. -- So hatte Anneke den
+ganzen lieben langen Tag über gesessen, so saß sie noch, als es schon
+vollständig Nacht geworden war, und die Ronde sich näherte, das Tor zu
+schließen.
+
+»Sitzt die Dirn da noch!« rief der Weibel. »Heda, Schätzchen, fort mit
+dir, daß dir das Fallgatter nicht auf den Kopf fällt. Marsch, Liebchen!
+weiß nicht, was du hier suchen könntest?« Anneke rührte sich nicht von
+ihrem Platze.
+
+»Na, wird's bald? Nimm Vernunft an, Kind, 's gibt wärmere Nester.« Damit
+faßte er den Arm der Kauernden, um sie in die Höhe zu ziehen.
+
+»O lasset mich hier! lasset mich hier!«
+
+»Hoho, geht nicht, geht nicht. Aber nun lasset doch auch einmal Euch ins
+Gesicht schauen. Hebt die Laterne hoch! Mädel, Kopf in die Höhe!«
+
+Der Schein der Laterne fiel in das bleiche gramvolle Gesicht des
+Mädchens. --
+
+»Alle Teufel, das ist ja die Anneke, die Anneke Mey von Rees her!« rief
+einer der Büchsenschützen sich vordrängend. »Weibel, mit der mußt du
+säuberlich umgehen. Fürcht dich nit, Anneke -- wo kommst du her?«
+
+»Aus dem Moor, aus dem hessischen Darlaten, Arendt Jungbluth!« sagte
+Anneke tonlos.
+
+»Wo sie die Meutmacher niedergelegt haben? Ei, ei, Anneke, und du bist
+mit ihnen gezogen?«
+
+»Sie sind im Wald über uns gekommen, weil sie der Graf von Hollach
+abgedrängt hatt' von der Weser, und sie haben den Junker aufs Pferd
+gezwungen, und er hat nichts anders gekonnt, er hat sie müssen führen;
+nun aber haben sie doch geraubt und gebrannt und sind gezogen, wo sie
+wollten, und wir haben müssen mit ihnen durch die Wiehenberge, ins Land
+Hoya. Da ist es zum Ende gekommen -- da hat uns der Graf gestellt, und
+Hans Niekirche ist tot, ist auch nicht heimgekommen zu seiner Mutter --
+Gnade Gott uns allen!«
+
+Lautlos umstanden die Söldner das junge Mädchen; endlich sagte der
+Weibel: »So ist es geschehen, dagegen kann keiner sagen -- arm Mädel,
+was sitzest nur hier auf dem kalten Stein?« Stumm deutete Anneke nach
+dem Gefängnis im Turm über ihr; dann sagte sie: »Sie führten uns zuerst
+auf das feste Haus Stolzenau; nun sind wir hier zum Gericht!«
+
+»Und der Junker, von welchem du gesprochen hast, ist da oben bei den
+andern?« fragte der Weibel.
+
+Anneke nickte.
+
+»Das ist der Knab Christoph von Denow, von den Reitern?« fragte wieder
+der Gefreite Arendt Jungbluth, welcher zuerst Anneke erkannt hatte. »Ist
+das dein Schatz?«
+
+Ein leises Zittern überlief den Körper des Mädchens, sie antwortete
+nicht und schüttelte das Haupt und senkte das Gesicht in die Hände und
+legte den Kopf auf die Knie.
+
+»Arm Kind! arm Mädel!« murmelten die Krieger. »Aber sie kann hier nicht
+bleiben,« brummte der Weibel. »Wir müssen fort, der Böse fährt uns sonst
+auf den Buckel!«
+
+»Lasset mich einmal mit ihr sprechen,« sagte Arendt Jungbluth. Er beugte
+sich nieder zu der Armen und flüsterte ihr zu; plötzlich stieß sie einen
+Schrei aus, einen Freudenschrei und stand auf den Füßen: »Wirklich,
+wirklich? Ihr könnt? Ihr wollt? O, Gott segne Euch tausendmal!«
+
+»Herauf die Brücke! Herunter das Gatter! Ist's geschehen? -- Fort nach
+der Schloßwach! -- Jürgen, marsch, voran mit der Laterne!« kommandierte
+der Weibel. »Anneke, Ihr gehört zu uns, niemand tut Euch was zu Leid.
+Marsch, marsch!«
+
+Die Hellebarden lagen wieder auf der Schulter: inmitten der
+Wachtmannschaft ging Anneke Mey, und Jürgen trug außer der Laterne auch
+noch das Bündlein des Soldatenkindes.
+
+
+
+
+ V.
+
+
+Eins schlug die Uhr des Schloßturmes, und die Krähen fuhren auf aus
+ihren Nestern und umflatterten krächzend die Spitze und die Wetterfahne,
+bis der Klang ausgezittert hatte.
+
+»So geh zu ihm!« flüsterte Arendt Jungbluth. »Um drei Uhr ist meine
+Wacht zu Ende, dann klopf' ich und du kommst heraus. Nun gehab dich
+wohl; des Wärtels Margaret lauert drunten am Gang.«
+
+»Dank Euch, dank Euch!« flüsterte Anneke Mey. Die Gefängnistür im
+Mühlenturm öffnete sich kaum weit genug, um das schmächtige junge
+Mädchen einzulassen, und schloß sich sogleich wieder.
+
+Die qualmende Hängelampe war wie ein roter Punkt in dem dunsterfüllten
+Raume anzuschauen; die meisten der Gefangenen schnarchten auf dem Stroh
+die Wände entlang, viele hatten aber auch die Köpfe auf den Tisch gelegt
+und schliefen so. -- Dann und wann erklirrte leise eine Fessel, oder ein
+Stöhnen und Geseufz ging durch die Wölbung. Niemand hatte den Eintritt
+des Mädchens bemerkt.
+
+Einige Minuten stand Anneke dicht an die Mauer gedrückt. Sie vermochte
+kaum Atem zu holen. Wie sollte sie in dieser Hölle den finden, welchen
+sie suchte?
+
+Plötzlich ward es hell in ihr: anfangs leise, dann lauter begann sie das
+alte Lied vom Falkensteiner zu singen:
+
+ »Sie ging den Turm wohl um und um:
+ Feinslieb bist du darinnen?
+ Und wenn ich dich nicht sehen kann,
+ So komm' ich von meinen Sinnen.
+
+ Sie ging den Turm wohl um und um,
+ Den Turm wollt' sie aufschließen:
+ Und wenn die Nacht ein Jahr läng wär',
+ Keine Stunde tät' mich verdrießen!«
+
+Von ihrem Lager richteten sich die Schläfer auf, stärker klirrten die
+Ketten an ihren Armen und Beinen.
+
+ »Ei, dürft' ich scharfe Messer tragen,
+ Wie unsers Herrn sein' Knechte,
+ Ich tät' mit dem Herrn vom Falkenstein,
+ Um meinen Herzliebsten fechten!«
+
+»Was ist das? Wer ist das? Wer singet hier?« tönte es wild
+durcheinander. »Anneke, Anneke, Anneke Mey,« rief die Stimme Christoph
+von Denows dazwischen, und Erdwin Wüstemann hielt das junge Mädchen in
+den Armen: »Hier, hier halt' ich sie, hier ist sie, wie ein Engel vom
+Himmel mit ihrer Lerchenstimme! O Kind, Kind, was willst hier in dieser
+Wüstenei? Junker, Junker, wo seid Ihr?«
+
+»O Anneke! Anneke!« rief Christoph von Denow.
+
+»Vivat Anneke, Anneke Mey!« riefen alle andern Gefangenen. »Das ist ein
+wackeres Mädel! Vivat des Regiments Schenkin!«
+
+Es fiel keine schnöde, böse Rede: im Gegenteil, es war, als ob durch das
+Erscheinen des Kindes jedes trotzige wilde Herz milder geworden wäre.
+Man hätte sie gern auf den Händen getragen, da sie das aber nicht leiden
+wollte, suchte man ihr den bequemsten Platz aus und breitete Mäntel
+unter ihre Füße, um sie vor der feuchten Kälte der Steinplatten zu
+schützen. Eine Bank wurde zerschlagen, um das erlöschende Feuer im Kamin
+damit zu nähren.
+
+»So hast du uns nicht verlassen, Anneke!« rief Christoph und hielt ihre
+beiden Hände in den seinigen, und der Knecht Erdwin wischte verstohlen
+eine Träne aus den grauen Wimpern. »O, wie können wir dir je das
+wiedervergelten?«
+
+»Wie könnt ich Euch verlassen? Und wenn sie Euch zum Tode führen, ich
+geh' mit Euch!«
+
+Sie saßen beieinander, Christoph und Anneke, neben dem Kamin, und die
+Dirne schluchzte und lächelte durch ihre Tränen. Sie vergaßen alles um
+sich her, und der alte Wüstemann stand dabei, seufzte tief und schwer
+und schüttelte das greise Haupt:
+
+»Jammer, o Jammer!«
+
+Um drei Uhr krähte zum ersten Mal der Hahn, um drei Uhr klopfte Arendt
+Jungbluth an die Tür.
+
+»Nun muß ich scheiden!« sagte Anneke. »Gott schütze uns; wenn das
+Gericht angeht, steh' ich auf Eurem Wege, Herr.«
+
+»Anneke, Gott lohn's dir, was du an uns tust!«
+
+»Fahre wohl! Fahre wohl, Anneke!« riefen die gefangenen Meuterer. »Gott
+segne dich, Anneke!«
+
+Christoph von Denow schlug die Hände vors Gesicht; -- die Tür war hinter
+dem jungen Mädchen zugefallen. Im Osten zeigte ein weißer Streif am
+Nachthimmel, daß der Morgen nicht mehr fern sei, und der Wind machte
+sich auf, fuhr von den Harzbergen nach dem deutschen Meer und verkündete
+dasselbe.
+
+ -- -- -- -- --
+
+Sechs schlug die Uhr des Schloßturmes; wieder schossen die Krähen aus
+ihren Nestern und umflatterten die Spitze, krochen aber diesmal nicht
+wieder zurück in ihre Schlupfwinkel, sondern ließen sich, eine bei der
+andern, nieder auf dem Rande der Galerie, welche nahe dem Dach, den Turm
+umzieht. Neugierig reckten sie die Hälse und blickten herab in den
+dichten weißen Nebel unter ihnen, aus welchem kaum die höchsten Giebel
+der Stadt und Festung hervorlugten. Trommelschall erdröhnte auf dem
+Schloßhofe und hallte wider von den Wällen, während eine kriegerische
+Musik aus der Ferne dem Weckauf der Besatzung antwortete. Auf der
+Festung trat die Soldateska unter die Waffen, und in der Heinrichsstadt
+verkündete das klingende Spiel, daß die Bürgerschaft in Wehr und
+Harnisch aufzog.
+
+Von Zeit zu Zeit löste sich einer der schwarzen Vögel aus der Reihe der
+Genossen los und flatterte mit kurzen Flügelschlägen hinein in den
+Nebel, als wolle er Kundschaft holen über das Fest, welches ihm drunten
+bereitet wurde. Kehrte er zurück, so wußte er mancherlei zu erzählen,
+und freudekreischend erhoben sich die andern und wirbelten durcheinander
+und überschlugen sich in der grauen Luft, um endlich wieder
+zurückzufallen auf ihre Plätze in Reih und Glied.
+
+Gegen sieben Uhr verflüchtigte sich der Schleier, welcher über der Stadt
+lag, um sieben Uhr trat alles ins Licht! Vor dem fürstlichen Marstalle
+waren die Schranken aufgestellt. Ein mit rotem Tuch bekleideter Tisch
+und ebenso überzogene Bänke für den Gerichtsschulzen und die Beisitzer
+standen in der Mitte. Das Volk umwogte dicht gedrängt den Platz. Jetzt
+zog »mit dem Gespiel« die fürstliche Leibgarde aus dem Schloßtor, den
+Graben entlang, und besetzte zwei Seiten der Schranken. Nach ihr rückte
+in drei Fähnlein die Bürgerschaft von der Dammfestung, der Heinrichstadt
+und dem Gotteslager heran und schloß die beiden andern Seiten ein. Der
+Ring war gebildet; die Fahnen wurden zusammengewickelt und unter sich
+gekehrt, die Obergewehre mit den Spitzen in die Erde gestoßen, nach
+Kriegsgebrauch bei kaiserlichem Malefizrecht.
+
+Abermals entstand eine Bewegung unter der Volksmenge; wieder schritt
+ein Zug durch die gebildete Gasse feierlich und langsam vom Schloß her.
+Das war der Gerichtsschulze Melchior Reicharts mit seinen einundzwanzig
+Richtern, Hauptleuten, Gefreiten und Gemeinen, und dem Gerichtsschreiber
+Fridericus Ortlepius die allesamt paarweise in den Ring eintraten.
+
+Zuerst ließ sich der _notarius publicus_ nieder, zur linken Hand an dem
+roten Tisch. Er ordnete seine Papiere, guckte in sein Tintenfaß, rückte
+das Sandfaß zurecht, und der trübe Himmel und die Krähen auf dem
+Schloßturm schauten ihm dabei zu. Er prüfte die Spitze seiner Feder auf
+dem Daumennagel, das Murmeln und Murren der tausendköpfigen Menge machte
+einer Totenstille Platz; von dem Mühlenturm her erklang ein taktmäßiges
+Rasseln und Klirren und verkündete das Nahen der Gefangenen. -- -- -- --
+
+»O mein Gott, hilf ihm und mir!« stöhnte Anneke Mey von Stadtoldendorf,
+als an dem Mühlenturm die Pforte sich öffnete und die davor aufgestellte
+Reiterwache, die Pferde rückwärtsdrängend, das Volk auseinander trieb.
+
+»Da sind sie! die Meutmacher! die Schufte! Da sind die falschen
+Schurken!« ging der unterdrückte Schrei durch das zornige Volk. Aus der
+Gefängnispforte hervor glitt ein verwildertes, trotziges oder verzagtes
+Gesicht nach dem andern an der zitternden Anneke vorüber.
+
+Und jetzt --
+
+»Christoph!« durchdrang grell und schneidend ein Schrei die schwere
+graue Luft, daß der Herzog Heinrich Julius, welcher an einem Fenster
+seines Schlosses stand und auf das Getümmel unter sich finster
+herabblickte, unwillkürlich den Kopf nach der Richtung hin neigte.
+
+Da schritt er einher, der Junker von Denow, bleich, wankend, gestützt
+auf den Arm des getreuen Knechtes Erdwin.
+
+»O Christoph! Christoph von Denow!«
+
+Der junge Reiter erhob das Auge; es haftete auf dem jungen Mädchen,
+welches hinter der Reihe der begleitenden Hellebardierer die Hände ihm
+entgegenstreckte; -- ein trübes Lächeln glitt über das Gesicht
+Christophs, dann schüttelte er das Haupt; er wollte anhalten.
+
+»Hast doch recht gehabt, Anneke!« lachte höhnisch Valentin Weisser,
+der Rosenecker. »Waren unsrer doch zu wenig. Puh -- 's ist am End
+einerlei -- Kugel oder Strick. Vorwärts, Junker Stoffel; ich tret' dir
+sonst die Hacken ab!«
+
+»Vorwärts! vorwärts!« rief der Führer der Geleitsmannschaft -- vorüber
+schritt Christoph von Denow. --
+
+Im Ring aber schwuren die Richter mit aufgerichtetem Finger und lauter
+Stimme:
+
+»Ich lobe und schwöre, daß ich diesen Tag und alles dasjenige, was vor
+diesem Malefizrecht vorkommen wird, urteilen und richten will, es sei
+gleich über Leib und Blut, Geld oder Geldeswert, als ich will, daß mich
+Gott am Jüngsten Tage richten soll -- den Armen als den Reichen. Will
+hierinnen weder Freundschaft noch Feindschaft, Gunst noch Ungunst, weder
+Haß, Geschenke, Gaben, Geld ober Geldeswert ansehen, oder mich
+verhindern lassen! So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort!«
+
+Alle Beisitzer saßen darauf nieder an ihren Plätzen, und nur der
+Gerichtsschulze blieb stehen und tat eine Umfrage. Darauf verkannte er
+das Recht: erstens im Namen der heiligen unzerteilbaren Dreifaltigkeit,
+dann im Namen des Fürsten, dem Richter und Angeklagte als Kriegsleute
+geschworen hatten, zuletzt kraft seines eignen angeordneten Amts und
+Stabes, daß »keiner innerhalb oder außerhalb dem Rechten wolle einreden.
+Solle auch niemand einem Richter heimlich zusprechen. Dem Profoß solle
+eine freie Gasse gelassen werden, damit er guten Raum habe, damit er
+desto baß mit den Gefangenen vom Rechten ab- und zugehen möge, bei Pön
+eines rheinischen Gülden in Gold«.
+
+»Derhalben,« fuhr er fort, »wer nun vor diesem Kaiserlichen Recht zu
+schicken oder zu schaffen hat, es sei gleich Kläger oder Antworter oder
+sonsten einer, der dem löblichen Regiment etwas anzuzeigen hat: die
+stehen in den Ring und klagen, wie man pflegt zu klagen und Antwort zu
+geben, auf Red und Widerred, wie in Kaiserlichen Rechten der Gebrauch
+ist. -- Gerichtswebel, habt Ihr gestern den Profoß, wie auch die
+Angeklagten fürgeboten, zitieret und geladen?«
+
+Und der Gerichtswebel stand auf und antwortete: »Herr Schultheiß, ich
+habe sie gestern früh mit drei Trommeln an den vier Orten der Welt
+zitieret!«
+
+Und des Regiments Profoß, Karsten Fricke, trat in den Ring, und der
+Gerichtswebel führt die Angeklagten hinein, jedes Fähnlein für sich
+zusammengeschlossen. --
+
+
+
+
+ VI.
+
+
+Liege still, Kind,« sagte am zwanzigsten November bei Tagesanbruch auf
+der Hauptwache im Schloß zu Wolfenbüttel der Gefreite Arendt Jungbluth.
+»Liege ruhig und schlaf weiter: der Morgen ist dunkel und dräuet Schnee.
+Es geht noch nicht an.«
+
+Anneke Mey hatte sich auf der harten Holzbank, erschreckt aus tiefem
+Traum auffahrend, in die Höhe gerichtet, bei dem Ruf der Wacht draußen,
+die zur Ablösung herausrief.
+
+»Schlafe wieder ein, Anneke, ich wecke dich, wenn es Zeit ist,« sagte
+Arendt, die Sturmhaube auf den Kopf stülpend.
+
+»Der letzte Tag!« murmelte das Soldatenkind, und das müde Haupt sank
+wieder zurück auf das harte Lager, die Augen schlossen sich wieder.
+
+»Hui, der Wind -- Teufel!« brummte Arendt, als die Söldner wieder
+zurücktraten in die Wachtstube. »Schläft sie wieder? -- Richtig! ach,
+ich wollt', sie verschlief' es ganz. Ruhig, Kerle -- haltet eure Mäuler!
+Donner -- ist es nicht grad, als ob der Sturm den alten Kasten einem
+über dem Kopf zusammenreißen wollte? Das wird das rechte Wetter sein für
+die da draußen im Ring, das bläst ihnen die Urteile vom Munde weg. Wie
+sie da liegt! ist das nicht ein Jammer? Ich wollt', sie verschlief' die
+böse Stund.«
+
+Wild jagte der Wind die schweren Schneewolken vor sich her und heulte
+und pfiff in den Gängen des Schlosses wie der böse Feind, klapperte mit
+den Ziegeln, rüttelte an den Fenstern und trieb die Wetterfahnen mit den
+Löwen auf den Turmspitzen im Kreise umher, heftiger und heftiger, wie
+der Tag zunahm.
+
+Anneke Mey lag noch immer, nicht im Schlaf, sondern in stumpfsinniger
+Erschöpfung. Was kein Kriegszug vollbracht hatte, das hatten die letzten
+vierzehn Tage getan; sie hatten das Kind gebrochen, es matt und müd
+gemacht bis zum Tode. Vergeblich sahen sich diesmal auf ihrem Wege zum
+Gericht Christoph von Denow und Erdwin Wüstemann nach dem abgehärmten
+Gesicht ihres Schutzengels um.
+
+»Gottlob, gottlob, sie verschläft's!« murmelte Arendt Jungbluth, sich
+über das Lager der Armen beugend.
+
+Im Ring, unter dem düstern, schwarzen Himmel mit den jagenden Wolken las
+Friedrich Ortlepp, der Gerichtsschreiber, ein Todesurteil nach dem
+andern; einen Stab nach dem andern brach der Schultheiß und warf ihn auf
+den Richtplatz.
+
+»Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit. Amen!« sprach er bei jeder weißen
+Rute, welche zerknickt auf den Boden fiel.
+
+Und jetzt -- jetzt der letzte Spruch!
+
+»Auf eingebrachte Klage des Profoßen, Gegenrede des Beklagten,
+produzierte Kundschaft und Zeugnis, ist durch einhellige Umfrage zu
+Recht erkannt, daß -- =Christoph von Denow= nicht gebührt hat, sich für
+einen Vorsprecher bei der vorgesetzten Obrigkeit, noch für einen
+Hauptmann aufzuwerfen, noch die Befehle zu vergeben und auszuteilen,
+noch die Wacht zu bestellen. Warum er dem Profoß überantwortet werden
+soll, welcher ihn in sein Gewahrsam führen und ihn dem Nachrichter
+einantworten und befehlen soll, daß er ihn hinausführe und an den
+nächsten Galgen hänge und mit dem Strange zwischen Himmel und Erde
+erwürge, damit der Wind unter ihm und über ihn durchwehen könne, ihm zu
+verwirkter Strafe und andern zum abscheulichen Exempel!«
+
+Wieder fiel der gebrochene Stab zu den anderen auf die Erde.
+
+»Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit, Amen!«
+
+Auf die Knie stürzten dreiundachtzig der Verurteilten: »Gnade, Gnade!
+Gnade ist besser denn Recht!«
+
+Hochauf richteten sich Christoph von Denow und Erdwin Wüstemann, und der
+Junker hob die gefesselte Rechte zum Himmel, während der Wind seine
+Locken zerwühlte und die Schneewolken sich öffneten und das weiße
+Gestöber wirbelnd herabfuhr:
+
+»Keine Gnade! Recht! Recht! Recht ist besser denn Gnade!«
+
+In den Ring sprang der Profoß mit der Wache und stürzte sich auf die
+Gefangenen -- wild und anhaltend brach das Geschrei des Volkes los, die
+Kommandoworte erschallten dazwischen, die Trommeln wirbelten, die
+Trompeten schmetterten, aus der Erde wurden die Waffen gerissen und hoch
+in die Luft geschwungen, die Fähnlein entfalteten sich im Winde. Die
+Krähen aber schossen in einem schwarzen Haufen herab von dem Schloßturm
+und umflatterten krächzend die Stätte des Gerichts. Gleich dem bewegten
+Meer wogte und donnerte das Volk, und durch die Menschenflut kämpfte
+sich mit zerrissenen Kleidern, losgegangenen Haarflechten Anneke Mey.
+
+»Christoph! Christoph! O du heiliger Gott im Himmel! verloren!
+verloren!«
+
+Dem Herzog am geöffneten Fenster seines Gemachs riß der Sturm den Griff
+des Flügels aus der Hand, daß er klirrend zuschlug. Über den Schloßhof
+schritt der Gerichtsschultheiß Melchior Reicharts mit den Hauptleuten
+Georg Frost, Peter Köhler, Heinrich Jordans und Moritz Ahlemann nach
+getaner Pflicht den jungen Fürsten, Zahlherrn und Kreis-Obersten für
+die Verurteilten zu bitten. Fridericus Ortlepius trug »fürsichtiglich
+und sorgsamlich« die Akten und Protokolle. Tief in die Nacht hinein saß
+der Herzog mit den sechs Männern über diesen Papieren. Vierundzwanzig
+Todesurteile bestätigte er, und unter diesen befand sich das Christoph
+von Denows. Zweiunddreißig der Verurteilten begnadigte er dahin, »daß
+sie zur Straf sich verpflichten sollen, im Land zu Ungarn auf dem
+Grenzhause Groß-Wardein wider den Erbfeind der Christenheit zu Wasser
+und zu Lande, in Sturm und Schlachten jederzeit, wie ehrlichen
+Kriegsleuten solches gebührt, sich gebrauchen zu lassen«. --
+Siebenundzwanzig Männern wurde auf einen gewöhnlichen »Urfried« das
+Leben und die Ehre geschenket und sie ihrem Fähnlein wieder
+einverleibt. -- Zweien wurde das Leben und die Ehre ohne Bedingung
+geschenkt. Der erste war Erdwin Wüstemann, der andere ein Söldner,
+genannt Klaus Rischemann von Calvörde. Alle diese Schlüsse wurden den
+Gefangenen noch in derselben Nacht bekannt gemacht.
+
+
+
+
+ VII.
+
+
+Der Schnee lag hoch in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt und
+Festung Wolfenbüttel. Der Sturm hatte sich mit Anbruch des Tages ganz
+gelegt, es war wieder still und ruhig geworden, und leise träufelte es
+von den Dächern, denn die Luft war warm und mit Feuchtigkeit gefüllt;
+mit dumpfem Geräusch bewegte sich das Volk in den Gassen.
+
+Die Fenster der Schloßkirche glänzten rötlich in die trübe
+Morgendämmerung herein, und feierlich erklang die Orgel und der Gesang
+vieler Menschenstimmen:
+
+ Allein zu dir, Herr Jesu Christ,
+ Mein Hoffnung steht auf Erden. --
+
+Im Schein der Lichter und Lampen erglänzte Harnisch an Harnisch in dem
+heiligen Gebäude: den Verurteilten sollte ihre letzte Predigt gehalten
+und das Abendmahl ihnen gereicht werden. Der junge Herzog saß in seinem
+Stuhl, das Gebetbuch vor sich; alle Offiziere der Besatzung waren in
+Wehr und Waffen zugegen, und die Wände entlang und im Schiff der Kirche
+drängte sich ein bärtiges ernstes Kriegergesicht an das andere. Die
+Vierundzwanzig, die sterben sollten, saßen auf einer niedern Bank unter
+der Kanzel, auf welcher der Magister Basilius im schwarzen Chorrock mit
+der Halskrause stand, bereit, seine Rede über die beiden Schächer am
+Kreuz zu beginnen. In einem dunkeln Winkel unter der Orgel stand Erdwin
+Wüstemann und hielt die schluchzende Anneke im Arm; um sie her knieten
+oder standen die vom Tode losgesprochenen Meuterer, denen man die
+Fesseln abgenommen hatte.
+
+Und jetzt schwieg die Orgel und der Gesang. Das Wort des Evangelisten
+Lukas wurde gelesen:
+
+»Aber der Übeltäter einer, die da gehängt waren, lästerte ihn und
+sprach: Bist du Christus, so hilf dir selber und uns! -- Da antwortete
+der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor
+Gott, der du in gleicher Verdammnis bist? Wir sind billig darinnen, denn
+wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts
+Ungeschicktes gehandelt! -- Und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an
+mich, wenn du in dein Reich kommst! -- und Jesus sprach zu ihm:
+Wahrlich, ich sage dir, heut wirst du mit mir im Paradiese sein!« --
+
+Überlaut riefen bei diesen letzten Worten des Textes einige der
+Verurteilten: »Das helfe uns der allmächtige Gott!« und hoben die
+kettenklirrenden Hände gefaltet hoch empor. Das Auge Christoph von
+Denows aber leuchtete plötzlich in einem Glanz, welcher darin bereits
+für immer erloschen schien. Hatte er eine Vision? Rief ihm eine süße
+bekannte Stimme von oben? Erschien ihm winkend die tote Mutter?
+
+Christoph von Denow war zum Sterben bereit. --
+
+»Gott, Gott, laß so nicht das Haus Denow zu End kommen!« stöhnte in
+seinem Winkel Erdwin, der Knecht. »Herr, schenke du ihm einen adeligen
+Tod! Laß diesen Kelch an mir vorüber gehen!«
+
+»Er soll mir den Kopf zertreten und über meinen leblosen Leib weggehen,
+wenn er mich nicht hören will!« sagte Anneke Mey tonlos.
+
+Und Dominus Basilius Sadler begann seine Buß- und Trostpredigt und
+teilte sie in die zwei Punkte:
+
+Erstlich, wie sich der »heilige« Schächer am Kreuz in einer letzten Not
+gehalten.
+
+Zum andern, wie herrlich ihn Christus getröstet habe.
+
+Der Himmel im Osten aber färbte sich immer purpurner, und die Lichter
+und Lampen der Kapelle erblaßten mehr und mehr vor dem Glanz, welchen
+Gott über die winterliche Welt leuchten ließ. Die Gefangenen neigten die
+Häupter tiefer und tiefer.
+
+»-- Euer Weib und Kinder befehlet ihr, die ihr welche habt, Gott dem
+Allmächtigen, der ist der Waisen Vater und der Witwen Richter. Ist schon
+dieser Tod vor der Welt schmählich, so gedenket, wenn ihr euch bekehret,
+daß ihr Gottes Kinder seid, dann wird solch Leiden ehrlich und herrlich.
+Denn der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn.« --
+
+»Einen ehrlichen Tod! o Gott, schenke ihm einen adeligen Tod!« murmelte
+Erdwin, der Knecht.
+
+»So gebe Gott der Allmächtige euch allen die Gnade seines heiligen
+Geistes, daß ihr euer' Sünd von Herzen erkennt und euch leid sein
+lasset, euch im wahren Glauben zu Christo wendet und darin bis ans Ende
+verharret, euer' Seel in Geduld fasset, allen Menschen von Herzen
+vergebet und verzeihet, heut, diesen Tag, Gott eure Seele opfert und
+überantwortet und am großen Tag des Herrn mit Freuden auferstehet und
+mit Leib und Seele ewig lebet! Amen, Amen, Amen!«
+
+Der Sand war verlaufen in der Uhr auf der Kanzel. Der Herzog verließ mit
+seinen Hofbeamten seinen Stuhl, Anneke Mey verschwand von der Seite
+Erdwins, ohne daß dieser es bemerkte; -- unter den Klängen des alten
+traurigen Chorales: Wenn mein Stündlein vorhanden ist -- wurde den
+Verurteilten das Abendmahl gereicht.
+
+Nun war auch das geschehen; in die letzten Klänge der Orgel mischte sich
+grell und schneidend ein anderer Klang -- der Schall des
+Armensünderglöckchens: Der Henker wartete an der Tür des Hauses Gottes!
+
+Im langsamen Zug traten die Verurteilten und Gefangenen, von ihren
+Wächtern umgeben, hinaus aus der Schloßkirche, vor welcher sie die
+harrende Menge mit wildem Geschrei und Droh- und Schmähworten empfing.
+Der schwere Gang begann, in das goldne Morgenrot hinein, über den
+Schloßplatz, die Dammbrücke, durch die Heinrichsstadt dem Kaisertor zu.
+Alle Gassen, durch welche der Zug ging, waren mit herzoglichen Reitern
+und den gewaffneten Bürgern besetzt, um den Andrang des Volks zu
+bändigen.
+
+Vor dem Kaisertor waren die vier Galgen gebaut, woran die vierundzwanzig
+Leben enden sollten. Fast eine halbe Stund verging, ehe die Verurteilten
+unter ihnen standen. Der Ring war geschlossen auf zwei Seiten von den
+Hellebardierern, auf den beiden andern Seiten von den Musketenschützen,
+deren Röhre auf den Gabeln lagen, deren glimmende Lunten zum
+augenblicklichen Gebrauch aufgeschroben waren. Dicht vor dem Gefreiten
+Arendt Jungbluth hielten sich Erdwin Wüstemann und der Junker Christoph
+von Denow.
+
+Der Alte hatte den Arm um seinen jungen Herrn geschlungen, und dieser
+das Haupt an die Brust des treuen Knechts gelegt. Sie sprachen leise
+zueinander.
+
+»Weiß nicht, wo sie geblieben ist! weiß nicht, wo sie bleibt!« sagte der
+Alte.
+
+»Sie hat mich nicht sterben sehen wollen; -- 's ist auch besser so! O
+schütze sie -- halte sie, trag sie auf den Händen und im Herzen und
+verlaß sie nie und nimmer -- ich will meiner Mutter von ihr sagen, wenn
+ich zu ihr komm'.«
+
+»O Junker, Junker, und Euer Vater« --
+
+»Vergiß nicht, was du ihm versprochen hast.«
+
+»Es wird geschehen, so wahr mir Gott helfe!« sagte dumpf der Alte.
+
+»Schau, es geht an -- da hast du den Ring -- mein Schwert liegt versenkt
+im Moor, es ist ein gutes, tadelloses Schwert geblieben! -- Ihr sag -- o
+Anneke! Anneke!« Der Junker brach ab; er vermochte es nicht, weiter zu
+sprechen.
+
+Unterdessen war eine Totenstille in der Menschenmenge eingetreten, die
+aber jedesmal, wenn die Henker einen der Meuterer des Reichsheeres von
+der Leiter stießen, in ein gräßliches, langanhaltendes Geheul, durch
+welches scharf das Wirbeln der Trommel klang, überging. -- --
+Dreiundzwanzig Mal hatte das Volk aufgeschrien. --
+
+»Christoph von Denow!« rief nun der Profoß mit lauter Stimme.
+
+Zum letztenmal lagen sich Christoph und Erdwin in den Armen.
+
+»Lebe wohl! lebe wohl!« flüsterte der erste -- »vergiß nicht!« --
+
+»So gnade Gott mir und Euch!« schrie der Knecht Wüstemann und strich die
+langen greisen Haare aus der Stirn zurück. Der Junker von Denow stand
+am Fuße der Leiter!
+
+Er drückte die Hand auf das Herz und setzte den Fuß auf die erste
+Staffel: »O Anneke, süße Anneke!«
+
+Der Gedanke kam ihm, er würde sie erblicken in der Menge, welche wieder
+in unheimlichster Stille den Richtplatz bedeckte; mit einem Sprung war
+er oben an der Seite des Henkers, der ihn mit dem Strick in der Hand
+erwartete. Er stieß die Hand desselben zurück -- seine Augen schweiften
+über all die Tausende emporgerichteter Gesichter. --
+
+»O Anneke Mey, liebe Anneke, wo bist du? wo bist du? weshalb hast du
+mich verlassen?!«
+
+Wieder streckte der Henker die Hand nach ihm aus; er hielt ein Blech,
+auf welchem die Worte standen »Meutmacher und Meineidiger« und wollte es
+dem Verurteilten an einem Bande um den Hals werfen.
+
+»Lebe wohl, süße Anneke Mey!« flüsterte Christoph von Denow; er schlug
+die Hand des Henkers abermals zur Seite, klirrend fiel das Blech, die
+Leiter nieder, zur Erde. --
+
+Mit einem wilden, entsetzlichen Schrei sprang Erdwin Wüstemann einen
+Schritt zurück, mit einem Griff riß er das Feuerrohr aus den Händen
+Arendt Jungbluths und an seine Wange. Der Schuß krachte -- »Gnade Gott
+mir und dir!«
+
+»Dank, Erdwin -- hast -- Wort gehalten!« sprach Christoph von Denow. Er
+schwankte -- breitete die Arme aus: »Lebe -- wohl -- süße -- Anneke!«
+Der entsetzte Henker wollte ihn halten, aber im dumpfen Fall stürzte der
+Körper die Leiter herab in den blutigen Schnee.
+
+Aufbrüllte die Menge und tobte durcheinander, der Ring löste sich -- die
+Offiziere, die Beamten, der Gewaltiger stürzten sich auf den Knecht
+Erdwin, welcher regungslos dastand, das abgeschossene Rohr in der Hand.
+
+Und jetzt ein neues Geschrei von der Stadt her: »Haltet, haltet!«
+
+Ein Reiter mit einem Papier in der Hand, im Galopp ansprengend! Ihm nach
+ein zweiter Reiter, vor sich auf dem Pferd ein halbohnmächtiges,
+todtbleiches Mädchen. --
+
+»Halt, halt! Befehl, den Verurteilten Christoph von Denow zurückzuführen
+ins Gewahrsam!«
+
+Anneke Mey leblos auf dem leblosen Körper des Erschossenen -- Erdwin
+Wüstemann besinnungslos in den Armen Arendt Jungbluths -- -- --
+Trompetenschall von der Torwache; von der Stadt her eine neue
+Reiterschar: »Der Herzog! der Herzog! -- Zu spät! zu spät!« -- -- -- --
+
+In dem wiedergebildeten Ring hielt der junge Fürst mit seinem Gefolge;
+vor ihm stand barhäuptig der Profoß neben der schrecklichen Gruppe am
+Boden und erzählte das Vorgefallene. Als er geendet, stieg der junge
+Fürst ab von seinem Hengst und näherte sich dem treuen Knecht des Hauses
+Denow:
+
+»Weshalb hast du das getan?«
+
+Der Angeredete blickte irr und wirr im Kreise umher, antwortete nicht,
+sondern brach nur in ein herzzerreißendes Gelächter aus.
+
+Der Herzog legte die Hand an die Stirn; -- dann wandte er sich:
+
+»Hebt doch das Kind von der Leiche!«
+
+Der Leutnant von der Festung, Johannes Sivers, beugte sich nieder, um
+dem Befehl nachzukommen. Es gelang ihm mit Mühe:
+
+»O gnädiger Gott, tot, tot, fürstliche Gnaden!«
+
+Ein dumpfes Gemurmel ging durch die lauschende Menge; der Fürst schritt
+finster sinnend einige Minuten auf und ab. Dann hob er das Haupt:
+
+»Bei meinen Vätern, ich glaub', da ist ein bös Ding getan! leget die
+Dirne und den toten Knaben auf die Gewehrläufe -- es ist Unsere Meinung
+und Wille, daß das Gericht wieder beginne. Wir sind entschlossen,
+selbsten im Ring zu sitzen!«
+
+Während dieser letzten Worte hatte sich Erdwin Wüstemann langsam
+aufgerichtet; jetzt stand er wieder fest auf den Füßen. Der Herzog
+bemerkte es, er legte ihm die Hand auf die Schulter:
+
+»Ihr habet hart und schnell in unser Gericht eingegriffen. Stehet zu mir
+nun auch im Ring, daß die Wahrheit an den Tag kommt! Nachher, wenn's
+sich ausgewiesen hat, wie ich es mir zusammendenke, wollen Wir, daß Ihr
+die dort gen Ungarn führet als Unser Ehrbarer, Mannhafter und Getreuer!
+Höret Ihr, Hauptmann Erdwin Wüstemann?! Nun hebet die Leichen und rühret
+die Trommeln -- fort! fort!«
+
+Über der blutigen Morgenröte hatten sich die Wolken wieder dunkel
+zusammengezogen. Wieder sanken leise einzelne weiße Flocken herab. Sie
+mehrten sich von Augenblick zu Augenblick und deckten bald, einem
+Leichentuch gleich, die Körper Christophs und Annas, wie sie durch die
+Gassen der Stadt Wolfenbüttel, dem Zuge der Krieger und Bürger voran,
+dicht hinter dem Gefolge des Herzogs, welcher mit gesenktem Haupte
+vorausritt, der Gerichtsstätte am Schloß zugetragen wurden. Der alte
+Knecht Erdwin ging neben seinem jungen Herrn her; aber er wußte nichts
+davon -- dunkel war es in ihm und um ihn! --
+
+=So starb der Junker Christoph von Denow eines adeligen Todes!=
+
+
+
+
+ *********************************************
+ * *
+ * Ein Geheimnis *
+ * *
+ * Lebensbild aus den Tagen Ludwigs XIV. *
+ * *
+ *********************************************
+
+
+
+
+ I.
+
+ In der Gasse Quincampoix.
+
+
+Wenn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten in dieser Welt
+tagtäglich geschehen, so muß man sich sehr wundern, daß es immerfort
+Leute gegeben hat und noch gibt, welche sich abmühten und abmühen,
+selbst seltsame Abenteuer zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen
+Nebenmenschen durch Schrift und Wort für Wahrheit aufzubinden. Die
+Leute, die solches tun, verfallen denn auch meistens -- wenn sie ihr
+leichtfertig Handwerk nicht ins Große treiben und was man nennt große
+Dichter werden, -- der öffentlichen Mißachtung als Flausenmacher und
+Windbeutel, und alle Vernünftigen und Verständigen, die sich durch ein
+ehrlich Handwerk ernähren, als wie Prediger, Leinweber und Juristen,
+Bürstenbinder, Ärzte, Schneider, Schuster und dergleichen, blicken mit
+mitleidiger Geringschätzung auf sie herab, und das mit Recht!
+
+So sage ich denn reu- und wehmütig _confiteor, confiteor; -- mea culpa,
+mea culpa!_ so beginne ich denn meine -- =wahre Geschichte=.
+
+Es war in dem durch die Seeschlacht von La Hogue für das Glück und den
+Glanz des französischen Königs und Volkes so unheilvollen Jahre 1692.
+Viel Not und Elend herrschte im Lande; in Guienne, Bearn, Languedoc und
+der Dauphinée starben die Menschen zu Tausenden vor Hunger; Bankerotte,
+greuliche Mordtaten, Aufstände waren an der Tagesordnung; -- es war, als
+wolle es abwärts gehen mit dem großen Louis. Es regnete, und der
+Novemberwind fuhr in kurzen Stößen scharf über die Stadt Paris und durch
+die Gasse Quincampoix, welche letztere gar wüst, schmutzig und
+verwahrlost ausschauete. Und sah die Gasse Quincampoix an diesem düstern
+Novembernachmittag häßlich aus, so gewährten die Menschen, welche sie
+bevölkerten, einen noch schlimmern Anblick. War es nicht, als ob das
+allgemeine Unglück jedem Gesicht seinen Stempel aufgedrückt habe? -- O
+wie verkommen erschien diese französische Nation, welche sich für die
+erste der Welt hielt.
+
+Vier Uhr schlug's, als ein junger Mensch von ungefähr achtundzwanzig
+Jahren, hager, bleichgelblich von Gesicht, schwarzhaarig, schwarzäugig,
+in luftigen, ärmlichen, schäbigen Kleidern, in der Gasse Quincampoix in
+die Kneipe zum Dauphinswappen trat, um seine letzten Sols an eine
+Mahlzeit zu wenden. =Stefano Vinacche= hieß dieser junge Mann; ein
+Neapolitaner war er von Geburt, ein Abenteurer vom reinsten Wasser. Als
+er in die Gargotte eintrat, herrschte in derselben ein wahrer
+Höllenlärm; ein Sergeant vom Regiment Villequier war mit einem Kornet
+vom Regiment Ruffey über dem Spiele in Streit geraten, ein
+Perückenmacher zankte mit einem Lakaien der Prinzessin von Conti über
+die Frage: ob es recht sei, daß Monsieur de Pomponne, der
+Staatsminister, so viel einzunehmen habe, als ein Prinz von Geblüt; --
+andere Gäste unterhielten sich über andere Gegenstände mit so viel Lärm
+als möglich. Im Hinterzimmer, welches an die Kneipstube grenzte, war ein
+äußerst hitziger Wortkampf ausgebrochen zwischen dem Wirt zum
+Dauphinswappen, Claude Bullot, und seiner hübschen galanten Tochter, --
+kurz, alles ging drunter und drüber, und nur Margot die Kellnerin, eine
+Picarde, bewahrte ihren Gleichmut, blickte vom Kamin aus mit
+untergeschlagenen Armen in das Getümmel und gab Achtung, daß dem
+Sergeanten und dem Kornet jede zerbrochene Flasche, jedes zertrümmerte
+Glas richtig angekreidet wurden. Margot die Picarde wußte, daß im
+Notfall die Marechaussée in der Gaststube alles schon ins Gleichgewicht
+bringen würde, und was im Hinterzimmer vorging, zwischen ihrem Herrn und
+der Mademoiselle, machte ihr das höchste Vergnügen. --
+
+Am Kamin legte Margot die Picarde dem Neapolitaner das Kuvert, und der
+Fremde war allzu ausgehungert und allzu naß, um anfangs an etwas anderes
+zu denken, als den Hunger aus dem Magen und die Kälte aus den übrigen
+Gliedern zu verjagen. Ruhig setzte er sich auf den ihm angewiesenen
+Platz, aß und trank, trocknete seine Kleider, bis er allgemach wieder
+auflebte und fähig wurde, seine Aufmerksamkeit den Vorgängen in seiner
+Umgebung zuzuwenden. Der Sergeant vom Regiment Villequier erhielt
+richtig einen Degenstoß in die Schulter, verhaftet wurde darüber der
+Kornet vom Regiment Ruffey; die Bürger, Lakaien, Diebe und Tagediebe
+zerstreuten sich mit einbrechender Dämmerung, um sich vor der Dunkelheit
+zu retten, oder in der Dunkelheit ihren lichtscheuen Geschäften
+nachzugehen. Es wurde still in der Gargotte, nur im Hinterzimmer konnte
+man sich immer noch nicht beruhigen. In der Tür, welche auf die Gasse
+führte, stand die Kellnerin Margot und blickte in den Regen und die
+Nacht hinaus, das Feuer im Kamine prasselte und knatterte und warf
+seinen roten Schein über die Tische und Bänke des weiten Gemaches, die
+trübe Hängelampe qualmte an der geschwärzten Decke; niemand störte jetzt
+mehr den jungen Neapolitaner in seinen trüben Gedanken. Mechanisch
+klimperte er mit den wenigen Geldstücken in seiner Tasche; -- was sollte
+er beginnen, um nicht Hungers zu sterben, um nicht in den Gassen dieses
+schmutzigen, kalten, stinkenden Paris zu erfrieren? »O Neapel, Neapel!«
+seufzte Stefano Vinacche.
+
+Jawohl, etwas anderes war es, eine Nacht obdachlos am Strande des
+tyrrhenischen Meeres, ein anderes, eine Nacht obdachlos am Ufer der
+Seine zuzubringen. Eine Art stumpfsinniger Schlaftrunkenheit überkam den
+jungen Italiener, seine Augen schlossen sich unwillkürlich, und immer
+dumpfer und verworrener vernahm er das Schluchzen der Mademoiselle
+Bullot und die kreischende Stimme des zornigen Vaters.
+
+Aber was war das? Plötzlich schwand jedes Zeichen von Ermüdung, von
+Erschöpfung an dem Italiener. Vorgebeugt saß er auf seinem Stuhle und
+horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach der Tür hin, welche in
+das Hinterzimmer führte. Das Wechselgespräch zwischen Vater und Tochter
+war dem Fremden auf einmal interessant geworden durch einen Namen, der
+soeben mehrere Male darin vorgekommen war.
+
+Immer gespannter horchte Vinacche.
+
+Hatte nicht Meister Claude Bullot, ehe ihm Monseigneur der Herzog von
+Chaulnes die Kneipe zum Dauphinswappen einrichtete, als Seifensieder
+Bankerott gemacht?
+
+War nicht Mademoiselle Bullot ein reizendes Schätzchen, dem man schon
+etwas zu Gefallen tun konnte?
+
+Hoch spitzte Stefano Vinacche die Ohren beim Namen des Herzogs von
+Chaulnes.
+
+»Oho, Stefano, solltest du da unvermutet in den Honigtopf gefallen sein?
+Oho, Glück geht immer über Verstand, -- _va' piu un' oncia di fortuna,
+che una libra di sapere_. Achtung, Achtung, Vinacche!«
+
+Mancherlei sprach der Vater im Hinterzimmer der Kneipe zum Wappen des
+Dauphins. Mancherlei sprach das Töchterlein dagegen; immer fröhlicher
+rieb sich Stefano die Hände, bis endlich die Verbindungstür mit Macht
+aufgerissen wurde und Mademoiselle -- _éplorée_ in das Schenkzimmer
+stürzte. Hinter ihr erschien der zornige Papa, einen zusammengedrehten
+Strick in der Hand:
+
+»Warte, Kreatur!«
+
+Stefano Vinacche wußte schon längst, was er zu tun hatte. Er warf sich
+auf den ergrimmten Gargottier und packte seinen erhobenen Arm.
+
+»Monsieur?!«
+
+»Monsieur!«
+
+»Laßt mich frei! was fällt Euch ein?«
+
+»Ich leid's nicht, daß Ihr Mademoiselle mißhandelt; -- tretet hinter
+mich, Mademoiselle!«
+
+»Margot, Margot!« rief endlich der Wirt zum Dauphinswappen.
+
+Margot erschien, stemmte aber nur die Arme in die Seite und sah der
+Szene zu, ohne ihrem Herrn zu Hilfe zu kommen.
+
+»Haltet ihn, um Gottes willen, haltet ihn, er wird mich ermorden, wenn
+Ihr ihn freilaßt!« rief Mademoiselle Bullot.
+
+»Seid ruhig, Schönste; er soll Euch nichts zuleide tun. Pfui, schämt
+Euch, Monsieur, wie könnt Ihr eine liebenswürdige Tochter also
+behandeln?«
+
+»Ich frage Euch zum letztenmal, wollt Ihr mich loslassen?«
+
+»In Ewigkeit nicht, wenn Ihr mir nicht den Strick gebt, Signor, und
+versprecht artig zu sein gegen die Damen, Signor!«
+
+»Morbleu!« schrie der Wirt zum Dauphinswappen, und der Himmel weiß, was
+geschehen wäre, wenn nicht der Eintritt eines in einen Mantel
+gewickelten Mannes der Szene ein Ende gemacht hätte.
+
+Der Mantel fiel zur Erde, und Wirt und Töchterlein und Kellnerin und
+Italiener riefen mit einer Stimme:
+
+»Monseigneur!«
+
+Der Eingetretene war Karl d'Albert, Herzog von Chaulnes, Pair von
+Frankreich, Vidame von Amiens, ein ältlicher Mann, dem man den »großen
+Herrn« nicht im mindesten ansah, woran der bürgerliche Anzug durchaus
+nicht schuld war; ein Mann, von welchem einige Jahre später ein
+deutscher Schriftsteller sagte: »Er erwartet den Tod mitten in seinen
+Vergnügungen; er ist freigebig ohne Unterschied und von einem sehr
+abgenutzten Gehirne.«
+
+»Holla, das geht ja lustig her!« rief der Herzog. »_Notre Dame de
+Miracle_, und auch Vinacche dabei! Sagt mir um aller Teufel willen --«
+
+Mademoiselle Bullot ließ ihn nicht aussprechen; sie eilte auf den hohen
+Herrn zu und -- warf sich an seinen Hals, schluchzend, Gift und Galle
+speiend:
+
+»Monseigneur, ich halt's nicht mehr aus; Monseigneur, errettet mich aus
+den Händen meines Vaters! Wäre dieser edle junge Mann eben nicht
+dazwischen gekommen, er hätte mich gewißlich zu Tode geschlagen.«
+
+»Wieder das alte Lied? Bullot, Bullot, ich frage Euch um Gottes willen,
+glaubt Ihr in der Tat, ich habe Euch Eurer roten Nase wegen zum
+Eigentümer dieses Dauphinswappens gemacht? Ich sage Euch, auf den Knieen
+solltet Ihr Eure liebenswürdige Tochter verehren; -- _notre Dame de
+Miracle_, ich sage Euch zum allerletzten Male, behandelt Mademoiselle,
+wie es sich ziemt, oder --«
+
+»O Monseigneur!« flehte Meister Claude, welcher seinen Strick längst
+ganz verstohlen in den Winkel geworfen hatte und katzenbuckelnd so
+gemein und niederträchtig aussah, wie man unter der Regierung des
+großen Louis nur aussehen konnte. »O Monseigneur, ich versichere Euch,
+=sie= hat's darauf abgesehen, ihren unglückseligen Vater in ein
+frühzeitig Grab zu bringen. Monseigneur, Ihr kennt sie nur von der einen
+Seite; aber ich -- o Monseigneur!« --
+
+»Still! Ihr seid ein Schurke, und Mademoiselle ist ein Engel! --
+beruhige dich, Kind --«
+
+»Monseigneur, er ist zu boshaft. Monseigneur, wenn Ihr mich wirklich
+liebt, so laßt mich nicht in seiner Gewalt.«
+
+»Ruhig, ruhig, süßes Kind. Was ist denn nur eigentlich vorgefallen?«
+
+Ja, was war vorgefallen?
+
+Eine Zungenfertigkeit sondergleichen entwickelten Mademoiselle Bullot
+und Meister Claude Bullot gegeneinander, doch haben wir mit dem
+Ausgangspunkte des Streites nicht das mindeste zu schaffen und brauchen
+nur zu sagen, daß der Herzog von Chaulnes, obgleich er im Grunde seines
+Herzens dem erzürnten Papa recht geben mußte, in Anbetracht seiner
+zarten Stellung zu Mademoiselle sich auf deren Seite stellte. Sehr
+ärgerlich war der Herzog von Chaulnes! In äußerst lebendiger Stimmung
+war er durch die Gasse Quincampoix zum Dauphinswappen geschlichen, nun
+fand er statt Ruhe und Behagen, Unzufriedenheit und Streit; wo er
+Lächeln und Lachen erwartet hatte, mußte er Tränen trocknen; -- _notre
+Dame de Miracle_, es war zu ärgerlich!
+
+»Etienne,« sagte der Herzog zu Vinacche, »Etienne, ich bin dieses Lärms
+müde; ich will nach Haus und du magst mit mir kommen. Meister Claude,
+ich versichere Euch meiner gnädigsten Ungnade! Mademoiselle, Eure
+rotgeweinten Augen betrüben mich sehr -- gute Nacht, Mademoiselle --
+dazu zweihundert Louisdor im Landsknecht verloren -- kommt, Etienne
+Vinacche, Ihr mögt mit mir zum Hotel fahren, ich habe Euch etwas zu
+sagen; ich habe eine Idee!«
+
+Vergebens hing sich Mademoiselle Bullot an den Arm des Herzogs mit den
+süßesten Schmeicheleien und Liebkosungen. Er machte sich los, streckte
+dem niedergeschmetterten Wirt zum Dauphinswappen eine Faust entgegen,
+ließ sich von Vinacche den Mantel wieder um die Schultern legen und
+verließ, im höchsten Grade mißmutig gestimmt, mit seiner »Idee« die
+Gargotte, in welcher nach seinem Abzuge der Tanz zwischen Vater und
+Tochter von neuem anging, doch diesmal mit allem Vorteil auf Seiten von
+Mademoiselle. Meister Claude Bullot sah ein, daß er ein Esel -- ein
+gewaltiger Esel war; demütig kroch er zu Kreuze und nahm jede Injurie,
+welche ihm das Töchterlein an den Kopf warf, mit gekrümmtem Rücken in
+Empfang.
+
+Unterdessen wateten mühsam der Herzog und der Italiener durch den
+Schmutz und die Gefahren der Gassen von Paris, bis sie an einer Ecke zu
+der harrenden Karosse des Herzogs gelangten. Mit tiefen Bücklingen riß
+der Lakai den Wagenschlag auf.
+
+»Steig hinten auf, Etienne; ich habe mit dir zu reden,« sagte der Herzog
+und warf sich in die Kissen seiner Kutsche.
+
+»Achtung, Stefano, jetzt mag's in deinen Topf regnen!« murmelte der
+schlaue Neapolitaner, und schwerfällig setzte sich die Karosse in
+Bewegung.
+
+
+
+
+ II.
+
+ Gold.
+
+
+Während vor dem flackernden Kaminfeuer in seinem Hotel der Herzog von
+Chaulnes dem obdachlosen Vagabunden Stefano Vinacche den annehmbaren
+Vorschlag tut, Mademoiselle Bullot, das liebenswürdige Erzeugnis der
+Gasse Quincampoix, zu -- heiraten und dadurch nicht nur sich selbst,
+sondern auch Monseigneur aus mancherlei ärgerlichen Verdrießlichkeiten
+des Lebens herauszureißen, wollen wir erzählen, wer Stefano Vinacche
+eigentlich war. Im Jahre 1689 war der junge Neapolitaner als Lakai im
+Gefolge des Herzogs, dem er zu Rom mancherlei Dienste kurioser Art
+geleistet haben mochte, nach Frankreich gekommen, ohne jedoch in diesem
+Lande anfangs die Träume, welche ihm seine südliche Phantasie
+vorspiegelte, zu verwirklichen. Es wird uns nicht gesagt, was ihn im
+folgenden Jahre schon aus dem Dienste seines Gönners trieb, und ihn
+bewog, sich als gemeiner Soldat in das Regiment Royal-Roussillon
+aufnehmen zu lassen. Wir wissen nur, daß er im Jahre 1691 dem
+Regimentsschreiber Nicolle, seinem Schlafkameraden, einige
+Offiziersuniformen, welche derselbe ausbessern sollte, stahl und mit
+ihnen desertierte, welches Wagestück aber fast übel abgelaufen wäre. Auf
+dem Wege nach Paris, der Stadt, nach welcher von jeher eine dumpfe
+Ahnung künftiger Geschicke das seltsame Menschenkind trieb, gefangen und
+als Fahnenflüchtiger ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt,
+entging er nur durch Verwendung des Grafen von Auvergne dem Galgen. Im
+nächsten Jahre in Freiheit gesetzt, machte sich Stefano Vinacche von
+neuem auf den Weg nach Paris, und haben wir seiner Ankunft in der
+Gargotte zum Wappen des Dauphins in der Gasse Quincampoix soeben
+beigewohnt. --
+
+Ei, wie wunderlich, wunderlich spinnt sich ein Menschenleben ab! Wir
+armen blinden Leutlein auf diesem Erdenballe wandern freilich in einem
+dichten Nebel, der sich nur zeitweilig ein wenig hier und da lüftet, um
+im nächsten Augenblicke desto dichter sich wieder zusammenzuziehen. Wir
+getriebenen und treibenden Erdbewohner haben freilich nur eine dumpfe
+Ahnung von dem, was im Getümmel ringsumher vorgeht. Warum sollten wir
+uns auch in der kurzen Spanne Lebenszeit, die uns gegeben ist, viel um
+andere Leute bekümmern, da wir doch so viel mit uns selbst zu tun haben?
+Über allen Nebeln ist Gott; der mag zusehen, daß alles mit rechten
+Dingen zugeht; der mag acht geben, daß sich der Faden der Geschlechter,
+welchen er durch die Jahrtausende von dem Erdknäuel abwickelt, nicht
+verwirrt. Nur weil sie abgewickelt werden, drehen sich Sonne, Mond,
+Sterne; -- von jeder leuchtenden Kugel läuft ein Faden zu dem großen
+Knäuel in der Hand Gottes, zu dem großen letzten Knäuel, in welchem
+jeglicher Knoten, der unterwegs entstanden sein mochte, gelöst sein
+wird, in welchem alle Fäden nach Farben und Feinheit harmonisch sich
+zusammenfinden werden.
+
+Da ist solch ein Knötlein im Erdenfaden! wir finden es in unsrer
+Erdgeschichte am Ende des siebenzehnten und Anfang des achtzehnten
+Jahrhunderts nach Jesu Geburt, wo viel Sünde, Schande und Verderbnis
+sich häßlich ineinander schlingen, wo Krieg und Sittenlosigkeit das
+abscheulichste Bündnis geschlossen haben, daß das jetzige Gechlecht
+schaudernd darob die Hände über dem Kopfe zusammenschlägt.
+
+Der Erzähler aber, des letzten großen knotenlosen Knäuels in der Hand
+Gottes gedenkend, schlägt nicht die Hände über dem Kopfe zusammen; --
+den Handschuh hat er ausgezogen, mutig in die Wüstenei hineingegriffen,
+einen längst begrabenen, vermoderten, vergessenen Gesellen
+hervorgezogen. Da ist er -- =Stefano Vinacche= -- späterhin Monsieur
+Etienne de Vinacche, großer Arzt, berühmter Chemiker, -- Goldmacher,
+nächst Samuel Bernard der reichste Privatmann seiner Zeit!...
+
+»Also Etienne,« sprach der Herzog von Chaulnes zu dem halb verhungerten,
+obdachlosen Vagabunden, »eine allerliebste Frau und eine vortreffliche
+Aussteuer....«
+
+»_Servitore umilissimo!_«
+
+»Und, Etienne, eine Empfehlung an meinen Freund, den Herzog von Brissac.
+Ihr geht nach Anjou, -- lebt auf dem Lande, wie die Engel _à la Claude
+Gillot_, -- ich besuche Euch -- stehe Gevatter --«
+
+»Ah!« machte der Italiener mit einer unbeschreiblichen Bewegung des
+ganzen Oberkörpers.
+
+»_Plait-il?_«
+
+»O nichts, Monseigneur!« sagte der Italiener. »Ihr seid mein
+gnädigster, gütigster Herr und Gebieter.« Er machte eine Verbeugung bis
+auf den Boden.
+
+»Wann soll die Hochzeit sein, Monseigneur?«
+
+»So schnell als möglich -- ach!«
+
+»Monseigneur seufzt?!« rief Stefano schnell. »Noch ist's Zeit, daß
+Monseigneur Sein Wort zurücknehme; Mademoiselle Bullot ist ein reizendes
+Mädchen; aber wenn Monseigneur die hohe Gnade haben wollte, mich wieder
+zu seinem Kammerdiener zu machen --«
+
+»Nein, nein, nein, es bleibt dabei, Vinacche; Ihr heiratet die Schöne,
+und ich -- _ah notre Dame de Miracle_ -- ich will hingehen und sorgen,
+daß Madame von Maintenon und der Pater La Chaise davon zu hören
+bekommen. Also geht, Vinacche; bis zur Hochzeit gehört Ihr wieder zu
+meinem Haus. Der Intendant soll für Euch sorgen.«
+
+»Monseigneur ist der großmütigste Herr der Welt!« rief Vinacche, dem
+Herzog die Hand küssend. Unter tiefen Bücklingen schritt er rücklings
+zur Tür hinaus, und tief seufzend blickte ihm sein Gönner nach.
+
+Als sich die Tür hinter dem Italiener geschlossen hatte, murmelte
+dieser: »_Corpo di Bacco_, Achtung, Achtung, Vinacche, Stefano mein
+Söhnchen! Halte die Augen offen, mein Püppchen! Ist's mir nicht
+versprochen bei meiner Geburt, daß ich vierspännig fahren sollte in der
+Hauptstadt der Franzosen?!«
+
+Drinnen rieb sich der Herzog die Stirn und ächzte:
+
+»Ach, Madame von Maintenon ist eine große Dame! _Vive la messe!_«
+
+Acht Tage nach dem eben Erzählten war eine Hochzeit in der Gasse
+Quincampoix. Der Wirt zum Dauphinswappen Claude Bullot verheiratete zu
+seiner eigenen Verwunderung und zur Verwunderung sämtlicher Nachbaren
+und Nachbarinnen seine hübsche Tochter mit einem ganz unbekannten jungen
+Menschen, der nicht einmal ein Franzose war. Mancherlei Glossen wurden
+darüber gemacht, und allgemein hieß es, Mademoiselle Bullot sei eine
+Törin, welche nicht wisse, was man mit einem hübschen Gesicht und
+tadellosen Wuchs in Paris anfangen könne.
+
+Da aber Mademoiselle Bullot und Stefano Vinacche mit ziemlich vergnügten
+Mienen ihr Schicksal trugen, so mochten Papa und Nachbarschaft nach
+Belieben sich wundern, nach Belieben Glossen machen. Sämtliche
+Dienerschaft des Herzogs von Chaulnes verherrlichte die Hochzeit durch
+ihre Gegenwart; Flöten und Geigen erklangen in der Gargotte zum Wappen
+des Dauphins. Man sang, jubelte, trank auf das Wohl der Neuvermählten
+bis tief in die Nacht. Zuletzt artete das Gelage nach der Sitte der Zeit
+in eine wahre Orgie aus; blutige Köpfe gab's, und zum Schluß mußte der
+Polizeileutnant einschreiten und die ausgelassene Gesellschaft
+auseinander treiben. Am folgenden Tage machte das junge Paar sich auf
+den Weg zum Gouverneur von Anjou, dem Herzog von Brissac, einem »armen
+Heiligen, dessen Name nicht im Kalender steht«.
+
+Ein tüchtiges Schneegestöber wirbelte herab, als der Wagen der
+Neuvermählten hervorfuhr aus der Gasse Quincampoix. Auf der Schwelle
+seiner Tür stand der Vater Bullot mit der Kellnerin Margot, und beide
+blickten dem Fuhrwerk nach, so lange sie es sehen konnten. Dann zog der
+Wirt zum Dauphinswappen die Schultern so hoch als möglich in die Höhe
+und trat mit der Picarde zurück in die Schenkstube, welche noch deutlich
+die Spuren der Hochzeitsnacht an sich trug.
+
+»Alles in allem genommen, ist's doch ein Trost und ein Glück, daß ich
+sie los bin,« brummte der zärtliche Papa. »Es hätte noch ein Unglück
+gegeben; das war ja immer, als brenne der Scheuerlappen zwischen uns.
+Vorwärts, Margot! einen Kuß und an die Arbeit, mein Liebchen, auf daß
+das Haus rein werde.«
+
+Liebe Freunde, wer das Leben Stefano Vinacches beschreibt, der muß recht
+acht geben, daß er seinen Weg im Nebel nicht verliere. Schattenhaft
+gleitet die Gestalt des Abenteurers vor dem Erzähler her, bald zu einem
+Zwerg sich zusammenziehend, bald riesenhaft anwachsend, gleich jener
+seltsamen Naturerscheinung, die den Wanderer im Gebirge unter dem Namen
+des Nebelgespenstes erschreckt. Bald klarer, bald unbestimmter tritt
+Stefano Vinacche aus den Berichten seiner Zeitgenossen uns entgegen. Wir
+wissen nicht, was ihn mit seiner Frau so schnell aus Anjou nach Paris
+zurücktrieb; wir wissen nur, daß am neunten April 1693, an dem Tage, an
+welchem Roger von Rabutin, Graf von Bussy, sein wechselvolles Leben
+beschloß, der Papa Bullot in höchster Verblüffung die Hände über dem
+Kopfe zusammenschlug, als er Tochter und Schwiegersohn zu Fuß,
+kotbespritzt, mit höchst winziger Bagage, durch die Gasse Quincampoix
+auf das Dauphinswappen zuschreiten sah. Der gute Alte traute seinen
+Augen nicht und überzeugte sich nicht eher von der Wirklichkeit dessen,
+was er erblickte, bis ihm Madame Vinacche schluchzend um den Hals fiel,
+und Stefano ihn herzzerbrechend anflehte, ihn und sein Weib für eine
+Zeit wieder unter sein Dach zu nehmen.
+
+»Wir wollen auch recht artige Kinder sein!« bat Madame Vinacche.
+
+»Und wir werden nicht lange Euch zur Last sein!« rief Stefano.
+
+»_Diable! diable!_« ächzte Meister Claude Bullot, und Margot, die
+Picarde, gab ihm verstohlen einen Rippenstoß, daß er fest bleibe und
+sich nicht beschwatzen lasse.
+
+Wer hätte aber den beredten Worten Stefano Vinacches widerstehen können?
+Das Ende vom Liede war, daß das junge Ehepaar mit seinen armen
+Habseligkeiten einzog in die Kneipe zum Dauphinswappen, und daß Meister
+Bullot und Margot, die Kellnerin, nachdem Madame Vinacche die Schwelle
+überschritten hatte, seufzend sich in das Unvermeidliche fügten.
+
+»Ach, Margot, Margot, nun sind die schönen Tage wieder vorüber!« seufzte
+Meister Claude, und während die Heimgekehrten im oberen Stockwerk des
+Hauses ihre Einrichtungen trafen, saßen am Kamin in der leeren
+Schenkstube der Wirt und seine Kellnerin trübselig einander gegenüber
+und konnten sich nur durch das weise Wort, daß man das Leben nehmen
+müsse, wie es komme, -- trösten. Dann schlossen die beiden Parteien
+einen Kompromiß, in welchem festgestellt wurde, daß weder Monsieur
+Etienne noch Madame in die Angelegenheiten des Papas und der Kellnerin
+Margot sich mischen sollten, und daß sie durch ihnen passend scheinende
+Mittel für ihrer Leiber Nahrung und Kleidung selbst zu sorgen hätten.
+Wohnung, Licht und Feuerung versprachen Meister Bullot und Margot die
+Picarde zu liefern.
+
+Feierlich wurde dieser Vertrag von einem Stammgast der Gargotte, dem
+Sieur Le Poudrier, einem Winkeladvokaten, verbrieft und besiegelt, und
+man lebte fortan miteinander, wie man konnte.
+
+Da der Herzog von Chaulnes seine Verpflichtungen gegen das junge Ehepaar
+glänzend abgetragen zu haben glaubte, so floß die Quelle seiner Gnaden
+immer spärlicher und versiegte zuletzt ganz. Die Haushaltung im zweiten
+Stockwerk des Dauphinswappens mußte für Eröffnung anderer Geldquellen
+sorgen, zumal da noch im Laufe des Sommers ein kleiner Vinacchetto das
+Licht der Gasse Quincampoix erblickte. Die Not und der Zug der Zeit
+machten Stefano zu einem Charlatan; aber jedenfalls zu einem genialen
+Charlatan.
+
+»_Anima mia_, laß den Mut nicht sinken, wir fahren doch noch
+vierspännig!« sagte er zu seiner hungernden Frau und fing an, den
+Nachbarn und Nachbarinnen, sowie den Gästen, welche die Gargotte seines
+Schwiegervaters besuchten, Mittel gegen das Fieber und andere
+unangenehme Übel zu verkaufen.
+
+Allmählich verwandelte sich das Wohngemach der kleinen Familie in ein
+schwarzangeräuchertes chemisches Laboratorium; mit wahrer Leidenschaft
+warf sich Stefano Vinacche, obgleich er bis an sein Ende weder lesen
+noch schreiben lernte, auf das Studium der Simpla und der Mineralien.
+
+Eine gewaltige Veränderung ging mit dem seltsamen Menschen vor; -- nicht
+mehr war er der vagabondierende Abenteurer, der das Glück seines Lebens
+auf den Landstraßen, in den Gassen suchte. Tag und Nacht schritt er
+grübelnd einher, das Haupt zur Brust gesenkt, die Arme über der Brust
+gekreuzt. Wer konnte sagen, was er suchte?
+
+Eine fast ebenso überraschende Veränderung kam über das junge Weib
+Vinacches. Die frühere Mätresse des Herzogs von Chaulnes verehrte den
+ihr aufgedrungenen Mann auf den Knien, sie war die treuste, liebendste
+Gattin geworden, und ist es über den Tod Stefanos hinaus geblieben.
+
+=Sie= konnte lesen, =sie= konnte schreiben: --wie viele alte vergilbte
+Bouquins hat sie dem suchenden Forscher, in stillen Nächten, während sie
+ihr Kind wiegte, vorgelesen!
+
+Der Vater Bullot hatte nicht mehr Ursache, sich über das wilde,
+unbändige Gebaren seiner Tochter zu beklagen. Die eigentümliche Gewalt,
+welche Stefano Vinacche späterhin über die schärfsten, klarsten Geister
+hatte, trat auch jetzt in der engeren Sphäre schon bedeutend hervor.
+Papa Claude, Margot die Picarde, Gratien Le Poudrier der Rabulist, alle
+Nachbaren und alle Nachbarinnen beugten sich dem schwarzen, funkelnden
+Auge Stefanos. Der Stein war ins Wasser gefallen, und die Wellenringe
+liefen in immer weitern Kreisen fort; -- weit, weit über die Gasse
+Quincampoix hinaus verbreitete sich der Ruf Stefano Vinacches!
+
+Unterdessen schlug man sich in Deutschland, Flandern, Spanien, Italien
+und auf der See. In Deutschland verbrannte Melac Heidelberg, und der
+Feldmarschallleutnant von Hettersdorf, der »die _poltronnerie_ seines
+Herzens mit großen _Peruquen_ und bebremten Kleidern zu bedecken
+pflegte«, -- Hettersdorf, der elende Kommandant der unglücklichen Stadt,
+wurde auf einem Schinderkarren durch die Armee des Prinzen Ludwig von
+Baden geführt, nachdem ihm der Degen vom Henker zerbrochen worden war.
+Aus Flandern schickte der Marschall von Luxemburg durch d'Artagnan die
+Nachricht vom Sieg bei Neerwinden. Roses in Katalonien wurde erobert. Zu
+Versailles, zu Paris in der Kirche unserer lieben Frau sang man _Te Deum
+laudamus_; aber im Bischoftum Limoges starben gegen zehntausend Menschen
+Hungers. Zu Lyon wie zu Rouen fiel das Volk in den Gassen wie Fliegen,
+und ihrer viel fand man, welche den Mund voll Gras hatten, ihr elendes
+Leben damit zu fristen.
+
+Stefano Vinacche, nach einer Reise in die Bretagne, verließ die Gasse
+Quincampoix und das Haus seines Schwiegervaters und zog in die Gasse
+Bourg l'Abbé. Strahlend brach die Glückssonne Stefanos durch die Wolken.
+Fünf Monate war er in der Bretagne gewesen, und niemand hat jemals
+erfahren, was er dort getrieben, -- gesucht, -- gefunden hat! Zu Fuß
+zog er aus, in einer zweispännigen Karosse kehrte er zurück. Zwei
+Lakaien und ein Kammerdiener bedienten ihn in der Straße Bourg l'Abbé,
+wohin er aus der Gasse Quincampoix zog. Von neuem errichtete er in
+seiner jetzigen Wohnung seine chemischen Feuerherde, von neuem braute er
+seine Rezepte, und das Gerücht ging aus, Monsieur Etienne Vinacche suche
+den Stein der Weisen, und es sei Hoffnung vorhanden, daß er denselben
+binnen kurzem finden werde; und wieder tritt dem Erzähler der alte
+Gönner des unbegreiflichen Mannes, der Herzog von Chaulnes, entgegen,
+welcher ihm zum Ankauf von Kohlen, Retorten und dergleichen Apparaten
+zweitausend Taler gibt.
+
+Im Jahr der Gnade Eintausendsiebenhundert war das große Geheimnis
+gefunden; -- Stefano Vinacche hatte das Projektionspulver hergestellt,
+Etienne Vinacche machte --
+
+ =Gold!=
+
+In demselben Jahre Eintausendsiebenhundert kaufte =Monsieur de Vinacche=
+aus dem Inventar von Monsieur, dem Bruder des Königs, für sechzigtausend
+Livres Diamanten.
+
+
+
+
+ III.
+
+ Glück und Glanz.
+
+
+Wir schauen wie in ein Bild von Antoine Watteau durch das zarte
+frühlingsfrische Blätterwerk zu Coubron -- fünf Meilen von Paris -- wo
+Monsieur Etienne de Vinacche auf seinem reizenden Landsitze ein
+glänzendes Fest gibt. Die untergehende Maisonne des Jahres
+Siebzehnhunderteins übergießt die Landschaft mit rosigem Schein; --
+Lachen und Kosen und Flüstern des jungen Volkes ertönt im Gebüsch;
+geputzte ältere Herren und Damen durchwandeln gravitätisch die
+gradlinigen Gänge des Parkes. Karossen und Reitpferde mit ihrer
+Begleitung von Kutschern, Lakaien und Läufern halten vor dem vergoldeten
+Gittertor; Monsieur de Vinacche und seine Frau sind eben im Begriff, von
+einem Teil ihrer Gäste, der nach Paris oder den umliegenden Landhäusern
+zurückkehren will, Abschied zu nehmen.
+
+Die Dame Rochebillard, die Geliebte Tronchins, des ersten Kassierers
+Samuel Bernards, des »_fils de Plutus_«, -- wird von Madame de Vinacche
+zu ihrer Kutsche geleitet; Monsieur Etienne befindet sich im eifrigen
+Gespräch mit einem jungen Edelmann, dem Sieur de Mareuil. Für
+fünftausend Livres will Vinacche dem Herrn von Mareuil einen
+konstellierten Diamant, vermöge dessen man immerfort glücklich spielen
+soll, anfertigen. Ein wenig weiter zurück unterhalten sich die beiden
+reichen Bankiers van der Hultz, der Vater und der Sohn, mit Herrn
+Menager, _Sécrétaire du Roi_ und Handelsdeputierten von Rouen; -- auf
+einem Rasenplatz tanzen einige junge Paare nach den Tönen einer Schalmei
+und eines Dudelsacks ein Menuett; bunte Diener tragen Erfrischungen
+umher, für die abfahrenden Gäste erscheinen andere; der Chevalier von
+Serignan, Monsieur Nicolaus Buisson, der Sieur Destresoriers, Edelleute
+von der Robe, Edelleute vom Degen, Finanzleute, Beamte und so weiter mit
+ihren Frauen und Töchtern, allgesamt angezogen von dem Glanz, der Pracht
+und dem großen Geheimnis des einstigen neapolitanischen Bettlers Stefano
+Vinacche.
+
+Hat sich aber um Mitternacht dieser Schwarm der Gäste verloren, so
+erscheinen andere Gestalten. Aus verborgenen Schlupfwinkeln tauchen
+Männer auf, finstere bleiche Männer mit zusammengezogenen Augenbrauen
+und rauhen, rauchgeschwärzten Händen. Da ist Konrad Schulz, ein
+Deutscher, den Herr von Pontchartrain später verschwinden läßt, ohne daß
+man jemals wieder von ihm hört. Da sind Dupin und Marconnel,
+hocherfahren in der geheimen Kunst. Da ist Thuriat, ein wackerer
+Chemiker; da ist ein anderer Italiener, Martino Polli. Geheimnisvolle
+Wagen, von geheimnisvollen Fuhrleuten begleitet, langen an und fahren
+ab, und Säcke werden abgeladen und aufgeladen, die, wenn sie die Erde
+oder einen harten Gegenstand berühren, ein leises Klirren, als wären sie
+mit Goldstücken gefüllt, von sich geben, geheimnisvolle Feuer in
+geheimnisvollen Öfen flammen auf, -- Wacht hält Madame de Vinacche, daß
+die nächtlichen Arbeiter nicht gestört werden in ihrem Werke.
+
+Hüte dich, Stefano Vinacche! Im geheimen Staatsrat zu Versailles hat man
+von dir gesprochen: Monsieur Pelletier von Sousy, der Intendant der
+Finanzen, hat den Mann mit dem Kopf voll böser Anschläge, hat Monsieur
+d'Argenson aufmerksam auf dich gemacht.
+
+Hüte dich, Stefano Vinacche! --
+
+Wer klopft in dunkler Nacht an das Hinterpförtchen des Landhauses zu
+Coubron?
+
+Salomon Jakob, ein Jude aus Metz, welcher die Verbindung des
+»Unbegreiflichen« mit Deutschland vermittelt.
+
+Wer klopft in dunkler Nacht an die Pforte des Landhauses zu Coubron?
+
+Franz Heinrich von Montmorency-Luxemburg, Pair und Marschall von
+Frankreich, welchen Stefano Vinacche die Kunst lehren soll, den Teufel
+zu beschwören.
+
+In dunkler Nacht fährt nach Coubron der Herzog von Nevers, um sich in
+die geheimen Wissenschaften einweihen zu lassen.
+
+In dunkler Nacht fährt nach Coubron Karl d'Albert, Herzog von Chaulnes,
+und Madame de Vinacche empfängt ihn in brokatnen Gewändern, geschmückt
+mit einer Cordeliere und einem Halsband im Wert von sechstausend Livres.
+
+»_Notre Dame de Miracle_, wie habe ich für Euer Glück gesorgt,
+Allerschönste!« sagt der Herzog von Chaulnes, und die Tochter des Wirts
+zum Dauphinswappen verbeugt sich mit dem Anstand einer großen Dame und
+führt den hohen Gast und Gönner in ihren Salon, welcher den Vergleich
+mit jedem andern zu Paris aushält.
+
+Stefano Vinacche trägt nicht mehr sein eigenes Haar; eine wallende
+gewaltige Lockenperücke bedeckt sein kluges Haupt. Mit feiner Ironie
+sagt er, in den wallenden Stirnlocken dieser seiner Perücke halte er
+seinen _Spiritus familiaris_, sein »_folet_« verborgen und gefesselt.
+
+»_Notre Dame de Miracle_, Ihr seid ein großer Mann, Etienne!« sagt der
+Herzog von Chaulnes, und der Hausherr von Coubron verbeugt sich
+lächelnd:
+
+»O Monseigneur!«
+
+»Ja, ja, wer hätte das gedacht, als ich Euch in Italien von der
+Landstraße aufhob? Wer hätte das gedacht, als ich Euch durch den Grafen
+von Auvergne vom Galgen errettete; -- Vinacche, Ihr müßt mir sehr
+dankbar sein.«
+
+Stefano legt die Hand auf das Herz.
+
+»Monseigneur, ich habe ein gutes Gedächtnis für empfangene Wohltaten.
+Glaubt nicht, daß das Glück und die errungene Wissenschaft mich stolz
+mache. Fragt meine Frau, was gestern geschehen ist.«
+
+»Wahrlich, Monseigneur, es war eine tolle Szene. Stellt Euch vor, es
+befindet sich gestern eine glänzende Gesellschaft bei uns, Monsieur
+Despontis, Monsieur von Beaubriant und viele andere, als ein abgelumpter
+Mensch Etienne zu sprechen verlangt. Die Diener wollten ihn abweisen;
+aber Etienne hört den Lärm und läßt den Vagabunden kommen. _Mon Dieu_,
+was für eine Szene!«
+
+»Nun?!«
+
+»Nicolle war's, gnädigster Herr! Nicolle, meines Mannes Kamerad aus dem
+Regiment Royal-Roussillon!«
+
+»Oh, oh, oh! ah, ah, ah!« lacht der Herzog. »Dem Wiederfinden hätt' ich
+beiwohnen mögen. Das muß in der Tat eine eigentümliche Überraschung
+gegeben haben.«
+
+»Ich fiel in Ohnmacht, und Etienne -- fiel dem Vagabunden um den
+Hals --«
+
+»Und die Gesellschaft?«
+
+»Stand in starrer Verwunderung! Es war ein tödlicher Augenblick,« ruft
+Madame de Vinacche klagend, doch Etienne sagt:
+
+»Ich hatte dem Manne einst ein schweres Unrecht zugefügt, jetzt war mir
+die Gelegenheit gegeben, es wieder gutzumachen, und ich benutzte diese
+Gelegenheit.«
+
+»_Notre Dame de Miracle_, ich werde der Frau von Maintenon diese
+Geschichte erzählen. Ihr seid ein braver Gesell, Etienne. Ah, oh, _ou la
+vertu va-t-elle se nicher_? wie Monsieur Molière sagt, -- sagt er nicht
+so?«
+
+»Ich glaube, gnädiger Herr,« meint Vinacche, die Achsel zuckend, und
+setzt hinzu, als eben jemand an die Tür des Salons mit leisem Finger
+klopft: »Da kommt Konrad, uns zum Werk zu holen. Wenn es also beliebt,
+Monseigneur, so können wir unsere Arbeit von neuem aufnehmen; Zeit und
+Stunde sind günstig, jeder Stern steht an seinem rechten Platz, und gute
+Hände schüren die Flamme!«
+
+In die geöffnete Tür schaut das finstere Gesicht des deutschen Meisters
+Konrad Schulz:
+
+»Es ist alles bereit!«
+
+»Wir kommen!« sagt der Herzog von Chaulnes, mit zärtlichem Handkuß von
+Madame Vinacche Abschied nehmend. In das chemische Laboratorium herab
+schreiten die Männer.
+
+Um den schwarzen Herd stehen regungslos die Gehilfen des großen
+Goldmachers. Atemlos verfolgt der Herzog jede Bewegung des Alchymisten.
+
+Der Meister arbeitet!
+
+Tiegel voll Salpeter, Antimonium, Schwefel, Arsenik, Qecksilber gehen
+von Hand zu Hand. Die Phiole mit dem »Sonnenöl« reicht Martino Polli,
+das Blei bringt Konrad Schulz zum Fluß; -- der große Augenblick ist
+gekommen. Aus einem Loch in der schwarzen feuchten Mauer ringelt sich
+eine bunte Schlange hervor, sie steigt an dem Beine Stefano Vinacches
+empor, sie umschlingt seinen Arm und scheint ihm ins Ohr zu zischen. Ein
+Zittern überkommt den Goldmacher, aus der Brust zieht er ein winziges
+Fläschchen; -- im Tiegel gärt und kocht die metallische Masse, -- die
+Flammen züngeln, -- aus der Phiole in der Hand des Meisters fällt das
+Projektionspulver in den Tiegel -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+Das Werk ist vollbracht! In die Form gießt Konrad Schulz die kostbare,
+im höchsten Fluß befindliche Masse -- nach einigen Augenblicken wiegt
+der Herzog von Chaulnes eine glänzende Metallbarre in der Hand.
+»Reinstes Gold, Monseigneur!« sagt Stefano Vinacche. --
+
+
+
+
+ IV.
+
+ Was man in Versailles dazu sagte.
+
+
+Vinacche fuhr mit seiner Frau vierspännig durch die Straßen von Paris.
+Lange war Claude Bullot tot und erinnerte sie nicht mehr an die
+Dunkelheit ihrer Herkunft. In der Gasse Saint Sauveur besaß Stefano
+jetzt ein prächtiges Haus, wo er die beste Gesellschaft von Paris bei
+sich sah. Sein Leben strahlte im höchsten Glanz. Die Teilnehmer seiner
+wunderlichen Operationen hatte er durch Drohungen, Versprechungen, List
+und Überredung zu seinen Sklaven gemacht; er durfte ihnen drohen, sie
+bei der geringsten Auflehnung gegen seinen Willen als Fälscher, Kipper
+und Wipper hängen zu lassen. Seine Geschäftsverbindungen mit Samuel
+Bernard, Tronchin, Menager, mit den beiden van der Hultz, mit
+Saint-Robert und dem Sieur Buisson Destresoriers nahmen ihren
+ungestörten Fortgang. Man sah in seinen Gemächern oft fünfzehn, zwanzig,
+dreißig Säcke voll nagelneuer Louisdors aufgestellt. Neu geprägte
+Goldstücke fanden die Diener und Dienerinnen, von denen das Haus
+überquoll, im Kehricht, in den Winkeln, unter der schmutzigen Wäsche; --
+sie verkauften Stückchen von Goldbarren an die Juden, und Madame de
+Vinacche erschrak eines Tages heftig genug, als sie, ungesehen von
+ihnen, ein Gespräch zwischen ihrer Kammerfrau La Martion und einigen
+Lakaien ihres Mannes belauschte. --
+
+Der spanische Erbfolgekrieg hatte begonnen. War das Geld im Hause
+Stephano Vinacches im Überfluß vorhanden, so mangelte es um desto mehr
+im Hause des Königs Ludwig des Vierzehnten. Herrschte im Hause Stefano
+Vinacches Jubel und Übermut, so herrschte Mißmut, Angst, Sorge und Not
+zu Versailles. Ein gewaltiger Umschwung aller Dinge trat in diesem
+früher so glänzenden Frankreich mehr und mehr hervor. Auf die Zeit des
+phantastischen, lebenvollen Karnevals folgte der Aschermittwoch mit
+seinen Grabgedanken. Zu Grabe gegangen waren die Schriftsteller und
+Dichter: Pascal und Franz von La Rochefoucauld ergründeten nicht mehr
+die Tiefe des menschlichen Herzens. Jean de Lafontaine hielt nicht mehr
+den lustigen Spiegel der Welt vor, Jean war »davongegangen wie er
+gekommen war«; -- verstummt war die mächtige Leier des großen Corneille,
+Jean Racine hatte sein Schwanenlied gesungen und war hinabgesunken in
+die blaue Flut der Ewigkeit. Tot, tot war Molière, der gute Kämpfer
+gegen Dummheit, Heuchelei, Aberglauben und Laster; tot war Jean Baptiste
+Poquelin, genannt Molière, aber Tartuffe lebte noch!
+
+Die Heiterkeit des Daseins war erblaßt, auch die feierlichen Stimmen der
+großen Kanzelredner Bossuet, Bourdaloue, Flechier verstummten! König in
+Frankreich war der Pater La Chaise, Königin in Frankreich war Franziska
+d'Aubigné, die Witwe Paul Scarrons. Die Schutzherrschaft über das Land
+nahm man dem heiligen Michael und gab sie der Jungfrau Maria, wie man
+sie vorher dem heiligen Martin und vor diesem dem heiligen Denis
+genommen hatte. Schaffe Geld, schaffe Geld, Geld, Geld, o heilige
+Jungfrau Maria! Schaffe Geld, holde Schutzherrin, Geld zum Kampf gegen
+deine und unsere Feinde! Schaffe Geld und abermals Geld und wiederum
+Geld, süße Mutter Gottes! Schaffe Geld, Geld, Geld, o Schutzpatronin von
+Frankreich und Versailles, Marly und Trianon!
+
+Wiederum war ein Staatsrat gehalten worden zu Versailles über die besten
+Mittel, Geld zu bekommen, und niemand hatte Rat gewußt; weder
+Pontchartrain, noch Pomponne, noch du Harlay, Barbezieux, d'Argouges,
+d'Agnesseau. Wohl war manche neue Steuer vorgeschlagen worden; doch ohne
+zu einem Resultat gelangt zu sein, hatte Louis der Vierzehnte seine Räte
+entlassen müssen. Verstimmt im höchsten Grade, ratlos bis zur
+Verzweiflung schritt er auf und ab in seinem Gemach und seufzte:
+
+»O Colbert, o Louvois!«
+
+Der König von Frankreich befand sich vollständig in der Seelenstimmung
+Sauls, des Königs der Juden, als er Verlangen trug nach dem Geiste
+Samuels, des Hohenpriesters.
+
+Dazu war die Frau Marquise nach Saint Cyr zu ihren jungen Damen
+gefahren, und der Vater La Chaise gab einigen Brüdern in Christo in
+der Vorstadt Saint Antoine in seinem Hause ein kleines Fest. Armer,
+großer Louis! zu seinem letzten Mittel mußte er greifen, um sich zu
+zerstreuen; -- Fagon, sein Leibarzt, wurde gerufen. In der Unterhaltung
+mit diesem klugen Manne ging dem Monarchen, freilich doch langsam
+genug, dieser trübe Oktobernachmittag des Jahres 1703 hin, und zuletzt
+kam auch Madame von Maintenon zurück. Der König seufzte auf, gleich
+einem, der von einer schweren Last befreit wird; Fagon machte seine
+Verbeugungen und entfernte sich, ebenfalls höchlichst erfreut über seine
+Erlösung.
+
+Im klagenden Tone erzählte nun der König seiner Ratgeberin von seiner
+trüben Nachmittagsstimmung, von seiner Sehnsucht nach ihr, seiner
+einzigen Freundin, von der Dummheit der Ärzte und von der vergeblichen
+Ratssitzung.
+
+»Sire,« sagte die Marquise lächelnd, »ich bin Eure demütige Dienerin;
+die besten Ärzte sind die, welche die Seele zu heilen verstehen, was
+aber die Ratlosigkeit Eurer Räte betrifft, so ist hier ein Billett,
+welches die Mittel angibt, dem Staat Geld zu schaffen. Von unbekannter
+Hand wurde es mir in den Wagen geworfen. Leset es, Sire, wir haben schon
+einmal über den Mann gesprochen, von dem es handelt.«
+
+Der König nahm das Schreiben und überflog es.
+
+»Vinacche?! der Goldmacher!« murmelte er und zuckte die Achseln.
+
+»Ich höre Erstaunliches über den Mann,« meinte die Marquise. »Sein
+Luxus geht ins Grenzenlose. Die größten Herren Eures Hofes, Sire, gehen
+bei ihm ein und aus. Der Herzog von Brissac hat mir neulich stundenlang
+von dem geheimnisvollen Menschen gesprochen. Neulich war auch Madame von
+Chamillard bei mir; sie steht in Verbindung mit dem reichen
+holländischen Bankier van der Hultz. Auch dieser Mann soll vollständig
+überzeugt sein, Monsieur de Vinacche habe das Projektionspulver
+gefunden, Monsieur de Vinacche mache in Wahrheit Gold.«
+
+»Ach, Marquise, von wie vielen haben wir das geglaubt!«
+
+»Sire, wäre ich an Eurer Stelle, ich würde d'Argenson beauftragen,
+diesen Italiener etwas genauer zu beobachten.«
+
+Der König zuckte abermals die Achseln und gab das Billett zurück.
+
+»Wenn d'Argenson das für nötig hält, so mag er seine Anordnungen
+treffen; -- ich will nichts damit zu tun haben. Was beginnen Eure
+Fräulein zu Saint Cyr, Marquise?«
+
+Nachdem der König das Gespräch auf eine andere Bahn geleitet hatte, war
+es vergeblich, von neuem den verlassenen Punkt zu berühren; aber die
+Marquise schob das Billett in ihre Tasche und faßte einen Beschluß. Am
+andern Tage schickte sie ihren Stallmeister Manceau in die Gasse Saint
+Sauveur zu Vinacche, unter dem Vorgeben: er solle Diamanten kaufen für
+eine fremde Prinzessin. Manceau, von seiner Herrin bestens instruiert,
+ließ nichts in dem Hause des Alchymisten außer Augen und erzählte
+nachher Wunder von der Pracht und dem Glanze, die darinnen herrschten.
+Pferde, Gemälde, Silbergeschirr, Meubles, alles taxierte er, wie ein
+Auktionskommissär; auf seine Frage nach Juwelen antwortete aber
+Vinacche, er besitze deren wohl sehr schöne, aber er handle nicht damit.
+
+Fast schwindelnd von dem Geschauten kam der Abgesandte der Marquise nach
+Versailles zurück und stattete seiner Herrin Bericht ab. Einige Tage
+nachher wurde Stefano Vinacche selbst nach Versailles beschieden und
+daselbst sehr höflich und zuvorkommend von Herrn von Chamillard
+empfangen! Ein langes Gespräch hatten die beiden Herren miteinander, und
+hinter einem Vorhange lauschte die Marquise von Maintenon demselben.
+Aber aalglatt entschlüpfte Vinacche jeder Frage, die sich auf seine
+große Kunst bezog; er nahm Abschied und bestieg seine Karosse wieder,
+ohne daß die Marquise und Chamillard ihrem Ziel im geringsten
+nähergekommen wären.
+
+»Lassen wir d'Argenson kommen!« sagte Frau von Maintenon. »Um keinen
+Preis darf uns dieser Mann entgehen.«
+
+Monsieur de Chamillard verbeugte sich bis zur Erde, und -- d'Argenson
+ward gerufen.
+
+
+
+
+ V.
+
+ Das Ende.
+
+
+Und Monsieur d'Argenson streckte seine Hand aus; -- es fiel ein
+schwarzer Schatten über das glänzende, fröhliche Leben in der Gasse
+Saint Sauveur; nach allen Seiten hin zerstob das Getümmel der vornehmen,
+reichen und geistreichen Gäste. Die Flucht nahmen die Herzöge, die
+Marquis, die Chevaliers, die Abbés, die Poeten. Wer durfte wagen, da zu
+weilen, wohin Monsieur d'Argenson den Fuß gesetzt hatte?
+
+Aus dem Nebel ragt düster drohend die Bastille! Sie halten den Stefano
+Vinacche, auf daß ihnen sein köstliches Geheimnis »nicht entgehe«,
+und -- am 22. März 1704, einem Sonnabend -- scharren sie ihn ein auf dem
+Kirchhof von Sankt Paul, unter dem Namen =Etienne Durand=.
+
+Wer hat je das Genie durch Gewalt gezwungen, seine Schätze mitzuteilen?
+
+So liest man in den Registern der Bastille:
+
+»In der Nacht vom Mittwoch auf den grünen Donnerstag, als am 20. März
+1704, morgens um ein Viertel auf zwei Uhr verschied in Nummer drei der
+Bertaudiere Monsieur de Vinacche, ein Italiener, in der Gegenwart des
+Schließers La Boutonnière und des Korporals der Freikompagnie der
+Bastille, Michel Hirlancle. Nach dem Tode des Gefangenen gingen die
+beiden Wächter, Monsieur de Rosarges davon zu benachrichtigen, und erhob
+sich dieser und verfügte sich in die Zelle des Sieur Vinacche, welcher
+sich selbst getötet hat, indem er sich gestern, als am Mittwoch,
+ungefähr um zwei Uhr nachmittags mit seinem Messer die Kehle unter dem
+Kinn zerschnitt und sich also eine sehr große und weite Wunde
+beibrachte. Obgleich ihm alle mögliche Hilfe geleistet wurde, konnte man
+ihn doch nicht retten. Da der Sterbende einige Zeit hindurch das
+Bewußtsein wieder erlangte, so hat unser Almosenierer sein Bestes getan,
+ihn zur Beichte zu bewegen, jedoch ganz und gar vergeblich. Gegen neun
+Uhr abends habe ich Monsieur d'Argenson von dem Unglück Nachricht
+gegeben, und ist derselbe in aller Eile sogleich erschienen, um zu dem
+Sterbenden zu reden, jedoch auch ihm hat der Unglückliche keine Antwort
+gegeben.
+
+ In diesem Schlosse der Bastille 20. März 1704.
+
+ =Dujonca=,
+
+ Königsleutnant in der Bastille.
+
+Wohl mochte nachher d'Argenson in seinem Bericht an Chamillard von
+»_billonage_«, von Kipperei und Wipperei sprechen, es glaubte niemand
+daran, selbst der Berichterstatter glaubte nicht daran; man brauchte nur
+eine Rechtfertigung dem aufgeregten Publikum gegenüber. Zu Versailles
+wirkte die Nachricht von dem Tode Stefano Vinacches gleich einem
+Donnerschlag; der König Ludwig der Vierzehnte wurde darob ebenso zornig
+und niederschlagen, wie später in demselben Jahre über die Kunde von den
+Niederlagen auf dem Schellenberge und bei Höchstedt. Die Frau Marquise
+und die Herren de Chamillard und d'Argenson hatten einige bittere
+Stunden zu durchleben; aber was half das? Stefano Vinacche war tot und
+hatte sein Geheimnis mit in das Grab genommen!
+
+Der Witwe des Unglücklichen meldete man offiziell, ihr Gemahl sei in der
+Bastille am Schlagfluß verschieden; sie blieb im ungestörten Besitze
+aller der auf so geheimnisvolle Weise erworbenen ungeheuren Güter. Der
+alte Bericht, dem wir dieses seltsame Lebensbild nacherzählen,
+vergleicht den gemordeten Stefano mit jenem Künstler, welcher dem
+Imperator Tiberius ein köstliches Gefäß von biegsamem, hämmerbarem Glas
+überreichte. Der Kaiser bewunderte die vortreffliche Erfindung und
+fragte, ob dieselbe schon andern Menschen bekannt sei, welches der
+Künstler verneinte. Auf diese Antwort hin ließ der Tyrann dem genialen
+Erfinder den Kopf abschlagen und die Werkstatt desselben zerstören,
+damit nicht »Gold und Silber gemein und wertlos würden, wie der Kot in
+den Gassen von Rom«.
+
+»_Par notre Dame de Miracle_, Madame, Euer Gemahl war ein großer Mann,«
+sagte der Herzog von Chaulnes zu der trauernden Witwe Stefanos, »Euer
+Gemahl war in Wahrheit ein großer Mann; aber =einen= Fehler hatte er, er
+war zu verschwiegen! Wie oft hab' ich ihn beschworen, mir sein großes
+Geheimnis anzuvertrauen, -- Madame, auf meine Ehre, Monsieur Etienne war
+zu verschwiegen, viel zu verschwiegen.«
+
+»O Madame, Madame, die Welt ist nicht so beschaffen, daß sie ein großes
+Genie in sich dulden könnte!« sagte zur Frau Vinacche der Dichter Jean
+Baptiste Rousseau, der Freund Stefanos. »Madame, die Welt kann das
+Talent nur töten, und es gibt nur einen Trost:
+
+_c'est le même Dieu qui nous jugera tous!_«
+
+»Liebste Schwester,« sagte der Graf d'Aubigné zur Marquise von
+Maintenon, »liebste Schwester, in meinem Leben habe ich noch nichts
+erfunden, wohl aber traue ich mir viel Geschick zu, die Erfindungen
+anderer Leute herauszuholen. Ihr wißt das ja; _mon Dieu_, weshalb habt
+Ihr mir nicht diese Geschichte mit dem Italiener überlassen? Das war
+kein Charakter für die Kunst Monsieur d'Argensons.«
+
+Die Frau Marquise seufzte, zuckte die Achseln und griff nach ihrem
+Gebetbuch, Mademoiselle La Caverne, ihre Kammerfrau, meldete: Seine
+Majestät verfüge sich soeben in die Messe. Graf d'Aubigné, welcher »sich
+wegen seiner Schwester Regierung einbildete, er sei die dritte Person in
+dem Königreiche«, ließ die Unterlippe herabsinken und legte sein Gesicht
+in die frömmsten Falten.
+
+»Gehen wir, mein Bruder,« sagte die Marquise. »Wir wollen beten für die
+Seele dieses unglücklichen Monsieur de Vinacche und bitten, daß Gott uns
+seinen Tod nicht zurechne.«
+
+
+
+
+ ******************************
+ * *
+ * Ein Besuch *
+ * *
+ ******************************
+
+
+
+
+Es war schon Dämmerung, als der Besuch kam; so sehr Dämmerung, daß es
+uns unmöglich ist, zu sagen, wie der Besuch aussah. Es ist uns überhaupt
+nicht leicht gemacht, hierüber ganz deutlich zu werden. Helfen uns die
+Leserinnen selber nicht dabei, so werden wir auf diesem Blatt Papier mit
+Feder und Tinte wenig ausrichten.
+
+»Wieder ein Tag, Johanne, in Einsamkeit und mühseliger, geringen Nutzen
+bringender Arbeit; und zu der Arbeit trübe Gedanken den ganzen Tag über.
+Wegplaudern kann ich dir deine Sorgen nicht; da habe ich Schwestern, die
+das besser verstehen. Ich kann nur hier und da eine Stunde bei dir
+verweilen; laß mich das jetzt, vielleicht ist dir wohler nachher. Hast
+auch wohl schmerzende Augen von dem ewigen Schaffen so spät in den
+Jahren? Die darfst du dreist zumachen, derweil ich bei dir bin. Nur
+keine unnötigen Höflichkeiten unter Freunden. Laß dich gehen, ich lasse
+mich auch gehen und lege mir niemandes wegen Zwang an, und viel Zeit
+habe ich nie, das wißt ihr ja alle, die ihr mich dann und wann unter
+euerer übrigen Bekanntschaft in der Welt bei euch seht. Wo warst du
+eben, Johanne?«
+
+»Sie feierten ein Fest heute drunten im Hause, daran habe ich gequält,
+widerwillig teilnehmen müssen. Es war so viel Wagenrollen in der Gasse
+und vor dem Hause, die Leute waren so laut; es drang so viel lustiger
+Lärm zu mir herauf. Es war töricht: aber ich ließ mich von meiner
+Phantasie hinabführen zu meiner jungen, reichen, glücklichen
+Hausgenossin; und da wurde mein Schicksal bitterer, ich war den Tag über
+unzufriedener denn je mit meinem Lose; ach, da es nun wieder stiller
+geworden ist, will ich es nur gestehen: ich war recht böse den Tag über,
+voll Mißgunst, Neid und Eifersucht. Es war sehr unrecht.«
+
+»Ja freilich, du bist arm, und deine Hausgenossin ist reich; du bist alt
+geworden, und deine Hausgenossin ist noch jung. Niemand kommt zu dir als
+von Zeit zu Zeit ich, und jene führt das lebendigste Leben. Daran kann
+ich nichts ändern, nicht den kleinsten Stein des Anstoßes in der
+Körperlichkeit der Dinge kann ich dir aus dem Wege räumen; -- aber wie
+wäre es, wenn du dessenungeachtet jetzt doch einmal einige Wege mit mir
+gingest -- die ich dich führe?«
+
+Da die Frau Johanne jetzt lächelt, ist sie schon auf diesen Wegen mit
+ihrem Besuch -- dieser seltsamen Besucherin, die nicht plaudert, wenige
+Neuigkeiten weiß, sondern nur von Zeit zu Zeit die Hand oder auch nur
+den Zeigefinger erhebt. Frau Johanne hat dabei auch dem andern Rat ihres
+stillen Gastes Folge gegeben; sie hat die Augen geschlossen. Bei
+geschlossenen Augen sagt sie: »Ja es ist unrecht, und es nützt auch
+nichts, andern ihr Glück oder vielleicht auch nur den Schein des Glückes
+zu mißgönnen. Das Leben geht so rasch hin, und es wird so schnell Abend
+aus Morgen allen Leuten!
+
+Ist es nicht wie gestern, als es auch noch in meinem Leben Morgen war?
+als ich so jung war wie diese junge Nachbarin und auch über schöne
+Teppiche schritt? als die Wagen auch vor meiner Tür hielten und die
+Gäste zu mir kamen? als meine Gestalt aus dem Pfeilerspiegel im
+Festkleide mir zulächelte und Richard mir über meine Schulter
+zuflüsterte, was der Spiegel mir sagte?
+
+Hab' ich damals, an meinem Morgen, in meinem Frühling, in meiner Jugend
+viel daran gedacht, wie die Leute über meinem Haupte, unter meinen
+Füßen, die Nachbarn gegenüber lebten, und ob sie weniger jung, sorgenlos
+und glücklich als ich waren?«
+
+»Siehst du, es wandelt sich gut an meiner Hand,« nickte der Besuch. »Nur
+weiter, komm nur weiter, wir sind auf dem ganz richtigen Wege. Es ist
+nur, weil man in der mißmutigen Stunde nicht recht seine Gedanken
+zusammennehmen kann, daß man seine Tage so regenfarbig, seine Nächte so
+dunkel und sternenlos sieht. Was zeigte dir dein Spiegel noch außer
+deiner Gestalt im Haus- und im Festkleide und den Bildern deiner
+nächsten Umgebung?«
+
+Frau Johanne legt das Haupt in ihrem Stuhl zurück und die Hand auf die
+Stirn. Sie sitzt wieder vor ihrem hohen, vornehmen Spiegel, den Rücken
+gegen die Fenster gewendet. Aber aus dem zerbrechlichen Glase und der so
+leicht verwischbaren Folie von damals ist in Wahrheit ein Zauberspiegel
+geworden, aus dem sich wesenhaft, greifbar, voll Leben und Wirklichkeit
+die Hoffnung, der Trost, das beste Glück ihrer Witwenschaft, ihrer
+Kinderlosigkeit, ihres Alters loslösen.
+
+Es sind aber nicht die Abbilder ihrer nächsten Umgebung, die Möbel,
+Wände, Gemälde, Teppiche und Vorhänge ihres damaligen Gemaches, die sie
+nun mit ihren geschlossenen Augen wiedersieht. Es ist das Stück der
+Gasse, das gegenüberliegende Haus, das damals in den goldenen Rahmen
+zufällig mit hineinfiel und nun wieder lebendig in ihm leuchtet, nachdem
+Glas und Folie längst zersplittert und verwischt sind, wie Glanz und
+Glück jener lange vergangenen Tage.
+
+»Ich denke, wir wagen es noch einmal, folgen unserm guten Einfall und
+schlüpfen hinüber zu der unbekannten Nachbarin. Was meinst du, Johanne?«
+
+»Ein Einfall!« murmelt die Frau Johanne. »Nur ein seltsamer Einfall --
+_un concetto, una fantasia strana_, wie die Italiener sagen. Und mir
+vielleicht auch nur darum möglich, weil ich eben erst mit Richard von
+unserm schönen langen Aufenthalt in Italien nach Hause gekommen war.
+Dort, in Italien, folgen die Leute viel leichter als hier bei uns ihren
+Einfällen und schlüpfen so über die Gasse und halten gute Nachbarschaft,
+zumal wenn sie sich vom Fenster oder -- Spiegel aus schon längst kennen
+und unser Gatte einmal gesagt hat: 'Der Mann der hübschen kleinen Frau
+im blauen Kleide da drüben ist einer unserer besten, talentvollsten
+Unterbeamten, Johanne; das Weibchen mit seinem Kindchen ist wirklich
+allerliebst, schade, daß sie nicht zu uns gehören, d. h. nicht in unsere
+Gesellschaftskreise passen.'«
+
+»Ja, was würde aus euerer Welt werden, wenn ich nicht immer von neuem,
+zu jeder Zeit und überall eure närrischen Kreise störte und euch
+zusammenbrächte im Wachen und im -- Traum? Nur weiter, immer weiter,
+Johanne. Die Nachbarin wohnt in keinem vornehmen Hause; die Treppen, die
+zu ihr hinaufführen, sind steil und dunkel; aber wir sind auf dem
+rechten Wege -- ganz auf dem rechten Wege!«
+
+»Auf dem rechten Wege! Wie kommst du eigentlich hierzu, Johanne?« habe
+ich mich noch auf der steilen dunkeln Treppe gefragt. »Ihr habt euch ja
+noch nicht einmal zugenickt und noch weniger je ein Wort miteinander
+gesprochen. Wie wäre das auch möglich gewesen bei so vielem andern
+gesellschaftlichen Verkehr?«
+
+»Das weiß ich am besten, von welchen Kleinigkeiten alles abhängt,« sagt
+der Besuch. »Törichtes Menschenvolk! wo bliebet ihr, wenn nicht ich aus
+dem Kern den Baum, aus dem Funken das Licht, aus dem Hauch den Sturm
+machte? Dein Blut war noch abenteuerlich unruhig von den bunten
+Erlebnissen in der Fremde; du hattest viel gähnen müssen an jenem Tage;
+leugne es nicht, Johanne, du warst eigentlich in keiner angenehmen
+Stimmung, trotzdem daß du noch jung, reich und eine Schönheit warst. Zu
+verbraucht, alltäglich, gewöhnlich, abgenutzt und gering erschien dir
+alles in der behaglichen Heimat um dich herum.«
+
+»Und Richard hatte mir jetzt gesagt: Unsere Nachbarin hat Unglück
+während unserer Abwesenheit gehabt; der Mann ist ihr gestorben; wir
+werden nicht leicht einen so guten Arbeiter wieder bekommen. -- Da sah
+ich sie statt im blauen oder rosa Kleide in einem schwarzen am Fenster,
+bleich und kummervoll. Und sie trug ihr Kind auf dem Arme, ihr armes
+verwaistes Kindchen, und da --, da nickte ich ihr zu von meinem Fenster;
+und da --, da bin ich zu ihr gegangen!«...
+
+Und nun ist sie wieder bei ihr, die Träumende, -- die Freundin bei der
+Freundin, und die Zeiten -- die Stunden, Tage und Jahre vermischen sich
+wunderbar im süß-melancholischen Dämmerungstraum. Der Besuch könnte nun
+wohl gehen -- o wie lebendig, wie lebendig ist alles nun im Traum!...
+
+Im Traum. Die alte Frau schläft in ihrem Stuhl nach dem arbeitsvollen
+mühsamen Tage. Sie denkt nicht mehr über die Vergangenheit; sie träumt
+von ihr und süß und friedlich; denn der Besuch hatte ihr ja vorher
+leise, beruhigend die Hand auf die furchenvolle Stirn gelegt.
+
+Nun ist der Raum um sie her nicht mehr beschränkt und niedrig, nun sind
+die Gerätschaften nicht mehr ärmlich und abgenutzt; denn im gleichen
+Stübchen und unter gleichem Geräte führte ja die beste Freundin ihrer
+Jugend ihr =liebes=, stilles Leben. Zu solchem Stübchen schlich sie aus
+dem Glanz und der Fülle des eigenen Daseins, und alles ist im Traum wie
+damals um sie her.
+
+Wie viele Jahre gehen vorüber während der kurzen Augenblicke, in denen
+sie jetzt die Augen geschlossen hält? Wechselnde Schicksale -- viel
+Sorge und Angst im Mittage des Lebens auch im eigenen Hause. Was ist
+noch übrig von alledem, was damals war? Wo sind die hohen Spiegel, die
+Purpurvorhänge, die weichen Teppiche -- die Freunde, die Bekannten der
+Jugend? Ist doch der eigene Gatte so lange schon tot und die eigenen
+Kinder; und auch die Freundin schläft ja nun lange schon unter ihrem
+grünen Hügel und steigt nur dann und wann daraus hervor in der
+=Erinnerung= und im =Traum=, und lächelnd, tröstend und Geduld anratend
+zumeist auch nur dann, wenn vorher der Besuch gekommen ist, den die
+Greisin, die arme alte Frau Johanne, bei ihrer späten, beschwerlichen
+Lebensmühe wie in der Dämmerung des heutigen Abends bei sich empfangen
+hat.
+
+Von all den guten Freunden, den lieben Bekannten ist niemand übrig, ist
+niemand treu als das Kind, das einst die Träumerin zum erstenmal
+hinüberzog aus ihrer Lebensfreude und dem Glanz ihrer Jugend zu dem Leid
+der jungen Nachbarin im schwarzen Kleide. Und dieses Kind ist erwachsen,
+ist auch eine verheiratete Frau und weit in der Ferne. -- -- --
+
+Horch, ein Schritt auf der Treppe.
+
+Ist es die Stimme des Besuchs, welche die Frau Johanne noch in ihrem
+Traume vernimmt: »Nun gehe ich und lasse dich der Wirklichkeit. Wie gern
+käme ich zu allen so wie zu dir in den bösen Stunden des Erdenlebens,
+wie gern hülfe ich allen so wie dir hinweg über die dumpfen Pausen
+zwischen euern Schicksalen; wenn ich nur nicht so oft vor die
+verschlossene Tür käme. In den Büchern heiße ich eine vornehme Frau; mit
+einem großen Gefolge hoher Söhne und Töchter schreite ich durch die
+Jahrtausende, aber gern sitze ich nieder zu den Kindern, den Armen, den
+Bekümmerten -- mit Freuden komme ich zu denen, die aus Büchern nur wenig
+oder nichts von mir wissen. Nun lebe wohl, du närrisch alt Weiblein,
+lache und weine dich aus in dem Glück der Gegenwart und Wirklichkeit und
+halte mir deine Tür offen; ich klopfe nicht gern lange vergeblich.«...
+
+Es war nur der Briefträger, dessen Schritt man auf der Treppe gehört
+hatte. Der Brief aber, den er der Frau Johanne brachte, lautete freilich
+trotz der ganzen, vollen Wirklichkeit, die er verkündete, wie
+Glockenklang und Jubelruf aus Dichtung und Wahrheit.
+
+»Meine liebe andere Mutter, ich bin so glücklich -- Franz ist daheim!
+Gesund und so bärtig wie ein Bär und so sonnenverbrannt -- entsetzlich!
+Aber es hat ihm, Gott sei Dank, nichts geschadet, und ich bin so
+glücklich, so glücklich! Gestern sind sie eingezogen, und es war so
+wundervoll, und ich hatte einen so guten Platz. Ich brauchte den Leuten
+vor mir nur zu sagen: ich habe ja auch meinen Mann darunter, und sie
+trugen mich fast auf ihren Armen in die erste Reihe. Und wir -- ich und
+viele Hunderte und Tausende von meiner Sorte, hätten fast den ganzen
+Effekt gestört. Das war ja aber auch nur zu natürlich, und kein
+Feldmarschall und sonstiger großer General und Prinz durfte etwas
+dagegen einwenden. Ich hing ihm unter den Trommeln und Trompeten, den
+Pferden und Bajonetten am Halse, und wie ich nachher nach Hause gekommen
+bin, weiß ich nicht. Nun habe ich ihn aber selber wieder zu Hause --
+ganz und heil zu Hause: es lebe der Kaiser und mein Mann und mein Kind
+und du, mein liebes zweites Mütterchen! Und nun höre nur, über acht Tage
+sind wir alle bei dir, -- er, Franz, muß dir ja sein Eisernes Kreuz
+zeigen und ich dir unsern Jungen und meinen tapfern Ritter und
+Landwehrmann, den sie mir so unvermutet mitten im vorigen Sommer von
+seinem Zeichen- und meinem Nähtisch wegholten und für das Vaterland ins
+fürchterlichste Kanonenfeuer stellten. Was haben wir ausgestanden, Mama!
+Da war es ja noch ein Segen, daß der Junge noch zu klein und dumm war,
+um schon mit einsehen zu können, was der Mensch an Ängsten und Sorgen
+auf der Erde und im Kriege aushalten muß und kann. Aber eins hat er auch
+noch zuwege gebracht, und das ist herrlich -- ich meine der Krieg und
+nicht unser Junge natürlich -- ach, ich bin immer noch so konfus und
+habe es wie tausend Glocken im Ohr und wie Ameisen in allen Gliedern!
+nämlich die Privatingenieure sind im Preise gestiegen, und unser Weizen
+blüht endlich auch einmal. -- Darüber werden wir denn recht eingehend
+reden in acht Tagen in deinem lieben Stübchen; du sollst und darfst uns
+nun nicht mehr so einsam und allein sitzen, jetzt, da es uns so gut geht
+und noch viel besser gehen wird, was wir aber um Gottes willen ja nicht
+berufen, sondern ja bei dem Wort dreimal unter den Tisch klopfen wollen!
+Wir haben alle so viel ausstehen müssen und einander so wenig helfen
+können; aber nun soll's anders werden, sagt Franz. Eine bessere Stelle
+haben wir schon, nämlich Franz, und dies hat sich schon mitten im Kriege
+gemacht, wo merkwürdigerweise nicht bloß Leute zusammengeraten, die sich
+auf den Tod hassen, sondern auch solche, die einander recht gut
+gebrauchen können. Nun sagt er, jetzt gäbe er nicht mehr nach, und
+sollte er noch dreimal so lange wie vor dem schrecklichen Metz vor dir
+in die Erde gegraben liegen und dich belagern müssen. Er erzählt
+furchtbare Dinge von seiner Hartnäckigkeit und neugewonnenen Erfahrung
+in dergleichen Kriegskunststücken; und er behauptet, es wäre gar kein
+Zweifel, jetzt kriegte er dich -- wir kriegten dich! O könnten wir's dir
+doch zum tausendsten Teil vergelten, was du so viele kümmerliche Jahre
+durch bis in unsere Brautzeit und bis zu unserer Heirat an uns getan
+hast!
+
+Ich glaube meinem Manne natürlich auf sein Wort, daß du jetzt zu uns
+kommen wirst, aber ich verlasse mich eigentlich doch noch mehr auf
+meinen Jungen. Was soll das arme Kind ohne dich anfangen,
+Großmütterlein; jetzt, wo es anfängt zu laufen und ich doch nicht ewig
+aufpassen kann? Großmütterchen, du gehörst zu unserm Richard wie die
+Stadt Metz wieder zum Deutschen Reich, was aber eine recht schlechte
+Vergleichung ist; ich kann aber nichts dafür, weil ich als jetzige
+glorreiche Kriegsfrau so kurz nach den vielen Siegen und Eroberungen
+mich nur in solchen Vergleichungen bewegen kann und übrigens auch eben
+keine andere wußte.
+
+Wir mieten natürlich eine größere Wohnung, und es wird ein Leben wie in
+Frankreich, wo es freilich, wie Franz meint, die letzte Zeit durch kein
+gutes Leben gewesen ist, was also eigentlich wieder nicht paßt. Nein,
+wir wollen leben in Deutschland, wie ich es mir als das Schönste denke;
+und denke du dir es auch so lieb, als wenn alle Dichtung auf Erden, wenn
+du diesen Brief bekommst, eben zum Besuch bei dir gewesen wäre und dich
+leise auf unsere Pläne und Absichten mit dir vorbereitet hätte, daß dir
+der Schrecken nichts schade! Was ich dir eigentlich schreibe, weiß ich
+gar nicht, und den Jungen habe ich auch beim Schreiben auf dem Schoße.
+* Dieser Klex kommt auf seine Rechnung, denn greift er mir nicht in die
+Frisur, so führt er mir mit die Feder.
+
+Und nun nichts mehr; denn in acht Tagen sind wir bei dir; und obgleich
+ich hier jetzt an keiner Stunde am Tage was auszusetzen finde, so wollte
+ich doch, daß es erst über acht Tage wäre, um dir Auge in Auge, Mund auf
+Mund sagen zu können, wie ich bis in den Tod dein dankbares Kind bin und
+bleibe, du meine zweite Herzensmutter!«...
+
+Die Frau Johanne hat viel Unglück im Leben gehabt. Eigene Familie hat
+sie nicht mehr, ihr Mann ist tot, ihre Knaben sind ihr schon als Kinder
+genommen, ihren Wohlstand hat sie auch verloren, und doch gibt es keine
+andere Frau in der Stadt, die in dieser Stunde so glückliche Tränen
+weint wie diese, welche nie dem Besuch, der in der Dämmerung bei ihr
+war, die Tür verschloß, und die an seiner Hand in den Traum sich leiten
+ließ, bis die Wirklichkeit anklopfte und ihr die reife liebliche Frucht
+jenes »Einfalls« und Nachbarschaftsbesuchs der Tage der Jugend in den
+Schoß legte.
+
+
+
+
+ ******************************
+ * *
+ * Auf dem Altenteil *
+ * *
+ * Eine Silvester-Stimmung *
+ * *
+ ******************************
+
+
+
+
+ I.
+
+
+Sie hatten den Senioren der Familie alle Ehre angetan, wie sich das denn
+auch wohl so von Rechts wegen gebührte; aber der Lärm wurde den
+weißhaarigen Herrschaften allmählich doch ein wenig zu arg. Die alte
+Dame, die immer noch um ein paar Jahre jünger war als der alte Herr,
+hatte dem letzteren ein ihm schon längst wohlbekanntes kopfschüttelnd
+Lächeln gezeigt, welches weiter nichts bedeutete als:
+
+»Kind, Kind, bedenke den Morgen und deinen Rheumatismus! Es hat alles
+seine Zeit, und ich glaube, die unsrige ist jetzt vorhanden.«
+
+Der alte Herr hatte zuerst ganz erstaunt aufgesehen und sein Weib an:
+Nicht mehr bis Mitternacht, und in das neue Jahr hinein? Ei, ei, ei --
+hm!
+
+»Hm,« sagte der alte Herr, in dem fröhlichen Kreise erhitzter Gesichter
+umherblickend; »es hat freilich alles seine Zeit; aber es ist
+sonderbar, und, liebe Kinder, es kommt einem ganz kurios vor, wenn auch
+dieses -- zum erstenmal Zeit wird!«
+
+Dabei hatte er sich aber bereits etwas mühsam aus seinem Sessel erhoben.
+Den Kopf schüttelte er auch; jedoch ohne dabei zu lächeln wie seine
+Frau.
+
+»Du hast recht, Anna; es ist unsere Zeit gekommen, und so wünsche ich,
+wünschen wir euch jungem Volk --«
+
+Von einem Gewissen war bei diesem »jungen Volk« natürlich nicht die
+Rede. Dazu waren sie sämtlich (auch die Ältesten unter ihnen) noch viel
+zu jung, und viel zu vergnügt und viel zu aufgeregt durch die uralten,
+ewig jungen Stimmungen der letzten Stunden des scheidenden Jahres. Ein
+Gewühl von blonden und braunen Köpfchen und Köpfen, von Händen und
+Händchen erhob sich um die beiden Greise; und alle Verführungskünste,
+deren die Menschheit in ihrer Erscheinung als Familie in der
+Silvesternacht fähig ist, waren zur Anwendung gebracht worden.
+
+Einmal noch schadete es sicherlich gewiß nicht!... Großpapa und
+Großmama hatten noch nie so munter ausgesehen!... Es ging ja niemand zu
+Bett vor Mitternacht, selbst die Jüngsten nicht!...
+
+»Nun, Mutter! Einmal noch? Was meinst du?« Kleine weiße Händchen --
+weiße beringte Hände hatten ihre Verführungskünste nicht ohne Erfolg
+versucht; nun legte sich statt anderer Antwort auf die Frage des alten
+Herrn wieder eine Hand auf die seinige. Das war aber keine weiche, keine
+weiße, keine kräftige mehr; aber eine starke und treue war es auch;
+vielleicht wohl die stärkste und treueste.
+
+»Die Großmutter hat recht! Es hat alles seine Zeit, und die unsrige ist
+gekommen. Junges Volk, wir werden zu Bette geschickt von ihr, der Madame
+Zeit, während die Jüngsten aufbleiben dürfen. Der Kopf summt uns zu sehr
+morgen früh, wenn wir uns dagegen sperren und wehren; und es ist zwar
+hübsch von Großmama, wenn sie nur von Rheumatismus spricht; aber das
+rechte Wort ist es eigentlich nicht. Sie hätte ganz dreist Gicht sagen
+können, gerade so gut wie der Herr Schwiegersohn und _Doctor medicinae_
+da hinter seinem Punschglase, wenn er jetzt ein Gewissen hätte. Liebe
+Kinder, wir sind beide über siebenzig Jahre alt, und --«
+
+»Oh!...«
+
+»Und wir sind sehr glücklich und behaglich. Sehr wohl ist uns zumute
+und so wünschen wir euch allen zum erstenmal vor Ablauf des alten Jahres
+ein glückliches neues.... Bitte, lieber Sohn, ich weiß, was du sagen
+willst; aber wende dich damit an die Mama, die wird dich versichern, daß
+deine Frau, unsere liebe Sophie da, heute über dreißig Jahre sicherlich
+gleichfalls viel verständiger sein wird, als du. Wende dich an deine
+Mutter, mein Schmeichelkätzchen Marie. Sie hat immer gemeint, du seiest
+ganz ihr Vorbild, also wirst du wohl wissen, was in vierzig Jahren in
+der Neujahrsnacht deine Meinung sein wird, wenn die unverständige Jugend
+dir deinen Mann da verführen will. Schieben Sie die Kinder nicht so
+heran, lieber Schwiegersohn, sie machen der Großmama nur das Herz
+schwer. Es ist Zeit geworden für uns; -- -- -- ein fröhliches,
+segensreiches Jahr ihr -- alle!...«
+
+»Alle!« jubelten sie, und die Gläser hatten geklungen, und die Kinder,
+die Enkel hatten sich zugedrängt und ihre kleinen Becher hingehalten,
+ohne daß man sie dazu zu schieben brauchte. Sie hatten sehr gejubelt;
+und die Tonwellen der Gläser und der Stimmen waren verklungen.
+
+»Nun seid weiter vergnügt; aber die Kinder laßt ihr mir morgen
+ausschlafen. Begleitung nehmen wir nicht mit, die Trepp' hinauf. Wir
+finden unseren Weg schon allein, nicht wahr, Walter?« sagte die alte
+Dame, die Großmutter des Hauses.
+
+
+
+
+ II.
+
+
+Sie entschlüpften, wie man entschlüpft, wenn man das siebenzigste
+Lebensjahr hinter sich hat. Langsam stiegen die beiden die
+teppichbelegte Treppe in ihre Stube hinauf, der Greis gestützt auf den
+Arm der Greisin; und dann waren sie allein miteinander, noch einmal
+allein miteinander in der Neujahrsnacht.... Umgesehen hatten sie sich
+nicht auf der Treppe und einen leisen Schritt, einen Kinderschritt, der
+ihnen nachglitt, den hatten sie überhört. Ein so scharfes Ohr, wie vor
+Jahren, hatte keins von den zwei Alten mehr; aber diesen Schritt, diesen
+Geister-Kinderschritt würde auch wohl jedes andere jüngere Ohr überhört
+haben. --
+
+Auf dem Altenteil! Das kann eines der bittersten Worte sein, die das
+Schicksal den Menschen in dieser Welt zuruft; aber auch eines der
+behaglichsten. Für diese beiden Alten war es nach langer schwerer,
+mühseliger Arbeit ein behagliches geworden. Sie fanden ihre Gemächer
+durch ein verschleiertes Lampenlicht erhellt, ihre beiden Lehnstühle an
+den warmen Ofen gerückt und:
+
+»Mit dem Schlage Zwölf komme ich doch und poche an eurer Kammertür und
+spreche meinen Wunsch durchs Schlüsselloch. Ihr braucht aber nicht
+darauf zu hören; ich schicke ihn euch auch in den Schlaf hinein!« hatte
+das jüngste und am jüngsten verheiratete Töchterlein als letztes Wort im
+Festsaale da unten gesagt.
+
+»O mein Gott, da sitzt ihr noch?« rief dieselbe junge Frau unter dem
+Glockenklang und dem Neujahrschoral von den Türmen, unter dem plötzlich
+aufklingenden Gassenjubel und dem Jubel der Kinder und Enkel in dem
+Saale des Hauses. »Das ist doch ganz wider die Abrede, und heute übers
+Jahr werden wir euch da unten bei uns fester halten, ihr Lieben, Bösen,
+Besten!... Ein glückliches neues Jahr, Großpapa! ein glückliches neues
+Jahr, Großmama!«
+
+Da stand ein niedrig lehnenloses Sesselchen mit einem verblaßten
+gestickten Blumenstrauß darauf neben den zwei Stühlen der Greise. Die
+junge Frau, nachdem sie den Vater und die Mutter mit ihren Küssen fast
+erstickt hatte, saß nieder auf dem kleinen Stuhl und hatte keine Ahnung
+davon, wer eben vor ihr darauf gesessen und die Mutter und den Vater
+gegen die Abrede und gegen ihren eigenen festen Vorsatz wach gehalten
+hatte über die Mitternachtsstunde hinaus und aus dem alten Jahr in das
+neue hinein! Mit leise bebender Hand strich die alte Frau die blonden
+Haare der Tochter aus dem lebensfreudigen, glühenden, erhitzten
+Gesichte. Die blonden Locken, die sich eben vor ihr ringelnd bewegt
+hatten, waren schon vor vierzig Jahren zu Staub und Asche geworden: die
+junge Frau wußte nichts von ihnen, oder doch nur gerüchtweise. Lange vor
+ihrer Geburt war das erste, das älteste Kind gestorben, zwölf Jahre alt.
+Ein halbverwischtes Pastellbildchen, das über der Kommode der Mutter,
+der Großmutter des Hauses, hing, war alles, was von ihm übrig geblieben
+war in der Welt.
+
+Alles?
+
+
+
+
+ III.
+
+
+Ein leiser Schritt, ein unhörbarer Schritt; -- ein Geister-Kinderschritt
+in der Silvesternacht!... Wir haben gesagt, daß die beiden Greise vor
+einer Stunde die Treppe zu ihren Gemächern hinaufgestiegen und ihn, wie
+wir übrigen alle, nicht vernahmen. Ganz war es doch nicht so.
+
+Als der alte Herr der alten Dame mit immer noch zierlicher Höflichkeit
+die Tür öffnete, um sie zuerst über die Schwelle treten zu lassen, hatte
+die Frau einen Augenblick gezögert und zurückgesehen und gehorcht.
+
+Der alte Herr glaubte, sie horche noch einmal auf den fröhlichen Lärm,
+auf das heitere Stimmengewirr der Neujahrsnacht dort unten im Festsaal
+des Hauses.
+
+»Sie sind gottlob recht heiter,« meinte er, »wüßte auch nicht, weshalb
+nicht. Und auch wir, -- Mutter! -- nicht wahr, Alte?... Wie spät ist es
+denn eigentlich? Elf Uhr! Noch früh am Tage, wenngleich wirklich ein
+wenig spät im Jahre.«
+
+»Ja, Walter!« hatte die Greisin erwidert, aber nur, um doch eine Antwort
+zu geben. »Ich hörte eigentlich nicht auf dich; ich dachte an unser
+Ännchen,« fügte sie hinzu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen
+hatte und sie in der letzten Stunde des ablaufenden Jahres mit sich
+allein waren.
+
+
+
+
+ IV.
+
+
+Das junge Volk! Längst hat es drei Viertel des Hauses nach seinem
+Geschmack und Bedürfnis eingerichtet und mit vollem Rechte des Lebens.
+An das Reich der beiden Alten hat keine Hand gerührt; außer dann und
+wann eine Kinderhand, deren volles Recht des Lebens es freilich ist und
+immerdar sein wird, in der Großväter und der Großmütter Hausrat,
+Schubladen und Schränken zu wühlen und zu kramen und sich die vom Anfang
+der Welt an dazugehörigen erstaunungswürdigen, lustigen und traurigen
+Geschichten erzählen zu lassen.
+
+Es war einmal!... oh, noch einmal von dem, was war!... Und so war es
+gekommen, daß die jüngste Tochter des Hauses die Eltern um Mitternacht
+noch wach fand unter den Glocken, die das neue Jahr einläuteten. Eine
+Kinderhand aber war es wiederum gewesen, die an den Schleiern der
+Vergangenheit gezupft hatte: »Es war einmal! Ich bin da! -- Mama, du
+sagst in dieser Stunde nicht: Man hat doch keinen Augenblick Ruhe vor
+dir, Kind! -- Ich bin da; und nun laßt mich sitzen auf meinem Stuhl,
+laßt uns erzählen: Es war einmal!... laßt uns erzählen von dem, was
+einmal war!«...
+
+Und sie hatten davon erzählt, die beiden Greise nämlich. Das Kind hatte
+nur drein gesprochen.
+
+»Sie wäre gewiß auch eine stattliche Frau und eine gute geworden,« sagte
+die alte Dame. »Ich meine, am meisten hätte sie wohl der Theodore
+geglichen, wenn wir sie behalten hätten, das liebe Kind. Sie haben alle
+da unten, -- unsere meine ich, Papa! -- ein hübsches lustiges Lachen;
+aber ich kann nichts dafür, ich muß es sagen: wie das Kind, unser
+Ännchen, ist doch keins so glücklich in seinem Lachen gewesen. Die
+andern kennen wir ja auch nun schon lange mit ihren Sorgen und ihren
+Nöten und ihren unnützen Ärgernissen. Keins von ihnen lacht und kreischt
+und kichert so wie mein Ännchen es tat. Hätten wir die Enkel nicht, so
+würde das Haus wohl manchmal still genug sein; -- selbst dir, Großpapa.«
+
+Da war das Lachen, das vor so langen, langen Jahren zuerst das Haus hell
+und heiter gemacht hatte! Auch der alte Herr, der Großpapa, dem das
+Haus nie ruhig genug sein konnte, kannte es ganz genau.
+
+»Also, ihr wißt es doch noch, wie es war, als wir drei allein waren, und
+dein Haar noch nicht so weiß, Vater; und auch deines nicht so hübsch
+grau, mein Mütterchen, und ich euer liebes, einziges Mädchen! Hier sitze
+ich auf meinem Stuhl und behalte mein Recht, allen meinen Schwestern und
+Brüdern und allen meinen Nichten und Neffen zum Trotz. Ich bin die
+Älteste! Wer auch nach mir gekommen ist, wie viele auch gesessen haben
+auf diesem Schemelchen -- mir gehört es, mir habt ihr es hierher
+gestellt; das ist mein Sitz am Herde! Wer kann mir meinen Platz nehmen
+in eurer Seele? wer in dem Hause, das ihr gebaut habt und in dem ihr
+mich einmal euer Glück nanntet?!«
+
+»Du hast recht, Mutter,« sagte der alte Herr; »ich weiß eigentlich
+nicht, wie wir gerade jetzt darauf kommen; aber das Kind hat immer zu
+mir, -- zu uns gehört. Nur weil wir es wußten, haben wir nicht immer
+dran gedacht. So geht es aber mit allem Wissenswürdigen in der Welt.«
+
+»Mein Ännchen!« seufzte einfach die Greisin; doch die blonden Locken
+wurden wie mutwillig von neuem geschüttelt, und wieder legte sich der
+kleine Finger schalkhaft auf den Mund: »Ja, ich war immer da, wenn ihr
+auch nicht an mich zu denken glaubtet: an manchem schwülen Sommertage,
+in mancher kalten, dunkeln, trostlosen Winternacht. An manchem Feste in
+der lichtstrahlenden Winternacht, an manchem sonnigen, seufzervollen
+Frühlingsmorgen. Jetzt haben die andern da unten im Saale euere Sorgen,
+Freuden und Arbeiten. Ihr aber habt Zeit für mich. Eure andern, die nach
+mir gekommen sind, haben mir wohl mein altes Spielzeug verkramt und
+zerbrochen; aber mein Plätzchen im Hause haben sie mir nicht nehmen
+können. Ich habe es ihnen nur geliehen, einem nach dem andern; doch mein
+Eigentum ist es und bleibt es; nicht wahr, Papa und Mama?! Ihr habt zwar
+unter den andern gottlob nun auch wieder ein Ännchen -- ein Enkelkind
+mit meinem Namen -- aber das tut nichts, wir vertragen uns schon um
+diesen kleinen Stuhl und um -- euch!... Es war wohl ein kleiner Sarg,
+in den ihr mich legen mußtet; aber -- ich bin immer über meine Jahre
+klug gewesen. Ich habe es wohl oft heimlich erlauscht, wenn ihr das über
+mich sagtet. Damals wußte ich freilich nicht recht, was ihr damit sagen
+wolltet, und ob es eigentlich ein Lob für mich sei; jetzt aber weiß ich
+es. Ei ja, ich bin sehr klug für meine Jahre gewesen! nun lacht nur, wie
+ihr damals geweint habt, als ich von euch weggeführt wurde und nicht
+über die Schulter zurücksehen durfte. Seht ihr wohl, da lächelt ihr
+wenigstens schon. Die Jahre sind nun hingegangen; lange, lange Jahre!
+Heute abend habt ihr euch vorgenommen, noch einmal jung zu sein mit
+euren Kindern und Enkeln. Es ist euch auch wohl gelungen, doch nicht
+ganz. Ganz jung seid ihr erst jetzt wieder, da ich mich zu euch gesetzt
+habe, ich -- euere Älteste und euere Jüngste. Nimm meinen Krauskopf
+wieder zwischen deine Hände, Mutter, laß mich wieder auf deinem Knie
+sitzen, Väterchen; draußen schneit es sehr, und der Nordwind bläst, und
+es ist spät in der Nacht; ihr aber schickt mich diesmal noch nicht zu
+Bett; -- wir wollen jetzt einander noch nicht zu Bette schicken; wir
+wollen noch einmal ein Weilchen sitzen und erzählen von =dem, was einmal
+war=.«
+
+
+
+
+ V.
+
+
+Sie hatten nur noch fünf Minuten in ihren Großväterstühlen neben dem
+Ofen sitzen wollen, um sich von dem Feste, dem Händedrücken, all den
+Küssen und guten Wünschen zu dem neuen kommenden Jahre ein wenig zu
+erholen, wie es den ältesten Leuten in der Familie geziemt in der
+Silvesternacht, während die Jugend um die lichterglänzende Festtafel
+weiter jubelt und lärmt, nach der Uhr sieht und den Sekundenzeiger mit
+lachendem Auge verfolgt bis heran an den neuen ernsten Grenzstein ihrer
+Erdenzeit. Und sie, die bereits Greise waren, hatten nicht nach der Uhr
+gesehen; sie hatten gar nicht einmal daran gedacht. Die Sekunden der
+letzten Stunden des Jahres waren ihnen dahingeglitten, wie die vielen,
+langen arbeitsvollen, inhaltreichen Jahre ihres Daseins selber bis in
+dieses jüngste und das eben vor der Tür stehende hinein.
+
+»Du fragst wohl, Vater, wie wir gerade jetzt darauf kommen, und sagst,
+daß du an das Kind lange nicht gedacht hast,« sagte die alte Dame. »Es
+ist freilich lange her, daß wir ihren kleinen Sarg dort in dem Saale, wo
+sie jetzt gottlob so lustig sind, aufstellen mußten. Wie wunderlich es
+doch ist, daß ich gerade jetzt darauf komme, was für eine schöne
+Sommernacht es war, in welcher sie starb! Horch jetzt nur, wie der Wind
+den Schnee gegen die Fenster treibt. Wir haben die andern alle behalten
+und wir haben an unseren Kindeskindern Freude; aber an unsere Älteste
+habe ich doch immer gedacht. Was würde aus den Kindern werden, wenn ihre
+Mütter nicht immer an sie dächten. Selbst die Gestorbenen können ohne
+ihre Mutter nicht auskommen. -- Horch, wie sie es da unten treiben!
+eigentlich ist es recht unrecht von ihnen, daß sie auch die Jüngsten so
+lange aus dem Bette zurückhalten, und ich werde ihnen morgen früh auch
+jedenfalls meine Meinung darüber sagen. -- Als =sie= in ihrem Fieber
+lag, saß ich auch und zerrang mir die Hände und fragte mich Tag und
+Nacht, was ich hätte anders machen können, damit das Schreckliche nicht
+so zu kommen brauchte. Du warst wohl vernünftiger, wenn du aus deinem
+Kontor heraufkamst und mir zuredetest, Geduld zu haben. Wie konnte ich
+wohl verständig sein und Geduld haben? Und man sucht doch immer so, wie
+man einem andern die Schuld geben kann, und wäre man das auch selber!«
+
+»Ich meine, Mutter, wir geben das auf, uns den Kopf darüber zu
+zerbrechen, und noch dazu so spät in der Nacht, im Jahr und in den
+Jahren,« sprach der alte Herr, wiederum sehr vernünftig; und dann
+sprachen sie bis zu dem ersten Glockenschlage der Mitternacht nichts
+mehr miteinander. Dagegen aber füllte sich ihre Stube immer mehr mit den
+Bildern und den Klängen der Vergangenheit. Und der liebliche Spuk der
+Silvesternacht hatte nicht das geringste vom Phantasten an sich. Das
+älteste Kind des Hauses war noch einmal im vollen blühenden Leben Herrin
+im Reich und fand all sein altes verkramtes Spielzeug wieder, wie -- die
+zwei weißhaarigen Greise. Sie paßten wieder ganz zueinander, die Eltern
+und das Kind: der dunkle, geheimnisvolle Vorhang der Zukunft hatte sich
+bewegt, und es war eine Kinderhand, die sich aus den schwarzen Falten
+weiß und zierlich hervorstreckte und winkte. Sie aber, die Fröhlichen da
+unten im Festsaale des Hauses, hatten dem Vater und der Mutter, dem
+Großvater und der Großmutter -- den beiden Alten ein glückliches, ein
+segensreiches neues Jahr gewünscht und hatten zwischen Becherklang und
+lustigem Lachen ihren Wunsch wehmütig ernst gemeint, wie sich das
+gebührte.
+
+»Wie gut der Papa und die Mama heute abend aussahen,« meinten sie. »Es
+ist doch eine Freude, wie frisch sie sich erhalten und wie sie noch an
+allem teilnehmen. Aber verständig war es doch, daß sie nicht über ihre
+Zeit bei uns sitzen blieben. Morgen früh hätten wir uns doch Vorwürfe
+gemacht, wenn wir sie noch länger gequält hätten, das Vergnügen nicht
+durch ihr Weggehen zu stören.... Jetzt aber auf die Uhr gesehen! in
+fünf Minuten wird es Zwölf schlagen; -- ein bißchen leise, Kinder, daß
+=wir die alten Leute nicht wecken!=«...
+
+Zwölf Uhr und -- ein neues Jahr! Alle guten Geister haben einen leisen
+Schritt und gehen auf weichen Sohlen; so schlich sich die jüngste
+Tochter des Hauses weg aus dem jubelnden Kreis, glitt die Treppe hinauf
+und horchte an der Tür der »alten Leute«, die durch den Becherklang, die
+lauten Glückwünsche und alles, was sonst noch in die Stunde gehört,
+nicht gestört werden sollten in ihrer Ruhe auf dem Altenteil.
+
+»O mein Gott, da sitzt ihr noch? Das ist doch ganz wider die Abrede! Sie
+meinen alle da unten, daß ihr längst in den Federn liegt und euch
+behaglich in das neue Jahr hinübergeträumt habt.«
+
+»Das letztere haben wir auch getan, mein Kind,« sagte der alte Herr
+nachdenklich lächelnd.
+
+»Oh, und nun müßte ich sie alle -- alle die übrigen auch noch
+heraufrufen, daß sie euch ihre Meinung sagen. Sie werden es mit Recht
+sehr übel nehmen, wenn ich's nicht auf der Stelle tue, Mama!«
+
+»Laß es lieber, mein Herz,« meinte die alte Dame, leise die blonden
+Flechten vor ihr, die noch nicht Staub und Asche geworden waren,
+streichelnd. »Es würde den Vater doch zu sehr aufregen, und wir gehen
+nun wirklich gleich zu Bett. Wir haben vorher nur noch ein wenig an
+allerlei gedacht, was vor eurer -- vor deiner Zeit war.«
+
+»Ach ich bin so glücklich!« rief die junge Frau. »Wir sind so vergnügt
+da unten an unserem Tische, und ihr hier in euerer lieben, alten, guten
+Stube seht so jung aus und so hell aus den Augen, wie das Jüngste von
+uns -- euern andern! Oh, und mein Franz ist so drollig; der Mensch ist
+mir fast ein wenig zu ausgelassen, oh -- und also noch einmal: ein
+fröhliches, glückliches, gesegnetes neues Jahr euch vor allen und -- uns
+andern auch!«
+
+»Ja, ja!« sagten die =alten Leute= leise zu gleicher Zeit und nickten
+freundlich ihre Zustimmung zu dem guten Wunsch.
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis /
+Ein Besuch / Auf dem Altenteil, by Wilhelm Raabe
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JUNKERVON DENOW / EIN ***
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+works. See paragraph 1.E below.
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+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
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+The Project Gutenberg EBook of Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis / Ein
+Besuch / Auf dem Altenteil, by Wilhelm Raabe
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
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+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+Title: Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis / Ein Besuch / Auf dem Altenteil
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+Author: Wilhelm Raabe
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+Release Date: January 9, 2014 [EBook #44639]
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JUNKERVON DENOW / EIN ***
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+
+<div class="transnote covernote">
+<p>The cover image was created for this edition and is placed in the public domain.</p>
+</div>
+<div class="transnote">
+<p class="tn-header">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="noindent">Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt.
+Text, der im Original in Antiqua gesetzt ist, ist hier <i>kursiv</i>
+dargestellt.
+Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen;
+nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
+</p>
+</div>
+
+<p class="center huge" style="margin-top:1em"><b><i>Wilhelm Raabe</i></b></p>
+<hr class="r50"/>
+<p class="center huge"><span class="gesperrt"><b><i>Bücherei</i></b></span></p>
+<h1 class="center big"><i>Erste Reihe:<br />
+Kleinere<br />
+Erzählungen</i></h1>
+<hr class="r10"/>
+<p class="center big" style="padding-top:2em"><i>Zweiter Band</i></p>
+<p class="center big" style="padding-top:2.5em"><i>Berlin-Grunewald</i></p>
+<p class="center big" style="margin-bottom:0.5em"><i>Verlagsanstalt für Litteratur und
+Kunst/Hermann&nbsp;Klemm</i>
+</p>
+
+<p class="center huge newstory" style="margin-top:1em"><b><i>Wilhelm Raabe</i></b></p>
+<hr class="r50" />
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Junker">Der Junker von Denow</a></i></b></p>
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Geheimnis">Ein Geheimnis</a></i></b></p>
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Besuch">Ein Besuch</a></i></b></p>
+<p class="center huge"><b><i><a href="#Silvester">Auf dem Altenteil</a></i></b></p>
+<p class="center big"><i>Erzählungen</i></p>
+<hr class="r10"/>
+<p class="center big"><i>Dritte Auflage<br />
+11.-16. Tausend</i></p>
+
+<p class="center big" style="padding:1em"><i>Berlin-Grunewald<br />
+Verlagsanstalt für Litteratur und
+Kunst/Hermann&nbsp;Klemm</i>
+</p>
+
+<p class="center" style="padding-top:10%">
+Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig<br />
+Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz<br />
+Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig<br />
+</p>
+
+<p class="newstory"></p>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Junker">
+Der<br />
+<span class="big">Junker von Denow</span><br />
+Historische Novelle<br />
+</a>
+</h2>
+
+<h3><a name="JunkerI" id="JunkerI">I.</a></h3>
+
+<p class="startchap">
+<img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>er am Abend des sechsten Septembers alten
+Stils, am Donnerstag vor Mariä Geburt
+im Jahre unsers Herrn Eintausendfünfhundertneunundneunzig,
+nach Sonnenuntergang einen
+Blick aus der Vogelschau über die Rheinebene von Rees
+bis Emmerich und weit nach Ost und West ins Land
+hinein hätte werfen können, der würde eines erschrecklichen
+Schauspiels teilhaftig geworden sein.</p>
+
+<p>Schwarze regendrohende Wolken verhingen das
+Himmelsgewölbe, und es würde eine dunkle Nacht gewesen
+sein, wenn nicht der Mensch diesmal dafür gesorgt
+hätte, daß es auf der weiten Fläche nicht ganz finster
+wurde. Auf den Wällen von Rees leitete, an der
+Spitze seiner Hispanier, Burgunder und Wallonen, Don
+Ramiro de Gusman die Verteidigung der Stadt und
+Festung gegen das Reichsheer, welches schläfrig und
+matt genug der Belagerung oblag, dafür aber auf
+andere Weise desto mehr Lärm machte, wie es einer
+Armee des heiligen römischen Reichs deutscher Nation
+zukam. Ein fahles, blitzartiges Leuchten lag hier über
+der Gegend, denn wenn auch das schwere Geschütz seit
+Mittag schwieg, so knatterte doch das Musketenfeuer,
+schwächer oder stärker, rund um die Stadt fort und fort,
+und manch ein Wachtfeuer flackerte auf beiden Ufern
+des Flusses, welcher manche Leiche in seinen nachtschwarzen
+Fluten mit sich hinab führte in das leichenvolle
+Holland, wo der finstere Admiral von Aragonien,
+Don Francisco de Mendoza, und der Sohn der schönen
+Welserin, der bigotte Kardinal Andreas von Österreich,
+die Zeiten Albas erneuerten. &mdash;</p>
+
+<p>Wir haben es jedoch nur mit der rechten Seite des
+Rheines zu tun, wo tief in das Land hinein unter den
+zusammengewürfelten Tausenden des Reichsheeres,
+Hessen, Brandenburgern, Braunschweigern, Westfalen,
+der <i>furor teutonicus</i>, die sinnlose, trunkene, deutsche
+Furie ausgebrochen war und in Verwüstungen aller
+Art sich Luft machte. In allen Dörfern und Lagerplätzen
+Sturmglocken, Trommeln und rufende Trompeten
+&mdash; Geschrei und Jammer des elenden, geplünderten,
+mißhandelten Landvolkes &mdash; bittende, drohende
+Befehlshaber &mdash; flüchtende Herden, Weiber, Kinder,
+Kranke, Greise &mdash; Reitergeschwader, die sich sammelten,
+Reitergeschwader, die auseinanderstoben &mdash; brennende
+Häuser und Zeltreihen, und zwischen allem die Cleveschen
+Milizen, die &bdquo;Hahnenfedern&ldquo;, zur Wut gebracht durch
+die Ausschweifungen derer, welche da Hilfe bringen
+sollten gegen die Ausschweifungen des fremden Feindes!
+Überall Blut und Feuer und Brand &mdash; ein unbeschreibliches,
+wüstes, grauenhaftes Durcheinander, zu dessen
+Schilderung Menschenrede nicht hinreicht!...</p>
+
+<p>Lange genug hatte an diesem Abend Don Ramiro,
+hinter seiner Brustwehr an eine zerschossene Lafette
+gelehnt, hinübergeschaut nach den Laufgräben und
+Angriffswerken der tollgewordenen Belagerer; jetzt
+stieg er langsam herab von seinem Lugaus, und begleitet
+von zwei Fackelträgern und mehreren seiner Unterbefehlshaber
+schritt er durch die Gassen von Rees,
+dessen zitternde Bewohner jedes Fenster hatten erhellen
+müssen, und dessen Straßen dumpf dröhnten
+unter den Schritten der gegen die östlichen Ausfallspforten
+heranmarschierenden Besatzung.</p>
+
+<p>&bdquo;Francisco Orticio!&ldquo; sagte der spanische Kommandant,
+und im nächsten Augenblick stand der Geforderte
+vor ihm.</p>
+
+<p>&bdquo;Alles bereit?&ldquo; fragte Don Ramiro wieder.</p>
+
+<p>Der gerüstete Führer senkte stumm den Degen und
+wies mit der Linken auf die Haufen der Krieger, welche
+jetzt alle an den ihnen bestimmten Plätzen dicht gedrängt,
+regungslos standen. Des Spaniers Auge flog mit
+düsterer Befriedigung über all diese im Glanz der
+Fackeln blitzenden Harnische, Sturmhauben, Piken und
+Schwerter &mdash; er nickte. &bdquo;Sie würden sich da draußen
+untereinander selbst fressen, gleich den hungrigen
+Wölfen,&ldquo; sagte er, &bdquo;aber wir wollen zur Ehre Gottes
+und der heiligen Jungfrau&ldquo; &mdash; hier lüftete er den Hut,
+und alle Umstehenden taten das Gleiche &mdash; &bdquo;unsern
+Teil an dem Verdienst haben, die Ketzer zu vertilgen!
+Erinnert Euch, Orticio, mit dem Schlage Elf beginnt
+das Feuer wiederum &mdash; mit dem Schlage Elf hinaus
+auf sie! Spanien und die Jungfrau! die Losung.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;An eure Plätze, ihr Herren!&ldquo; erschallte das
+Kommandowort Francisco Orticios &mdash; ein dumpfes
+Gerassel und Geklirr der sich aneinander reibenden
+Harnische &mdash; Don Ramiro de Gusman schritt langsam
+prüfend die Reihen entlang; dann stieg er schweigend
+wieder zu dem Walle empor, nach einem letzten Wink
+und Gruß für Orticio, welcher sein Wehrgehäng
+fester zog.</p>
+
+<p>&bdquo;Noch eine halbe Stund&rsquo;! Spanien und die Jungfrau,
+Spanien und die Jungfrau!&ldquo; ging es dumpf
+durch die Reihen der harrenden Krieger. &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Unsere Geschichte beginnt!</p>
+
+<p>&bdquo;So hole der Teufel die meineidigen Schufte und
+meuterischen Hunde!&ldquo; schrie der Hauptmann Burghard
+Hieronymus Rußwurmb in Verzweiflung, im Lager
+der dreizehn Fähnlein gewappneter Knechte, Reisiger
+und Fußsöldner, welche Herr Heinrich Julius, postulierter
+Bischof zu Halberstadt, Herzog zu Braunschweig und
+Lüneburg als Obrister des niedersächsischen Kreises
+zufolge des Koblenzschen Reichsabschieds für diesen
+Krieg geworben und aus aller deutschen Herren Ländern
+zusammengebracht hatte. &bdquo;Ist denn die Welt ganz
+umgekehrt? Es ist zum Rasendwerden!... So schlage
+zum letzten Mal die Trommel, Hans Niekirche &mdash; o
+heiliges Wort Gottes, das ist das Jüngste Gericht!&ldquo;</p>
+
+<p>Hans Niekirche aus Braunschweig, der Trommelschläger,
+ein blutjunger Wicht, welcher einem Schneider
+seiner Geburtsstadt aus der Lehre gelaufen war, hatte,
+hierhin gestoßen, dahin gezerrt, sich fast zwischen die
+langen Beine seines Hauptmanns gerettet und fing
+nun mit zitternden Händen von neuem an, das Kalbfell
+zu bearbeiten; während der Hauptmann hin und
+her lief, mit beiden Händen das Haupthaar durchwühlend.
+Er hatte wohl das Recht, zornig zu sein, der
+Wackere! Dicht hinter sich hatte er ein geplündertes
+Bauernhaus, dessen Fenster und Türen eingeschlagen
+waren, und auf dessen Schwelle ein junges Weib mit
+zerrissenen Kleidern, in der im letzten Krampf zusammengekniffenen
+Hand ein Büschel roter Haare, leblos ausgestreckt
+lag. An sein linkes Bein hing sich jetzt auch noch
+ein arm Kindlein in seiner Todesangst, zu seiner Rechten
+schlug Niekirch seine Wirbel, und rings um ihn her schrie
+und stampfte, fluchte und drohete sein meuterisch Fähnlein
+und rasaunte durcheinander, wie ein aufgestört
+Rattennest.</p>
+
+<p>&bdquo;O ihr Schelme, ihr Hunde, das soll euch heimgezahlt
+werden!&ldquo; brüllte der Hauptmann. &bdquo;Warte,
+Hans Diroff von Kahla, warte, Koburger, Christoph
+Stern von Saalfeld, an den Galgen und aufs Rad
+kommt ihr; oder die Gerechtigkeit ist krepiert auf Erden.
+Warte, du Schmalz von Gera, dein Fett soll all werden,
+wie eine Kerze im Feuer! O Tag des Zorns, o Hunde!
+Hunde!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Gebt Raum, Hauptmann!&ldquo; schrie ein riesenhafter
+Kerl, genannt Valentin Weisser von Roseneck, dem
+Führer den Büchsenkolben vor die Brust setzend. &bdquo;Ihr
+seid die Verräter, die Schelme, Ihr und Eure saubern
+Gesellen und Euer Graf von Hohenlohe, der Holländer!
+Wollt Ihr uns nicht etwa über das Wasser, über den
+Rhein, von des Reiches Boden führen? He, sprecht!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nicht über den Rhein! nicht über den Rhein! nicht
+vor Bommel! nicht vor Bommel!&ldquo; schrie es von allen
+Seiten, und weit über das Feld durch alle Tausende
+wälzte sich dasselbe Wort. Der Hauptmann schlug den
+Kolben von seiner Brust zur Seite.</p>
+
+<p>&bdquo;Du wirst gehängt, wie ein Spatz, Rosenecker,&ldquo;
+schrie er.</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr sollt es wenigstens nit erschauen!&ldquo; brüllte der
+Schütz wieder, die brennende Lunte über dem Haupte
+schwingend. Er nahm sich nicht die Mühe, sie aufzuschrauben,
+das Feuerrohr lag auf der Gabel &mdash; im
+nächsten Augenblick wäre der Hauptmann ein Kind des
+Todes gewesen, wenn nicht plötzlich zwischen dem Bedrohten
+und dem Drohenden ein Reiter im vollen
+Galopp angehalten und dem wütenden Musketierer
+den Büchsenlauf in die Höhe geschlagen hätte, daß
+der Schuß in die Luft ging.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Junker! der Junker!&ldquo; schrie es auf allen
+Seiten. &bdquo;Der Junker zurück! sprecht, sprecht, was ist&rsquo;s?
+was sagt der Graf? Haben sie uns verkauft an die
+holländischen Juden, ihnen ihre Festung Bommel zu
+entsetzen?... Der Junker, der Junker! Nicht nach
+Bommel, nicht vor Bommel! nicht über den Rhein!
+nicht über den Rhein! In die Spieße der von Hollach!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, schreit nur, bis ihr berstet!&ldquo; zischte blau vor
+Grimm der Hauptmann durch die zusammengebissenen
+Zähne und ballte die Hände, daß die Nägel tief ins
+Fleisch drangen. &bdquo;Schreit nur &mdash; es ist noch nicht im
+Topf, darin es gekocht wird &mdash; Christoph von Denow,
+sprecht zu den Meutmachern! sagt den räudigen Hunden
+Eure Botschaft!&ldquo;</p>
+
+<p>Der junge Reiter richtete sich hoch auf im Sattel,
+und alle die wilden Gesichter im Fackelschein ringsumher
+wandten sich ihm zu.</p>
+
+<p>&bdquo;Der wohlgeborene und edle Graf Philipp von
+Hohenlohe, unser gnädiger Feldhauptmann &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nichts von dem Grafen von Hollach, dem Verräter,
+dem Judas!&ldquo; schrien einige. &bdquo;Stille! Ruhe!
+Hört ihn!&ldquo; riefen die andern und gewannen die Oberhand,
+daß der Reiter fortfahren konnte.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Graf läßt den Fähnlein des braunschweigischen
+Regiments zu Roß und zu Fuß vermelden, daß ihr
+Begehren und Gebaren unehrlich und treulos sei,
+deutscher Nation zu Schimpf und Schande und großem
+Schaden gereiche &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>Ein allgemeines Wut- und Spottgebrüll unterbrach
+den Redner, der erst nach langem Harren weiter rufen
+konnte.</p>
+
+<p>&bdquo;Es sagt der Graf von Hohenlohe, daß er befehle,
+Generalmarsch zu schlagen vor jeglichem Quartier und
+auszurücken in die Linien gen Rees, auf weitern Befehl!
+Da kommt unser gnädigster Obrister, der Herr von
+Rethen.&ldquo;</p>
+
+<p>Neues Geschrei empfing den ebenfalls im vollen
+Rosseslauf erscheinenden Führer, welcher den schriftlichen
+Befehl des Grafen mit sich führte; aber ebenfalls vergeblich
+durch Bitten, Drohungen, Erinnerungen an den
+Artikelbrief das Volk zur Ruhe zu bringen versuchte.
+Atemlos, zornesbleich hielt er zuletzt in dem kleinen
+Kreise der Hauptleute und Offiziere und der wenigen
+treugebliebenen Söldner. Der Junker aber befand sich,
+willenlos fortgerissen, inmitten des wildesten Getümmels
+der aufrührerischen Knechte, die von Mord und
+Blut sprachen, und bereits ihre Spieße senkten, ihre
+Feuergewehre richteten auf das Häuflein der Getreuen,
+welche einen Ring schlossen um die Führer und die
+geretteten Feldzeichen, und sich rüsteten, ihr Leben so
+teuer als möglich zu verkaufen.</p>
+
+<p>Auch das Reiterlager hatte sich in Bewegung gesetzt,
+von Minute zu Minute wuchs der Tumult, und inmitten
+all dieser drohenden Spieße, Schwerter und
+Büchsen, unter all diesen scheu gewordenen, ausschlagenden,
+stampfenden Rossen und trunkenen Männern
+taucht jetzt für uns eine Gestalt auf, klein und zierlich
+gebaut, aber trutzig und unverzagt, im Heerlager aufgewachsen,
+gebräunt von Wind und Wetter, abgehärtet
+in mancher bösen Sturmnacht am schwächlichen Lagerfeuer,
+ein klein Hütlein, geziert mit einer Häherfeder,
+auf den krausen, wirren Locken, ein Dolchmesser im Gürtel,
+&mdash; bekannt bei Führern, Knechten und Reisigen; zu
+Roß, zu Fuß, zu Wagen stets dem Heere zur Hand:
+<em class="gesperrt">Anneke Mey</em> von Stadtoldendorf, des braunschweigschen
+Regiments Marketenderin und Schenkin!</p>
+
+<p>&bdquo;Hab&rsquo; ich dich auf den Fuß getreten, Anneke?&ldquo; fragte
+ganz kleinmütig der wilde Valentin Weisser, der eben
+das Feuergewehr gegen den Hauptmann hatte losgehen
+lassen. &bdquo;Nimm dich in acht, daß sie dich nicht erdrücken,
+Engel-Anneke &mdash; stelle dich hinter mich, du wirst gleich
+dein blaues Wunder sehen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nehmet Ihr Euch in acht, Rosenecker,&ldquo; lachte das
+wildherzige Kind, &bdquo;Ihr spielt ein hoch Spiel diese Nacht!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Riese warf einen trotzigen, lachenden Blick über
+die hin und her wogenden Massen. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Hoho, sind wir nicht unsrer genug, zu gewinnen?
+Nicht vor Bommel! Ju &mdash; ho! ho! nicht vor Bommel!
+nicht übern Rhein! Fort mit den Hauptleuten, fort mit
+dem Grafen von Hollach!&ldquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick riefen wieder Hunderte von
+Stimmen nach dem Junker &mdash; dem Christoph von
+Denow. Da zuckte ein seltsamer Glanz über das Gesicht
+des Mädchens. Es stellte sich zuerst auf die Zehen, dann
+kletterte es mit katzengleicher Behendigkeit und Schnelligkeit
+auf einen Schutthaufen, wo sich bereits mehrere
+Soldatenweiber mit ihren Kindern und Habseligkeiten
+zusammengedrängt hatten und alle zugleich in den Lärm
+hineinkreischten.</p>
+
+<p>&bdquo;Mein Mann! mein Mann! Jesus, sie würgen sich
+alle! Gottes Sohn &mdash; Franz! Franz!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Was macht der Junker? wo ist der Junker?&ldquo; rief
+Anneke Mey, eine Hand, welche ihr entgegengestreckt
+wurde, ergreifend.</p>
+
+<p>&bdquo;Da! da! er spricht zu denen vom vierten Fähnlein
+&mdash; da &mdash; da &mdash; Jesus, sie werfen den Hauptmann Eberbach
+nieder, und mein Mann, Jesus, mein Mann!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>Die Augen der Armen wurden starr, mit einem
+Sprung war sie von der Höhe herab und stürzte sich
+mitten in das Getümmel; über den am Boden liegenden
+Hauptmann sank unter den Hieben und Stößen der
+Meutrer der Doppelsöldner Franz Hase von Erfurt
+zusammen. Vergeblich hatte sich Christoph von Denow
+unter die Piken und Hellebarden geworfen, mit seinem
+Schwert die Spitzen niederschlagend; im vollen Lauf
+stürzte jetzt das aufrührerische Kriegsvolk auf die Treugebliebenen
+und die Befehlshaber, Schüsse krachten
+hinüber und herüber. Ihr Messer aus der Scheide
+reißend trieb Anneke Mey in den Aufruhr hinein.
+Christoph von Denow sah sie plötzlich an seiner Seite
+unter den Füßen der Kämpfenden; &mdash; noch ein Augenblick,
+und sie war verloren, noch ein Augenblick, und
+er hatte sie, fast ohne zu wissen, was er tat, zu sich
+emporgezogen aufs Pferd; alles drehte sich um ihn
+her &mdash; &bdquo;Mordio! Mordio!&ldquo; brüllte es auf allen
+Seiten &mdash; &mdash; Da &mdash; &mdash; urplötzlich &mdash; &mdash; blieben alle
+die zum Verbrechen gezückten und geschwungenen Waffen,
+wie durch ein Zauberwort aufgehalten in der Luft &mdash;
+jeder Wut- und Angstschrei erstarrte auf den Lippen
+&mdash; Angreifer und Angegriffene standen lautlos, bewegungslos!</p>
+
+<p>Im Westen über Rees hatte sich, begleitet von einem
+donnerartigen Krachen, der dunkle Nachthimmel blutig-rot
+gefärbt. Alle Geschütze auf den Wällen, alle Geschütze
+in den Angriffslinien brüllten los; im Lager des
+Reichsheeres flog ein Pulvervorrat in die Luft, dazwischen
+rollte, immer stärker werdend, das kleine Gewehrfeuer.</p>
+
+<p>Mit einem Male hatte sich die Szene im aufrührerischen
+Lager vollständig verändert.</p>
+
+<p>&bdquo;Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!&ldquo;
+ging es von Mund zu Mund. &bdquo;Sturm! Sturm! Gen
+Rees! gen Rees!&ldquo;</p>
+
+<p>Und als peitsche der Satan sie vorwärts, seiner Hölle
+zu, hatte sich plötzlich diese ganze Masse von Kriegern,
+Führern, Weibern, Troßknechten in Bewegung gesetzt,
+dem flammenden Vulkan im Westen entgegen. Gier
+nach Beute, unbefriedigte Gier nach Blut trieb sie von
+dannen. Im wildesten Taumel, Reiter und Fußvolk
+und Wagen bunt durcheinander, raste sie über das Feld
+durch die Nacht. Im wildesten Taumel und Traum,
+das Schwert am Faustriemen, vor sich auf dem Sattel
+das Mädchen aus den Weserbergen, saß Christoph von
+Denow auf seinem schwarzen Roß. &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!
+Vivat der Graf! Vivat der Graf von Hollach! Vorwärts!
+Vorwärts!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein sekundenlanges Anhalten in dieser wüsten Menschenflut
+war eine Unmöglichkeit, ein Fehltritt, ein
+Straucheln der sichere Tod. Schon hörte man zwischen
+dem Donnern und Krachen um die Stadt den Schlachtruf
+der Feinde: &bdquo;Spanien und die Jungfrau! Spanien
+und die Jungfrau!&ldquo; und lauter und näher den Ruf der
+angegriffenen Belagerer: &bdquo;Das Reich! das Reich!
+Vorwärts, das Reich!&ldquo;</p>
+
+<p>Hinein in die Atmosphäre von Blut und Feuer
+brauste die anstürzende Menschenmasse, und die Letzten
+drängten bereits die Vordersten in die angegriffenen
+Laufgräben, aus denen eine andere Flut ihnen entgegen
+wogte. Das waren die Hessischen, die schlecht bewaffneten,
+halbverhungerten, im Regen und Rheinwasser fast
+ertränkten Schanzgräber, welche dem wilden Anprall
+der Spanier nicht hatten widerstehen können.</p>
+
+<p>&bdquo;Spanien! Spanien! Spanien und die Jungfrau!&ldquo;
+rief Francisco Orticio, sich über einen Schanzkorb in die
+Höhe schwingend.</p>
+
+<p>&bdquo;Spanien! Spanien und die Jungfrau!&ldquo; wiederholten
+seine Krieger ihm nachdringend.</p>
+
+<p>&bdquo;Rette, Hessen! Rette!&ldquo; schrien die flüchtigen Söldner
+des Landgrafen im panischen Schrecken.</p>
+
+<p>&bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo; brüllte es von den
+Höhen der Böschungen.</p>
+
+<p>&bdquo;Up dei Düvels!&ldquo; schrie Heinrich Weber aus Schöppenstedt,
+eine Fackel in der Hand mitten unter die Hessen
+springend. Der flammende Brand flog im weiten Bogen
+gegen die Spanier &mdash; ein zweiter Satz &mdash; die zu Grund,
+der Bergstadt im Harz, gehämmerte Hellebarde
+schmetterte nieder auf eine zu Cordova geschmiedete
+Sturmhaube: Diego Lua aus Toboso stürzte mit
+einem &bdquo;<i>Valga me Dios!</i>&ldquo; tot zurück.</p>
+
+<p>&bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo; brauste es dem
+Schöppenstedter nach, und &bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo;
+jubelten auch die Hessen, welche mit neuem
+Mut sich wandten gegen ihre Verfolger.</p>
+
+<p>&bdquo;Braunschweig! Braunschweig!&ldquo; rief Christoph von
+Denow, dem es gelungen war, sich von seinem Pferde
+zu werfen, welches sich auf der Böschung hoch bäumte,
+im nächsten Augenblick aber, von einer Kugel getroffen,
+zusammenbrach. Anneke Mey stand unbeschädigt auf
+den Füßen, doch auch sie wurde mit hinabgerissen in die
+Gräben, wo sie jedoch samt Hans Niekirche hinter einem
+Haufen umgestürzter Schanzkörbe den verlorenen Atem
+wieder gewinnen konnte.</p>
+
+<p>Und jetzt Angriff und wütende Verteidigung, Flüche
+in sechs Sprachen, Todesrufe; &mdash; auf engstem Raum
+Vernichtung jeder Art! &mdash; Alle Hauptleute der Braunschweiger:
+Adebar, Maxen, Wulffen, Wobersnau,
+Rußwurmb, Dux, Statz, und wie sie hießen, hatten ihre
+Stellen als Befehlshaber wieder eingenommen und
+drängten tapfer kämpfend die Spanier zurück. Tapfer
+stritten aber auch die Spanier. Sechs Geschütze hatten
+sie in den hessischen Schanzen genommen und in den
+Rheingraben versenkt, Schritt für Schritt wichen sie
+zu den flammenden Mauern und Wällen der Stadt
+über die Leichen ihrer Landsleute und ihrer Feinde.
+Der Graf von Hohenlohe in vollster Rüstung mit
+seinen Herren führte stets neue Truppen an; Haufen
+auf Haufen ließ Don Ramiro de Gusman hervorbrechen.</p>
+
+<p>Dicht an den Spaniern kämpfte Christoph von
+Denow, das Blut rieselte aus einer Stirnwunde, &mdash;
+er merkte es nicht. Anneke Mey hatte sich mutig auf
+ihren Schanzkorb geschwungen und den widerstrebenden
+Niekirche nachgezogen. Sie hielt ihr Messer noch immer
+gezückt in der Rechten, mit der Linken hielt sie den
+schlotternden Trommelschläger am Kragen.</p>
+
+<p>&bdquo;So schlage den Sturmmarsch, Junge!&ldquo; rief sie
+lachend. &bdquo;Willst&rsquo; nicht? Wart, gleich fliegst du herunter,
+daß sie dich drunten zu Brei vertreten, Feigling!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja! ja! ich will!&ldquo; jammerte Hans. &bdquo;Ach wär&rsquo;
+ich doch daheim! Ach wär&rsquo; ich doch zu Haus! Mein
+Mutter! mein Mutter!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Na, na, schlage nur immer zu, du kommst noch
+davon!&ldquo; sagte Anneke begütigend und ließ den Kragen
+des Armen los. &bdquo;Dein&rsquo; Mutter wartet schon a bissel!
+Schau, wie lustig das aussieht &mdash; da, guck, sie
+geben&rsquo;s den welschen Bluthunden! Wär&rsquo; ich &rsquo;n Knab,
+wie du &mdash; hei, ich wollt&rsquo;s ihnen auch schon zeigen!&ldquo;
+Und mit heller Stimme fing das Mädchen an zu
+singen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;Mein Vater wollt&rsquo; ein Knäbelein,<br /></span>
+<span class="i0">Mein Mutter wollt&rsquo; ein Mägdelein,<br /></span>
+<span class="i0">Mein&rsquo; Mutter tät gewinnen,<br /></span>
+<span class="i0">Des muß den Flachs ich spinnen &mdash; Ja spinnen!<br /></span>
+<span class="i0">Das ist mir großes Leid!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Immer mutiger schlug Hans Niekirche, durch seine
+Gefährtin aufgemuntert, seine Wirbel, und unter
+beiden Kindern vorbei drängten ununterbrochen die
+Scharen des Reichs vor und zurück, wie der Kampf vor-
+und zurückwich; bis die Spanier in die Stadt gedrängt
+waren, und das Zeichen zum Sammeln von allen Seiten
+den Deutschen gegeben wurde. Don Ramiro hatte die
+Rheinschleusen, welche er in seiner Gewalt hatte, öffnen
+lassen.</p>
+
+<p>&bdquo;Sieh das Wasser! das Wasser!&ldquo; rief Hans Niekirche
+in neuer Angst. &bdquo;Laß uns fort, Anneke, sie wollen
+uns ersäufen, wie die jungen Katzen.&ldquo;</p>
+
+<p>Ein allgemeiner Schrei erhob sich unter dem Getümmel
+in den Laufgräben; schon standen manche
+Haufen bis an den Gürtel in der reißend schnell steigenden
+Flut.</p>
+
+<p>&bdquo;Halt, halt!&ldquo; rief Anneke Mey. &bdquo;Er ist noch nicht
+zurück; aber &mdash; geh nur &mdash; geh &mdash; ich bleib&rsquo;!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und ich bleib&rsquo; auch!&ldquo; schrie Hans der Trommler.</p>
+
+<p>&bdquo;Zurück! zurück!&ldquo; tönte es aus den rückwärts
+weichenden Scharen des Reichsheeres: &bdquo;Das Wasser!
+Der Rhein! Das Wasser!&ldquo; Und immerfort donnerte
+das Geschütz der Spanier von den Wällen, immerfort
+schlugen die Kugeln verheerend in das wirre, verzweiflungsvolle
+Durcheinander.</p>
+
+<p>Es war eine böse Belagerung &mdash; die Belagerung der
+Stadt Rees am Rhein: es war kein Glück, es war keine
+Ehre dabei zu holen.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Junker! der Junker! Christoph! Christoph
+von Denow!&ldquo; schrie die junge Dirne auf ihrer Höhe, die
+Hände ringend, und das Wasser stieg und stieg. Schon
+waren die letzten der Haufen unter ihr vorüber, und die
+Toten, von den Fluten gehoben, wirbelten um sie her.
+Da griff eine Hand aus den Wassern nach dem Schanzkorbe,
+auf welchem sie stand, und ein bleiches Haupt
+erhob sich zu ihren Füßen: &bdquo;Rette! Rette!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph! Christoph!&ldquo; schrie das Mädchen, sie lag
+auf den Knien, sie faßte die triefenden Locken, sie faßte
+den Schwertriemen &mdash; der Junker von Denow war
+gerettet. Valentin Weisser, der Riese, dessen Blutdurst
+und Mut durch den Kampf und den Rhein bedeutend
+gekühlt war, brachte mit Hilfe gutwilliger Genossen
+den wunden Junker, die Dirne und Hans, den
+Trommelschläger, glücklich auf das Trockene und weit
+hinein ins Feld, wo die gelichteten, zerrissenen, wunden
+Krieger des Reichsheeres um die Wachtfeuer murrend
+und grollend in stumpfsinniger Ermattung lagen und
+die Führer bereits wieder unheimliche und drohende
+Worte zu hören bekamen.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerII" id="JunkerII">II.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/t.png" alt="T" width="60" height="60" class="floatl" />rübe dämmerte der Morgen. Auf die
+wüste Nacht folgte ein ebenso wüster Tag.
+Vergeblich hatte Herr Otto Heinrich von
+Beylandt, Herr zu Rethen und Brembt, Leib und
+Leben und Seligkeit den Meuterern zum Pfande
+eingesetzt, daß sie nicht von des Reichs Boden weggeführt
+werden sollten; vergeblich hatte der Graf von
+Hohenlohe geflucht, gebeten und gedroht. Zwischen
+sieben und acht Uhr waren zehn Fähnlein des braunschweigischen
+Regiments aufgebrochen und aus dem
+Feld gezogen, Münster zu. Weiber, Kinder, Dirnen
+folgten jetzt dem plündernden, ehrvergessenen, eidbrüchigen
+Haufen durch den grauen Nebelregen.
+Keiner befahl, keiner gehorchte. Die einen meinten,
+es gehe gradaus zum Herzog von Braunschweig, ihrem
+Zahlherrn, nach Wolfenbüttel; andere glaubten, es
+gehe gegen den Bischof von Münster; die meisten aber
+dachten gar nichts, und so schwankte der tolle Zug, einem
+Betrunkenen gleich, hier vom Wege ab, dort vom Wege
+ab, jetzt auf ein Dorf zu, jetzt auf ein einsames Gehöft.
+Kleinere Banden schweiften zur Seite, oder vor und
+nach &mdash; fort und fort über die Heide; hier im Kampfe
+mit einer ergrimmten Bauernschar, dort im Hader untereinander.
+Der Nebel ward Regen und hing sich in
+perlenden Tropfen an die letzten Blüten des Heidekrauts
+und träufelte von den Stacheln und Zweigen der
+Dornbüsche. Krähenscharen begleiteten den Zug lautkrächzend,
+oder flatterten in dichten Haufen westwärts
+dem Rhein zu, wo von Rees her das Feuer der Berennung
+nur noch in einzelnen Schlägen dumpf grollte.
+Stärker und stärker ward der Regen, die blutigen
+Spuren der vergangenen Nacht, der Schlamm der Laufgräben
+mischten sich auf den pulvergeschwärzten Gesichtern,
+den zerrissenen, verbrannten Kleidern, den verrosteten
+Waffenstücken &mdash; die Männer fluchten und
+sangen, die Weiber ächzten, die Kinder schrien, und
+Anneke Mey auf ihrem Wagen, mit einem Bierfaß
+beladen, hielt tröstend das Haupt des wunden Christoph
+von Denow in ihrem Schoß und sprach ihm zu und verhüllte
+ihn, wie eine Mutter ihr Kind, mit einem groben
+Soldatenmantel; während Hans Niekirche zähneklappernd
+das magere Roß leitete, welches vor dem Karren
+ging. &mdash; Lange Zeit hatte der Junker wie besinnungslos
+gelegen, jetzt hob er den Kopf mühsam empor und
+strich die Haare aus der Stirn und warf einen Blick
+auf seine Umgebung.</p>
+
+<p>&bdquo;O Anneke, weshalb hast mich nicht gelassen in dem
+Wasser &mdash; oh! oh!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Still, still, lieget ruhig, Herr! Die ganze Welt ist
+auseinander &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Weshalb hast mich nicht gelassen im Lager &mdash; im
+Heer vor Rees?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Es ist aus, aus! Alles aus, sagen sie. Alles läuft
+auseinander &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und wohin gehen wir?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Weiß nicht! weiß nicht!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Bin also so weit! Ein Spießgesell von Räubern und
+Mördern und landesflüchtigem Gesindel! Krächzt nur,
+ihr schwarzen Galgenvögel, ihr habt einen feinen Geruch,
+wittert den Fraß, wann er noch lustig auf den Beinen
+herumstolpert und den Bauerngänsen die Hälse abhaut
+und die Rinder aus dem Stall zieht. O Christoph!
+Christoph! Und du könntest einen adeligen Schild
+führen!&ldquo;</p>
+
+<p>Der junge Gesell stieß solch einen herzbrechenden
+Seufzer aus, daß ein neben dem Karren reitender Söldner
+aufmerksam wurde. Er drängte sein Pferd näher
+heran, zog seine Feldflasche hervor und reichte sie dem
+Wunden zu.</p>
+
+<p>&bdquo;Hoho, Junker, was spinnst für Hanf? Da wärme
+dir das Herz, bis wir uns den Münsterschen Dompfaffen
+in die warmen Nester legen! Aufgeschaut, aufgeschaut,
+Christoffel! &rsquo;s ist beschlossen, Ihr sollt unser Obrister
+werden!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Junker machte eine unwillige Handbewegung
+und antwortete nicht.</p>
+
+<p>&bdquo;Auch gut,&ldquo; brummte der Reiter. &bdquo;Der Satan hol&rsquo;
+alle diese Maulhänger! Möcht&rsquo; nur wissen, was die
+Gesellen für einen Narren an ihm gefressen haben.
+Hat den Vorspruch gemacht gestern beim Grafen nach
+ihrem Willen und soll den Führer spielen, und kann den
+Kopf nicht grad halten &mdash; Bah! Hätten hundert Bessere
+gefunden; kann mit seinem Adel weder den Mantel
+noch die Ehre flicken. Fort, Mähre, was scheust? Dacht
+ich&rsquo;s doch, da liegt wieder einer der trunkenen Schelme
+im Wege. Vorwärts, Schecke, laß liegen, was nicht
+mehr laufen mag. Was will die Trompete? Holla,
+was ist das?&ldquo;</p>
+
+<p>Ja, was wollte die Trompete? Auf der rechten Seite
+des Weges der Meuterer waren zwar von Zeit zu Zeit
+vereinzelte Schüsse gefallen, niemand hatte sie aber
+beachtet, weil man sie nur den obenerwähnten Scharmützeln
+mit den Bauern und Hahnenfedern zuschrieb.
+Jetzt aber wurde das Feuer regelmäßiger, Reitertrompeten
+erschallten. Der Zug stutzte und hielt. Gestalten,
+schattenhaft, tummelten sich in dem dichten
+Nebel, und erschreckte Stimmen erklangen: &bdquo;Die
+Spanier! Die Spanier!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Zum Henker die Spanier; wie kommen die Spanier
+soweit über den Rhein?&ldquo; brummte der Reiter, welcher
+eben dem Junker die Feldflasche geboten hatte. Er
+lockerte aber nichtsdestoweniger das Schwert in der
+Scheide und wickelte den rechten Arm aus dem Mantel
+los.</p>
+
+<p>&bdquo;Der Feind! der Feind! die Speerreiter!&ldquo; riefen
+die im Lauf rückkehrenden Plünderer, zu den Genossen
+stoßend, und einige brachten eine frische Wunde mit
+zurück. Näher und näher hörte man die Trompeten
+und den Schlachtruf &bdquo;<i>España! España!</i>&ldquo; und dann
+&bdquo;Hohenlohe! Hohenlohe!&ldquo;</p>
+
+<p>Keiner von den Meutmachern machte Miene, an dem
+Gefechte teilzunehmen; aber die Musketen waren auf
+die Gabeln gelegt, die Lunten aufgeschroben, die Spieße
+gesenkt, und man hatte instinktmäßig einen Kreis um
+die Wagen mit den Weibern und Kindern und den Raub
+geschlossen.</p>
+
+<p>Jetzt schienen die Spanier wieder zurückgedrängt zu
+werden; der Lärm des Kampfes verlor sich in der Ferne.
+Der Zug der Aufrührer wollte sich bereits wieder in
+Bewegung setzen.</p>
+
+<p>&bdquo;Halt, halt!&ldquo; rief einer der Fußknechte, &bdquo;da kommen
+sie wieder! Rossestrab!&ldquo; Er kniete nieder und legte
+das Ohr an den Boden. &bdquo;Viel Pferde im Galopp!&ldquo;
+Man konnte kaum zehn Schritte weit im Nebel und
+Regen deutlich sehen; es waren wieder nur unbestimmte
+Schatten, die man nahen sah.</p>
+
+<p>Ein &bdquo;Halt&ldquo; wurde ihnen zugerufen, und sie hielten,
+und eine einzelne Gestalt löste sich von dem Haufen ab.
+Aus dem Ring der aufrührerischen Söldner des Reichs
+traten ihr einige entgegen.</p>
+
+<p>&bdquo;Wer seid Ihr? Woher des Weges? Was für Begehr?&ldquo;</p>
+
+<p>Der Nahende ritt, ohne zu antworten, näher heran.</p>
+
+<p>&bdquo;Haltet, oder wir schießen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nur zu, eidbrüchig Gesindel; versucht, ob ihr einen
+ehrlichen Reitersmann trefft!&ldquo;</p>
+
+<p>Wilde Flüche und der Ruf &bdquo;Feuer, Feuer!&ldquo; ertönten,
+und manche Büchse wurde in Anschlag gebracht; aber
+dazwischen riefen auch Stimmen: &bdquo;Halt, halt, das sind
+keine Spanier, keine Speerreiter!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nein, das sind keine Spanier,&ldquo; rief der Reisige
+zurück. &bdquo;Das sind auch keine Meuterer, Mörder oder
+Diebshalunken; &mdash; ehrliche Hohenlohesche Reiter sind&rsquo;s,
+die euch Lumpengesindel wahren sollen, daß ihr nicht
+dem Galgen entlauft! Glaubt&rsquo;s, der Graf hätte meinetwegen
+andere dazu schicken mögen, als uns &mdash; nehmt
+das Ab &mdash; Henkermahl drauf!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Der Graf von Hollach hat Euch geschickt?&ldquo; fragte
+es verwundert aus dem Haufen, und mancher der
+wilden Kerle drängte sich vor, näher an den Reitersmann.</p>
+
+<p>&bdquo;Zurück!&ldquo; rief dieser, &bdquo;wir gehen mit euch, wie befohlen,
+jagen die Speerreiter, die euch die Gurgel abschneiden
+könnten, &mdash; man sparte nur die Stricke &mdash; und
+schützen das arme Landvolk vor euch Hunden. Damit
+holla! &mdash; na, wohin geht der Marsch?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Packt Euch zum Teufel, wir brauchen Euch nicht!&ldquo;
+schrie Jobst Bengel aus Heiligenstadt. &bdquo;Wer hat Euch
+gerufen? Sagt dem Grafen, dem Holländer, unsern
+schönsten Dank und wir könnten unsern Weg allein
+finden.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Geht nicht! Alles auf Befehl! Kümmert euch so
+wenig als möglich um uns; ihr handelt nach Belieben,
+wir nach Befehl!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Aber unser Belieben ist, daß ihr euch hinschert,
+woher ihr gekommen seid!&ldquo; brüllte Hans Römer aus
+Erfurt. &bdquo;Geht, oder es setzt mein&rsquo; Seel blutige Köpfe!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Unser Befehl ist, daß wir gehen, wohin euch der
+Satan treibt. Am Höllentor kehren wir um, das ist der
+Befehl. Genug der Worte.&ldquo;</p>
+
+<p>Damit wandte der Hohenlohesche Rittmeister sein
+Roß und sprengte zurück zu seinen Reitern, welche unbeweglich
+auf einer kleinen Erderhöhung hielten und im
+Gegensatz zu dem tobsüchtigen, wüsten Gebaren der
+Meuterer nur leise Worte des Zorns und der Verachtung
+hatten.</p>
+
+<p>Auf seinem Schmerzenslager hatte Christoph von
+Denow halbblinden Auges und klingenden Ohres den
+Vorgang angesehen und angehört. Jetzt mußte er auch
+ohnmächtiger Zeuge der wilden Reden um ihn her sein.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist solch ein falsch Spiel von dem Grafen &mdash;
+das ist eine Falle. Sollen uns schützen vor den Speerreitern!
+&mdash; Lauter Sorg und Lieb, bis sie uns den Hals
+zuschnüren! &mdash; Nichts von dem Grafen von Hollach!
+Fort mit den Reitern des Holländers! Feuer auf sie!
+In die Spieße! in die Spieße mit ihnen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Die Rasenden! die Niederträchtigen!&ldquo; stöhnte
+Christoph von Denow, die Hände ringend. &bdquo;Und hier
+liegen zu müssen gleich einem abgestochenen Schaflamme!
+Halt, halt, was wollen sie tun?!&ldquo;</p>
+
+<p>Seine schwache Stimme ging verloren in dem Lärm
+&bdquo;fort mit Holländern, fort mit dem Grafen von Hollach!&ldquo;</p>
+
+<p>Mit einem Schlage setzte die ganze Masse der
+Meuterer im Sturmlauf an gegen das kleine Häuflein
+der Reiter.</p>
+
+<p>&bdquo;Hab&rsquo;s mir wohl gedacht,&ldquo; brummte der Rittmeister
+in den grauen Bart. &bdquo;Achtung, Gesellen!
+Stand gehalten &mdash; das ist der Befehl. Herunter mit
+den Schuften, wenn sie euch nahe kommen.&ldquo;</p>
+
+<p>Sie griffen wirklich an. Im nächsten Augenblick
+war die Reiterschar umringt, durchbrochen. Die meisten
+sanken nach tapfrer Gegenwehr vom Pferd; nur wenige
+schlugen sich durch und flohen über die Heide. Zuletzt
+kämpfte noch ein einzelner. Das war der tapfere alte
+Führer, der sich wie ein Verzweifelter wehrte. Endlich
+erstach ihm Balthasar Eschholz aus Berlin das Roß,
+und eine Kugel durchfuhr seine treue Brust.</p>
+
+<p>Einige Minuten standen die Mörder wie erstarrt.
+Schlug ihnen diesmal das Herz? Sie wagten es nicht,
+die Gefallenen zu berauben, ein plötzlicher Schrecken
+kam über sie, wie von Gott dem Richter gesandt, und
+Mann und Roß und Wagen stürzten von dannen,
+hinein in den Nebel, der sie verschlang, als seien sie nicht
+wert, von Himmel und Erde gesehen zu werden.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist ein schlechter &mdash; schlechter Tod!&ldquo; seufzte der
+zu Boden liegende Reiterhauptmann. &bdquo;Ein schlechter
+Tod! &mdash; In deine Hände &mdash; aber alles der Befehl &mdash;
+nun kann der Rat von Nürnberg mein Weib und meine
+Jungen auffüttern &mdash; ein schlechter Tod &mdash; Amen!
+Alles &mdash; der &mdash; Befehl!&ldquo;</p>
+
+<p>Er griff noch einmal mit beiden Händen krampfhaft
+in das Heidekraut &mdash; es war vorüber.</p>
+
+<p>Ein Wäglein und drei Menschenkinder waren zurückgeblieben
+beim Fortstürzen der Mörderschar. Das waren
+Anneke Mey aus Stadtoldendorf, welche das Haupt
+des Erschlagenen stützte, das war Christoph von Denow,
+der auf seinem Lager das Vaterunser weiter betete,
+welches der Rittmeister nicht hatte zu Ende bringen
+können. Das war Hans Niekirche, der Trommelschläger,
+welcher schluchzend das Rößlein vor dem Wagen
+hielt!........</p>
+</div>
+
+<div>
+
+<h3><a name="JunkerIII" id="JunkerIII">III.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/n.png" alt="N" width="60" height="60" class="floatl"/>icht Leben, nicht Tod; nicht Vergessenheit,
+nicht Sinnesklarheit; nicht Schlaf, nicht
+Wachen; &mdash; alles ein wildes, wirres
+Chaos in dem fieberkranken Kopfe Christoph von
+Denows! Jetzt legte es sich ihm, einem feurigen
+Schleier gleich, vor die Augen, tausend Sturmglocken
+und der Verzweiflungsschrei einer eroberten
+Stadt füllten ihm Ohr und Hirn; &mdash; jetzt versank er
+wieder in ein endloses graues Nichts, in welchem ihn
+allerlei unerkennbare Schatten umschwebten; &mdash; jetzt
+vermochte er es wieder, sich und seine Umgebung zu
+unterscheiden, ohne sich klar darüber werden zu können,
+wer ihn von dannen führe und wohin man ihn führe.
+Manchmal war der Himmel über ihm grau und ihn fror,
+dann wieder schaute er empor in das reine Blau, und die
+Sonne schien herab auf ihn. Manchmal glaubte er
+sich in einem auf dem Wasser fahrenden Schifflein zu
+befinden, manchmal sah er wieder grüne Zweige über
+sich und hörte die Vögel singen. Er gab es auf, zu
+denken, sich zu erinnern: willenlos überließ er sich seinem
+Geschick. Es zog und zuckte durch seinen Geist! &mdash; Da
+ist der weite, kühle Saal in der väterlichen Burg, dem
+einstmals am weitesten in das Polen- und Tartarenland
+vorgeschobenen Posten des deutschen Wesens.
+Durch die bunten Scheiben der spitzen Fenster fällt das
+Licht der Sonne und wirft die farbigen, flimmernden
+Schattenbilder der gemalten Wappen und Heiligen auf
+den Estrich. Da steht der Sessel des Ritters von Denow
+neben dem großen Kamine, und der Sessel und der
+Gebetschemel der Mutter in der Fenstervertiefung, da
+glitzern im Winkel auf dem künstlich geschnitzten Schenktisch
+die riesigen, wie Silber glänzenden Zinnkrüge
+und Geschirre. Da blickt ernst von der Wand der Ahnherr
+mit dem Ringpanzer auf der Brust, und manch
+wunderlich Gewaffen aus den Polen- und Preußenschlachten
+hängt an dem Mittelpfeiler, welcher den
+Saal stützt....</p>
+
+<p>Feuer! Feuer! Das ist nicht der Widerschein der
+Abendsonne an den Wänden. Feuer! Feuer! und das
+Wimmern der Burgglocken und der Schall der Sturmhörner!
+&mdash; Wo blieb das süße, mildlächelnde Bild der
+Mutter, das eben noch durch den stillen dämmerigen
+Saal glitt? Feuer und Sturm! Die Polen! die Polen!
+Allverloren! Allgewonnen! Allgewonnen!</p>
+
+<p>Da taucht ein ehrliches bärtiges Gesicht auf &mdash; das ist
+der Knecht Erdwin Wüstemann, welcher den kleinen
+Christoph aus der brennenden väterlichen Burg auf den
+Schultern trug und rettete.... Nun rauscht der Wald,
+nun murmelt der Bach &mdash; das ist die verlorene Forsthütte,
+wo der treue Knecht und das Kind hausten so lange
+Jahre hindurch. Die Hunde zerren bellend an der Kette,
+der Falk schaukelt sich auf seiner Stange. Wilde Gesellen
+und Weiber &mdash; fahrende Soldaten, Sänger und
+Studenten und demütige Juden verlangen Obdach vor
+dem nahen Gewitter oder dem Schneesturm. Sie lagern
+auf nackter Erde um das Feuer, an welchem die Hirschkeule
+bratet. Der Weinkrug geht im Kreise umher;
+Lieder erschallen! Lieder vom freien Landsknechtsleben,
+lutherische Lieder, Spottlieder gegen den Papst und den
+Türken und lateinische Lieder vom wandernden
+Scholarentum. Jetzt gerät der rote Heinz mit dem
+landflüchtigen Leibeigenen oder dem Zigeuner in Streit;
+die Messer blitzen, der Knecht Erdwin wirft sich zwischen
+die Kämpfenden &mdash; es rauscht der Wald, es murmelt
+der Bach, es klingt die Harfe des blinden Sängers &mdash; ah
+Wasser, Wasser und Waldfrische in dieser Glut, welche
+das Gehirn verdorrt und die Knochen versengt!</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang öffnete der Kranke die Augen,
+er hörte Stimmen um sich her; jemand hielt ihm einen
+Krug voll frischen Wassers an die heißen Lippen. Er
+hatte nicht fragen können, wo er sei, wer ihm helfe in
+seiner Not? &mdash; von neuem ergriff ihn der Fiebertraum.</p>
+
+<p>Aus dem Kinde ist im lustigen Wildschützenleben ein
+wackerer Bub geworden. Hinaus aus dem grünen
+Wald zieht der Knecht Erdwin mit dem Schützling. Die
+Zeiten sind danach &mdash; wer kühn die Würfel wirft, kann
+wohl den Venuswurf werfen. Mancher gelangte in der
+Fremde zu hohen Ehren und Würden, der im Vaterlande
+kaum den heilen Rock trug. Gern kaufen Franzosen,
+Spanier, Holländer mit rotem Golde rotes
+deutsches Blut. Ho, so hattest du dir die Welt draußen
+vor dem Wald wohl nicht gedacht, Christoph von Denow?
+Hei, das waren andere Gestalten und Bilder: Städte,
+Klöster und Burgen; Fürsten mit Rittern und Rossen,
+schöne Damen, Äbte und Bischöfe mit reichem Gefolge,
+Bürgeraufzüge, bunte Landsknechtsrotten auf dem
+Wege nach Italien, nach Frankreich &mdash; für den Kaiser
+und wider den Kaiser!</p>
+
+<p>Aus dem Reitersbuben ist ein Reitersmann geworden,
+welcher nichts sein nennt, als sein gutes Schwert,
+und welchem von den Vätern her nichts geblieben ist,
+als der eiserne Siegelring mit dem Wappen derer von
+Denow, welchen er am Finger trägt.</p>
+
+<p>Immer weiter hinein in das bunte Leben, in den
+bunten Traum &mdash; tagelang, wochenlang im Wundfieber
+kämpfend zwischen Sein und Vernichtung, bis
+endlich eine Glocke dumpf und feierlich erklingt, eine
+Glocke, die nicht mehr allein in dem Gehirn des Kranken
+läutet!</p>
+
+<p>&bdquo;Wo bin ich?... Die Glocke, was will die Glocke?&ldquo;
+murmelte Christoph von Denow, die Augen aufschlagend.</p>
+
+<p>Anneke Mey stieß einen Freudenschrei aus und hob
+das Haupt des Junkers ein wenig aus ihrem Schoße:
+&bdquo;Er lebt, o guter Gott, er wird leben!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Die Glocke! die Glocke?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Still, lieget still, Herr! das ist Sankt Lambert zu
+Münster, und da &mdash; horcht! das ist der Dom! Morgen
+ist der heilige Matthiastag &mdash; still, still, lieget ruhig.&ldquo;</p>
+
+<p>Es wurde dunkel über dem Junker; das Wäglein
+fuhr in diesem Augenblick durch die Torwölbung. Der
+Junker schloß die Augen wieder, er glaubte einen Wortwechsel
+zu hören, er glaubte zu bemerken, daß der Wagen
+hielt, Annekes Stimme erklang ängstlich und bittend
+dazwischen. Er glaubte ein bärtiges Gesicht über sich
+zu sehen und einen Ausruf des Schreckens zu hören.
+Der Wagen bewegte sich wieder &mdash; er fuhr aus dem
+dunklen Tor in das Licht der Straße hinein. &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Das war das Gesicht des alten Knechts Erdwin,
+welches der Junker von Denow über sich sah, bis im
+folgenden Moment alles verschwand und es wieder
+Nacht war im Geiste Christophs. &mdash; Allmählich aber
+wurde diese Nacht jetzt Dämmerung; die Gedanken
+ordneten sich mehr und mehr. Christoph von Denow
+erwachte wieder zum Leben.</p>
+
+<p>Er fühlte den wohltuenden Strahl der milden Herbstsonne,
+er vernahm die Worte der Freunde um sich her.
+Jetzt erzählte Erdwin, der Knecht, jetzt sprach Anneke
+Mey, jetzt lachte Hans der Trommelschläger. Die Landschaft
+glitt an ihm vorüber, Städte, Dörfer, Flecken, er
+sah blaue Höhenzüge im Osten auftauchen und vernahm,
+wie ein Wanderer dem Knechte Erdwin sagte,
+das sei der altberühmte große Teutoburger Wald. Er
+schlummerte abermals ein, und als er abermals erwachte,
+fand er sich mitten in den Bergen, und ein Wasser
+rauschte seitwärts in das Dickicht. &bdquo;Das Wässerlein
+kenn&rsquo; ich,&ldquo; rief Anneke, &bdquo;das ist die Else, die fließt in die
+Werre, und die Werre fließt in die Weser, nun sind wir
+der Heimat nahe.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und wie ziehen wir nun, Anneke?&ldquo; fragte der getreue
+Knecht Erdwin, welcher munter neben dem Wagen,
+den Spieß auf der Schulter, herschritt.</p>
+
+<p>&bdquo;Wo die Sonne aufgeht, fahren wir zu; aus dem
+Teutoburger Wald in den Lippeschen Wald, zuletzt wird
+doch mal ein Berg kommen, von dem wir die Weser
+glitzern sehen können. Dann sind wir zu Hause!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Anneke, Anneke!&ldquo; murmelte Christoph.</p>
+
+<p>&bdquo;O, wachet Ihr wieder, Junkerlein? geduldet Euch
+und lieget still, wir sind alle noch da, und der Meister
+Erdwin ist auch da und hat mir alles von Euch erzählt
+und ich ihm auch alles von Euch.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Junker, Junker, seid Ihr wach?&ldquo; rief der Knecht
+Erdwin und schauete über den Rand des Wagens. &bdquo;Das
+Mütterlein im Himmel muß über uns wachen, daß ich
+Euch grad am Tor zu Münster treffen mußt&rsquo;. Von der
+Reichsschanze bis nach Münster bin ich kreuz und quer
+Euern Spuren nachgezogen. Habt mich schön in Angst
+und Not gebracht! Haltet das Maul, Junkerlein. Dem
+Herzmädel da dankt Ihr Euer jung Leben. Lasset Euch
+tränken und atzen und schlaft wieder ein, wir halten
+Euch oben, Hans und Anneke und ich!&ldquo;</p>
+
+<p>Christoph drückte schwach die Hand des wackern Alten,
+er wollte nach dem Heere fragen, nach den Meuterern,
+aber er vergaß es. Sein wunder Kopf ruhte noch immer
+an der Brust der jungen Dirne. Aus schwimmenden
+Augen blickte er auf zu dem braunen, wildfreundlichen
+Gesicht über ihm.</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Anneke Mey, Anneke Mey, wohin willst du
+mich führen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;In meiner Heime ist es gar schön,&ldquo; sagte das
+Mädchen. &bdquo;Da sind die Berge und die Wiesen so grün,
+da schaut die alte Burg, sie heißen sie die Homburg
+herab auf das Städtel. Da sind die hohen weißen Felsen
+ganz weiß, weiß &mdash; da wohnen die klugen Zwerge in
+tiefen runden Löchern. Das ist wahr, ganz gewiß wahr!
+Es ist auch schaurig da, manchmal rührt sich der Boden,
+und der Wald sinkt ein in die Erde, tief, tief, &mdash; und
+ein Wässerlein springt dann unten in dem Grund auf;
+das Wasser trinken die Leut nicht gern. Aber mitten
+in den Bergen, da ist ein kühler Bronn, der Wellborn
+geheißen, aus dem kommt das Wasser durch Röhren in
+die Stadt, und die Brunnen rauschen und plätschern
+immer zu. Und vor dem Burgtor ist ein klein Haus dicht
+an der Stadtmauer, da sitzt meine alte Muhme, die
+Alheit &mdash; mein Vater und Mutter sind lang tot im
+Lager von Lafere, wo wir mit dem französischen König
+Heinrich waren &mdash; und ihre Katz sitzt neben ihr, und
+wenn sie, ich mein&rsquo; die Muhme &mdash; an mich gedenkt, so
+brummt und keift und bet&rsquo;t sie ein Vaterunser, grade
+weil sie mich gern hat. Schläfst noch nicht, Junkerlein?
+Mach die Augen zu und kümmre dich nicht um die
+Welt.&ldquo;</p>
+
+<p>Mit leiser Stimme fing das Mädchen an zu singen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i2">&bdquo;Musikanten zum Spielen,<br /></span>
+<span class="i0">Schöne Mädchen zum Lieben:<br /></span>
+<span class="i0">So lasset uns fahren,<br /></span>
+<span class="i0">Mit Roß und mit Wagen,<br /></span>
+<span class="i0">In unser Quartier!<br /></span>
+<span class="i0">In unser Quartier!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&bdquo;Ach, der Wagen stößt zu hart; wisset Ihr was,
+Meister Erdwin? singet Ihr weiter.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wollen&rsquo;s versuchen!&ldquo; sagte der Knecht Wüstemann
+und begann im Ton der Schlacht von Pavia das Lied
+von der Schlacht vor Bremen, in welche er als junger
+Bursch mit den Reitern des Grafen von Oldenburg
+gezogen war, und frisch schallte sein Baß in den Wald
+hinein.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;&mdash; Unser Feldherr das vernahm,<br /></span>
+<span class="i0">Graf Albrecht von Mansfelde,<br /></span>
+<span class="i0">Sprach zu seinem Kriegsvolk lobesam:<br /></span>
+<span class="i0">Ihr lieben Auserwählten,<br /></span>
+<span class="i0">Nun seid ganz frisch und wohlgemut,<br /></span>
+<span class="i0">Ritterlich wolln wir fechten;<br /></span>
+<span class="i0">Gewinnen wolln wir Ehr und Gut,<br /></span>
+<span class="i0">Gott wird helfen dem Rechten.&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Als der Endvers kam, war Christoph wirklich eingesungen
+zu sanftem Schlummer, und Hans Niekirche
+behielt den braunschweigschen Gassenhauer, den er
+eben zum besten geben wollte, auf das Ersuchen des
+alten Erdwins für sich. Mit einbrechender Nacht wurde
+bei einem Köhler mitten im Forst das Nachtquartier
+aufgeschlagen.</p>
+
+<p>&bdquo;Was ist denn da draußen vorgegangen in der Welt?&ldquo;
+fragte der schwarze Waldmann. &bdquo;Ihr seid die Ersten
+nicht, die hier durchkommen sind und hier angehalten
+haben. Das ist ja auf einmal, als ob alles Kriegsvolk
+im deutschen Land sich hier auf den Wald niedergeschlagen
+hätt&rsquo;, wie ein Immenschwarm auf den
+Schlehenbusch. Ist es wahr, daß das Reichsheer auseinandergelaufen
+ist?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Es ist wahr,&ldquo; sagte der Knecht Erdwin düster. &bdquo;Es
+ist aus, &mdash; alles vorbei!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Vorgestern zog hier ein Trupp durch, fast zehn
+Fähnlein stark, aber anzusehen wie ein wüst Raubgesindel,
+Fußvolk und Reiter durcheinander. Wollten
+gen die Weser und ließen sich vernehmen, sie wollten
+ihrem Zahlherrn, dem Braunschweiger Herzog &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Die Braunschweiger?!&ldquo; riefen Erdwin und Anneke
+und Hans Niekirche. &bdquo;Die Braunschweiger?!&ldquo; murmelte
+Christoph von Denow und richtete sich halb auf seinem
+Lager auf.</p>
+
+<p>&bdquo;Gehöret Ihr zu ihnen?&ldquo; fragte der Köhler mißtrauisch.
+&bdquo;Nehmt Euch in acht; ich hab&rsquo; einen gesprochen,
+der sagte, der Braunschweiger habe seine
+Leibguardia und Reiter die Menge abgesandt, ihnen
+den Weg zu verlegen. Sein Feldhauptmann, der
+Graf von Hohenlohe, ist auch, von Mitternacht her,
+gegen sie aufgebrochen. Das kann ein übel Ende
+nehmen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Gegen die Weser sind sie gezogen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wie ich Euch sagte, Maidlein.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Herr Gott, so müssen wir ab vom Weg!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr gehört also nicht zu ihnen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nein! nein! nein!&ldquo; riefen Christoph und Erdwin
+und Anneke.</p>
+
+<p>&bdquo;Und Ihr wollt auch über die Weser?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;In meine Heimat!&ldquo; rief Anneke.</p>
+
+<p>&bdquo;Mit dem wunden Mann? Geht nicht, wahrlich geht
+nicht! Weg und Steg sind verlegt.&ldquo;</p>
+
+<p>Alle schwiegen erschrocken und verstört einige
+Minuten.</p>
+
+<p>&bdquo;Saget doch,&ldquo; fuhr der Köhler dann fort, &bdquo;weshalb
+wollt Ihr nicht bei mir bleiben im Walde, bis der Kopf
+des Burschen dort wieder heil und ganz ist? Hunger und
+Durst sollt Ihr nicht leiden. Ihr erzählet mir alles,
+was da draußen in der Welt vorgegangen ist, dafür geb&rsquo;
+ich Euch Futter und Obdach. Gefällt&rsquo;s Euch?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr wolltet &mdash;?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Gewiß will ich; ich will Euch sogar noch großen
+Dank schuldig sein dafür!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Angenommen, Landsmann!&ldquo; rief der Knecht Wüstemann
+freudig. &bdquo;Junker, nun streckt Euch lang auf
+Euerm Lager, und wehe dem ersten Rehbock, der mir
+vor die Armbrust gerät, welche ich dort an der Wand
+sehe.&ldquo;</p>
+
+<p>So kamen am Tage Cornelii des Hauptmanns
+die vier Flüchtlinge des Reichsheeres zum ersten Mal
+zu Ruhe.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerIV" id="JunkerIV">IV.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/d.png" alt="D" width="60" height="60" class="floatl"/>ominus Basilius Sadler, der heiligen
+Schrift Doktor und fürstlicher Hofprediger
+zu Wolfenbüttel, hatte seine Predigt
+beendet und das Vaterunser gebetet. Unter den letzten
+Klängen der Orgel strömte die Menge aus der Marienkapelle
+in den dunkeln nebligen Herbsttag hinaus.
+Man schrieb den vierten November 1599.</p>
+
+<p>Was hatte das andächtige Volk? Statt ruhig und
+gemessen wie gewöhnlich am heiligen Sonntag ihren
+Wohnungen und dem Sonntagsbraten zuzuschreiten,
+blieben die Männer in Gruppen auf dem Kirchplatz
+stehen und steckten die Köpfe zusammen; selbst die Weiber
+waren von derselben Aufregung ergriffen. Kaum war
+nämlich der letzte Orgelton verhallt, so durchzitterte
+von der Dammfestung her ein anhaltender Trommelwirbel
+die stille Luft und schwieg dann einige Augenblicke.
+Darauf näherten sich die kriegerischen Klänge
+im Marschtakt, und manche der Bürger eilten ihnen,
+ihre Knaben an der Hand, entgegen; der größte Teil
+der Menge blieb jedoch zurück und erwartete die Dinge,
+welche da kommen sollten. &bdquo;Nun geht es an! Das ist
+der Beginn!&ldquo; hieß es unter dem Volk.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist der Gerichtswebel, Martin Braun von
+Kolberg,&ldquo; sagte ein Goldschmied, der von allem genau
+Bescheid wußte. &bdquo;Der verkündet nun das kaiserliche
+Malefizrecht an allen vier Orten der Welt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sie kommen! sie kommen!&ldquo; hieß es unter der
+Menge, und eine Gasse bildete sich jetzt, um die Nahenden
+durchzulassen. Von der Dammbrücke her durchzog mit
+seinen drei Trommlern der Gerichtswebel, begleitet von
+einigen Hellebardierern, feierlich und langsam die
+Heinrichsstadt gegen das Kaisertor hin.</p>
+
+<p>Wir lassen ihn ziehen und lassen das Volk seine
+Betrachtungen anstellen und schreiten quer über den
+Platz vor der Marienkapelle, durch die Löwenstraße,
+über die Dammbrücke an dem Schloß vorüber nach dem
+Mühlentorturm, dessen Eingänge von einer stärkern
+Wache als gewöhnlich umgeben sind. Wir führen den
+Leser in das obere Stockwerk des Gebäudes. Ein weites
+Gewölbe tut sich uns hier auf, so dunkel, daß das Auge
+sich erst an die Finsternis gewöhnen muß, ehe es irgend
+etwas in dem Raum erkennen kann. Ist das geschehen,
+so bemerken wir, daß das trübe, herbstliche Tageslicht,
+durch viele, aber enge und stark vergitterte Fenster fällt.
+Die Wände entlang ist Stroh aufgeschichtet, auf welchem
+dunkle Gestalten in den mannigfaltigsten Stellungen
+und Lagen sich dehnen. Von dunkeln Gestalten sind
+auch einige hie und da aufgestellte Tische umgeben.
+Ein Kohlenfeuer glimmt in dem Kamin unter dem
+gewaltigen Rauchfang. Allmählich erkennen wir mehr
+in dem dunsterfüllten Raume: bleiche, wilde Gesichter,
+umgeben von wirren zerzausten Haaren, schlechtverbundene,
+mit blutigen Binden umwickelte Glieder.
+Ein leiseres oder lauteres Klirren und Rasseln von
+Ketten erschreckt uns; &mdash; wir sind unter den &mdash; Meuterern
+von Rees! Gekommen ist&rsquo;s, wie es kommen mußte;
+morgen wird der Obriste des niedersächsischen Kreises,
+Herr Heinrich Julius von Braunschweig, das Gericht
+über sie angehen lassen. Dumpf tönt der ferne Trommelschlag
+des um die Wälle der Festung ziehenden Gerichtswebels
+Martin Braun in ihr Gefängnis herüber.
+Lauschen wir ein wenig den Worten der gefangenen
+wilden Gesellen!</p>
+
+<p>&bdquo;Ta, ta, ta! Was das für ein Wesen ist? Sollte
+man nicht meinen, der Teufel sei den Kerlen in den
+Lärmkasten gefahren? Es gehet alles zum Schlechteren,
+selbsten das Trommelschlagen,&ldquo; sagte eine baumlange
+Gestalt, sich über die Genossen erhebend.</p>
+
+<p>&bdquo;Sollt&rsquo; meinen, Valtin, wir hätten uns um anderes
+zu kümmern als den Trommelschlag,&ldquo; sagte unwirsch
+ein zweiter Söldner.</p>
+
+<p>Valentin Weisser ließ sich jedoch nicht von seinem
+Thema abbringen. &bdquo;Horchet nur, ist das die alte freudige
+deutsche Art? Aber jetzt will jeder ein Neues einbringen!
+Auch die Hispanier machen&rsquo;s so; da lob&rsquo; ich mir die
+Italiener, die haben aufgehoben, was wir nicht mehr
+mochten, und ziehen mit den fünf gleichen Schlägen bis
+ans Ende der Welt. Topp, topp, topp, topp, topp! das
+erwecket das Herz zu Freud und Tapferkeit und hilfet
+zu Leibeskräften. Topp, topp, topp, topp, topp! Hüt
+dich Bau&rsquo;r, ich komm&rsquo;! &mdash; das ist&rsquo;s! oder &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Hauptmann, gib uns Geld!&ldquo; fiel lachend ein
+Dritter ein.</p>
+
+<p>&bdquo;Füg dich zu der Kann!&ldquo; brummte Hans Römer von
+Erfurt, der Schmerbauch.</p>
+
+<p>&bdquo;Mach dich bald davon!&ldquo; sang eine schrille Stimme
+dazwischen.</p>
+
+<p>&bdquo;Hüt dich vor dem Mann!&ldquo; brummte Jobst Bengel
+von Heiligenstadt. &bdquo;Möchte nur wissen, wie lang wir
+noch in diesem Loch stecken sollen? Alle blutigen Teufel,
+ich wollt&rsquo;, der Blitz schlüg&rsquo; gleich mitten unter uns, und
+nähme uns mit herauf oder herunter, ins Paradies
+oder die Hölle! &rsquo;s sollt&rsquo; mir gleich sein &mdash; &rsquo;s wär&rsquo;
+wenigstens eine Veränderung!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Das greuliche Fluchen ist auch nicht an der Zeit!&ldquo;
+sagte eine ernste und finstere Stimme.</p>
+
+<p>&bdquo;Hilft auch zu nichts, Meister Wüstemann,&ldquo; grinste
+der Vorige wieder. &bdquo;Dem Galgen entläuft man nit so
+leichtlich &mdash; mit Verlaub, Junker, das war nicht auf
+Euch gesagt.&ldquo; Wir folgen dem höhnischen Blick des
+Sprechenden. Neben dem Kamin, an die feuchtschwarze
+Wand gelehnt, steht Christoph von Denow, gebrochen
+an Leib und Seele. Er schaute starr, gradaus vor sich
+hin, bei den Worten Jobsts aber fuhr er auf, sank
+jedoch in demselben Augenblick mit einer abwehrenden
+Bewegung der Hand in seine vorige Stellung zurück.
+Die Entgegnung übernahm Erdwin Wüstemann, der
+drohend seine gefesselten Fäuste nach dem schon zurückweichenden
+Jobst ausstreckte: &bdquo;Den Schädel zerschmettere
+ich dir an der Wand, wenn du den Rachen nicht hältst,
+du Sohn einer Hündin &mdash; sage noch ein Wort &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Auf ihn! so ist&rsquo;s recht!&ldquo; schrien einige der Gefangenen.
+&bdquo;Halt, halt! trennt sie!&ldquo; riefen andere.</p>
+
+<p>&bdquo;Seid ruhig, Erdwin,&ldquo; sagte der Junker, &bdquo;laß ihn,
+Alter, &mdash; er hat recht, der Strick des Hangmanns droht
+uns allen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Euch nicht! Euch nicht!&ldquo; rief der alte Wüstemann,
+die ihm entgegengestreckte Hand seines Schützlings
+fassend. &bdquo;O Ihr &mdash; Ihr in diesen Banden &mdash; das Herz
+bricht mir darüber &mdash; o die Schurken, die Schurken!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein Murren, welches bald in lautere Drohungen
+überging, folgte den Verwünschungen des Alten, der
+alle ihn Umgebenden mit allen Flüchen überhäufte,
+welche ihm auf die Zunge gerieten.</p>
+
+<p>Wer weiß, was geschehen wäre, wenn man nicht
+plötzlich draußen vor der eisenbeschlagenen Tür des
+Gefängnisses Schritte und eine befehlende Stimme vernommen
+hätte. Hellebardenschäfte und Musketenkolben
+rasselten nieder auf den Steinboden. Eine allgemeine
+Stille trat ein unter den Gefangenen, die Schlösser der
+Tür kreischten und knarrten. Sie öffnete sich, ein Gefreiter
+mit der Partisane auf der Schulter schritt herein
+mit zwei Büchsenschützen, deren Lunten glimmten.
+Ihnen folgte ein kleines schwarzes Männlein, welchem
+zur Seite, von Kopf bis zu Fuß geharnischt, der Leutnant
+der Festung, Hans Sivers, sich hielt. Durch die
+geöffnete Tür sah man den Gang angefüllt mit Bewaffneten
+von der Besatzung.</p>
+
+<p>&bdquo;Tut Eure Pflicht, Herr Notarius!&ldquo; sagte der Leutnant,
+und das kleine schwarze Männlein &mdash; Herr
+Friedericus Ortlepius, <i>notarius publicus</i> und des
+peinlichen Gerichts zu Wolfenbüttel bestallter und beeidigter
+Gerichtsschreiber, räusperte sich, nahm das
+Barett vom Haupt und entfaltete ein Papier, welches
+er in der Rechten trug. Ein Söldner, der eine Lampe
+hielt, näherte sich. Der Leutnant hob den Arm gegen
+die Gefangenen, abermals räusperte sich Herr Ortlepius
+und las dann seine Schrift ab wie folgt:</p>
+
+<p>&bdquo;Daß der Hochwürdige, Durchlauchtige, Hochgeborne
+Fürst und Herr, Herr Heinrich Julius, postulierter
+Bischof des Stifts Halberstadt, Herzog zu Braunschweig
+und Lüneburg, unser allerseits gnädiger Fürst
+und Herr, unlängst nach Besage und Inhalt des Koblenzschen
+Abschieds, als verordneter Kriegsobrister dieses
+niedersächsischen Kreises, zur Beschützung des lieben
+Vaterlandes wider das tyrannische Einfallen des hispanischen
+Kriegsvolkes, unter andern ein Regiment deutscher
+Knechte von dreizehn Fähnlein hat werben lassen,
+solches ist <i>notorium</i> und männiglich bekannt. Sind
+dieselben auch nachher von Seiner Fürstlichen Gnaden
+selbst gemustert, bewehrt, und haben sie in derselben
+persönlichen Gegenwart in dem Ring, altem löblichem
+Kriegsgebrauch nach, auf den Artikulbrief geschworen.</p>
+
+<p>Ob nun wohl I. F. G. sich gänzlich versehen und
+verhofft, nachdem I. F. G. es so treulich gemeinet, auch
+dem gemeinen Vaterland zum Besten es sich so sauer
+haben werden lassen, &mdash; es würde gemeldetes Regiment
+sich vermöge geschworenen Eides, Treu und Pflicht, wie
+Solches ehrlichen, redlichen Kriegsleuten eignet und
+gebühret, verhalten haben, so hat sich aber befunden,
+daß zehn Fähnlein von solchem Regiment, ohne einige
+rechtmäßige gegebene Ursach, wider ihre geschworene
+Treu und Pflicht, I. F. G. zu sonderlichen Schimpf,
+der ganzen deutschen Nation zum sonderlichen Spott und
+Hohn, dieser Kriegsexpedition zum Nachteil, dem Feind
+aber zum Frohlocken mit fliegenden Fähnlein aus dem
+Felde gezogen sind. Haben ihre verordnete Obrigkeit
+nicht bei sich leiden wollen, auch in solcher Meuterei so
+lange kontinuiret, bis daß I. F. G., zur Erhaltung
+Deroselben Autorität, ein&rsquo; Ernst zu diesen Sachen
+haben tun müssen, und sie durch ihren damaligen
+Statthalter und Generallieutenant den Wohlgebornen
+und Edeln Grafen Philipp zu Hohenlohe, auf der Heide
+zwischen der Ucht und Barenburg, hinter dem Moor,
+genannt das hessische Darlaten, haben trennen und zum
+Gehorsam bringen lassen. Und obwohl I. F. G. damals
+nach Kriegsgebrauch und scharfen Rechten sie zu massakrieren
+und sämtlich zu Schelmen zu machen, und über
+sie als Schelmen die Fähnlein abreißen und schleifen
+zu lassen, befugt gewesen sein, so haben doch I. F. G.
+zu Deroselbst eigenen Glimpf den gelindesten Weg für
+die Hand nehmen wollen und haben sich resolviret, euch
+die bestrickten Knechte, welche eines Teils bei I. F. G.
+als die Prinzipalisten Meutemacher angegeben sind,
+andernteils von ihren eigenen Spießgesellen dafür
+geliefert worden sind, &mdash; vor ein öffentlich Malefizrecht
+stellen zu lassen.</p>
+
+<p>So fordere ich also auf unsers allerseits gnädigen
+Fürsten und Herrn gnädigen Befehl euch: Christoph
+von Denow, Detlof Schrader von Rendsburg, Erich
+Südfeld von Hannover usw. usw. &mdash; so fordere ich euch
+auf morgen früh um sieben Uhr, das ist den fünften
+November dieses Jahres Eintausendfünfhundertneunundneunzig
+vor kaiserliches Recht in den Ring, wo ihr
+gerichtet werden sollt, wie es am Jüngsten Tage vor
+Gott dem Allmächtigen, wenn Gottes Sohn kommen
+wird zu richten die Lebendigen und Toten, zu verantworten
+ist!&ldquo; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Fünfundachtzig Namen rief der Notarius Friedrich
+Ortlepp auf, und jeder der Gefangenen antwortete durch
+ein: &bdquo;Ist hier gegenwärtig.&ldquo; Als die Liste zu Ende
+gebracht war, hob der kleine schwarze Mann noch einmal,
+lächelnd, die bebrillte Nase und ließ seine Äuglein wohlwollend
+über die Gefangenen hingleiten; dann nickte
+er dem Geharnischten zu, dieser winkte dem Gefreiten,
+welcher seine Partisane anzog, sein Kommandowort
+rief. Die Musketierer schulterten ihre Büchsen, und die
+Beamten schritten heraus aus dem Gewölbe, dessen Tür
+sogleich hinter ihnen wieder zufiel.</p>
+
+<p>Noch einen Augenblick tiefster Stille, dann ein
+dumpfes Gemurmel, dann wildester Losbruch aller
+mächtig zusammengepreßten Gefühle und Leidenschaften
+der gefesselten Meuterer! Ein wildes Durcheinander, &mdash;
+Ausrufe des Zorns, des Hohns, der Besorgnis, der
+Angst, &mdash; Kettengerassel!</p>
+
+<p>&bdquo;O Junker, Junker!&ldquo; rief verzweiflungsvoll der
+Knecht Erdwin, das Haupt seines jungen Herrn an seine
+breite Brust ziehend. &bdquo;O Junker, Junker, wenn das
+Euer Vater erlebt hätte!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, meine Mutter, meine Mutter! &rsquo;s ist gut, daß
+sie tot ist!&ldquo; seufzte Christoph von Denow, die Hand über
+die Augen legend. &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>In den überfüllten Schenken der Stadt erschallte
+der tobende Gesang der zum Kriegsgericht eingeforderten
+Söldner und Hauptleute; viel Zank und Streit blieb
+nicht aus in den Gassen. Die Bürger zeigten sich nicht
+allzuhäufig außerhalb ihrer Haustüren, und wenn es
+ja einen Nachbar oder Gevatter allzusehr drängte, die
+Ereignisse des Tages mit einem Gevatter oder Nachbar
+zu besprechen und abzuhandeln, so schlich er so vorsichtig
+als möglich im Schatten der Hauswände dahin. Der
+Nebel ward dichter und dichter, je mehr die Dämmerung
+Besitz ergriff von Stadt und Land. Der Herzog auf dem
+Schloß ließ mehr Holz in den Kamin seines Gemaches
+werfen, und der Geringste seiner Untertanen ahmte ihm
+darin so gut als möglich nach. Immer unfreundlicher
+ward die Nacht.</p>
+
+<p>Auf dem Prellsteine unter dem Torgewölbe des
+Mühlenturmes kauerte eine weibliche, verhüllte Gestalt.
+Einen grauen Mantel von schwerem, grobem Tuch
+hatte sie dicht um sich geschlagen, das spitze Hütlein,
+durch welches ein klein rundes Loch ging, gleich der Spur
+einer Büchsenkugel &mdash; tief in die Stirn gedrückt; ein
+Bündel lag neben ihr. Das war Anneke Mey aus
+Stadtoldendorf!</p>
+
+<p>Ihr Haupt stützte sie auf beide Hände und starrte
+regungslos auf die schwarzen Massen des fürstlichen
+Schlosses, welches jenseits des Ockergrabens hoch emporragte
+in den dunkeln Nachthimmel, und in welchem hie
+und da ein erleuchtetes Fenster schimmerte. &mdash; So
+hatte Anneke den ganzen lieben langen Tag über gesessen,
+so saß sie noch, als es schon vollständig Nacht
+geworden war, und die Ronde sich näherte, das Tor zu
+schließen.</p>
+
+<p>&bdquo;Sitzt die Dirn da noch!&ldquo; rief der Weibel. &bdquo;Heda,
+Schätzchen, fort mit dir, daß dir das Fallgatter nicht auf
+den Kopf fällt. Marsch, Liebchen! weiß nicht, was du
+hier suchen könntest?&ldquo; Anneke rührte sich nicht von
+ihrem Platze.</p>
+
+<p>&bdquo;Na, wird&rsquo;s bald? Nimm Vernunft an, Kind, &rsquo;s
+gibt wärmere Nester.&ldquo; Damit faßte er den Arm der
+Kauernden, um sie in die Höhe zu ziehen.</p>
+
+<p>&bdquo;O lasset mich hier! lasset mich hier!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Hoho, geht nicht, geht nicht. Aber nun lasset doch
+auch einmal Euch ins Gesicht schauen. Hebt die Laterne
+hoch! Mädel, Kopf in die Höhe!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Schein der Laterne fiel in das bleiche gramvolle
+Gesicht des Mädchens. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Alle Teufel, das ist ja die Anneke, die Anneke Mey
+von Rees her!&ldquo; rief einer der Büchsenschützen sich vordrängend.
+&bdquo;Weibel, mit der mußt du säuberlich umgehen.
+Fürcht dich nit, Anneke &mdash; wo kommst du
+her?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Aus dem Moor, aus dem hessischen Darlaten,
+Arendt Jungbluth!&ldquo; sagte Anneke tonlos.</p>
+
+<p>&bdquo;Wo sie die Meutmacher niedergelegt haben? Ei, ei,
+Anneke, und du bist mit ihnen gezogen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sie sind im Wald über uns gekommen, weil sie der
+Graf von Hollach abgedrängt hatt&rsquo; von der Weser, und
+sie haben den Junker aufs Pferd gezwungen, und er
+hat nichts anders gekonnt, er hat sie müssen führen;
+nun aber haben sie doch geraubt und gebrannt und sind
+gezogen, wo sie wollten, und wir haben müssen mit ihnen
+durch die Wiehenberge, ins Land Hoya. Da ist es zum
+Ende gekommen &mdash; da hat uns der Graf gestellt, und
+Hans Niekirche ist tot, ist auch nicht heimgekommen
+zu seiner Mutter &mdash; Gnade Gott uns allen!&ldquo;</p>
+
+<p>Lautlos umstanden die Söldner das junge Mädchen;
+endlich sagte der Weibel: &bdquo;So ist es geschehen, dagegen
+kann keiner sagen &mdash; arm Mädel, was sitzest nur hier
+auf dem kalten Stein?&ldquo; Stumm deutete Anneke nach
+dem Gefängnis im Turm über ihr; dann sagte sie:
+&bdquo;Sie führten uns zuerst auf das feste Haus Stolzenau;
+nun sind wir hier zum Gericht!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und der Junker, von welchem du gesprochen hast,
+ist da oben bei den andern?&ldquo; fragte der Weibel.</p>
+
+<p>Anneke nickte.</p>
+
+<p>&bdquo;Das ist der Knab Christoph von Denow, von den
+Reitern?&ldquo; fragte wieder der Gefreite Arendt Jungbluth,
+welcher zuerst Anneke erkannt hatte. &bdquo;Ist das
+dein Schatz?&ldquo;</p>
+
+<p>Ein leises Zittern überlief den Körper des Mädchens,
+sie antwortete nicht und schüttelte das Haupt und senkte
+das Gesicht in die Hände und legte den Kopf auf die Knie.</p>
+
+<p>&bdquo;Arm Kind! arm Mädel!&ldquo; murmelten die Krieger.
+&bdquo;Aber sie kann hier nicht bleiben,&ldquo; brummte der Weibel.
+&bdquo;Wir müssen fort, der Böse fährt uns sonst auf den
+Buckel!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Lasset mich einmal mit ihr sprechen,&ldquo; sagte Arendt
+Jungbluth. Er beugte sich nieder zu der Armen und
+flüsterte ihr zu; plötzlich stieß sie einen Schrei aus, einen
+Freudenschrei und stand auf den Füßen: &bdquo;Wirklich,
+wirklich? Ihr könnt? Ihr wollt? O, Gott segne Euch
+tausendmal!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Herauf die Brücke! Herunter das Gatter! Ist&rsquo;s
+geschehen? &mdash; Fort nach der Schloßwach! &mdash; Jürgen,
+marsch, voran mit der Laterne!&ldquo; kommandierte der
+Weibel. &bdquo;Anneke, Ihr gehört zu uns, niemand tut Euch
+was zu Leid. Marsch, marsch!&ldquo;</p>
+
+<p>Die Hellebarden lagen wieder auf der Schulter:
+inmitten der Wachtmannschaft ging Anneke Mey, und
+Jürgen trug außer der Laterne auch noch das Bündlein
+des Soldatenkindes.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerV" id="JunkerV">V.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/e.png" alt="E" width="60" height="60" class="floatl"/>ins schlug die Uhr des Schloßturmes, und
+die Krähen fuhren auf aus ihren Nestern
+und umflatterten krächzend die Spitze
+und die Wetterfahne, bis der Klang ausgezittert hatte.</p>
+
+<p>&bdquo;So geh zu ihm!&ldquo; flüsterte Arendt Jungbluth. &bdquo;Um
+drei Uhr ist meine Wacht zu Ende, dann klopf&rsquo; ich und
+du kommst heraus. Nun gehab dich wohl; des Wärtels
+Margaret lauert drunten am Gang.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Dank Euch, dank Euch!&ldquo; flüsterte Anneke Mey. Die
+Gefängnistür im Mühlenturm öffnete sich kaum weit
+genug, um das schmächtige junge Mädchen einzulassen,
+und schloß sich sogleich wieder.</p>
+
+<p>Die qualmende Hängelampe war wie ein roter
+Punkt in dem dunsterfüllten Raume anzuschauen; die
+meisten der Gefangenen schnarchten auf dem Stroh die
+Wände entlang, viele hatten aber auch die Köpfe auf
+den Tisch gelegt und schliefen so. &mdash; Dann und wann
+erklirrte leise eine Fessel, oder ein Stöhnen und Geseufz
+ging durch die Wölbung. Niemand hatte den Eintritt
+des Mädchens bemerkt.</p>
+
+<p>Einige Minuten stand Anneke dicht an die Mauer
+gedrückt. Sie vermochte kaum Atem zu holen. Wie
+sollte sie in dieser Hölle den finden, welchen sie suchte?</p>
+
+<p>Plötzlich ward es hell in ihr: anfangs leise, dann
+lauter begann sie das alte Lied vom Falkensteiner zu
+singen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;Sie ging den Turm wohl um und um:<br /></span>
+<span class="i0">Feinslieb bist du darinnen?<br /></span>
+<span class="i0">Und wenn ich dich nicht sehen kann,<br /></span>
+<span class="i0">So komm&rsquo; ich von meinen Sinnen.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Sie ging den Turm wohl um und um,<br /></span>
+<span class="i0">Den Turm wollt&rsquo; sie aufschließen:<br /></span>
+<span class="i0">Und wenn die Nacht ein Jahr läng wär&rsquo;,<br /></span>
+<span class="i0">Keine Stunde tät&rsquo; mich verdrießen!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Von ihrem Lager richteten sich die Schläfer auf,
+stärker klirrten die Ketten an ihren Armen und Beinen.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&bdquo;Ei, dürft&rsquo; ich scharfe Messer tragen,<br /></span>
+<span class="i0">Wie unsers Herrn sein&rsquo; Knechte,<br /></span>
+<span class="i0">Ich tät&rsquo; mit dem Herrn vom Falkenstein,<br /></span>
+<span class="i0">Um meinen Herzliebsten fechten!&ldquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&bdquo;Was ist das? Wer ist das? Wer singet hier?&ldquo;
+tönte es wild durcheinander. &bdquo;Anneke, Anneke, Anneke
+Mey,&ldquo; rief die Stimme Christoph von Denows dazwischen,
+und Erdwin Wüstemann hielt das junge Mädchen
+in den Armen: &bdquo;Hier, hier halt&rsquo; ich sie, hier ist sie,
+wie ein Engel vom Himmel mit ihrer Lerchenstimme!
+O Kind, Kind, was willst hier in dieser Wüstenei?
+Junker, Junker, wo seid Ihr?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Anneke! Anneke!&ldquo; rief Christoph von Denow.</p>
+
+<p>&bdquo;Vivat Anneke, Anneke Mey!&ldquo; riefen alle andern
+Gefangenen. &bdquo;Das ist ein wackeres Mädel! Vivat des
+Regiments Schenkin!&ldquo;</p>
+
+<p>Es fiel keine schnöde, böse Rede: im Gegenteil, es
+war, als ob durch das Erscheinen des Kindes jedes trotzige
+wilde Herz milder geworden wäre. Man hätte sie
+gern auf den Händen getragen, da sie das aber nicht
+leiden wollte, suchte man ihr den bequemsten Platz aus
+und breitete Mäntel unter ihre Füße, um sie vor der
+feuchten Kälte der Steinplatten zu schützen. Eine Bank
+wurde zerschlagen, um das erlöschende Feuer im Kamin
+damit zu nähren.</p>
+
+<p>&bdquo;So hast du uns nicht verlassen, Anneke!&ldquo; rief
+Christoph und hielt ihre beiden Hände in den seinigen,
+und der Knecht Erdwin wischte verstohlen eine Träne
+aus den grauen Wimpern. &bdquo;O, wie können wir dir je
+das wiedervergelten?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wie könnt ich Euch verlassen? Und wenn sie Euch
+zum Tode führen, ich geh&rsquo; mit Euch!&ldquo;</p>
+
+<p>Sie saßen beieinander, Christoph und Anneke,
+neben dem Kamin, und die Dirne schluchzte und lächelte
+durch ihre Tränen. Sie vergaßen alles um sich her,
+und der alte Wüstemann stand dabei, seufzte tief und
+schwer und schüttelte das greise Haupt:</p>
+
+<p>&bdquo;Jammer, o Jammer!&ldquo;</p>
+
+<p>Um drei Uhr krähte zum ersten Mal der Hahn, um
+drei Uhr klopfte Arendt Jungbluth an die Tür.</p>
+
+<p>&bdquo;Nun muß ich scheiden!&ldquo; sagte Anneke. &bdquo;Gott
+schütze uns; wenn das Gericht angeht, steh&rsquo; ich auf
+Eurem Wege, Herr.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Anneke, Gott lohn&rsquo;s dir, was du an uns tust!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Fahre wohl! Fahre wohl, Anneke!&ldquo; riefen die
+gefangenen Meuterer. &bdquo;Gott segne dich, Anneke!&ldquo;</p>
+
+<p>Christoph von Denow schlug die Hände vors Gesicht;
+&mdash; die Tür war hinter dem jungen Mädchen zugefallen.
+Im Osten zeigte ein weißer Streif am Nachthimmel, daß
+der Morgen nicht mehr fern sei, und der Wind machte
+sich auf, fuhr von den Harzbergen nach dem deutschen
+Meer und verkündete dasselbe.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Sechs schlug die Uhr des Schloßturmes; wieder
+schossen die Krähen aus ihren Nestern und umflatterten
+die Spitze, krochen aber diesmal nicht wieder zurück in
+ihre Schlupfwinkel, sondern ließen sich, eine bei der
+andern, nieder auf dem Rande der Galerie, welche nahe
+dem Dach, den Turm umzieht. Neugierig reckten sie die
+Hälse und blickten herab in den dichten weißen Nebel
+unter ihnen, aus welchem kaum die höchsten Giebel der
+Stadt und Festung hervorlugten. Trommelschall erdröhnte
+auf dem Schloßhofe und hallte wider von
+den Wällen, während eine kriegerische Musik aus
+der Ferne dem Weckauf der Besatzung antwortete.
+Auf der Festung trat die Soldateska unter die Waffen,
+und in der Heinrichsstadt verkündete das klingende
+Spiel, daß die Bürgerschaft in Wehr und Harnisch
+aufzog.</p>
+
+<p>Von Zeit zu Zeit löste sich einer der schwarzen Vögel
+aus der Reihe der Genossen los und flatterte mit
+kurzen Flügelschlägen hinein in den Nebel, als wolle er
+Kundschaft holen über das Fest, welches ihm drunten
+bereitet wurde. Kehrte er zurück, so wußte er mancherlei
+zu erzählen, und freudekreischend erhoben sich die andern
+und wirbelten durcheinander und überschlugen sich in
+der grauen Luft, um endlich wieder zurückzufallen auf
+ihre Plätze in Reih und Glied.</p>
+
+<p>Gegen sieben Uhr verflüchtigte sich der Schleier,
+welcher über der Stadt lag, um sieben Uhr trat alles ins
+Licht! Vor dem fürstlichen Marstalle waren die Schranken
+aufgestellt. Ein mit rotem Tuch bekleideter Tisch und
+ebenso überzogene Bänke für den Gerichtsschulzen und
+die Beisitzer standen in der Mitte. Das Volk umwogte
+dicht gedrängt den Platz. Jetzt zog &bdquo;mit dem Gespiel&ldquo;
+die fürstliche Leibgarde aus dem Schloßtor, den Graben
+entlang, und besetzte zwei Seiten der Schranken. Nach
+ihr rückte in drei Fähnlein die Bürgerschaft von der
+Dammfestung, der Heinrichstadt und dem Gotteslager
+heran und schloß die beiden andern Seiten ein. Der
+Ring war gebildet; die Fahnen wurden zusammengewickelt
+und unter sich gekehrt, die Obergewehre mit den
+Spitzen in die Erde gestoßen, nach Kriegsgebrauch bei
+kaiserlichem Malefizrecht.</p>
+
+<p>Abermals entstand eine Bewegung unter der Volksmenge;
+wieder schritt ein Zug durch die gebildete Gasse
+feierlich und langsam vom Schloß her. Das war der
+Gerichtsschulze Melchior Reicharts mit seinen einundzwanzig
+Richtern, Hauptleuten, Gefreiten und Gemeinen,
+und dem Gerichtsschreiber Fridericus Ortlepius
+die allesamt paarweise in den Ring eintraten.</p>
+
+<p>Zuerst ließ sich der <i>notarius publicus</i> nieder, zur
+linken Hand an dem roten Tisch. Er ordnete seine
+Papiere, guckte in sein Tintenfaß, rückte das Sandfaß
+zurecht, und der trübe Himmel und die Krähen auf dem
+Schloßturm schauten ihm dabei zu. Er prüfte die Spitze
+seiner Feder auf dem Daumennagel, das Murmeln und
+Murren der tausendköpfigen Menge machte einer Totenstille
+Platz; von dem Mühlenturm her erklang ein taktmäßiges
+Rasseln und Klirren und verkündete das Nahen
+der Gefangenen. &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;O mein Gott, hilf ihm und mir!&ldquo; stöhnte Anneke
+Mey von Stadtoldendorf, als an dem Mühlenturm die
+Pforte sich öffnete und die davor aufgestellte Reiterwache,
+die Pferde rückwärtsdrängend, das Volk auseinander
+trieb.</p>
+
+<p>&bdquo;Da sind sie! die Meutmacher! die Schufte! Da
+sind die falschen Schurken!&ldquo; ging der unterdrückte Schrei
+durch das zornige Volk. Aus der Gefängnispforte hervor
+glitt ein verwildertes, trotziges oder verzagtes
+Gesicht nach dem andern an der zitternden Anneke
+vorüber.</p>
+
+<p>Und jetzt &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph!&ldquo; durchdrang grell und schneidend ein
+Schrei die schwere graue Luft, daß der Herzog Heinrich
+Julius, welcher an einem Fenster seines Schlosses
+stand und auf das Getümmel unter sich finster herabblickte,
+unwillkürlich den Kopf nach der Richtung hin
+neigte.</p>
+
+<p>Da schritt er einher, der Junker von Denow, bleich,
+wankend, gestützt auf den Arm des getreuen Knechtes
+Erdwin.</p>
+
+<p>&bdquo;O Christoph! Christoph von Denow!&ldquo;</p>
+
+<p>Der junge Reiter erhob das Auge; es haftete auf
+dem jungen Mädchen, welches hinter der Reihe der
+begleitenden Hellebardierer die Hände ihm entgegenstreckte;
+&mdash; ein trübes Lächeln glitt über das Gesicht
+Christophs, dann schüttelte er das Haupt; er wollte
+anhalten.</p>
+
+<p>&bdquo;Hast doch recht gehabt, Anneke!&ldquo; lachte höhnisch
+Valentin Weisser, der Rosenecker. &bdquo;Waren unsrer doch
+zu wenig. Puh &mdash; &rsquo;s ist am End einerlei &mdash; Kugel oder
+Strick. Vorwärts, Junker Stoffel; ich tret&rsquo; dir sonst die
+Hacken ab!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Vorwärts! vorwärts!&ldquo; rief der Führer der Geleitsmannschaft
+&mdash; vorüber schritt Christoph von
+Denow. &mdash;</p>
+
+<p>Im Ring aber schwuren die Richter mit aufgerichtetem
+Finger und lauter Stimme:</p>
+
+<p>&bdquo;Ich lobe und schwöre, daß ich diesen Tag und alles
+dasjenige, was vor diesem Malefizrecht vorkommen
+wird, urteilen und richten will, es sei gleich über Leib
+und Blut, Geld oder Geldeswert, als ich will, daß mich
+Gott am Jüngsten Tage richten soll &mdash; den Armen als
+den Reichen. Will hierinnen weder Freundschaft noch
+Feindschaft, Gunst noch Ungunst, weder Haß, Geschenke,
+Gaben, Geld ober Geldeswert ansehen, oder mich verhindern
+lassen! So wahr mir Gott helfe und sein heiliges
+Wort!&ldquo;</p>
+
+<p>Alle Beisitzer saßen darauf nieder an ihren Plätzen,
+und nur der Gerichtsschulze blieb stehen und tat eine
+Umfrage. Darauf verkannte er das Recht: erstens im
+Namen der heiligen unzerteilbaren Dreifaltigkeit, dann
+im Namen des Fürsten, dem Richter und Angeklagte
+als Kriegsleute geschworen hatten, zuletzt kraft seines
+eignen angeordneten Amts und Stabes, daß &bdquo;keiner
+innerhalb oder außerhalb dem Rechten wolle einreden.
+Solle auch niemand einem Richter heimlich zusprechen.
+Dem Profoß solle eine freie Gasse gelassen werden,
+damit er guten Raum habe, damit er desto baß mit den
+Gefangenen vom Rechten ab- und zugehen möge, bei
+Pön eines rheinischen Gülden in Gold&ldquo;.</p>
+
+<p>&bdquo;Derhalben,&ldquo; fuhr er fort, &bdquo;wer nun vor diesem
+Kaiserlichen Recht zu schicken oder zu schaffen hat, es
+sei gleich Kläger oder Antworter oder sonsten einer,
+der dem löblichen Regiment etwas anzuzeigen hat: die
+stehen in den Ring und klagen, wie man pflegt zu klagen
+und Antwort zu geben, auf Red und Widerred, wie in
+Kaiserlichen Rechten der Gebrauch ist. &mdash; Gerichtswebel,
+habt Ihr gestern den Profoß, wie auch die Angeklagten
+fürgeboten, zitieret und geladen?&ldquo;</p>
+
+<p>Und der Gerichtswebel stand auf und antwortete:
+&bdquo;Herr Schultheiß, ich habe sie gestern früh mit drei
+Trommeln an den vier Orten der Welt zitieret!&ldquo;</p>
+
+<p>Und des Regiments Profoß, Karsten Fricke, trat
+in den Ring, und der Gerichtswebel führt die Angeklagten
+hinein, jedes Fähnlein für sich zusammengeschlossen. &mdash;</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerVI" id="JunkerVI">VI.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/l.png" alt="L" width="60" height="60" class="floatl"/>iege still, Kind,&ldquo; sagte am zwanzigsten
+November bei Tagesanbruch auf der
+Hauptwache im Schloß zu Wolfenbüttel
+der Gefreite Arendt Jungbluth. &bdquo;Liege ruhig und schlaf
+weiter: der Morgen ist dunkel und dräuet Schnee. Es
+geht noch nicht an.&ldquo;</p>
+
+<p>Anneke Mey hatte sich auf der harten Holzbank,
+erschreckt aus tiefem Traum auffahrend, in die Höhe
+gerichtet, bei dem Ruf der Wacht draußen, die zur Ablösung
+herausrief.</p>
+
+<p>&bdquo;Schlafe wieder ein, Anneke, ich wecke dich, wenn es
+Zeit ist,&ldquo; sagte Arendt, die Sturmhaube auf den Kopf
+stülpend.</p>
+
+<p>&bdquo;Der letzte Tag!&ldquo; murmelte das Soldatenkind, und
+das müde Haupt sank wieder zurück auf das harte Lager,
+die Augen schlossen sich wieder.</p>
+
+<p>&bdquo;Hui, der Wind &mdash; Teufel!&ldquo; brummte Arendt, als
+die Söldner wieder zurücktraten in die Wachtstube.
+&bdquo;Schläft sie wieder? &mdash; Richtig! ach, ich wollt&rsquo;, sie verschlief&rsquo;
+es ganz. Ruhig, Kerle &mdash; haltet eure Mäuler!
+Donner &mdash; ist es nicht grad, als ob der Sturm den alten
+Kasten einem über dem Kopf zusammenreißen wollte?
+Das wird das rechte Wetter sein für die da draußen im
+Ring, das bläst ihnen die Urteile vom Munde weg.
+Wie sie da liegt! ist das nicht ein Jammer? Ich wollt&rsquo;,
+sie verschlief&rsquo; die böse Stund.&ldquo;</p>
+
+<p>Wild jagte der Wind die schweren Schneewolken vor
+sich her und heulte und pfiff in den Gängen des Schlosses
+wie der böse Feind, klapperte mit den Ziegeln, rüttelte
+an den Fenstern und trieb die Wetterfahnen mit den
+Löwen auf den Turmspitzen im Kreise umher, heftiger
+und heftiger, wie der Tag zunahm.</p>
+
+<p>Anneke Mey lag noch immer, nicht im Schlaf, sondern
+in stumpfsinniger Erschöpfung. Was kein Kriegszug
+vollbracht hatte, das hatten die letzten vierzehn Tage
+getan; sie hatten das Kind gebrochen, es matt und
+müd gemacht bis zum Tode. Vergeblich sahen sich diesmal
+auf ihrem Wege zum Gericht Christoph von Denow
+und Erdwin Wüstemann nach dem abgehärmten Gesicht
+ihres Schutzengels um.</p>
+
+<p>&bdquo;Gottlob, gottlob, sie verschläft&rsquo;s!&ldquo; murmelte
+Arendt Jungbluth, sich über das Lager der Armen
+beugend.</p>
+
+<p>Im Ring, unter dem düstern, schwarzen Himmel mit
+den jagenden Wolken las Friedrich Ortlepp, der
+Gerichtsschreiber, ein Todesurteil nach dem andern;
+einen Stab nach dem andern brach der Schultheiß und
+warf ihn auf den Richtplatz.</p>
+
+<p>&bdquo;Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit. Amen!&ldquo;
+sprach er bei jeder weißen Rute, welche zerknickt auf den
+Boden fiel.</p>
+
+<p>Und jetzt &mdash; jetzt der letzte Spruch!</p>
+
+<p>&bdquo;Auf eingebrachte Klage des Profoßen, Gegenrede
+des Beklagten, produzierte Kundschaft und Zeugnis, ist
+durch einhellige Umfrage zu Recht erkannt, daß &mdash;
+<em class="gesperrt">Christoph von Denow</em> nicht gebührt hat, sich
+für einen Vorsprecher bei der vorgesetzten Obrigkeit, noch
+für einen Hauptmann aufzuwerfen, noch die Befehle
+zu vergeben und auszuteilen, noch die Wacht zu bestellen.
+Warum er dem Profoß überantwortet werden
+soll, welcher ihn in sein Gewahrsam führen und ihn dem
+Nachrichter einantworten und befehlen soll, daß er ihn
+hinausführe und an den nächsten Galgen hänge und mit
+dem Strange zwischen Himmel und Erde erwürge, damit
+der Wind unter ihm und über ihn durchwehen könne,
+ihm zu verwirkter Strafe und andern zum abscheulichen
+Exempel!&ldquo;</p>
+
+<p>Wieder fiel der gebrochene Stab zu den anderen auf
+die Erde.</p>
+
+<p>&bdquo;Gnade Gott der Seelen in Ewigkeit, Amen!&ldquo;</p>
+
+<p>Auf die Knie stürzten dreiundachtzig der Verurteilten:
+&bdquo;Gnade, Gnade! Gnade ist besser denn Recht!&ldquo;</p>
+
+<p>Hochauf richteten sich Christoph von Denow und
+Erdwin Wüstemann, und der Junker hob die gefesselte
+Rechte zum Himmel, während der Wind seine Locken
+zerwühlte und die Schneewolken sich öffneten und das
+weiße Gestöber wirbelnd herabfuhr:</p>
+
+<p>&bdquo;Keine Gnade! Recht! Recht! Recht ist besser denn
+Gnade!&ldquo;</p>
+
+<p>In den Ring sprang der Profoß mit der Wache und
+stürzte sich auf die Gefangenen &mdash; wild und anhaltend
+brach das Geschrei des Volkes los, die Kommandoworte
+erschallten dazwischen, die Trommeln wirbelten,
+die Trompeten schmetterten, aus der Erde wurden die
+Waffen gerissen und hoch in die Luft geschwungen, die
+Fähnlein entfalteten sich im Winde. Die Krähen aber
+schossen in einem schwarzen Haufen herab von dem
+Schloßturm und umflatterten krächzend die Stätte
+des Gerichts. Gleich dem bewegten Meer wogte und
+donnerte das Volk, und durch die Menschenflut kämpfte
+sich mit zerrissenen Kleidern, losgegangenen Haarflechten
+Anneke Mey.</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph! Christoph! O du heiliger Gott im
+Himmel! verloren! verloren!&ldquo;</p>
+
+<p>Dem Herzog am geöffneten Fenster seines Gemachs
+riß der Sturm den Griff des Flügels aus der Hand,
+daß er klirrend zuschlug. Über den Schloßhof schritt der
+Gerichtsschultheiß Melchior Reicharts mit den Hauptleuten
+Georg Frost, Peter Köhler, Heinrich Jordans und
+Moritz Ahlemann nach getaner Pflicht den jungen
+Fürsten, Zahlherrn und Kreis-Obersten für die Verurteilten
+zu bitten. Fridericus Ortlepius trug &bdquo;fürsichtiglich
+und sorgsamlich&ldquo; die Akten und Protokolle.
+Tief in die Nacht hinein saß der Herzog mit den sechs
+Männern über diesen Papieren. Vierundzwanzig Todesurteile
+bestätigte er, und unter diesen befand sich das
+Christoph von Denows. Zweiunddreißig der Verurteilten
+begnadigte er dahin, &bdquo;daß sie zur Straf sich verpflichten
+sollen, im Land zu Ungarn auf dem Grenzhause
+Groß-Wardein wider den Erbfeind der Christenheit
+zu Wasser und zu Lande, in Sturm und Schlachten
+jederzeit, wie ehrlichen Kriegsleuten solches gebührt, sich
+gebrauchen zu lassen&ldquo;. &mdash; Siebenundzwanzig Männern
+wurde auf einen gewöhnlichen &bdquo;Urfried&ldquo; das Leben
+und die Ehre geschenket und sie ihrem Fähnlein wieder
+einverleibt. &mdash; Zweien wurde das Leben und die Ehre
+ohne Bedingung geschenkt. Der erste war Erdwin
+Wüstemann, der andere ein Söldner, genannt Klaus
+Rischemann von Calvörde. Alle diese Schlüsse wurden
+den Gefangenen noch in derselben Nacht bekannt
+gemacht.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="JunkerVII" id="JunkerVII">VII.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/d.png" alt="D" width="60" height="60" class="floatl"/>er Schnee lag hoch in den Straßen und
+auf den Plätzen der Stadt und Festung
+Wolfenbüttel. Der Sturm hatte sich mit
+Anbruch des Tages ganz gelegt, es war wieder still und
+ruhig geworden, und leise träufelte es von den Dächern,
+denn die Luft war warm und mit Feuchtigkeit gefüllt;
+mit dumpfem Geräusch bewegte sich das Volk in den
+Gassen.</p>
+
+<p>Die Fenster der Schloßkirche glänzten rötlich in die
+trübe Morgendämmerung herein, und feierlich erklang
+die Orgel und der Gesang vieler Menschenstimmen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Allein zu dir, Herr Jesu Christ,<br /></span>
+<span class="i0">Mein Hoffnung steht auf Erden. &mdash;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Im Schein der Lichter und Lampen erglänzte Harnisch
+an Harnisch in dem heiligen Gebäude: den Verurteilten
+sollte ihre letzte Predigt gehalten und das Abendmahl
+ihnen gereicht werden. Der junge Herzog saß in seinem
+Stuhl, das Gebetbuch vor sich; alle Offiziere der Besatzung
+waren in Wehr und Waffen zugegen, und die
+Wände entlang und im Schiff der Kirche drängte sich
+ein bärtiges ernstes Kriegergesicht an das andere. Die
+Vierundzwanzig, die sterben sollten, saßen auf einer
+niedern Bank unter der Kanzel, auf welcher der Magister
+Basilius im schwarzen Chorrock mit der Halskrause
+stand, bereit, seine Rede über die beiden Schächer am
+Kreuz zu beginnen. In einem dunkeln Winkel unter der
+Orgel stand Erdwin Wüstemann und hielt die schluchzende
+Anneke im Arm; um sie her knieten oder standen die
+vom Tode losgesprochenen Meuterer, denen man die
+Fesseln abgenommen hatte.</p>
+
+<p>Und jetzt schwieg die Orgel und der Gesang. Das
+Wort des Evangelisten Lukas wurde gelesen:</p>
+
+<p>&bdquo;Aber der Übeltäter einer, die da gehängt waren,
+lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir
+selber und uns! &mdash; Da antwortete der andere, strafte
+ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor
+Gott, der du in gleicher Verdammnis bist? Wir sind
+billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Taten
+wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt!
+&mdash; Und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn
+du in dein Reich kommst! &mdash; und Jesus sprach zu ihm:
+Wahrlich, ich sage dir, heut wirst du mit mir im Paradiese
+sein!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>Überlaut riefen bei diesen letzten Worten des Textes
+einige der Verurteilten: &bdquo;Das helfe uns der allmächtige
+Gott!&ldquo; und hoben die kettenklirrenden Hände gefaltet
+hoch empor. Das Auge Christoph von Denows aber
+leuchtete plötzlich in einem Glanz, welcher darin bereits
+für immer erloschen schien. Hatte er eine Vision? Rief
+ihm eine süße bekannte Stimme von oben? Erschien ihm
+winkend die tote Mutter?</p>
+
+<p>Christoph von Denow war zum Sterben bereit. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Gott, Gott, laß so nicht das Haus Denow zu End
+kommen!&ldquo; stöhnte in seinem Winkel Erdwin, der Knecht.
+&bdquo;Herr, schenke du ihm einen adeligen Tod! Laß diesen
+Kelch an mir vorüber gehen!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Er soll mir den Kopf zertreten und über meinen
+leblosen Leib weggehen, wenn er mich nicht hören will!&ldquo;
+sagte Anneke Mey tonlos.</p>
+
+<p>Und Dominus Basilius Sadler begann seine Buß-
+und Trostpredigt und teilte sie in die zwei Punkte:</p>
+
+<p>Erstlich, wie sich der &bdquo;heilige&ldquo; Schächer am Kreuz in
+einer letzten Not gehalten.</p>
+
+<p>Zum andern, wie herrlich ihn Christus getröstet
+habe.</p>
+
+<p>Der Himmel im Osten aber färbte sich immer purpurner,
+und die Lichter und Lampen der Kapelle erblaßten
+mehr und mehr vor dem Glanz, welchen Gott über
+die winterliche Welt leuchten ließ. Die Gefangenen
+neigten die Häupter tiefer und tiefer.</p>
+
+<p>&bdquo;&mdash; Euer Weib und Kinder befehlet ihr, die ihr welche
+habt, Gott dem Allmächtigen, der ist der Waisen Vater
+und der Witwen Richter. Ist schon dieser Tod vor der
+Welt schmählich, so gedenket, wenn ihr euch bekehret, daß
+ihr Gottes Kinder seid, dann wird solch Leiden ehrlich
+und herrlich. Denn der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten
+vor dem Herrn.&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Einen ehrlichen Tod! o Gott, schenke ihm einen
+adeligen Tod!&ldquo; murmelte Erdwin, der Knecht.</p>
+
+<p>&bdquo;So gebe Gott der Allmächtige euch allen die Gnade
+seines heiligen Geistes, daß ihr euer&rsquo; Sünd von Herzen
+erkennt und euch leid sein lasset, euch im wahren Glauben
+zu Christo wendet und darin bis ans Ende verharret,
+euer&rsquo; Seel in Geduld fasset, allen Menschen von Herzen
+vergebet und verzeihet, heut, diesen Tag, Gott eure
+Seele opfert und überantwortet und am großen Tag
+des Herrn mit Freuden auferstehet und mit Leib und
+Seele ewig lebet! Amen, Amen, Amen!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Sand war verlaufen in der Uhr auf der Kanzel.
+Der Herzog verließ mit seinen Hofbeamten seinen Stuhl,
+Anneke Mey verschwand von der Seite Erdwins, ohne
+daß dieser es bemerkte; &mdash; unter den Klängen des
+alten traurigen Chorales: Wenn mein Stündlein vorhanden
+ist &mdash; wurde den Verurteilten das Abendmahl
+gereicht.</p>
+
+<p>Nun war auch das geschehen; in die letzten Klänge
+der Orgel mischte sich grell und schneidend ein anderer
+Klang &mdash; der Schall des Armensünderglöckchens: Der
+Henker wartete an der Tür des Hauses Gottes!</p>
+
+<p>Im langsamen Zug traten die Verurteilten und
+Gefangenen, von ihren Wächtern umgeben, hinaus aus
+der Schloßkirche, vor welcher sie die harrende Menge
+mit wildem Geschrei und Droh- und Schmähworten
+empfing. Der schwere Gang begann, in das goldne
+Morgenrot hinein, über den Schloßplatz, die Dammbrücke,
+durch die Heinrichsstadt dem Kaisertor zu. Alle
+Gassen, durch welche der Zug ging, waren mit herzoglichen
+Reitern und den gewaffneten Bürgern besetzt, um
+den Andrang des Volks zu bändigen.</p>
+
+<p>Vor dem Kaisertor waren die vier Galgen gebaut,
+woran die vierundzwanzig Leben enden sollten. Fast
+eine halbe Stund verging, ehe die Verurteilten unter
+ihnen standen. Der Ring war geschlossen auf zwei Seiten
+von den Hellebardierern, auf den beiden andern Seiten
+von den Musketenschützen, deren Röhre auf den
+Gabeln lagen, deren glimmende Lunten zum augenblicklichen
+Gebrauch aufgeschroben waren. Dicht
+vor dem Gefreiten Arendt Jungbluth hielten sich
+Erdwin Wüstemann und der Junker Christoph von
+Denow.</p>
+
+<p>Der Alte hatte den Arm um seinen jungen Herrn
+geschlungen, und dieser das Haupt an die Brust
+des treuen Knechts gelegt. Sie sprachen leise zueinander.</p>
+
+<p>&bdquo;Weiß nicht, wo sie geblieben ist! weiß nicht, wo sie
+bleibt!&ldquo; sagte der Alte.</p>
+
+<p>&bdquo;Sie hat mich nicht sterben sehen wollen; &mdash; &rsquo;s ist
+auch besser so! O schütze sie &mdash; halte sie, trag sie auf den
+Händen und im Herzen und verlaß sie nie und nimmer
+&mdash; ich will meiner Mutter von ihr sagen, wenn ich zu ihr
+komm&rsquo;.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Junker, Junker, und Euer Vater&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Vergiß nicht, was du ihm versprochen hast.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Es wird geschehen, so wahr mir Gott helfe!&ldquo; sagte
+dumpf der Alte.</p>
+
+<p>&bdquo;Schau, es geht an &mdash; da hast du den Ring &mdash; mein
+Schwert liegt versenkt im Moor, es ist ein gutes, tadelloses
+Schwert geblieben! &mdash; Ihr sag &mdash; o Anneke!
+Anneke!&ldquo; Der Junker brach ab; er vermochte es nicht,
+weiter zu sprechen.</p>
+
+<p>Unterdessen war eine Totenstille in der Menschenmenge
+eingetreten, die aber jedesmal, wenn die Henker
+einen der Meuterer des Reichsheeres von der Leiter
+stießen, in ein gräßliches, langanhaltendes Geheul,
+durch welches scharf das Wirbeln der Trommel klang,
+überging. &mdash; &mdash; Dreiundzwanzig Mal hatte das Volk
+aufgeschrien. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Christoph von Denow!&ldquo; rief nun der Profoß mit
+lauter Stimme.</p>
+
+<p>Zum letztenmal lagen sich Christoph und Erdwin in
+den Armen.</p>
+
+<p>&bdquo;Lebe wohl! lebe wohl!&ldquo; flüsterte der erste &mdash; &bdquo;vergiß
+nicht!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;So gnade Gott mir und Euch!&ldquo; schrie der Knecht
+Wüstemann und strich die langen greisen Haare aus der
+Stirn zurück. Der Junker von Denow stand am Fuße
+der Leiter!</p>
+
+<p>Er drückte die Hand auf das Herz und setzte den Fuß
+auf die erste Staffel: &bdquo;O Anneke, süße Anneke!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Gedanke kam ihm, er würde sie erblicken in der
+Menge, welche wieder in unheimlichster Stille den Richtplatz
+bedeckte; mit einem Sprung war er oben an der
+Seite des Henkers, der ihn mit dem Strick in der Hand
+erwartete. Er stieß die Hand desselben zurück &mdash; seine
+Augen schweiften über all die Tausende emporgerichteter
+Gesichter. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;O Anneke Mey, liebe Anneke, wo bist du? wo bist
+du? weshalb hast du mich verlassen?!&ldquo;</p>
+
+<p>Wieder streckte der Henker die Hand nach ihm aus; er
+hielt ein Blech, auf welchem die Worte standen &bdquo;Meutmacher
+und Meineidiger&ldquo; und wollte es dem Verurteilten
+an einem Bande um den Hals werfen.</p>
+
+<p>&bdquo;Lebe wohl, süße Anneke Mey!&ldquo; flüsterte Christoph
+von Denow; er schlug die Hand des Henkers abermals
+zur Seite, klirrend fiel das Blech, die Leiter nieder, zur
+Erde. &mdash;</p>
+
+<p>Mit einem wilden, entsetzlichen Schrei sprang Erdwin
+Wüstemann einen Schritt zurück, mit einem Griff
+riß er das Feuerrohr aus den Händen Arendt Jungbluths
+und an seine Wange. Der Schuß krachte &mdash;
+&bdquo;Gnade Gott mir und dir!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Dank, Erdwin &mdash; hast &mdash; Wort gehalten!&ldquo; sprach
+Christoph von Denow. Er schwankte &mdash; breitete die
+Arme aus: &bdquo;Lebe &mdash; wohl &mdash; süße &mdash; Anneke!&ldquo; Der
+entsetzte Henker wollte ihn halten, aber im dumpfen
+Fall stürzte der Körper die Leiter herab in den blutigen
+Schnee.</p>
+
+<p>Aufbrüllte die Menge und tobte durcheinander, der
+Ring löste sich &mdash; die Offiziere, die Beamten, der Gewaltiger
+stürzten sich auf den Knecht Erdwin, welcher
+regungslos dastand, das abgeschossene Rohr in der
+Hand.</p>
+
+<p>Und jetzt ein neues Geschrei von der Stadt her:
+&bdquo;Haltet, haltet!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein Reiter mit einem Papier in der Hand, im
+Galopp ansprengend! Ihm nach ein zweiter Reiter,
+vor sich auf dem Pferd ein halbohnmächtiges, todtbleiches
+Mädchen. &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Halt, halt! Befehl, den Verurteilten Christoph
+von Denow zurückzuführen ins Gewahrsam!&ldquo;</p>
+
+<p>Anneke Mey leblos auf dem leblosen Körper des
+Erschossenen &mdash; Erdwin Wüstemann besinnungslos in
+den Armen Arendt Jungbluths &mdash; &mdash; &mdash; Trompetenschall
+von der Torwache; von der Stadt her eine neue
+Reiterschar: &bdquo;Der Herzog! der Herzog! &mdash; Zu spät! zu
+spät!&ldquo; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>In dem wiedergebildeten Ring hielt der junge Fürst
+mit seinem Gefolge; vor ihm stand barhäuptig der
+Profoß neben der schrecklichen Gruppe am Boden und
+erzählte das Vorgefallene. Als er geendet, stieg der
+junge Fürst ab von seinem Hengst und näherte sich
+dem treuen Knecht des Hauses Denow:</p>
+
+<p>&bdquo;Weshalb hast du das getan?&ldquo;</p>
+
+<p>Der Angeredete blickte irr und wirr im Kreise umher,
+antwortete nicht, sondern brach nur in ein herzzerreißendes
+Gelächter aus.</p>
+
+<p>Der Herzog legte die Hand an die Stirn; &mdash; dann
+wandte er sich:</p>
+
+<p>&bdquo;Hebt doch das Kind von der Leiche!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Leutnant von der Festung, Johannes Sivers,
+beugte sich nieder, um dem Befehl nachzukommen. Es
+gelang ihm mit Mühe:</p>
+
+<p>&bdquo;O gnädiger Gott, tot, tot, fürstliche Gnaden!&ldquo;</p>
+
+<p>Ein dumpfes Gemurmel ging durch die lauschende
+Menge; der Fürst schritt finster sinnend einige Minuten
+auf und ab. Dann hob er das Haupt:</p>
+
+<p>&bdquo;Bei meinen Vätern, ich glaub&rsquo;, da ist ein bös Ding
+getan! leget die Dirne und den toten Knaben auf die
+Gewehrläufe &mdash; es ist Unsere Meinung und Wille, daß
+das Gericht wieder beginne. Wir sind entschlossen, selbsten
+im Ring zu sitzen!&ldquo;</p>
+
+<p>Während dieser letzten Worte hatte sich Erdwin
+Wüstemann langsam aufgerichtet; jetzt stand er wieder
+fest auf den Füßen. Der Herzog bemerkte es, er legte
+ihm die Hand auf die Schulter:</p>
+
+<p>&bdquo;Ihr habet hart und schnell in unser Gericht eingegriffen.
+Stehet zu mir nun auch im Ring, daß die Wahrheit
+an den Tag kommt! Nachher, wenn&rsquo;s sich ausgewiesen
+hat, wie ich es mir zusammendenke, wollen Wir,
+daß Ihr die dort gen Ungarn führet als Unser Ehrbarer,
+Mannhafter und Getreuer! Höret Ihr, Hauptmann
+Erdwin Wüstemann?! Nun hebet die Leichen und rühret
+die Trommeln &mdash; fort! fort!&ldquo;</p>
+
+<p>Über der blutigen Morgenröte hatten sich die Wolken
+wieder dunkel zusammengezogen. Wieder sanken leise
+einzelne weiße Flocken herab. Sie mehrten sich von
+Augenblick zu Augenblick und deckten bald, einem Leichentuch
+gleich, die Körper Christophs und Annas, wie sie
+durch die Gassen der Stadt Wolfenbüttel, dem Zuge
+der Krieger und Bürger voran, dicht hinter dem Gefolge
+des Herzogs, welcher mit gesenktem Haupte vorausritt,
+der Gerichtsstätte am Schloß zugetragen wurden. Der
+alte Knecht Erdwin ging neben seinem jungen Herrn her;
+aber er wußte nichts davon &mdash; dunkel war es in ihm
+und um ihn! &mdash;</p>
+
+<p><em class="gesperrt">So starb der Junker Christoph von
+Denow eines adeligen Todes!</em></p>
+<p class="newstory"></p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Geheimnis">
+<span class="big">Ein Geheimnis</span><br />
+Lebensbild aus den Tagen Ludwigs XIV.
+</a>
+</h2>
+
+<h3><a name="IIn_der_Gasse_Quincampoix" id="IIn_der_Gasse_Quincampoix">I.<br />In der Gasse Quincampoix.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>enn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten
+in dieser Welt tagtäglich geschehen,
+so muß man sich sehr wundern, daß es
+immerfort Leute gegeben hat und noch gibt, welche
+sich abmühten und abmühen, selbst seltsame Abenteuer
+zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen Nebenmenschen
+durch Schrift und Wort für Wahrheit aufzubinden.
+Die Leute, die solches tun, verfallen denn auch meistens
+&mdash; wenn sie ihr leichtfertig Handwerk nicht ins Große
+treiben und was man nennt große Dichter werden, &mdash;
+der öffentlichen Mißachtung als Flausenmacher und
+Windbeutel, und alle Vernünftigen und Verständigen,
+die sich durch ein ehrlich Handwerk ernähren, als wie
+Prediger, Leinweber und Juristen, Bürstenbinder, Ärzte,
+Schneider, Schuster und dergleichen, blicken mit mitleidiger
+Geringschätzung auf sie herab, und das mit
+Recht!</p>
+
+<p>So sage ich denn reu- und wehmütig <i>confiteor,
+confiteor; &mdash; mea culpa, mea culpa!</i> so beginne ich
+denn meine &mdash; <em class="gesperrt">wahre Geschichte</em>.</p>
+
+<p>Es war in dem durch die Seeschlacht von La Hogue
+für das Glück und den Glanz des französischen Königs
+und Volkes so unheilvollen Jahre 1692. Viel Not und
+Elend herrschte im Lande; in Guienne, Bearn, Languedoc
+und der Dauphinée starben die Menschen zu
+Tausenden vor Hunger; Bankerotte, greuliche Mordtaten,
+Aufstände waren an der Tagesordnung; &mdash; es
+war, als wolle es abwärts gehen mit dem großen
+Louis. Es regnete, und der Novemberwind fuhr in
+kurzen Stößen scharf über die Stadt Paris und durch
+die Gasse Quincampoix, welche letztere gar wüst,
+schmutzig und verwahrlost ausschauete. Und sah die
+Gasse Quincampoix an diesem düstern Novembernachmittag
+häßlich aus, so gewährten die Menschen, welche
+sie bevölkerten, einen noch schlimmern Anblick. War
+es nicht, als ob das allgemeine Unglück jedem Gesicht
+seinen Stempel aufgedrückt habe? &mdash; O wie verkommen
+erschien diese französische Nation, welche sich für die erste
+der Welt hielt.</p>
+
+<p>Vier Uhr schlug&rsquo;s, als ein junger Mensch von ungefähr
+achtundzwanzig Jahren, hager, bleichgelblich
+von Gesicht, schwarzhaarig, schwarzäugig, in luftigen,
+ärmlichen, schäbigen Kleidern, in der Gasse Quincampoix
+in die Kneipe zum Dauphinswappen trat, um seine
+letzten Sols an eine Mahlzeit zu wenden. <em class="gesperrt">Stefano
+Vinacche</em> hieß dieser junge Mann; ein Neapolitaner
+war er von Geburt, ein Abenteurer vom reinsten Wasser.
+Als er in die Gargotte eintrat, herrschte in derselben
+ein wahrer Höllenlärm; ein Sergeant vom Regiment
+Villequier war mit einem Kornet vom Regiment Ruffey
+über dem Spiele in Streit geraten, ein Perückenmacher
+zankte mit einem Lakaien der Prinzessin von Conti
+über die Frage: ob es recht sei, daß Monsieur de Pomponne,
+der Staatsminister, so viel einzunehmen habe,
+als ein Prinz von Geblüt; &mdash; andere Gäste unterhielten
+sich über andere Gegenstände mit so viel Lärm als möglich.
+Im Hinterzimmer, welches an die Kneipstube
+grenzte, war ein äußerst hitziger Wortkampf ausgebrochen
+zwischen dem Wirt zum Dauphinswappen,
+Claude Bullot, und seiner hübschen galanten Tochter,
+&mdash; kurz, alles ging drunter und drüber, und nur Margot
+die Kellnerin, eine Picarde, bewahrte ihren Gleichmut,
+blickte vom Kamin aus mit untergeschlagenen
+Armen in das Getümmel und gab Achtung, daß dem
+Sergeanten und dem Kornet jede zerbrochene Flasche,
+jedes zertrümmerte Glas richtig angekreidet wurden.
+Margot die Picarde wußte, daß im Notfall die Marechaussée
+in der Gaststube alles schon ins Gleichgewicht
+bringen würde, und was im Hinterzimmer vorging,
+zwischen ihrem Herrn und der Mademoiselle, machte
+ihr das höchste Vergnügen. &mdash;</p>
+
+<p>Am Kamin legte Margot die Picarde dem Neapolitaner
+das Kuvert, und der Fremde war allzu ausgehungert
+und allzu naß, um anfangs an etwas
+anderes zu denken, als den Hunger aus dem Magen
+und die Kälte aus den übrigen Gliedern zu verjagen.
+Ruhig setzte er sich auf den ihm angewiesenen Platz,
+aß und trank, trocknete seine Kleider, bis er allgemach
+wieder auflebte und fähig wurde, seine Aufmerksamkeit
+den Vorgängen in seiner Umgebung zuzuwenden.
+Der Sergeant vom Regiment Villequier erhielt richtig
+einen Degenstoß in die Schulter, verhaftet wurde darüber
+der Kornet vom Regiment Ruffey; die Bürger,
+Lakaien, Diebe und Tagediebe zerstreuten sich mit einbrechender
+Dämmerung, um sich vor der Dunkelheit
+zu retten, oder in der Dunkelheit ihren lichtscheuen Geschäften
+nachzugehen. Es wurde still in der Gargotte,
+nur im Hinterzimmer konnte man sich immer noch nicht
+beruhigen. In der Tür, welche auf die Gasse führte,
+stand die Kellnerin Margot und blickte in den Regen
+und die Nacht hinaus, das Feuer im Kamine prasselte
+und knatterte und warf seinen roten Schein über die
+Tische und Bänke des weiten Gemaches, die trübe
+Hängelampe qualmte an der geschwärzten Decke; niemand
+störte jetzt mehr den jungen Neapolitaner in
+seinen trüben Gedanken. Mechanisch klimperte er mit
+den wenigen Geldstücken in seiner Tasche; &mdash; was
+sollte er beginnen, um nicht Hungers zu sterben, um
+nicht in den Gassen dieses schmutzigen, kalten, stinkenden
+Paris zu erfrieren? &bdquo;O Neapel, Neapel!&ldquo; seufzte
+Stefano Vinacche.</p>
+
+<p>Jawohl, etwas anderes war es, eine Nacht obdachlos
+am Strande des tyrrhenischen Meeres, ein anderes,
+eine Nacht obdachlos am Ufer der Seine zuzubringen.
+Eine Art stumpfsinniger Schlaftrunkenheit überkam
+den jungen Italiener, seine Augen schlossen sich unwillkürlich,
+und immer dumpfer und verworrener vernahm
+er das Schluchzen der Mademoiselle Bullot und
+die kreischende Stimme des zornigen Vaters.</p>
+
+<p>Aber was war das? Plötzlich schwand jedes Zeichen
+von Ermüdung, von Erschöpfung an dem Italiener.
+Vorgebeugt saß er auf seinem Stuhle und horchte
+mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach der Tür
+hin, welche in das Hinterzimmer führte. Das Wechselgespräch
+zwischen Vater und Tochter war dem Fremden
+auf einmal interessant geworden durch einen Namen,
+der soeben mehrere Male darin vorgekommen war.</p>
+
+<p>Immer gespannter horchte Vinacche.</p>
+
+<p>Hatte nicht Meister Claude Bullot, ehe ihm Monseigneur
+der Herzog von Chaulnes die Kneipe zum
+Dauphinswappen einrichtete, als Seifensieder Bankerott
+gemacht?</p>
+
+<p>War nicht Mademoiselle Bullot ein reizendes Schätzchen,
+dem man schon etwas zu Gefallen tun konnte?</p>
+
+<p>Hoch spitzte Stefano Vinacche die Ohren beim
+Namen des Herzogs von Chaulnes.</p>
+
+<p>&bdquo;Oho, Stefano, solltest du da unvermutet in den
+Honigtopf gefallen sein? Oho, Glück geht immer über
+Verstand, &mdash; <i>va&rsquo; piu un&rsquo; oncia di fortuna, che una
+libra di sapere</i>. Achtung, Achtung, Vinacche!&ldquo;</p>
+
+<p>Mancherlei sprach der Vater im Hinterzimmer der
+Kneipe zum Wappen des Dauphins. Mancherlei sprach
+das Töchterlein dagegen; immer fröhlicher rieb sich
+Stefano die Hände, bis endlich die Verbindungstür
+mit Macht aufgerissen wurde und Mademoiselle &mdash;
+<i>éplorée</i> in das Schenkzimmer stürzte. Hinter ihr erschien
+der zornige Papa, einen zusammengedrehten Strick
+in der Hand:</p>
+
+<p>&bdquo;Warte, Kreatur!&ldquo;</p>
+
+<p>Stefano Vinacche wußte schon längst, was er zu
+tun hatte. Er warf sich auf den ergrimmten Gargottier
+und packte seinen erhobenen Arm.</p>
+
+<p>&bdquo;Monsieur?!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monsieur!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Laßt mich frei! was fällt Euch ein?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich leid&rsquo;s nicht, daß Ihr Mademoiselle mißhandelt;
+&mdash; tretet hinter mich, Mademoiselle!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Margot, Margot!&ldquo; rief endlich der Wirt zum
+Dauphinswappen.</p>
+
+<p>Margot erschien, stemmte aber nur die Arme in die
+Seite und sah der Szene zu, ohne ihrem Herrn zu Hilfe
+zu kommen.</p>
+
+<p>&bdquo;Haltet ihn, um Gottes willen, haltet ihn, er wird
+mich ermorden, wenn Ihr ihn freilaßt!&ldquo; rief Mademoiselle
+Bullot.</p>
+
+<p>&bdquo;Seid ruhig, Schönste; er soll Euch nichts zuleide
+tun. Pfui, schämt Euch, Monsieur, wie könnt Ihr eine
+liebenswürdige Tochter also behandeln?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich frage Euch zum letztenmal, wollt Ihr mich loslassen?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;In Ewigkeit nicht, wenn Ihr mir nicht den Strick
+gebt, Signor, und versprecht artig zu sein gegen die
+Damen, Signor!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Morbleu!&ldquo; schrie der Wirt zum Dauphinswappen,
+und der Himmel weiß, was geschehen wäre, wenn nicht
+der Eintritt eines in einen Mantel gewickelten Mannes
+der Szene ein Ende gemacht hätte.</p>
+
+<p>Der Mantel fiel zur Erde, und Wirt und
+Töchterlein und Kellnerin und Italiener riefen mit
+einer Stimme:</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur!&ldquo;</p>
+
+<p>Der Eingetretene war Karl d&rsquo;Albert, Herzog von
+Chaulnes, Pair von Frankreich, Vidame von Amiens,
+ein ältlicher Mann, dem man den &bdquo;großen Herrn&ldquo;
+nicht im mindesten ansah, woran der bürgerliche Anzug
+durchaus nicht schuld war; ein Mann, von welchem
+einige Jahre später ein deutscher Schriftsteller sagte:
+&bdquo;Er erwartet den Tod mitten in seinen Vergnügungen;
+er ist freigebig ohne Unterschied und von einem sehr
+abgenutzten Gehirne.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Holla, das geht ja lustig her!&ldquo; rief der Herzog.
+&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, und auch Vinacche dabei!
+Sagt mir um aller Teufel willen &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>Mademoiselle Bullot ließ ihn nicht aussprechen; sie
+eilte auf den hohen Herrn zu und &mdash; warf sich an seinen
+Hals, schluchzend, Gift und Galle speiend:</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur, ich halt&rsquo;s nicht mehr aus; Monseigneur,
+errettet mich aus den Händen meines Vaters!
+Wäre dieser edle junge Mann eben nicht dazwischen
+gekommen, er hätte mich gewißlich zu Tode geschlagen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wieder das alte Lied? Bullot, Bullot, ich frage
+Euch um Gottes willen, glaubt Ihr in der Tat, ich habe
+Euch Eurer roten Nase wegen zum Eigentümer dieses
+Dauphinswappens gemacht? Ich sage Euch, auf den
+Knieen solltet Ihr Eure liebenswürdige Tochter verehren;
+&mdash; <i>notre Dame de Miracle</i>, ich sage Euch zum
+allerletzten Male, behandelt Mademoiselle, wie es sich
+ziemt, oder &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Monseigneur!&ldquo; flehte Meister Claude, welcher
+seinen Strick längst ganz verstohlen in den Winkel geworfen
+hatte und katzenbuckelnd so gemein und niederträchtig aussah,
+wie man unter der Regierung des großen Louis
+nur aussehen konnte. &bdquo;O Monseigneur, ich versichere
+Euch, <em class="gesperrt">sie</em> hat&rsquo;s darauf abgesehen, ihren unglückseligen
+Vater in ein frühzeitig Grab zu bringen. Monseigneur,
+Ihr kennt sie nur von der einen Seite; aber ich &mdash; o
+Monseigneur!&ldquo; &mdash;</p>
+
+<p>&bdquo;Still! Ihr seid ein Schurke, und Mademoiselle
+ist ein Engel! &mdash; beruhige dich, Kind &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur, er ist zu boshaft. Monseigneur,
+wenn Ihr mich wirklich liebt, so laßt mich nicht in seiner
+Gewalt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ruhig, ruhig, süßes Kind. Was ist denn nur
+eigentlich vorgefallen?&ldquo;</p>
+
+<p>Ja, was war vorgefallen?</p>
+
+<p>Eine Zungenfertigkeit sondergleichen entwickelten
+Mademoiselle Bullot und Meister Claude Bullot
+gegeneinander, doch haben wir mit dem Ausgangspunkte
+des Streites nicht das mindeste zu schaffen und
+brauchen nur zu sagen, daß der Herzog von Chaulnes,
+obgleich er im Grunde seines Herzens dem erzürnten
+Papa recht geben mußte, in Anbetracht seiner zarten
+Stellung zu Mademoiselle sich auf deren Seite stellte.
+Sehr ärgerlich war der Herzog von Chaulnes! In
+äußerst lebendiger Stimmung war er durch die Gasse
+Quincampoix zum Dauphinswappen geschlichen, nun
+fand er statt Ruhe und Behagen, Unzufriedenheit und
+Streit; wo er Lächeln und Lachen erwartet hatte, mußte
+er Tränen trocknen; &mdash; <i>notre Dame de Miracle</i>, es war
+zu ärgerlich!</p>
+
+<p>&bdquo;Etienne,&ldquo; sagte der Herzog zu Vinacche, &bdquo;Etienne,
+ich bin dieses Lärms müde; ich will nach Haus und
+du magst mit mir kommen. Meister Claude, ich versichere
+Euch meiner gnädigsten Ungnade! Mademoiselle,
+Eure rotgeweinten Augen betrüben mich sehr &mdash; gute
+Nacht, Mademoiselle &mdash; dazu zweihundert Louisdor
+im Landsknecht verloren &mdash; kommt, Etienne Vinacche,
+Ihr mögt mit mir zum Hotel fahren, ich habe Euch
+etwas zu sagen; ich habe eine Idee!&ldquo;</p>
+
+<p>Vergebens hing sich Mademoiselle Bullot an den
+Arm des Herzogs mit den süßesten Schmeicheleien
+und Liebkosungen. Er machte sich los, streckte dem
+niedergeschmetterten Wirt zum Dauphinswappen eine
+Faust entgegen, ließ sich von Vinacche den Mantel
+wieder um die Schultern legen und verließ, im höchsten
+Grade mißmutig gestimmt, mit seiner &bdquo;Idee&ldquo; die
+Gargotte, in welcher nach seinem Abzuge der Tanz
+zwischen Vater und Tochter von neuem anging, doch
+diesmal mit allem Vorteil auf Seiten von Mademoiselle.
+Meister Claude Bullot sah ein, daß er ein
+Esel &mdash; ein gewaltiger Esel war; demütig kroch er zu
+Kreuze und nahm jede Injurie, welche ihm das Töchterlein
+an den Kopf warf, mit gekrümmtem Rücken in
+Empfang.</p>
+
+<p>Unterdessen wateten mühsam der Herzog und der
+Italiener durch den Schmutz und die Gefahren der
+Gassen von Paris, bis sie an einer Ecke zu der harrenden
+Karosse des Herzogs gelangten. Mit tiefen Bücklingen
+riß der Lakai den Wagenschlag auf.</p>
+
+<p>&bdquo;Steig hinten auf, Etienne; ich habe mit dir zu
+reden,&ldquo; sagte der Herzog und warf sich in die Kissen
+seiner Kutsche.</p>
+
+<p>&bdquo;Achtung, Stefano, jetzt mag&rsquo;s in deinen Topf
+regnen!&ldquo; murmelte der schlaue Neapolitaner, und schwerfällig
+setzte sich die Karosse in Bewegung.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="IIGold" id="IIGold">II.<br />Gold.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>ährend vor dem flackernden Kaminfeuer in
+seinem Hotel der Herzog von Chaulnes dem
+obdachlosen Vagabunden Stefano Vinacche
+den annehmbaren Vorschlag tut, Mademoiselle Bullot,
+das liebenswürdige Erzeugnis der Gasse Quincampoix,
+zu &mdash; heiraten und dadurch nicht nur sich selbst, sondern
+auch Monseigneur aus mancherlei ärgerlichen Verdrießlichkeiten
+des Lebens herauszureißen, wollen wir erzählen,
+wer Stefano Vinacche eigentlich war. Im Jahre 1689
+war der junge Neapolitaner als Lakai im Gefolge des
+Herzogs, dem er zu Rom mancherlei Dienste kurioser
+Art geleistet haben mochte, nach Frankreich gekommen,
+ohne jedoch in diesem Lande anfangs die Träume,
+welche ihm seine südliche Phantasie vorspiegelte, zu
+verwirklichen. Es wird uns nicht gesagt, was ihn im
+folgenden Jahre schon aus dem Dienste seines Gönners
+trieb, und ihn bewog, sich als gemeiner Soldat in das
+Regiment Royal-Roussillon aufnehmen zu lassen. Wir
+wissen nur, daß er im Jahre 1691 dem Regimentsschreiber
+Nicolle, seinem Schlafkameraden, einige Offiziersuniformen,
+welche derselbe ausbessern sollte, stahl
+und mit ihnen desertierte, welches Wagestück aber fast
+übel abgelaufen wäre. Auf dem Wege nach Paris, der
+Stadt, nach welcher von jeher eine dumpfe Ahnung
+künftiger Geschicke das seltsame Menschenkind trieb,
+gefangen und als Fahnenflüchtiger ins Gefängnis geworfen
+und zum Tode verurteilt, entging er nur durch
+Verwendung des Grafen von Auvergne dem Galgen.
+Im nächsten Jahre in Freiheit gesetzt, machte sich
+Stefano Vinacche von neuem auf den Weg nach Paris,
+und haben wir seiner Ankunft in der Gargotte zum
+Wappen des Dauphins in der Gasse Quincampoix soeben
+beigewohnt. &mdash;</p>
+
+<p>Ei, wie wunderlich, wunderlich spinnt sich ein
+Menschenleben ab! Wir armen blinden Leutlein auf
+diesem Erdenballe wandern freilich in einem dichten
+Nebel, der sich nur zeitweilig ein wenig hier und da
+lüftet, um im nächsten Augenblicke desto dichter sich
+wieder zusammenzuziehen. Wir getriebenen und treibenden
+Erdbewohner haben freilich nur eine dumpfe
+Ahnung von dem, was im Getümmel ringsumher
+vorgeht. Warum sollten wir uns auch in der kurzen
+Spanne Lebenszeit, die uns gegeben ist, viel um andere
+Leute bekümmern, da wir doch so viel mit uns selbst
+zu tun haben? Über allen Nebeln ist Gott; der mag
+zusehen, daß alles mit rechten Dingen zugeht; der mag
+acht geben, daß sich der Faden der Geschlechter, welchen
+er durch die Jahrtausende von dem Erdknäuel abwickelt,
+nicht verwirrt. Nur weil sie abgewickelt werden,
+drehen sich Sonne, Mond, Sterne; &mdash; von jeder leuchtenden
+Kugel läuft ein Faden zu dem großen Knäuel
+in der Hand Gottes, zu dem großen letzten Knäuel,
+in welchem jeglicher Knoten, der unterwegs entstanden
+sein mochte, gelöst sein wird, in welchem alle
+Fäden nach Farben und Feinheit harmonisch sich zusammenfinden
+werden.</p>
+
+<p>Da ist solch ein Knötlein im Erdenfaden! wir
+finden es in unsrer Erdgeschichte am Ende des siebenzehnten
+und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
+nach Jesu Geburt, wo viel Sünde, Schande und Verderbnis
+sich häßlich ineinander schlingen, wo Krieg und
+Sittenlosigkeit das abscheulichste Bündnis geschlossen
+haben, daß das jetzige Gechlecht schaudernd darob die
+Hände über dem Kopfe zusammenschlägt.</p>
+
+<p>Der Erzähler aber, des letzten großen knotenlosen
+Knäuels in der Hand Gottes gedenkend, schlägt nicht
+die Hände über dem Kopfe zusammen; &mdash; den Handschuh
+hat er ausgezogen, mutig in die Wüstenei hineingegriffen,
+einen längst begrabenen, vermoderten, vergessenen
+Gesellen hervorgezogen. Da ist er &mdash; <em class="gesperrt">Stefano
+Vinacche</em> &mdash; späterhin Monsieur Etienne de
+Vinacche, großer Arzt, berühmter Chemiker, &mdash; Goldmacher,
+nächst Samuel Bernard der reichste Privatmann
+seiner Zeit!...</p>
+
+<p>&bdquo;Also Etienne,&ldquo; sprach der Herzog von Chaulnes
+zu dem halb verhungerten, obdachlosen Vagabunden,
+&bdquo;eine allerliebste Frau und eine vortreffliche Aussteuer....&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Servitore umilissimo!</i>&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und, Etienne, eine Empfehlung an meinen Freund,
+den Herzog von Brissac. Ihr geht nach Anjou, &mdash; lebt
+auf dem Lande, wie die Engel <i>à la Claude Gillot</i>, &mdash;
+ich besuche Euch &mdash; stehe Gevatter &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ah!&ldquo; machte der Italiener mit einer unbeschreiblichen
+Bewegung des ganzen Oberkörpers.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Plait-il?</i>&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O nichts, Monseigneur!&ldquo; sagte der Italiener.
+&bdquo;Ihr seid mein gnädigster, gütigster Herr und Gebieter.&ldquo;
+Er machte eine Verbeugung bis auf den
+Boden.</p>
+
+<p>&bdquo;Wann soll die Hochzeit sein, Monseigneur?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;So schnell als möglich &mdash; ach!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur seufzt?!&ldquo; rief Stefano schnell. &bdquo;Noch
+ist&rsquo;s Zeit, daß Monseigneur Sein Wort zurücknehme;
+Mademoiselle Bullot ist ein reizendes Mädchen; aber
+wenn Monseigneur die hohe Gnade haben wollte, mich
+wieder zu seinem Kammerdiener zu machen &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nein, nein, nein, es bleibt dabei, Vinacche; Ihr
+heiratet die Schöne, und ich &mdash; <i>ah notre Dame de
+Miracle</i> &mdash; ich will hingehen und sorgen, daß Madame
+von Maintenon und der Pater La Chaise davon zu
+hören bekommen. Also geht, Vinacche; bis zur Hochzeit
+gehört Ihr wieder zu meinem Haus. Der Intendant
+soll für Euch sorgen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur ist der großmütigste Herr der Welt!&ldquo;
+rief Vinacche, dem Herzog die Hand küssend. Unter
+tiefen Bücklingen schritt er rücklings zur Tür hinaus,
+und tief seufzend blickte ihm sein Gönner nach.</p>
+
+<p>Als sich die Tür hinter dem Italiener geschlossen
+hatte, murmelte dieser: &bdquo;<i>Corpo di Bacco</i>, Achtung,
+Achtung, Vinacche, Stefano mein Söhnchen! Halte
+die Augen offen, mein Püppchen! Ist&rsquo;s mir nicht versprochen
+bei meiner Geburt, daß ich vierspännig
+fahren sollte in der Hauptstadt der Franzosen?!&ldquo;</p>
+
+<p>Drinnen rieb sich der Herzog die Stirn und ächzte:</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Madame von Maintenon ist eine große Dame!
+<i>Vive la messe!</i>&ldquo;</p>
+
+<p>Acht Tage nach dem eben Erzählten war eine Hochzeit
+in der Gasse Quincampoix. Der Wirt zum Dauphinswappen
+Claude Bullot verheiratete zu seiner
+eigenen Verwunderung und zur Verwunderung sämtlicher
+Nachbaren und Nachbarinnen seine hübsche
+Tochter mit einem ganz unbekannten jungen Menschen,
+der nicht einmal ein Franzose war. Mancherlei
+Glossen wurden darüber gemacht, und allgemein hieß
+es, Mademoiselle Bullot sei eine Törin, welche nicht
+wisse, was man mit einem hübschen Gesicht und tadellosen
+Wuchs in Paris anfangen könne.</p>
+
+<p>Da aber Mademoiselle Bullot und Stefano Vinacche
+mit ziemlich vergnügten Mienen ihr Schicksal
+trugen, so mochten Papa und Nachbarschaft nach Belieben
+sich wundern, nach Belieben Glossen machen.
+Sämtliche Dienerschaft des Herzogs von Chaulnes
+verherrlichte die Hochzeit durch ihre Gegenwart; Flöten
+und Geigen erklangen in der Gargotte zum Wappen
+des Dauphins. Man sang, jubelte, trank auf das
+Wohl der Neuvermählten bis tief in die Nacht. Zuletzt
+artete das Gelage nach der Sitte der Zeit in eine
+wahre Orgie aus; blutige Köpfe gab&rsquo;s, und zum Schluß
+mußte der Polizeileutnant einschreiten und die ausgelassene
+Gesellschaft auseinander treiben. Am folgenden
+Tage machte das junge Paar sich auf den Weg
+zum Gouverneur von Anjou, dem Herzog von Brissac,
+einem &bdquo;armen Heiligen, dessen Name nicht im Kalender
+steht&ldquo;.</p>
+
+<p>Ein tüchtiges Schneegestöber wirbelte herab, als
+der Wagen der Neuvermählten hervorfuhr aus der
+Gasse Quincampoix. Auf der Schwelle seiner Tür stand
+der Vater Bullot mit der Kellnerin Margot, und beide
+blickten dem Fuhrwerk nach, so lange sie es sehen
+konnten. Dann zog der Wirt zum Dauphinswappen
+die Schultern so hoch als möglich in die Höhe und trat
+mit der Picarde zurück in die Schenkstube, welche noch
+deutlich die Spuren der Hochzeitsnacht an sich trug.</p>
+
+<p>&bdquo;Alles in allem genommen, ist&rsquo;s doch ein Trost
+und ein Glück, daß ich sie los bin,&ldquo; brummte der
+zärtliche Papa. &bdquo;Es hätte noch ein Unglück gegeben;
+das war ja immer, als brenne der Scheuerlappen
+zwischen uns. Vorwärts, Margot! einen Kuß und an
+die Arbeit, mein Liebchen, auf daß das Haus rein
+werde.&ldquo;</p>
+
+<p>Liebe Freunde, wer das Leben Stefano Vinacches
+beschreibt, der muß recht acht geben, daß er seinen Weg
+im Nebel nicht verliere. Schattenhaft gleitet die Gestalt
+des Abenteurers vor dem Erzähler her, bald zu
+einem Zwerg sich zusammenziehend, bald riesenhaft
+anwachsend, gleich jener seltsamen Naturerscheinung,
+die den Wanderer im Gebirge unter dem Namen des
+Nebelgespenstes erschreckt. Bald klarer, bald unbestimmter
+tritt Stefano Vinacche aus den Berichten seiner Zeitgenossen
+uns entgegen. Wir wissen nicht, was ihn mit
+seiner Frau so schnell aus Anjou nach Paris zurücktrieb;
+wir wissen nur, daß am neunten April 1693,
+an dem Tage, an welchem Roger von Rabutin, Graf
+von Bussy, sein wechselvolles Leben beschloß, der Papa
+Bullot in höchster Verblüffung die Hände über dem
+Kopfe zusammenschlug, als er Tochter und Schwiegersohn
+zu Fuß, kotbespritzt, mit höchst winziger Bagage,
+durch die Gasse Quincampoix auf das Dauphinswappen
+zuschreiten sah. Der gute Alte traute seinen Augen
+nicht und überzeugte sich nicht eher von der Wirklichkeit
+dessen, was er erblickte, bis ihm Madame Vinacche
+schluchzend um den Hals fiel, und Stefano ihn herzzerbrechend
+anflehte, ihn und sein Weib für eine Zeit
+wieder unter sein Dach zu nehmen.</p>
+
+<p>&bdquo;Wir wollen auch recht artige Kinder sein!&ldquo; bat
+Madame Vinacche.</p>
+
+<p>&bdquo;Und wir werden nicht lange Euch zur Last sein!&ldquo;
+rief Stefano.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Diable! diable!</i>&ldquo; ächzte Meister Claude Bullot, und
+Margot, die Picarde, gab ihm verstohlen einen Rippenstoß,
+daß er fest bleibe und sich nicht beschwatzen lasse.</p>
+
+<p>Wer hätte aber den beredten Worten Stefano
+Vinacches widerstehen können? Das Ende vom Liede
+war, daß das junge Ehepaar mit seinen armen Habseligkeiten
+einzog in die Kneipe zum Dauphinswappen,
+und daß Meister Bullot und Margot, die Kellnerin,
+nachdem Madame Vinacche die Schwelle überschritten
+hatte, seufzend sich in das Unvermeidliche fügten.</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Margot, Margot, nun sind die schönen Tage
+wieder vorüber!&ldquo; seufzte Meister Claude, und während
+die Heimgekehrten im oberen Stockwerk des Hauses
+ihre Einrichtungen trafen, saßen am Kamin in der
+leeren Schenkstube der Wirt und seine Kellnerin trübselig
+einander gegenüber und konnten sich nur durch
+das weise Wort, daß man das Leben nehmen müsse,
+wie es komme, &mdash; trösten. Dann schlossen die beiden
+Parteien einen Kompromiß, in welchem festgestellt
+wurde, daß weder Monsieur Etienne noch Madame in
+die Angelegenheiten des Papas und der Kellnerin
+Margot sich mischen sollten, und daß sie durch ihnen
+passend scheinende Mittel für ihrer Leiber Nahrung und
+Kleidung selbst zu sorgen hätten. Wohnung, Licht und
+Feuerung versprachen Meister Bullot und Margot die
+Picarde zu liefern.</p>
+
+<p>Feierlich wurde dieser Vertrag von einem Stammgast
+der Gargotte, dem Sieur Le Poudrier, einem
+Winkeladvokaten, verbrieft und besiegelt, und man
+lebte fortan miteinander, wie man konnte.</p>
+
+<p>Da der Herzog von Chaulnes seine Verpflichtungen
+gegen das junge Ehepaar glänzend abgetragen zu haben
+glaubte, so floß die Quelle seiner Gnaden immer spärlicher
+und versiegte zuletzt ganz. Die Haushaltung im
+zweiten Stockwerk des Dauphinswappens mußte für
+Eröffnung anderer Geldquellen sorgen, zumal da noch
+im Laufe des Sommers ein kleiner Vinacchetto das
+Licht der Gasse Quincampoix erblickte. Die Not und
+der Zug der Zeit machten Stefano zu einem Charlatan;
+aber jedenfalls zu einem genialen Charlatan.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Anima mia</i>, laß den Mut nicht sinken, wir fahren
+doch noch vierspännig!&ldquo; sagte er zu seiner hungernden
+Frau und fing an, den Nachbarn und Nachbarinnen,
+sowie den Gästen, welche die Gargotte seines Schwiegervaters
+besuchten, Mittel gegen das Fieber und andere
+unangenehme Übel zu verkaufen.</p>
+
+<p>Allmählich verwandelte sich das Wohngemach der
+kleinen Familie in ein schwarzangeräuchertes chemisches
+Laboratorium; mit wahrer Leidenschaft warf sich Stefano
+Vinacche, obgleich er bis an sein Ende weder
+lesen noch schreiben lernte, auf das Studium der Simpla
+und der Mineralien.</p>
+
+<p>Eine gewaltige Veränderung ging mit dem seltsamen
+Menschen vor; &mdash; nicht mehr war er der vagabondierende
+Abenteurer, der das Glück seines Lebens
+auf den Landstraßen, in den Gassen suchte. Tag und
+Nacht schritt er grübelnd einher, das Haupt zur Brust
+gesenkt, die Arme über der Brust gekreuzt. Wer konnte
+sagen, was er suchte?</p>
+
+<p>Eine fast ebenso überraschende Veränderung kam
+über das junge Weib Vinacches. Die frühere Mätresse
+des Herzogs von Chaulnes verehrte den ihr aufgedrungenen
+Mann auf den Knien, sie war die treuste,
+liebendste Gattin geworden, und ist es über den Tod
+Stefanos hinaus geblieben.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Sie</em> konnte lesen, <em class="gesperrt">sie</em> konnte schreiben: &mdash;wie viele
+alte vergilbte Bouquins hat sie dem suchenden Forscher,
+in stillen Nächten, während sie ihr Kind wiegte, vorgelesen!</p>
+
+<p>Der Vater Bullot hatte nicht mehr Ursache, sich
+über das wilde, unbändige Gebaren seiner Tochter zu
+beklagen. Die eigentümliche Gewalt, welche Stefano
+Vinacche späterhin über die schärfsten, klarsten Geister
+hatte, trat auch jetzt in der engeren Sphäre schon bedeutend
+hervor. Papa Claude, Margot die Picarde,
+Gratien Le Poudrier der Rabulist, alle Nachbaren und
+alle Nachbarinnen beugten sich dem schwarzen, funkelnden
+Auge Stefanos. Der Stein war ins Wasser
+gefallen, und die Wellenringe liefen in immer weitern
+Kreisen fort; &mdash; weit, weit über die Gasse Quincampoix
+hinaus verbreitete sich der Ruf Stefano Vinacches!</p>
+
+<p>Unterdessen schlug man sich in Deutschland, Flandern,
+Spanien, Italien und auf der See. In Deutschland
+verbrannte Melac Heidelberg, und der Feldmarschallleutnant
+von Hettersdorf, der &bdquo;die <i>poltronnerie</i>
+seines Herzens mit großen <i>Peruquen</i> und bebremten
+Kleidern zu bedecken pflegte&ldquo;, &mdash; Hettersdorf,
+der elende Kommandant der unglücklichen Stadt, wurde
+auf einem Schinderkarren durch die Armee des Prinzen
+Ludwig von Baden geführt, nachdem ihm der Degen
+vom Henker zerbrochen worden war. Aus Flandern
+schickte der Marschall von Luxemburg durch d&rsquo;Artagnan
+die Nachricht vom Sieg bei Neerwinden. Roses in
+Katalonien wurde erobert. Zu Versailles, zu Paris in
+der Kirche unserer lieben Frau sang man <i>Te Deum
+laudamus</i>; aber im Bischoftum Limoges starben gegen
+zehntausend Menschen Hungers. Zu Lyon wie zu
+Rouen fiel das Volk in den Gassen wie Fliegen, und
+ihrer viel fand man, welche den Mund voll Gras hatten,
+ihr elendes Leben damit zu fristen.</p>
+
+<p>Stefano Vinacche, nach einer Reise in die Bretagne,
+verließ die Gasse Quincampoix und das Haus seines
+Schwiegervaters und zog in die Gasse Bourg l&rsquo;Abbé.
+Strahlend brach die Glückssonne Stefanos durch die
+Wolken. Fünf Monate war er in der Bretagne gewesen,
+und niemand hat jemals erfahren, was er dort
+getrieben, &mdash; gesucht, &mdash; gefunden hat! Zu Fuß zog
+er aus, in einer zweispännigen Karosse kehrte er zurück.
+Zwei Lakaien und ein Kammerdiener bedienten
+ihn in der Straße Bourg l&rsquo;Abbé, wohin er aus der
+Gasse Quincampoix zog. Von neuem errichtete er in
+seiner jetzigen Wohnung seine chemischen Feuerherde,
+von neuem braute er seine Rezepte, und das Gerücht
+ging aus, Monsieur Etienne Vinacche suche den Stein
+der Weisen, und es sei Hoffnung vorhanden, daß er
+denselben binnen kurzem finden werde; und wieder
+tritt dem Erzähler der alte Gönner des unbegreiflichen
+Mannes, der Herzog von Chaulnes, entgegen, welcher
+ihm zum Ankauf von Kohlen, Retorten und dergleichen
+Apparaten zweitausend Taler gibt.</p>
+
+<p>Im Jahr der Gnade Eintausendsiebenhundert war
+das große Geheimnis gefunden; &mdash; Stefano Vinacche
+hatte das Projektionspulver hergestellt, Etienne Vinacche
+machte &mdash;</p>
+
+<p class="center"><em class="gesperrt">Gold!</em>
+</p>
+
+<p>In demselben Jahre Eintausendsiebenhundert kaufte
+<em class="gesperrt">Monsieur de Vinacche</em> aus dem Inventar
+von Monsieur, dem Bruder des Königs, für sechzigtausend
+Livres Diamanten.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="IIIGlueck_und_Glanz" id="IIIGlueck_und_Glanz">III.<br />Glück und Glanz.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/w.png" alt="W" width="60" height="60" class="floatl"/>ir schauen wie in ein Bild von Antoine Watteau
+durch das zarte frühlingsfrische Blätterwerk
+zu Coubron &mdash; fünf Meilen von
+Paris &mdash; wo Monsieur Etienne de Vinacche auf seinem
+reizenden Landsitze ein glänzendes Fest gibt. Die untergehende
+Maisonne des Jahres Siebzehnhunderteins
+übergießt die Landschaft mit rosigem Schein; &mdash; Lachen
+und Kosen und Flüstern des jungen Volkes ertönt im
+Gebüsch; geputzte ältere Herren und Damen durchwandeln
+gravitätisch die gradlinigen Gänge des Parkes.
+Karossen und Reitpferde mit ihrer Begleitung von
+Kutschern, Lakaien und Läufern halten vor dem vergoldeten
+Gittertor; Monsieur de Vinacche und seine
+Frau sind eben im Begriff, von einem Teil ihrer Gäste,
+der nach Paris oder den umliegenden Landhäusern
+zurückkehren will, Abschied zu nehmen.</p>
+
+<p>Die Dame Rochebillard, die Geliebte Tronchins,
+des ersten Kassierers Samuel Bernards, des &bdquo;<i>fils de
+Plutus</i>&ldquo;, &mdash; wird von Madame de Vinacche zu ihrer
+Kutsche geleitet; Monsieur Etienne befindet sich im
+eifrigen Gespräch mit einem jungen Edelmann, dem
+Sieur de Mareuil. Für fünftausend Livres will Vinacche
+dem Herrn von Mareuil einen konstellierten
+Diamant, vermöge dessen man immerfort glücklich
+spielen soll, anfertigen. Ein wenig weiter zurück
+unterhalten sich die beiden reichen Bankiers van der
+Hultz, der Vater und der Sohn, mit Herrn Menager,
+<i>Sécrétaire du Roi</i> und Handelsdeputierten von Rouen;
+&mdash; auf einem Rasenplatz tanzen einige junge Paare
+nach den Tönen einer Schalmei und eines Dudelsacks
+ein Menuett; bunte Diener tragen Erfrischungen umher,
+für die abfahrenden Gäste erscheinen andere; der
+Chevalier von Serignan, Monsieur Nicolaus Buisson,
+der Sieur Destresoriers, Edelleute von der Robe,
+Edelleute vom Degen, Finanzleute, Beamte und so
+weiter mit ihren Frauen und Töchtern, allgesamt angezogen
+von dem Glanz, der Pracht und dem großen
+Geheimnis des einstigen neapolitanischen Bettlers Stefano
+Vinacche.</p>
+
+<p>Hat sich aber um Mitternacht dieser Schwarm der
+Gäste verloren, so erscheinen andere Gestalten. Aus
+verborgenen Schlupfwinkeln tauchen Männer auf,
+finstere bleiche Männer mit zusammengezogenen Augenbrauen
+und rauhen, rauchgeschwärzten Händen. Da
+ist Konrad Schulz, ein Deutscher, den Herr von Pontchartrain
+später verschwinden läßt, ohne daß man
+jemals wieder von ihm hört. Da sind Dupin und
+Marconnel, hocherfahren in der geheimen Kunst. Da
+ist Thuriat, ein wackerer Chemiker; da ist ein anderer
+Italiener, Martino Polli. Geheimnisvolle Wagen, von
+geheimnisvollen Fuhrleuten begleitet, langen an und
+fahren ab, und Säcke werden abgeladen und aufgeladen,
+die, wenn sie die Erde oder einen harten Gegenstand
+berühren, ein leises Klirren, als wären sie mit
+Goldstücken gefüllt, von sich geben, geheimnisvolle
+Feuer in geheimnisvollen Öfen flammen auf, &mdash; Wacht
+hält Madame de Vinacche, daß die nächtlichen Arbeiter
+nicht gestört werden in ihrem Werke.</p>
+
+<p>Hüte dich, Stefano Vinacche! Im geheimen Staatsrat
+zu Versailles hat man von dir gesprochen: Monsieur
+Pelletier von Sousy, der Intendant der Finanzen,
+hat den Mann mit dem Kopf voll böser Anschläge, hat
+Monsieur d&rsquo;Argenson aufmerksam auf dich gemacht.</p>
+
+<p>Hüte dich, Stefano Vinacche! &mdash;</p>
+
+<p>Wer klopft in dunkler Nacht an das Hinterpförtchen
+des Landhauses zu Coubron?</p>
+
+<p>Salomon Jakob, ein Jude aus Metz, welcher die
+Verbindung des &bdquo;Unbegreiflichen&ldquo; mit Deutschland vermittelt.</p>
+
+<p>Wer klopft in dunkler Nacht an die Pforte des
+Landhauses zu Coubron?</p>
+
+<p>Franz Heinrich von Montmorency-Luxemburg, Pair
+und Marschall von Frankreich, welchen Stefano Vinacche
+die Kunst lehren soll, den Teufel zu beschwören.</p>
+
+<p>In dunkler Nacht fährt nach Coubron der Herzog
+von Nevers, um sich in die geheimen Wissenschaften
+einweihen zu lassen.</p>
+
+<p>In dunkler Nacht fährt nach Coubron Karl d&rsquo;Albert,
+Herzog von Chaulnes, und Madame de Vinacche empfängt
+ihn in brokatnen Gewändern, geschmückt mit
+einer Cordeliere und einem Halsband im Wert von
+sechstausend Livres.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, wie habe ich für Euer
+Glück gesorgt, Allerschönste!&ldquo; sagt der Herzog von
+Chaulnes, und die Tochter des Wirts zum Dauphinswappen
+verbeugt sich mit dem Anstand einer großen
+Dame und führt den hohen Gast und Gönner in
+ihren Salon, welcher den Vergleich mit jedem andern
+zu Paris aushält.</p>
+
+<p>Stefano Vinacche trägt nicht mehr sein eigenes
+Haar; eine wallende gewaltige Lockenperücke bedeckt
+sein kluges Haupt. Mit feiner Ironie sagt er, in den
+wallenden Stirnlocken dieser seiner Perücke halte er
+seinen <i>Spiritus familiaris</i>, sein &bdquo;<i>folet</i>&ldquo; verborgen und
+gefesselt.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, Ihr seid ein großer Mann,
+Etienne!&ldquo; sagt der Herzog von Chaulnes, und der
+Hausherr von Coubron verbeugt sich lächelnd:</p>
+
+<p>&bdquo;O Monseigneur!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, ja, wer hätte das gedacht, als ich Euch in
+Italien von der Landstraße aufhob? Wer hätte das
+gedacht, als ich Euch durch den Grafen von Auvergne
+vom Galgen errettete; &mdash; Vinacche, Ihr müßt mir sehr
+dankbar sein.&ldquo;</p>
+
+<p>Stefano legt die Hand auf das Herz.</p>
+
+<p>&bdquo;Monseigneur, ich habe ein gutes Gedächtnis für
+empfangene Wohltaten. Glaubt nicht, daß das Glück
+und die errungene Wissenschaft mich stolz mache. Fragt
+meine Frau, was gestern geschehen ist.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wahrlich, Monseigneur, es war eine tolle Szene.
+Stellt Euch vor, es befindet sich gestern eine glänzende
+Gesellschaft bei uns, Monsieur Despontis, Monsieur
+von Beaubriant und viele andere, als ein abgelumpter
+Mensch Etienne zu sprechen verlangt. Die Diener
+wollten ihn abweisen; aber Etienne hört den Lärm und
+läßt den Vagabunden kommen. <i>Mon Dieu</i>, was für
+eine Szene!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nun?!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Nicolle war&rsquo;s, gnädigster Herr! Nicolle, meines
+Mannes Kamerad aus dem Regiment Royal-Roussillon!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Oh, oh, oh! ah, ah, ah!&ldquo; lacht der Herzog. &bdquo;Dem
+Wiederfinden hätt&rsquo; ich beiwohnen mögen. Das muß
+in der Tat eine eigentümliche Überraschung gegeben
+haben.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich fiel in Ohnmacht, und Etienne &mdash; fiel dem
+Vagabunden um den Hals &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und die Gesellschaft?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Stand in starrer Verwunderung! Es war ein tödlicher
+Augenblick,&ldquo; ruft Madame de Vinacche klagend,
+doch Etienne sagt:</p>
+
+<p>&bdquo;Ich hatte dem Manne einst ein schweres Unrecht
+zugefügt, jetzt war mir die Gelegenheit gegeben, es
+wieder gutzumachen, und ich benutzte diese Gelegenheit.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Notre Dame de Miracle</i>, ich werde der Frau von
+Maintenon diese Geschichte erzählen. Ihr seid ein
+braver Gesell, Etienne. Ah, oh, <i>ou la vertu va-t-elle
+se nicher</i>? wie Monsieur Molière sagt, &mdash; sagt er
+nicht so?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich glaube, gnädiger Herr,&ldquo; meint Vinacche, die
+Achsel zuckend, und setzt hinzu, als eben jemand an die
+Tür des Salons mit leisem Finger klopft: &bdquo;Da kommt
+Konrad, uns zum Werk zu holen. Wenn es also beliebt,
+Monseigneur, so können wir unsere Arbeit von
+neuem aufnehmen; Zeit und Stunde sind günstig, jeder
+Stern steht an seinem rechten Platz, und gute Hände
+schüren die Flamme!&ldquo;</p>
+
+<p>In die geöffnete Tür schaut das finstere Gesicht des
+deutschen Meisters Konrad Schulz:</p>
+
+<p>&bdquo;Es ist alles bereit!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Wir kommen!&ldquo; sagt der Herzog von Chaulnes,
+mit zärtlichem Handkuß von Madame Vinacche Abschied
+nehmend. In das chemische Laboratorium herab
+schreiten die Männer.</p>
+
+<p>Um den schwarzen Herd stehen regungslos die Gehilfen
+des großen Goldmachers. Atemlos verfolgt der
+Herzog jede Bewegung des Alchymisten.</p>
+
+<p>Der Meister arbeitet!</p>
+
+<p>Tiegel voll Salpeter, Antimonium, Schwefel,
+Arsenik, Qecksilber gehen von Hand zu Hand. Die
+Phiole mit dem &bdquo;Sonnenöl&ldquo; reicht Martino Polli, das
+Blei bringt Konrad Schulz zum Fluß; &mdash; der große
+Augenblick ist gekommen. Aus einem Loch in der
+schwarzen feuchten Mauer ringelt sich eine bunte
+Schlange hervor, sie steigt an dem Beine Stefano
+Vinacches empor, sie umschlingt seinen Arm und scheint
+ihm ins Ohr zu zischen. Ein Zittern überkommt den
+Goldmacher, aus der Brust zieht er ein winziges
+Fläschchen; &mdash; im Tiegel gärt und kocht die metallische
+Masse, &mdash; die Flammen züngeln, &mdash; aus der Phiole
+in der Hand des Meisters fällt das Projektionspulver
+in den Tiegel &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Das Werk ist vollbracht! In die Form gießt Konrad
+Schulz die kostbare, im höchsten Fluß befindliche
+Masse &mdash; nach einigen Augenblicken wiegt der Herzog
+von Chaulnes eine glänzende Metallbarre in der
+Hand. &bdquo;Reinstes Gold, Monseigneur!&ldquo; sagt Stefano
+Vinacche. &mdash;</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="IVWas_man_in_Versailles_dazu_sagte" id="IVWas_man_in_Versailles_dazu_sagte">IV.<br />Was man in Versailles dazu sagte.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/v.png" alt="V" width="60" height="60" class="floatl"/>inacche fuhr mit seiner Frau vierspännig
+durch die Straßen von Paris. Lange war
+Claude Bullot tot und erinnerte sie nicht
+mehr an die Dunkelheit ihrer Herkunft. In der Gasse
+Saint Sauveur besaß Stefano jetzt ein prächtiges
+Haus, wo er die beste Gesellschaft von Paris bei sich
+sah. Sein Leben strahlte im höchsten Glanz. Die Teilnehmer
+seiner wunderlichen Operationen hatte er durch
+Drohungen, Versprechungen, List und Überredung zu
+seinen Sklaven gemacht; er durfte ihnen drohen, sie
+bei der geringsten Auflehnung gegen seinen Willen
+als Fälscher, Kipper und Wipper hängen zu lassen.
+Seine Geschäftsverbindungen mit Samuel Bernard,
+Tronchin, Menager, mit den beiden van der Hultz, mit
+Saint-Robert und dem Sieur Buisson Destresoriers
+nahmen ihren ungestörten Fortgang. Man sah in
+seinen Gemächern oft fünfzehn, zwanzig, dreißig Säcke
+voll nagelneuer Louisdors aufgestellt. Neu geprägte
+Goldstücke fanden die Diener und Dienerinnen, von
+denen das Haus überquoll, im Kehricht, in den Winkeln,
+unter der schmutzigen Wäsche; &mdash; sie verkauften Stückchen
+von Goldbarren an die Juden, und Madame de
+Vinacche erschrak eines Tages heftig genug, als sie,
+ungesehen von ihnen, ein Gespräch zwischen ihrer
+Kammerfrau La Martion und einigen Lakaien ihres
+Mannes belauschte. &mdash;</p>
+
+<p>Der spanische Erbfolgekrieg hatte begonnen. War
+das Geld im Hause Stephano Vinacches im Überfluß
+vorhanden, so mangelte es um desto mehr im Hause
+des Königs Ludwig des Vierzehnten. Herrschte im
+Hause Stefano Vinacches Jubel und Übermut, so
+herrschte Mißmut, Angst, Sorge und Not zu Versailles.
+Ein gewaltiger Umschwung aller Dinge trat
+in diesem früher so glänzenden Frankreich mehr und
+mehr hervor. Auf die Zeit des phantastischen, lebenvollen
+Karnevals folgte der Aschermittwoch mit seinen
+Grabgedanken. Zu Grabe gegangen waren die Schriftsteller
+und Dichter: Pascal und Franz von La Rochefoucauld
+ergründeten nicht mehr die Tiefe des menschlichen
+Herzens. Jean de Lafontaine hielt nicht mehr
+den lustigen Spiegel der Welt vor, Jean war &bdquo;davongegangen
+wie er gekommen war&ldquo;; &mdash; verstummt war
+die mächtige Leier des großen Corneille, Jean Racine
+hatte sein Schwanenlied gesungen und war hinabgesunken
+in die blaue Flut der Ewigkeit. Tot, tot
+war Molière, der gute Kämpfer gegen Dummheit,
+Heuchelei, Aberglauben und Laster; tot war Jean
+Baptiste Poquelin, genannt Molière, aber Tartuffe
+lebte noch!</p>
+
+<p>Die Heiterkeit des Daseins war erblaßt, auch die
+feierlichen Stimmen der großen Kanzelredner Bossuet,
+Bourdaloue, Flechier verstummten! König in Frankreich
+war der Pater La Chaise, Königin in Frankreich war
+Franziska d&rsquo;Aubigné, die Witwe Paul Scarrons. Die
+Schutzherrschaft über das Land nahm man dem
+heiligen Michael und gab sie der Jungfrau Maria,
+wie man sie vorher dem heiligen Martin und vor
+diesem dem heiligen Denis genommen hatte. Schaffe
+Geld, schaffe Geld, Geld, Geld, o heilige Jungfrau
+Maria! Schaffe Geld, holde Schutzherrin, Geld zum
+Kampf gegen deine und unsere Feinde! Schaffe Geld
+und abermals Geld und wiederum Geld, süße Mutter
+Gottes! Schaffe Geld, Geld, Geld, o Schutzpatronin
+von Frankreich und Versailles, Marly und Trianon!</p>
+
+<p>Wiederum war ein Staatsrat gehalten worden zu
+Versailles über die besten Mittel, Geld zu bekommen,
+und niemand hatte Rat gewußt; weder Pontchartrain,
+noch Pomponne, noch du Harlay, Barbezieux, d&rsquo;Argouges,
+d&rsquo;Agnesseau. Wohl war manche neue Steuer
+vorgeschlagen worden; doch ohne zu einem Resultat
+gelangt zu sein, hatte Louis der Vierzehnte seine Räte
+entlassen müssen. Verstimmt im höchsten Grade, ratlos
+bis zur Verzweiflung schritt er auf und ab in seinem
+Gemach und seufzte:</p>
+
+<p>&bdquo;O Colbert, o Louvois!&ldquo;</p>
+
+<p>Der König von Frankreich befand sich vollständig
+in der Seelenstimmung Sauls, des Königs der Juden,
+als er Verlangen trug nach dem Geiste Samuels, des
+Hohenpriesters.</p>
+
+<p>Dazu war die Frau Marquise nach Saint Cyr zu
+ihren jungen Damen gefahren, und der Vater La Chaise
+gab einigen Brüdern in Christo in der Vorstadt Saint
+Antoine in seinem Hause ein kleines Fest. Armer,
+großer Louis! zu seinem letzten Mittel mußte er greifen,
+um sich zu zerstreuen; &mdash; Fagon, sein Leibarzt, wurde
+gerufen. In der Unterhaltung mit diesem klugen
+Manne ging dem Monarchen, freilich doch langsam
+genug, dieser trübe Oktobernachmittag des Jahres 1703
+hin, und zuletzt kam auch Madame von Maintenon
+zurück. Der König seufzte auf, gleich einem, der von
+einer schweren Last befreit wird; Fagon machte seine
+Verbeugungen und entfernte sich, ebenfalls höchlichst
+erfreut über seine Erlösung.</p>
+
+<p>Im klagenden Tone erzählte nun der König seiner
+Ratgeberin von seiner trüben Nachmittagsstimmung, von
+seiner Sehnsucht nach ihr, seiner einzigen Freundin, von
+der Dummheit der Ärzte und von der vergeblichen Ratssitzung.</p>
+
+<p>&bdquo;Sire,&ldquo; sagte die Marquise lächelnd, &bdquo;ich bin Eure
+demütige Dienerin; die besten Ärzte sind die, welche
+die Seele zu heilen verstehen, was aber die Ratlosigkeit
+Eurer Räte betrifft, so ist hier ein Billett, welches die
+Mittel angibt, dem Staat Geld zu schaffen. Von unbekannter
+Hand wurde es mir in den Wagen geworfen.
+Leset es, Sire, wir haben schon einmal über den Mann
+gesprochen, von dem es handelt.&ldquo;</p>
+
+<p>Der König nahm das Schreiben und überflog es.</p>
+
+<p>&bdquo;Vinacche?! der Goldmacher!&ldquo; murmelte er und
+zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>&bdquo;Ich höre Erstaunliches über den Mann,&ldquo; meinte
+die Marquise. &bdquo;Sein Luxus geht ins Grenzenlose. Die
+größten Herren Eures Hofes, Sire, gehen bei ihm ein
+und aus. Der Herzog von Brissac hat mir neulich
+stundenlang von dem geheimnisvollen Menschen gesprochen.
+Neulich war auch Madame von Chamillard
+bei mir; sie steht in Verbindung mit dem reichen holländischen
+Bankier van der Hultz. Auch dieser Mann soll
+vollständig überzeugt sein, Monsieur de Vinacche habe
+das Projektionspulver gefunden, Monsieur de Vinacche
+mache in Wahrheit Gold.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ach, Marquise, von wie vielen haben wir das geglaubt!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sire, wäre ich an Eurer Stelle, ich würde d&rsquo;Argenson
+beauftragen, diesen Italiener etwas genauer zu
+beobachten.&ldquo;</p>
+
+<p>Der König zuckte abermals die Achseln und gab das
+Billett zurück.</p>
+
+<p>&bdquo;Wenn d&rsquo;Argenson das für nötig hält, so mag er
+seine Anordnungen treffen; &mdash; ich will nichts damit
+zu tun haben. Was beginnen Eure Fräulein zu Saint
+Cyr, Marquise?&ldquo;</p>
+
+<p>Nachdem der König das Gespräch auf eine andere
+Bahn geleitet hatte, war es vergeblich, von neuem
+den verlassenen Punkt zu berühren; aber die Marquise
+schob das Billett in ihre Tasche und faßte einen
+Beschluß. Am andern Tage schickte sie ihren Stallmeister
+Manceau in die Gasse Saint Sauveur zu Vinacche,
+unter dem Vorgeben: er solle Diamanten
+kaufen für eine fremde Prinzessin. Manceau, von
+seiner Herrin bestens instruiert, ließ nichts in dem
+Hause des Alchymisten außer Augen und erzählte nachher
+Wunder von der Pracht und dem Glanze, die
+darinnen herrschten. Pferde, Gemälde, Silbergeschirr,
+Meubles, alles taxierte er, wie ein Auktionskommissär;
+auf seine Frage nach Juwelen antwortete aber Vinacche,
+er besitze deren wohl sehr schöne, aber er handle nicht
+damit.</p>
+
+<p>Fast schwindelnd von dem Geschauten kam der Abgesandte
+der Marquise nach Versailles zurück und stattete
+seiner Herrin Bericht ab. Einige Tage nachher wurde
+Stefano Vinacche selbst nach Versailles beschieden und
+daselbst sehr höflich und zuvorkommend von Herrn
+von Chamillard empfangen! Ein langes Gespräch
+hatten die beiden Herren miteinander, und hinter einem
+Vorhange lauschte die Marquise von Maintenon demselben.
+Aber aalglatt entschlüpfte Vinacche jeder Frage,
+die sich auf seine große Kunst bezog; er nahm Abschied
+und bestieg seine Karosse wieder, ohne daß die Marquise
+und Chamillard ihrem Ziel im geringsten nähergekommen
+wären.</p>
+
+<p>&bdquo;Lassen wir d&rsquo;Argenson kommen!&ldquo; sagte Frau von
+Maintenon. &bdquo;Um keinen Preis darf uns dieser Mann
+entgehen.&ldquo;</p>
+
+<p>Monsieur de Chamillard verbeugte sich bis zur Erde,
+und &mdash; d&rsquo;Argenson ward gerufen.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="VDas_Ende" id="VDas_Ende">V.<br />Das Ende.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/u.png" alt="U" width="60" height="60" class="floatl"/>nd Monsieur d&rsquo;Argenson streckte seine Hand
+aus; &mdash; es fiel ein schwarzer Schatten über
+das glänzende, fröhliche Leben in der Gasse
+Saint Sauveur; nach allen Seiten hin zerstob das Getümmel
+der vornehmen, reichen und geistreichen Gäste.
+Die Flucht nahmen die Herzöge, die Marquis, die
+Chevaliers, die Abbés, die Poeten. Wer durfte wagen,
+da zu weilen, wohin Monsieur d&rsquo;Argenson den Fuß
+gesetzt hatte?</p>
+
+<p>Aus dem Nebel ragt düster drohend die Bastille!
+Sie halten den Stefano Vinacche, auf daß ihnen sein
+köstliches Geheimnis &bdquo;nicht entgehe&ldquo;, und &mdash; am
+22. März 1704, einem Sonnabend &mdash; scharren sie ihn
+ein auf dem Kirchhof von Sankt Paul, unter dem
+Namen <em class="gesperrt">Etienne Durand</em>.</p>
+
+<p>Wer hat je das Genie durch Gewalt gezwungen,
+seine Schätze mitzuteilen?</p>
+
+<p>So liest man in den Registern der Bastille:</p>
+
+<p>&bdquo;In der Nacht vom Mittwoch auf den grünen
+Donnerstag, als am 20. März 1704, morgens um ein
+Viertel auf zwei Uhr verschied in Nummer drei der
+Bertaudiere Monsieur de Vinacche, ein Italiener, in
+der Gegenwart des Schließers La Boutonnière und
+des Korporals der Freikompagnie der Bastille, Michel
+Hirlancle. Nach dem Tode des Gefangenen gingen die
+beiden Wächter, Monsieur de Rosarges davon zu benachrichtigen,
+und erhob sich dieser und verfügte sich
+in die Zelle des Sieur Vinacche, welcher sich selbst getötet
+hat, indem er sich gestern, als am Mittwoch, ungefähr
+um zwei Uhr nachmittags mit seinem Messer
+die Kehle unter dem Kinn zerschnitt und sich also eine
+sehr große und weite Wunde beibrachte. Obgleich ihm
+alle mögliche Hilfe geleistet wurde, konnte man ihn
+doch nicht retten. Da der Sterbende einige Zeit hindurch
+das Bewußtsein wieder erlangte, so hat unser Almosenierer
+sein Bestes getan, ihn zur Beichte zu bewegen,
+jedoch ganz und gar vergeblich. Gegen neun
+Uhr abends habe ich Monsieur d&rsquo;Argenson von dem
+Unglück Nachricht gegeben, und ist derselbe in aller
+Eile sogleich erschienen, um zu dem Sterbenden zu
+reden, jedoch auch ihm hat der Unglückliche keine Antwort
+gegeben.</p>
+
+<p class="right" style="margin-bottom:0.5em">
+In diesem Schlosse der Bastille 20. März 1704.</p>
+<p class="right" style="margin-bottom:1em">
+<em class="gesperrt" style="padding-right:3em">Dujonca,</em><br />
+<small>Königsleutnant in der Bastille.</small><br />
+</p>
+<p>Wohl mochte nachher d&rsquo;Argenson in seinem Bericht
+an Chamillard von &bdquo;<i>billonage</i>&ldquo;, von Kipperei und
+Wipperei sprechen, es glaubte niemand daran, selbst
+der Berichterstatter glaubte nicht daran; man brauchte
+nur eine Rechtfertigung dem aufgeregten Publikum
+gegenüber. Zu Versailles wirkte die Nachricht von dem
+Tode Stefano Vinacches gleich einem Donnerschlag;
+der König Ludwig der Vierzehnte wurde darob ebenso
+zornig und niederschlagen, wie später in demselben
+Jahre über die Kunde von den Niederlagen auf dem
+Schellenberge und bei Höchstedt. Die Frau Marquise
+und die Herren de Chamillard und d&rsquo;Argenson hatten
+einige bittere Stunden zu durchleben; aber was half
+das? Stefano Vinacche war tot und hatte sein Geheimnis
+mit in das Grab genommen!</p>
+
+<p>Der Witwe des Unglücklichen meldete man offiziell,
+ihr Gemahl sei in der Bastille am Schlagfluß verschieden;
+sie blieb im ungestörten Besitze aller der auf
+so geheimnisvolle Weise erworbenen ungeheuren Güter.
+Der alte Bericht, dem wir dieses seltsame Lebensbild
+nacherzählen, vergleicht den gemordeten Stefano mit
+jenem Künstler, welcher dem Imperator Tiberius ein
+köstliches Gefäß von biegsamem, hämmerbarem Glas
+überreichte. Der Kaiser bewunderte die vortreffliche
+Erfindung und fragte, ob dieselbe schon andern Menschen
+bekannt sei, welches der Künstler verneinte. Auf
+diese Antwort hin ließ der Tyrann dem genialen Erfinder
+den Kopf abschlagen und die Werkstatt desselben
+zerstören, damit nicht &bdquo;Gold und Silber gemein und wertlos
+würden, wie der Kot in den Gassen von Rom&ldquo;.</p>
+
+<p>&bdquo;<i>Par notre Dame de Miracle</i>, Madame, Euer Gemahl
+war ein großer Mann,&ldquo; sagte der Herzog von
+Chaulnes zu der trauernden Witwe Stefanos, &bdquo;Euer
+Gemahl war in Wahrheit ein großer Mann; aber
+<em class="gesperrt">einen</em> Fehler hatte er, er war zu verschwiegen! Wie
+oft hab&rsquo; ich ihn beschworen, mir sein großes Geheimnis
+anzuvertrauen, &mdash; Madame, auf meine Ehre, Monsieur
+Etienne war zu verschwiegen, viel zu verschwiegen.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;O Madame, Madame, die Welt ist nicht so beschaffen,
+daß sie ein großes Genie in sich dulden könnte!&ldquo;
+sagte zur Frau Vinacche der Dichter Jean Baptiste
+Rousseau, der Freund Stefanos. &bdquo;Madame, die Welt
+kann das Talent nur töten, und es gibt nur einen Trost:</p>
+
+<p><i>c&rsquo;est le même Dieu qui nous jugera tous!</i>&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Liebste Schwester,&ldquo; sagte der Graf d&rsquo;Aubigné zur
+Marquise von Maintenon, &bdquo;liebste Schwester, in meinem
+Leben habe ich noch nichts erfunden, wohl aber
+traue ich mir viel Geschick zu, die Erfindungen anderer
+Leute herauszuholen. Ihr wißt das ja; <i>mon Dieu</i>,
+weshalb habt Ihr mir nicht diese Geschichte mit dem
+Italiener überlassen? Das war kein Charakter für die
+Kunst Monsieur d&rsquo;Argensons.&ldquo;</p>
+
+<p>Die Frau Marquise seufzte, zuckte die Achseln und
+griff nach ihrem Gebetbuch, Mademoiselle La Caverne,
+ihre Kammerfrau, meldete: Seine Majestät verfüge
+sich soeben in die Messe. Graf d&rsquo;Aubigné, welcher &bdquo;sich
+wegen seiner Schwester Regierung einbildete, er sei die
+dritte Person in dem Königreiche&ldquo;, ließ die Unterlippe
+herabsinken und legte sein Gesicht in die frömmsten Falten.</p>
+
+<p>&bdquo;Gehen wir, mein Bruder,&ldquo; sagte die Marquise.
+&bdquo;Wir wollen beten für die Seele dieses unglücklichen
+Monsieur de Vinacche und bitten, daß Gott uns seinen
+Tod nicht zurechne.&ldquo;</p>
+<p class="newstory"></p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Besuch">
+<span class="big">Ein Besuch</span>
+</a>
+</h2>
+
+<p class="newstory" style="padding-top:6em"></p>
+
+<p class="startchap"><img src="images/e.png" alt="E" width="60" height="60" class="floatl"/>s war schon Dämmerung, als der Besuch
+kam; so sehr Dämmerung, daß es uns unmöglich
+ist, zu sagen, wie der Besuch aussah.
+Es ist uns überhaupt nicht leicht gemacht, hierüber
+ganz deutlich zu werden. Helfen uns die Leserinnen
+selber nicht dabei, so werden wir auf diesem Blatt
+Papier mit Feder und Tinte wenig ausrichten.</p>
+
+<p>&bdquo;Wieder ein Tag, Johanne, in Einsamkeit und mühseliger,
+geringen Nutzen bringender Arbeit; und zu der
+Arbeit trübe Gedanken den ganzen Tag über. Wegplaudern
+kann ich dir deine Sorgen nicht; da habe ich
+Schwestern, die das besser verstehen. Ich kann nur
+hier und da eine Stunde bei dir verweilen; laß mich
+das jetzt, vielleicht ist dir wohler nachher. Hast auch
+wohl schmerzende Augen von dem ewigen Schaffen
+so spät in den Jahren? Die darfst du dreist zumachen,
+derweil ich bei dir bin. Nur keine unnötigen Höflichkeiten
+unter Freunden. Laß dich gehen, ich lasse mich
+auch gehen und lege mir niemandes wegen Zwang an,
+und viel Zeit habe ich nie, das wißt ihr ja alle, die ihr
+mich dann und wann unter euerer übrigen Bekanntschaft
+in der Welt bei euch seht. Wo warst du eben,
+Johanne?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Sie feierten ein Fest heute drunten im Hause,
+daran habe ich gequält, widerwillig teilnehmen müssen.
+Es war so viel Wagenrollen in der Gasse und vor dem
+Hause, die Leute waren so laut; es drang so viel lustiger
+Lärm zu mir herauf. Es war töricht: aber ich ließ mich
+von meiner Phantasie hinabführen zu meiner jungen,
+reichen, glücklichen Hausgenossin; und da wurde mein
+Schicksal bitterer, ich war den Tag über unzufriedener
+denn je mit meinem Lose; ach, da es nun wieder stiller
+geworden ist, will ich es nur gestehen: ich war recht
+böse den Tag über, voll Mißgunst, Neid und Eifersucht.
+Es war sehr unrecht.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja freilich, du bist arm, und deine Hausgenossin
+ist reich; du bist alt geworden, und deine Hausgenossin
+ist noch jung. Niemand kommt zu dir als von Zeit zu
+Zeit ich, und jene führt das lebendigste Leben. Daran
+kann ich nichts ändern, nicht den kleinsten Stein des
+Anstoßes in der Körperlichkeit der Dinge kann ich dir
+aus dem Wege räumen; &mdash; aber wie wäre es, wenn du
+dessenungeachtet jetzt doch einmal einige Wege mit mir
+gingest &mdash; die ich dich führe?&ldquo;</p>
+
+<p>Da die Frau Johanne jetzt lächelt, ist sie schon auf
+diesen Wegen mit ihrem Besuch &mdash; dieser seltsamen Besucherin,
+die nicht plaudert, wenige Neuigkeiten weiß,
+sondern nur von Zeit zu Zeit die Hand oder auch nur
+den Zeigefinger erhebt. Frau Johanne hat dabei auch
+dem andern Rat ihres stillen Gastes Folge gegeben;
+sie hat die Augen geschlossen. Bei geschlossenen Augen
+sagt sie: &bdquo;Ja es ist unrecht, und es nützt auch nichts,
+andern ihr Glück oder vielleicht auch nur den Schein
+des Glückes zu mißgönnen. Das Leben geht so rasch
+hin, und es wird so schnell Abend aus Morgen allen
+Leuten!</p>
+
+<p>Ist es nicht wie gestern, als es auch noch in meinem
+Leben Morgen war? als ich so jung war wie diese
+junge Nachbarin und auch über schöne Teppiche schritt?
+als die Wagen auch vor meiner Tür hielten und die
+Gäste zu mir kamen? als meine Gestalt aus dem Pfeilerspiegel
+im Festkleide mir zulächelte und Richard
+mir über meine Schulter zuflüsterte, was der Spiegel
+mir sagte?</p>
+
+<p>Hab&rsquo; ich damals, an meinem Morgen, in meinem
+Frühling, in meiner Jugend viel daran gedacht, wie
+die Leute über meinem Haupte, unter meinen Füßen,
+die Nachbarn gegenüber lebten, und ob sie weniger
+jung, sorgenlos und glücklich als ich waren?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Siehst du, es wandelt sich gut an meiner Hand,&ldquo;
+nickte der Besuch. &bdquo;Nur weiter, komm nur weiter, wir
+sind auf dem ganz richtigen Wege. Es ist nur, weil
+man in der mißmutigen Stunde nicht recht seine Gedanken
+zusammennehmen kann, daß man seine Tage
+so regenfarbig, seine Nächte so dunkel und sternenlos
+sieht. Was zeigte dir dein Spiegel noch außer deiner
+Gestalt im Haus- und im Festkleide und den Bildern
+deiner nächsten Umgebung?&ldquo;</p>
+
+<p>Frau Johanne legt das Haupt in ihrem Stuhl
+zurück und die Hand auf die Stirn. Sie sitzt wieder
+vor ihrem hohen, vornehmen Spiegel, den Rücken
+gegen die Fenster gewendet. Aber aus dem zerbrechlichen
+Glase und der so leicht verwischbaren Folie von
+damals ist in Wahrheit ein Zauberspiegel geworden,
+aus dem sich wesenhaft, greifbar, voll Leben und Wirklichkeit
+die Hoffnung, der Trost, das beste Glück ihrer Witwenschaft,
+ihrer Kinderlosigkeit, ihres Alters loslösen.</p>
+
+<p>Es sind aber nicht die Abbilder ihrer nächsten Umgebung,
+die Möbel, Wände, Gemälde, Teppiche und
+Vorhänge ihres damaligen Gemaches, die sie nun mit
+ihren geschlossenen Augen wiedersieht. Es ist das
+Stück der Gasse, das gegenüberliegende Haus, das
+damals in den goldenen Rahmen zufällig mit hineinfiel
+und nun wieder lebendig in ihm leuchtet, nachdem
+Glas und Folie längst zersplittert und verwischt sind,
+wie Glanz und Glück jener lange vergangenen Tage.</p>
+
+<p>&bdquo;Ich denke, wir wagen es noch einmal, folgen unserm
+guten Einfall und schlüpfen hinüber zu der unbekannten
+Nachbarin. Was meinst du, Johanne?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ein Einfall!&ldquo; murmelt die Frau Johanne.
+&bdquo;Nur ein seltsamer Einfall &mdash; <i>un concetto, una fantasia
+strana</i>, wie die Italiener sagen. Und mir vielleicht
+auch nur darum möglich, weil ich eben erst mit
+Richard von unserm schönen langen Aufenthalt in
+Italien nach Hause gekommen war. Dort, in Italien,
+folgen die Leute viel leichter als hier bei uns ihren
+Einfällen und schlüpfen so über die Gasse und halten
+gute Nachbarschaft, zumal wenn sie sich vom Fenster
+oder &mdash; Spiegel aus schon längst kennen und unser
+Gatte einmal gesagt hat: &sbquo;Der Mann der hübschen
+kleinen Frau im blauen Kleide da drüben ist einer
+unserer besten, talentvollsten Unterbeamten, Johanne;
+das Weibchen mit seinem Kindchen ist wirklich allerliebst,
+schade, daß sie nicht zu uns gehören, d. h. nicht
+in unsere Gesellschaftskreise passen.&lsquo;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, was würde aus euerer Welt werden, wenn ich
+nicht immer von neuem, zu jeder Zeit und überall
+eure närrischen Kreise störte und euch zusammenbrächte
+im Wachen und im &mdash; Traum? Nur weiter, immer
+weiter, Johanne. Die Nachbarin wohnt in keinem
+vornehmen Hause; die Treppen, die zu ihr hinaufführen,
+sind steil und dunkel; aber wir sind auf dem
+rechten Wege &mdash; ganz auf dem rechten Wege!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Auf dem rechten Wege! Wie kommst du eigentlich
+hierzu, Johanne?&ldquo; habe ich mich noch auf der
+steilen dunkeln Treppe gefragt. &bdquo;Ihr habt euch ja
+noch nicht einmal zugenickt und noch weniger je ein
+Wort miteinander gesprochen. Wie wäre das auch
+möglich gewesen bei so vielem andern gesellschaftlichen
+Verkehr?&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Das weiß ich am besten, von welchen Kleinigkeiten
+alles abhängt,&ldquo; sagt der Besuch. &bdquo;Törichtes
+Menschenvolk! wo bliebet ihr, wenn nicht ich aus dem
+Kern den Baum, aus dem Funken das Licht, aus dem
+Hauch den Sturm machte? Dein Blut war noch
+abenteuerlich unruhig von den bunten Erlebnissen in
+der Fremde; du hattest viel gähnen müssen an jenem
+Tage; leugne es nicht, Johanne, du warst eigentlich
+in keiner angenehmen Stimmung, trotzdem daß du
+noch jung, reich und eine Schönheit warst. Zu verbraucht,
+alltäglich, gewöhnlich, abgenutzt und gering
+erschien dir alles in der behaglichen Heimat um dich
+herum.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und Richard hatte mir jetzt gesagt: Unsere Nachbarin
+hat Unglück während unserer Abwesenheit gehabt;
+der Mann ist ihr gestorben; wir werden nicht
+leicht einen so guten Arbeiter wieder bekommen. &mdash;
+Da sah ich sie statt im blauen oder rosa Kleide in einem
+schwarzen am Fenster, bleich und kummervoll. Und
+sie trug ihr Kind auf dem Arme, ihr armes verwaistes
+Kindchen, und da &mdash;, da nickte ich ihr zu von meinem
+Fenster; und da &mdash;, da bin ich zu ihr gegangen!&ldquo;...</p>
+
+<p>Und nun ist sie wieder bei ihr, die Träumende, &mdash;
+die Freundin bei der Freundin, und die Zeiten &mdash; die
+Stunden, Tage und Jahre vermischen sich wunderbar
+im süß-melancholischen Dämmerungstraum. Der Besuch
+könnte nun wohl gehen &mdash; o wie lebendig, wie
+lebendig ist alles nun im Traum!...</p>
+
+<p>Im Traum. Die alte Frau schläft in ihrem Stuhl
+nach dem arbeitsvollen mühsamen Tage. Sie denkt
+nicht mehr über die Vergangenheit; sie träumt von ihr
+und süß und friedlich; denn der Besuch hatte ihr ja
+vorher leise, beruhigend die Hand auf die furchenvolle
+Stirn gelegt.</p>
+
+<p>Nun ist der Raum um sie her nicht mehr beschränkt
+und niedrig, nun sind die Gerätschaften nicht mehr
+ärmlich und abgenutzt; denn im gleichen Stübchen
+und unter gleichem Geräte führte ja die beste Freundin
+ihrer Jugend ihr <em class="gesperrt">liebes</em>, stilles Leben. Zu solchem
+Stübchen schlich sie aus dem Glanz und der Fülle des
+eigenen Daseins, und alles ist im Traum wie damals
+um sie her.</p>
+
+<p>Wie viele Jahre gehen vorüber während der kurzen
+Augenblicke, in denen sie jetzt die Augen geschlossen
+hält? Wechselnde Schicksale &mdash; viel Sorge und Angst
+im Mittage des Lebens auch im eigenen Hause. Was
+ist noch übrig von alledem, was damals war? Wo
+sind die hohen Spiegel, die Purpurvorhänge, die
+weichen Teppiche &mdash; die Freunde, die Bekannten der
+Jugend? Ist doch der eigene Gatte so lange schon tot
+und die eigenen Kinder; und auch die Freundin
+schläft ja nun lange schon unter ihrem grünen Hügel
+und steigt nur dann und wann daraus hervor in der
+<em class="gesperrt">Erinnerung</em> und im <em class="gesperrt">Traum</em>, und lächelnd,
+tröstend und Geduld anratend zumeist auch nur dann,
+wenn vorher der Besuch gekommen ist, den die Greisin,
+die arme alte Frau Johanne, bei ihrer späten, beschwerlichen
+Lebensmühe wie in der Dämmerung des
+heutigen Abends bei sich empfangen hat.</p>
+
+<p>Von all den guten Freunden, den lieben Bekannten
+ist niemand übrig, ist niemand treu als das Kind, das
+einst die Träumerin zum erstenmal hinüberzog aus
+ihrer Lebensfreude und dem Glanz ihrer Jugend zu
+dem Leid der jungen Nachbarin im schwarzen Kleide.
+Und dieses Kind ist erwachsen, ist auch eine verheiratete
+Frau und weit in der Ferne. &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Horch, ein Schritt auf der Treppe.</p>
+
+<p>Ist es die Stimme des Besuchs, welche die Frau
+Johanne noch in ihrem Traume vernimmt: &bdquo;Nun
+gehe ich und lasse dich der Wirklichkeit. Wie gern
+käme ich zu allen so wie zu dir in den bösen Stunden
+des Erdenlebens, wie gern hülfe ich allen so wie dir
+hinweg über die dumpfen Pausen zwischen euern
+Schicksalen; wenn ich nur nicht so oft vor die verschlossene
+Tür käme. In den Büchern heiße ich eine vornehme
+Frau; mit einem großen Gefolge hoher Söhne und
+Töchter schreite ich durch die Jahrtausende, aber gern
+sitze ich nieder zu den Kindern, den Armen, den Bekümmerten
+&mdash; mit Freuden komme ich zu denen, die
+aus Büchern nur wenig oder nichts von mir wissen.
+Nun lebe wohl, du närrisch alt Weiblein, lache und
+weine dich aus in dem Glück der Gegenwart und Wirklichkeit
+und halte mir deine Tür offen; ich klopfe nicht
+gern lange vergeblich.&ldquo;...</p>
+
+<p>Es war nur der Briefträger, dessen Schritt man auf
+der Treppe gehört hatte. Der Brief aber, den er der
+Frau Johanne brachte, lautete freilich trotz der ganzen,
+vollen Wirklichkeit, die er verkündete, wie Glockenklang
+und Jubelruf aus Dichtung und Wahrheit.</p>
+
+<p>&bdquo;Meine liebe andere Mutter, ich bin so glücklich &mdash;
+Franz ist daheim! Gesund und so bärtig wie ein Bär
+und so sonnenverbrannt &mdash; entsetzlich! Aber es hat
+ihm, Gott sei Dank, nichts geschadet, und ich bin so
+glücklich, so glücklich! Gestern sind sie eingezogen, und
+es war so wundervoll, und ich hatte einen so guten
+Platz. Ich brauchte den Leuten vor mir nur zu sagen:
+ich habe ja auch meinen Mann darunter, und sie trugen
+mich fast auf ihren Armen in die erste Reihe. Und wir
+&mdash; ich und viele Hunderte und Tausende von meiner
+Sorte, hätten fast den ganzen Effekt gestört. Das
+war ja aber auch nur zu natürlich, und kein Feldmarschall
+und sonstiger großer General und Prinz
+durfte etwas dagegen einwenden. Ich hing ihm unter
+den Trommeln und Trompeten, den Pferden und
+Bajonetten am Halse, und wie ich nachher nach Hause
+gekommen bin, weiß ich nicht. Nun habe ich ihn aber
+selber wieder zu Hause &mdash; ganz und heil zu Hause: es
+lebe der Kaiser und mein Mann und mein Kind und
+du, mein liebes zweites Mütterchen! Und nun höre
+nur, über acht Tage sind wir alle bei dir, &mdash; er, Franz,
+muß dir ja sein Eisernes Kreuz zeigen und ich dir unsern
+Jungen und meinen tapfern Ritter und Landwehrmann,
+den sie mir so unvermutet mitten im vorigen
+Sommer von seinem Zeichen- und meinem Nähtisch
+wegholten und für das Vaterland ins fürchterlichste
+Kanonenfeuer stellten. Was haben wir ausgestanden,
+Mama! Da war es ja noch ein Segen, daß der Junge
+noch zu klein und dumm war, um schon mit einsehen
+zu können, was der Mensch an Ängsten und Sorgen
+auf der Erde und im Kriege aushalten muß und kann.
+Aber eins hat er auch noch zuwege gebracht, und das
+ist herrlich &mdash; ich meine der Krieg und nicht unser Junge
+natürlich &mdash; ach, ich bin immer noch so konfus und
+habe es wie tausend Glocken im Ohr und wie Ameisen in
+allen Gliedern! nämlich die Privatingenieure sind im
+Preise gestiegen, und unser Weizen blüht endlich auch
+einmal. &mdash; Darüber werden wir denn recht eingehend
+reden in acht Tagen in deinem lieben Stübchen; du
+sollst und darfst uns nun nicht mehr so einsam und
+allein sitzen, jetzt, da es uns so gut geht und noch viel
+besser gehen wird, was wir aber um Gottes willen ja
+nicht berufen, sondern ja bei dem Wort dreimal unter
+den Tisch klopfen wollen! Wir haben alle so viel ausstehen
+müssen und einander so wenig helfen können;
+aber nun soll&rsquo;s anders werden, sagt Franz. Eine bessere
+Stelle haben wir schon, nämlich Franz, und dies hat
+sich schon mitten im Kriege gemacht, wo merkwürdigerweise
+nicht bloß Leute zusammengeraten, die sich auf
+den Tod hassen, sondern auch solche, die einander recht
+gut gebrauchen können. Nun sagt er, jetzt gäbe er nicht
+mehr nach, und sollte er noch dreimal so lange wie vor
+dem schrecklichen Metz vor dir in die Erde gegraben
+liegen und dich belagern müssen. Er erzählt furchtbare
+Dinge von seiner Hartnäckigkeit und neugewonnenen
+Erfahrung in dergleichen Kriegskunststücken; und er
+behauptet, es wäre gar kein Zweifel, jetzt kriegte er
+dich &mdash; wir kriegten dich! O könnten wir&rsquo;s dir doch
+zum tausendsten Teil vergelten, was du so viele kümmerliche
+Jahre durch bis in unsere Brautzeit und bis
+zu unserer Heirat an uns getan hast!</p>
+
+<p>Ich glaube meinem Manne natürlich auf sein Wort,
+daß du jetzt zu uns kommen wirst, aber ich verlasse
+mich eigentlich doch noch mehr auf meinen Jungen.
+Was soll das arme Kind ohne dich anfangen, Großmütterlein;
+jetzt, wo es anfängt zu laufen und ich doch
+nicht ewig aufpassen kann? Großmütterchen, du gehörst
+zu unserm Richard wie die Stadt Metz wieder zum Deutschen
+Reich, was aber eine recht schlechte Vergleichung
+ist; ich kann aber nichts dafür, weil ich als jetzige glorreiche
+Kriegsfrau so kurz nach den vielen Siegen und
+Eroberungen mich nur in solchen Vergleichungen bewegen
+kann und übrigens auch eben keine andere
+wußte.</p>
+
+<p>Wir mieten natürlich eine größere Wohnung, und
+es wird ein Leben wie in Frankreich, wo es freilich,
+wie Franz meint, die letzte Zeit durch kein gutes Leben
+gewesen ist, was also eigentlich wieder nicht paßt. Nein,
+wir wollen leben in Deutschland, wie ich es mir als
+das Schönste denke; und denke du dir es auch so lieb,
+als wenn alle Dichtung auf Erden, wenn du diesen
+Brief bekommst, eben zum Besuch bei dir gewesen wäre
+und dich leise auf unsere Pläne und Absichten mit dir
+vorbereitet hätte, daß dir der Schrecken nichts schade!
+Was ich dir eigentlich schreibe, weiß ich gar nicht, und
+den Jungen habe ich auch beim Schreiben auf dem
+Schoße. <span class="big">&bull;</span> Dieser Klex kommt auf seine Rechnung,
+denn greift er mir nicht in die Frisur, so führt er mir
+mit die Feder.</p>
+
+<p>Und nun nichts mehr; denn in acht Tagen sind
+wir bei dir; und obgleich ich hier jetzt an keiner Stunde
+am Tage was auszusetzen finde, so wollte ich doch,
+daß es erst über acht Tage wäre, um dir Auge in Auge,
+Mund auf Mund sagen zu können, wie ich bis in den
+Tod dein dankbares Kind bin und bleibe, du meine
+zweite Herzensmutter!&ldquo;...</p>
+
+<p>Die Frau Johanne hat viel Unglück im Leben gehabt.
+Eigene Familie hat sie nicht mehr, ihr Mann
+ist tot, ihre Knaben sind ihr schon als Kinder genommen,
+ihren Wohlstand hat sie auch verloren, und doch gibt
+es keine andere Frau in der Stadt, die in dieser Stunde
+so glückliche Tränen weint wie diese, welche nie dem
+Besuch, der in der Dämmerung bei ihr war, die Tür
+verschloß, und die an seiner Hand in den Traum sich
+leiten ließ, bis die Wirklichkeit anklopfte und ihr die
+reife liebliche Frucht jenes &bdquo;Einfalls&ldquo; und Nachbarschaftsbesuchs
+der Tage der Jugend in den Schoß
+legte.</p>
+<p class="newstory"></p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h2 class="dotted">
+<a name="Silvester">
+<span class="big">Auf dem Altenteil</span><br />
+Eine Silvester-Stimmung
+</a>
+</h2>
+
+<h3><a name="SilvesterI" id="SilvesterI">I.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/s.png" alt="S" width="60" height="60" class="floatl"/>ie hatten den Senioren der Familie alle
+Ehre angetan, wie sich das denn auch wohl
+so von Rechts wegen gebührte; aber der
+Lärm wurde den weißhaarigen Herrschaften allmählich
+doch ein wenig zu arg. Die alte Dame, die immer noch
+um ein paar Jahre jünger war als der alte Herr, hatte
+dem letzteren ein ihm schon längst wohlbekanntes
+kopfschüttelnd Lächeln gezeigt, welches weiter nichts
+bedeutete als:</p>
+
+<p>&bdquo;Kind, Kind, bedenke den Morgen und deinen
+Rheumatismus! Es hat alles seine Zeit, und ich glaube,
+die unsrige ist jetzt vorhanden.&ldquo;</p>
+
+<p>Der alte Herr hatte zuerst ganz erstaunt aufgesehen
+und sein Weib an: Nicht mehr bis Mitternacht, und
+in das neue Jahr hinein? Ei, ei, ei &mdash; hm!</p>
+
+<p>&bdquo;Hm,&ldquo; sagte der alte Herr, in dem fröhlichen Kreise
+erhitzter Gesichter umherblickend; &bdquo;es hat freilich alles
+seine Zeit; aber es ist sonderbar, und, liebe Kinder, es
+kommt einem ganz kurios vor, wenn auch dieses &mdash;
+zum erstenmal Zeit wird!&ldquo;</p>
+
+<p>Dabei hatte er sich aber bereits etwas mühsam aus
+seinem Sessel erhoben. Den Kopf schüttelte er auch;
+jedoch ohne dabei zu lächeln wie seine Frau.</p>
+
+<p>&bdquo;Du hast recht, Anna; es ist unsere Zeit gekommen,
+und so wünsche ich, wünschen wir euch jungem Volk &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>Von einem Gewissen war bei diesem &bdquo;jungen Volk&ldquo;
+natürlich nicht die Rede. Dazu waren sie sämtlich
+(auch die Ältesten unter ihnen) noch viel zu jung, und
+viel zu vergnügt und viel zu aufgeregt durch die uralten,
+ewig jungen Stimmungen der letzten Stunden
+des scheidenden Jahres. Ein Gewühl von blonden
+und braunen Köpfchen und Köpfen, von Händen und
+Händchen erhob sich um die beiden Greise; und alle
+Verführungskünste, deren die Menschheit in ihrer Erscheinung
+als Familie in der Silvesternacht fähig ist,
+waren zur Anwendung gebracht worden.</p>
+
+<p>Einmal noch schadete es sicherlich gewiß nicht!...
+Großpapa und Großmama hatten noch nie so munter
+ausgesehen!... Es ging ja niemand zu Bett vor
+Mitternacht, selbst die Jüngsten nicht!...</p>
+
+<p>&bdquo;Nun, Mutter! Einmal noch? Was meinst du?&ldquo;
+Kleine weiße Händchen &mdash; weiße beringte Hände hatten
+ihre Verführungskünste nicht ohne Erfolg versucht;
+nun legte sich statt anderer Antwort auf die Frage des
+alten Herrn wieder eine Hand auf die seinige. Das
+war aber keine weiche, keine weiße, keine kräftige mehr;
+aber eine starke und treue war es auch; vielleicht wohl
+die stärkste und treueste.</p>
+
+<p>&bdquo;Die Großmutter hat recht! Es hat alles seine
+Zeit, und die unsrige ist gekommen. Junges Volk, wir
+werden zu Bette geschickt von ihr, der Madame Zeit,
+während die Jüngsten aufbleiben dürfen. Der Kopf
+summt uns zu sehr morgen früh, wenn wir uns dagegen
+sperren und wehren; und es ist zwar hübsch von
+Großmama, wenn sie nur von Rheumatismus spricht;
+aber das rechte Wort ist es eigentlich nicht. Sie hätte
+ganz dreist Gicht sagen können, gerade so gut wie der
+Herr Schwiegersohn und <i>Doctor medicinae</i> da hinter
+seinem Punschglase, wenn er jetzt ein Gewissen hätte.
+Liebe Kinder, wir sind beide über siebenzig Jahre alt,
+und &mdash;&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Oh!...&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Und wir sind sehr glücklich und behaglich. Sehr
+wohl ist uns zumute und so wünschen wir euch allen
+zum erstenmal vor Ablauf des alten Jahres ein glückliches
+neues.... Bitte, lieber Sohn, ich weiß, was
+du sagen willst; aber wende dich damit an die Mama,
+die wird dich versichern, daß deine Frau, unsere liebe
+Sophie da, heute über dreißig Jahre sicherlich gleichfalls
+viel verständiger sein wird, als du. Wende dich
+an deine Mutter, mein Schmeichelkätzchen Marie. Sie
+hat immer gemeint, du seiest ganz ihr Vorbild, also
+wirst du wohl wissen, was in vierzig Jahren in der
+Neujahrsnacht deine Meinung sein wird, wenn die
+unverständige Jugend dir deinen Mann da verführen
+will. Schieben Sie die Kinder nicht so heran, lieber
+Schwiegersohn, sie machen der Großmama nur
+das Herz schwer. Es ist Zeit geworden für uns;
+&mdash; &mdash; &mdash; ein fröhliches, segensreiches Jahr ihr &mdash;
+alle!...&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Alle!&ldquo; jubelten sie, und die Gläser hatten geklungen,
+und die Kinder, die Enkel hatten sich zugedrängt
+und ihre kleinen Becher hingehalten, ohne daß
+man sie dazu zu schieben brauchte. Sie hatten sehr gejubelt;
+und die Tonwellen der Gläser und der Stimmen
+waren verklungen.</p>
+
+<p>&bdquo;Nun seid weiter vergnügt; aber die Kinder laßt
+ihr mir morgen ausschlafen. Begleitung nehmen wir
+nicht mit, die Trepp&rsquo; hinauf. Wir finden unseren Weg
+schon allein, nicht wahr, Walter?&ldquo; sagte die alte Dame,
+die Großmutter des Hauses.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterII" id="SilvesterII">II.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/s.png" alt="S" width="60" height="60" class="floatl"/>ie entschlüpften, wie man entschlüpft, wenn
+man das siebenzigste Lebensjahr hinter sich
+hat. Langsam stiegen die beiden die teppichbelegte
+Treppe in ihre Stube hinauf, der Greis gestützt
+auf den Arm der Greisin; und dann waren sie allein
+miteinander, noch einmal allein miteinander in der
+Neujahrsnacht.... Umgesehen hatten sie sich nicht
+auf der Treppe und einen leisen Schritt, einen Kinderschritt,
+der ihnen nachglitt, den hatten sie überhört.
+Ein so scharfes Ohr, wie vor Jahren, hatte keins von
+den zwei Alten mehr; aber diesen Schritt, diesen
+Geister-Kinderschritt würde auch wohl jedes andere
+jüngere Ohr überhört haben. &mdash;</p>
+
+<p>Auf dem Altenteil! Das kann eines der bittersten
+Worte sein, die das Schicksal den Menschen in dieser
+Welt zuruft; aber auch eines der behaglichsten. Für
+diese beiden Alten war es nach langer schwerer, mühseliger
+Arbeit ein behagliches geworden. Sie fanden
+ihre Gemächer durch ein verschleiertes Lampenlicht erhellt,
+ihre beiden Lehnstühle an den warmen Ofen gerückt
+und:</p>
+
+<p>&bdquo;Mit dem Schlage Zwölf komme ich doch und poche
+an eurer Kammertür und spreche meinen Wunsch durchs
+Schlüsselloch. Ihr braucht aber nicht darauf zu hören;
+ich schicke ihn euch auch in den Schlaf hinein!&ldquo; hatte das
+jüngste und am jüngsten verheiratete Töchterlein als
+letztes Wort im Festsaale da unten gesagt.</p>
+
+<p>&bdquo;O mein Gott, da sitzt ihr noch?&ldquo; rief dieselbe junge
+Frau unter dem Glockenklang und dem Neujahrschoral
+von den Türmen, unter dem plötzlich aufklingenden
+Gassenjubel und dem Jubel der Kinder und Enkel
+in dem Saale des Hauses. &bdquo;Das ist doch ganz wider
+die Abrede, und heute übers Jahr werden wir euch da
+unten bei uns fester halten, ihr Lieben, Bösen, Besten!...
+Ein glückliches neues Jahr, Großpapa! ein glückliches
+neues Jahr, Großmama!&ldquo;</p>
+
+<p>Da stand ein niedrig lehnenloses Sesselchen mit
+einem verblaßten gestickten Blumenstrauß darauf
+neben den zwei Stühlen der Greise. Die junge Frau,
+nachdem sie den Vater und die Mutter mit ihren Küssen
+fast erstickt hatte, saß nieder auf dem kleinen Stuhl und
+hatte keine Ahnung davon, wer eben vor ihr darauf
+gesessen und die Mutter und den Vater gegen die Abrede
+und gegen ihren eigenen festen Vorsatz wach gehalten
+hatte über die Mitternachtsstunde hinaus und
+aus dem alten Jahr in das neue hinein! Mit leise
+bebender Hand strich die alte Frau die blonden Haare
+der Tochter aus dem lebensfreudigen, glühenden, erhitzten
+Gesichte. Die blonden Locken, die sich eben vor
+ihr ringelnd bewegt hatten, waren schon vor vierzig
+Jahren zu Staub und Asche geworden: die junge Frau
+wußte nichts von ihnen, oder doch nur gerüchtweise.
+Lange vor ihrer Geburt war das erste, das älteste Kind
+gestorben, zwölf Jahre alt. Ein halbverwischtes
+Pastellbildchen, das über der Kommode der Mutter,
+der Großmutter des Hauses, hing, war alles, was
+von ihm übrig geblieben war in der Welt.</p>
+
+<p>Alles?</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterIII" id="SilvesterIII">III.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/e.png" alt="E" width="60" height="60" class="floatl"/>in leiser Schritt, ein unhörbarer Schritt; &mdash;
+ein Geister-Kinderschritt in der Silvesternacht!...
+Wir haben gesagt, daß die
+beiden Greise vor einer Stunde die Treppe zu ihren
+Gemächern hinaufgestiegen und ihn, wie wir übrigen
+alle, nicht vernahmen. Ganz war es doch nicht so.</p>
+
+<p>Als der alte Herr der alten Dame mit immer noch
+zierlicher Höflichkeit die Tür öffnete, um sie zuerst über
+die Schwelle treten zu lassen, hatte die Frau einen
+Augenblick gezögert und zurückgesehen und gehorcht.</p>
+
+<p>Der alte Herr glaubte, sie horche noch einmal auf
+den fröhlichen Lärm, auf das heitere Stimmengewirr
+der Neujahrsnacht dort unten im Festsaal des Hauses.</p>
+
+<p>&bdquo;Sie sind gottlob recht heiter,&ldquo; meinte er, &bdquo;wüßte
+auch nicht, weshalb nicht. Und auch wir, &mdash; Mutter! &mdash;
+nicht wahr, Alte?... Wie spät ist es denn eigentlich?
+Elf Uhr! Noch früh am Tage, wenngleich wirklich ein
+wenig spät im Jahre.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, Walter!&ldquo; hatte die Greisin erwidert, aber nur,
+um doch eine Antwort zu geben. &bdquo;Ich hörte eigentlich
+nicht auf dich; ich dachte an unser Ännchen,&ldquo; fügte sie
+hinzu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte
+und sie in der letzten Stunde des ablaufenden Jahres
+mit sich allein waren.</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterIV" id="SilvesterIV">IV.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/d.png" alt="D" width="60" height="60" class="floatl"/>as junge Volk! Längst hat es drei Viertel
+des Hauses nach seinem Geschmack und
+Bedürfnis eingerichtet und mit vollem
+Rechte des Lebens. An das Reich der beiden Alten hat
+keine Hand gerührt; außer dann und wann eine Kinderhand,
+deren volles Recht des Lebens es freilich ist und
+immerdar sein wird, in der Großväter und der Großmütter
+Hausrat, Schubladen und Schränken zu wühlen
+und zu kramen und sich die vom Anfang der Welt an
+dazugehörigen erstaunungswürdigen, lustigen und traurigen
+Geschichten erzählen zu lassen.</p>
+
+<p>Es war einmal!... oh, noch einmal von dem, was
+war!... Und so war es gekommen, daß die jüngste
+Tochter des Hauses die Eltern um Mitternacht noch
+wach fand unter den Glocken, die das neue Jahr einläuteten.
+Eine Kinderhand aber war es wiederum gewesen,
+die an den Schleiern der Vergangenheit gezupft
+hatte: &bdquo;Es war einmal! Ich bin da! &mdash; Mama,
+du sagst in dieser Stunde nicht: Man hat doch keinen
+Augenblick Ruhe vor dir, Kind! &mdash; Ich bin da; und
+nun laßt mich sitzen auf meinem Stuhl, laßt uns erzählen:
+Es war einmal!... laßt uns erzählen von dem,
+was einmal war!&ldquo;...</p>
+
+<p>Und sie hatten davon erzählt, die beiden Greise
+nämlich. Das Kind hatte nur drein gesprochen.</p>
+
+<p>&bdquo;Sie wäre gewiß auch eine stattliche Frau und eine
+gute geworden,&ldquo; sagte die alte Dame. &bdquo;Ich meine, am
+meisten hätte sie wohl der Theodore geglichen, wenn
+wir sie behalten hätten, das liebe Kind. Sie haben alle
+da unten, &mdash; unsere meine ich, Papa! &mdash; ein hübsches
+lustiges Lachen; aber ich kann nichts dafür, ich muß es
+sagen: wie das Kind, unser Ännchen, ist doch keins so
+glücklich in seinem Lachen gewesen. Die andern kennen
+wir ja auch nun schon lange mit ihren Sorgen und ihren
+Nöten und ihren unnützen Ärgernissen. Keins von ihnen
+lacht und kreischt und kichert so wie mein Ännchen es
+tat. Hätten wir die Enkel nicht, so würde das Haus
+wohl manchmal still genug sein; &mdash; selbst dir, Großpapa.&ldquo;</p>
+
+<p>Da war das Lachen, das vor so langen, langen Jahren
+zuerst das Haus hell und heiter gemacht hatte!
+Auch der alte Herr, der Großpapa, dem das Haus nie
+ruhig genug sein konnte, kannte es ganz genau.</p>
+
+<p>&bdquo;Also, ihr wißt es doch noch, wie es war, als wir
+drei allein waren, und dein Haar noch nicht so weiß,
+Vater; und auch deines nicht so hübsch grau, mein
+Mütterchen, und ich euer liebes, einziges Mädchen!
+Hier sitze ich auf meinem Stuhl und behalte mein Recht,
+allen meinen Schwestern und Brüdern und allen
+meinen Nichten und Neffen zum Trotz. Ich bin die
+Älteste! Wer auch nach mir gekommen ist, wie viele
+auch gesessen haben auf diesem Schemelchen &mdash; mir gehört
+es, mir habt ihr es hierher gestellt; das ist mein
+Sitz am Herde! Wer kann mir meinen Platz nehmen
+in eurer Seele? wer in dem Hause, das ihr gebaut
+habt und in dem ihr mich einmal euer Glück nanntet?!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Du hast recht, Mutter,&ldquo; sagte der alte Herr; &bdquo;ich
+weiß eigentlich nicht, wie wir gerade jetzt darauf kommen;
+aber das Kind hat immer zu mir, &mdash; zu uns
+gehört. Nur weil wir es wußten, haben wir nicht immer
+dran gedacht. So geht es aber mit allem Wissenswürdigen
+in der Welt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Mein Ännchen!&ldquo; seufzte einfach die Greisin; doch
+die blonden Locken wurden wie mutwillig von neuem
+geschüttelt, und wieder legte sich der kleine Finger schalkhaft
+auf den Mund: &bdquo;Ja, ich war immer da, wenn
+ihr auch nicht an mich zu denken glaubtet: an manchem
+schwülen Sommertage, in mancher kalten, dunkeln,
+trostlosen Winternacht. An manchem Feste in der lichtstrahlenden
+Winternacht, an manchem sonnigen, seufzervollen
+Frühlingsmorgen. Jetzt haben die andern da
+unten im Saale euere Sorgen, Freuden und Arbeiten.
+Ihr aber habt Zeit für mich. Eure andern, die nach mir
+gekommen sind, haben mir wohl mein altes Spielzeug
+verkramt und zerbrochen; aber mein Plätzchen im Hause
+haben sie mir nicht nehmen können. Ich habe es ihnen
+nur geliehen, einem nach dem andern; doch mein
+Eigentum ist es und bleibt es; nicht wahr, Papa und
+Mama?! Ihr habt zwar unter den andern gottlob
+nun auch wieder ein Ännchen &mdash; ein Enkelkind mit
+meinem Namen &mdash; aber das tut nichts, wir vertragen
+uns schon um diesen kleinen Stuhl und um &mdash; euch!...
+Es war wohl ein kleiner Sarg, in den ihr mich legen
+mußtet; aber &mdash; ich bin immer über meine Jahre klug
+gewesen. Ich habe es wohl oft heimlich erlauscht,
+wenn ihr das über mich sagtet. Damals wußte ich
+freilich nicht recht, was ihr damit sagen wolltet, und
+ob es eigentlich ein Lob für mich sei; jetzt aber weiß ich
+es. Ei ja, ich bin sehr klug für meine Jahre gewesen!
+nun lacht nur, wie ihr damals geweint habt, als ich
+von euch weggeführt wurde und nicht über die Schulter
+zurücksehen durfte. Seht ihr wohl, da lächelt ihr wenigstens
+schon. Die Jahre sind nun hingegangen; lange,
+lange Jahre! Heute abend habt ihr euch vorgenommen,
+noch einmal jung zu sein mit euren Kindern und Enkeln.
+Es ist euch auch wohl gelungen, doch nicht ganz. Ganz
+jung seid ihr erst jetzt wieder, da ich mich zu euch gesetzt
+habe, ich &mdash; euere Älteste und euere Jüngste. Nimm
+meinen Krauskopf wieder zwischen deine Hände,
+Mutter, laß mich wieder auf deinem Knie sitzen, Väterchen;
+draußen schneit es sehr, und der Nordwind bläst,
+und es ist spät in der Nacht; ihr aber schickt mich diesmal
+noch nicht zu Bett; &mdash; wir wollen jetzt einander noch
+nicht zu Bette schicken; wir wollen noch einmal ein
+Weilchen sitzen und erzählen von <em class="gesperrt">dem, was einmal
+war</em>.&ldquo;</p>
+
+</div>
+
+<div>
+<h3><a name="SilvesterV" id="SilvesterV">V.</a></h3>
+
+<p class="startchap"><img src="images/s.png" alt="S" width="60" height="60" class="floatl"/>ie hatten nur noch fünf Minuten in ihren
+Großväterstühlen neben dem Ofen sitzen
+wollen, um sich von dem Feste, dem Händedrücken,
+all den Küssen und guten Wünschen zu dem
+neuen kommenden Jahre ein wenig zu erholen, wie es
+den ältesten Leuten in der Familie geziemt in der Silvesternacht,
+während die Jugend um die lichterglänzende
+Festtafel weiter jubelt und lärmt, nach der Uhr
+sieht und den Sekundenzeiger mit lachendem Auge
+verfolgt bis heran an den neuen ernsten Grenzstein ihrer
+Erdenzeit. Und sie, die bereits Greise waren, hatten
+nicht nach der Uhr gesehen; sie hatten gar nicht einmal
+daran gedacht. Die Sekunden der letzten Stunden des
+Jahres waren ihnen dahingeglitten, wie die vielen,
+langen arbeitsvollen, inhaltreichen Jahre ihres Daseins
+selber bis in dieses jüngste und das eben vor der
+Tür stehende hinein.</p>
+
+<p>&bdquo;Du fragst wohl, Vater, wie wir gerade jetzt darauf
+kommen, und sagst, daß du an das Kind lange nicht
+gedacht hast,&ldquo; sagte die alte Dame. &bdquo;Es ist freilich lange
+her, daß wir ihren kleinen Sarg dort in dem Saale,
+wo sie jetzt gottlob so lustig sind, aufstellen mußten.
+Wie wunderlich es doch ist, daß ich gerade jetzt darauf
+komme, was für eine schöne Sommernacht es war, in
+welcher sie starb! Horch jetzt nur, wie der Wind den
+Schnee gegen die Fenster treibt. Wir haben die andern
+alle behalten und wir haben an unseren Kindeskindern
+Freude; aber an unsere Älteste habe ich doch immer
+gedacht. Was würde aus den Kindern werden, wenn
+ihre Mütter nicht immer an sie dächten. Selbst die Gestorbenen
+können ohne ihre Mutter nicht auskommen. &mdash;
+Horch, wie sie es da unten treiben! eigentlich ist es recht
+unrecht von ihnen, daß sie auch die Jüngsten so lange
+aus dem Bette zurückhalten, und ich werde ihnen morgen
+früh auch jedenfalls meine Meinung darüber sagen. &mdash;
+Als <em class="gesperrt">sie</em> in ihrem Fieber lag, saß ich auch und zerrang
+mir die Hände und fragte mich Tag und Nacht, was ich
+hätte anders machen können, damit das Schreckliche
+nicht so zu kommen brauchte. Du warst wohl vernünftiger,
+wenn du aus deinem Kontor heraufkamst und
+mir zuredetest, Geduld zu haben. Wie konnte ich
+wohl verständig sein und Geduld haben? Und man
+sucht doch immer so, wie man einem andern die
+Schuld geben kann, und wäre man das auch
+selber!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ich meine, Mutter, wir geben das auf, uns den
+Kopf darüber zu zerbrechen, und noch dazu so spät in
+der Nacht, im Jahr und in den Jahren,&ldquo; sprach der
+alte Herr, wiederum sehr vernünftig; und dann sprachen
+sie bis zu dem ersten Glockenschlage der Mitternacht
+nichts mehr miteinander. Dagegen aber füllte sich ihre
+Stube immer mehr mit den Bildern und den Klängen
+der Vergangenheit. Und der liebliche Spuk der Silvesternacht
+hatte nicht das geringste vom Phantasten
+an sich. Das älteste Kind des Hauses war noch einmal
+im vollen blühenden Leben Herrin im Reich und fand
+all sein altes verkramtes Spielzeug wieder, wie &mdash; die
+zwei weißhaarigen Greise. Sie paßten wieder ganz
+zueinander, die Eltern und das Kind: der dunkle,
+geheimnisvolle Vorhang der Zukunft hatte sich bewegt,
+und es war eine Kinderhand, die sich aus den
+schwarzen Falten weiß und zierlich hervorstreckte und
+winkte. Sie aber, die Fröhlichen da unten im Festsaale
+des Hauses, hatten dem Vater und der Mutter,
+dem Großvater und der Großmutter &mdash; den beiden
+Alten ein glückliches, ein segensreiches neues Jahr gewünscht
+und hatten zwischen Becherklang und lustigem
+Lachen ihren Wunsch wehmütig ernst gemeint, wie sich
+das gebührte.</p>
+
+<p>&bdquo;Wie gut der Papa und die Mama heute abend
+aussahen,&ldquo; meinten sie. &bdquo;Es ist doch eine Freude, wie
+frisch sie sich erhalten und wie sie noch an allem teilnehmen.
+Aber verständig war es doch, daß sie nicht über
+ihre Zeit bei uns sitzen blieben. Morgen früh hätten
+wir uns doch Vorwürfe gemacht, wenn wir sie noch
+länger gequält hätten, das Vergnügen nicht durch ihr
+Weggehen zu stören.... Jetzt aber auf die Uhr gesehen!
+in fünf Minuten wird es Zwölf schlagen; &mdash; ein bißchen
+leise, Kinder, daß <em class="gesperrt">wir die alten Leute
+nicht wecken!</em>&ldquo;...</p>
+
+<p>Zwölf Uhr und &mdash; ein neues Jahr! Alle guten
+Geister haben einen leisen Schritt und gehen auf weichen
+Sohlen; so schlich sich die jüngste Tochter des Hauses
+weg aus dem jubelnden Kreis, glitt die Treppe hinauf
+und horchte an der Tür der &bdquo;alten Leute&ldquo;, die durch
+den Becherklang, die lauten Glückwünsche und alles,
+was sonst noch in die Stunde gehört, nicht gestört
+werden sollten in ihrer Ruhe auf dem Altenteil.</p>
+
+<p>&bdquo;O mein Gott, da sitzt ihr noch? Das ist doch ganz
+wider die Abrede! Sie meinen alle da unten, daß ihr
+längst in den Federn liegt und euch behaglich in das
+neue Jahr hinübergeträumt habt.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Das letztere haben wir auch getan, mein Kind,&ldquo;
+sagte der alte Herr nachdenklich lächelnd.</p>
+
+<p>&bdquo;Oh, und nun müßte ich sie alle &mdash; alle die übrigen
+auch noch heraufrufen, daß sie euch ihre Meinung sagen.
+Sie werden es mit Recht sehr übel nehmen, wenn ich&rsquo;s
+nicht auf der Stelle tue, Mama!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Laß es lieber, mein Herz,&ldquo; meinte die alte Dame,
+leise die blonden Flechten vor ihr, die noch nicht Staub
+und Asche geworden waren, streichelnd. &bdquo;Es würde den
+Vater doch zu sehr aufregen, und wir gehen nun wirklich
+gleich zu Bett. Wir haben vorher nur noch ein wenig
+an allerlei gedacht, was vor eurer &mdash; vor deiner Zeit
+war.&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ach ich bin so glücklich!&ldquo; rief die junge Frau. &bdquo;Wir
+sind so vergnügt da unten an unserem Tische, und ihr
+hier in euerer lieben, alten, guten Stube seht so jung
+aus und so hell aus den Augen, wie das Jüngste von
+uns &mdash; euern andern! Oh, und mein Franz ist so
+drollig; der Mensch ist mir fast ein wenig zu ausgelassen,
+oh &mdash; und also noch einmal: ein fröhliches, glückliches,
+gesegnetes neues Jahr euch vor allen und &mdash; uns
+andern auch!&ldquo;</p>
+
+<p>&bdquo;Ja, ja!&ldquo; sagten die <em class="gesperrt">alten Leute</em> leise zu
+gleicher Zeit und nickten freundlich ihre Zustimmung
+zu dem guten Wunsch.</p>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der Junkervon Denow / Ein Geheimnis /
+Ein Besuch / Auf dem Altenteil, by Wilhelm Raabe
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER JUNKERVON DENOW / EIN ***
+
+***** This file should be named 44639-h.htm or 44639-h.zip *****
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+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
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+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
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+ Dr. Gregory B. Newby
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+increasing the number of public domain and licensed works that can be
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+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
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+status with the IRS.
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+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
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+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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+approach us with offers to donate.
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+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
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+works.
+
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+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
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+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
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+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
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+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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diff --git a/old/44639-h/images/n.png b/old/44639-h/images/n.png
new file mode 100644
index 0000000..a3e0902
--- /dev/null
+++ b/old/44639-h/images/n.png
Binary files differ
diff --git a/old/44639-h/images/s.png b/old/44639-h/images/s.png
new file mode 100644
index 0000000..4229f92
--- /dev/null
+++ b/old/44639-h/images/s.png
Binary files differ
diff --git a/old/44639-h/images/t.png b/old/44639-h/images/t.png
new file mode 100644
index 0000000..ecd2e14
--- /dev/null
+++ b/old/44639-h/images/t.png
Binary files differ
diff --git a/old/44639-h/images/u.png b/old/44639-h/images/u.png
new file mode 100644
index 0000000..ed0b724
--- /dev/null
+++ b/old/44639-h/images/u.png
Binary files differ
diff --git a/old/44639-h/images/v.png b/old/44639-h/images/v.png
new file mode 100644
index 0000000..ebe0dc0
--- /dev/null
+++ b/old/44639-h/images/v.png
Binary files differ
diff --git a/old/44639-h/images/w.png b/old/44639-h/images/w.png
new file mode 100644
index 0000000..a5ac6a8
--- /dev/null
+++ b/old/44639-h/images/w.png
Binary files differ