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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44719 ***
+
+ Aus einer kleinen Garnison.
+
+
+ Ein militärisches Zeitbild
+
+ von
+
+ Fritz von der Kyrburg.
+
+
+ [Illustration]
+
+
+ =Braunschweig=
+ _=Verlag von Richard Sattler=_
+ 1903.
+
+
+
+
+Inhaltsverzeichnis
+
+
+ Seite
+ Erstes Kapitel 1
+
+ Zweites Kapitel 27
+
+ Drittes Kapitel 78
+
+ Viertes Kapitel 125
+
+ Fünftes Kapitel 185
+
+ Sechstes Kapitel 233
+
+ Siebentes Kapitel 245
+
+ Achtes Kapitel 264
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Erstes Kapitel.
+
+
+In dem geräumigen, mit behaglicher Eleganz eingerichteten Wohnzimmer war
+Frau Clara König damit beschäftigt, die letzten Vorbereitungen zum
+Empfang ihrer Gäste zu treffen.
+
+Denn heute war Musikabend, zu welchem sich einmal in der Woche die
+engeren Freunde des Hauses versammelten, soweit sie musikalisch waren.
+Diesmal aber hatte man noch einige Familien dazu gebeten, damit sich
+alle von der erfolgreichen Tätigkeit der »Künstler« überzeugen sollten.
+
+Hier rückte die Hausfrau einen Stuhl zurecht, dort strich sie glättend
+über ein gesticktes Deckchen, welche sie in allen Farben und
+Geschmacksrichtungen selbst gefertigt. Sie prüfte die Lampen auf ihre
+Lebensfähigkeit, klappte Klavier und Harmonium auf und warf schließlich
+einen liebevoll sorgenden Blick nach den gefüllten Blumenvasen, ob sie
+auch ihren duftenden Inhalt von der vorteilhaftesten Seite zeigten. Denn
+darauf hielt sie sehr, nie fehlte auf dem Kamin und dem Erkersims ein
+Sträußchen oder frisches Grün, selbst nicht zur kalten Winterszeit.
+
+Frau Clara war eine mittelgroße Dame von etwa dreißig Jahren, mit einer
+gefälligen Figur und einem hübschen, frischen Gesicht. Die munteren
+blauen Augen gaben ihm im Verein mit dem geschmackvoll frisierten
+Blondhaar einen jugendlich angenehmen Ausdruck.
+
+Jetzt ließ sie sich in einen Sessel nieder, denn es war alles in bester
+Ordnung. Das war übrigens immer so.
+
+Da teilte sich die Portiére zum Nebenzimmer, und ihr Gatte, ein großer
+Herr mit schwarzem Schnurrbart, trat herein, um auch seines Amtes zu
+walten. Ihm lag es nämlich ob, den Kronleuchter anzuzünden. Im
+Allgemeinen pflegte er pro Gast nur eine Flamme zu brennen, heute aber
+ließ er den ganzen Lüstre in festlichem Glanze erstrahlen, denn man
+erwartete viele Gäste, während nur 5 Flammen vorhanden waren. So brannte
+er denn den Wachsstock an, welcher praktischer Weise meist auf oder
+dicht neben dem Ofen zu finden war, schimpfte über die hohe Gasrechnung,
+entzündete die Flammen, schüttete einen Eimer Kohlen in den Ofen und
+warf ein Blatt Papier hinterher, daß er nicht puffen sollte. Dann ließ
+er sich gleichfalls in einen Sessel nieder.
+
+Herr Albrecht König war seines Zeichens wohlbestallter Rittmeister. Die
+Schwadron hatte er in bester Ordnung, denn er widmete sich ihr mit
+großem Eifer und nie erlahmender Sorgfalt. Fand sich Zeit und Muße, so
+las er die »Deutsche Zeitung«, studierte den Kurszettel, arbeitete im
+großen, trefflich in Stand gehaltenen Garten des Hauses oder überwachte
+den Hühnerhof, dessen Eierertrag er für hohe Preise an seine Gattin
+verkaufte. Hatte er gar nichts zu thun, so führte er Schlachten mit
+seinem neunjährigen Sohne auf, hielt Weinproben ab oder übte Klavier,
+denn dieses Instrument verstand er fast meisterhaft zu spielen.
+
+Ein Geräusch im Vorzimmer verkündete jetzt die Ankunft der ersten Gäste.
+Man vernahm einen langsam schleppenden Schritt und ein heftiges
+Schnauben. Die Tür ging auf, und herein trat Landrat von Konradi, ein
+wohlbeleibter Herr mit einem Klemmer auf der aristokratischen Nase, über
+den hinweg sein Blick jetzt forschend die Frau des Hauses suchte. Das
+Haar schien zwar ergraut, doch dunkel gefärbt, und böse Menschen wollten
+wissen, es geschehe für das schöne Geschlecht. Der Herr Landrat hatte
+nämlich keine Frau. Sein Ideal verkörperten ein gutes Diner und mehrere
+noch bessere Weinsorten, und, da beides im Hause des Rittmeisters zu
+finden war, kam er gern. Im Übrigen galt er für einen Gentleman.
+
+Während er sich gerade bemühte, der Hausfrau mit Entrüstung zu erzählen,
+wie ein von ihm bestellter Fasan in gänzlich ungenießbarem Zustande
+angekommen sei, öffnete sich wieder die Tür und Frau Rittmeister Kahle
+trat ein.
+
+Von kleiner, zierlicher Figur, jedoch mit einem Gesicht, welches dem
+eines ungezogenen Knaben glich, war sie im Allgemeinen eine ganz
+niedliche Erscheinung, nur spielte ein beständiges Lächeln um den etwas
+großen Mund, und wenn sie ihn auftat, ließ sich eine unzarte, fast
+kreischende Stimme hören.
+
+Ihr folgten drei jüngere Herren, als erster Leutnant Pommer. Man
+schätzte ihn allgemein wegen seines natürlichen offenen Wesens; schien
+er dadurch auch manchmal etwas derb, so wußte doch jeder, wie es gemeint
+war. Mit besonderer Liebenswürdigkeit begrüßte er Frau Kahle, und es sah
+fast drollig aus, wie der große, korpulente Mann mit dem Nippfigürchen
+kontrastierte.
+
+Der zweite war der Leutnant Müller. Wer es nicht wußte, sah an der
+selbstgefälligen Miene und der steifen Haltung des Herrn, daß er der
+Regimentsadjutant sein müsse. Er galt für den Schrecken aller
+Hausfrauen, denn er war unersättlich und vernichtete mit Seelenruhe die
+dreifache Portion wie ein anderer Sterblicher. Legten seine
+Tischgenossen die Gabel aus der Hand, so langte er mit der
+Versicherung, daß er gerade dieses sehr gern äße, zum dritten Male zu.
+
+Der letzte der Herren war Leutnant Kolberg, ein auffallend blaß
+aussehender junger Mann mit kühn emporgewirbelten Schnurrbartenden. Er
+führte ein unsolides Leben und rühmte sich einer bewegten Vergangenheit.
+
+Während man der noch fehlenden Gäste harrte, bildeten sich einige
+Gruppen. Leutnant Kolberg war ebenfalls zu Frau Kahle getreten und maß
+sie von oben bis unten mit wohlgefälligen Blicken. Der Adjutant suchte
+von Frau König zu erforschen, was es zu essen gäbe, und als er es
+erfuhr, behauptete er sofort, es sei sein Leibgericht. Der Landrat
+plauderte mit dem Rittmeister über eine Weinreise, die sie gemeinsam zu
+unternehmen gedachten, um den Keller mit neuen Schätzen zu füllen.
+
+Wieder ging die Tür auf, und herein schwebte eine ungeschickt gepuderte,
+aussagend korpulente Dame in einem schwarz und gelben Kleide, dessen
+Machart sich mit den unpassend zusammengestellten Farben in
+Geschmacklosigkeit überbot. Sie stürzte sofort auf Frau Clara zu,
+drückte ihr mit den rundlichen Fingern die Hand und gab ihrer Freude
+über die erhaltene Einladung Ausdruck. Den anwesenden Herren hielt sie
+die fleischige Rechte so dicht unter die Nase, daß diesen gar nichts
+anderes übrig blieb, als den obligaten Handkuß darauf zu drücken.
+
+Es war Frau Rittmeister Stark, die jüngste Gattin im Regiment, wenn sie
+auch weit über fünfzig Lenze zählte.
+
+Ihr folgte tänzelnden Schrittes der eben so rundliche Gemahl. Er trug
+einen schwarzen Spitzbart und einen langen Nagel am kleinen Finger,
+dessen Pflege täglich längere Zeit in Anspruch nahm.
+
+Seine Stimme verriet, daß ihr Besitzer einem guten Trunk nicht abhold
+war.
+
+Hinter dem Ehepaar tauchte plötzlich die Gestalt des Kommandeurs auf.
+
+Alle traten ehrfurchtsvoll zur Seite und machten eine tiefe Verbeugung
+vor ihm, während er auf Rittmeister König und Gattin zuschritt. Die
+krummen Beine im Verein mit dem derben Gesicht gaben der ganzen
+Erscheinung des Obersten von Kronau nicht viel von dem, was man sich
+unter einem Regimentskommandeur vorstellt, in Civil hätte man ihn
+vielleicht für einen Agrarier gehalten, dessen Sprache den Masuren nicht
+verleugnen konnte. Auch blinkte ihm stets eine Träne im Auge, welche er,
+sobald sie ihm entsprechend groß erschien, durch eine stereotype
+Kopfbewegung seinem Gegenüber vor die Füße oder auf den Rock zu
+schleudern liebte.
+
+Die ihm folgende Dame mit dem Gouvernantengesicht, in ein schlecht
+sitzendes perlgraues Kostüm mit rotem Sammetkragen gezwängt, war seine
+Gattin.
+
+Fast zu gleicher Zeit erschien auch der noch fehlende Teil der
+Gesellschaft, an der Spitze Oberleutnant Borgert. Seine stechenden Augen
+ruhten nur selten auf dem, welchen er einer Ansprache würdigte, seine
+Figur war korpulent, dabei aber elastisch und schmiegsam. Hinter ihm
+stand der Oberleutnant Leimann, eine kleine, etwas gebeugte Erscheinung
+mit einem Buckelansatz und viel zu kurzem Halse. Zwischen den
+hochgezogenen Schultern saß ein birnenförmiger Kopf mit zwei kleinen
+Schweinsäuglein, welche meist unstät umherirrten oder so
+zusammengekniffen waren, daß man sie nicht sah. Das an einer Schnur
+hängende Einglas setzte er nie auf, denn er fürchtete, sich lächerlich
+zu machen.
+
+Diese beiden Herren wohnten in einem Hause und waren eng mit einander
+befreundet. Vielleicht hatte sie ein chronischer Mangel an Kleingeld
+zusammengeführt, was ihnen jedoch kein Grund war, sich irgend einen
+Wunsch zu versagen, vielmehr lebten sie, als seien sie die Erben reicher
+Häuser.
+
+»Verzeihen Sie, gnädige Frau«, wandte sich Leimann an Frau König, »daß
+meine Gattin nicht mitkommt, sie hat wieder ihr altes Leiden, Sie wissen
+ja, Migräne!« Dabei machte er ein Gesicht, als glaube er selbst nicht
+recht daran. »Sie wird natürlich nachkommen, sobald sie sich besser
+fühlt.«
+
+»Das tut mir sehr leid,« entgegnete Frau Klara liebenswürdig, »nun,
+hoffentlich hält das Kopfweh nicht lange vor! Es sollte mich freuen,
+Ihre Gattin bald begrüßen zu können.«
+
+Als nun auch der kleine Leutnant Bleibtreu, ein besonderer Freund des
+Hauses und einziger Offizier in Rittmeister König's Schwadron, zur
+Stelle war, meldete der Diener, es sei angerichtet. So begaben sich denn
+die Herrschaften nach dem Eßzimmer und ließen sich an dem mit großer
+Sorgfalt gedeckten Tische nieder.
+
+Anfangs herrschte Schweigen, erst als ein jeglicher seinen Teller
+gefüllt, kam die Unterhaltung allmählich in Gang.
+
+»Das Wetter ist in den letzten Tagen so schön, daß man bald mit dem
+Netzspiel beginnen kann,« bemerkte Frau Oberst von Kronau.
+
+»Gewiß«, erwiderte der Oberst mit vollem Munde, »ich werde nächste Woche
+eine Versammlung des Klubs anberaumen, und dann kann's losgehen!«
+
+»Ach ja, entzückend,« rief Frau Stark begeistert, »ich spiele
+leidenschaftlich gern, Sie spielen doch alle mit, meine Herrschaften?
+Sie, meine liebe kleine Frau Kahle, waren ja schon früher eine der
+Eifrigsten. Und wie ist es mit Ihnen, Frau König?«
+
+»Ich lasse es besser, denn es bekommt mir nicht.«
+
+»Und Ihr Gatte?«
+
+»Ich spiele nicht Tennis,« erwiderte der Rittmeister, »Sie wissen ja,
+ich kenne das Spiel gar nicht, aber ich sehe es ganz gern, wenn es von
+graziösen Damen gespielt wird.«
+
+Frau Stark kniff die Lippen zusammen und sandte dem Rittmeister einen
+wütenden Blick. War das mit den »graziösen Damen« nicht auf sie gemünzt?
+Es geschah ihr aber ganz recht, denn es war geradezu lächerlich, wie die
+ältliche Frau stets die jugendliche spielen wollte, hatte sie doch noch
+in ihren alten Tagen einen Schwadronsgaul bestiegen, um reiten zu
+lernen, weil andere Damen es taten.
+
+»Vom Civil werden sich wohl auch mehrere beteiligen«, ergriff der Oberst
+wieder das Wort, »ich lasse eine Liste herumgehen.«
+
+Alle sahen sich ungläubig an, denn mit dem Civil hatte es der Oberst
+durch mancherlei Geschichten gründlich verdorben, man mied ihn, wo man
+konnte.
+
+»Ich spiele auch mit,« warf Landrat von Konradi ein, »vorausgesetzt, daß
+es nicht zu heiß wird. Nächste Woche habe ich aber noch keine Zeit, ich
+muß erst Erbsen legen, sonst wird es zu spät.«
+
+»Allerdings,« rief König dazwischen, »sonst geraten sie nicht mehr
+ordentlich.«
+
+»Wie? Erbsen geraten nicht? Erbsen geraten immer, wenn man es richtig
+anfängt,« entgegnete fast gereizt Frau Oberst.
+
+»Das kann man doch aber nicht behaupten, gnädige Frau, da spricht doch
+vieles mit!«
+
+»Nein, nicht im geringsten, Herr Rittmeister, es gibt ein Rezept, nach
+dem sie geraten _=müssen=_!«
+
+»Da wäre ich doch neugierig, denn voriges Jahr sind mir fast alle Erbsen
+verdorben.«
+
+»Sie müssen sie bei Mondenschein legen, und niemand darf dabei ein Wort
+reden, dann geraten sie immer, ich sehe es ja bei meinen. Ich bin aber
+nicht etwa abergläubisch, meine Herrschaften, aber es ist so.«
+
+Wenn Frau Oberst etwas behauptete, war ein Widerspruch eigentlich ein
+kühnes Unterfangen, Leutnant Bleibtreu aber äußerte lachend:
+
+»Wenn man dann bei Sonnenschein den Speck dazwischen säet, gibt es
+gleich Erbsen mit Speck.«
+
+»Sie müssen es ja wissen, Herr Leutnant, spotten Sie nur, es ist doch
+so!« entgegnete die Frau Oberst giftig. »Übrigens nächste Woche habe
+ich auch noch keine Zeit, meine Gänseleberpastete ist noch nicht
+fertig!«
+
+»Sie kochen sie selbst ein?« fragte interessiert der Landrat.
+
+»Gewiß, ich koche immer sechs Töpfe, mein Mann ißt das Zeug so
+schrecklich gern.«
+
+»Woher beziehen Sie denn die Trüffeln dazu? Ich suche nämlich gerade
+eine gute Quelle.«
+
+»Was, Trüffeln? Es schmeckt ohne Trüffeln genau so gut, das ist nur
+Einbildung.«
+
+»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, das ist ja beinahe die Hauptsache an
+der ganzen Pastete!«
+
+»Gott bewahre, ich nehme nie Trüffeln!«
+
+»Gänselebern muß man bei einer Mondfinsternis kochen, gnädige Frau, dann
+werden sie schön dunkel!« bemerkte spöttelnd Leutnant Pommer.
+
+»Ach, verhöhnen Sie mich nur! Ich weiß, wie es ist, und so bleibt es!«
+
+So blieb es auch, denn keiner wagte noch eine Einwendung.
+
+Frau Oberst mußte ihre fließende Rede unterbrechen, denn alle erhoben
+sich jetzt, um die eben eintretende Frau Oberleutnant Leimann zu
+begrüßen. Frisch und rosig, mit einem bezaubernden Lächeln auf den
+Lippen, erschien sie in der Tür des Eßzimmers.
+
+»Seien Sie mir nicht böse, Frau König, ich hatte noch einige wichtige
+Briefe zu schreiben. Aber wollen die Herrschaften nicht Platz behalten?«
+
+»Ich denke, Sie hatten Kopfweh?« hieß es von allen Seiten.
+
+»Kopfweh? Ja richtig, das hatte ich auch. Man vergißt es ganz, wenn man
+so oft darunter leidet.«
+
+Sie war eine schöne junge Frau von fünfundzwanzig Jahren und
+geschmackvoll gekleidet. Gegenüber von Oberleutnant Borgert nahm sie
+ihren Platz ein.
+
+Das Gespräch erhielt jetzt eine allgemeinere Wendung, man redete von
+diesem und jenem und ließ sich auch die vorzüglichen Speisen schmecken,
+denn es gab »Labskaus«, das Spezialgericht aus Frau Clara's Küche. Der
+Adjutant hatte den Mund noch nicht geöffnet, außer um riesige Bissen
+hineinzuschieben. Ab und zu gab er durch einen unverständlichen Laut
+seinen Beifall zu erkennen. Er aß noch immer, als schließlich die
+Hausfrau die Tafel aufhob. Man wünschte sich gegenseitig »gesegnete
+Mahlzeit« und suchte die Nebenräume auf, wo den Damen Kaffee, den Herren
+Likör, Bier und Cigarren gereicht wurden.
+
+Bald hatten sich wieder plaudernde Gruppen gebildet, während der Oberst
+den Ort für geeignet hielt, mit seinem Adjutanten eine dienstliche
+Angelegenheit zu erledigen. Dann begab er sich in's Nebenzimmer und
+begann ein lebhaftes Gespräch mit Frau Stark, aus welchem, da es
+halblaut geführt wurde, nur abgebrochene Sätze von Oberleutnant Borgert
+aufgefangen werden konnten.
+
+»Sie _=müssen=_ es erreichen,« hörte er die Dame flüstern.
+
+»Hoffentlich geht zur Besichtigung alles gut,« gab der Oberst zur
+Antwort, »die Vorgesetzten sind seit dem letzten Mal auf Ihren Gatten
+aufmerksam geworden, im Stall fing es an, wo die Streu nicht den
+Wünschen der Herren entsprach.«
+
+»Ich gehe jeden Morgen durch den Stall und pfeife die Unteroffiziere an.
+Aber freilich, wenn dann mein Mann zur Besichtigung wieder den Kopf
+verliert, kann ich nicht helfen. Das letzte Mal habe ich ja alles durch
+den Feldstecher mit angesehen, und es ging ganz gut bis zuletzt, wo das
+Abschwenken in Züge nicht klappte. Auch war sein Kommando falsch.«
+
+»Nun, hoffen wir das Beste! Wenn man Major werden will, heißt es eben
+doppelt aufpassen, und stimmt etwas nicht, werden die Vorgesetzten
+gleich stutzig.«
+
+»Es ist ganz gleich, Herr Oberst, mein Mann muß Major werden! Wenn Sie
+uns fallen lassen, dann......«
+
+»Seien Sie ohne Sorge, gnädigste Frau! ich habe ihm eine glänzende
+Konduite geschrieben, wenn ich es auch nicht verantworten kann, Sie
+sehen also, ich tue mein Möglichstes.«
+
+»Das sind Sie mir auch schuldig, Herr Oberst, denn ohne mich wären Sie
+heute...... nun, Sie wissen ja.«
+
+Rittmeister König trat hinzu.
+
+»Reisen Herr Oberst nächste Woche mit an die Mosel zur Weinprobe? Herr
+Landrat von Konradi fährt auch mit. Es sollen tadellose Sorten zum
+Verkauf kommen.«
+
+»Gewiß, mein lieber König, Sie wissen ja, bei so etwas bin ich immer
+dabei. Mit Ihnen gehe ich gerne proben, denn ich habe heute wieder
+gesehen, daß Sie eine tadellose Zunge haben.«
+
+»Sehr schmeichelhaft für mich, Herr Oberst! Aber ich sehe, Herr Oberst
+rauchen nicht. Es steht alles in meinem Zimmer.«
+
+Der Oberst schritt ins Nebenzimmer, wo er Frau Kahle mit Leutnant Pommer
+in der einen und mehrere junge Herren mit Frau Rittmeister König in der
+andern Ecke plaudern sah. Oberleutnant Leimann trat gerade aus dem
+Eßzimmer ein, hinter ihm seine Gattin mit mürrischer Miene, die sich
+aber sofort aufhellte, als Oberleutnant Borgert herantrat und seine
+Hausgenossin in's Gespräch zog.
+
+»Nun, was haben Sie denn wieder für wichtige Privatangelegenheiten,
+meine Gnädigste?«
+
+»Ich? nichtsweiter! Mein Mann hat zur Abwechselung ein bißchen
+geschimpft, Sie kennen ja seine geschmacklose Art, über alles gleich
+grob zu werden.«
+
+»Was gibt es denn aber schon wieder? Hat Ihnen der Auftritt heute
+Nachmittag nicht genügt?«
+
+»Jetzt ist er wütend, weil ich mich mit Briefschreiben entschuldigt
+hatte, er hatte mich mit Kopfweh entschuldigt. Ich habe diese ewigen
+Korrekturen satt.«
+
+»Das ist ein Scheidungsgrund, gnädige Frau,« scherzte der Oberleutnant.
+»Suchen Sie sich einen anderen Gatten, wenn Ihnen dieser nicht zusagt.«
+
+»Sie haben gut Witze machen, Sie glauben gar nicht, wie mir manchmal
+alles zuwider ist.«
+
+»Dann erst recht, gnädige Frau! Wählen Sie unter den Edlen des Landes!
+Ich kann Ihnen sogar gute Vorschläge machen.«
+
+»Dann schießen Sie einmal los!« scherzte Frau Leimann mit schelmischem
+Augenaufschlag.
+
+»Ich wüßte schon einen, wie wäre es zum Beispiel,..... nun, mit mir?«
+
+»Der Vorschlag ließe sich hören, aber erst müssen Sie mir sagen, was Sie
+mir bieten können!«
+
+»Setzen wir uns und bereden wir den hochwichtigen Fall!« sagte Borgert
+lachend, und sie ließen sich auf dem Divan nieder.
+
+»Also, passen Sie auf! Ich biete Ihnen ein elegantes Heim, einen Wagen
+mit Pferden, eine Villa am Züricher See und ein Heer dienstbarer
+Geister!«
+
+»Und wer bezahlt das alles?«
+
+»Bezahlen? Wer tut denn das noch? Es ist gänzlich aus der Mode und
+geschmacklos, man verplempert damit das meiste Geld. Ich bezahle nie und
+lasse mir nichts abgehen wie Sie sehen.«
+
+»Das ist ja alles sehr verlockend, aber noch habe ich ja meinen Mann,«
+scherzte Frau Leimann weiter.
+
+»Gewiß, den haben Sie noch, aber Sie können sich ja einstweilen an mich
+gewöhnen.«
+
+Frau Leimann nickte lächelnd und stützte den Kopf in die Hände, während
+sie träumerisch auf den Teppich sah.
+
+Borgert wurde plötzlich ernst, und als die letzten Gäste ins Nebenzimmer
+verschwunden waren, suchten seine Augen die seiner Nachbarin.
+
+»Was sehen Sie mich denn so an, Herr Borgert? Es kann einem ja Angst
+werden!«
+
+»Ich denke so vieles, gnädige Frau, was ich nicht sagen darf. Im Scherz
+spricht man leicht über Dinge, die scheinbar nur ein solcher sind, in
+Wahrheit aber berühren uns diese Dinge oft tiefer.«
+
+»Sie sprechen wieder in Rätseln, mein Lieber, und es ist wohl an der
+Zeit, daß wir ein anderes Thema wählen. Aber wollen wir denn nicht auch
+hineingehen? Man könnte sich wundern, uns so allein zu finden, und
+wieder klatschen.«
+
+Dabei erhob sie sich, und als Borgert schnell noch ihre Hand ergriff, um
+sie zu küssen, machte sie keine ernstliche Anstrengung, ihm zu wehren,
+dann trat sie mit der Miene eines unschuldigen Kindes in das Wohnzimmer.
+Borgert aber blieb in dem matt erhellten Raume sitzen, zog einen Brief
+aus dem Aufschlag des Überrocks und las ihn. Dann steckte er das Papier
+mit einem unterdrückten Fluch wieder ein und versank in Nachdenken.
+
+Im Nebenzimmer war es inzwischen lebendig geworden. Das Stimmen der
+Geigen, das Brummen eines Cellos und einige Klavier-Akkorde riefen alle
+Gäste herbei, denn jetzt sollte der musikalische Teil des Abends seinen
+Anfang nehmen.
+
+Am Harmonium hatte Rittermeister König Platz genommen, während seine
+Gattin die Klavierbegleitung übernahm. Landrat von Konradi und
+Oberleutnant Leimann standen mit den Geigen bereit, Leutnant Bleibtreu
+hatte sich, das Cello zwischen den Knieen, im Hintergrunde
+niedergelassen. Die Zuhörer saßen erwartungsvoll in den kleinen und
+großen Sesseln, am Kamin, und um den mit Biergläsern besetzten Tisch
+herum.
+
+Das Spiel begann, ein Trio von Reinhardt. Es klang gut, denn alle hatten
+ihre Partie fleißig geübt, und so machte der Vortrag einen angenehmen
+Eindruck. Nur der Landrat wiegte sich bei jedem Bogenstreich von einem
+Fuß auf den anderen und begleitete sein Spiel mit einem störenden
+Schnaufen. Auch Leimann gehörte zu den Musikern, welche man bei Ausübung
+ihrer Kunst nicht ansehen darf, um sich den Genuß nicht zu verderben,
+denn sein Kopf war jetzt ganz zwischen die Schultern gerutscht und seine
+noch mehr gebeugte Figur bot von hinten kein sehr harmonisches Bild. Der
+Cellist griff manchmal daneben, spielte dann aber die folgenden Töne um
+so kräftiger, damit man hören konnte, wie er sein Instrument
+beherrschte. -- Dem Trio folgte je ein Solostück der beiden Geiger,
+sowie eine von Ehepaar König mit guter Technik und warmer Empfindung
+vorgetragene Rhapsodie von Liszt. -- Zum Schluß waren alle des Lobes
+voll und jeder suchte durch ein kunstgerechtes Urteil sein
+Musikverständnis zu bekunden.
+
+»Ach, mein lieber Leutnant Bleibtreu,« rief Frau Stark dazwischen, »Sie
+müssen mir auch Cellounterricht geben, ich spielte das Instrument in
+meiner Jugend, aber in der langen Zeit habe ich es ganz verlernt.«
+
+Daß seit ihrer Jugend eine lange Zeit vergangen, wurde von keiner Seite
+bezweifelt, und König flüsterte Bleibtreu zu, sie könne mit ihren dicken
+Fingern einen einzelnen Ton ja gar nicht greifen.
+
+Borgert war während des Spiels in den Durchgang zum Nebenzimmer getreten
+und schaute mit gelangweilter Miene den Gästen zu. Manchmal warf er
+einen forschenden Blick auf Frau Leimann, welche mit träumerischen, halb
+geschlossenen Augen weit in einem bequemen Sessel zurückgelehnt saß.
+
+Die Spieler hatten jetzt auch am Tische Platz genommen, und die
+Unterhaltung begann von neuem über gleichgültige Tagesfragen, wobei Frau
+von Kronau den Löwenanteil nahm, denn ihr Mundwerk stand selten einen
+Augenblick still.
+
+So verging rasch die Zeit, und als die Kaminuhr ½11 zeigte, schaute der
+Oberst verständnisinnig nach seiner Ehehälfte, welche sich darauf mit
+einem leichten Kopfnicken erhob und zur Frau des Hauses wandte.
+
+»Liebe Frau König, es war reizend von Ihnen, uns den Genuß des heutigen
+Abends zu verschaffen, es ist aber so spät geworden, daß wir uns
+verabschieden müssen. Nochmals vielen Dank!« Dabei reichte sie ihr die
+Hand und schüttelte sie kräftig.
+
+»Wollen Sie denn wirklich schon gehen? Es ist ja noch nicht einmal 11
+Uhr. Einen Augenblick können Sie doch noch bleiben!«
+
+Als Frau König aber sah, wie auch der Oberst, Familie Stark und der
+Landrat von den übrigen Gästen Abschied nahmen, gab sie alle weiteren
+Überredungskünste auf, im Grunde ihres Herzens nicht unzufrieden, jetzt
+nur noch einen kleinen Kreis um sich zu behalten, bei welchem man nicht
+jedes Wort auf die Goldwage legen und fürchten zu müssen glaubte, der
+Oberst könne irgend etwas unpassend finden und am nächsten Tage zum
+Gegenstand einer dienstlichen Besprechung machen. Denn darin leistete er
+Märchenhaftes.
+
+Nachdem die Herrschaften das Haus verlassen, rückten die
+Zurückgebliebenen ihre Stühle näher zusammen und ein frisches Glas Bier
+wurde gereicht.
+
+Das anfängliche Schweigen ward durch Borgert unterbrochen.
+
+»Haben Sie gesehen, wie diese Stark mit dem Oberst wieder geflüstert
+hat? Diese Manieren sollten sie doch zu Hause lassen, denn da scheint
+man ja nicht sonderlich penibel zu sein. Denken Sie, neulich stand ich
+dabei, wie Stark mit dem Pantoffel nach seiner Gattin warf, welche mich
+in einem schmutzigen Morgenrock empfangen hatte.« --
+
+»Das ist noch gar nichts,« rief Leimann dazwischen, »als sie kürzlich
+in meiner Gegenwart wieder einen Krakehl miteinander hatten, brachte der
+Dicke seine Frau einfach mit den Worten: »Halt's Maul!« zum Schweigen.«
+
+»Es scheint überhaupt dort manchmal nicht ganz friedlich zuzugehen,«
+entgegnete der Adjutant.
+
+»Vorgestern hatte sich Stark im »Weißen Schwan« etwas festgetrunken, und
+als er so ziemlich blau war, kam seine Frau, machte ihm eine Szene und
+nahm ihn unter dem Gelächter der übrigen Gäste mit nach Hause. Dort
+werden sie sich nachher wohl nicht gerade geküßt haben.«
+
+»Das kommt übrigens öfter vor, sie holt ihn sogar aus dem Kasino zum
+Essen und nennt ihn vor den Ordonnanzen einen Lüdrian,« warf ein anderer
+ein.
+
+»Nun ja,« sagte König, »sie paßt eben auf ihren Mann gut auf, denn er
+will jetzt Major werden, oder besser gesagt, sie Majorin.«
+
+»Aber das ist ja ganz ausgeschlossen,« rief Borgert entrüstet, »wenn
+dieser unfähige Patron Major wird, dann werde ich General. Es scheint ja
+allerdings, als ob der Oberst alles für ihn aufböte!«
+
+»Dafür hat er seinen Grund!« entgegnete Leimann bedächtig.
+
+»Wieso?«
+
+»Kennen Sie denn die Geschichte nicht? Die Spatzen pfeifen sie schon von
+den Dächern.«
+
+»Nein, erzählen Sie, das ist ja rasend interessant!« Dabei rieb sich
+Borgert vergnügt die Hände und rückte etwas näher zu seinem Freunde
+heran.
+
+»Voriges Jahr hatte der Oberst bekanntlich durch eine seiner berühmten
+Taktlosigkeiten einen Herrn vom Civil beleidigt. Dieser schickte ihm
+eine Forderung. Da wurde es dem guten Oberst doch etwas flau zu Mute,
+denn mit dem Munde ist er stets voran, hat er aber etwas zu riskieren,
+dann sitzt ihm das Herz in der Hose. Da ging seine Freundin, diese
+Stark, zu jenem Herrn hin und sagte, sie sei an der ihm zugefügten
+Kränkung schuld, indem sie eine unwahre Behauptung ausgesprochen habe.
+Sie hat dem Oberst also das Leben gerettet, denn der andere ist als
+unfehlbarer Schütze bekannt wie ein bunter Hund. Darum hat sie ihn jetzt
+ganz in der Tasche, und wenn sie ihm etwas befiehlt, gehorcht er wie ein
+Stubenhund. Was dabei herauskommt, sehen Sie ja alle Tage.«
+
+»Aber das ist ja großartig,« rief triumphierend Borgert, »wissen Sie
+noch so Geschichtchen? Es ist überhaupt längst Zeit, daß man diese
+beiden aufgeblasenen Personen abhalftert. Er hat Manieren wie ein
+Bursche und sie wie eine Waschfrau, ich werde einmal herumhorchen und
+Material sammeln. Es ist eine Schande, daß man sich dieses Weib gefallen
+lassen muß.«
+
+»Sie soll ja früher auch sonderbare Beziehungen zu einem adligen Herrn
+gehabt haben, man munkelt so etwas!«
+
+»Von wem wissen Sie denn das wieder?«
+
+»Mein Bursche hat es mir neulich erzählt, der ist aus ihrer Heimat.«
+
+»Was Sie nicht sagen, da muß ich doch einmal gründlich nachforschen,
+denn das Geld für ein Auskunftsbureau ist sie ja doch nicht wert,
+diese.... Nun, ich kann das Wort nicht aussprechen, das mir auf der
+Zunge schwebt.«
+
+»Dann wundert es mich aber, daß sie überall so großartig auftritt, wenn
+sie so viel auf dem Kerbholz hat.«
+
+»Das ist eben ihre Manier!« entgegnete Müller wichtig.
+
+»Dieselbe Sache wie mit dem Wagen. Den geschmacklosen Karren hat sie
+irgendwo aufgetrieben, setzt den Burschen im Cylinder und gelben
+Stiefeln hinten drauf, spannt zwei Schwadronsgäule ein und fährt den
+Leuten etwas vor. Dabei biegen sich die Axen, wenn die dicke Person
+darin sitzt. Daß sie täglich auch ein Dienstpferd reitet, dagegen sagt
+der Oberst nichts, obwohl in den Vorschriften beides streng verboten
+ist. Frißt ein anderer aber nur eine Kleinigkeit aus, so steckt er ihn
+drei Tage ein und kommt sich höllisch schneidig vor.«
+
+»Der Oberst ist eben ein ganz pflaumenweicher Bruder, dabei schnurrt er
+wie gedruckt. Einem mir bekannten Herrn hat er erzählt, wie
+ausgezeichnet er mit dem Civil stände, und wie sein Tennisplatz belagert
+sei. Er spielt aber doch meist allein, wer sich vor diesen Leuten
+drücken kann, tut es doch sicher.«
+
+»Ich wette, daß er vor der nächsten Versammlung des Tennisklubs eine
+dienstliche Besprechung ansetzt, dann hat er uns alle in der Falle.«
+
+ * * * * *
+
+Während dieser Unterhaltung hatte Frau Leimann mit leuchtenden Augen dem
+Oberleutnant Borgert zugehört, wie er in seiner gewandten Weise über den
+Oberst und Stark's zu Felde zog, der Rittmeister sog nachdenklich an
+seiner Cigarre und unterdrückte ein Gähnen, während seine Gattin in
+Gedanken versunken mit einer Quaste der Tischdecke spielte.
+
+»Warum so ernst, meine Gnädige?« redete Borgert sie an.
+
+»Ich dachte gerade darüber nach, wie Sie später über uns reden würden,
+wenn uns einmal irgend etwas auseinanderbringt!« erwiderte sie
+lächelnd.
+
+»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, Sie scheinen an meiner guten
+Erziehung zu zweifeln, trauen Sie mir so etwas zu? Und überhaupt, wie
+könnte........«
+
+Er brach seine Rede ab, denn Frau Kahle hatte sich erhoben, um Abschied
+zu nehmen, mit ihr Leutnant Pommer, welchen sie um Begleitung bat, denn
+ihr Gatte befand sich auf einer Dienstreise.
+
+Der Kreis war somit wieder etwas kleiner geworden, und als man von neuem
+um den Tisch Platz genommen hatte, bemerkte Borgert:
+
+»Dieser Kahle mit dem Schusterjungengesicht könnten wir eigentlich
+einmal ein neues Kleid schenken, außer der verwaschenen Fahne, die sie
+immer trägt, scheint sie nichts zum Anziehen zu haben.«
+
+»Sie sollten sie erst einmal im Hause sehen,« entgegnete wegwerfend
+Müller, »da sieht sie aus wie ein malproperes Dienstmädchen; das
+schmutzige Hauskleid einmal zu flicken, scheint sie auch keine Zeit zu
+haben, ihr Junge läuft ebenfalls immer herum wie so ein Gassenbube aus
+der Unterstadt. Außerdem kann der Bengel schon lügen, daß es eine Lust
+ist.«
+
+»Das hat er von seiner Mutter!« lachte Borgert, als ihn ein
+vorwurfsvoller, kalter Blick aus Frau Königs Augen traf und zum
+Schweigen brachte. So ward die Unterhaltung allmählich eintöniger. Der
+Rittmeister gähnte schon etwas deutlicher, und Leimann war ganz in
+seinem Sessel zurückgesunken und hielt nur noch mühsam die Augen auf,
+während seine Gattin eine äußerst gelangweilte Miene zeigte, wodurch
+ihre Züge alle Anmut und Schönheit verloren und alt, ja abgelebt
+erschienen. Müller verdaute noch immer, und so schien es an der Zeit,
+sich zum Aufbruch zu rüsten.
+
+Unter lebhaften Versicherungen, wie reizend der Abend gewesen, trennte
+man sich, und der Rittmeister geleitete seine Gäste die Treppe hinab, um
+dann den Riegel an der Haustür vorzuschieben.
+
+Als er wieder im Wohnzimmer stand, sagte er, die Gasflammen ausdrehend,
+zu Frau Clara: »Ein interessanter Abend! Vor diesen beiden Herren heißt
+es sich in Acht nehmen!«
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Zweites Kapitel.
+
+
+»Unteroffizier Meyer! Lassen Sie gefälligst den Mist aus dem Stalle
+schaffen, das ist ja eine schamlose Schweinerei! Was? die Stallwache ist
+nicht da? Dann machen Sie es selbst, es fällt Ihnen keine Perle aus der
+Krone. Vorwärts, dann bringen Sie mir das Parolebuch!«
+
+»Zu Befehl, gnädige Frau.«
+
+Frau Rittmeister Stark schritt, von zwei großen struppigen Hunden
+begleitet, mit langen Schritten im Stalle auf und ab. Sie trug ein
+schmutziggraues, schlechtsitzendes Reitkleid und einen runden Hut. In
+der Rechten hielt sie eine Reitgerte, welche sie manchmal sausend durch
+die Luft fahren ließ, daß sich die Hunde ängstlich hinter ihr
+verkrochen. Mit scharfem Blick musterte sie alles, die Streu, die
+Namentafeln über den Ständen der Pferde, und studierte eifrig das
+schwarze Brett, auf dem mit Kreide der Tagesdienst geschrieben stand.
+Hinter zwei Pferden, den einzigen beim Ausrücken zurückgebliebenen,
+machte sie Halt und schaute mit zornigen Augen auf das zottige,
+schlecht geputzte Fell der mageren Tiere, deren Kruppen mit den
+Hüftknochen ein gradliniges Dreieck bildeten. Dann hob sie dem einen
+Wallach den Hinterfuß und besah den Huf, holte ein Notizbuch aus der
+Rocktasche und notierte: »Remus Nr. 37 fauler Strahl, vorn links neues
+Eisen.« Darauf schritt sie die Treppe zum Heuboden hinauf. Dort lagen
+zwei Mann der Stallwache in süßem Schlummer, ohne das Eintreten der
+Schwadronsmutter zu bemerken. Wütend fuhr sie die erschrockenen Schläfer
+an:
+
+»Faules Pack, schert Euch an die Arbeit, sonst mache ich Euch lebendig,
+ihr trägen Lümmels ihr!«
+
+Und sie stürzten an die Futtermaschine, als stände der leibhaftige
+Teufel hinter ihnen. Dann stieg sie die Treppe hinab und ging
+Unteroffizier Meyer entgegen, welcher atemlos mit dem Parolebuche ankam.
+Er schlug die Sporen klirrend zusammen und hielt der Gestrengen das Buch
+vor.
+
+»Halten Sie es gefälligst, während ich lese, oder meinen Sie, ich wollte
+mir die Finger an dem schmutzigen Umschlag fettig machen? Hier steht,
+daß morgen Revision des Sattelzeuges ist. Haben Sie alles in Ordnung?«
+
+»Ich will den Herrn Wachtmeister fragen.«
+
+»Vorwärts holen Sie ihn, aber Galopp!«
+
+Der Wachtmeister war nicht sehr entzückt, daß man ihn in seiner Ruhe
+störte, denn die Zeit, während welcher sich die Schwadron auf dem
+Exerzierplatz befand, war für ihn die angenehmste des Tages. So saß er
+denn bei einer Tasse Kaffee seiner Ehehälfte gegenüber und rauchte
+behaglich die Morgenzigarre, als Meyer den Wunsch der »Gnädigen«
+überbrachte.
+
+Zornig stampfte er auf und brummte:
+
+»Was fällt nur diesem Frauenzimmer ein, sie tut gerade, als hätte sie
+etwas zu sagen! Es ist ein Skandal, daß man sich das gefallen lassen
+muß, aber tut man es nicht, gibt es Stank mit dem Oberst, der tanzt ja
+ganz nach ihrer Pfeife.«
+
+Mißmutig schnallte er den Säbel um, stülpte die Mütze auf den kahlen
+Kopf und ging schimpfend die Treppe hinab. Langsam schlenderte er über
+den Kasernenhof dem Stalle zu und trat vor Frau Stark mit einem Gesicht,
+das sagen zu wollen schien: »Du kannst mir den Buckel herunterrutschen!«
+
+Sofort fuhr sie ihn an:
+
+»Wachtmeister, ist alles für morgen in Ordnung?«
+
+»Ich denke, will aber heute Abend nochmals nachsehen.«
+
+»Was, heute Abend? Sofort geschieht es, die Bummelei hat jetzt ein Ende.
+Außerdem verbitte ich mir Ihren brummigen Ton, sonst werde ich Sie dem
+Oberst melden. Bringen Sie mir jetzt mein Pferd.«
+
+»Das ist zum Fouragieren, alle Pferde sind mit ausgerückt, bis auf die
+beiden Lahmen dort!«
+
+»Was? Mein Pferd zum Fouragieren? Was ist das für eine neue Frechheit!
+Lassen Sie es sofort holen, der Unteroffizier kann zu Fuß gehen.«
+
+Da wandte sie sich um, als sie Schritte vernahm, und, den Oberleutnant
+Borgert erblickend, rief sie ihm in schmelzendem Tone zu:
+
+»Ah, sehe ich recht, mein lieber Oberleutnant Borgert, nicht wahr? Schon
+so früh im Dienst? Ich wollte gerade den Pferden meines Gatten etwas
+Zucker bringen, sehe aber, sie sind nicht da, mein lieber Mann rückt
+immer so entsetzlich früh aus.«
+
+»Ihr Interesse für die Schwadron muß ich loben, gnädigste Frau, habe Sie
+schon so oft bewundert, wenn Sie im Stalle Befehle erteilten.«
+
+»Befehle? Ich richte nur dann und wann kleine Bestellungen an den
+Wachtmeister aus, wenn mein Mann etwas vergessen hat. Man muß sich doch
+auch etwas um die Schwadron kümmern.«
+
+»Sie sind zwar die »Gefreite« Ihres Gatten, aber ich sehe, Sie führen
+das Regiment. Meinen Glückwunsch zu diesem Avancement!«
+
+»O Sie kleiner Schäcker! Sie machen immer zu niedliche Scherze! Ich sehe
+Sie doch heute Abend im Kasino?«
+
+»Gewiß, gnädige Frau, wir haben bereits um 5 Uhr eine dienstliche
+Besprechung.«
+
+»Ach richtig, das hätte ich fast vergessen. Sie wird nicht lange dauern,
+es gibt nur einige Kleinigkeiten.«
+
+»Sie wissen.....«
+
+»Aber gewiß, man interessiert sich doch auch ein wenig. Ich habe den
+Oberst auf Verschiedenes aufmerksam gemacht, das wird er wohl besprechen
+wollen.«
+
+»Ich bin neugierig darauf! Doch da sehe ich gerade den Rittmeister
+König, mit welchem ich etwas zu erledigen habe. Guten Morgen, meine
+Gnädigste!«
+
+»Adiö, mein Lieber, auf Wiedersehen!« Dabei hielt sie ihm die Hand vor
+den Mund, welche in einem schmutzigen Reithandschuh ihres Gatten
+steckte.
+
+Während Frau Stark sich wieder dem Wachtmeister zuwandte, eilte Borgert
+dem Rittmeister König nach, der gerade in den Hof der dritten Schwadron
+einbog.
+
+»Guten Morgen, Herr Rittmeister! Ich bitte sehr um Verzeihung, wenn ich
+störe, aber eine dringende Angelegenheit veranlaßt mich, eine Bitte
+vorzutragen.«
+
+»Nanu, was gibt es denn,« fragte erstaunt der Rittmeister, »ist es denn
+etwas so Wichtiges?«
+
+»Heute Nachmittag wird der Oberst wohl wegen der Kasinorechnungen
+sprechen, und da wäre es mir vor den jüngeren Herrn außerordentlich
+peinlich, wenn er dabei meinen Namen nennen würde.«
+
+»Aber ich kann Ihnen das Geld jetzt nicht geben, es war mir schon
+schwer, vor 8 Tagen die 100 Mark für Sie aufzutreiben.«
+
+»Wenn ich trotzdem meine Bitte wiederhole, Herr Rittmeister, so tue ich
+es, weil ich mich in einer außerordentlich peinlichen Lage befinde. Habe
+ich nicht bis zum Abend 400 Mark, so erwachsen mir die größten
+Unannehmlichkeiten und unabsehbare Folgen.«
+
+»Das ist ja alles ganz gut und schön, aber ich habe das Geld einfach
+nicht!« entgegnete König achselzuckend.
+
+Einen Augenblick sahen beide schweigend vor sich hin, dann brachte
+Borgert zögernd hervor:
+
+»Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte, Herr Rittmeister?«
+
+»Nun, und der wäre?«
+
+»Ich bitte aber das, was ich sage, nicht falsch zu verstehen! Könnte man
+nicht einstweilen die Schwadronskasse in Anspruch nehmen, da es sich nur
+um kurze Zeit handelt?«
+
+»Aber um Gotteswillen, mein Lieber, was muten Sie mir zu! Ich kann doch
+keine Kasse angreifen!«
+
+»Ich fände darin insofern kein Vergehen, da Herr Rittmeister doch allein
+für die Kasse verantwortlich sind und ein Eingriff in die Kasse nicht
+vorliegt, sondern nur das Entnehmen eines Betrages, der sofort wieder
+ersetzt werden kann!«
+
+»Nein, nein, das geht beim besten Willen nicht!«
+
+»Aber ich bin völlig ratlos, Herr Rittmeister, was ich machen soll,«
+entgegnete Borgert in wehleidigem Tone.
+
+König überlegte und drehte sinnend seinen Schnurrbart. Eigentlich wäre
+es schlau gewesen, sich diesen Mann, der mit seiner spitzen Zunge und
+seinem Einfluß auf das gesamte jüngere Offizierkorps unter Umständen
+einem sehr schaden konnte, wenn man einmal nicht mehr mit ihm stand,
+möglichst zu verpflichten. Die lumpigen 400 Mark lagen ja zu Hause im
+Schreibtisch, die hätte er ihm also ruhig geben können. Glaubte aber
+Borgert, das Geld entstamme der Schwadronskasse, so stand zu erwarten,
+er würde so bald nicht mit einem ähnlichen Anliegen kommen, wenn er die
+Schwierigkeiten sah und die unsauberen Wege, die man einschlagen mußte.
+So beschloß denn König, ihm das Geld aus eigener Tasche zu leihen, ihn
+jedoch in dem Glauben zu belassen, der Betrag sei der Kasse entnommen.
+
+»Gut,« sagte er nach einer Weile, »Sie sollen das Geld haben! Wann
+können Sie es bestimmt zurückbezahlen?«
+
+»In zehn Tagen ist alles glatt, Herr Rittmeister! Mein Wort darauf!«
+
+»Schön, heute Mittag können Sie auf's Bureau kommen!«
+
+»Meinen gehorsamsten Dank, Herr Rittmeister!«
+
+»Bitte, bitte, hoffentlich war es das letzte Mal! Jetzt muß ich aber
+fort, die Schwadron ist schon lange draußen!«
+
+Dabei reichte er Borgert die Hand, bestieg sein Pferd und ritt im Trabe
+zum Kasernenhof hinaus.
+
+Borgert eilte erleichtert und freudigen Herzens seiner Wohnung zu, der
+Dienst begann heute erst um 10 Uhr. Er hätte den Mann umarmen mögen, er
+war doch ein furchtbar anständiger Kerl und half einem immer aus der
+Klemme! Zehn Tage hieß eine lange Zeit, da würde schon irgend jemand Rat
+schaffen!
+
+Leimann wartete indes unruhig in Borgerts Zimmer, und als dieser jetzt
+freudestrahlend eintrat, wichen die Falten von seiner Stirn.
+
+»Hat er es getan?« rief er dem Freunde entgegen.
+
+»Natürlich, ohne Weiteres! Gehen Sie um elf Uhr auch zu ihm, Sie haben
+ja nur zweihundert Mark Rest von Ihrer letzten Gesellschaft her, er tut
+es glatt; was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.«
+
+Und als am Mittag die beiden Freunde im Kasino bei einer Flasche Eckel
+saßen, sah man an Leimann's ausgelassener Heiterkeit, daß auch er keine
+Fehlbitte getan. --
+
+ * * * * *
+
+Pünktlich um fünf Uhr standen sämtliche Herren des Offizierkorps mit
+Säbel und Mütze im Lesezimmer des Kasinos, als der Oberst mit
+Dienstmiene eintrat und von den Schwadronschefs die Meldung
+entgegennahm, daß »Alles zur Stelle« sei.
+
+»Meine Herren,« begann der Gestrenge, »ich habe Sie hierherbefohlen, um
+Einiges mit Ihnen zu besprechen. Ad 1. Ich möchte Sie ersuchen, bei
+Bällen und ähnlichen Gelegenheiten Tanzsporen zu tragen, damit
+unangenehme Zwischenfälle, wie vorgestern Abend, vermieden werden. Ein
+Herr, den ich nicht nennen will«, -- dabei fixierte er scharf den
+Leutnant von Meckelburg -- »hat nämlich mit seinen Sporen der Gattin des
+Herrn Rittmeisters Stark den ganzen Saum vom Kleide gerissen. Das darf
+nicht vorkommen, meine Herren, und ich werde künftig in ähnlichen Fällen
+Bestrafung eintreten lassen. Ferner ist es unter wohlerzogenen Menschen
+üblich, einer Dame nicht zuerst die Hand zu reichen. Tut es die Dame
+aber, dann erfordert wohl der gute Ton den in unseren Kreisen üblichen
+Handkuß. Daß einige von Ihnen, meine Herren, in diesem Punkt noch der
+Erziehung und Nachhülfe bedürfen, beweisen mir die diesbezüglichen
+Klagen einer Dame des Regiments.« Das bezog sich darauf, daß Leutnant
+Bleibtreu es kürzlich vorzog, Frau Stark gegenüber diese Höflichkeit zu
+unterlassen, da sie Handschuhe aus Hundeleder trug, welche noch dazu vom
+Regen durchnäßt waren.
+
+Eine Träne zu Boden schleudernd, fuhr er fort:
+
+»Ferner, meine Herren, verbiete ich Ihnen, eine andere Stadt ohne Urlaub
+aufzusuchen. Wer hinüber nach dem Nachbarort will, hat mich um Urlaub zu
+befragen, wenn der Weg auch nur ein paar Minuten weit ist. Sie wissen
+alle, daß zwei Herren des Regiments unter betrübenden Umständen ihren
+Abschied nehmen mußten, weil sie dort das Pflaster nicht vertragen
+konnten und Schulden in kaum glaubhafter Höhe gemacht haben.«
+
+»Gestatten Herr Oberst eine Frage?« unterbrach ihn Rittmeister König.
+
+»Bitte schön, Herr Rittmeister!«
+
+»Gilt diese Bestimmung auch für die verheirateten Herren zum Besuch von
+Gesellschaften, Theater, Konzerten u. s. w.?«
+
+»Natürlich, ich will über jeden von Ihnen genaue Kontrolle haben, wie
+oft er die Garnison verläßt. Zuwiderhandlungen werde ich unnachsichtlich
+nach dem Strafgesetzbuch bestrafen und zwar nicht als Übertretung,
+sondern als Nichtbefolgung eines gegebenen Befehls.«
+
+Es entstand eine Pause, während welcher der Oberst sein Taschentuch
+herausholte und damit das linke Auge wischte.
+
+Als er sich dann im Kreise umsah, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen,
+glaubte er in aller Gesicht Erstaunen und Empörung zu lesen.
+
+Soweit war man nun also! Weil zwei leichtsinnige Vögel nicht Maß halten
+konnten, wurde das ganze Offizierkorps in diesem elenden Neste
+eingesperrt; die einzige Abwechslung, ein Konzert oder ein gutes Glas
+Bier, gehörte nun auch wie so vieles unter die Rubrik der frommen
+Wünsche. Denn wer hatte Lust, sich jeden Tropfen nachrechnen zu lassen,
+den er da drüben trank? Lieber ging man gar nicht hin. Fragte eine Dame
+des Regiments ihren Gatten, ob er nicht Lust habe, sie am Abend bei den
+Besorgungen in der Nachbarstadt zu begleiten, weil dort alles besser und
+billiger sei, so hieß es: Nein, ich darf nicht, ich muß erst fragen, wie
+ein Schuljunge seinen Lehrer, ob er einmal hinaus dürfe: Dafür bin ich
+Rittmeister und 15 Jahre im Dienst!
+
+So hatte denn der Oberst seiner Leistungsfähigkeit als Kommandeur und
+seinem Schneid ein neues Denkmal gesetzt, es fehlte jetzt nur noch, daß
+man um Erlaubnis bitten mußte, ein Glas Bier in der eigenen Garnison
+trinken zu dürfen. Aber das kam vielleicht noch später! -- Daß der
+Oberst besonders den jüngeren Herren eine Gelegenheit gab, gegen einen
+Befehl zu handeln, wenn diese nach dem Dienst Vergnügungen nachgehen
+wollten, die sie in der Garnison nicht fanden, bedachte er nicht, er
+hatte ein neues Förderungsmittel der Disziplin und des militärischen
+Gehorsams in die Welt gesetzt. --
+
+»Nunmehr, meine Herren,« fuhr der Oberst fort, »wollen wir zur Wahl des
+Kasinovorstandes schreiten, denn das laufende Jahr ist um. Sie, Herr
+Rittmeister Kahle, haben im vergangenen Jahre den Posten inne gehabt,
+und es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß die Art und Weise, wie Sie
+Ihres Amtes gewaltet haben, meinen vollsten Beifall gefunden hat. Wir
+alle, meine Herren, sind dem Herrn Rittmeister zu großem Danke
+verpflichtet, denn er hat unter Aufopferung des größten Teiles seiner
+Mußestunden alles daran gesetzt, das Kasino in die Höhe zu bringen, hat
+unser Vermögen vergrößert und zahlreiche sehr wohl bedachte Änderungen
+und Einrichtungen getroffen. Ich meine daher, wir können nichts
+Besseres tun, als Herrn Rittmeister Kahle zu bitten, das Amt zu
+behalten, denn es ist in unserem eigensten Interesse. Sollte aber jemand
+andere Vorschläge haben, dann wollen wir die Abstimmung durch Zettel
+vornehmen.«
+
+Ein Beifallsgemurmel, wie es der Oberst nach seinen Worten noch nie
+vernommen, ging durch die Reihen, und so war denn Kahle für das weitere
+Geschäftsjahr als Kasinodirektor gewählt.
+
+»Ich sehe davon ab,« setzte der Oberst noch hinzu, »die Bücher zu
+revidieren, denn ich bin sicher, daß ich alles in bester Ordnung finden
+würde. Aber noch eins, meine Herren! Es ist durchaus unstatthaft, daß
+die Herren Kasinorechnungen anwachsen lassen, wie es wieder der Fall
+ist. Die beiden Kontos mit den höchsten Beträgen sind allerdings heute
+bezahlt worden, aber ich werde rücksichtslos vorgehen, wenn nicht zum
+Ersten nächsten Monats alle Reste gedeckt sind. Richten Sie sich danach!
+Ich danke, meine Herren!«
+
+Also schnell, Ihr Leutnants, hieß es nun, lauft zu einem Juden oder
+Wucherer und pumpt Euch Geld, denn Ihr habt alle ein paar Hundert Mark
+stehen, eine ratenweise Zahlung von Eurer Zulage gestattet man Euch
+nicht, sonst bekommt Ihr einen Klecks in die Konduite und das hängt Euch
+nach, bis Ihr alte Esel seid. Aus dem Nest hinaus dürft Ihr nun auch
+nicht mehr, laßt es Euch aber bei Leibe nicht einfallen, jetzt öfter im
+Kasino zu sitzen, dann bekommt Ihr höhere Rechnungen und werdet doch
+noch eingesperrt!
+
+Inzwischen versammelten sich im Lesezimmer die Damen des Regiments und
+zwei Herrn vom Civil, denn jetzt kam der Hauptteil des Abends, die
+Vorstandswahl für den Tennisklub und die Verabredung der regelmäßigen
+Spieltage im Kasinogarten.
+
+Frau König war als einzige nicht erschienen, ihr Gatte hatte sie unter
+einem Vorwand entschuldigt, denn jede Gelegenheit, wo sie mit den Damen
+des Regiments zusammen kommen konnte, mied sie nach Möglichkeit. Sie
+fühlte sich nicht heimisch unter ihnen; die inhaltlose, oft schrecklich
+langweilige Unterhaltung, welche sich meist um höchst gleichgültige
+Dinge drehte, war ihr ein Greuel, sie paßte auch gar nicht hinein in
+diese Gesellschaft und war nicht danach geartet, an einem nur auf
+Äußerlichkeiten und strengen Formen beruhenden Verkehr Gefallen zu
+finden. Ganz besonders aber war es ihr zuwider, wenn sie sah, wie man
+eben noch in der liebenswürdigsten Weise mit einander umging, um eine
+Minute später, wenn irgend einer sich empfohlen hatte, über ihn
+herzuziehen und kein gutes Haar an ihm zu lassen. Wenn sie nicht offen
+über alles urteilen und reden durfte -- und das hätte ihr übel bekommen
+mögen -- ließ sie es lieber ganz und blieb in ihren vier Pfählen.
+
+Die Verhandlungen im Lesezimmer dauerten lange, jede der Damen hatte
+einen besonderen Wunsch, auch bedurfte es einer ausführlichen
+Ermunterungsrede seitens des neugewählten Vorstandes, mehrere noch
+zögernde Herren zum Beitritt zu bewegen. Daß die meisten von ihnen
+niemals zum Spiel erscheinen würden, war ja vorauszusehen -- jetzt erst
+recht mochte keiner dem Oberst einen Gefallen tun -- aber man hatte doch
+etwas mehr an Eintrittsgeldern.
+
+Endlich öffneten sich die Flügeltüren zum Speisesaal, wo jetzt ein
+einfaches Abendessen eingenommen werden sollte. Die kreischende Stimme
+der Frau Oberst übertönte die Unterhaltung, in den Ecken standen
+einzelne Gruppen jüngerer und älterer Herren, die neuesten Bestimmungen
+seitens des Obersten einer scharfen Kritik unterziehend.
+
+Die Rittmeister König und Hagemann scherzten in etwas derber Weise mit
+Frau Stark herum, Leutnant Pommer aber wich nicht von Frau Kahles Seite.
+
+Nachdem die Tafel aufgehoben war, hatten die meisten Herren den
+lebhaften Wunsch, endlich diesem langweiligen Zusammensein, zu welchem
+man sie unter der Maske einer dienstlichen Besprechung herbeigenötigt
+hatte, entschlüpfen zu können. Da rief Frau Stark in den Saal hinein:
+
+»Wie wäre es, Herr Oberst, wenn wir die Gelegenheit benutzten und ein
+kleines Tänzchen arrangierten? Es hat doch wohl niemand von den
+Herrschaften etwas vor? Ich fände es reizend, entzückend!«
+
+Der Oberst besann sich einen Augenblick, dann erklärte er sich sofort
+mit Freuden bereit, denn ein Wunsch der Frau Stark hieß ein Befehl.
+
+Die Herren waren wütend. So ein Blödsinn, bei der Hitze zu tanzen, es
+war doch viel vernünftiger, auf der Veranda in Ruhe ein Glas Bier zu
+trinken! Leutnant Specht aber ärgerte sich besonders, denn er wollte um
+zehn Uhr sein Verhältnis an der Bahn abholen. Er machte seinem Unmut
+Lust, indem er sich an Borgert wandte:
+
+»Die alte Schraube ist verrückt mit ihrer Tanzerei, wir wollen sie aber
+heute bewegen, bis ihr der Schaum auf dem Buckel steht!«
+
+Während der Saal ausgeräumt und zum Tanzen hergerichtet wurde, unternahm
+man eine kleine Promenade im Garten.
+
+Der Halbmond leuchtete schwach vom Horizont herüber und ließ die Türme
+und Häuser der Stadt als nebelhafte Silhouetten erscheinen. In dem
+jungen Grün der Büsche klagte eine Nachtigall ihr Lied in die milde Luft
+hinein, während vom Saal her das Stimmen der Geigen dazwischen klang.
+Aus der Stadt tönten einige vom Winde oft jäh unterbrochene Akkorde
+einer Karoussellorgel durch den stillen Abend, dessen wohlige Ruhe ganz
+danach angetan war, den Menschen elegisch, träumerisch zu stimmen.
+
+Oberleutnant Borgert gab indes einer Anzahl jüngerer Herren eine
+Gratisvorstellung auf dem Tennisplatz, indem er treffend Frau Stark
+nachahmte, wie sie die Bälle schlug und aufhob, und die Herren hielten
+sich den Bauch vor Lachen, so vorzüglich verstand der Oberleutnant seine
+improvisierte Rolle. Er beschloß erst sein Spiel, als er ganz drüben am
+Gartenrand ein weißes Kleid durch das Blattgrün schimmern sah.
+
+Wer war das? So allein? Er mußte hinschleichen und die Ohren spitzen,
+vielleicht gab es da wieder etwas Interessantes.
+
+Vorsichtig und geräuschlos huschte er über den Rasenteppich und
+versteckte sich hinter einem Fliederbusch. Wenige Schritte vor ihm stand
+Leutnant Pommer, welcher seinen Arm um Frau Kahles Taille gelegt hatte
+und eifrig leise auf sie einsprach. Schade, daß sie so flüsterten, aber
+verstehen konnte man doch manchmal einen Satz.
+
+»Was macht es denn, Grete! Wenn er dich so behandelt, hast du ein Recht,
+dich schadlos zu halten. Er ist außerdem viel zu taperig, etwas zu
+merken! Und wenn du wüßtest, wie lieb, wie unendlich lieb ich dich
+habe!«
+
+»Wenn du mich wirklich lieb hast, dann will ich nicht nein sagen, ich
+möchte so gern einmal wieder glücklich sein!«
+
+Da umschlang der dicke Leutnant das kleine Persönchen mit seinen
+ungelenken Armen und küßte sie stürmisch auf Mund und Augen. Sie aber
+entwand sich ihm und huschte wie ein Reh über den Rasen dem Kasino zu,
+aus dessen weit geöffneten Fenstern jetzt der Walzer »Über den Wellen«
+in die Mainacht hinausklang. Pommer schlich auf der anderen Seite herum
+dem Hauptportal zu, auf daß man nichts merken sollte. Dann verließ auch
+Borgert sehr befriedigt seinen ehrenhaften Posten.
+
+Im Saal ging es flott her. Am meisten tanzte Frau Stark, sie flog von
+einem Arm in den anderen und schwitzte dabei wie ein Soldat im
+Laufschritt. Besonders Leutnant von Meckelburg wurde immer wieder als
+Opfer vorgedrängt, er tanzte aber entsetzlich schlecht und konnte nicht
+in Takt kommen. Wenn die dicke Dame den kleinen Baron mit ihren prallen
+Armen gegen den gewaltigen Busen drückte, verschwand er fast ganz in den
+Falten des schwarz und gelben Kleides.
+
+Schließlich konnte sie nicht mehr und ließ sich pustend in einen Sessel
+fallen, dabei fuhr sie mit dem Rücken der Hand über die Stirn, auf
+welcher erbsengroße Schweißperlen leuchteten. --
+
+Leutnant Specht vergnügte sich auf seine Weise und tanzte mit
+vorgedrückten Knien, wie man es in den Amorsälen sieht.
+
+Borgert stand in einer Ecke halb über Frau Leimann gebeugt, welche
+ermüdet auf einem Stuhle saß und sich Kühlung mit dem Taschentuch
+fächelte. Der Blick des Oberleutnants ruhte auf der Stelle, wo das Weiß
+des zarten Busens durch die Stickerei des Halsausschnittes leuchtete,
+und er sog mit gierigem Behagen den Duft ein, welcher dem jugendlich
+schönen Körper entströmte.
+
+Im Lesezimmer füllten Ordonnanzen die schon oft geleerten Gläser mit
+kühler Maibowle, während eine Anzahl Herren um den runden Tisch herum
+saßen, einen Pfennigskat spielend.
+
+Leutnant Specht benutzte den nächsten Walzer, sich französisch zu
+empfehlen, es war die höchste Zeit zum Zuge, und, da es zu spät zum
+Umziehen war, holte er seine Dame in Uniform ab. Sie trug drei kleine
+Packete mit Eßwaren, welche sie aus ihrer Tasche zur Führung des
+Haushaltes gekauft hatte.
+
+In der Sophaecke saß gedankenvoll der Leutnant Bleibtreu. Er rauchte
+bedächtig seine Cigarre und hörte nur mit halbem Ohre den witzelnden
+Reden der Skatspieler zu. Er war nicht besonders guter Laune, denn es
+tat ihm leid, daß Frau König, die einzige Dame, mit welcher er sich gut
+unterhielt, nicht anwesend war; dann schweiften seine Gedanken nach der
+Heimat, wo jetzt die Wälder in ihrer jungfräulichen Sommerpracht standen
+und wo er so manche schöne Stunde verbracht hatte in den Armen der Natur
+und mit Menschen, die ihn liebten.
+
+Wie ganz anders schien es doch hier! Lauter Menschen, denen man
+innerlich nie recht nahe kam, deren Interesse meist nur äußerlichen
+Dingen und Vergnügungen oft zweifelhafter Art gewidmet war. Zwar hatte
+man hier den Dienst, den man liebte, aber er genügte nicht, um einen
+Menschen zu befriedigen, dessen Lebensbedürfnisse nicht so eng begrenzt
+waren, wie die der meisten Kameraden. Nun sollte man noch jahrelang in
+dieser Umgebung leben, dazu fern von allem, was eine Abwechslung bot in
+dem ewigen Einerlei des Dienstes, unter Menschen, mit denen man im
+Verkehr nie über die Äußerlichkeiten des guten Tons hinauskam und die
+stets auf der Lauer lagen, wo sie aus den Schwächen ihres Nächsten
+Kapital zu schlagen vermochten.
+
+Und das war Kameradschaft, die im deutschen Heere so viel gepriesene
+Kameradschaft!
+
+Ein Zusammenleben unter gleichen Lebensbedingungen, der Zwang, mit
+einander leben und auskommen zu müssen, sich gegenseitig mit äußeren
+guten Formen bedienen und gemeinsam beim Dienst, im Kasino und zu allen
+möglichen Veranstaltungen zu erscheinen, das war es, was man unter
+Kameradschaft verstand.
+
+Wo aber blieb das innerliche Sichanschließen, das gegenseitig
+Ineinanderaufgehen und das Bestreben des einzelnen, seinem Nächsten nur
+helfend und fördernd, nie aber mißgünstig und übelwollend zu begegnen?
+In diesem Punkte sank das schöne deutsche Wort zu einer leeren Phrase
+herab!
+
+Gewiß gab es Fälle, wo Angehörige eines Offizierkorps sich auch wirklich
+innerlich verbrüderten, wo eine treue, zu jedem Opfer fähige
+Freundschaft die Herzen verband, aber zwei solche Kameraden im echten
+Sinne des Wortes waren ja so selten, eine so außergewöhnliche
+Erscheinung! Ging es einem gut und hatte man nichts verbrochen, so war
+man allen gut Freund, d. h. der Verkehr mit den Kameraden bewegte sich
+in liebenswürdigen Formen, man prostete sich zu, man scherzte, trank,
+vergnügte sich zusammen und erwies sich Gefälligkeiten, welche für den,
+der sie leistete, meist kein Risiko, keine Unannehmlichkeit, kein Opfer
+bedeuteten. Aber die Kameradschaft als solche fordert weit mehr!
+Befindet sich ein Kamerad auf schiefer Bahn, beweist er, daß es ihm hier
+und dort noch fehlt und kehrt er Seiten heraus, die anderen peinlich,
+unangenehm werden, oder hat er aus Unverstand, Unkenntnis, mangelnder
+Erziehung etwas Falsches, Tadelnswertes begangen, so weist man ihn
+höchstens, wenn es überhaupt geschieht, in schroffer Form auf seine
+Fehler hin, anstatt in liebevoller, freundschaftlicher Weise bemüht zu
+sein, die Schwächen seines Nächsten zu heilen, seine Eigenheiten zu
+berücksichtigen, seine Fehler mit den eigenen zu vergleichen, ja, man
+läßt ihn links liegen und behandelt ihn wie einen Menschen, der wenig
+oder gar nichts taugt und eben nicht »hineingehört«; nur dann drückt man
+ein Auge zu, wenn von dem Sünder noch ein Vorteil zu erwarten steht oder
+wenn er sich durch andere Verdienste und Leistungen besonders beliebt
+gemacht hat.
+
+Wieviel besser war doch ein Civilist daran! Fand er keinen wahren
+Freund, so lebte er für sich, ohne gezwungen zu sein, bei allen
+Mahlzeiten und sonstigen Gelegenheiten mit Menschen zusammen zu sein,
+denen man innerlich fremd blieb.
+
+Im Dienst ist das eine andere Sache.
+
+Solche Gedanken beschäftigten Bleibtreu, als Rittmeister König aus dem
+Saale kam und sich neben ihm auf dem Sopha niederließ.
+
+»Das nennt der Mensch nun ein Vergnügen!« brummte er. »Wahrscheinlich
+wird man uns noch öfter mit solchen Festen langweilen, um uns zu
+ersetzen, daß wir nicht mehr nach der Stadt hinüber dürfen. Meine Frau
+wird schöne Augen machen, wenn ich ihr das erzähle!«
+
+»Ich muß auch sagen, Herr Rittmeister, daß ich die heutige Verordnung
+haarsträubend finde,« stimmte Bleibtreu zu. »Hätte es der Oberst den
+Leutnants allein verboten, so wäre es hart und dabei noch ungeschickt,
+aber den Verheirateten gegenüber ist es eine tolle Bevormundung und eine
+beispiellose Rücksichtslosigkeit. Er fährt natürlich, so oft er Lust
+hat!«
+
+»Solche Feste wie heute möchten ja noch angehen, wenn sie im allgemeinen
+Einverständnis oder auf vorherige Verabredung hin veranstaltet würden,
+aber nein, Madame Stark befiehlt und wir gehorchen! Denn es sollte einer
+kommen und sagen, er hätte etwas anderes vor, der Oberst würde ihn
+morgen ganz gehörig zurechtstutzen. Sie haben ja wieder ein kleines
+Exempel gehabt.«
+
+»Nicht einmal trinken kann man, was man will,« fuhr der Rittmeister
+fort, »der Oberst braut einfach eine Bowle und wir bezahlen. Die kostet
+heute doch mindestens sechs Mark pro Mann. Er kann ja gar nicht wissen,
+ob ich nicht vielleicht nur für eine Mark trinken will, vielleicht Bier
+oder Selterswasser! Hinterher aber stellt er sich hin und raisonniert
+über die Kasinoschulden!«
+
+»Sie haben recht, es wäre manchem dienlicher, wenn er etwas sparsamer
+lebte, z. B. diesem Borgert und wie sie alle heißen. Es ist traurig, daß
+unter den sämtlichen Herren noch nicht der dritte Teil zu rechnen
+versteht,« erwiderte Bleibtreu.
+
+»Ja ja,« sagte König, »aber das ist einer der Krebsschäden unseres
+Standes. Es ist ja kaum glaublich, wie viele Offiziere alljährlich wegen
+Schulden um die Ecke gehen. Und wie kommt das? Warum können junge Leute
+in anderen Stellungen vernünftiger wirtschaften? Erstens, weil sie nicht
+gezwungen sind, mit Leuten zusammen zu leben, die in besseren
+Verhältnissen sind. Hat einer kein Geld, dann lebt er nach seinem Gusto
+und fühlt sich schließlich ganz wohl dabei. Aber im Kasino sitzt der
+Kapitalist neben dem armen Schlucker. Es ist leicht gesagt, die Reichen
+im Offizierkorps sollen ihre Lebensweise den Mitteln der ärmeren
+Kameraden anpassen. Ich kann aber doch unmöglich verlangen, daß ein
+Millionär zum Essen Wasser trinkt und auf eine elegante Wohnung oder
+schöne Pferde verzichtet, lediglich, um einen Kameraden mit fünfzig
+Mark monatlichem Zuschuß nicht zum Mittun zu verführen! Auf die Dauer
+gefällt dem Unbemittelten sein bescheidenes Dasein nicht mehr, wenn er
+sieht, wie besser gestellte Kameraden in Saus und Braus dahinleben, und
+das Ende: er macht eben mit. Geld braucht er nicht gleich, auf seinen
+bunten Kragen hin borgt man ihm, so viel er will. Geht es aber ans
+Zahlen, dann ist das Elend groß. Findet sich nicht ein rettender Engel
+in Gestalt eines Juden oder dergleichen, so geht er einfach über die
+Höhe. Und bei den Versuchen, Geld zu erlangen, kommt es oft zu
+unsauberen Machinationen. Vielleicht scharrt der Vater noch seine
+letzten Groschen zusammen und gewöhnt sich die Abendcigarre ab, um den
+Jungen über Wasser zu halten. Und gelingt es dem jungen Offizier
+wirklich, aus der Klemme herauszukommen, so fängt er bald von Neuem an
+in dem schönen Vertrauen, daß sich auch das nächste Mal eine offene Hand
+finden werde.«
+
+»Dagegen läßt sich aber doch kaum etwas machen, jeder ist eben für sich
+selbst verantwortlich,« entgegnete Bleibtreu.
+
+»Nichts machen ließe sich da?« rief der Rittmeister. »Ei gewiß. Man
+braucht nur ein Gesetz aufzustellen, etwa dahin lautend, daß die
+Schulden des Offiziers bis zum Rittmeister ausschließlich nicht
+einklagbar sind. Dann werden sich die Kaufleute schon vorsehen und
+nicht mehr ins Blaue hinein einem Leutnant von dreiundzwanzig Jahren
+borgen, dessen Verhältnisse sie gar nicht kennen. Einem Civilisten, der
+vielleicht dreimal so viel Geld hat, wie jener, borgt man nicht für
+hundert Mark, wenn man nicht genau weiß, wer und was er ist, wie er
+steht usw., aber an den Offizier drängen sich die Geschäftsleute
+geradezu heran, weil sie wissen, sie bekommen ihr Geld in den meisten
+Fällen, weil es sonst dem Schuldner an den Kragen geht.«
+
+»Ich meine, es ist überhaupt die ganze Sonderstellung des Offiziers, die
+ihn zu einem kostspieligen Leben veranlaßt. Man sollte daher wenig
+Bemittelte einfach ausschließen,« versetzte Leutnant Bleibtreu.
+
+»Das wäre übertrieben, aber energische Schritte sollte man tun gegen
+solches Luxustreiben,« fuhr König fort. »Es ist schön und wohlgemeint,
+wenn man verordnet: »je mehr Luxus und Wohlleben um sich greifen, umso
+mehr soll der Offizier auf eine einfache Lebensweise bedacht sein.« Das
+ist ein frommer Wunsch, man wird es aber niemals tun, wenn man bei
+anderen Klassen ein gesteigertes Wohlleben bemerkt, denn der Offizier
+hält sich rücksichtlich seiner bevorzugten gesellschaftlichen Stellung
+für verpflichtet, wie kein anderer, diesen Luxus wenigstens mitzumachen,
+wenn nicht gar zu übertreffen. Er hält sich eben für mehr wie andere,
+und der Leutnant sieht oft mit Verachtung, mindestens aber mit einem
+bedauernden Lächeln auf die herab, die sich durch ihrer Hände Arbeit
+oder durch geistiges Schaffen der Welt nützlich machen. Dieser Dünkel
+ist der Fluch unseres Standes und geeignet, Volk und Offizierkorps immer
+mehr von einander zu entfernen, während das Gegenteil zu wünschen ist,
+denn das Volk muß seinen männlichen Nachwuchs dem Offizierkorps zur
+Erziehung in die Hände geben. Wenn aber das Vertrauen zu ihm mehr und
+mehr schwindet, dann wird auch die Lust am Soldatsein, die damit Hand in
+Hand gehende Vaterlandsliebe, allmählich getötet. Man sollte den
+Offizier mehr geistig beschäftigen und ihm zeigen, was ihm in Vergleich
+zu anderen Ständen fehlt, und welchen Nutzen diese für den Staat
+bedeuten. Dann würde er die ihm von niemand streitig gemachten
+Prärogative und Privilegien dankbar anerkennen lernen, statt in ihnen
+einen Grund zur Selbstüberhebung zu erblicken.
+
+Und in dieser haben noch andere Mängel ihren Ursprung. Sie ist schuld
+daran, daß so viele Offiziere in dem gemeinen Soldaten nicht den
+zukünftigen Vaterlandsverteidiger und Kameraden sehen, den sie fördern
+sollen, sondern nur den Gegenstand zahlreicher Mühen und reichlichen
+Ärgers. --
+
+Und damit wird ein neues Übel in die Welt gesetzt. Der junge
+zwanzigjährige Mann fühlt mit innerem Mißbehagen diese Entfremdung von
+seinem Vorgesetzten. Er verliert allmählich die Lust an seinem bunten
+Rock, besonders, wenn die Vorgesetzten noch mit übertriebenen
+Anforderungen an ihn herantreten oder Ungerechtigkeit in der Behandlung
+walten lassen. Solange der Soldat unter dem Druck des Militarismus
+steht, wird er sich schwer hüten, seinen Ansichten Ausdruck zu
+verleihen, ist er aber der militärischen Fesseln los und ledig, wird
+sich meist sein vielleicht vorhandener Hang zum Sozialismus umso
+kräftiger entfalten, nach den Erfahrungen, die er in seiner Dienstzeit
+gemacht. Und das ist schlimm, wenn ein Hauptmittel zur Bekämpfung des in
+riesigem Wachsen begriffenen Sozialismus, nämlich die Dienstzeit der
+noch einer Beeinflußung und Belehrung zugänglichen jungen Leute, in ein
+Förderungsmittel umschlägt, und das tut es, solange man aus dem
+Offizierkorps heraus derartige Vorbilder als militärische Erzieher
+wirken läßt.«
+
+»Sollten das alles nicht nur vorübergehende Erscheinungen sein, an denen
+der Offizierstand krankt?« warf Bleibtreu ein.
+
+»Nein, das ist gerade das Traurige, es sind fest eingewurzelte
+Krebsschäden. Aber selbst diese könnten eingedämmt oder ganz und gar
+vernichtet werden, wenn man sich mit allem Ernst der Sache annehmen
+wollte, statt sich in dem Dünkel zu wiegen, daß ein deutsches
+Offizierkorps oben an stehe und keiner Reform bedürfe. Noch ist es Zeit
+zu retten, denn jene Mißstände haben noch keine Form angenommen, die
+eine Unterdrückung unmöglich macht, noch haben wir trotz aller Übel
+vortreffliche Leistungen zu verzeichnen, und der Ruf unseres Heeres im
+Ausland ist ein glänzender. Aber Eile tut not, man soll das Eisen
+schmieden, solange es warm ist. Eine Armee ist eben zum Kriegführen da,
+und deshalb muß sie unter einem dreißigjährigen Frieden leiden. Aber wir
+brauchen keinen Krieg, um jene Übel zu töten, sondern Männer mit Umsicht
+und einem klaren Kopf, die offen eingestehen, daß etwas faul ist im
+Staate Dänemark.«
+
+König hatte sich ordentlich warm geredet. Er tat einen tiefen Zug aus
+dem Bierglase, das ihm soeben eine Ordonnanz gereicht, er hatte nämlich
+dem Oberst zum Trotz auf die Bowle verzichtet. Es war ihm Bedürfnis,
+sich ab und zu alles von der Leber herunter zu reden, was ihn bedrückte,
+und war das geschehen, so fühlte er sich wohl und frei.
+
+Borgert hatte in der Nähe gestanden und den Ausführungen des
+Rittmeisters aufmerksam gelauscht, denn wenn zwei etwas zu reden hatten,
+fehlte er nie im Hintergrunde. Im Stillen lächelte er über diese beiden
+Grübler, welche offenbar die Vorteile, die sich ihnen boten, nicht zu
+würdigen verstanden. Warum dachten sie nicht wie er? Das Leben genießen,
+wie es kommt, und die Feste feiern, wie sie fallen! Das war sein
+Standpunkt, und deshalb schmeckte ihm der unbezahlte Sekt so gut! Er
+fühlte sich ganz wohl in diesem kleinen Nest, denn hier gab es mitunter
+ein kleines Skandälchen, das ihm in der früheren Garnison so sehr
+gefehlt. Als man aber seine Vorliebe für solche Art von Abwechslung
+entdeckt, schickte man ihn an die Grenze, wo er sich austoben konnte zu
+Nutz und Frommen seiner Kameraden.
+
+Mit halbgeschlossenen Augen und überlegener Miene stand er an den
+Türpfosten gelehnt, als er sich plötzlich aufmerksam umsah.
+
+Wo war denn der dicke Pommer? Er hatte ihn doch noch eben ziemlich
+betrunken zwischen den Damen herumstolpern sehen, jetzt war er fort. Und
+Frau Kahle? Richtig! Auch weg. Schnell auf die Suche also, vielleicht
+konnte er noch ein neckisches Schauspiel erleben.
+
+So schlich er denn hinaus in den Garten, nachdem er die Cigarre zur
+Seite gelegt, damit sie ihn nicht verraten solle. Der Mond hatte sich
+diskret hinter dem Horizont versteckt, um nicht mit anzusehen, was da
+unten hinter den Büschen vor sich ging, nur matt erleuchteten seine
+Strahlen eine Wolkenschicht, welche über seinem Versteck schwebte.
+
+Und richtig! dort saßen sie, eng aneinander geschmiegt, auf der schmalen
+Holzbank an der Gartenmauer. Die Nachtigall sang noch immer, nur etwas
+weiter in der Ferne. Pommer sprach konfuse Worte, ohne sich sonderlich
+Mühe zu geben, nicht laut zu sein, Frau Kahle lehnte mit dem Kopf an
+seiner Schulter und lauschte den Tönen der Liebe, die ihr Ohr seit dem
+ersten Jahre der Ehe nicht mehr vernommen. Ab und zu küßte der Leutnant
+schmatzend die kleinen Hände und den Mund der jungen Frau. Sein rechter
+Arm umschlang fest die zierliche Taille, und die große Hand ruhte auf
+ihrem wogenden Busen.
+
+»Siehst du, Grete, geliebte Grete, du mußt dich freimachen von diesem
+Mann, er ist ein Tyrann, hat kein Gefühl und ist auch viel zu groß für
+dich!«
+
+»Er ist ein guter Kerl, aber er versteht mich nicht! Ich muß jemand
+haben, der mich versteht und wirklich liebt. Ich will dir das Leben so
+schön machen, wenn du müde vom Dienst nach Hause kommst und du sollst es
+so gut haben!«
+
+»Wie ich dich lieb habe, du kleiner, süßer Racker!«
+
+»Ich dich auch, Hans! Und denke nur, das hat mich furchtbar gekränkt,
+mein Mann hat das ganze vorige Jahr mit der Frau vom Amtsrichter
+herumgeliebelt, die doch dazu gar nicht schön und schon ziemlich alt
+ist. Kürzlich ist er sogar der alten Hebamme nachgelaufen, die er nicht
+erkannte, weil sie ein Tuch um den Kopf trug. Sie hat ihn mit ins Haus
+gelockt und dann ganz ruhig ihr Tuch abgenommen. Dann sagte sie: »So,
+Herr Rittmeister, das werde ich Ihrer Frau erzählen, was Sie für ein
+Bürschchen sind!« Und sie hat es mir erzählt.«
+
+»Das kannst du dir nicht gefallen lassen, Grete, das würde ich nie tun!«
+Dabei umschlang er sie mit sinnlichem Verlangen so fest, daß sie leise
+aufschrie.
+
+Da tönte laut der Name des Offiziers vom Kasino herüber, man verlangte
+nach ihm.
+
+Aus Furcht, auf seinem Ehrenposten gesehen zu werden, wenn das Paar sich
+jetzt erhob, schritt Borgert auf die beiden zu und sagte, als er vor dem
+verdutzten Liebespärchen stand:
+
+»O Gott, bin ich erschrocken! Aber pardon, ich will nicht stören!« Dabei
+zog er sich schnell wieder zurück und eilte ins Kasino. Keiner ahnte
+natürlich, warum die vorher so gelangweilte Miene des Oberleutnants
+jetzt einen so pfiffigen, lächelnden Ausdruck zeigte. Jetzt wußte er
+genug und konnte sich noch ein Weilchen dem Tanze hingeben, es war doch
+gar zu schön, so ein reizendes Weib wie diese Leimann im Arm zu haben!
+Die wäre wohl noch eine Sünde wert gewesen!
+
+Das Fest währte jetzt nicht mehr lange. Die Damen waren müde, besonders
+Frau Stark war halb zu Tode getanzt worden. Selbst Frau Oberst hatte
+genug und schwieg, was bei ihr als Seltenheit galt. Frau Leimann aber
+klagte plötzlich über Kopfweh und bat Borgert, sie nach Hause zu
+bringen, da ihren Gatten das heulende Elend, wie oft nach einer Bowle,
+gepackt hatte und er schluchzend im Garten umherstolperte.
+
+Die Herren hatte fast alle der frische Maitrank überwältigt, und sie
+waren unangenehm laut, einige auch recht derb in ihren Scherzen
+geworden. Es war also Zeit, sich zu trennen, und so bestieg man die am
+Kasinotor seit zwei Stunden wartenden Krümperwagen. Die Kutscher mußten
+erst mit einigen Kosenamen und Püffen geweckt werden, sie waren müde von
+der anstrengenden Felddienstübung am Vormittag.
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen um zehn Uhr lag der dicke Pommer noch in den Federn.
+Er hatte den Dienst verschlafen, und da es nun doch zu spät war, drehte
+er sich noch einmal um und schnarchte weiter.
+
+Als er um elf Uhr erwachte, sah er erst blöde vor sich hin, dann fuhr
+die Rechte, die noch vor wenigen Stunden Frau Grete's Hand gedrückt, in
+das wirre Haar.
+
+Donnerwetter, was brummte ihm der Schädel! Was war denn los gewesen? Ach
+richtig, die verdammte Bowle gestern Abend!
+
+Aber da war noch etwas! Ein weißes Kleid flocht sich in der Erinnerung
+an den gestrigen Abend, und allmählich stand ihm verschwommen wieder
+alles vor Augen, was sich zugetragen. Er sah nach der Uhr. Was, schon
+elf vorbei?
+
+Mühsam und keuchend kroch er aus dem Bett und in die Hosen hinein, dann
+machte er etwas Toilette. Es war ihm alles gleich heute, sein Kopf
+schmerzte ihn zu sehr, und dabei immer der Gedanke an das Ereignis von
+gestern! Es war unerträglich! Mißmutig ließ er sich auf einen Stuhl
+nieder, und als der Bursche vom Kaffeebrett den Löffel fallen ließ, fuhr
+er ihn wütend an:
+
+»Dummes Schwein, mache nicht so einen Radau, sonst fliegst du vor die
+Tür.«
+
+Pommer versuchte sich ganz genau die Ereignisse des gestrigen Tages vor
+Augen zu führen, und je mehr sie ihm ins Gedächtnis zurückkehrten, umso
+größer ward sein Entsetzen über seine Handlungsweise.
+
+Was hatte er getan! Die Frau eines Kameraden verführen wollen, er,
+dessen Ansichten und Grundsätze sonst so streng waren, der doch fast als
+einziger bei den Kameraden etwas galt, wenn er ihnen schonungslos den
+Kopf zurechtsetzte, denn jedermann wußte, er redete nicht nur, sondern
+lebte auch nach dem, was er anderen predigte.
+
+Sein früheres Leben ließ er an seinem Geiste vorüber ziehen. War da
+irgend ein schwarzer Punkt, ein Makel zu finden? Nein, rein und
+fleckenlos lag die Vergangenheit hinter ihm, und jetzt, nachdem er die
+Klippe der leichtsinnigen Jugendjahre unversehrt überwunden, lud er eine
+so schwere Schuld auf sich, er betrog einen Kameraden mit seiner Frau!
+Pfui!
+
+Aber hatte sie ihm nicht selbst gesagt, daß sie unglücklich sei, von
+ihrem Gatten schlecht behandelt werde, sodaß sein Tun als entschuldbar,
+vielleicht sogar edel erscheinen durfte?
+
+Nein und abermals nein, er hatte gefehlt, schwer gesündigt an dem
+Heiligsten, was ein Mann sein Eigen nennt.
+
+Die ehrenhafte Gesinnung des Offiziers lag in hartem Kampfe mit ihm
+selbst, er zweifelte an der Lauterkeit seiner Gesinnung, und diese
+Qualen waren ihm eine Folter.
+
+Das Blut stieg ihm zu Kopfe, es tanzte ihm vor den Augen, sterben hätte
+er mögen, nur schnell sterben, nachdem er so die Moral mit Füßen
+getreten und sein Gewissen mit einem Fluch belastet hatte, der ewig auf
+ihm ruhen mußte.
+
+Aber wie hatte es nur kommen können, daß er sich so vergaß?
+
+Der verdammte Sektfrühschoppen mit dem leichtsinnigen Saufaus, dem
+Borgert, und dann das schwere Türkenblut, das Müller zum Essen
+spendierte, weil er eine Wette verloren, und dann die unselige Maibowle
+am Abend, das alles hatte ihm, der selten ein Glas Wein zu trinken
+pflegte, den klaren Verstand geraubt! Die gemeinen Kerle, die das
+merkten und ihm immer mehr zu trinken gegeben hatten, wahrscheinlich
+weil er sie in der Trunkenheit amüsierte!
+
+Freilich mochte er die kleine zierliche Frau gern leiden, sie war so
+ganz nach seinem Geschmack, niedlich, mollig und zutunlich. Oft
+verlieben sich große, starke Männer in kleine Frauen. Aber so etwas wie
+gestern war ihm doch nie in den Sinn gekommen, es war ihm unerklärlich.
+Er mußte hingehen und tausendmal um Verzeihung bitten, rückhaltlos seine
+Sünde eingestehen, das konnte seine Schuld etwas mindern, wenn auch
+nicht tilgen.
+
+Da klopfte es an der Tür. Als wenn der Rachegeist schon selbst
+erscheinen müsse, fuhr der gequälte Mann zusammen und ließ ein dumpfes
+»Herein« ertönen.
+
+Oberleutnant Borgert trat über die Schwelle, den Helm in der Hand. Er
+schien etwas erstaunt, den Kameraden in diesem Zustande vorzufinden,
+dann aber nahm er ihn scharf ins Auge und sagte:
+
+»Verzeihung, wenn ich störe, aber eine peinliche Angelegenheit veranlaßt
+mich, mit Ihnen zu reden.«
+
+»Dienstlich oder privat?« brummte Pommer.
+
+»Beides, wie Sie wollen,« antwortete Borgert dreist.
+
+»Für Privatsachen bin ich jetzt nicht in Stimmung. Bitte lassen Sie uns
+den Fall ein andermal besprechen.«
+
+»Bedaure sehr, ich wünsche den Fall _=jetzt=_ zu erledigen. Sie wissen
+wohl, daß ich als Dienstälterer das Recht habe, Sie wegen einer
+Angelegenheit zur Rede zu stellen, wenn ich es für nötig halte.«
+
+Pommer besann sich einen Augenblick. Er, der vor seiner
+Offizierslaufbahn drei Jahre die Universität besucht und dann in großen
+Bankhäusern tätig gewesen war, der das Leben von der ernstesten Seite
+kennen gelernt und die doppelte Erfahrung besaß, wie die meisten seiner
+Altersgenossen, er sollte sich von einem Menschen zur Rede stellen
+lassen, der nichts als trinken, schimpfen und Geld ausgeben konnte, der
+im Dienst eine Null war? Und zu dieser Handlungsweise war jener
+berechtigt, sie war dienstlich sanktioniert?
+
+Richtig, ja, es war so, jetzt fiel es ihm ein, daß er schon früher
+einmal über diese widersinnige Bestimmung nachgedacht und überlegt
+hatte, wie sehr jenes Recht gemißbraucht werden könnte, wenn es einem
+nur daran lag, einem jüngeren Kameraden ordentlich eins auszuwischen,
+ohne daß dieser sich wehren konnte. Alle durften sich also einem
+Jüngerem gegenüber jederzeit als Vorgesetzte aufspielen, wenn es ihnen
+eine Laune eingab! Wirklich großartig!! --
+
+Ein spöttisches, grimmiges Lächeln ging über Pommers blasses Gesicht,
+dann antwortete er mit fester Stimme:
+
+»Bitte, was steht zu Diensten?«
+
+»Der Zufall führte mich gestern Abend in den Garten, wo ich etwas sah,
+das ich mir noch nicht erklären kann. Sie haben......«
+
+»Jawohl, ich habe eine Dame, die Gattin des Rittmeisters Kahle geküßt,
+ihr von Liebe gesprochen u. s. w., das weiß ich.«
+
+»Darf ich Sie um eine Erklärung bitten, wie Sie dazu kommen?«
+
+»Ich war betrunken, sonst wäre es nicht vorgekommen!«
+
+»Nun, Ihre Erklärung klingt ja ganz kurz und einfach, warum betrinken
+Sie sich, wenn Sie es nicht vertragen können und so wenig Herr Ihrer
+Handlungen bleiben?«
+
+»Daß ich betrunken war, ist nicht nur meine Schuld, in erster Linie
+mußten andere.....«
+
+Borgert schnitt ihm das Wort ab, um nichts zu hören, was ihn als Vorwurf
+treffen konnte. Mit ironischer Miene fiel er ein:
+
+»Sie scheinen sich über die Schwere Ihrer Handlungsweise nicht ganz im
+Klaren zu sein, deshalb möchte ich Sie nochmals darauf hinweisen!«
+
+»Ihrer Belehrung darüber bedarf ich nicht, ich weiß selbst, was
+ich......«
+
+»Pardon, ich rede wohl, mein Verehrter, ich gestatte Ihnen nicht, mich
+zu korrigieren, denn ich bin gekommen, _=Sie=_ zu korrigieren!«
+
+Pommer wollte auffahren, aber die kalten Augen und der entschiedene,
+schneidende Tonfall der Worte des Oberleutnants geboten ihm Schweigen.
+
+»Was Sie da getan haben, ist das schwerste Vergehen gegen die
+Kameradschaft, welches ich mir denken kann. Die Frau eines Kameraden
+anfassen, heißt einen Treubruch, fast ein Verbrechen begehen, welches
+mit Recht eine schwere Sühne fordert. Bedenken Sie nur, was Sie tun
+würden, wenn Sie Ihre Gattin in den Armen eines anderen fänden, ich
+glaube, Sie würden ihn sofort umbringen oder wenigstens nachher zum
+Zweikampf auf Leben und Tod herausfordern. Sie aber haben sich an einer
+verheirateten Frau vergriffen, an einem Etwas, das uns ein
+Nolimetangere, ein Heiligtum sein soll! Schon ein Händedruck, ein Blick
+kann zum Ehebruch werden, allein der geheime Wunsch, die Frau eines
+anderen zu besitzen, zu küssen! Können Sie dem Manne jetzt noch ehrlich
+ins Gesicht sehen, nachdem Sie ihn so hintergangen und betrogen haben?
+Ich könnte es nicht! Ich würde vor ihn treten, meine Sünde freiwillig
+eingestehen und ihm Genugtuung geben. Nie hätte ich von Ihnen geglaubt,
+daß Sie einer solchen Handlungsweise fähig wären, schämen Sie sich bis
+in den Grund Ihrer Seele! -- Ich will Sie nun nicht ins Unglück stürzen
+und den Fall nicht weiter verbreiten, denn sonst dürften Sie verloren
+sein. Abgesehen von Ihrer Stellung würde Ihr Leben auf dem Spiele
+stehen. Ich erwarte aber von Ihnen, daß Sie noch heute der Dame einen
+Besuch machen, um Verzeihung bitten und sich vergegenwärtigen, was ich
+für Sie getan habe!«
+
+Borgert reckte sich siegesgewiß in die Höhe und mit überlegenem Blick
+schaute er auf den armen Pommer herab, dessen erst widerwillige Miene
+allmählich den Ausdruck stiller Ergebenheit, eines großen
+Schuldbewußtseins angenommen hatte. Immer mehr war der große starke Mann
+auf seinem Stuhl zusammengesunken, und sein leerer Blick starrte wie
+leblos zu Boden.
+
+Zwei dicke Tränen blinkten ihm im Auge, der Mann weinte. Tat er es, weil
+seine Schuld ihm so schwer auf dem Gewissen lag, oder weil er vielleicht
+gar noch vor die Pistole des betrogenen Gatten treten mußte? Nein,
+gefehlt hatte er nun einmal, und er war Manns genug, die Folgen zu
+tragen. Feige war er nicht.
+
+Aber er schämte sich! Und das Gefühl der Scham ist es, welches den Mann
+am meisten vor sich selbst erniedrigt.
+
+Zugleich stieg ein warmes Gefühl der Dankbarkeit in ihm auf gegen den,
+welcher Zeuge seines Verbrechens gewesen, ihn aber jetzt, statt ihn der
+Kugel des Betrogenen zu überantworten, großmütig auf seinen Fehler
+hinwies. Und es war recht gewesen, was er gesagt hatte!
+
+Da erhob sich der Offizier und reichte Borgert stumm die Hand, ihm fest
+ins Auge blickend. Borgert's Auge aber wich scheu nach der Seite und der
+Oberleutnant sagte gütig:
+
+»Nun, trösten Sie sich nur! Machen Sie die Sache wieder gut und nehmen
+Sie sich künftig in Acht!«
+
+»Ich danke Ihnen«, brachte Pommer mit tränenerstickter Stimme hervor.
+»Ich habe Ihr Wort, daß die Sache unter uns bleibt? Es ist nicht
+meinetwegen, aber der Dame soll man nichts nachsagen können:«
+
+»Sie haben mein Wort, ich schweige!«
+
+Und als er jetzt dem Oberleutnant mit dankerfüllten Blicken nachschaute,
+während er ihn verließ, glaubte er, über die Schwelle schritte ein
+Freund, dem er sein Leben danken müsse! --
+
+Der großmütige Held war recht befriedigt von seiner Mission. Das war so
+ganz ein Fall nach seinem Geschmack! Zu riskieren gab es nichts dabei,
+im Gegenteil, er spielte die Rolle eines guten, rettenden Engels, der
+den Fehlern des Nächsten Verzeihung bot und ihn liebevoll auf den
+verlassenen Pfad der Tugend zurückgeleitete. Außerdem war es ja ein ganz
+amüsantes Schauspiel, einen Kameraden, der sonst als ganzer Mann dastand
+und den nichts rühren konnte, jetzt zu seinen Füßen zu sehen. Auch
+schien ihm ein glücklicher Gewinn, daß er Pommers Einfluß auf das
+gesamte jüngere Offizierkorps nun in seine Hand bekommen und sich
+dienstbar machen konnte. Schließlich fehlte auch das Pikante an der
+Sache nicht, denn er würde natürlich auch Frau Kahle demütigen und sie
+fragen, in welcher Weise die Sache ihre Erledigung gefunden habe. Wie
+freute er sich darauf, wenn die kleine Frau weinend vor ihm niedersank
+und ihn um Schweigen bat!
+
+Ein Liedchen trällernd, betrat Borgert sein Haus, gab dem Burschen
+Säbel, Mantel und Helm und stieg die Treppe zu Leimanns hinaus.
+
+Er traf sie nicht allein. Der Regimentsadjutant war anwesend, er hatte
+heute schon um 1/2-12 das Geschäftszimmer verlassen, weil der Oberst
+sich auf Jagd befand. Frau Leimann trat auch herein, und, da die beiden
+Herren gerade plaudernd zum Fenster hinaus auf die Straße sahen, wo Frau
+König mit Leutnant Bleibtreu vorbei ritt, küßte er der Angebeteten
+stürmisch beide Hände.
+
+Die Herrschaften aber wollten sich vor Lachen ausschütten, als Borgert
+in der ihm eigenen witzigen Weise mit furchtbar drolligen Gesten und
+trefflichem Mienenspiel seine neuesten Erlebnisse zum Besten gab.
+
+Inzwischen saß Pommer am Schreibtisch und machte in einem langen Briefe
+an seine Mutter dem gepreßten Herzen Luft. Dabei sang er dem neuen
+Freunde wahre Loblieder und rühmte seine vornehme Gesinnung in
+überschwänglicher Weise.
+
+Er war jetzt ruhiger geworden, die Vorgänge des verhängnisvollen Abends
+erschienen ihm zwar immer noch in demselben Lichte, aber mehr vom
+Standpunkte eines Menschen betrachtet, der, im Innersten überzeugt, eine
+verwerfliche Tat begangen zu haben, sich sagen kann, daß nur durch
+einen unglücklichen Zufall, nicht aber aus verderbter Gesinnung oder
+Schlechtigkeit jener Fehltritt geschah.
+
+Um die Mittagsstunde kleidete er sich fertig an, um Frau Kahle
+aufzusuchen, denn um diese Zeit pflegte der Gatte nicht zu Hause zu
+sein. Vielleicht wäre es ihm gleich gewesen, was ein Fremder mit seiner
+Frau zu verhandeln hatte, aber man konnte nicht wissen, es war besser
+so.
+
+Klopfenden Herzens, mit dem Gefühl einer tiefen Reue und Beschämung,
+schritt er die teppichbelegten Stufen zu Frau Kahle's Räumen empor, und
+er hatte auch nicht lange zu warten, bis man ihn einließ.
+
+Mit einem leichten Aufschrei eilte die Dame auf ihn zu, umschlang seinen
+Hals und küßte dem Widerstrebenden stürmisch den Mund.
+
+»Wie danke ich dir, daß du kommst! Wie habe ich mich nach dir gesehnt!
+Jetzt bin ich wieder glücklich, da du bei mir bist. Mein Mann ist bis
+zum Abend fort, bleibe bei mir, Hans, ich kann nicht ohne dich sein!«
+
+Bei diesen Worten hatte sie ihn neben sich auf den Divan gezogen und
+schloß ihm den Mund mit stürmischen Küssen.
+
+»Die ganze Nacht habe ich ruhelos verbracht,« fuhr sie süß flüsternd
+fort, »ich konnte mein Glück nicht fassen, ich glaubte, es sei ein
+Traum, daß ich in dir ein Wesen gefunden habe, das ich lieben darf, das
+mich liebt. O, wie danke ich dir, du einzig Geliebter!«
+
+Leutnant Pommer saß da wie versteinert. Er brachte kein Wort hervor und
+duldete schweigend die Liebkosungen der Frau. --
+
+Wo waren seine Vorsätze geblieben, wozu war er hierher gekommen? Um sein
+Unrecht wieder gut zu machen, um seiner Reue Worte zu verleihen, um zu
+beichten, daß alles nur die Eingebung eines unseligen Augenblicks, die
+Tat eines vom Rausch verwirrten und entfesselten Gefühls gewesen sei!
+
+Aber er konnte sich jetzt nicht anklagen, konnte nicht mit einem banalen
+Wort den Traum zerstören, welcher die liebende Frau umfing. Und was er
+vorher für eine Ehrenpflicht gehalten, erschien ihm jetzt unmöglich
+angesichts der lodernden Glut, die er im Herzen des Weibes entfacht.
+Lieber sterben, als jetzt eingestehen müssen, es ist alles nur Lüge,
+Schein, Laune gewesen. Dieser glühenden Liebe durfte er nicht mit einem
+Faustschlag antworten!
+
+Und als der Kopf der ganz den Gefühlen ihres Glückes hingegebenen Frau
+an seinem Busen ruhte, in welchem das Herz zum Zerspringen klopfte, ging
+eine Wandlung in ihm vor: aus dem sonst so willensstarken Manne ward ein
+willenloses Opfer einer gewaltigen Macht: der Liebe. --
+
+Sein Blick streifte an der Gestalt des Weibes herunter, die ihn in ihren
+Armen hielt. Das leichte Morgenkleid ließ die Formen eines jugendlichen
+Körpers erkennen, die weißen Arme, von denen die Spitzen des Ärmels
+herabgeglitten waren, und der Duft, welcher von ihnen ausströmte, alles
+verwirrte und betäubte ihm den Sinn und ließ den letzten Rest
+Entschlossenheit in dem sonst so zielbewußten Manne ersterben. Und er
+umschlang das zitternde Weib mit wilder, sinnlicher Glut. -- -- --
+
+Der Tag neigte sich schon seinem Ende zu, als Pommer die Tür des Hauses
+hinter sich schloß, in dem Frau Kahle wohnte.
+
+Mit scheuem Blick, wie verstört, schritt er über die Straße und achtete
+nicht der Soldaten, die des Weges kommend, ihm die schuldige
+Ehrenbezeugung erwiesen, er wäre auch an Oberleutnant Borgert
+vorbeigegangen, hätte ihn dieser nicht mit einem über die Straße
+gerufenen Gruß aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Zögernd blieb er
+stehen und schaute wie geistesabwesend nach dem Kameraden, der jetzt
+über den Straßendamm auf ihn zukam.
+
+»Guten Tag, lieber Pommer! Nun, was macht Ihr Kater?«
+
+»Danke, danke, es ist gut, ich fühle mich ganz wohl, sehr wohl, und was
+ich noch sagen wollte,.... ich bin dort gewesen!«
+
+»Bei ihr? Na sehen Sie, das war vernünftig! Alles in Ordnung?«
+
+»Natürlich, alles glatt, jawohl, alles in bester Ordnung.«
+
+»Na, dann leben Sie wohl, ich muß weiter. Adieu!«
+
+»Adieu! Und nochmals vielen Dank!«
+
+»Aber ich bitte Sie! Es war gern geschehen, Sie haben wohl gesehen, daß
+ich es gut mit Ihnen meine!«
+
+»Ja, wir wollen gute Freunde werden!«
+
+Als Pommer in seiner Wohnung anlangte, glaubte er verzweifeln zu müssen.
+Was hatte er getan?! --
+
+Statt das Vergehen vom gestrigen Tage durch ein offenes Bekenntnis
+seiner Schuld zu sühnen, war er noch tiefer in die Sünde hineingeraten,
+er hatte aus einem Fehltritt ein neues, weit größeres Verbrechen
+entstehen lassen, statt mit aller Entschlossenheit gegen seine Schwäche
+anzukämpfen. Und noch mehr! Er hatte einen Freund betrogen, sein
+Vertrauen, seine ehrenhafte, liebevolle Handlungsweise in gemeinster
+Weise mit Füßen getreten!
+
+Aber es war zu spät! Jetzt gab es kein Befreien mehr aus den Ketten der
+Sünde, der Lüge, jetzt hieß es den einmal betretenen Pfad weiter
+schreiten, wie auch das Ende sein mochte. Und er suchte sich vor seinem
+Gewissen zu entschuldigen, daß die Macht des Zufalls, an der sein Wille
+sich gebrochen, ihn in seine jetzige Lage hineingezwungen habe.
+
+ * * * * *
+
+Wochen und Monate vergingen.
+
+Das Paar traf oft zusammen, machte Spaziergänge im nahen Wäldchen,
+begegnete sich »zufällig« auf der Straße oder genoß, wenn der Gatte
+abwesend war, ein Schäferstündchen in Frau Gretes traulichem Boudoir.
+
+Pommers Zuneigung zu dem pflichtvergessenen Weibe hatte ihn in der
+ersten Zeit ganz in ihren Bann gezogen. Doch war jener Reiz mehr
+sinnlicher Art gewesen, einer wahren inneren Liebe fand er sich nicht
+fähig zu einer Frau, deren seichte Moral, deren oberflächliche
+Anschauungen über die Pflichten einer Gattin und Mutter, deren
+rückhaltlose Hingabe an den ersten, welcher ihr seine Liebe gestand,
+ihren inneren Wert bald hatten erkennen lassen. Und so gab es Stunden,
+wo dem Manne der Verkehr mit der heißblütigen, hysterischen Frau
+allmählich überdrüssig schien, denn es fehlte der innere Kern, der
+moralische Halt dieses Verhältnisses, und wie bald ist der Mensch von
+Genüssen übersättigt die sich in regelmäßiger Folge wiederholen und
+nicht im Herzen wurzeln, wie sie allein uns auf die Dauer mit Freude
+erfüllen! So ward aus der Zuneigung mit der Zeit eine schroffe
+Abneigung, eine Art Ekel und Widerwillen gegen jene Frau, welche in
+seinen Augen mit jedem Tage an Wert verlor und den Mangel an weiblicher
+Tugend mehr und mehr erkennen ließ, sie war ihm nur noch das Weib, wie
+es als solches die Schöpfung dem Mann bot.
+
+Und je mehr diese Empfindung in ihm wuchs, um so geringer galt ihm das
+Vergehen, welches ihm früher als ein ehrloses Verbrechen erschien und
+sein Gemüt bedrückte. Aber offen eingestehen, daß sie ihm nicht genüge,
+daß er an ihren Reizen keinen Genuß mehr finde, das konnte er nicht, es
+schien ihm unmännlich und undankbar, denn hatte er nicht auch schöne
+Stunden durch sie genossen? --
+
+Schreiben mochte er nicht, das war zu gefährlich, denn kam dem
+ahnungslosen Gatten der Brief in die Hände, konnte die Sache noch ein
+übles Nachspiel haben, und das war sie nicht wert.
+
+Hätte Pommer in Frau Gretes Innerem lesen können, wäre er ein
+Frauenkenner gewesen, so hätte er bald eingesehen, daß eine Lösung des
+Verhältnisses nur eines einzigen Wortes bedurfte, denn auch sie fand
+keinen Reiz mehr im Verkehr mit einem Manne, der ihr zu pedantisch, zu
+linkisch und unbeholfen vorkam, der sich auf jedes Schmeichelwort
+besinnen mußte und immer erst einen Rippenstoß brauchte, den gebotenen
+Genuß zu kosten. Sie liebte das Feurige, das stürmische Sichhingeben,
+ohne das ewige Grübeln über Recht und Unrecht! Wem sie ihre Liebe gab,
+der mußte mit vollen Zügen den Freudenbecher trinken und ihn von neuem
+begehren, war er in wilder Leidenschaft geleert!
+
+Als dann Pommer eines Tages die Mitteilung erhielt, daß er unter
+Beförderung zum Oberleutnant versetzt sei, kostete es ihm keine große
+Überwindung, von Frau Kahle Abschied nehmen zu müssen.
+
+»Ich gehe fort, wir sehen uns nicht wieder!«, hatte er mit kühler Ruhe
+gesagt.
+
+Und sie stieß einen Schrei aus und sank wie niedergeschmettert auf den
+Divan.
+
+Da hatte er leise die Tür geöffnet und war verschwunden. Sie aber
+schaute ihm durchs Fenster nach, und als er um die Ecke gebogen, schlug
+sie den Flügel auf und spielte einen lustigen Walzer von Strauß.
+
+Da fiel ihr ein, man könnte sie herzlos nennen, wenn sie die Trennung so
+leicht überstände; und so schrieb sie einen acht Seiten langen Brief an
+Oberleutnant Borgert, indem sie den Schmerzen und Seelenqualen einer
+betrogenen, unglücklichen Frau beredten Ausdruck verlieh. --
+
+So sehr waren ihre Worte von dem Empfinden eines wahren, tiefen
+Schmerzens durchweht und so rührend, tief ergreifend die Ausbrüche des
+Jammers um den verlorenen Geliebten, daß niemand sich denken konnte, das
+alles sei nur ein Schauspiel, die virtuos durchgeführte Rolle einer
+Ophelia oder Desdemona. --
+
+Selbst die Herrn des Offizierkorps konnten eine stille Teilnahme nicht
+unterdrücken, als Borgert am Abend den Brief im Kasino verlas, nur einer
+rief mit verschmitzter, verständnisinniger Miene:
+
+ »Fauler Zauber!«
+
+Wußte er das aus Erfahrung? --
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Drittes Kapitel.
+
+
+Am Spätnachmittag eines Herbsttages saß in seiner angenehm durchwärmten
+Stube der Vizewachtmeister Roth und mit ihm Sergeant Schmitz am
+Kaffeetisch.
+
+Die Einrichtung des im ersten Stock der Kaserne gelegenen Raumes machte
+den Eindruck der Wohlhabenheit, und man hätte beim ersten Anblick
+glauben können, ein Mitglied der »oberen Zehntausend« habe hier sein
+Lager aufgeschlagen, wenn sich nicht das Meiste bei näherer Betrachtung
+als überladener, wertloser Putz entpuppt und darauf hingewiesen hätte,
+daß nur die Sucht, dem Raum einen gediegenen Geschmack zu geben, welcher
+gerade in der Einfachheit zu wirken sucht, diese tote Pracht geschaffen.
+Die grün und blau geblümte Tapete war durch große Bilder in schweren
+Eichen- und Goldrahmen stellenweise ganz verdeckt. Über dem Sopha aus
+rotem Plüsch hing eine Reproduktion von Lenbach's »Fürst Bismark«,
+rechts und links davon die Bildnisse zweier Pferde, in Öl gemalt. An
+der Wand gegenüber stand ein Klavier von schwarzem Holz mit silbernen
+Armleuchtern, obgleich weder der Vizewachtmeister Roth noch seine
+Gattin, eine frühere Ladenmamsell, in die Kunst des Klavierspielens
+eingeweiht waren. Doch mit diesem Klavier, auf welchem nur
+allsonntäglich ein junger Unteroffizier der Schwadron mit monotoner
+Akkordbegleitung die »Donauwellen« hervorzauberte, hatte es seine
+besondere Bewandtnis, und nie ruhte der Blick des Besitzers ohne einen
+gewissen Groll auf der schuldlosen »Drahtkommode«.
+
+Im ersten Jahre ihrer Ehe nämlich hatte es die Frau Wachtmeisterin oft
+schmerzlich empfunden, nicht ein Klavier oder gar einen Flügel, das
+Kennzeichen einer »gebildeten« Einrichtung, ihr eigen nennen zu können,
+denn die Kollegin der zweiten Schwadron besaß ein Instrument. Sie
+bedauerte aber das Fehlen eines solchen umso mehr, als sie häufig
+behauptete, in ihrer Jugend Klavierunterricht genossen zu haben.
+
+Roth sprach daher des öfteren mit Nachdruck gegenüber den vier
+Einjährigen der Schwadron von den Talenten seiner Lebensgefährtin auf
+musikalischem Gebiete, die nun elend verkümmern müßten, da er zur
+Anschaffung eines »Pianinos« nicht die nötigen Mittel besäße. Es hatte
+ihn daher kaum gewundert, als er eines Tages jenen »schwarzen
+Wimmerkasten«, wie er ihn nannte, in seinem »Salon« vorfand mit einer
+schriftlichen Widmung der gütigen Spender.
+
+Als aber für die Einjährigen der Tag der Entlassung kam, kam für den
+entsetzten Wachtmeister ein großer Wagen, dessen Rosselenker die Weisung
+hatte, das für sechs Monate gemietete Klavier wieder abzuholen. Um nicht
+zum Gespött der Kameraden zu werden und auf flehentliches Bitten seiner
+Gattin kaufte Roth das Klavier auf Ratenzahlung von zehn Mark monatlich,
+und nun stand das unselige Instrument unbenutzt an der Wand, während die
+Rechnung dafür noch lange nicht abbezahlt war und es jeden Ersten einen
+köstlichen Goldfuchs verschlang. Daher die Wut des Wachtmeisters auf
+dieses Prunkstück seines Salons!
+
+Über dem Klavier prangte ein gewaltig großer Stahlstich von Vernet's
+bekanntem »Leichenschmaus« in schwerem Brokatrahmen, an dessen Ecken je
+ein kleiner japanischer Fächer befestigt war.
+
+Neben dem Klavier stand ein Vertikow aus Nußbaum und darauf sechs grüne
+Weingläser, diesmal ein bar bezahltes Geschenk früherer Einjähriger.
+Auch ein großer eichener Schreib-Tisch fehlte nicht, dessen Ecke von
+einem Vogelbauer mit gelbgefiedertem Bewohner zweckmäßig besetzt war,
+während ein Lineal, ein gewaltiges Schreibzeug aus Hirschhornstangen
+und ein Federhalter die berufliche Ausrüstung dieses Hausmöbels
+darstellten. Über dem Schreibtisch hing, von Rehgehörnen umgeben, ein
+großes Kaiserbild, darunter zwei gekreuzte Säbel und eine Kukuksuhr. Ein
+großer Blumentisch stand am Fenster, bei näherer Betrachtung aber ergab
+sich, daß die Blüten nicht in einem Gewächshause, sondern unter der
+Schere einer geschickten Blumenmacherin erblüht waren.
+
+Den Boden bedeckten zwei weiße Felle und drei Teppiche, sowie ein echter
+Kelim unter dem Sophatisch, über dessen Kanten eine blaue Plüschdecke
+mit großen Quasten fast bis zum Boden herabhing.
+
+Durch die beiden nach Osten gelegenen, mit schweren Portieren behangenen
+Fenster sah man heute dunkelgraue Wolkenmassen am Himmel dahintreiben,
+ein eintöniges, farbloses Meer, aus dem ab und zu kalte Regen- oder
+Hagelschauer sich lösten und, vom heulenden Winde getrieben, wie
+gewaltige Wogen über die Stadt und die öden Felder wälzten.
+
+Wenn der Regen so gegen die Scheiben prasselte, und der Wind im
+Ofenrohre pfiff, dann fühlte man sich um so wohliger in der warmen Stube
+und bedauerte die Kameraden, welche jetzt draußen im Freien Dienst tun
+mußten.
+
+Es war die Zeit, zu welcher das Regiment alljährlich seine Reservisten
+einzog und sie in den hinter der Kaserne gelegenen Baracken
+unterbrachte. Dann war es oft nicht angenehm, bei einem Hundewetter wie
+heute auf dem Exerzierplatz herumstehen zu müssen, und man beneidete die
+Rekrutenunteroffiziere, welche im Stall oder auf den Stuben Instruktion
+abhalten durften.
+
+Einen Vorteil aber brachte die Reserve doch. Man bekam eine Zulage, und
+besonders Roth, der als Wachtmeister zur ersten Reserve-Eskadron
+kommandiert war, stand sich ganz gut dabei. Ferner sah man mitunter
+einen alten Bekannten älterer Jahrgänge wieder, auch frühere Einjährige
+befanden sich unter den Reservisten und hatten meist einen offenen
+Beutel, wenn sie sich dadurch den Dienst etwas erleichtern konnten.
+
+Schmitz war Futtermeister der vierten Schwadron und ebenfalls zur
+Reserve kommandiert. Er versah sein Amt vortrefflich, wer sich davon
+überzeugen wollte, brauchte nur einen Blick auf die Pferde zu werfen,
+wie sie glänzten im Haar, wie schön rund und sauber sie im Stroh
+standen. Der Stall selbst war stets ein Muster von Sauberkeit, kein
+Strohhalm hing aus den Ständen heraus auf den blank gefegten Damm, die
+Wände waren schön weiß gekalkt und die Fenster klar und hell.
+
+Wenn Schmitz den Stall zwischen den Pferdereihen hinabging, dann war es
+geradezu drollig anzusehen, wie alle Tiere seinen Tritt, seine Stimme
+kannten, wie sie die Köpfe nach ihm wandten und leise wieherten, wenn er
+den einen oder anderen seiner Lieblinge anrief. Da war das »Klärchen«,
+ein reizendes Füchschen, das ihm nachlief wie ein Hund und immer mit den
+Nüstern an seinen Taschen nach einem Stück Zucker schnüffelte, dann sich
+auf die Hinterbeine stellte oder bittend einen Vorderfuß erhob, und die
+»Ahnfrau«, ein altes kleines Pferdchen mit tiefschwarzem Glanzhaar, das
+wegen seines Alters aller Liebling war und oft mit Leckereien bedacht
+wurde.
+
+Der besondere Stolz des Futtermeisters aber waren die zwölf Chinesen.
+Sie hatten den ostasiatischen Feldzug mitgemacht und waren dann in das
+Regiment eingestellt worden, schöne Pferde mit herrlichem Haar und
+kräftigen Knochen, wenn auch nicht alle so groß wie »Peiho«, »Wu« und
+»Kwangsü«. --
+
+Die beiden Freunde saßen noch plaudernd am Kaffeetisch, als Frau Roth
+eintrat, eine mittelgroße Brünette mit kleinen Augen und einer gebogenen
+Nase. Ihr Gesicht hätte dem eines Vogels gleichen können, doch verlieh
+das wellige, kastanienbraune Haar dem an sich nicht schönen Kopf einen
+gewissen Reiz. Sie hielt ein Servierbrett, mit einer gestickten
+Serviette überdeckt, in den Händen, darauf stand eine Flasche Moselwein,
+drei Gläser und eine schmale Zigarrenkiste.
+
+»Donnerwetter Roth, bei dir geht's heut aber mächtig üppig zu! So eine
+Feier lasse ich mir gefallen,« rief Schmitz erstaunt.
+
+»Man hat nur einmal im Jahr Geburtstag, da kann man schon etwas springen
+lassen. Schenk' ein, Alte!«
+
+Die Frau goß die Gläser bis zum Rande voll, daß sie fast überliefen. Ein
+freudiges »Prost« ertönte, und alle gossen auf einen Zug das edle Naß
+hinunter. Dann hoben sie noch einmal die Gläser zu einander und sahen
+sich an. Das hatten sie den Herren Offizieren abgelauscht.
+
+Die beiden Männer zündeten sich eine Cigarre an, welche zur Feier des
+Tages eine Leibbinde trug, und füllten die Gläser von Neuem. Eine Stunde
+war ja noch Zeit bis zum Abendstalldienst, und vorher gab es nichts zu
+tun, denn Oberleutnant Specht, der die Reserve-Eskadron führte, kam des
+Nachmittags nie zum Dienst, man hatte also Ruhe.
+
+»Fährst du Weihnachten auf Urlaub?« fragte Roth seinen Freund.
+
+»Weiß noch nicht!« gab Schmitz achselzuckend zur Antwort. »Ich möchte
+ganz gern, ich bin jetzt zwei Jahre nicht aus dem Drecknest
+fortgekommen. Aber es lohnt sich auch gar nicht, für die paar Tage eine
+solche Reise zu machen, denn bis ich hier vom Ende der Welt nach Hause
+komme, brauche ich achtundvierzig Stunden, Rückreise ebensoviel, das
+macht vier Tage und mehr wie sechs gibt es nicht. Die Sache ist auch
+verflucht teuer!«
+
+»Was kostet's denn?«
+
+»Ziemlich dreißig Mark, und so viel hab' ich nicht übrig!«
+
+Roth lachte höhnisch auf.
+
+»Um die paar Kröten geht's? Lumperei!«
+
+»Ja, du hast gut lachen, für dich spielen sie keine Rolle, aber für den,
+der sie nicht hat, z. B. mich!«
+
+»Kann ich dir pumpen, Kleinigkeit!«
+
+»Sag' mal, alter Freund, du hast wohl in der Lotterie gewonnen? Es geht
+immer so hoch bei dir her in letzter Zeit, alle Augenblicke fährst du
+'nunter in die Stadt, rauchst 10 Pfennig-Cigarren und willst auch noch
+verpumpen! Du mußt mindestens geerbt haben!«
+
+»Hab' ich auch, aber es ist keiner gestorben vorher!« lachte Roth
+übermütig. »Die Hauptsache ist, daß man ein bischen schlau ist und alles
+mitnimmt, was einem so über den Weg läuft!«
+
+»Du hast wohl einen Juden totgeschlagen?«
+
+»Nee, doch nicht ganz!«
+
+»Na wie meinst du's denn, ich verstehe dich nicht!«
+
+Roth blinzelte nach seiner Frau hinüber und dann zu Schmitz, der mit
+neugierigen Augen dasaß. Seine Frau sollte also wohl nichts hören. Als
+sie aber gleich darauf aufstand, um eine neue Flasche Wein zu holen,
+begann Roth leise:
+
+»Ich kann's dir ja sagen, aber.......« -- dabei legte er bedeutsam den
+rechten Zeigefinger auf den Mund --, »Maul halten!«
+
+»Selbstredend, ich bin der Letzte, der dich verklatscht!«
+
+»Also, ich habe doch jetzt schon die zweite Reserve. Voriges Mal waren
+eine ganze Portion alte Einjährige dabei, reiche Bauernjungens. Du
+erinnerst dich doch an den dicken Kramer, das vollgefressene Schwein,
+dann den Roßbach, der zwölf Pferde zu Hause im Stall hat, und den
+Scheller, den Unterrocksjäger, und diese Gesellschaft? Die Kerls wissen
+nicht, wohin mit allem Geld, und da werde ich doch den Deubel tun, denen
+auch noch Löhnung, Bekleidungsgeld u. s. w. geben, auf die paar lumpigen
+Groschen kommt's denen doch nicht an. Der Scheller hat mir auch so
+nebenbei einen kleinen Verdienst zukommen lassen. Wie ich am letzten
+Abend vor der Entlassung nachsehe, ob alles in der Klappe liegt, da hat
+der Kerl eine Sau mitgenommen, und wie ich eben loslegen will, da sagt
+er mir ins Ohr: »Nischt sagen, Herr Wachtmeister!« Na, ich hab's Maul
+gehalten, und am nächsten Mittag stak ein blauer Lappen im Mantel.«
+
+»Donnerwetter, Kerl, hast du Dusel! Wenn die Brüder nun aber später
+etwas verraten, wenn sie nicht befördert werden?«
+
+»Sagt keines was, sie sind froh, wenn sie mit dem Kommiß nichts mehr zu
+schaffen haben.«
+
+»Na, ich hätte Angst, es gäbe mal Spektakel!«
+
+»Denkt nicht dran. Jetzt sind wieder da so ein paar fette Jungens, der
+reiche Metzgerjunge da aus Braunschweig und diese Brüder, klotzig reiche
+Kerls, sage ich dir. Soll ich denen die paar Mark auszahlen, damit sie's
+nachher versaufen? Nee, das besorge ich lieber selber. Na prost!«.
+
+Die Gläser erklangen hell und im Augenblick waren sie wieder leer.
+
+»Schmeckt dir das Zeug? Kostet drei Mark die Pulle!«
+
+»Verflucht teuer, wo hast du das her?«
+
+»Stammt noch vom vorigen Jahr, weißt du. Du kennst doch noch den
+Einjährigen Römer? Wie der nicht Unteroffizier werden sollte, habe ich
+mich ein bischen ins Zeug gelegt beim Chef, und da kriegte er die
+Tressen. Dafür hat er so eine Kiste Wein geschickt. Anständig, was?«
+
+»Das glaub ich wohl!«
+
+»Siehst du, alter Freund, man muß immer praktisch sein. Bis voriges Jahr
+hatte ich doch die Menage, nicht? Der Metzger kam nun alle Augenblicke
+und sagte, es wären etwas zu viel Knochen, es hätte sonst nicht genug
+Gewicht. Ein paar mal war auch das Fleisch saumäßig schlecht, zu leicht
+oder zu sehnig. Als ich nun mal Dampf machte und mit Meldung drohte,
+sagte er: Nischt verraten, Sergeant, ich tu's nicht vergessen! Seit der
+Zeit lasse ich auch mein Fleisch da holen und er wiegt anständig, daß
+muß ich schon sagen. Vorgestern war es aber nichts wert, mein Fleisch,
+und da habe ich ihm, als er vorm Laden stand, gesagt: »Jungeken, Du
+weeßt doch noch?« Und gestern kam der tadellose Schweinebraten gratis
+und franko, den meine Alte heute gemacht hat. Ja, das summt sich, alter
+Freund, hier ein Rebbes und dort ein Profitchen.«
+
+Schmunzelnd klopfte der Vizewachtmeister auf seine Hosentasche, in der
+ein gefüllter Geldbeutel klapperte, dann stürzte er ein Glas Wein
+hinunter.
+
+»Trink doch, Kerl, Schmitz, du bist wohl schon voll?«
+
+»Von wegen Vollsein, so schnell geht's nun doch nicht! Prost!«
+
+In diesem Ton ging die Unterhaltung fort, und als die dritte Flasche
+leer war, hörte man beiden an, daß sie nicht mehr viel vertragen
+konnten. Die Augen stierten gläsern und die Köpfe waren hochrot von dem
+ungewohnten Weingenuß. Dabei tönte ihre Rede laut und polternd,
+besonders Roth brachte kaum noch einen richtigen Satz zusammen.
+
+Plötzlich sah er nach der Uhr. Schon sechs! Also Zeit zum
+Abendstalldienst!
+
+»Komm, Schmitz, wir müssen in den Stall, das Viehzeug hat Hunger!«
+
+Sie erhoben sich wankend, Roth schnallte den Säbel um und beide
+polterten die Steintreppe der Kaserne hinab. Roth ließ dabei seinen
+Säbel schleppen, und es gab einen Mordsspektakel, wie die schwere Plempe
+von Stufe zu Stufe klappernd niederfiel.
+
+Mancher steckte neugierig den Kopf zur Tür hinaus und als er die beiden
+angeheiterten Vorgesetzten gewahrte, dachte er: »die haben genug! Wenn
+einer von uns so besoffen in der Kaserne herumtorkelte, ginge es ihm
+gleich an den Kragen.«
+
+Am Ausgange des Gebäudes trat der Gefreite Dietrich der vierten
+Schwadron an Roth heran:
+
+»Ich möchte Herrn Wachtmeister bitten, für Stube X ein paar Kohlen
+herauszugeben, mein Beritt war zum Fouragieren und wir sind alle ganz
+naß geworden. Es ist kalt oben und die Sachen werden sonst bis morgen
+nicht trocken!«
+
+»Was! Kohlen? Geht zum Quartiermeister, ich habe für Euch Lümmels keine
+Kohlen!« lallte Roth.
+
+»Der Quartiermeister ist in die Stadt und da haben Herr Wachtmeister
+doch den Schlüssel zum Keller!«
+
+»Scher' dich weg, Ihr braucht nicht gleich Kohlen, wenn es ein paar
+Tropfen regnet. Legt Euch ins Bett, wenn Ihr friert, Schweinepack,
+gemeines!«
+
+Der Gefreite stand zögernd einen Augenblick still, dann ging er mit
+wütendem Gesicht in die Kaserne.
+
+Im Stall war es schon leer geworden, die Leute befanden sich bereits
+wieder in ihren Stuben, nachdem sie die Streu aufgeschüttelt und die
+Pferde getränkt hatten. Nur die Stallwache war noch anwesend.
+
+Der eine von ihnen, ein Gefreiter, hatte sich im Civil einen so dicken
+Bauch gezüchtet, daß der Quartiermeister beim besten Willen keinen auch
+nur leidlich passenden Rock für den »vollgefressenen Reservehund« finden
+konnte, der Ärmste mußte also seine Übung im Drillichanzug als
+Stallwache ableisten. Der zweite war lungenkrank. Man merkte es erst
+eine Woche nach dem Eintritt und nun hatte es keinen Zweck mehr, den
+Mann noch zu entlassen, im Stall hatte er ja nichts auszustehen. Der
+dritte war ein halber Idiot aus der Polackei, grinste wie ein
+Irrsinniger stets vor sich hin und war im Dienst nicht zu gebrauchen, da
+er alle Vorgesetzten mit »du« anredete und stets zum Honneur die Mütze
+abnahm.
+
+Der Futtermeister erschrack, als er merkte, daß die Futterzeit schon
+überschritten war, denn für seine Pflegebefohlenen sorgte er gut, das
+mußte ihm der Neid lassen. So rief er denn schnell die Stallwache heran
+und trieb sie mit einem: »Galopp, faules Zeug!« zur Eile an. Der kleine
+Futterwagen wurde mit Hafer und Hecksel gefüllt und auf die Stallgasse
+gefahren. Das Quietschen der Holzräder war den Pferden die liebste Musik
+am Tage. Als sie es vernahmen, kam Leben in die erst träge, mit
+hängenden Köpfen dastehenden Tiere, denn sie hatten schon gedacht, man
+habe ihre Abendmahlzeit vergessen. Jetzt sprangen sie wild in den
+Ständen herum, neckten und bissen einander, schlugen übermütig aus, und
+das Rasseln der Ketten mischte sich mit dem Wiehern und Quiecken der
+Pferde zu einem lauten Geräusch. Der »Napoleon« hatte solchen Hunger,
+daß er angesichts der Futterschwinge dem dicken Gefreiten aus
+übermütiger Freude vor den Bauch schlug, sodaß dieser den Hafer fallen
+ließ und mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände auf die getroffene
+Stelle preßte.
+
+Der Vizewachtmeister sah das und rief ihm zu:
+
+»Vorwärts, heb' den Dreck wieder auf, deinem dicken Wanst schadet so ein
+Puff nichts!«
+
+Der Gefreite aber machte keine Miene, dem Befehl nachzukommen, sondern
+hielt noch immer seinen Bauch fest, während ihm Tränen in die Augen
+traten. Da wankte Roth auf ihn zu, knuffte ihn mit der Faust in den
+Rücken und drückte ihn, seinen Hals von hinten umfassend, so tief
+nieder, daß dem armen Kerl das Blut zu Kopfe stieg, während er den
+verschütteten Hafer zwischen der Streu heraussuchte. Als er damit fertig
+war, gab ihm Roth noch einen Schubs, daß er gegen »Napoleons«
+Hinterbeine flog und diese in seiner Angst umklammerte, um nicht unter
+das Pferd zu fallen.
+
+Das ging aber »Napoleon« über den Spaß. Erst kein Futter und dann noch
+solche Scherze! Er keilte mit beiden Beinen kräftig aus und schleuderte
+den armen Gefreiten auf die Stallgasse, wo er bewußtlos liegen blieb.
+
+Roth erschrak. Zum Glück hatte keiner den Vorgang mit angesehen, denn
+Schmitz war mit den beiden anderen gerade am Ende des Stalles
+beschäftigt. So rief er denn die beiden Reservisten herbei und ließ den
+Bewußtlosen nach der Revierstube tragen. Fatal war ihm die Geschichte
+doch, denn der arme Kerl hatte ordentlich eine ins Gesicht gekriegt.
+
+Als der Oberleutnant am nächsten Morgen fragte, warum der Gefreite ins
+Lazaret gekommen sei, antwortete Roth:
+
+»Er ist ungeschickt an das Pferd getreten und hat es erschreckt, da
+schlug es aus und traf ihn an den Kopf!«
+
+»So ein Esel,« schalt der Oberleutnant, »eigentlich sollte man den Kerl
+noch obendrein einsperren, daß er uns die Pferde verdirbt!«
+
+Für heute Abend aber war dem Vizewachtmeister die Laune verdorben.
+
+Im Stalle war es ruhig geworden, man vernahm nur noch ein Rauschen, als
+die vielen Pferdezähne den Hafer zermalmten.
+
+Roth warf einen Blick in die Futterkiste.
+
+»Gib den Rest dem »Zeus«, der ist so mager!« sagte er zu Schmitz.
+
+»Nein, dem gebe ich nichts mehr, der hat genug, außerdem hat er heute
+morgen einen geschlagen. Das Vieh wird ja ganz verrückt, wenn es immer
+lahm im Stall steht und so eine Menge Hafer frißt!«
+
+»Gib's ihm nur, er kann's vertragen!«
+
+»Aber wozu denn, es ist doch Unfug!«
+
+Der Wachtmeister wurde puterrot, nichts konnte ihn wütender machen als
+ein Widerspruch.
+
+»Gib ihm den Rest, sage ich!« polterte er Schmitz nochmals an.
+
+Schmitz aber klappte den Deckel der Kiste zu und entgegnete kurz:
+
+»Ich bin froh, wenn ich etwas sparen kann!« Damit zog er den Wagen fort.
+
+Wütend brauste Roth auf:
+
+»Sergeant Schmitz, Sie wollen meinen Befehl nicht ausführen? Ich werde
+Sie melden!« Damit ließ er den verdutzten Futtermeister stehen, ging
+schwankend, mit finsterer Miene durch den Stall nach seiner Wohnung,
+trank einen Schnaps zur Beruhigung der Nerven und warf sich in der
+Uniform aufs Bett.
+
+Der Lungenkranke und der Pole steckten noch jedem Pferd eine Hand voll
+Heu in die Raufe und legten sich auf das Stroh in der Ecke des Stalles
+schlafen, Sergeant Schmitz aber ging bedächtig nach seiner Stube.
+
+Am folgenden Mittag übergab die Ordonnanz der Reserve-Schwadron dem
+Regiment ein Schriftstück folgenden Inhalts:
+
+ Tatbericht.
+
+ Gestern gelegentlich des Abendstalldienstes erteilte der die
+ Aufsicht führende Vizewachtmeister Roth dem Futtermeister Sergeant
+ Schmitz einen Befehl, welchen dieser nicht ausführte. Als
+ Vizewachtmeister Roth den Befehl nachdrücklich wiederholte,
+ weigerte sich p. Schmitz nochmals, demselben Folge zu leisten. Der
+ Vorfall geschah in Gegenwart der Stallwache, auch war Sergeant
+ Schmitz nach Angabe des p. Roth betrunken.
+
+ _=Specht=_,
+ Oberleutnant und Eskadronführer
+ der 2. Reserve-Übungs-Eskadron.
+
+Der Futtermeister saß gerade beim Essen, als der etatsmäßige
+Wachtmeister an ihn herantrat, ihn für seinen Arrestanten erklärte und
+nach dem Arrestlokal brachte, wo er bis zur Aburteilung des Falles
+verbleiben sollte, denn man hatte sein Vergehen als »ausdrückliche
+Verweigerung des Gehorsams vor versammelter Mannschaft« bezeichnet. Als
+solche galten bereits die beiden Posten der Stallwache.
+
+Mit Windeseile ging der Vorfall von Mund zu Munde, alle waren empört
+über die Handlungsweise Roth's, selbst die Offiziere erklärten
+einstimmig, einem solchen Vorgesetzten müsse man so bald als möglich den
+Laufpaß geben.
+
+Roth aber kam sich groß vor und glaubte, eine Heldentat vollbracht zu
+haben. Außer Dienst war er ein Kamerad, der mit sich spaßen ließ, und
+kein Spielverderber, aber im Dienst, Teufel auch, da sollten sie ihn
+kennen lernen, da hatte jede Vertraulichkeit ein Ende, da hieß es: ich
+befehle und du gehorchst, sonst breche ich dir das Genick.
+
+Sergeant Schmitz saß indes in seiner düsteren, kalten Zelle. Wie leblos
+stierte er den ganzen Tag auf die rauhen Steinfließen, er glaubte zu
+träumen, konnte und konnte nicht glauben, daß er wegen eines
+militärischen Vergehens hier hinter Schloß und Riegel säße. Hatte er
+nicht neun lange Dienstjahre hinter sich, in denen er sich tadellos
+geführt, ohne jemals bestraft worden zu sein?
+
+Erst allmählich kam ihm der Ernst seiner Lage zum Bewußtsein, und damit
+wuchs ein glühender Haß heran gegen den Mann, welchen er für einen
+Freund gehalten, der ihm in einer Laune, unter dem Einfluß der
+Trunkenheit die Früchte seines bisherigen Lebens und damit die Zukunft
+zerstört hatte. Dem Schurken wollte er es zeigen, wenn er wieder auf
+freiem Fuße stand, niemand sollte es verborgen bleiben, welche
+grundgemeine Gesinnung dieser Hallunke hinter seinem schöntuerischen
+Wesen verbarg.
+
+Daß man ihn vor ein Kriegsgericht stellen würde, schien ihm außer
+Zweifel, tatsächlich lag ja eine ausdrückliche Gehorsamsverweigerung
+vor, aber die Verhandlung mußte ergeben, daß die näheren Umstände dem
+scheinbaren Vergehen jedes erschwerende Moment benahmen und es sich
+sonach nur um einen Wortwechsel handelte, dem allerdings leicht ein
+dienstlicher Charakter untergeschoben werden konnte, wenn man das bis zu
+dem Augenblick der strafbaren Handlung bestehende und willkürlich
+abgebrochene freundschaftliche Verhältnis Roth's zu Schmitz außer Acht
+ließ.
+
+Dieser Punkt aber mußte bei einer Verhandlung geschickt und eingehend
+beleuchtet werden, denn an ihm hing der Ausgang der Sache!
+
+Sergeant Schmitz meldete daher beim Regiment, er erbitte die Gestellung
+eines Verteidigers und gleichzeitig die Erlaubnis, mit diesem in
+schriftlichen oder mündlichen Verkehr treten zu dürfen.
+
+Er war aber nicht wenig erstaunt, als schon nach wenig Tagen
+die Mitteilung an ihn gelangte, ein Verteidiger könne von
+Militärgerichtswegen nur bei Aburteilung über Verbrechen gestellt
+werden, doch stehe der Annahme eines solchen auf eigene Kosten sowie
+eine Besprechung mit demselben während der Untersuchungshaft nichts im
+Wege.
+
+Also auch das noch! Woher das Geld nehmen für einen Verteidiger? Und
+ohne den war geringe Aussicht auf Erfolg, er fühlte sieh dem
+redegewandten Roth und gar den Richtern gegenüber nicht gewachsen, er
+konnte nicht die Umstände ins richtige Licht setzen, wie sie ihm als
+Erklärung der Angelegenheit so wichtig erschienen. Es half also nichts,
+das Geld mußte beschafft werden!
+
+Nach dreiwöchiger Untersuchungshaft wurde endlich der Termin anberaumt,
+an welchem die Hauptverhandlung stattfinden sollte. Schmitz glaubte dem
+Ausgange ruhig entgegensehen zu dürfen, hatte ihm doch selbst sein
+Verteidiger erklärt, eine ungünstige Wendung sei nicht zu erwarten,
+sobald man den Richtern von der Handlungsweise Roth's und den näheren
+Umständen ein klares Bild entworfen haben würde. Schmitz sah daher in
+dem für den Termin bestimmten Tag den Augenblick der Befreiung, der ihn
+von diesem einsamen, schauerlichen Dasein der letzten Wochen erlösen
+werde.
+
+Selbst die ihm endlich zugestellte Anklageschrift vermochte seine
+Hoffnung nicht niederzudrücken, darin stand eben alles von der
+schroffsten Seite beleuchtet, damit man überhaupt eine Handhabe zur
+Anwendung der in Frage kommenden Gesetze habe.
+
+Sie lautete:
+
+»Wider den Sergeanten Ferdinand Julius Schmitz ist Strafantrag wegen
+Vergehens gegen §§ 94 des Militär-Strafgesetzbuches gestellt.
+
+Wenngleich der Angeklagte behauptet, mit dem Vizewachtmeister Roth in
+einem besonders freundschaftlichen Verhältnis gestanden zu haben, so ist
+hierin kein Grund zu erblicken, der zur Nichtbefolgung eines Befehls im
+Dienst berechtigt. Vielmehr geschah die Gehorsamsverweigerung in Bezug
+auf einen zweimal mit Nachdruck gegebenen Befehl in Gegenwart der
+Stallwache, also vor versammelter Mannschaft.
+
+Die Entschuldigung des Angeklagten, infolge Weingenusses in erregter
+Stimmung gewesen zu sein, ist kein Milderungsgrund, vielmehr ist in dem
+Umstand, daß die Tat auf Trunkenheit im Dienst zurückzuführen ist, ein
+Grund zur Erhöhung des Strafmaßes zu erblicken.
+
+Aburteilung hat durch das Kriegsgericht zu geschehen.«
+
+Das klang ja allerdings ganz gefährlich, wie wenn er ein Verbrecher
+schlimmster Sorte wäre, er, der sich neun Jahre vorwurfsfrei geführt. Er
+mußte fast lachen über diese Anschuldigung, sie enthielt eben nur eine
+ganz subjektive, einseitige Beurteilung des Falles.
+
+Am 20. Oktober Mittags zwölf Uhr begann die Verhandlung.
+
+Die Richter waren aus dem Sitz des Generalkommandos herübergekommen und
+saßen mit ernsten Gesichtern an dem langen Tisch, ein Major, ein
+Hauptmann, ein Oberleutnant, ein Kriegsgerichtsrat als Führer der
+Verhandlung und ein zweiter, welcher die Anklage erhob.
+
+Nachdem Schmitz nochmals den Sachverhalt geschildert, wurde Roth als
+Zeuge vernommen. Er stellte die Angelegenheit im grellsten Lichte dar,
+wollte nichts von einer Freundschaft wissen und leugnete auch auf das
+Entschiedenste, ebenfalls betrunken gewesen zu sein, wie es Schmitz
+behauptete. Als Zeugen seiner Nüchternheit hatte er den Lungenkranken
+und den Polen gewonnen, welch' letzterem er eingepaukt hatte, auf alle
+Fragen mit dem Kopfe zu schütteln, womit er auch Glück hatte, da die
+Fragen zufällig entsprechend gestellt waren. Schließlich beschwor der
+Vicewachtmeister mit fester Stimme die Wahrheit seiner Aussage.
+
+Das war allerdings eine unerwartete Wendung. Schmitz hatte nicht
+erwartet, auch noch mit der Lüge kämpfen zu müssen, und seine Hoffnungen
+sanken beträchtlich, als er den Major mißbilligend mit dem Kopfe
+schütteln sah.
+
+Es folgte sodann die Anklagerede des Kriegsgerichtsrats, die etwa wie
+die Anklageschrift lautete.
+
+Sodann erhob sich der Verteidiger. Mit beredten Worten schilderte er
+nochmals den Vorgang, erwog die näheren Umstände, wies auf das ihm durch
+Zeugen bestätigte frühere Verhältnis der Gegner und schließlich darauf
+hin, daß sich der ganze Vorgang im Anschluß an eine Geburtstagsfeier
+zugetragen habe. Nach alledem, und mit Rücksicht auf die bisherige
+Führung des Angeklagten sei auf Freisprechung zu erkennen.
+
+Das Gericht zog sich zur Beratung zurück und es dauerte lange, bis die
+Herren mit ernsten Gesichtern wieder im Verhandlungszimmer erschienen.
+
+Schmitz glaubte einen Augenblick die Besinnung verlieren zu müssen, als
+er das Urteil vernahm: zwei Monate Gefängnis!
+
+Er sah sein Leben vernichtet. Umsonst waren die langen Jahre, die er mit
+Aufopferung seiner besten Kraft dem Vaterlande gedient; seine
+Zukunftspläne, nach zwölfjähriger Dienstzeit eine Anstellung am
+Bürgermeisteramt seiner Vaterstadt zu erhalten, waren mit einem Schlage
+vernichtet. Was würden seine Eltern, seine Geschwister sagen, was sollte
+aus seiner Braut werden?
+
+Eine namenlose Wut packte ihn, den Mann hätte er auf der Stelle würgen
+können, der mit Gemeinheit, Lüge und Meineid sein Dasein zerstört und
+jetzt mit höhnischer Miene an ihm vorüberschritt. Ja, er hörte den
+Kommandeur zu dem ehrlosen Lumpen sagen: »So ist's recht, Roth, scharf
+im Dienst, so wünsche ich mir meine Unteroffiziere.«
+
+Nun, die Rache sollte nicht ausbleiben. Schmitz wurde am 21. Oktober
+durch einen Wachtmeister auf Festung gebracht, wo viele Stunden der
+Selbstverleugnung und schwere Tage seiner warteten.
+
+So kam allmählich die Weihnachtszeit heran. Schnee bedeckte den
+Kasernenhof, alles lag öde, leblos und starr durch die grimmige Kälte
+der letzten Tage.
+
+Ein großer Teil der Mannschaften hatte Urlaub für die Festtage erhalten,
+und ein jeder nahm im Dienst seine ganze Kraft zusammen, um nicht im
+letzten Augenblick der zu erwartenden Freuden beraubt zu werden.
+
+Fast allabendlich fuhren die Herren des Offizierkorps, natürlich ohne
+Urlaub, nach der Nachbarstadt, um Weihnachtseinkäufe zu machen, denn
+nach Hause fahren wollte nur einer von ihnen, die anderen beabsichtigten
+eine kleine Feier im Kasino, wo sie sich gegenseitig kleine Geschenke zu
+machen gedachten.
+
+Borgert und Leimann kehrten stets mit Packeten beladen zurück, sie
+kauften alles, was ihnen gefiel, Geld würde sich später einmal finden,
+denn jetzt pumpte ja jeder mit Freuden, wenn er nur seine Ware los
+wurde.
+
+An den geschäftlichen Teil in der Stadt schloß sich meist ein kleines
+Gelage in einem guten Restaurant, und oft kam es vor, daß die Herren in
+recht angeregter Stimmung den letzten Zug zur Garnison bestiegen.
+
+Eines Abends hatte auch der neue Riesling besonders gut geschmeckt, und
+alle langten ziemlich »blau« in später Nacht zu Hause an.
+
+Der Regimentsadjutant fand ein Diensttelegramm in seiner Wohnung vor und
+mußte sich noch einmal, trotz der späten Stunde zum Regimentsschreiber
+begeben, um mit diesem über die Erledigung des Telegramms Rücksprache zu
+nehmen.
+
+Starker Schneefall war eingetreten, und der scharfe Ostwind trieb die
+Flocken in wildem Wirbelspiel durch die kalte Luft, sodaß man die Augen
+zusammenkneifen mußte und nur mit Mühe den zugewehten Weg erkennen
+konnte.
+
+Die Störung zu mitternächtlicher Stunde paßte dem bequemen Müller gar
+nicht und er schimpfte vor sich hin, als er die Allee zur Kaserne
+entlang schritt. Auch pflegte er in angeheitertem Zustand meist
+schlechte Laune zu haben, war händelsüchtig und brach gerne einen Streit
+vom Zaune, in dessen Verlauf er in unschöner Weise auf seine
+Sonderstellung als Adjutant und seine dabei gewonnene Diensterfahrung
+hinwies. Die Kameraden nannten es Größenwahn.
+
+Durch die schneeerfüllte Luft sah man nur vor dem hellen Fenster der
+Wachtstube die dicken Flocken in wildem Spiele tanzen, drinnen aber
+schlief der Wachthabende und neben ihm zwei Gemeine.
+
+Der Offizier vom Dienst war schon dagewesen und so hatte man es sich
+bequem gemacht, der Vorschrift entgegen Säbel und Helm abgelegt, den
+Rock geöffnet und eine warme Decke aus der Kaserne herbeigeholt.
+
+Auf Posten stand der Gemeine Röse. Er hatte in dem Schilderhaus Schutz
+vor dem Unwetter gesucht und stand, den Säbel in der kalten Faust, an
+der Rückwand des schwarz und weiß gestrichenen Häuschens. Warum sollte
+er das nicht? Es war ja ausdrücklich gestattet!
+
+Seine Gedanken weilten in der Ferne bei den Eltern und Geschwistern, die
+er in zwei Tagen zum ersten Male seit langer Trennung wieder sehen
+sollte. Wie freute er sich auf diese Stunde, da er nun als schmucker
+Kavallerist die Lieben daheim begrüßen, alte Freunde und im Stall den
+»Hans«, das brave Pferd, die blanken Kühe und die fetten Schweine
+wiedersehen durfte!
+
+Aus seinen Gedanken schreckte ihn plötzlich ein lauter Ruf:
+
+»Posten!«
+
+Röse blinzelte durch die runde Luke an der Seitenwand des
+Schilderhauses, konnte aber niemand entdecken. Erst auf einen
+nochmaligen, laut durch die Winternacht hallenden Ruf trat er heraus und
+erkannte in dem undurchsichtigen Schneetreiben eine Gestalt, welche auf
+ihn zukam.
+
+»Warum präsentieren Sie nicht, Sie Schwein!« brüllte der
+Regimentsadjutant.
+
+»Verzeihen Herr Leutnant, ich habe Herrn Leutnant nicht gesehen.«
+
+»Halt' die Schnauze, verlogenes Aas, geschlafen hast du im Schilderhaus,
+eine Ewigkeit stehe ich hier und warte. Aber ich werde dir zeigen, du
+Bauer, was du zu tun hast!«
+
+Damit schritt er vorbei und ließ Röse in starrem Schrecken stehen. Aus
+dem Regimentsgeschäftszimmer schrieb er folgende Meldung:
+
+»Den von 12 bis 2 stehenden Posten fand ich bei einer Revision schlafend
+im Schilderhause vor. Derselbe trat erst nach zweimaligem Anruf heraus.
+Etwaige Einwendungen des Mannes, mich nicht gesehen zu haben, muß ich
+von vornherein als Unwahrheit bezeichnen, da ich genau bemerkt habe, daß
+er geschlafen hat.«
+
+Die Meldung legte er auf den Arbeitstisch des Kommandeurs. Dann holte er
+den Schreiber aus dem Bett, verhandelte mit dem im Hemd auf dem kalten
+Korridor vor ihm stehenden Manne fast zehn Minuten und schritt dann
+seiner Wohnung zu. Er hatte jetzt sein Mütchen gekühlt und konnte ruhig
+schlafen. -- --
+
+Am Nachmittag des 22. Dezember kehrte Sergeant Schmitz aus dem Gefängnis
+zurück.
+
+Die früher so stolze, stramme Haltung hatte er verloren, sein Gesicht
+war bleich und der sonst so keck in die Höhe gewirbelte schwarze
+Schnurrbart hing strähnig um die Mundwinkel. Scheu sah er die ihm
+Begegnenden an, und wenn ein Soldat ihn grüßte, hielt er es für eine
+besondere Freundlichkeit, die ihm nicht zukomme, da er glaubte, in aller
+Augen zu lesen:
+
+»Seht, das ist ein Bestrafter, ein Verbrecher!«
+
+Als er sich beim Schwadronchef zurückmeldete, reichte ihm dieser die
+Hand.
+
+»Tut mir leid, mein lieber Schmitz, daß ich Sie verlieren muß, Sie waren
+mir stets ein Untergebener, auf den ich stolz war und der seinen Dienst
+wie kein zweiter getan hat. Aber der Oberst hat befohlen, daß ich die
+Kapitulation mit Ihnen aufhebe und Sie sofort entlasse. Der Wachtmeister
+wird mit Ihnen das Nötige ordnen. Trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß
+Sie das Opfer einer gemeinen Gesinnung geworden sind, und so wünsche ich
+Ihnen alles Gute; wenn Sie mich brauchen können, bin ich stets mit
+Freuden bereit. Leben Sie wohl!«
+
+Schmitz unterdrückte mit großer Mühe das Weinen, der Rittmeister aber
+ging dem Stall zu. Es ging ihm wirklich nahe, dieser nette, stramme
+Kerl, eine Stütze der Schwadron, um nichts und wieder nichts ins
+Unglück gestürzt und auf die Straße gesetzt! Es war eine Schweinerei!
+
+So ging denn Schmitz zum Wachtmeister, der ihm seine Papiere und fünfzig
+Mark auf sein Sparkassenbuch übergab. Auch er drückte ihm bewegt die
+Hand.
+
+»Haben Sie noch Invalidenansprüche, Schmitz?« fragte er darauf.
+
+»Ich habe Rheumatismus seit dem Manöver, wo wir wegen Seuchenverdacht
+der Pferde drei Wochen biwakieren mußten!«
+
+»Das haben Sie aber damals nicht gemeldet, und es ist schon fast 1-1/2
+Jahre her.«
+
+»Gemeldet habe ich es nicht, weil ich mich nicht krank schreiben lassen
+wollte, ich mochte den Rittmeister mit den heruntergekommenen Pferden
+nicht sitzen lassen.«
+
+»Ich werde beim Regiment sofort Meldung machen, Sie können ja
+einstweilen Ihre Sachen abgeben!«
+
+So stieg denn Schmitz zu seiner Stube hinauf, packte die
+Montierungsstücke zusammen und schnürte seine paar Habseligkeiten in
+einen kleinen Koffer. Ehe er aber seine Uniform auszog, ging er in die
+Stadt und kaufte für 45 Mark einen Zivilanzug, einen Kragen und einen
+Hut. Schuhe besaß er noch.
+
+Dann brachte er alle Uniformstücke dem Quartiermeister auf die Kammer,
+dem er auch seinen Extrarock, eine eigene Mütze und eine lange Hose für
+dreißig Mark verkaufte. Den Säbel wollte er als Erinnerung aufheben.
+
+Jetzt kam das Schwerste, der Abschied von den Kameraden und den Pferden.
+Jeder hatte ein freundliches Wort für ihn, und mancher stumme Händedruck
+gab den schmerzlichen Gefühlen Ausdruck, mit denen man den lieben
+Kameraden scheiden sah. Selbst die Mannschaften drängten sich heran, um
+von ihm Abschied zu nehmen, er hatte sie zwar manchmal tüchtig
+vorgenommen, aber sie kannten ihn als einen anständigen Kerl, der sie
+nicht im Stiche ließ, wenn es darauf ankam.
+
+Als der Mittagsstalldienst zu Ende war, ging Schmitz in den Stall. Kein
+Gang war ihm im Leben so schwer geworden, wie dieser, und als er die
+geliebten Tiere aus den eben gefüllten Krippen zu sich aufblicken sah,
+sobald sie seine Stimme hörten, da hätte er laut aufschreien mögen vor
+Weh und Schmerz.
+
+Für »Klärchen« hatte er ein Stück Zucker mitgebracht und sowie er zu ihm
+in den Stand trat, suchte es gleich nach dem gewohnten Leckerbissen und
+bat mit gehobenem Fuß um einen zweiten. Er legte seinen Kopf an den
+sammetweichen Hals des Tieres, strich ihm kosend über die schönen Augen
+und die weichen Nüstern und küßte das Tier auf den Hals. Als er es
+verließ, glaubte er in dem traurigen Blick und den leisen Wiehern einen
+Abschiedsgruß zu empfinden. Auch von der alten »Marie« nahm er Abschied.
+Wie lange mochte sie wohl noch den Dienst aushalten? Zuletzt ging er zu
+»Napoleon«, dem Schmerzenskinde, aber auch er zeigte heute keine Spur
+der gewohnten Bösartigkeit, sondern sah den fremden Mann in Zivil mit
+fragenden Augen an.
+
+Noch einen letzten Blick warf er auf seine Lieblinge, dann ging er mit
+unterdrücktem Schluchzen wieder der Stube zu, um seinen Koffer zu holen.
+
+Im Eingang trat ihm der Wachtmeister entgegen.
+
+»Mit Ihren Invalidenansprüchen ist es nichts, Schmitz, der Oberst hat
+gesagt, Sie hätten es gleich melden müssen, jetzt könnte jeder kommen.
+Dann hat er mir noch die Rechnung Ihres Rechtsanwaltes übergeben, der
+das Regiment um Eintreibung der Schuld ersucht hat. Es sind sechzig
+Mark, wenn Sie nicht zahlen können, soll eine Pfändung vorgenommen
+werden.«
+
+Daran hatte Schmitz gar nicht mehr gedacht.
+
+»In einer Stunde ist das Geld zur Stelle, Herr Wachtmeister!« sagte er
+nach kurzem Bedenken.
+
+Darauf ging er der Stadt zu und trat bei einem Uhrmacher ein, legte
+seine silberne Uhr mit Kette auf den Ladentisch und fragte mit fester
+Stimme:
+
+»Was geben Sie mir dafür? Ich brauche Geld!«
+
+Der Uhrmacher besah mit spöttischen Augen das Stück und sagte dann
+achselzuckend:
+
+»Zwanzig Mark, das ist aber reichlich Geld.«
+
+Schmitz rechnete. Fünfunddreißig hatte er noch, zwanzig dazu machte
+fünfundfünfzig, es fehlten noch fünf Mark. Da streifte er entschlossen
+einen Ring vom Finger, das einzige Andenken an seinen verstorbenen
+Vater.
+
+»Was ist Ihnen der wert?«
+
+»Zehn Mark, mehr nicht!«
+
+»Gut, geben Sie her, Sie haben es dafür!« Schmitz strich die drei
+Goldstücke ein, ging zur Kaserne, zahlte dem Wachtmeister sechzig Mark
+aus und holte seinen Koffer, um den Abendzug zur Stadt noch zu
+erreichen.
+
+Wer den bleichen Mann mit dem kleinen Koffer gesenkten Blickes
+dahinziehen sah, ahnte nicht, daß es ein königlich preußischer Sergeant
+war, der jetzt eines ungeschickten kleinen Vergehens wegen, ohne einen
+Pfennig, aber mit Rheumatismus in allen Knochen und einer zertretenen
+Vaterlandsliebe im Herzen auf die Straße gesetzt war, um sich ein neues
+Lebensziel zu suchen, nachdem er seine beste Kraft, seine Gesundheit und
+seine Jugend dem Staat geopfert hatte.
+
+Auf der Anhöhe, von welcher aus man einen Blick auf die in ihrem
+weihnachtlichen Schneegewande ruhende Kaserne hatte, schaute er noch
+einmal hinunter und schüttelte drohend den Arm, einen wütenden Fluch
+ausstoßend.
+
+Dann bestieg er auf dem Bahnhof einen Wagen vierter Klasse desselben
+Zuges, in welchem zahlreiche Soldaten singend und scherzend nach der
+Heimat fuhren, um dort im Kreise der Familie das Weihnachtsfest zu
+feiern. --
+
+Der Abend des 24. Dezember war gekommen. Alle Welt, Tausende, Millionen
+waren heute glücklich, fühlten den Zauber, den das schönste aller
+Christenfeste selbst auf das härteste Gemüt ausübt, weil es heilige
+Erinnerungen in uns weckt. Es ist das hohe Fest der Liebe Gottes zum
+Menschen, der Liebe des Christen zum Nächsten. Und keiner ist es, den
+nicht der feierliche Klang der Weihnachtsglocken in eine weiche Rührung,
+eine stille Andacht versetzt: der mächtige König im Palast und der Arme
+in seiner Hütte, selbst der Verbrecher hinter der Kerkermauer, alle
+öffnen ihr Herz den Strahlen der Liebe, die es an diesem Abend
+durchleuchten.
+
+ * * * * *
+
+Friedrich Röse saß in der schlecht erwärmten Arrestzelle, in welcher er
+die 14tägige Strafe wegen Wachtvergehens verbüßte.
+
+Durch den mit Eisblumen bedeckten kleinen Lichtschacht sah er hinauf
+nach dem Fenster im ersten Stock der 3. Eskadron, wo ein Weihnachtsbaum
+im Lichterglanz erstrahlte. Schwermütig ernst ertönten die Klänge jenes
+ewig schönen Weihnachtsliedes, dessen Musik gerade in ihrer Eintönigkeit
+ergreifend wirkt. Fröstelnd saß er auf dem Rand der harten Holzpritsche,
+und eine Träne rollte über die Wangen hinab auf das Steinpflaster des
+Fußbodens. Wieder weilten die Gedanken daheim, aber nicht freudig,
+erwartungsvoll, sondern Verstimmung, Schmerz und Sehnsucht lagen in den
+Zügen des jungen Mannes.
+
+Mit welcher Freude, welchem Eifer hatte er sich zum Militär gemeldet!
+Schon sein Vater, einst Wachtmeister der Gardekürassiere, schilderte das
+herrliche Soldatenleben in den schönsten Farben und hatte keinen
+größeren Wunsch, als seinen Jungen einmal als flotten Unteroffizier
+wiederzusehen.
+
+Aber das gab es jetzt nicht mehr, er war bestraft mit strengem Arrest,
+gebrandmarkt für seine ganze Dienstzeit.
+
+Die freudige Lust am Soldatenstande hatte sich mit einem Male in Haß und
+Ingrimm verwandelt gegen den bunten Rock, gegen alles, was Soldat sein
+bedeutete, mit einem Schlage war aus dem diensteifrigen, strebsamen
+Rekruten einer von den vielen geworden, die nur Soldat sind, weil sie
+es müssen und die den Tag der Entlassung als den ihrer Freiheit
+ersehnen.
+
+Und warum war das alles?
+
+Nicht weil er wissentlich seine Pflicht verletzt hatte, sondern weil es
+einem jener Herren Offiziere einfiel, die Laune seiner Trunkenheit an
+dem ersten besten Opfer auszulassen, das ihm in die Hände fiel. Und was
+der Herr in seiner Meldung behauptete, stand als bombenfeste Tatsache
+da, wer daran zweifelte, beging ein neues Vergehen, die
+Achtungsverletzung.
+
+Röse hatte auf die bezügliche Frage seines Rittmeisters den Vorgang
+geschildert und seine Unschuld hoch und heilig beteuert, aber der
+Adjutant hatte hierauf erwidert, der Mann wolle sich jetzt herauslügen.
+Was er gemeldet habe, sei Tatsache.
+
+Oder sollte er zugestehen: Ich habe dir Unrecht getan, habe mich geirrt,
+denn ich war betrunken und übler Laune? Fiel ihm gar nicht ein, er
+konnte sich diese Blöße nicht geben. Wie durfte er, der unnahbare, nie
+fehlende Regimentsadjutant eingestehen, sich geirrt zu haben? Er irrte
+sich eben nie, und was schadete es groß dem Kerl, wenn er die paar Tage
+brummte?
+
+Was es schadete?
+
+Daß es einen Apostel mehr gab, der verkündete, er sei als Soldat ein
+gepeinigter, in ein beschwerliches Joch gezwungener Mensch, der
+Spielball seiner Vorgesetzten gewesen, die ihre Laune an ihm ausließen,
+wie es ihnen behagte, daß unverdiente Härte und Ungerechtigkeit, gegen
+die es keine genügende Waffe gab, da zu finden gewesen seien, wo
+indviduelle Behandlung, Rücksicht und einsichtsvolle Überlegung am
+Platze wären.
+
+Und was es weiter schadete?
+
+Daß Jedermann, dem Röse in späteren Jahren seine Papiere vorlegte, die
+Achseln zuckte und dachte: »Du scheinst mir auch kein zuverlässiger
+Bruder zu sein, 14 Tage wegen Wachtvergehens, das ist übel!« -- -- -- --
+
+Gegen neun Uhr schreckte Röse ein Geräusch an der Tür aus seinen
+Gedanken. Ein Schlüsselbund klapperte, das Schloß schnappte und herein
+trat der Offizier vom Dienst, hinter welchem der Wachthabende stand.
+
+Röse sprang auf, nahm eine militärische Haltung ein und meldete:
+
+»Gemeiner Röse mit 14 Tagen wegen Wachtvergehens bestraft!«
+
+Der Offizier schaute einen Augenblick in das Innere der dunkelen Zelle,
+ob er nicht etwa einen verbotenen Gegenstand außer der Schlafdecke und
+dem Wasserkrug entdeckte, dann wandte er sich zum Gehen. Da sagte Röse
+zögernd:
+
+»Gestatten der Herr Leutnant eine Bitte?«
+
+»Wenden Sie sich an den Wachthabenden, wenn Sie etwas wollen«,
+entgegnete der Offizier kurz und tappte die Steintreppe hinunter,
+vorsichtig um sich schauend, daß er sich den grauen Mantel an dem
+staubigen Treppenhaus nicht beschmutze.
+
+Der Wachthabende begleitete ihn bis zum Ausgang und kehrte dann zu Röse
+zurück.
+
+»Was wolltest du denn?« fragte er wohlwollend.
+
+»Ich wollte bitten, wenn ein Brief für mich da wär, daß ich ihn jetzt
+bekommen kann, Herr Unteroffizier!« antwortete Röse schüchtern.
+
+»Ja, mein Junge,« lachte der Unteroffizier gutmütig, »das geht
+eigentlich nicht -- erst absitzen, dann's Vergnügen.« Wie er aber Röse,
+der von seiner Schwadron war und den er gut leiden mochte, mit dem
+trübseligen Gesichte vor sich stehen sah, tat ihm der arme Junge leid.
+Es war doch eine harte Sache, hier den heiligen Abend verleben zu müssen
+und obendrein wegen einer solchen Lappalie, und schließlich sogar
+unschuldig. Er sagte daher freundlich zu Röse:
+
+»Na ja, ich werde mal nachfragen lassen.«
+
+Er verschloß die Zelle wieder und schickte einen Mann zu Röse's
+Berittführer mit der Bitte, doch einmal zu ihm zu kommen. Und als dieser
+herbeigekommen war, fragte der Wachthabende den Berittführer:
+
+»Ist ein Brief für den Röse da?«
+
+»Ein Brief nicht, aber ein Packet habe ich für ihn vom Wachtmeister
+bekommen!«
+
+»Weiß du was?« flüsterte der Wachthabende, »mach die Kiste auf und bring
+dem Kerl was rüber, das arme Luder tut mir leid.«
+
+Der Berittführer nickte und verschwand, um bald mit einem Brief, einer
+Wurst und einem Stück Kuchen zurückzukehren. Der Wachthabende nahm alles
+in Empfang und stieg zu Röse hinauf. Gleichzeitig hieß er einen Mann mit
+einem Eimer Kohlen mit sich gehen.
+
+Nach wenigen Minuten flackerte das Feuer in der Zelle wieder hell und
+Röse stand davor, um beim flackernden Schein den Brief der Eltern zu
+lesen. Dabei rannen ihm beständig die Tränen über die Backen. Dann
+versteckte er wie einen kostbaren Schatz Wurst und Kuchen hinter der
+Pritsche, hüllte sich in seine Decke ein und legte sich auf das harte
+Holzbett nieder.
+
+Bald schloß der Schlaf die verweinten Augen, und im Traum saß Röse
+daheim unter'm Weihnachtsbaum im Kreise seiner Eltern und Geschwister.
+
+Der 28. Dezember war ein Trauertag für die vierte Schwadron.
+
+Die Leute, die erst am Abend vorher von Urlaub zurückgekehrt waren,
+gaben heute einem Kameraden das letzte Geleit: man trug den Gefreiten
+Dietrich zum Friedhof hinaus.
+
+Er war stets ein schwächlicher Mensch gewesen. Damals aber, als er
+erhitzt und vom Regen durchnäßt in die kalte Stube kam und kein Feuer
+anbrennen konnte, weil ihm Roth die Kohlen verweigerte, packte ihm am
+selbigen Abend ein heftiges Fieber. Nach zwei Tagen stellte der Arzt
+Gelenkrheumatismus fest, der so stark auftrat, daß das Herz in
+Mitleidenschaft gezogen wurde und der Arme am ersten Weihnachtsfeiertage
+an Herzschlag starb.
+
+Die tieferschütterten Eltern hatten zwar telegraphisch um Überführung
+der Leiche ihres einzigen Sohnes zum Heimatsort gebeten, doch da das
+Geld für einen Zinksarg und den Transport nicht kam, fand die Beerdigung
+auf dem Garnisonsfriedhof statt.
+
+Am nächsten Tage wurde auch der vom Pferde geschlagene dicke
+Reserve-Gefreite aus dem Lazaret entlassen. Seine Verletzungen schienen
+zwar geheilt, doch war das ganze Gesicht durch die zurückgebliebenen
+Narben schrecklich entstellt und das linke Auge durch eine Operation
+entfernt worden, da man infolge der Verletzung desselben fürchtete, das
+andere Auge könnte in Mitleidenschaft gezogen werden.
+
+So kehrte denn der Unglückliche als Halbinvalide mit einer monatlichen
+Pension von neun Mark in die Heimat zurück.
+
+ * * * * *
+
+Der ehemalige Sergeant Schmitz saß am Sylvesterabend in seiner dürftigen
+Stube.
+
+Er hatte sich, um der äußersten Not vorzubeugen, als Arbeiter einer
+großen Fabrik der Nachbarstadt verdingt und konnte so wenigstens seinen
+Lebensunterhalt verdienen. Er bewohnte ein mäßiges Zimmer im zweiten
+Stock eines Arbeiterhauses und wurde von der darin hausenden Familie
+gegen geringes Entgeld mit verpflegt.
+
+Jetzt saß er am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Vor ihm stand
+ein Teller mit den Resten des kärglichen Abendbrotes, und eine kleine
+Lampe mit zerbrochenem Schirm warf einen matten, rötlichen Schein auf
+die am Tisch sitzende Gestalt und die ärmliche Einrichtung des kleinen
+Raumes. An der Wand stand ein eisernes Bett mit rot und weiß kariertem
+Bezug, und darüber waren Klinge und Scheide des Säbels übers Kreuz
+befestigt.
+
+Auf einem kleinen Holzschemel stand eine Waschschüssel, daneben lag ein
+graues Handtuch. Das Feuer in dem kleinen Ofen war längst erloschen, nur
+einzelne klimmende Köhlchen lebten noch darin.
+
+Wer den Mann da sitzen sah, konnte glauben, einen Schlafenden vor sich
+zu haben, aber Schmitz wachte, und in seinem Kopf jagten wilde Gedanken
+durcheinander. Er dachte an vergangene Zeiten, und je schroffer ihm
+seine jetzige Lebenslage von früheren Zeiten abzustechen schien, um so
+grimmiger wurde sein Haß gegen den, welcher ihn in seine jetzige Lage
+gebracht; er sann auf Rache, wie er jenen elenden Schurken strafen und
+brandmarken könne für seine gewissenlose, gemeine Handlungsweise.
+
+Eine Weile noch saß er brütend da, dann erhob er sich mit finsterem
+Gesicht und trat an's Fenster, hauchte ein kleines Loch in die dicken
+Eisblumen und schaute hindurch nach der erleuchteten Uhr des
+Kirchturmes, aus dem jetzt das melodische Läuten der Glocken in die
+kalte Nacht hinaus drang, das Herannahen des neuen Jahres kündend.
+
+Elf Uhr! Schmitz setzte seinen Hut auf, ergriff den Spazierstock, blies
+die Lampe aus und ging die dunkle Treppe hinab.
+
+Auf der eisbedeckten Steinstufe vor der Haustür verweilte er einen
+Augenblick und lauschte dem dumpfen, feierlichen Glockenton. Sonst
+vernahm man keinen Laut, keinen menschlichen Tritt, nur ein fernes
+Rauschen wie ein Atem erfüllte die Luft, der Atem einer Großstadt in der
+Silvesternacht.
+
+Schmitz schlug fröstelnd den Rockkragen hoch, steckte beide Hände in die
+Hosentaschen und ging, den Stock unter'm Arm, eiligen Schrittes dem
+Bahnhof zu, wo er für 20 Pfennig eine Fahrkarte nach seiner früheren
+Garnison erstand und den bereitstehenden Zug bestieg.
+
+Das kleine Städtchen lag wie ausgestorben in seiner schneeichten Hülle.
+Von der Kaserne flimmerten die hell erleuchteten Fenster wie Sterne
+herüber, und mitunter tönten abgebrochene Weisen eines Gesanges, oder
+einzelne Akkorde, vom Winde sanft getragen, klangen in die Nacht hinaus.
+In der Ferne summte es von dem Läuten zahlreicher Kirchenglocken, welche
+in den vielen umliegenden Dörfern und Flecken das neue Jahr begrüßten.
+Aus den hell erleuchteten Kneipen und Restaurationen aber ertönte lautes
+Reden, Lachen und Gesang fröhlicher Zecher, die dem neuen Jahr einen
+frischen Trunk entgegenbrachten.
+
+Schmitz ging dem Stadtende zu, an welchem die Kaserne lag und machte vor
+einem Wirtshause Halt. Scheu blickte er um sich, ob Niemand ihn
+beobachte, dann stieg er auf den Rand der Mauer und schaute durch das
+angelaufene Fenster.
+
+Richtig, dort saß der Roth, im Kreise einiger Unteroffiziere und
+Gefreiten, denn hier pflegte er allabendlich bis in die tiefe Nacht zu
+zechen oder ein Spielchen zu machen.
+
+Vorsichtig stieg er wieder herab und schritt der Kaserne zu. Er bog in
+einen zu beiden Seiten mit beschneiten Hecken eingefaßten Richtweg und
+stellte sich an der ersten Biegung auf. Hier pflegte Roth auf dem
+Heimweg vorbeizukommen.
+
+Schmitz mußte lange auf seinem Posten ausharren, aber es war ihm wohl zu
+Mute.
+
+Die bittere Kälte des Tages war um Mitternacht einer lauen Winterluft
+gewichen, ein sanfter Wind trieb seine Schneeflöckchen vor sich her und
+ließ die dürren Blätter der Buchenhecke rascheln. Unten, wo der schmale
+Weg in die Straße einbog, sah man mitunter eine Gestalt wie einen
+Schemen schwankenden Schrittes in dem Dunkelgrau der Nacht auftauchen
+und lautlos auf der weichen Schneedecke wieder verschwinden -- Zecher,
+die nach reichlichem Trunk der Ruhe des Bettes bedurften. --
+
+Schmitz fühlte keine Spur von Kälte, denn bei jedem neuen Schlag der
+fernen Turmuhr trieb ihm das Blut schneller durch die Adern, immer näher
+rückte der Augenblick, auf den er sich schon so lange gefreut.
+
+Endlich, es hatte eben zwei Uhr geschlagen, nahte eine dunkle Gestalt.
+
+Der Wartende drückte sich an die Hecke und faßte den Stock fester, das
+Herz klopfte ihm zum Zerspringen.
+
+Schon war Roth auf wenige Meter herangekommen, das Gesicht fast ganz in
+dem hochgeschlagenen Mantelkragen versteckt, aber Schmitz erkannte den
+Wachtmeister genau, wie er, einen Gassenhauer vor sich hinpfeifend, mit
+schleppendem Säbel schwankenden Ganges daher kam.
+
+Als der Wachtmeister nur noch einige Schritte hatte, um neben Schmitz zu
+sein, trat dieser, den Stock auf der Schulter, breitbeinig vor seinen
+Gegner hin.
+
+Roth stutzte einen Augenblick wie ein scheues Wild, dann sah er sein
+Gegenüber scharf an. Er erkannte ihn nicht.
+
+»Was wollen Sie?« brachte er mit trockener Kehle hervor.
+
+»Mit dir abrechnen will ich«, war die kurze Antwort, die dem
+Vizewachtmeister das Blut erstarren machte.
+
+Einen Augenblick standen die beiden Männer einander gegenüber, da
+erkannte Roth seinen ehemaligen Freund.
+
+»Ach, du bist es, alter Kerl, was willst du denn hier?« stieß er mit
+heiserer Stimme hervor.
+
+»Das will ich!« schrie Schmitz und ließ seinen Stock sausend durch die
+Luft fahren. Der erste Schlag traf den Gegner mitten ins Gesicht.
+
+Der zum Tod Erschrockene taumelte einen Augenblick, ehe er aber seinen
+Säbel ergreifen konnte, sauste ihm ein kräftiger Hieb nach dem anderen
+in's Gesicht, auf den Kopf, die Schultern und Hände.
+
+Da stürzte er sich wie ein wildes Tier auf seinen Gegner. Schmitz aber
+holte aus und gab dem Wachtmeister eine schallende Ohrfeige, daß er
+rücklings zu Boden fiel.
+
+»So, du ehrloser Hund, du feiges, dreckiges Aas, das war für deine
+gemeine Gesinnung und das ist für deine Lügerei!« Dabei gab er dem am
+Boden Liegenden einen derben Tritt und entfernte sich.
+
+Im Gehen rief er noch spöttisch seinem Opfer zu:
+
+»Jetzt darfst du mich wieder melden, du Schweinehund, aber dann habe ich
+so Verschiedenes zu erzählen!«
+
+Nun war dem alten Futtermeister wieder wohl um's Herz, jetzt konnte er
+sein Schicksal ruhiger tragen, denn er wußte den Gegner gestraft. Die
+Rache ist doch süß!
+
+Vizewachtmeister Roth mußte mehrere Wochen im Lazarett verbringen, bis
+seine Wunden im Gesicht und an den Händen geheilt waren. Er hatte
+angegeben, von einem betrunkenen Arbeiter überfallen worden zu sein und
+behauptete, ihn mit dem Säbel zu Boden gestreckt zu haben.
+
+Daran wollte aber niemand recht glauben, denn es meldete sich weder ein
+verwundeter Arbeiter, noch war ein solcher durch Nachfragen bei den
+Ärzten der Umgegend festzustellen. Im Stillen wußte jeder, aus welchem
+Laden der verhaßte Wachtmeister seine Prügel bezogen hatte.
+
+Schmitz aber feierte in der Silvesternacht seine Rachetat durch einige
+Glas Bier, die er sich lange nicht geleistet hatte. Als er beim Schein
+der Lampe Blut an seiner Hand entdeckte, wischte er es ab wie das eines
+räudigen Tieres und warf sein Taschentuch in's Feuer. Dann rief er
+lustig:
+
+»Noch eins, Herr Wirt!«
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Viertes Kapitel.
+
+
+In den letzten Tagen des Januar herrschte in den Räumen des
+Offizierskasinos rege Tätigkeit.
+
+Ein ganzes Aufgebot von Tischlern, Malern und Gärtnern war damit
+beschäftigt, die Zimmer und Korridore samt Veranda und Wintergarten in
+einen Festplatz mit zahlreichen Buden und Zelten umzuwandeln, damit
+Prinz Karneval in den ersten Tagen des Februar einen würdigen Einzug
+halten könne.
+
+Unter dem Dach grünender Bäume waren buntbemalte, mit Plakaten aller Art
+bedeckte Schaubuden aufgeschlagen, in denen es köstliche Leckerbissen
+und allerlei Getränke, vom einfachsten Selterwasser bis zum echten
+Französischen, zu kaufen geben sollte, in einer anderen sollten einige
+als wilde Tiere frisierte Soldaten in Freiheit vorgeführt werden, ein
+drittes Zelt war als Bühne hergerichtet, auf welcher man durch
+Spezialitätenvorstellungen die Lachmuskeln der Festbesucher in Bewegung
+halten wollte. Zwei mit Bänken besetzte Rasenplätze luden zu den
+Genüssen einer Musikbande und echten Pilseners ein, während im
+Nebenzimmer ein Standesamt errichtet war, wo man sich unter Verabfolgung
+eines Glases Sekt für zehn Pfennig trauen und nach einer Stunde wieder
+scheiden lassen konnte.
+
+Der große Speisesaal stellte den Hauptfestplatz dar. Auf einer mit
+Zweigen umkränzten Kanzel war Platz für ein Musikkorps, und die
+Trompeter des Regiments schweiften täglich in der ganzen Gegend umher,
+um irgendwo ein recht zerlumptes Musikantenkostüm aufzutreiben.
+
+Sogar eine Photographierbude fehlte nicht, an deren Außenwand die
+verlockendsten Porträts und Gruppenbilder zu sehen waren.
+
+Natürlich bildete die bevorstehende Festlichkeit den Hauptgesprächstoff
+während des Offiziersmittagstischs. Jeder wollte so originell als
+möglich angezogen erscheinen, und es war ein langes Hin- und Herberaten,
+bis man sich über das zu wählende Kostüm schlüssig wurde.
+
+So kam der Tag des Festes allmählich heran. Am Nachmittag traf ein
+kleines Heer von Friseuren ein, und der Regimentsschneider zog mit
+seiner Nadelgarde von einem Herrn zum anderen, um noch Änderungen an den
+Kostümen vorzunehmen oder mit hülfreicher Hand einzugreifen, wo etwas
+nicht paßte.
+
+Um sieben Uhr erwarteten die Ordonnanzen in schwarzen Kellnerfräcken
+die Festteilnehmer, und es währte keine halbe Stunde, bis die Herren und
+Familien des Offizierkorps mit ihren Gästen vollzählig erschienen waren.
+
+Es bot ein buntes, farbenprächtiges Bild, wie sie alle in ihren
+mehr oder minder geschmackvollen originellen Verkleidungen
+durcheinanderwogten, während die Musik aus den verschiedenen Ecken
+des Festplatzes ihre Tanzweisen ertönen ließ. Dabei floß der Sekt in
+Strömen, und an einem Gartentische sah man sogar einen derben Bauern,
+den Knotenstock zwischen den Beinen, eine Portion Kaviar verzehren,
+während daneben ein Zirkusklown einen Hummer zerlegte.
+
+Die drolligste Figur aber war der Kommandeur in seinem polnischen
+Bauernkostüm, mit der Pelzkappe auf dem Kopf. Wäre er in dieser
+Verkleidung auf dem Schweinemarkt in Pommern erschienen, hätte jeder
+Käufer einen bedeutenden Borstentier-Züchter in ihm vermutet, mit dem es
+sich lohnte, einen Handel anzufangen. Es machte ihm sichtlich auch keine
+Mühe, durch entsprechende Gebärden und Bewegungen die Treue seiner Rolle
+zu erhöhen.
+
+Da der Sekt auf allgemeine Unkosten ging, war der Herr Oberst schon nach
+einer Stunde »veilchenblau«.
+
+Sein hoher Adjutant hatte nicht gut daran getan, die Verkleidung eines
+polnischen Juden zu wählen, denn auf diese Weise ersetzte er geschickt,
+was seinem Äußeren am waschechten Mauschel noch fehlte.
+
+Frau König sah als Kammerzofe reizend aus, und ihre blauen Augen
+strahlten vor Vergnügen. Wäre es im Ernst gewesen, so hätte die
+niedliche blonde Dirn mit dem lebensfrohen frischen Gesichtchen sofort
+eine Stellung mit hohem Lohn gefunden. Dies erkannte auch der
+Jägerbursch, dessen Züge denen Bleibtreu's auffallend ähnlich waren, und
+er beschloß, mit dem sauberen Mädel »zu gehen«, um sich dann mit ihm zum
+Standesamt zu begeben. Erst das Ende des Festes machte einen Strich
+durch die so schönen »Flitterstunden« des jungen Paares und führte ihm
+die rauhe Wirklichkeit in Gestalt des zum Aufbruch mahnenden Gatten vor
+Augen.
+
+Auch Frau Leimann erschien als Vierländerin nicht minder begehrenswert.
+Das Kostüm stand ihr gut, und Borgert weidete sich mit sichtlichem
+Behagen an der schönen Figur und den kleinen Füßchen seiner
+Hausgenossin.
+
+Frau Kahle kokettierte als Blumenmädchen mit den jüngeren Herren, indem
+sie aller Augen auf den Ausschnitt ihres Kleides zog, an welchem sie
+eine herrliche Rose befestigt hatte. Auch sie spielte ihre Rolle
+vortrefflich, denn der Sekt ließ bereits eine befriedigende Wirkung
+erkennen. Leutnant Kolberg als Modegigerl hatte ihr bereits alle Blumen
+abgekauft und sie dann als »Arbeitslose« gänzlich mit Beschlag belegt.
+
+Frau Rittmeister Stark allein paßte gar nicht in das Milieu des
+Festplatzes hinein. Die Wahl ihrer Gewandung hatte ihr heftiges
+Kopfzerbrechen verursacht, denn als Blumenmädchen oder Balletteuse zu
+erscheinen, schien ihr zu gewagt. Die Rolle einer Äpfel- oder Butterfrau
+fürchtete sie als zu naturgetreu, und so schwebte sie denn in einem
+schillernden Phantasiekostüm durch die Menge, das sie auf Befragen
+neckisch für das einer »Nixe in mittleren Jahren« erklärte. So hatte sie
+sich in eine Wolke rosa und mattgrüner Spitzen gehüllt, und der
+gewaltige Busen schien die Meereswogen darzustellen, während die bloßen
+Arme eigentlich mehr den Eindruck machten, als seien sie das
+Handwerkszeug einer »Kraftmenschin« oder Riesendame.
+
+Drei jüngere Herrn bildeten ein vortreffliches Vagabunden-Kleeblatt, und
+man konnte glauben, die zerlumpten Gesellen hätten sich meuchlings von
+der Landstraße eingeschlichen, um einmal ein Fest der »oberen
+Zehntausend« mitzumachen. Die zu ihrer Rolle passende Trunkenheit
+hatten sie sich in kürzester Zeit angeeignet.
+
+Leutnant von Meckelburg stand als Leierkastenmann unbeweglich in einer
+Ecke und konnte sich nicht entschließen, an dem lustigen Treiben
+teilzunehmen, dabei machte er ein Gesicht, welches nicht unmittelbar auf
+die Anwesenheit von Geist schließen ließ. Erst als er in späterer Stunde
+seine musikalische Dekoration in einem Winkel des Festplatzes verborgen,
+stellte sich allmählich etwas Geist ein, der aber dem Grunde einer
+geleerten Sektflasche entstammte.
+
+Die Musik spielte die schönsten Tanzweisen und benutzte die Pausen zu
+intensivem Studium des Bierfasses, dessen Hahn aus dem Tannengrün ihres
+Podiums herauslugte.
+
+Um 11 Uhr begann die Festvorstellung auf der kleinen dazu errichteten
+Bühne.
+
+Ein Leutnant trug als Einleitung zwei prinkelnde Kouplets vor, indem er
+als anmutige Chansonette in einem reichlich dekolletierten Babykleidchen
+auf der Bühne herumhüpfte. Daran schloß sich die Aufführung einer
+Parodie auf Shakespeares »Hamlet«, in deren Verlauf sämtliche
+Mitwirkende durch Mord, Gift, Blitz, Hunger und Durst elendiglich zu
+Grunde gehen. Zum Schluß trat sogar der Souffleur auf die Bretter und
+gab, erschüttert durch die vor seinen Augen sich abspielenden Greuel,
+seinem inhaltlosen Leben durch freiwilligen Sturz in die Versenkung
+einen würdigen Abschluß.
+
+So war die Stimmung immer anregender geworden und allmählich unterschied
+sich die Fastnachtsfeier des Offizierkorps nur noch durch den immer noch
+strömenden Sekt von dem Treiben auf einem wirklichen Festplatz zur Zeit
+der Dorfkirmes.
+
+Leutnant Kolberg hatte sich inzwischen mit Frau Rittmeister Kahle in
+einer Laube niedergelassen und eine Rollschutzwand davorgestellt, um
+ungestört und ungesehen ein trautes Stündchen zu verbringen.
+
+Eine kleine »Flirtation« war ihm Lebensbedürfnis, und, da die Garnison
+mit ihren soliden Bürgerstöchtern und ehrbaren Frauen seinen
+diesbezüglichen Ansprüchen nicht gerecht wurde, wollte er einmal hier
+sein Heil versuchen. Er wußte ja von Pommer her, wes Geistes Kind Frau
+Grete war und wollte nun auf diplomatischem Wege das Feld sondieren.
+
+Die dazu erforderliche Zeit aber hatte er zu lange bemessen, denn schon
+nach einer Viertelstunde lag die kleine Frau wonne- und liebestrunken in
+seinen Armen und wehrte sich nicht im Geringsten, als der feurige Galan
+die Rose am Busen seiner neuen Geliebten einer eingehenden Besichtigung
+unterzog.
+
+Das war doch ein anderer Kerl wie sein unbeholfener Vorgänger, der
+hatte Mut und Feuer, und sie malte sich ein Liebesleben mit dem neu
+eroberten Romeo in den glänzendsten Farben.
+
+In einer anderen Laube saß Oberleutnant Leimann ganz allein und vergoß
+Bäche von Tränen. Das heulende Elend hatte ihn wieder pünktlich nach dem
+sechsten Glase gepackt.
+
+Jeden tröstlichen Zuspruch wies er schroff zurück, und die Ordonnanzen
+wollten sich tot lachen, wenn sie den heulenden ungarischen Magnaten wie
+ein Häuflein Unglück auf einem Weinfaß sitzen und herzbewegend
+schluchzen sahen.
+
+Seine Gattin fand die Situation höchst langweilig und beschloß daher,
+einen Migräneanfall zu bekommen. Sie nahm also mit müden Zügen in einer
+anderen Ecke Platz und bat den sofort hinzukommenden Borgert, sie nach
+Hause zu bringen.
+
+Durch diesen Auftrag nicht unangenehm berührt, bot er der schönen
+Vierländerin den Arm, geleitete sie zur Garderobe, warf ihr den
+Pelzmantel über die Schultern und geleitete sie nach Hause.
+
+Als sie vor der Tür des gemeinsamen Hauses standen, tat sie einen tiefen
+Seufzer und sagte leise:
+
+»Die Luft hat mir gut getan! Es ist mir wieder wohl!«
+
+»Also darf ich Sie wieder zum Kasino zurückbegleiten?« war Borgert's
+Antwort, und der Ton seiner Stimme verriet sichtliche Enttäuschung.
+
+»Ach nein, wir wollen bei mir noch eine Tasse Kaffee trinken, das wird
+uns gut tun, ich habe auch gar keine Lust, wieder unter diese
+betrunkenen Menschen zu gehen, es ist ein widerwärtiger Anblick!«
+
+»Ganz wie Sie wünschen, meine Gnädigste!«
+
+Dabei schob er den Schlüssel in das Schloß, öffnete die Tür, und beide
+stiegen schweigend die dunkle Treppe hinauf.
+
+Als sie im Zimmer angelangt waren, holte Borgert die Lampe herbei und
+zündete sie an. Er kannte genau den Platz, wo sie zu finden war. Dann
+griff er nach einer Zeitung und setzte sich träge in die Sofaecke.
+
+Frau Leimann aber war im Nebenzimmer verschwunden, um nach wenigen
+Augenblicken wieder mit der Kaffeemaschine zu erscheinen, auch hatte sie
+das Fastnachtskostüm mit dem Morgenrock vertauscht, dessen weicher
+Faltenwurf sich kosend an die schönen Glieder schmiegte.
+
+»So,« sagte sie, die Gardinen zuziehend, »jetzt sind wir endlich in
+unseren vier Pfählen, jetzt wollen wir noch ein Stündchen gemütlich
+plaudern!«
+
+Dabei ließ sie sich ebenfalls auf das Sofa fallen, und Borgert's Augen
+hingen wie trunken an der jugendlich schönen Gestalt, die sich unter
+dem Stoff des Gewandes verriet.
+
+»Endlich allein! könnte man eigentlich sagen,« scherzte Borgert,
+»hoffentlich kommt Ihr Gatte nicht zu bald nach, damit unser idyllisches
+Kaffeestündchen nicht gestört wird.«
+
+»Mein Mann?« erwiderte Frau Leimann mit spöttisch emporgezogenen Lippen,
+»der kann bleiben wo er ist, wie ich ihn kenne, kommt er vor morgen früh
+auch nicht nach Hause. Ich habe den Menschen schrecklich satt! Ich kann
+ja zu Ihnen offen reden!«
+
+»Ja, gnädige Frau, das sind eben die Freuden und Leiden des Ehestandes.
+Drum prüfe, wer sich ewig bindet, sagt Schiller, denn sonst gibt es eben
+ein Unglück!«
+
+»Sie haben gut reden! Man kann doch in den paar Wochen, die man verlobt
+ist, nicht seinen Zukünftigen so kennen lernen, wie man es in der Ehe
+tut. Hätte ich das gekonnt, dann hätten wir nicht diese Dummheit
+begangen, uns zu heiraten. Denn ich bin ihm jetzt zu arm und er wird mir
+allmählich unausstehlich!«
+
+»Darum heirate ich nie, ich lasse die Finger von diesem Hazardspiel!«
+
+»Aber man ist doch schließlich dazu da!« erwiderte Frau Leimann fast
+gereizt, »man will doch später nicht als alte Jungfer zum Gespött der
+Leute werden.«
+
+»Nach unseren Gesetzen und gesellschaftlichen Regeln hilft es eben
+nichts, gnädige Frau, da heißt es entweder heiraten oder ledig bleiben.
+Aber das ist entschieden eine Lücke in unserer Weltordnung. Wie wenige
+sind es, die, nach langjähriger Ehe vor die Frage gestellt, ob sie sich
+noch einmal heiraten würden, mit einem aufrichtigen »Ja« antworten
+könnten! Meistens würde man doch die Gelegenheit benutzen, auseinander
+zu laufen. Ich setze dabei also voraus, daß es eine Bestimmung gäbe, die
+nach beispielsweiser zehnjähriger Ehe diese trennen und den Gatten eine
+nochmalige gegenseitige Heirat gestatten würde.«
+
+»Sie haben Recht, manche möchten schon nach den ersten Wochen wieder
+auseinander, aber sie müssen weiter neben einander her vegetieren, weil
+sie durch die sogenannte Ehe zusammengebunden sind.«
+
+»Das wäre etwas voreilig gehandelt, gnädige Frau, denn viele Ehegatten
+müssen sich erst an einander abschleifen und ganz genau kennen, um sich
+schätzen zu lernen, wozu oft lange Jahre gehören, und dann kommt es doch
+häufig vor, daß sie in späteren Jahren recht gut miteinander auskommen,
+während sie früher wie Hund und Katze standen.«
+
+»Gewiß, aber wenn nach zehn Jahren keine Liebe da ist, dann kommt sie
+auch nicht mehr!«
+
+»Das möchte ich beinahe auch glauben,« lachte Borgert, »man sieht eben,
+die Ehe ist keine zeitgemäße Einrichtung. Sie mag gut sein für zwei
+Menschenkinder, die äußerer Vorteile wegen, wie sie auch sein mögen,
+sich heiraten. Aber für Menschen, die nur zusammenkommen, weil sie
+glauben, sie lieben sich, ist es nichts, denn wenn die Liebe vorbei ist,
+ist die Ehe nur ein Martyrium. Und deswegen sollte es für solche, die
+sich näher treten wollen, eine andere Einrichtung geben, als sie dann
+gleich fürs ganze Leben aneinander zu fesseln!«
+
+»Sie meinen also dann, an Stelle der Ehe sollte man die sogenannte
+»freie Liebe« einführen?«
+
+»Gewiß, gnädige Frau, entweder das, oder, wenn dies aus irgend welchen
+Gründen nicht ratsam erscheinen sollte, eine Einrichtung schaffen, wie
+sie die Orientalen haben. Hat dort ein Mann sich an einer Frau
+gesättigt, wenn ich mich drastisch ausdrücken soll, so geht er einfach
+zur nächsten über, denn er darf sich ein ganzes Hans voll halten. Aber
+er wird einer einzelnen gar nicht so schnell überdrüssig, weil er eben
+Abwechslung in der Liebe haben kann. Und man kann doch keinen Menschen
+zwingen, sein ganzes Leben nur immer denselben oder dieselbe zu
+lieben!«
+
+»Da schiene mir denn doch die freie Liebe noch ratsamer, wenn Sie einmal
+die Einzelehe verwerfen wollen, denn sie wäre noch weniger durch Grenzen
+und Gesetze beengt, wie es die orientalische Ehe trotzdem ist.«
+
+»Selbstverständlich, welchen Unsinn und widernatürlichen Zwang unsere
+Ehe bedeutet, sehen Sie, wenn Sie ihr Wesen einmal genau definieren. Was
+heißt Ehe? Ein Bündnis zwischen Mann und Frau, die sich lieben oder
+deren äußere Verhältnisse eine Verbindung ratsam erscheinen lassen.
+Dabei machen Kirche und Gesetz, manchmal auch nur letzteres allein,
+dieses Bündnis, Ehe genannt, zu einem rechtmäßigen.
+
+Aber erstens: die sich lieben. Tun sie das immer und dann durch das
+ganze Leben? Nein, nur in der Minderzahl der Fälle bleibt eine etwa zu
+Anfang vorhandene Liebe bestehen, aber die Ehe ist von Gott und Natur
+dazu bestimmt, Liebende zu verbinden. Tut sie das nicht, ist es Unsinn.
+
+Zweitens: eine Ehe zwischen äußeren Umständen gibt es auch nicht, denn
+um aus gemeinsamen Vorteilen, oder wie Sie es nennen wollen, Gewinn zu
+haben, ist Handel und Geschäft der richtige Weg, aber nicht die heilige
+Ehe.
+
+Drittens: eine Ehe, in welcher die Liebe schwinden kann, ist ebenfalls
+hinfällig, denn man muß bei der Trauung dem Pfarrer, gewissermaßen also
+dem Stellvertreter Gottes, das eidliche Versprechen geben: wir wollen
+uns das ganze Leben in Liebe angehören. Dieser Eid ist also sofort in
+einen Meineid verwandelt, wenn die Liebe schwindet. Und wie kann man
+mich denn zwingen, etwas zu schwören, von dem ich noch gar nicht weiß,
+ob ich es zu halten im stande bin? Wider die Natur kann doch kein
+Mensch!
+
+Der Begriff Ehe ist also abgetan.
+
+Was haben nun weiter Gesetz und Kirche mit der Verbindung zweier
+Menschen zu tun, die sich lieben? Die Kirche gibt ihren Segen dazu und
+soll den Bund heiligen. Das ist aber überflüssig und lediglich eine
+Formsache, denn das Gefühl der Weihe, wie es die Trauung einflößen soll,
+haben zwei Menschen von selbst, die sich wirklich gern haben und den
+Entschluß fassen, sich zu verbinden.
+
+Ferner, ein Gesetz muß es ja geben, denn es bildet die Norm für
+auseinandergehende Ansichten, und ohne Gesetz ist kein Staat, kein
+gemeinschaftliches Wirken zweier oder mehrerer Menschen denkbar. Die
+Liebe als solche aber, wie sie allein zwei Gatten zusammenführen soll,
+braucht keine Gesetze, denn diese sind von der Natur aufgestellt. Ein
+Gesetz schreibt Handlungen oder Unterlassungen vor, gibt Anhaltspunkte
+für das menschliche Zusammenleben und Wirken, Gefühle aber kann es
+nicht vorschreiben, also auch nicht rechtskräftig machen.
+
+Zwei Menschen also, die sich wirklich lieben und fühlen, daß sie
+zusammen gehören, verbinden sich am natürlichsten durch die freie
+Liebe!«
+
+»Aber warum sollen sie sich denn nicht heiraten, wenn sie unbedingt
+glauben, zusammen zu gehören?« warf Frau Leimann ein.
+
+»Weil sie der Kirche keinen falschen Eid geschworen haben, wenn die
+Liebe einmal schwindet, auch können sie dann ruhig wieder auseinander
+gehen.«
+
+»Aber dafür gibt es doch die Scheidung!«
+
+»Gewiß, die gibt es. Eine Scheidung aber wirbelt meist so viel Staub auf
+und hat oft so nachteilige Folgen für die Beteiligten, daß sie lieber
+jahrelang in gegenseitigem Überdruß, oder gar in Haß und Verachtung
+neben einander leben, als sich zur Scheidung entschließen. Abgesehen von
+den großen gesetzlichen Schwierigkeiten einer solchen ist es aber auch
+meist schwer, die nun einmal verbundenen äußeren Umstände, Vermögen u.
+s. w. zu trennen.
+
+Hört freie Liebe auf, so geht man stillschweigend wieder auseinander und
+führt nicht jahrelang ein widernatürliches Leben in einer sogenannten
+Ehe. Auch werden sich Mann und Frau, solange wahre Liebe zu einander
+vorhanden ist, nicht gegenseitig mit einem anderen betrügen, und damit
+wäre viel Unglück und Sünde aus der Welt geschafft.«
+
+»Aber dann müßte ja jeder gesellschaftliche Familienverkehr aufhören,
+denn die Männer eines gemeinsamen Wirkungskreises, z. B. eines
+Offizierkorps oder die Beamten eines Gerichtes würden dann aus so
+verschiedenen Schichten der Gesellschaft oder des Volkes ihre Frauen
+wählen, daß diese gar nicht zusammen passen würden!«
+
+»Das wäre kein Hinderungsgrund, gnädige Frau: die zu einander passen,
+könnten doch miteinander verkehren. Die übrigen bleiben sich eben
+gegenseitig fremd. Oder finden Sie es etwa schön, daß Frauen, die sich
+innerlich ganz fern stehen und bleiben, jeden Tag wie dicke Freundinnen
+zusammensetzen, weil es der gesellschaftliche Verkehr verlangt?«
+
+»Das finde ich allerdings nicht schön, man braucht sich ja nur einmal
+unsere Damenkaffees zu betrachten.«
+
+»Die Wahl der Frau in der freien Liebe ist an keine Gesellschaftsklasse
+gebunden, weil dann die Frau dem Manne eben nicht dazu dient, sich
+äußere Vorteile in Stellung oder pekuniärer Beziehung zu schaffen oder
+um mit ihr Staat zu machen, sondern nur für die Liebe, also für das
+engere Leben in Haus und Familie.«
+
+»Aber die Ehe ist doch eigentlich nur die Form für ein Naturgesetz, daß
+nämlich das Menschengeschlecht erhalten wird.«
+
+»Stimmt, aber dieses Naturgesetz wird weit besser durch die freie Liebe
+als durch die Ehe gefördert. Nehmen Sie eine Ehe, in welcher die
+wirkliche Liebe der Gatten zu einander geschwunden ist, oder sie sich
+vielleicht sogar überdrüssig sind. Scheiden lassen wollen sie sich
+nicht, aber Kinder werden doch in die Welt gesetzt, eins nach dem
+anderen. Diese aber sind keine Kinder der Liebe, und ihre Erziehung,
+Charakter- und Gemütsbildung muß doch darunter leiden, wenn sie keine
+inneren Beziehungen, keine Herzens- und Seelenverwandschaft der Eltern
+empfinden, denn dahinter kommt ein Kind sehr bald. Aber auch die
+Kinderzahl würde sich in der freien Liebe verringern, denn ein Mann, der
+seine Frau wirklich lieb hat, macht keine Maschine aus ihr, und glauben
+Sie nicht, daß zum Glück einer Ehe schon zwei Kinder genügen? Jedes
+weitere bringt nur Last und Sorge. Wenn aber, besonders in niederen
+Volksklassen, die Kinderzahl abnimmt, ist auch gleichzeitig eines jener
+Grundübel beseitigt, die den Sozialismus fördern.«
+
+»Nun nehmen Sie aber eine Ehe, die fünf Kindern das Leben gibt und
+setzen Sie statt der Ehe die freie Liebe: Der Mann wählt jedes Jahr
+eine andere Frau, das lassen Sie zwanzig Jahre so fortgehen und es gibt
+unter normalen Umständen zwanzig Kinder statt fünf. Was soll aus ihnen
+werden? Der Mann kann doch nicht jedesmal in sein neues Liebesverhältnis
+die jährlich wachsende Kinderzahl mitbringen und sie alle großziehen!«
+
+»Betreffs der Kinder der freien Liebe könnte es ja ein Gesetz geben,
+welches dem Vater dieselben Verpflichtungen auferlegt, wie sie für
+außereheliche Kinder bestehen. Dann würde er sich schon einzurichten
+wissen, wenn er zu regelmäßigen, seinem Einkommen entsprechenden
+Geldopfern gezwungen wäre.«
+
+»Und wenn der zweiten Frau nicht paßt, daß er das Kind des ersten
+Verhältnisses mitbringt?«
+
+»Dann könnte man Erziehungshäuser in großem Styl errichten. Schon unter
+den jetzigen Verhältnissen wäre es oft gut, wenn ein Kind nicht bei den
+Eltern aufwüchse, die nicht harmonieren, und so dem jugendlichen Gemüt
+Eindrücke zu teil werden, die ihm nicht von Nutzen sind.
+
+Indeß nennt man ja Kinder das Unterpfand der Liebe, sie würden das
+einmal eingegangene Verhältnis erhalten helfen.«
+
+»Dann kämen wir also wieder auf die Ehe zurück!«
+
+»Gewiß, aber auf eine Ehe, die wir jeden Tag selbständig lösen dürfen.
+
+Wir Menschen tun gut, uns in allem an die Natur zu halten, an ihr
+künsteln und bessern zu wollen, hat meist den entgegengesetzten Erfolg.
+Ein Tier tritt auch nicht vor den Altar oder den Standesbeamten, wenn es
+sich mit einem anderen paaren will. Sind sie von einander gesättigt,
+läuft das eine wieder nach Süden, das andere nach Norden.«
+
+»Wir sind aber doch mehr wie Tiere!« lachte Frau Leimann.
+
+»Dafür haben wir auch die Liebe, ein Tier kennt nur Triebe!«
+
+Frau Leimann schwieg. Ein so ernstes Gespräch hatte sie lange nicht
+geführt und es machte ihr fast Mühe, dem Gedankengang zu folgen. Schien
+ihr auch mancher Punkt noch anfechtbar, im Grunde war es doch richtig
+mit dieser freien Liebe, und sie bedauerte beinahe, daß man in der
+Kultur noch nicht so weit gekommen sei. Das wäre eher nach ihrem
+Geschmack gewesen, als die Ehe mit so einem langweiligen, häßlichen
+Mann, wie ihr Gatte war, mit so unendlich vielen schlechten
+Eigenschaften. Sie besaß auch genügend Feingefühl, um mit dem schlauen
+Verstand einer Frau zu empfinden, wo hinaus Borgert mit Entwickelung
+dieser seiner Ansichten wollte. Sie warf daher ihr erhitztes Köpfchen
+auf, blinzelte verschmitzt den Apostel der freien Liebe von der Seite
+an und fragte mit erheuchelter Unbefangenheit:
+
+»Nun, sagen Sie, wenn eine Frau schon verheiratet ist, also bereits
+durch eine Gesetzesehe gebunden, und kommt nun nachträglich zur
+Einsicht, daß die freie Liebe besser ist? Was dann?«
+
+»Dann mag sie ihrer Einsicht folgen, nur darf sie es nicht so
+offenkundig vor aller Augen tun, da sie es eben nach den vorläufig noch
+bestehenden Grundsätzen über eheliche Treue nicht darf. Sie muß es
+machen wie die Pariserin.«
+
+»Dann wird es aber Zeit, daß ich mich nach einem solchen heimlichen
+Romeo umsehe, denn mein Gesetzlicher wird mir allmählich unheimlich!«
+rief Frau Leimann belustigt.
+
+»Kann ich Ihnen dabei behilflich sein, Gnädigste?« entgegnete Borgert
+ebenfalls scherzend.
+
+»Sie würden es sich damit wahrscheinlich wieder leicht machen, denn,
+wenn ich mich recht entsinne, stellten sie sich schon einmal
+freundlichst zur Verfügung!«
+
+»Womit ich auch in diesem Falle meine Dienste beginnen würde!«
+
+»Dann könnte ich ja mit Ihnen einmal die neue Theorie probieren, schade,
+daß kein heimlicher Standesbeamter da ist. Aber nein, den haben Sie ja
+als überflüssig verworfen.«
+
+»Nein, den brauchen wir nicht, wir machen die Sache unter uns ab!« sagte
+Borgert scherzend.
+
+»Bedarf es denn gar keiner Formalitäten?«
+
+»Gewiß, sogar vieler, und zwar derselben wie beim Abschluß einer
+richtiggehenden Ehe!«
+
+»Ach so, Sie meinen einen Händedruck und einen innigen, tränenfeuchten
+Blick?«
+
+»Auch das gehört dazu.«
+
+»Auch? Was denn noch? Ich habe so ein schlechtes Gedächtnis.«
+
+»Ich will es Ihnen ins Ohr sagen, rücken Sie etwas näher!«
+
+Frau Leimann rückte dicht neben Borgert und sagte, unbefangen scherzend:
+
+»Das scheint ja eine große Heimlichkeit zu sein!« Sie beugte ihren Kopf
+zu Borgert hin, welcher in diesem Augenblick mit beiden Armen die schöne
+Frau umschlang, während seine Lippen die ihren suchten. Da schlang auch
+sie die Arme um den Mann, und lange hielten sie sich so umschlungen,
+während ein heißer, glühender Kuß all die verhaltenen Gefühle der Liebe
+auszuströmen schien, die lange beider Herzen erfüllt.
+
+ * * * * *
+
+Die Lampe war schon im Erlöschen begriffen, als ein unsicherer, schwerer
+Schritt auf der Treppe vernehmbar ward.
+
+»Er kommt!« stieß Frau Leimann erschrocken aus, »Du mußt dich eilen, daß
+er dich nicht hört!«
+
+Eine letzte Umarmung, und Borgert huschte durch das Speisezimmer dem
+anderen Ende des Korridors zu, um über die Hintertreppe nach seiner im
+Erdgeschoß gelegenen Wohnung zu gelangen. An der Tür aber zog er behend
+die Schuhe aus und tappte leise die dunkle Treppe hinab.
+
+Frau Leimann aber blies die Lampe aus, stellte Borgerts Kaffeetasse
+unter das Sopha und legte sich wie schlafend in die weichen Kissen
+zurück.
+
+Inzwischen hatte Leimann geräuschvoll die Korridortür geöffnet und trat
+jetzt in das Zimmer, wo die Gattin seiner harrte.
+
+Einen Augenblick blieb er am Eingang stehen. Roch es hier nicht nach
+Zigarettenrauch? Dann tastete er mit den Händen nach dem Tisch, ergriff
+die Streichholzschachtel und zündete eine Kerze an. Da erblickte er
+seine Gattin auf dem Sofa.
+
+Der Anblick rührte ihn. Hatte die treue Seele auf ihn gewartet, um ihm
+noch eine Tasse Kaffee anzubieten? Gewiß war sie vor Müdigkeit
+entschlummert und hörte ihn nicht, als er nach Hause kam. So trat er
+denn behutsam an das Sofaende und küßte seine Frau auf die Stirn.
+
+Mit einem leichten Schrei fuhr sie empor.
+
+»Ach du bist es, Georg, wo bleibst du so lange?«
+
+»Sei mir nicht böse, mein Engel, daß ich dich warten ließ, aber ich
+ahnte ja nicht, daß du meinetwegen aufbleiben würdest. Warum hast du
+dich nicht gelegt?«
+
+Aus den Worten klang ein liebevoller Ton, sie schienen wie eine
+Entschuldigung, eine Bitte um Verzeihung; Frau Leimann aber wischte sich
+den Schlaf aus den Augen und erhob sich müde.
+
+»Ich mußte doch auf dich warten, Georg, du warst wieder in einem
+schrecklichen Zustand. Als ich dich so sitzen sah, wurde mir so elend,
+daß ich es nicht mehr aushalten konnte, und ging nach Hause!«
+
+»Allein, so spät, in der Nacht? Warum hast du dich nicht von einer
+Ordonnanz begleiten lassen?«
+
+»Borgert hat mich bis an die Tür gebracht, er bot mir seine Begleitung
+an!«
+
+»Dafür muß ich mich morgen bei ihm bedanken, er ist überhaupt immer sehr
+aufmerksam gegen dich! Wo ist er denn geblieben, ich habe ihn nicht mehr
+gesehen den ganzen Abend!«
+
+»Er klagte über Kopfweh, hatte auch ziemlich genug, er wird wohl zu Bett
+gegangen sein.«
+
+»Warum hast du ihm nicht noch eine Tasse Kaffee angeboten?«
+
+»Aber Georg, was sollen denn die Dienstboten denken, wenn sie mich um
+diese Zeit noch mit einem Herrn kommen hören, das geht doch nicht! Diese
+Marie spitzt und horcht überhaupt immer herum, daß man sich
+zusammennehmen muß, daß sie nicht einmal ein Wort auffängt. Ich möchte
+nicht wissen, was die über uns schon alles geklatscht hat!«
+
+»Dann schicke sie doch fort, wenn du ihr nicht traust!«
+
+»Das hätte ich längst getan, aber ehe sie ihren rückständigen Lohn nicht
+hat, kann ich ihr nicht kündigen.«
+
+»Dann bezahle sie morgen!«
+
+»Wovon? Hast du das Geld dazu?«
+
+»Ich? Du weißt, daß ich von meinen paar Mark Gehalt für den Haushalt
+nichts hergeben kann. Hat deine Mutter denn diesen Monat noch nichts
+geschickt?«
+
+»Nein, sie hat diesmal selbst nichts übrig!«
+
+»Natürlich, das alte Lied!«
+
+»Soll das vielleicht wieder ein Vorwurf sein? Du hast es ja gewußt, daß
+ich nicht reich bin, also tue mir den Gefallen, mich endlich mit deinen
+Anspielungen und Klagen zu verschonen, ich finde das allmählich
+langweilig und geschmacklos!«
+
+»Ja, das willst du nicht hören! Du hättest früher einsehen müssen, daß
+eine solche Wirtschaft ohne Geld ein Unding ist! Jetzt haben wir jeden
+Tag die Schweinerei, heute kommt der Metzger, morgen der Bäcker,
+übermorgen die Waschfrau, alle wollen sie Geld. Ich kann es mir nicht
+aus den Rippen schneiden.«
+
+»Warst du es nicht selbst, der mich nicht los ließ? Hast du nicht alle
+diese Bedenken ausgeschlagen und immer wieder auf eine Heirat
+bestanden?«
+
+»Gewiß, aber du und deine Mutter mußtet so vernünftig sein, den Unsinn
+einzusehen, wenn ich es nicht tat. Deine Mutter wußte, was ein Haushalt
+kostet, ich aber nicht. Jetzt ist es zu spät.«
+
+»Das sehe ich selbst ein, das brauchst du mir nicht unter die Nase zu
+reiben. Aber meine Schuld ist es nicht, denn wäre alles so geworden, wie
+es meine Mutter wollte, brauchtest du dich heute nicht über eine arme
+Frau zu ärgern. Du warst nicht der einzige, den ich hätte heiraten
+können.«
+
+»Das hättest du damals gleich sagen können,« entgegnete ihr Gatte
+höhnisch, »es tut mir aufrichtig leid, wenn ich störend in deine Zukunft
+eingegriffen habe.«
+
+»Du bist gemeiner, Georg, als ich dachte.«
+
+»Die Wahrheit wollt Ihr Weiber niemals hören, wenn man euch nicht ewig
+Schmeicheleien sagt und schöne Töne vorflötet, seid ihr gleich auf den
+Fuß getreten!«
+
+»Nun, ich bin von dir nicht gerade verwöhnt mit derartigen
+Liebkosungen!«
+
+»Weil ich nicht weiß, wofür ich sie dir schuldig bin. Vielleicht dafür,
+daß ich heute nicht weiß, wie ich meinen Schuster bezahlen soll, statt
+daß ich auf der Kriegsakademie bin und ein anständiges Leben vor mir
+habe?«
+
+»Schweig, du gemeiner Mensch, du hast kein Recht, mich zu beleidigen!
+Verlaß mein Zimmer oder ich verlasse das Haus!«
+
+»Zu Befehl, meine Gnädigste! Angenehme Ruhe!«
+
+Dabei schlug Leimann hinter sich die Tür ins Schloß, daß die Fenster
+zitterten und begab sich in sein Schlafzimmer.
+
+Seine Gattin aber vergrub schluchzend das Gesicht in den Sophakissen und
+machte in einem Tränenstrom den Gefühlen des Hasses und der Wut gegen
+den herzlosen Gatten Luft. Ihr ganzes Inneres empörte sich gegen die
+Gefühlsroheit dieses Menschen, dem sie gefolgt war, weil er ihr auf den
+Knien schwor, nicht ohne sie leben zu können, und nun trat er die
+dargebrachte Liebe mit Füßen, entweihte alle heiligen Erinnerungen eines
+Frauenherzens, welche sich an den ernstesten Schritt ihres Lebens
+knüpfen und ihm in schweren Stunden eine Stütze, ein Halt sein sollen,
+um Unglück und Ungemach leichter ertragen zu können.
+
+Und hatte sie noch vor wenigen Minuten, als Borgert sich aus ihren Armen
+befreite, etwas empfunden wie eine schwere Sünde, ein Verbrechen an der
+Heiligkeit der Ehe, eine Gewissenlosigkeit gegen den Ahnungslosen, so
+schien ihr jetzt ihre Handlungsweise eine gerechte Sühne und
+entschuldbare Folge für die brutale, herzlose Gefühlsroheit ihres
+Gatten.
+
+Denn nie ist das Herz des Weibes mehr empfänglich für die verbotene
+Liebe eines fremden Mannes, als in dem Augenblick, da es in den letzten
+Zuckungen liegt von dem Todesstoß, den ihm der eigene Gatte gab.
+
+ * * * * *
+
+Der Morgen des jungen Tages vertrieb die letzten Festgäste aus dem
+Kasino. Ausnahmslos hatte der Sekt seine Wirkung getan, und man verließ
+den Festplatz in einer Stimmung, die darnach angetan war, die Grenzen
+des guten Tones immer mehr zu überschreiten.
+
+Die nahe Turmuhr schlug fünf, als die letzten, Rittmeister Stark nebst
+Gattin und der Oberst, den seit drei Stunden wartenden Krümperwagen
+bestiegen, dessen Pferde, durch den anhaltenden Regen ganz steif
+geworden, sich kaum entschließen konnten, ihre Last in den Morgennebel
+zu ziehen. Erst als der Kutscher einen Puff erhalten und mit der
+Peitsche diesen an die armen Tiere weitergegeben hatte, kam das Gefährt
+ins Rollen und brachte die übermütigen Nachtschwärmer ihrer Wohnung zu.
+
+Leutnant von Meckelburg und Oberleutnant Specht konnten zwar kaum noch
+auf den Beinen stehen, aber sie gingen getrost in die Kaserne, um von
+5-6 Uhr Instruktion abzuhalten, nachdem sie sich schnell umgezogen.
+Specht vergaß sogar, seinen künstlichen Schnurrbart zu entfernen und
+erschien mit dieser an ihm ungewohnten Zierde der Männlichkeit vor
+seinen lächelnden Rekruten.
+
+Die meisten andern Herren zogen es vor, erst ihren Rausch ein wenig
+auszuschlafen und ließen Dienst Dienst sein, vor 11 Uhr kam heute doch
+kein Rittmeister in die Kaserne.
+
+Sie sollten mit ihrer Vermutung auch Recht haben. Rittmeister König
+allerdings war pünktlich um 7 Uhr zur Stelle und wohnte Bleibtreus
+Reitunterricht bei, um dann eine Zählung der Kammerbestände vorzunehmen.
+Sein Grundsatz war und blieb: Vergnüge dich, so viel du willst, aber
+Dienst ist Dienst.
+
+Hagemann erschien erst gegen elf Uhr auf der Bildfläche, um seinen Kater
+von seinem Leibroß ein wenig spazieren tragen zu lassen. Stark dagegen
+zog es vor, ganz zu Hause zu bleiben. Dafür kontrollierte seine wackere
+Gattin, mit dem Notizbuch in der Hand, ob alle Reitlehrer bei ihren
+Abteilungen seien und notierte Kolberg als den ersten, der den Dienst
+»schwänzte«.
+
+Um 1/2-1 Uhr empfing sie den Besuch des Rittmeisters Hagemann, der sich
+entschuldigen wollte, weil er am gestrigen Abend infolge seiner sehr
+angeregten Stimmung der »Meernixe« einige unzarte Schmeicheleien gesagt
+hatte. Er hatte nämlich geäußert, sie müsse infolge ihres Fettgehaltes
+vorzüglich schwimmen können, wenn das Meer nicht vor der Fülle ihres
+Nixenleibes aus den Ufern träte.
+
+Leimann ging ebenfalls eilig im Helm durch die Hauptstraße, um auch
+seinerseits für sein gestriges Benehmen um Entschuldigung zu bitten.
+
+Erst der Abend fand die Mehrzahl der Herren bei einem solennen
+Dämmerschoppen im Kasino versammelt, wo man das Fest des vergangenen
+Tages besprach und in mehr oder minder würzigen Reden die einzelnen
+Teilnehmer einer Kritik unterzog.
+
+Borgert verstand es dabei, in ganz besonders scherzhafter Weise das
+Neuste über den nicht mit anwesenden Kolberg und Frau Kahle zu
+berichten. Seinem Späherauge war nichts entgangen, er vermochte sogar zu
+sehen, was hinter einer Rollschutzwand geschah.
+
+Indessen saß der Geschmähte behaglich am warmen Ofen seines Zimmers, auf
+seinen Knieen aber Frau Kahle.
+
+Sie hatte es vor Sehnsucht nicht aushalten können und war unter dem
+Vorwand, Besorgungen machen zu müssen, ihrem Gatten entwischt und im
+Schutze der Dunkelheit nach dem Ende der Stadt in den kleinen Garten
+geeilt, zwischen dessen hohen Kastanien das kleine von Kolberg bewohnte
+Häuschen stand.
+
+Dieser Versuch, ein ungestörtes Schäferstündchen zu genießen, glückte so
+gut, daß es sich lohnte, ihn so oft wie nur möglich zu wiederholen. Es
+war auch besser so, als dieses langweilige Spazierengehen, denn in dem
+kleinen Nest paßte ein jeder auf und freute sich wie ein König, wenn er
+etwas zu erzählen hatte, was ein anderer noch nicht wußte. Selbst den
+Bäumen im Walde konnte man nicht trauen, war es doch schon vorgekommen,
+daß ein Unteroffizier aus der Krone einer Ulme herabstieg, an deren Fuß
+ein anderer sich mit seiner Braut vergnügte, und der Treulosen eine
+ausgibige Portion Prügel verabreichte.
+
+Außerdem war die Witterung meist kalt und schlecht, und zur Liebe
+braucht man Wärme.
+
+So aber merkte niemand etwas. Sie ging einfach aus, um Einkäufe zu
+machen, und dann waren nach Eintritt der Dunkelheit die Straßen meist
+so leer, daß sie kaum einem Menschen begegnete, wenn sie dem einsamen,
+abgelegenen Häuschen zuging.
+
+Die Glücklichen rechneten nicht einmal damit, daß man vor dem Burschen
+auf der Hut sein müsse, er wurde eben jedesmal in die Stadt oder zur
+Kaserne geschickt. Er hatte aber bald heraus, daß diese regelmäßigen
+Sendungen am Montag und Donnerstag nur ein Vorwand seien, denn die
+Aufträge, die er dabei erhielt, waren oft recht sonderbarer und
+überflüssiger Art. So stellte er sich denn eines Tages hinter einem Baum
+und erblickte zu seinem nicht geringen Erstaunen die Gattin des
+Rittmeisters Kahle, die ungeniert zu seinem Leutnant hineinspazierte.
+Allmählich aber wuchs seine Neugierde, und er schlich sich dann
+regelmäßig unter das Fenster, um durch die dünnen Scheiben jedes Wort
+mitanzuhören, oder vom nächsten Baum aus einen Blick in das Innere des
+Zimmers zu werfen. Was er da sah, setzte ihn in Erstaunen, und er gab
+gelegentlich seinen Gedanken in der Kantine Ausdruck. Er fand dabei ein
+dankbares Publikum, denn alle lachten aus vollem Halse. Ihre Heiterkeit
+aber erreichte den Höhepunkt, als der getreue Bursche Kolberg's aus dem
+Portemonnaie eine in der Wohnung des Leutnants gefundene Haarnadel
+herauszog und dieselbe Kahles Burschen übergab mit der scherzenden
+Bitte, sie der Gnädigen zurückzuerstatten.
+
+Kolbergs Bursche war dadurch ein interessanter Mann geworden, denn er
+erzählte weit fesselnder als der des Hauses Leimann. Letzterer wußte von
+seiner Gnädigen und Borgert ja auch so manches zu erzählen, doch seine
+Darstellungen waren lückenhaft, weil sich das Dienstmädchen weigerte,
+ihre weit interessanteren Beobachtungen zum Besten zu geben. Sie sparte
+sich dieselben auf als Trumpf für spätere Zeiten, wo man durch sie nicht
+nur den rückständigen Lohn, sondern vielleicht noch mehr herausschlagen
+konnte.
+
+So vergingen mehrere Monate.
+
+Das Geheimnis von dem Verhältnis Kolberg's zu Frau Rittmeister Kahle war
+allmählich in alle Kreise hindurchgesickert und der Gesprächsgegenstand
+in mancher Kneipe des kleinen Städtchens geworden. Selbst Kolberg's
+Kameraden wußten davon, aber keiner wollte es unternehmen, eine Sache,
+für welche man nicht greifbare Beweise in Händen hatte, aufzurühren,
+denn entweder stritten die beiden die ihnen zur Last gelegten Tatsachen
+ab, und dann war man der Blamierte, hatte die Ehre eines Kameraden und,
+was noch schlimmer war, die einer Dame des Regiments angegriffen, und
+das mußte böse Folgen haben, denn wer konnte wissen, ob der einzige
+Zeuge des Verhältnisses, Kolberg's Bursche, bei seinen Behauptungen
+bleiben würde, wenn man ihm auf's Leder kniete? Vielleicht -- und das
+schien wahrscheinlich -- würde er seine Erzählungen aus Furcht vor
+Strafe für sein heimliches Aufpassen widerrufen oder die Sache in einem
+anderen, unschuldigeren Lichte darstellen, vielleicht auch würde er
+aussagen, nichts gesehen zu haben.
+
+Andererseits fürchtete man mit Recht, die Enthüllung der Sache könnte
+gewaltigen Staub aufwirbeln, die Verabschiedung eines Kameraden und das
+unvermeidliche Duell zur Folge haben. Dem Rittmeister Kahle aber wollte
+man wohl, weshalb ihm also solche unerquicklichen Weiterungen bereiten?
+
+So blieb alles, wie es war, nur die Rederei nahm, besonders in der
+Stadt, einen derartigen Umfang an, daß Rittmeister König sich entschloß,
+dem Kommandeur privatim einen Wink zu geben.
+
+Der Oberst aber fragte: »Melden Sie mir das dienstlich? Nein? Dann weiß
+ich nichts davon, ich werde mir die Finger an einer solch heikeln
+Geschichte nicht verbrennen.«
+
+König verspürte auch wenig Lust, der Urheber einer großen
+Skandalgeschichte zu werden und nachher womöglich noch eine Forderung zu
+erhalten, er schwieg also ebenfalls.
+
+So geschah denn von keiner Seite etwas, um dem Gerede ein Ende zu
+machen und etwas aus der Welt zu schaffen, was dem Regiment und dem
+gesamten Offizierkorps in hohem Grade schadete und geeignet war, sein
+Ansehen in schlimmster Weise zu schädigen. Wo man in anderen Kreisen der
+Bevölkerung bei gleichen Verhältnissen den Schuldigen zur Rechenschaft
+gezogen haben würde, duldete man einen jedem Anstands- und Ehrgefühl
+Hohn sprechenden Umstand, und das in einem Stande, der für sein Ansehen,
+die Unanfechtbarkeit seiner Sitten und seine bevorzugte Stellung im
+Vaterland die erste Stelle für sich beanspruchte.
+
+Am schwersten traf dieser Vorwurf den Obersten von Kronau. Dieser Herr,
+der stets bereit war, mit aller Strenge rücksichtslos einzugreifen, wenn
+er etwas Ungehöriges oder Strafbares entdeckte und keine Milde kannte,
+wenn er dabei für seine Person nichts zu fürchten hatte, er duldete die
+Schande. Denn hier mußte er damit rechnen, daß ihm unter Umständen
+Unannehmlichkeiten entstanden. Entweder konnte man ihn einer falschen
+Anschuldigung zeihen, oder seine Stellung als Kommandeur erhielt einen
+Stoß, wenn die vorgesetzten Behörden Kenntnis von den Geschehnissen in
+seinem Regiment erhielten. Beides aber war durchaus nicht nach seinem
+Geschmack.
+
+Es kam ihm daher als hochwillkommene Nachricht, als er ein
+Dienstschreiben erhielt, laut welchem der Rittmeister Kahle zum Major
+befördert und in eine Garnison Süddeutschlands versetzt wurde. Da war
+das ersehnte Ende dieser unseligen Geschichte, und er freute sich
+doppelt, nicht voreilig gehandelt zu haben, denn nun wurde die Sache
+durch eine günstige Wendung des Geschicks zum Abschluß gebracht.
+
+Kahle war glücklich über die unerwartet schnelle Beförderung. Hatte er
+doch nun das schöne Ziel erreicht, dem er lange Jahre ernster Arbeit und
+redlichen Strebens gewidmet!
+
+Jetzt konnte er ruhiger der Zukunft entgegensehen, denn nun die
+gefährliche Majorsecke überwunden war, schien ihm eine weitere
+aussichtsvolle militärische Laufbahn mit Rücksicht auf seine Fähigkeiten
+außer Zweifel. Dazu die schöne neue Garnison, was wollte er mehr?
+
+Schon am Tage nach der Beförderung versammelte ein Liebesmahl das
+gesamte Offizierkorps im Kasino. Um den Scheidenden besonders zu ehren,
+hatte der Oberst Epauletten befohlen, und der neugebackene Major nahm
+sich besonders fein aus im Schmuck seiner Orden und Kandillen.
+
+Als der zweite Gang vorüber war, erhob sich der Oberst und hielt dem
+scheidenden Kameraden eine herzliche Abschiedsrede, in welcher er der
+allgemeinen Beliebtheit und den hohen militärischen Tugenden Kahles
+Ausdruck gab, dann überreichte er ihm den üblichen silbernen Becher mit
+dem Namenszug des Regiments.
+
+Kahle dankte mit gerührten Worten. Aus seiner Abschiedsrede klang die
+Freude über die Beförderung heraus, aber auch ein Schmerz, nach so
+langer Zeit in der Garnison die Kameraden und den Ort seiner Wirksamkeit
+verlassen zu müssen. Oft hatte er sich sehnlich fortgewünscht aus diesem
+weltvergessenen Städtchen, in dem es so viel Ärger gab, aber jetzt, da
+es ans Scheiden ging, schnitt es ihm doch wie ein leichter Schmerz in
+die Seele, auf immer von dort zu scheiden, wo er lange Jahre dem
+Vaterlande in Ehren gedient.
+
+Die Herren waren alle vollzählig am Bahnhof versammelt, als der Major am
+nächsten Tage mit dem Mittagszuge abreiste. Nachdem er noch einmal allen
+Lebewohl gesagt, und der Oberst ihn geküßt hatte, nahm er Abschied von
+seiner Frau und dem kleinen Sohne. Es war ihm schwer ums Herz und es
+kostete ihm Mühe, eine Träne zu verbergen, die sich in sein Auge stahl.
+
+Auch seine Ehe wollte er nun zu einem trauten Zusammenleben gestalten,
+auf daß mit den Freuden seiner neuen Stellung auch die eines gemütlichen
+Heims erblühten, und dieser Vorsatz ließ ihn besonders herzlich von der
+Gattin Abschied nehmen. Auch sie würde ihre kleinen Fehler ablegen, wenn
+sie in anderer Umgebung die oft empfundene Langeweile und Bitterkeit
+vergaß, die schönsten Jahre ihres jungen Lebens in einer kleinen Stadt
+an den Grenzen des Reichs verbringen zu müssen. Konnte sie sich erst
+wieder in der neuen schönen Garnison das Leben angenehm gestalten und
+neue Eindrücke in sich aufnehmen, dann würden die kleinen Reibereien und
+Feindseligkeiten in ihrer Ehe ebenfalls ein Ende nehmen, sie waren blos
+die Ausgeburt der Abgeschlossenheit und Langeweile, in der eine so
+lebenslustige Frau mißmutig und launisch werden mußte.
+
+Bis die Räumung der Wohnung und der Umzug besorgt war, sollte Frau Kahle
+in der alten Garnison verbleiben, und Oberleutnant Weil nebst Gattin
+hatte sie gebeten, während jener Zeit als Gast bei ihnen zu verbleiben.
+
+Mit Freuden nahm Frau Kahle die freundliche Einladung an. Hatte sie doch
+so wenigstens Gelegenheit, diese paar Tage mit Kolberg ordentlich zu
+genießen, denn jetzt brauchte sie niemand mehr Rechenschaft über ihr Tun
+und Treiben zu geben, ja sie konnte sogar unter dem Vorwand einer
+kleinen notwendigen Reise einen ganzen Tag und eine Nacht bei ihm
+weilen, denn für eine Trennung auf lange Zeit, vielleicht für immer,
+hieß es gründlich Abschied nehmen und den Freudenbecher der Liebe noch
+einmal bis zur Hefe leeren!
+
+Eines Tages saß Familie Weil mit ihrem Gast am Kaffeetisch, als der
+Bursche einen Brief für Frau Kahle hereinbrachte, den der Briefträger
+soeben abgegeben. Sie öffnete denselben, überflog die wenigen Zeilen und
+steckte ihn leicht errötend in die Rocktasche.
+
+»Frau Pfarrer Klein schreibt mir soeben, ich möchte sie doch heute noch
+einmal zum Kaffee besuchen, damit sie mich noch einmal sehen könne.
+Reizend liebenswürdig, nicht wahr? Ich will doch gleich hingehen, damit
+es nicht zu spät wird.«
+
+Dabei erhob sie sich, trank im Stehen ihre Tasse aus und tänzelte mit
+einem »Auf Wiedersehen heute Abend« zur Tür hinaus. Wenige Minuten
+später sah Weil sie auch eilenden Schrittes nach der Stadt zu wandern.
+
+»Sonderbar!«, sagte er dann zu seiner Gattin, »mit der hat sie doch
+früher nie verkehrt, die kennt man ja kaum. Das wird doch nicht irgend
+eine Finte sein?«
+
+»Laß sie doch gehen, wohin sie will, Max,« entgegnete Frau Weil
+gleichgültig, »was kümmert's uns? In ein paar Tagen geht sie ja doch
+fort, und schließlich ist sie ja allein für ihre Handlungen
+verantwortlich!«
+
+Weil aber schüttelte den Kopf und ging nach seinem Arbeitszimmer.
+
+Die Uhr zeigte schon acht, und Frau Kahle war noch immer nicht zurück.
+Man begann unruhig zu werden und sich um den Gast zu sorgen. War ihr
+etwas zugestoßen?
+
+Das Dienstmädchen deckte im Nebenzimmer gerade den Tisch, als das
+Ehepaar seinen Vermutungen über die verschiedenen Möglichkeiten Ausdruck
+gab, welche das Ausbleiben ihres Gastes verursacht haben könnten.
+
+»Minna,« wandte sich Frau Weil an das Dienstmädchen, »es ist am besten,
+Sie gehen einmal hin zu Frau Pfarrer Klein und fragen an, ob Frau Major
+Kahle noch da ist, ich habe keine Ruhe, bis ich weiß, wo sie ist.«
+
+»Bei der Frau Pfarrer wird sie aber nicht sein, gnädige Frau,«
+entgegnete das Mädchen, »ich habe die gnädige Frau gegen halb Fünf oben
+in der Allee gesehen, als ich Milch holen ging, die Frau Pfarrer wohnt
+ja hinter der Kirche.«
+
+»Dann hat es keinen Zweck, hinzuschicken,« sagte achselzuckend der
+Oberleutnant, »ich werde wohl recht behalten, es war nur ein Vorwand, um
+nicht zu sagen, wohin sie in Wirklichkeit gegangen ist. Ich denke mir
+mein Teil!«
+
+»Was denkst du dir, Max,« fragte neugierig seine Gattin, »wo soll sie
+denn sein?«
+
+»Beim Kolberg ist sie, ich wette meinen Kopf!«
+
+»Aber wie kannst du das sagen, Max, sie wird doch nicht...«
+
+»Gewiß wird sie! Und sie ist es!«
+
+Beide schwiegen, als das Mädchen wieder eintrat; es stellte den
+Teekessel auf den Tisch, zog dann aus der Tasche ein zusammengefaltetes
+Papier, und reichte es Weil mit hämischem Lächeln.
+
+»Haben die Herrschaften das vielleicht verloren?«
+
+Während Minna sich wieder zurückzog, starrte der Oberleutnant erst mit
+weit aufgerissenen Augen auf das Papier, dann lachte er höhnisch auf und
+hielt es seiner Gattin hin.
+
+»Bitte, willst du dich überzeugen, hier hast du es schwarz auf weiß.«
+
+Frau Weil nahm zögernd das Blatt aus seinen Händen und las:
+
+»Erwarte dich heute halb Fünf, da morgen dienstlich beschäftigt.«
+
+Über- und Unterschrift fehlten, aber es waren Kolbergs unverkennbare
+Schriftzüge.
+
+»Jetzt haben wir die Geschichte! Dazu haben wir sie eingeladen, daß sie
+uns etwas vorlügt und an der Nase herumführt, und dann ihre tollen
+Geschichten weitertreibt! Habe ich nicht gleich gesagt, wir wollen es
+bleiben lassen? Aber du hast darauf bestanden, sie einzuladen. Hättest
+du auf mich gehört, bliebe es mir jetzt erspart, dieses Frauenzimmer
+vor die Tür zu setzen.«
+
+»Um Gotteswillen, Max, das kannst du doch nicht, stecke den Brief ins
+Feuer!«
+
+»Fällt mir gar nicht ein,« brauste Weil auf, »ich werfe sie zum Hause
+hinaus! Oder meinst du, ich hätte hier ein Absteigequartier für
+verdorbene Weiber? Sie kann sehen, wo sie unterkommt, ich danke
+gehorsamst für die Ehre, sie weiter als Gast zu behandeln. Und der Brief
+kommt nicht ins Feuer, sondern dahin, wohin er gehört, zum Ehrenrat!«
+
+Weil ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, die Hände in den
+Taschen vergrabend. Sein finsterer Blick verriet Empörung und
+Entschlossenheit.
+
+»Wenn ich Dir raten soll,« begann die Gattin zaghaft, »dann stecke den
+Brief in den Ofen und schweige die Geschichte tot. In zwei Tagen geht
+sie ja doch fort und dann ist so wie so alles zu Ende. Nur laß die
+Finger aus der Geschichte, denn du bekommst nur die tollsten
+Unannehmlichkeiten! Und dann denke doch an den armen Major!«
+
+»Ich tue, was ich gesagt habe, dabei bleibt es, derartige Sachen
+verstehst du nicht zu beurteilen! Ich lasse mir nicht gefallen, daß
+diese Person ihre Wirtschaft mit dem Lumpen, diesem Kolberg, aus meinem
+Hause heraus fortsetzt. Soviel Anstandsgefühl muß sie sich noch gerettet
+haben, diese Geschichten jetzt bleiben zu lassen, solange sie bei
+anständigen Leuten zu Gaste ist. Eine Gemeinheit ist das, eine
+Schweinerei sondergleichen!«
+
+Frau Weil gab es auf, noch weiter auf ihren Gatten einzureden, denn sie
+kannte seinen Zorn und seine Unerbittlichkeit, wenn er sich etwas
+vorgenommen hatte. Sie zog die Stirn in Falten und blickte sinnend in
+das rote Licht des Kamins, dessen flackerndes Feuer zitternde Schatten
+auf den Teppich warf.
+
+»Es ist angerichtet!« meldete das Dienstmädchen.
+
+»Sagen Sie, Minna, wo haben Sie den Brief gefunden?« redete der
+Oberleutnant sie an.
+
+»Er lag auf dem Korridor unter dem Kleiderständer, er muß wohl jemand
+aus der Tasche gefallen sein.«
+
+»Es ist gut, Sie können gehen!«
+
+Schweigend setzte sich das Ehepaar zu Tisch. Weil machte ein böses
+Gesicht, und seine Gattin schaute mit hochgezogenen Augenbrauen nicht
+von ihrem Teller auf. Sie blickte erst mit ängstlicher Miene nach ihrem
+Manne hinüber, als die Korridortür geöffnet und Frau Kahle's Stimme
+hörbar wurde.
+
+»Sie kommt, Max! Mache um Gotteswillen keine Szene! Denke an die
+Dienstboten, die können alles hören!«
+
+Weil aber antwortete nichts, blickte auch nicht nach der Tür, als diese
+sich jetzt auftat und Frau Major hereintrat.
+
+Ihr Gesicht glühte, und die Augen schimmerten in feuchtem Glanz. Das
+blonde Haar war verwirrt und eine Nadel stahl sich aus dem großen Knoten
+am Hinterkopfe. Zwei Knöpfe der luftigen Sommerblouse standen offen, und
+aus der Öffnung schaute ein kleiner Zipfel zierlicher weißer Spitzen
+hervor.
+
+»Guten Abend, meine Herrschaften!« rief die Eintretende mit heiterer
+Stimme dem Ehepaare entgegen, »verzeihen Sie meine Verspätung, aber Frau
+Klein forderte mich auf, mit ihr zur Stadt hinüber zu fahren und dadurch
+wurde es etwas spät. Es war reizend, wir waren im Kaffee und haben
+Besorgungen gemacht!«
+
+Weil erhob sich steif und trat seinem Gast gegenüber.
+
+»Gnädige Frau!« sagte er ernst und ruhig, »es ist unnötig und
+vergebliche Mühe Ihrerseits, uns über den Zweck Ihrer Abwesenheit heute
+Abend täuschen zu wollen. Der Brief, der am Nachmittag für Sie ankam und
+durch einen Zufall in unsere Hände gelangt ist, beweist in
+unzweideutiger Form, daß Sie das Ihnen gewährte Gastrecht in
+schändlicher Weise gemißbraucht haben. Darf ich Sie bitten, so bald als
+möglich, spätestens aber bis morgen früh, mein Haus zu verlassen. Heute
+Abend wollen Sie uns gütigst allein lassen.«
+
+Er machte eine steife Verbeugung und ließ sich wieder am Tisch nieder.
+
+Frau Kahle stand einen Augenblick wie versteinert im Halbdunkel des
+Zimmers, dann griff sie hastig nach ihrer Tasche. Die Hand suchte einen
+Augenblick, dann wandte sich die Frau Major schweigend dem Ausgange zu
+und ging nach ihrem Zimmer, dessen Tür sie heftig hinter sich zuwarf.
+
+Nach dem Abendessen schritt der Oberleutnant zu seinem Schreibtisch,
+zündete die grünverschleierte Lampe an und setzte sich in den Sessel.
+Dann entnahm er einer Schublade einen großen Bogen weißes Papier,
+tauchte die Feder ein und legte beides vor sich hin.
+
+Eine halbe Stunde saß er zurückgelehnt und blickte sinnend auf den
+weißen Bogen, dann ergriff er den Federhalter und begann zu schreiben.
+
+Seine Gattin saß indes mit sorgenvoller Miene an dem großen Sophatisch,
+mit einer Stickerei beschäftigt, nur manchmal warf sie einen Blick zu
+dem Gatten hinüber, dessen Feder kratzend über das Papier eilte.
+
+Endlich war das Schriftstück fertig. Weil lehnte sich in den Stuhl
+zurück und schaute wieder sinnend vor sich hin, dann las er es noch
+einmal langsam durch, faltete es zusammen und schob es mit dem
+gefundenen Brief in ein gelbes Kouvert, dessen Rückseite er ein Siegel
+aufdrückte.
+
+Dann verschloß er das Schreiben in einer Schublade, blies die Lampe aus
+und nahm neben seiner Gattin auf dem Sopha Platz, um sich in die Zeitung
+zu vertiefen.
+
+Frau Kahle reiste am nächsten Morgen mit dem Frühzug ab, wohin, wußte
+selbst der Bursche nicht, welcher den Koffer zur Bahn gebracht, denn sie
+hatte weder schriftlich noch mündlich ein Wort des Dankes oder der
+Entschuldigung hinterlassen.
+
+Am Mittag desselben Tages wurde der ahnungslose Leutnant Kolberg zum
+Kommandeur bestellt und ihm von diesem eröffnet, daß gegen ihn das
+ehrengerichtliche Verfahren eröffnet und er bis auf Weiteres des
+Dienstes enthoben sei.
+
+Das gab eine Aufregung im Offizierkorps! Im Stillen begrüßte es ein
+jeder mit Schadenfreude, daß die an sich so peinliche Angelegenheit nun
+doch noch weitere Kreise zog, denn kein einziger war dem verschlossenen
+Kolberg, der sich von allen Veranstaltungen im Kasino zurückzog, und
+der koketten Frau besonders gewogen. Es scheute sich daher niemand, am
+wenigsten Borgert, in der schroffsten Weise über Weil's Vorgehen zu
+urteilen und dabei an den Geschehnissen zwischen Kolberg und Frau Kahle
+die härteste Kritik zu üben. Man sprach von dem Kameraden in Ausdrücken,
+wie sie kaum in den Büchern des guten Tones zu finden waren, und nahm
+sich vor, »den gemeinen Ehebrecher und Duckmäuser« gründlich zu
+»schneiden«.
+
+Der Oberst von Kronau hatte den größten Schrecken bekommen, als
+Rittmeister Stark, der Präses des Ehrenrates, am Morgen mit dem
+Schriftstücke Weil's erschienen war. Er überlegte hin und her, was zu
+tun sei, um der höchst peinlichen Affäre eine möglichst günstige Wendung
+zu geben. Aber sie war nun einmal beim Ehrenrat anhängig gemacht und
+mußte, der Vorschrift entsprechend, untersucht und durchgeführt werden.
+Er mußte sich daher darauf beschränken, über den Anstifter der
+unheilvollen Geschichte, den Oberleutnant Weil, zu fluchen und ihm eine
+möglichst schlechte Konduite vorzumerken.
+
+Im Geiste sah er sich schon auf seinem Gute das Abladen eines Heuwagens
+überwachen.
+
+Besonders hart traf der Schlag den armen Major Kahle. Er hatte nun
+erreicht, wonach er Jahre lang gestrebt und gerungen, und nun machte
+ihm diese gewissenlose Frau all sein Glück, all seine Erfolge zu
+schanden.
+
+Wo sich seine Gattin aufhielt, ahnte er nicht, denn sie hatte es
+vorgezogen, sich nicht in seine Nähe zu begeben, da sie eines nicht
+sonderlich freundlichen Empfanges sicher war. Sie hatte daher den Sohn
+zu ihren Eltern geschickt, sich selbst aber in Berlin häuslich
+niedergelassen, wo sie die Zeit mit Briefen voller Vorwürfe an Kolberg
+und mit Herumflanieren tot schlug.
+
+Kahle war fest entschlossen, seiner treulosen Gattin die Tür zu weisen,
+wenn sie es wagen sollte, einen Schritt in sein Haus zu tun; er leitete
+daher sofort die Scheidungsklage ein.
+
+Was ihm aber weit mehr das Herz beschwerte, war der Gedanke an das nun
+unvermeidliche Duell. Weil seine Gattin ihn in gewissenloser, niedriger
+Weise hintergangen hatte, mußte er sich jetzt der Kugel des Verführers
+preisgeben, statt daß man den Elenden aus dem Offizierstande ausstieß
+und ihn in irgend einem Gefängnis über seine gemeine Handlungsweise
+nachdenken ließ.
+
+Die Ehre seiner Frau sollte er durch einen Zweikampf retten!
+
+Welch ein Unsinn! dachte er bei sich. Hat ein Weib überhaupt noch einen
+Funken Ehre, wenn es seinen Gatten betrügt und sich ganz dem ersten
+besten hingibt, der nach seinen Reizen Verlangen trägt? Eine ehrlose
+Kokotte war sie, nichts weiter, und für diese sollte er sein Leben in
+die Schanze schlagen! Was für eine lächerliche Komödie!
+
+Und er sann darüber nach, ob und wie er einem Zweikampf aus dem Wege
+gehen könnte. Nicht aus Feigheit oder Furcht vor dem Tode, nein, feige
+war er nicht, aber er sah nicht ein, warum er die Früchte seines
+arbeitsreichen Lebens, die Zukunft seines Kindes und sein eigenes Leben
+auf ein wagehalsiges Spiel setzen sollte, weil ein anderer gemein und
+schurkisch gehandelt hatte. Es war doch denkbar, daß der Gegner ihn
+töten würde, wenn es zum Zweikampf kam. Dann hatte er, der Unschuldige,
+die härteste Strafe erlitten, die es für den Menschen geben konnte, den
+Tod, der Verbrecher aber ging frei aus und ließ einen anderen für seinen
+Frevel büßen.
+
+Aber allmählich kam ihm zum Bewußtsein, daß es kein Mittel gäbe, einem
+Kampf mit tötlichen Waffen aus dem Wege zu gehen, denn, weigerte er
+sich, seinem Gegner eine Forderung zu übersenden, würde man ihn durch
+Beschluß eines Ehrengerichts verabschieden, weil er die Ehre seines
+Standes nicht zu wahren wisse, beteiligte er sich aber an einem Duell,
+so wurde er mit Festungshaft bestraft. Das letztere schien ihm das
+geringere von beiden Übeln, aber nun wollte er auch keine Rücksicht üben
+an dem Zerstörer seines Friedens, dem Manne, der sein Haus geschändet.
+Unter den schärfsten Bedingungen wollte er den Schurken zum Zweikampf
+fordern und ihn töten, oder der andere sollte ihm das Leben rauben, das
+ihm nun doch einmal verleidet war. -- --
+
+Die ehrengerichtlichen Verhandlungen nahmen mehrere Monate in Anspruch.
+Dabei kamen Dinge zu Tage, die zwar den jüngeren Herrn des Offizierkorps
+recht interessant und wissenswert erschienen, im übrigen aber auf
+Leutnant Kolberg und seine Auffassung von Ehre und Kameradschaft ein
+bedenkliches Licht warfen. Auch das Verhalten der Offiziere vor der
+Katastrophe mußte recht sonderlich erscheinen.
+
+Anfangs hatten sich die Kameraden von Kolberg ganz zurückgezogen, man
+sah ihn auch nur gelegentlich in der Umgebung der Garnison, wenn er
+seine Pferde ritt.
+
+Eines Tages aber war Borgert in Geldverlegenheit gewesen und hatte, da
+alle anderen Quellen allmählich ihre Zahlungen einstellten, als letzten
+Weg einen Pumpversuch bei Kolberg ausfindig gemacht. Dieser benutzte
+denn auch die Gelegenheit, Borgert sich zu verpflichten, denn er kannte
+dessen Einfluß auf die jüngeren Herrn. Er verschaffte sich daher
+schleunigst gegen Verpfändung seines Vollblutrappen die erbetenen
+tausend Mark und stellte sie Borgert zur Verfügung.
+
+Der Dank blieb nicht aus. Schon nach wenigen Tagen hatte der
+Oberleutnant die gesamte Tischgesellschaft von den vorzüglichen
+kameradschaftlichen Eigenschaften Kolbergs und der lächerlichen
+Auffassung seiner Schuld seitens der Vorgesetzten derartig zu überzeugen
+gewußt, daß der vom Dienst Enthobene nicht nur ein gern gesehener Gast,
+sondern ein noch beliebterer Gastgeber wurde. Er renommierte dann beim
+schäumenden Sekt mit seinem bevorstehenden Duell, wo er dem »Dämelsack«,
+dem Kahle, ordentlich heimleuchten würde, und wurde so allmählich der
+Held des Tages, der mit kühnem Schneid sich eine Dame erobert hatte,
+während andere mit einer Straßendirne vorlieb nehmen mußten.
+
+Er wurde jedoch etwas bescheidener, als er eines Tages Kahle's Forderung
+erhielt:
+
+>15 Schritt Distanze, gezogene Pistolen mit Visier und Kugelwechsel bis
+zur Kampfunfähigkeit einer Partei<. Das hatte er nicht erwartet, die
+Aussichten des Zweikampfes für ihn waren somit nicht abzusehen,
+vollends, da der Major als guter Schütze galt und sein Ruf als
+trefflicher Nimrod weit über die Grenzen der Garnison hinausging.
+
+So wanderte er denn täglich in den Wald und übte sich im Schießen, um am
+Tage des Kampfes gewappnet vor den Gegner treten zu können.
+
+Wenn er so eine Kugel nach der anderen in eine unschuldige Buche
+hineinknallte, kam ihm mitunter der Gedanke, daß er doch eigentlich den
+Major nicht treffen dürfe, da er an ihm gesündigt und ihn betrogen habe.
+Es war etwas wie das letzte Aufdämmern eines unter dem Druck moralischen
+Niederganges ersterbenden Pflichtgefühls, die Regungen eines
+schuldbeladenen Gewissens und das leise Empfinden der Gerechtigkeit,
+aber diese Regungen wurden von einem weit mächtigeren Gefühl erdrückt:
+dem neu erwachten, wilden Hang am Leben, der um so heftiger ihn ergriff,
+je mehr er sich in die Möglichkeit hineindachte, ein Leben lassen zu
+müssen, das ihm noch so viel des Schönen bot. Und eine innere Stimme
+rief in ihm: Du willst nicht sterben, leben willst du, leben! --
+
+Und dafür war der beste Weg, den Gegner in den Sand zu strecken.
+
+Vier Monate waren vergangen, bis das Ehrengericht das Urteil sprach. Es
+lautete auf Verabschiedung Kolbergs, doch wurde dem Bestätigungsgesuch
+an Seine Majestät ein solches um gnadenweise Wiedereinstellung des
+Verabschiedeten beigefügt.
+
+Der Zweikampf wurde an sich ebenfalls genehmigt, doch nicht unter den
+von Kahle gestellten Bedingungen. Vielleicht fürchtete man, durch einen
+nach jenen Bedingungen unvermeidlichen blutigen Ausgang zu viel Staub
+aufzuwirbeln. Waren doch in letzter Zeit mehrere Fälle vorgekommen, bei
+denen der Tod eines der Duellanten die verhängnisvollsten Folgen für
+diejenigen hohen Vorgesetzten mit sich brachte, welche die Ausfechtung
+des Zweikampfes nicht aufgehalten oder die Bedingungen abgeschwächt
+hatten.
+
+So lautete denn die neue Forderung auf 35 Schritt Distanz und einmaligen
+Kugelwechsel mit glatten Pistolen ohne Visier.
+
+Kahle wurde also keine Gelegenheit gegeben, den Schänder seiner Hausehre
+zu strafen, weil die Herrn Vorgesetzten nicht ihre Haut dabei zu Markte
+tragen wollten. Denn dieser Zweikampf war nur eine Farce, ein blutiger
+Ausgang mußte lediglich ein unglücklicher Zufall sein.
+
+Borgert war von Kolberg gebeten worden, ihm zu sekundieren, und der
+Oberleutnant willigte mit Vergnügen ein, denn einesteils spielte er gern
+die Rolle des ungefährdeten Zuschauers, andererseits glaubte er sich
+dadurch Kolberg zu verpflichten, die Rückzahlung der tausend Mark hatte
+somit noch ein Weilchen Zeit.
+
+Ein Trinkgelage versammelte die Getreuen Kolbergs in dessen Wohnung,
+bevor er nach der Stadt in Süddeutschland abreiste, deren Umgebung der
+Schauplatz des Zweikampfes werden sollte. Er betrank sich dabei so, daß
+es dem Burschen schwer wurde, den Leutnant gegen Morgen aus den Federn
+zu bringen, damit er den Zug nicht versäume.
+
+Borgert war es ebenso gegangen, er machte so, wie er auf dem Bahnhof
+stand, den Eindruck, als käme er gerade von einem Festgelage.
+
+In diesem Zustande hatte er natürlich »vergessen«, sich Reisegeld
+einzustecken und nahm es großmütig an, als Kolberg ihm einen
+Hundertmarkschein in die Hand drückte. -- --
+
+Es war ein kalter Morgen, als zwei Wagen in flottem Trabe den
+Schießständen von Kahles Garnison zufuhren.
+
+Die Sonne schaute gerade über den Bergrücken im Osten heraus und sandte
+ihre ersten flachen Strahlen auf die reifbedeckten Stoppelfelder.
+Friedlich lag die Natur in ihrem herbstlichen Kleide, auch im Walde
+herrschte tiefes Schweigen, nur manchmal unterbrochen durch das
+Herabfallen eines welken Blattes, wenn es seinen Weg raschelnd zwischen
+den Zweigen zu Boden suchte, zu seinem Totenbette.
+
+Im ersten Wagen saßen Kolberg, Borgert und zwei Ärzte, im zweiten Kahle,
+sein Sekundant und die beiden Mitglieder des Ehrenrates, welche dem
+Zweikampf als Unparteiische beizuwohnen hatten. Unter dem Rücksitz lag
+der Pistolenkasten.
+
+Von der Straße bogen die Gefährte in einen Seitenpfad ein, der so schmal
+war, daß das Geäst der rechts und links stehenden Bäume beständig gegen
+die Wagenfenster schlug.
+
+An einem freien Platze machten sie Halt. Die Insassen stiegen aus und
+befahlen den Kutschern, an den Eingang des Waldes zurückzufahren und
+dort zu warten.
+
+Die Herrn schritten sodann noch fünf Minuten einen kleinen Pfad entlang
+und versammelten sich auf dem Schießstand, der am weitesten in den Wald
+hinein gelegen war.
+
+Der Pistolenkasten wurde auf einen Erdwall gelegt und von den
+Sekundanten die Waffen herausgenommen und geladen, dann übergab einer
+die Pistole dem anderen zur Prüfung.
+
+Die Ärzte breiteten ihre Bestecke aus und legten einen großen Streifen
+Verbandsstoff bereit, während die Unparteiischen sprungweise die
+Entfernung abschritten und ihre Degen als Entfernungsmarken in den
+festgefrorenen Boden steckten.
+
+Der übliche Ausgleichsversuch verlief erfolglos, und so nahmen denn die
+beiden Duellanten an je einem Degen Ausstellung.
+
+Kahle sah bleich und übernächtig aus, er zitterte vor Kälte, und seine
+nervös zuckenden Züge verrieten heftige Erregung.
+
+Kolberg dagegen schien beinahe zu lächeln und warf mit einer
+gleichgültigen Bewegung den Zigarettenstummel weg, den er bis dahin im
+Munde gehalten.
+
+Einer der Herren erklärte in kurzen Worten die Kampfesordnung, daß der
+Schuß zwischen »Eins« und »Drei« fallen müsse und sagte dann nach kurzer
+Pause:
+
+»Fertig!«
+
+Beide Herren hielten die Pistole zu Boden gesenkt, um sie auf »Eins«
+gegeneinander zu erheben.
+
+Gleichzeitig mit »Zwei« knallte Kahle's Schuß, und die Kugel schlug
+klatschend in die Rinde einer Buche, von der ein dürrer Zweig
+geräuschvoll zu Boden fiel. Durch die unruhig zitternde Hand war der
+Schuß fast einen Meter über Kolberg's Kopf hinweggegangen.
+
+Dieser aber stand fest und unbeweglich und zielte bis zum letzten
+Augenblick, sodaß mit »Drei« auch der Hahn seiner Pistole niederschlug.
+
+Kahle sah festen Blickes auf die kleine schwarze Mündung der Pistole
+seines Gegners, nach dem Schuß aber öffneten sich seine Augen weit, er
+taumelte und stürzte zu Boden.
+
+Kolberg lief es kalt über den Rücken, als er den großen, starken Mann
+nach rückwärts fallen sah und er blieb wie gelähmt einen Augenblick
+stehen; dabei entfiel die Waffe seiner Hand.
+
+Die übrigen Herren aber waren sofort neben dem Major, und die Ärzte
+rissen ihm den Rock auf.
+
+Mitten auf der Brust sickerte ein starker Blutstrom aus einer kleinen
+Wunde.
+
+Kahle hatte die Besinnung nur für einen Augenblick verloren. Er lag
+jetzt da, bleich und mit festem Blick auf die Herren in seiner Umgebung
+schauend. Und als Kolberg auch herantrat, dem Major die Hand
+entgegenstreckend, taumelte er wie von einem Schlage getroffen zurück,
+als ein kalter, abweisender Blick aus Kahle's gläsernen Augen ihn traf.
+Einen Augenblick stand er neben seinem Opfer, dann wandte er sich um und
+schritt in den Wald hinein, dem Ausgange zu.
+
+Die Verwundung des Majors stellte sich als nicht lebensgefährlich
+heraus, doch hatte die Kugel die Lunge leicht verletzt, und es mußte
+lange dauern, bis der Kranke wieder genesen war.
+
+Ein Wagen wurde herbeigeholt und der Major sorgfältig hineingehoben, die
+beiden Ärzte stiegen ebenfalls ein, der Sekundant nahm neben dem
+Kutscher Platz, und darauf ging es im Schritt nach der Stadt zurück, wo
+man den Verletzten sofort in's Lazaret zu bringen gedachte.
+
+Kolberg's niedergedrückte Stimmung hielt nicht lange vor. Als er sich
+mit Borgert am Anfang der Stadt von den beiden Insassen des Wagens
+verabschiedet hatte, schlug ihm sein Begleiter auf die Schulter und
+sagte ermunternd:
+
+»Machen Sie doch nicht so ein Gesicht, Menschenskind! Seien Sie froh,
+daß Sie mit heiler Haut davon gekommen sind! Daß Sie den armen Teufel
+gerade in die Brust getroffen haben, ist ja Pech, aber dafür können Sie
+nichts, denn er ist es ja, der Sie gefordert hat, nicht Sie ihn. Wir
+wollen jetzt frühstücken gehen, mir knurrt der Magen, ich bin nicht
+gewohnt, so früh am Morgen im Walde herumzustolpern.«
+
+»Es tut mir leid, daß ich den Major so unglücklich getroffen habe, aber
+das wollte ich nicht,« erwiderte Kolberg mit ernster Stimme, »der Teufel
+soll die Weiber holen, die sind an allem schuld! Was mußte ich mich auch
+mit dieser Kahle einlassen!«
+
+»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, mein Lieber! Der Major ist
+selbst an allem schuld, denn er mußte seiner schönen Gattin besser auf
+die Finger sehen, dann wäre sie keine Dirne geworden. Heute hat sie den,
+morgen den, also haben Sie kein Verbrechen begangen, wenn Sie sich auch
+einmal mit ihr amüsiert haben. Man muß die Weiber behandeln, wie sie es
+verdienen.«
+
+Dem redegewandten Borgert gelang es allmählich, Kolbergs finstere Miene
+aufzuhellen, denn was er da sagte, leuchtete ihm ein, die herzlose
+Gemeinheit, die aus den Worten seines Begleiters sprach, fühlte er nicht
+heraus, da er selbst nicht besser war.
+
+So gingen denn die Beiden zu ihrem Hotel, zogen Zivil an und begaben
+sich in ein Frühstückslokal, in welchem die Kellner mit verschlafenen
+Augen gerade die Stühle von den Tischen nahmen und die frühen Gäste voll
+Verwunderung betrachteten.
+
+Mit einem Kognak fing es an, und mit Sekt endete es am späten Abend in
+einem Lokal mit Damenbedienung. Wer da die Leutnants in Zivil mit den
+frechen Kellnerinnen schäkern sah, konnte nicht im Unklaren darüber
+sein, daß sie die Ereignisse des Morgens überwunden und mit dem
+seelischen Gleichgewicht die gute Laune des gewissenlosen Menschen
+zurückerlangt hatten. --
+
+Mit Jubel empfing man die beiden Helden des Kampfes in der Garnison, wo
+sie am Mittag des folgenden Tages eintrafen.
+
+Eine Anzahl Herren standen auf dem Bahnhof zum Empfang bereit und
+begleiteten Kolberg nach seiner Wohnung, um den guten Erfolg mit einem
+Trunk zu feiern.
+
+Die übrigen Herrn des Offizierkorps aber, besonders die älteren, fanden
+es gefühllos, daß Kolberg nach diesem traurigen Ereignis es nicht
+lieber vorzog, allein zu sein und über seine Handlungsweise
+nachzudenken; diese Feier vollends fanden sie roh und gemein.
+
+Zwei Tage später traf auch die Urteilsbestätigung aus Berlin ein. Da das
+Wiedereinstellungsgesuch genehmigt war, wurde Kolberg nach einer anderen
+Garnison versetzt, denn hier konnte seines Bleibens nicht länger sein.
+Bevor er aber die Reise nach der schönen Stadt am Rhein antrat, führte
+ihn sein Weg zunächst auf Festung, woselbst er eine mehrmonatige Strafe
+»wegen Beteiligung an einem Zweikampf mit tötlichen Waffen« zu verbüßen
+hatte.
+
+Der Major erholte sich nur langsam. Den beiden Stabsärzten, welche die
+neben der Wirbelsäule haftende Kugel entfernen wollten, war die
+Operation nicht ganz geglückt, die Kugel war zwar entfernt, aber es trat
+eine Entzündung der geöffneten Stelle ein, welche mit heftigen Schmerzen
+und hohen Fiebererscheinungen verbunden war.
+
+Erst Ende Winters konnte der Major aus dem Lazaret entlassen werden, um
+dann als geistig und körperlich gebrochener Mann auch aus dem
+königlichen Dienste auszuscheiden, dessen Anstrengungen er nicht mehr
+gewachsen war.
+
+Auch ihn hatte man zu einer dreimonatigen Festungshaft verurteilt, doch
+erfolgte schon nach zwei Tagen Begnadigung, denn den Bestimmungen des
+Gesetzes war Genüge getan.
+
+So sah denn Kahle seine Lebensarbeit vernichtet. Er stand in den besten
+Jahren als kranker Mann vor der Frage, sich nach einem anderen Felde der
+Tätigkeit umzusehen, denn leben mußte er, und die schmale Pension
+reichte nicht aus, um ihm und seinem Sohne ein sorgenfreies Dasein zu
+ermöglichen.
+
+Das gesamte Vermögen war durch die Scheidung wieder seiner Gattin
+zugefallen, denn sie hatte es mit in die Ehe gebracht.
+
+Und warum geschah das alles? Weil er die »Ehre« seiner Gattin retten
+sollte! Ihr hatte er sich opfern müssen. --
+
+Wie sehr Frau Kahle dieses Opfer wert gewesen, wurde dem Major erst
+vollends klar, als er hörte, seine ehemalige Gattin habe bei einem
+jungen Baron in Berlin die »Führung des Haushaltes« übernommen.
+
+Kolberg aber saß längst am schönen Rhein und freute sich seines Lebens.
+--
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Fünftes Kapitel.
+
+
+In seiner eleganten Wohnung saß Oberleutnant Borgert am Schreibtisch.
+
+Vor ihm lag ein mit Zahlen bedeckter Bogen, um ihn herum ganze Berge von
+Papieren, Zetteln und farbigen Kouverts.
+
+Er ergriff ein Blatt nach dem anderen und notierte die darauf
+befindliche Zahl auf den vor ihm liegenden Bogen und er hatte schon die
+dritte Zahlenspalte begonnen, als er plötzlich innehielt und den
+Bleistift heftig auf die Tischplatte warf. Die Papiere packte er wie
+einen Haufen Unrat und steckte sie ins Feuer, wo sie sogleich in
+lodernden Flammen aufgingen und nach wenigen Augenblicken nur noch in
+ihrer kohlenden Asche knisterten.
+
+Er hatte den löblichen Vorsatz gehabt, einmal alle Rechnungen, soweit er
+sie seiner sonstigen Gewohnheit entsprechend nicht einfach ungeöffnet in
+den Ofen gesteckt, zusammenzuzählen, um einen ungefähren Begriff von
+Höhe und Umfang seiner Schulden zu gewinnen.
+
+Aber es war nicht möglich, sich durchzufinden durch die endlose Menge
+von Tret- und Mahnbriefen, Klageschriften, Zahlungsbefehlen und
+Rechnungen. Soviel aber war ihm klar geworden: an eine Deckung der
+Schulden war nicht zu denken, denn die Höhe überstieg seine Vermutungen
+ganz bedeutend. Nicht weniger als elftausend Mark hatte er schon
+zusammengerechnet und dazu kam noch dieser Berg Rechnungen, die er eben
+in die Flammen geworfen.
+
+Am meisten drückten ihn die siebenhundert Mark, die er dem Rittmeister
+König noch schuldete, aber auch einige andere Posten drückten ihn
+schwer, denn es waren Ehrenschulden und die erste mit 2300 Mark in kaum
+sechs Wochen fällig. Wo sollte er die herbekommen, ohne zu stehlen? --
+
+Er begann zu überlegen. Die Möbel waren schon verpfändet, ein Pferd
+sogar schon zweimal, und auf das andere, seinen früheren Charger, würde
+er kaum noch dreihundert Mark bekommen, und das war nicht mehr wie ein
+Tropfen auf einen heißen Stein. Unter den Kameraden war keiner mehr, bei
+dem ein Pumpversuch Aussicht auf Erfolg geboten hätte, höchstens König.
+Aber dem schon wieder mit einer solchen Bitte kommen? Das ging nicht
+gut, erst mußten wenigstens die 700 Mark zurückbezahlt sein. Der einzige
+Rettungsanker war ein Darlehnsgesuch bei einem Berliner Dunkelmann,
+aber der Kerl ließ nichts von sich hören, obgleich er nun schon drei
+Wochen im Besitze einer Bürgschaft des Oberleutnants Leimann und einer
+Lebensversicherungspolice über 20000 Mark war.
+
+Vorläufig half es eben nichts. Er wollte die künftig drängenden
+Gläubiger zu beruhigen suchen und nur denen, wenn möglich, etwas
+abbezahlen, welche entweder klagbar oder beim Regiment vorstellig
+wurden. Vielleicht fand sich mit der Zeit noch eine gute Quelle, ein
+glückliches Spielchen, ein großes Los oder sogar eine reiche Braut.
+
+Diese Hoffnung ließ ihn seine gute Laune wieder gewinnen, er zündete
+sich eine Zigarette an und pfiff ein Liedchen vor sich hin, während er
+auf den schweren Teppichen auf- und abschritt.
+
+Ein Geräusch auf dem Korridor ließ ihn aufhorchen. Er vernahm ein
+Stimmengeflüster und einige Tritte auf dem Flurteppich, dann klopfte es
+leise an die Tür.
+
+Das ist gewiß Frau Leimann, dachte er bei sich, denn sie pflegte die
+Theestunde häufig bei ihrem Galan zu verbringen, weil dann der Gatte zum
+Dämmerschoppen ging.
+
+Auf sein »Herein« aber trat eine einfach gekleidete Frau mit einem Korb
+unter dem Arm über die Schwelle. Ihrem noch jugendlichen Gesicht hatten
+Kummer und Sorgen den Stempel frühzeitigen Alters aufgedrückt, und sie
+schaute mit fast ängstlichem Blick auf den Oberleutnant, der im Zimmer
+stehen geblieben war und die Eintretende mit unverhohlenem Mißfallen
+betrachtete.
+
+»Was wollen Sie schon wieder, Frau Meyer?« polterte Borgert sie an, »ich
+habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen keine Wäsche mehr gebe!«
+
+»Entschuldigen Herr Oberleutnant, ich wollte fragen, ob Sie mir
+vielleicht heute die vierzig Mark geben können oder wenigstens einen
+Teil. Ich muß Geld haben, mein Mann liegt seit drei Wochen krank und
+kann nicht schaffen gehen!«
+
+»Mit Ihrer ewigen Drängerei!« entgegnete Borgert schroff. »Kommen Sie
+heute abend wieder, ich muß erst wechseln lassen, jetzt habe ich keine
+Zeit.«
+
+»Aber halten Sie diesmal Wort, Herr Oberleutnant, Sie haben mir nun
+schon so oft das Geld versprochen.«
+
+Damit öffnete sie leise die Tür und ging hinaus, Borgert aber riß die
+Fenster auf und ließ die frische Herbstluft hereinströmen, der Geruch
+der armen Leute war ihm unausstehlich. Die rochen immer nach Schweiß und
+Moder! Er nahm aus dem geschnitzten Wandschrank eine Parfümflasche und
+spritzte den Inhalt auf die persischen Teppiche und die Polster der
+Sessel. Dann klingelte er dem Burschen.
+
+Der Gerufene trat sogleich herein. Es war der Gemeine Röse, welchen der
+Rittmeister in der Front nicht mehr haben wollte, da er unzuverlässig
+sei und mit seiner mangelhaften Pflichtauffassung der Disziplin in der
+Schwadron schade.
+
+»Was habe ich dir befohlen, du Schwein?« brüllte der Oberleutnant ihn
+an.
+
+»Ich soll niemand unangemeldet hereinlassen,« erwiderte Röse schüchtern,
+»aber die Frau ging an mir vorbei und ich konnte sie nicht hindern.«
+
+»Dann schmeiß das Aas hinaus, du schlappes Vieh, läßt du noch einmal
+jemand herein, ohne mich vorher zu fragen, dann haue ich dich hinter die
+Löffel, du Schwein!«
+
+Dabei schlug er Röse mit beiden Händen ins Gesicht, öffnete die Tür und
+stieß ihn hinaus.
+
+»Wenn das Weib heute Abend wiederkommt, dann sagst du, ich wäre
+ausgegangen!« rief er ihm nach.
+
+Borgert hatte sich gerade mit einer Zeitung am Fenster niedergelassen,
+als die Flurglocke wieder ertönte. Es war ein kurzes, energisches
+Klingeln. Der Bursche trat ein und meldete mit verweintem Gesicht:
+
+»Ein Herr möchte Herrn Oberleutnant dringend sprechen!«
+
+»Wie heißt er? Du sollst stets nach dem Namen fragen.«
+
+Der Bursche ging hinaus und kam gleich wieder zurück.
+
+»Er will mir seinen Namen nicht sagen, aber er müßte Herrn Oberleutnant
+unbedingt sprechen.«
+
+»Ich lasse bitten!«
+
+Einen Augenblick später trat ein Mann ein mit einer Ledertasche unter
+dem Arm und stellte sich vor: Gerichtsvollzieher Krause.
+
+»Verzeihen Herr Oberleutnant, wenn ich störe, ich habe eine Zustellung
+für Sie. Bitte!«
+
+Dabei entnahm er seiner Ledertasche ein dickes Kouvert und überreichte
+es Borgert, der aber die Fassung nicht verlor und freundlich entgegnete:
+
+»Ah, ich weiß schon! Ist übrigens gerade gestern bezahlt worden, es
+handelt sich um eine kleine Summe, die ich meinem Schneider schulde!«
+
+»Soviel ich weiß, Herr Oberleutnant, handelt es sich um eine
+Wechselklage der Firma Frölich u. Co., der eingeklagte Betrag beläuft
+sich auf viertausend Mark für gelieferte Möbel.«
+
+»Ach, die Geschichte ist es! Das hätte der gute Mann sich sparen können,
+der Betrag ist vorgestern von meiner Bank abgeführt worden!«
+
+»Dann umso besser,« scherzte der Gerichtsvollzieher. »Ich habe die
+Ehre!«
+
+»Adieu, Herr Krause, ich würde sagen, auf Wiedersehen, wenn Ihr Besuch
+nicht immer ein zweifelhaftes Vergnügen bedeutete.«
+
+Als der Mann hinaus war, riß Borgert das Kouvert auf und überflog den
+Inhalt des Schriftstückes.
+
+Das war eine fatale Geschichte! Die Möbel waren noch nicht bezahlt, aber
+schon verpfändet, obwohl in dem Kaufkontrakt ausdrücklich die Bemerkung
+stand, daß sie dem Lieferanten bis zur völligen Bezahlung als Eigentum
+verbleiben sollten.
+
+Viertausend Mark! Eine Menge Geld! Er mußte mit Leimann sprechen,
+vielleicht war da noch etwas zu machen.
+
+Plötzlich fiel ihm ein, daß der Gerichtsvollzieher ja gar nicht zum
+Garten hinausgegangen sei. Er rief daher seinen Burschen und fragte:
+
+»Wo ist der Mann hingegangen?«
+
+»Nach oben, Herr Oberleutnant.«
+
+»Zu Leimann's?«
+
+»Zu Befehl, Herr Oberleutnant.«
+
+Nanu, was hatte er denn da oben zu schaffen? Steckten die etwa auch wie
+er in der Tinte? Das wäre ja böse, denn Leimann war immer noch so eine
+Art Rückhalt gewesen, indem er für versprochene Zahlungen Bürgschaft
+leistete oder die Gläubiger mit beruhigen half.
+
+Inzwischen überreichte Herr Krause der zu Tode erschrockenen
+Hausgenossin eine Klage der Firma Weinstein u. Co., der sie vierhundert
+Mark für eine gelieferte seidene Robe schuldete.
+
+Sie geriet in helle Verzweiflung und raste wie besessen im Zimmer auf
+und ab. Was war da zu tun? Woher das Geld nehmen? Sie wollte Borgert um
+den Betrag bitten. Aber, was sollte der von ihr denken? Würde er nicht
+alle Achtung vor ihr verlieren?
+
+Einen Augenblick stand sie unschlüssig im Zimmer und drückte beide Hände
+gegen das klopfende Herz. Dann schritt sie entschlossen zur Tür und
+eilte die Hintertreppe hinab.
+
+Sie fand Borgert sinnend in einem Sessel sitzen, und er erhob sich nicht
+einmal, als sie eintrat, sondern winkte ihr nur mit der Hand einen Gruß
+entgegen. Sie trat auf ihn zu und küßte ihm zärtlich die Stirn, dann
+setzte sie sich auf seinen Schoß, während er den Arm um die schlanke
+Taille legte und ihr fragend ins Antlitz schaute.
+
+»Was für sonderbare Besuche empfängst du denn neuerdings?«, fragte er
+nach einiger Zeit halb scherzend.
+
+»Ich? Besuche?«, brachte Frau Leimann verwirrt hervor, »ich habe
+niemand empfangen, wirklich nicht, niemand.« Dabei irrte ihr Blick
+unstät im Zimmer umher.
+
+»Du hast niemand empfangen? Ei, ei, du kleine Lügnerin!«
+
+»Aber was fällt dir ein, Georg, wer soll denn bei mir gewesen sein?«
+
+»Nun, ich dachte nur, ein gewisser Herr Krause.«
+
+»Woher weißt du das?« fuhr sie erschrocken auf.
+
+»Ich weiß alles, mein Kind, selbst daß der Gerichtsvollzieher eben bei
+dir war.«
+
+Frau Leimann schlug beschämt die Augen nieder und zupfte verlegen an
+ihrer seidenen Schürze.
+
+»Nun, wenn du es weißt, brauche ich es dir nicht erst zu sagen. Ja, er
+war bei mir.«
+
+»Und was wollte er?«
+
+»Verklagt haben sie mich, um lumpige vierhundert Mark!« stieß die Frau
+mit weinerlicher Stimme hervor. »Ich bin verloren, wenn mein Mann das
+erfährt!«
+
+»Er muß es aber doch bezahlen, wenn er dir etwas gekauft hat.«
+
+»Er weiß von nichts. Ich mußte das Kleid haben, das rotseidene ist es,
+weißt du? Ich habe damals gesagt, meine Mutter hätte es geschickt, denn
+er hätte es mir abgeschlagen, haben mußte ich es aber, und da habe ich
+es auf meine Rechnung entnommen!«
+
+»Das ist recht dumm, meine Liebe! Wie willst du das Geld schaffen?«
+
+»Ich weiß es nicht! Kannst du mir nicht helfen?«
+
+»Ich will zu den Leuten hingehen und um Aufschub bitten.«
+
+»Das hat keinen Zweck, Georg, ich muß bares Geld haben, wenigstens
+tausend Mark, denn ich habe noch mehr zu bezahlen, die Schneiderin, den
+Friseur &c. Verschaffe mir das Geld, Georg, zeige mir jetzt, daß du mich
+so lieb hast, wie du immer sagst!«
+
+»Ich?« lachte Borgert höhnisch auf, »du lieber Gott, ich weiß selbst
+nicht, wo ein noch aus!«
+
+»Wieso? Hast du auch Schulden?«
+
+»Wenn du dich vielleicht einmal in das Papier da drüben auf dem
+Schreibtisch vertiefen willst? Solche Dinger bekomme ich jeden Tag.«
+
+Frau Leimann trat an den Schreibtisch, faltete die Bogen auseinander,
+und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf die Zahlen.
+
+»Um Gottes Willen, Georg! Was soll daraus werden? Du warst mein einziger
+Verlaß, nun bin ich verloren!«
+
+Sie sank schluchzend auf den Divan und bedeckte ihr Gesicht mit den
+Händen.
+
+»Nur nicht gleich so ängstlich, du kleiner Furchthase, an den paar
+Hundert Mark stirbst du noch nicht!« tröstete sie Borgert, indem er ihr
+zärtlich über das blonde Haar strich, »ich will sehen, daß ich es machen
+kann, in einer Woche hast du tausend Mark.«
+
+Statt einer Antwort schlang sie ihre Arme leidenschaftlich um Borgert's
+Hals und küßte ihm stürmisch Mund und Augen.
+
+»Ich wußte es,« sagte sie dann, »daß du mich nicht im Stiche lassen
+würdest, du Lieber, du Guter!« Und sie zog den Oberleutnant neben sich
+auf den Divan hinab.
+
+Er aber erhob sich, verriegelte die Tür und zog die Fenstergardinen zu.
+Es war traulicher so.
+
+ * * * * *
+
+Als Leimann gegen acht Uhr vom Dämmerschoppen nach Hause kam, fand er
+alle Zimmer dunkel und leer.
+
+Auf seine Frage, wo denn seine Gattin sei, antwortete das Dienstmädchen:
+
+»Die gnädige Frau ist ausgegangen.«
+
+»Wohin?«
+
+»Ich weiß nicht, Herr Oberleutnant!«
+
+So zündete er denn eine Lampe an und ging nach dem Briefkasten, um zu
+sehen, ob mit der Abendpost etwas gekommen sei. Er fand zwei Briefe
+vor, Rechnungen, zusammen über sechshundert Mark.
+
+Er brummte etwas vor sich hin und schloß die beiden »Wische« in seinen
+Schreibtisch ein.
+
+Da gewahrte er ein großes gelbes Kouvert. Er hielt es für einen
+Dienstbrief und griff danach, um es mechanisch zu öffnen. Aber es war
+bereits geöffnet und seine Neugierde wuchs, als er drei große Bogen
+herauszog.
+
+Mit stieren Augen schaute er in die Schreibmaschinenschrift, dann ließ
+er sich am Tisch nieder und las das ganze Schriftstück von Anfang bis zu
+Ende durch.
+
+Also seine Frau auch? Das war ja eine reizende Überraschung! Wenn es mit
+ihrer eigenen Kasse so im Argen lag, dann war wohl von der
+Schwiegermutter nichts mehr zu erwarten, und mit dieser hatte er immer
+noch gerechnet. Wütend schleuderte er die Klageschrift in die Ecke und
+ging sinnend im Zimmer auf und ab.
+
+Seine Gattin mochte wohl den Schritt ihres Mannes durch die Decke
+hindurch vernommen haben, denn sie trat jetzt mit glühenden Wangen ein.
+
+»Entschuldige, Max,« sagte sie außer Atem, »ich hatte noch nötig bei der
+Schneiderin zu tun, ich bin furchtbar gelaufen, ich sah dich vor mir
+hergehen, konnte dich aber nicht mehr einholen.«
+
+»Was hast du wieder mit der Schneiderin zu tun?« herrschte Leimann sie
+an.
+
+»Was soll ich anders da zu tun haben, als wozu sie da ist? Sie macht mir
+ein Reitkleid!«
+
+»Bezahle gefälligst erst deinen alten Krempel, ehe du dir neues
+Flitterzeug machen läßt!« brüllte der Gatte.
+
+»Was soll dieser Ton? Und wer sagt dir, daß ich meine Rechnungen nicht
+bezahle? Du denkst gewiß, es müßten andere gerade so in den Tag
+hineinleben, wie du.«
+
+»Wenn du nicht willst, daß ich sehe, was dir der Herr Gerichtsvollzieher
+bringt, dann lege es mir nicht direkt unter die Nase!«
+
+Frau Leimann begriff erst nicht recht, was er damit sagen wollte, da
+fiel ihr ein, sie hatte ja die Zustellung auf dem Schreibtisch ihres
+Gatten liegen lassen.
+
+»Ich verbitte mir ganz entschieden,« fuhr sie empört auf, »daß du die
+Nase in meine Privatkorrespondenz hineinsteckst. Wenn der Brief offen
+auf dem Tisch lag, hattest du kein Recht, denselben zu lesen, ich mache
+deine Rechnungen auch nicht auf!«
+
+»Mache was du willst, aber ich verbitte mir, daß du mir den
+Gerichtsvollzieher ins Haus schleppst.«
+
+»Das ist nicht schlimm, mein Lieber, dann weiß er wenigstens den Weg,
+wenn er nächstens zu dir kommt!«
+
+»Halt den Mund, du Unverschämte, sonst werfe ich dich vor die Tür!«
+
+»Vielen Dank für dein freundliches Angebot, aber ich gehe bereits von
+selbst.«
+
+Sie ging hinaus, betrat ihr Schlafzimmer und legte sich zu Bett. Müde
+war sie aber noch gar nicht. Sie griff daher nach einem auf dem
+Nachttisch liegenden Buch und begann zu lesen.
+
+Gerade darunter lag Borgert auch in seinem Bett und las ebenfalls.
+
+Aber seine Gedanken waren nicht recht bei der Sache, es ging ihm doch
+etwas im Kopf herum, daß es ihn jetzt von allen Seiten packte. Denn wenn
+da noch viel hinzu kam, würde der Oberst eines Tages die sofortige
+Bezahlung aller Schulden verlangen, und, wenn er das nicht leisten
+konnte, ihn auffordern, seinen Abschied einzureichen. Das aber war eine
+faule Sache, denn was nun anfangen ohne einen Pfennig Geld, mit wenig
+oder gar keinen Kenntnissen und vielen Ansprüchen? Es mußte energisch
+etwas getan werden, und er wollte den nächsten Tag, einen Sonntag, dazu
+benutzen, noch einmal alle Möglichkeiten einer größeren Anleihe
+durchzugehen.
+
+Getröstet in der Hoffnung, daß sich doch noch irgend eine milde Hand
+auftun würde, schlief er ein, das Buch entfiel seinen Händen und die
+Lampe auf dem Nachttisch verlosch nach Mitternacht von selbst, da
+Borgert vergessen hatte, sie auszublasen.
+
+Als er am nächsten Morgen erwachte, war es schon zehn Uhr vorbei.
+
+Borgert wurde wütend. Der halbe Tag war nun wieder zum Teufel und er
+hatte sich doch so viel vorgenommen! Hatte dieser Esel von Bursche ihn
+nicht geweckt? Dabei schmerzte ihn der Kopf und er fühlte sich matt und
+zerschlagen. Notdürftig angekleidet ging er zum Burschenzimmer und fand
+Röse einen Brief schreibend. Er fuhr auf, als der Oberleutnant eintrat.
+
+»Warum hast du mich nicht geweckt, du Vieh?« donnerte er den
+Erschrockenen an.
+
+»Ich habe Herrn Oberleutnant um sieben Uhr geweckt, aber Herr
+Oberleutnant wollte noch schlafen und sagte, ich brauchte nicht mehr zu
+kommen!«
+
+»Das lügst du, du Schwein, ich will dich lehren, zu tun, was ich dir
+sage.« Dabei ergriff Borgert ein auf dem Bett liegendes Säbelkoppel und
+schlug damit heftig auf Röse ein.
+
+Röse stand in militärischer Haltung und ließ die Mißhandlung ruhig über
+sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das aber reizte Borgert
+noch mehr und so schlug er ihn noch einmal mit der Faust vor die Brust.
+Dann nahm er den angefangenen Brief vom Tisch, zerknitterte ihn und warf
+ihn in den Kohlenkasten.
+
+»Geh hinaus zu Herrn Oberleutnant Leimann und sage, ich bäte ihn, in
+einer halben Stunde einmal bei mir vorzukommen.«
+
+»Zu Befehl, Herr Oberleutnant.«
+
+Borgert ging zurück nach seinem Schlafgemach, kleidete sich fertig an
+und betrat das Nebenzimmer.
+
+Aber da stand ja schon der Kaffee! Ganz kalt schon! Also war Röse doch
+schon vorher im Zimmer gewesen? Nun, eine kleine Tracht Prügel schadete
+nichts, sie erhielt die Disziplin und den Respekt, wenn sie auch einmal
+zur unrechten Zeit kam. Denn sollte er Röse etwa jetzt um Verzeihung
+bitten? Das fehlte gerade noch.
+
+Auf dem Schreibtisch lagen einige Briefe. Es waren drei Rechnungen und
+ein Brief seines Vaters.
+
+Er öffnete ihn und las:
+
+ »Mein lieber Sohn!
+
+ Mit Bedauern habe ich aus deinem letzten Briefe ersehen, daß du
+ wiederum größere Ausgaben hattest, die dich in Verlegenheit
+ bringen, weil du nicht damit gerechnet hast. So gern ich dir das
+ erbetene Geld schicken würde, ich kann es beim besten Willen
+ nicht, denn du weißt, wie sehr ich selbst rechnen muß. Wenn dir
+ mit 75 Mark etwas geholfen ist, so stehen sie dir zur Verfügung,
+ wenngleich ich sie deiner Mutter zur Anschaffung eines Kleides
+ versprochen hatte, welches sie schon lange nötig hat. Aber ich muß
+ dir offen gestehen, daß es mir unverständlich ist, wie du mit den
+ zweihundert Mark Zulage nicht auskommen kannst. Ich hatte in
+ deinem Alter auch nicht mehr und habe jedes Jahr eine schöne Reise
+ gemacht. Ich gebe dir den wohlgemeinten Rat, dich von deinen
+ Kameraden etwas zurückzuziehen, damit deine Ausgaben geringer
+ werden, beschäftige dich fleißig zu Hause und meide jede
+ Gelegenheit, die dich zu Ausgaben verpflichtet, denen du nicht
+ gewachsen bist. Wenn du offen erklärst, daß dir dieses und jenes
+ zu kostspielig ist, so wird dich jedermann umso höher achten, wenn
+ er sieht, daß du mit deinen Verhältnissen rechnest und nicht
+ leichtsinnig in den Tag hinein lebst. Denn vornehm leben heißt in
+ seinen Verhältnissen bleiben.
+
+ Schreibe mir bald, wie du die Angelegenheit geregelt hast und ob
+ ich dir die angebotene Summe schicken soll. In der Hoffnung, daß
+ dir keine Unannehmlichkeiten erwachsen, bin ich dein alter Vater.«
+
+Als Borgert diese Zeilen gelesen, zerknitterte er das Papier und steckte
+es mit den ungeöffneten drei anderen Briefen in den Ofen. Dann ließ er
+sich mit einem Seufzer in einen Sessel nieder und blickte sinnend vor
+sich hin.
+
+Da trat der Bursche ein und meldete Leimann.
+
+Borgert ging dem Freunde entgegen, und als sie eingetreten waren, fragte
+dieser erregt:
+
+»Nun, was haben Sie denn Wichtiges so früh am Morgen?«
+
+Borgert stelle sich breitbeinig vor ihn hin und entgegnete mit
+geheuchelter Heiterkeit:
+
+»Nun ja, mein Lieber, man hat so seine Sorgen. Ich bin nämlich so
+ziemlich am Ende und möchte Sie zu meinem Konkursverwalter ernennen.«
+
+»Am Ende?« entgegnete Leimann erregt, »was wollen Sie damit sagen? Ist
+es in Geldsachen?«
+
+»Sie haben recht geraten. Ich muß jetzt Geld haben, und zwar sofort,
+einen ganzen Sack voll, sonst bin ich erledigt.«
+
+»Steht es denn so schlimm auf einmal? Sind neue Sachen gekommen? Sie
+sagten doch das letzte Mal, Sie seien nun vorläufig versorgt.«
+
+»Gewiß sagte ich das, aber ich habe gestern einen Überschlag gemacht und
+gefunden, daß es keinen Ausweg mehr gibt, als einen großen Pump. Ich
+möchte also mit Ihnen einmal darüber sprechen, denn ich hoffe, daß sich
+noch Mittel und Wege finden lassen werden, um sich über Wasser zu
+halten!«
+
+Leimann schaute sinnend zu Boden und rieb sich das unrasierte Kinn. Dann
+entgegnete er achselzuckend:
+
+»Wieviel ist es denn?«
+
+»Zwölftausend Mark, kein Pfennig weniger, denn ich muß jetzt reine Bahn
+machen, ich habe diese langweiligen Mahnbriefe und Klagen satt!«
+
+»Nun, und wie dachten Sie sich die Sache denn ungefähr?«
+
+»Ich habe noch einige Adressen von solchen Geldmännern. Wenn Sie
+nochmals bereit wären, Bürgschaft zu leisten, so hoffe ich, daß wir zum
+Ziele kommen.«
+
+»Bürgschaft? Bürgschaft? Ja, Sie haben gut reden, mein Lieber, aber
+schließlich muß man doch auch einen Hintergrund haben, wenn man immer
+gutsagen soll. Ich muß Ihnen offen gestehen, wenn Sie die dreitausend
+Mark von vorigem Monat nicht bezahlen können, dann bin ich mit meiner
+Bürgschaft hereingefallen.«
+
+»Nun, das bedarf wohl keiner Auseinandersetzung, es ist absolut
+selbstverständlich, daß ich meinen Verpflichtungen nachkomme.«
+
+»Daran zweifle ich durchaus nicht, aber ich kann Ihnen in der Tat keine
+Bürgschaft mehr leisten, ich wollte vielmehr Sie darum bitten, denn ich
+muß auch Geld haben.«
+
+»Ich bin gern dazu bereit, aber warum nehmen Sie denn auf Ihr
+Kommißvermögen nichts auf? Das ist doch der sicherste Weg.«
+
+»Kommißvermögen? Auch haben, um etwas darauf aufzunehmen!«
+
+»Aber worauf haben Sie denn geheiratet?« fragte Borgert erstaunt.
+
+»Ich habe es _=nur=_ vier Wochen besessen, dann hat es der
+zurückbekommen, der es mir geborgt hat, bis ich den Konsens hatte.«
+
+Borgert schaute seinen Freund betroffen an, dann ging er mit großen
+Schritten im Zimmer auf und ab.
+
+»Nun,« begann er nach einer Weile von Neuem, »es ist gut, Sie leisten
+mir Bürgschaft und ich Ihnen.«
+
+»Gut, das können wir, aber es ist doch eine gewagte Sache, denn wenn es
+einmal zum Klappen kommt und keiner hat einen Pfennig, dann wird es
+übel.«
+
+»Der Fall kann gar nicht eintreten, mein Verehrter, denn wenn mir jetzt
+noch einmal geholfen ist, dann ist für später nichts zu fürchten. Ich
+werde heiraten.«
+
+»Donnerwetter, haben Sie Schneid! Dann seien Sie aber in der Wahl Ihres
+Schwiegervaters vorsichtig, sonst ist es eine faule Sache. Ich kann
+davon ein Liedchen singen.«
+
+»Das versteht sich von selbst, auf leere Versprechungen heirate ich
+nicht. Unter einer halben Million ist mit mir kein Geschäft zu machen.«
+
+»Na, da wünsche ich Ihnen viel Glück. Aber sagen Sie einmal, da fällt
+mir ein, wie wäre es denn mit König? Sollte der nicht ein paar tausend
+Mark herausrücken?«
+
+»Daran dachte ich wohl auch schon, aber ob er es tut, scheint mir sehr
+zweifelhaft. Denn erst müßten wir ihm die alte Schuld bezahlen!«
+
+»Nun, ein Versuch kostet ja nichts. Mehr wie nein sagen kann er nicht,
+ich werde sofort ein paar Zeilen an ihn schreiben.«
+
+Leimann nahm am Schreibtisch Platz und zog einen Briefbogen aus der
+Schublade, Borgert entschuldigte sich indes für einige Augenblicke, da
+er mit dem Burschen etwas zu sprechen habe.
+
+Er wollte die Zeit, während welcher Leimann schrieb, dazu benutzen,
+dessen Gattin guten Morgen zu wünschen, und so huschte er in den weichen
+Pantoffeln leise die Hintertreppe hinauf. Die Tür zum Ankleidezimmer
+fand er angelehnt. Auf den Fußspitzen trat er näher und erblickte Frau
+Leimann, wie sie vorm Spiegel stand. Das üppige Blondhaar hing ihr in
+langen goldigen Strähnen über die Schulter, bis an die Hüften hinab. Und
+als sie die Arme hob, um das Haar zu ordnen, fielen die weiten Ärmel
+des Morgenrocks bis an die Ellenbogen zurück und entblößten einen
+herrlichen weißen Arm. Das Bild war klassisch schön, ein echt
+malerisches Motiv!
+
+Borgert stand einige Minuten still und betrachtete mit Verlangen die
+schöne Frau, die nicht zu ahnen schien, daß ein Fremder sie belausche.
+Plötzlich riß er die Tür auf, eilte auf Frau Leimann zu, küßte sie auf
+den Nacken, und huschte eben so schnell wieder zur Tür hinaus und die
+Treppe hinab. Geräuschvoll schritt er durch den Korridor, sprach mit dem
+Burschen einige Worte und trat dann mit unbefangener Miene in sein
+Arbeitszimmer.
+
+Da Leimann noch schrieb, setzte er sich in einen Sessel, zündete eine
+Cigarrette an und blies den Rauch in einen durch das Fenster spielenden
+Sonnenstrahl hinein, in dem die blauen Wölkchen leuchteten und sich zu
+einem phantastisch verschlungenen Bande formten.
+
+Jetzt war der Brief beendet, Leimann schob ihn in ein Kouvert, schrieb
+die Adresse darauf, und der Bursche mußte ihn sogleich an seinen
+Bestimmungsort besorgen.
+
+»Das wird ziehen, denke ich!«, sagte Leimann befriedigt, als er vom
+Schreibtisch aufstand.
+
+»Was haben Sie denn geschrieben?« fragte Borgert forschend.
+
+»Nun, ganz einfach, ich brauchte Geld für einen Kameraden und
+appellierte daher an seine schon so oft bewiesene freundschaftliche
+Gesinnung. Als Zeitpunkt für die Rückzahlung habe ich ihm drei Monate
+bezeichnet, und mein Wort für pünktliche Erledigung gegeben, denn Sie
+sagten ja, das Geld bis dahin schaffen zu können.«
+
+»Aber gewiß kann ich das, wenn der Kerl nur jetzt etwas hergibt, das
+weitere findet sich dann schon.«
+
+So plauderten sie eine halbe Stunde, als Röse mit der Antwort des
+Rittmeisters König zurückkam.
+
+Leimann ergriff erst hastig den Brief, dann aber zögerte er, ihn zu
+öffnen. Unentschlossen schaute er auf die Adresse und sah fragend zu
+Borgert hinüber, der noch behaglich in seinem Sessel saß.
+
+Oft harren wir sehnlich einer Nachricht, die uns freudige oder
+unangenehme Botschaft bringen kann. Wir können den Augenblick nicht
+erwarten, bis wir die Entscheidung in den Händen haben, dann aber wagen
+wir nicht, die Botschaft zu erfahren, denn sie könnte uns Enttäuschung
+bringen. Die Ungewißheit aber ist schöner, weil sie neben der Furcht vor
+Enttäuschung auch die Hoffnung auf Freudiges in sich schließt.
+
+Schließlich riß Leimann das Kouvert auf und faltete den Brief
+auseinander.
+
+Betroffen schaute er in die Schriftzüge. Borgert sah an dem Gesicht des
+Lesenden, der mit hochgezogenen Brauen und nervös zitternden Händen vor
+ihm stand, daß die Antwort König's nichts Erfreuliches brachte. Aber er
+war ruhiger, weniger betroffen, als Leimann, obgleich ihn selbst die
+Angelegenheit doch am ersten betraf. Es war ihm schon lange nichts Neues
+mehr, diese absagenden Antworten auf Darlehnsgesuche und ähnliche
+Schreiben, der Mensch gewöhnt sich eben an alles.
+
+Sein Gesicht aber nahm einen zornigen Ausdruck an, als er jetzt selbst
+die Antwort las, nachdem sie ihm Leimann stillschweigend gereicht. Der
+Brief lautete:
+
+»Zu meinem Bedauern bin ich nicht in der Lage, ihrem Wunsche
+nachzukommen. Einesteils kann und darf ich es nicht tun mit Rücksicht
+auf meine Familie, denn Summen von derartiger Höhe könnte ich nur aus
+der Hand geben, wenn mir eine unbedingte Sicherheit geboten wird. In
+Ihrer ehrenwörtlichen Versicherung für pünktliche Rückzahlung bedaure
+ich eine solche nicht erblicken zu können, da Sie sowohl, wie
+Oberleutnant Borgert die Ihnen vor Monaten geliehenen Beträge noch nicht
+zurückzuzahlen im Stande waren, obgleich Sie mir auch damals Ihr Wort
+auf Erledigung Ihrer Schuld binnen zehn Tagen gegeben haben. Außerdem
+scheint mir das, was ich in letzter Zeit über den Stand Ihrer
+wirtschaftlichen Lage gehört habe, durchaus nicht darnach angetan, eine
+Innehaltung Ihres Versprechens von heute zu gewährleisten.«
+
+Borgert stand auf und schleuderte das Schreiben wütend zu Boden. Darauf
+trat er an's Fenster und schaute auf die Straße hinaus.
+
+Keiner von beiden sprach ein Wort. Erst als sich ihre Blicke begegneten,
+fragte Leimann:
+
+»Nun, was sagen Sie dazu?«
+
+»Eine Unverschämtheit ist es, eine Gemeinheit!« brauste Borgert los,
+»was fällt dem Menschen ein, sich in unsere Privatangelegenheiten zu
+mischen? Es wäre unkameradschaftlich genug gewesen, uns eine Absage zu
+schicken, aber in diesem beleidigenden Ton! Das kann man sich nicht
+gefallen lassen!«
+
+»Was wollen Sie machen?« entgegnete Leimann achselzuckend. »Wenn Sie
+gegen ihn auftreten, faßt er uns damit, daß wir ihm damals unser Wort
+gegeben haben, und das läßt sich nicht bestreiten, denn von mir hat er
+es sogar schwarz auf weiß. Es ist also schon das Beste, wir stecken
+diese Grobheit ruhig ein und schneiden den Kerl, dann wird er es schon
+merken!«
+
+»Er hat anscheinend ganz vergessen, daß es uns ein Leichtes wäre, ihm
+den Hals zu brechen. Hat er nicht selbst gesagt, er wolle uns damals den
+Betrag aus der Schwadronskasse leihen? Ich meine, es könnte ihm nicht
+angenehm sein, wenn man von dieser Tatsache Gebrauch machte.«
+
+»Das stimmt ja, aber Sie können ihm doch anstandshalber deshalb keine
+Geschichten machen, denn der Eingriff in die Kasse geschah in unserem
+Interesse.«
+
+»Das ist mir gleich. Wenn er sich jetzt erlaubt, uns derartige
+Frechheiten ins Gesicht zu schleudern, dann will ich ihm zeigen, daß ich
+ihm mit gleicher Münze dienen kann!«
+
+»Sie können aber doch unmöglich eine Meldung schreiben, König hätte
+Ihnen Geld geliehen, nachdem er in eine Kasse gegriffen habe. Das würde
+doch ein sonderbares Licht auf Sie werfen.«
+
+»So ungeschickt werde ich es auch nicht anfangen. Das kann man hinten
+herum in die Wege leiten, und ich werde es einrichten, daß kein Mensch
+in mir den Urheber wittert. Aber eintränken will ich's dem Kerl schon.«
+
+Beide schwiegen wieder, und wenige Minuten später empfahl sich Leimann,
+da er vor Tisch noch einen Gang zur Stadt zu tun habe.
+
+Borgert blieb auch nicht mehr lange in seiner Wohnung. Er ging in's
+Kasino und ertränkte seine schlechte Laune in einer Flasche Heidsieck.
+
+ * * * * *
+
+Als Borgert wenige Tage später des Morgens erwachte, merkte er zu seinem
+Schrecken, daß er wieder den Dienst verschlafen hatte. Er klingelte
+heftig nach dem Burschen, aber Röse erschien auch auf ein zweites
+Glockenzeichen nicht.
+
+Borgert kleidete sich an und ging nach Röse's Stube. Er fand sie leer.
+Das Bett stand unberührt, darauf lag Uniform und Mütze des Burschen.
+
+Erstaunt schaute er sich in dem kleinen Raume um, den eine stickige,
+dumpfe Luft, ein Geruch nach schmutziger Wäsche und abgetragenen
+Kleidern erfüllte. Wo sollte Röse so früh schon hingegangen sein, ohne
+ein Wort zu sagen? Hatte er Dienst? Aber nein, da lag ja seine Montur.
+
+Borgert stand schon auf der Schwelle, um das Zimmer wieder zu verlassen,
+als er auf dem schmutzigen Tisch einen Zettel gewahrte. Er nahm ihn auf
+und sein Gesicht erblaßte, während er ihn las, denn er enthielt in
+ungelenker Schrift nur die Worte: »Ich empfehle mich bestens!«
+
+Wie versteinert schaute Borgert auf das Blatt. Der Kerl war also
+desertiert!
+
+Über den Grund konnte Borgert keinen Moment im Unklaren bleiben, und ein
+plötzliches Unbehagen erfaßte ihn bei dem Gedanken, man könne Röse
+aufgreifen. Dann würde alles zu Tage kommen, die schlechte Behandlung,
+die Mißhandlungen und so vieles, was Röse mit angesehen oder über
+seinen Oberleutnant erfahren hatte.
+
+Wie geistesabwesend schritt er nach seinem Zimmer hinüber und setzte
+sich auf die Bettkante.
+
+Er glaubte zu träumen, wild jagten ihm allerlei Gedanken durch den Kopf,
+und ein nervöses Zucken spielte um die blassen Lippen.
+
+Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Ärger, Ungemach,
+Enttäuschung von allen Seiten, kein Lichtblick in die Zukunft, die sich
+jetzt mit einem Schlage drohend und schwarz vor seiner Seele malte!
+
+Zum ersten Male durchzuckte ihn mit schrecklicher Gewißheit der Gedanke,
+daß er vor einer Katastrophe stand, welcher nichts mehr Einhalt gebieten
+konnte, wenn nicht ein Wunder geschah. Aber wo sollte das jetzt noch
+herkommen? Aller Glaube, alle Hoffnung zerflossen zu nichts in den
+wenigen Augenblicken, da ihm die ganze erdrückende Last seiner Schuld
+und Sünden, die ganze Wirrnis eines verfehlten Daseins zum Bewußtsein
+kam. Ein Schrecken, eine Schauer vor sich selbst und das Gefühl der
+Hilflosigkeit ergriff den Mann, den sonst nichts zu bewegen vermochte,
+der mit einer kalten, kein Mittel scheuenden Berechnung alle
+Schwierigkeiten und mißlichen Lebenslagen niederzukämpfen gewohnt war.
+Keiner tieferen Regung und edlen Gefühle fähig, war er bis jetzt den
+Lebensweg gewandelt, den Egoismus, rücksichtslose, gefühlsrohe Gesinnung
+und oberflächliche Lebensanschauung ihm gewiesen hatten.
+
+Lange saß er so da, bleich, unbeweglich, den stieren Blick in's Leere
+gerichtet, nur das nervöse Spiel seiner Züge verriet, daß in der
+scheinbar leblosen Gestalt noch Leben saß: der seelische Kampf und
+innere Zwiespalt eines Menschen, der zu spät erkennt, wie er sein Leben
+gewaltsam zerstört und zertreten, dessen Hoffnung auf eine unverdiente
+Gnade des Geschickes noch im Ersterben nach einem rettenden Gedanken
+sucht, an den sich die geängstigte Seele klammern kann, wie ein
+Ertrinkender noch bis zum letzten Atemzuge mit den Wogen ringt, auch
+wenn er weit und breit kein helfendes Wesen erblickt.
+
+Borgert war jetzt mit sich im Reinen, er hatte abgerechnet mit sich
+selbst und einem verfehlten, durch eigene Schuld vernichteten Leben. Er
+war entschlossen, die Folgen zu tragen, nun es kein Entrinnen mehr gab.
+
+Mechanisch kleidete er sich an und ging zur Kaserne, um dem Rittmeister
+zu melden, daß er den Dienst versäumt habe.
+
+Von Röse's Flucht wollte er vorläufig schweigen, denn wenn man jetzt
+sofort dem Deserteur nachspürte, war es so gut wie sicher, daß man in
+wenigen Tagen seiner habhaft wurde. Gab man ihm aber noch 48 Stunden
+Zeit, dann hatte er genügend Vorsprung, um sich in ein sicheres Versteck
+zu begeben, und dann blieb es Borgert erspart, von einem Kriegsgericht
+wegen Mißhandlung eines Untergebenen verurteilt zu werden.
+
+Als er gegen Mittag seine Wohnung wieder betrat, fand er einen Brief
+vor. Es war die Antwort des Geldverleihers aus Berlin, welcher Borgert
+in kurzen Worten mitteilte, er könne ein Darlehn nicht gewähren, da die
+Erkundigungen sowohl über Borgert wie über den Bürgen Leimann eine
+außerordentlich ungünstige Wirtschaftslage bekundet hätten.
+
+Borgert nahm die Nachricht fast gleichgültig auf, denn er hatte seit
+heute Morgen jede Hoffnung auf einen günstigen Zufall verloren und daher
+nichts anderes erwartet.
+
+In's Blaue hinein, auf ein ehrlich Gesicht und schöne Worte gab kein
+Mensch einen Pfennig her, es hatte also gar keinen Zweck, sich noch
+weiter zu bemühen. Wenn es trotzdem vorher Leute gegeben hatte, die ihm
+Geld zur Verfügung stellten, so war es eben auf Leimann's Bürgschaft hin
+erfolgt, der seine Vermögenslage in so geschickter Weise in ein
+günstiges Licht zu stellen verstand, daß man ihm einfach Glauben
+schenkte, ohne lange Erkundigungen über ihn einzuziehen.
+
+Matt und mit wirrem Kopfe legte sich Borgert auf den Divan nieder.
+
+In's Kasino mochte er nicht gehen, denn er verspürte keinen Appetit und
+fühlte sich auch nicht in Stimmung, mit den Kameraden in gewohnter Weise
+zu scherzen und zu plaudern. Er mochte niemand sehen und hören, nur
+allein sein wollte er, ganz allein.
+
+Sein Blick schweifte in dem eleganten Raum umher. Und als er so die
+schönen Bilder an den Wänden, die kostbaren eichenen Möbel und
+wertvollen Teppiche betrachtete, da schmerzte es ihn doch, daß all diese
+Pracht und Herrlichkeit nun ein Raub der Manichäer werden sollte. Sie
+würden sich zanken und streiten um den Besitz, ein jeder würde der erste
+sein wollen, wenn es galt, zu seinem Rechte zu gelangen.
+
+Aber es half nichts. In wenigen Tagen mußte der Zusammenbruch erfolgen,
+eine Rettung war ausgeschlossen.
+
+Doch was sollte dann aus ihm selbst werden? Daran hatte er noch gar
+nicht so recht gedacht. Sollte er sich jeden Stuhl unter dem Rücken
+hervorziehen und auf die Straße setzen lassen? Schließlich sperrte man
+ihn vielleicht noch ein? Die Zeit drängte, ein Entschluß mußte schnell,
+sofort gefaßt werden.
+
+Eigentlich wußte er nicht recht, was er überhaupt in diesem elenden
+Sorgenleben noch zu suchen habe. Denn jetzt mit Schimpf und Schande
+abgehen, einen neuen Beruf erlernen und arbeiten müssen, das war gar
+nicht sein Geschmack. Verwöhnt und anspruchsvoll sich in eine einfache
+Lebensweise, eine bescheidene, vielleicht sogar untergeordnete Stellung
+hineinzuzwängen, das war ein fast unmögliches Ding. Dazu gehörte
+Energie, Selbstverleugnung und Arbeitslust, von alledem aber fühlte er
+nichts in sich. Sollte er sich einfach eine Kugel durch den Kopf
+schießen?
+
+Aber nein, das war abgeschmackt, erforderte auch Mut, und den hatte er
+nur besessen, wenn er nichts riskiren konnte.
+
+Und schließlich, wer sollte wissen, ob er nicht doch noch einmal das
+Glück zu fassen bekäme? Dann wäre Selbstmord eine übereilte Torheit
+gewesen. Das Leben konnte so schön sein, und nun kurzer Hand ein Ende
+damit machen? Nein, auf keinen Fall.
+
+Lange grübelte er hin und her, es wollte ihm kein rechter Gedanke
+kommen.
+
+Er dachte an seinen Burschen. Hatte der es nicht ganz schlau angefangen,
+um sich den Verhältnissen zu entziehen, die ihm nicht paßten? Der saß
+jetzt vielleicht ruhig und ungestört in einem stillen Winkel, wo es
+niemand einfiel, nach ihm zu fragen, wo er leben konnte, wo er lustig
+war.
+
+Wenn er es nun auch so machte?
+
+Je mehr in Borgert der Gedanke an eine heimliche Flucht Gestalt gewann,
+um so vortrefflicher schien ihm dieser Ausweg.
+
+Unter neuen Menschen, in einem anderen Lande konnte er ein neues Leben
+beginnen, und wie lange würde es dauern, bis man ihn vergessen hatte! In
+einem Jahre nannte man seinen Namen vielleicht nur noch als den eines
+Mannes, der auch einmal existiert habe, im Übrigen würde sich niemand
+mehr um ihn kümmern.
+
+Er war so sehr in seine Gedanken versunken, daß er es nicht mehr
+bemerkte, als die Tür aufging und Frau Leimann eintrat.
+
+Sie sah blaß und ernst aus, das sonst so jugendlich schöne Gesicht
+schien gealtert, und die Augen zeigten einen bangen Ausdruck.
+
+Borgert erhob sich nicht, sondern nickte nur, ohne ein Wort zu sagen,
+kaum merklich mit dem Kopfe. Dabei streifte sein Blick die Gestalt der
+Frau.
+
+Sie schien ihm heute nicht begehrenswert, ganz anders sah sie aus wie
+sonst. Ihre Bewegungen schienen ihm schlaff und formlos, die Reize fand
+er nicht, an denen er sich so oft gesättigt. Das Haar war wirr und
+flüchtig geordnet, hinter den weichen Falten des lässig übergestreiften
+Morgenrockes verrieten sich nicht die vollen Formen, die Rundung der
+Glieder, die gesunde Fülle eines jugendlichen Weibes. Alt und verlebt
+kam ihm die ganze Erscheinung vor.
+
+War es früher nur ein rein sinnliches Empfinden gewesen, das ihm die
+Frau so schön, so begehrenswert erscheinen ließ? Und war es heute die
+geistige und nervöse Abspannung, die jene Regung tötete, sodaß er die
+Reize des Weibes nicht zu erkennen vermochte?
+
+Er wußte es nicht, zwei Eindrücke standen einander gegenüber: Die Frau,
+wie sie jetzt vor ihm stand, und das herrliche Weib, das er vor wenigen
+Tagen mit gelöstem Haar, mit nackten Armen und Schultern geschaut und
+geküßt.
+
+Sie hatte sich neben ihn auf den Divan gesetzt und seine Hand ergriffen.
+Ihre Augen schauten bang in das Gesicht des Mannes, der so teilnahmslos,
+so gleichgiltig vor ihr lag.
+
+»Du bist krank, Georg?« fragte Frau Leimann besorgt.
+
+Er schüttelte nur den Kopf, ohne zu antworten.
+
+»Aber so sage mir doch, was ist dir? Was fehlt dir?«
+
+»Nichts und alles,« gab Borgert gleichgiltig zur Antwort.
+
+»Was soll das heißen, Georg? So sprich doch vernünftig!«
+
+»Was soll ich viel reden, meine Liebe? Ich bin fertig. Sonst fehlt mir
+nichts!«
+
+»Fertig! Womit? Wie soll ich das verstehen?«
+
+»Mit allem, mit dem Leben und mit mir!«
+
+»Du sprichst in Rätseln, Georg! So sage mir doch offen und klar, was ist
+geschehen!«
+
+»Das Geld ist alle. Ich muß fort, sonst gibt es ein Unglück.«
+
+Borgert fühlte, wie ein Zucken durch ihren Körper ging. Sie erwiderte
+nichts, sie wendete nur langsam ihr Gesicht ab und schaute nach dem
+Fenster hin.
+
+Im Stillen war Borgert ihr dankbar, daß sie die Mitteilung so gefaßt
+entgegennahm und nicht nach Weiberart aufschrie oder schluchzend zu
+Boden sank.
+
+Und als er das blasse Profil betrachtete, wie es sich gegen die hellen
+Fensterscheiben abhob, und eine Träne in ihren Augen flimmern sah,
+erfaßte ihn eine Rührung, ein Mitleid mit der Frau, und er zog sie in
+seine Arme.
+
+Und als sie so dalagen in wortloser Umarmung, kam es leise über ihre
+Lippen:
+
+»So nimm mich mit, Georg!«
+
+Betroffen fuhr Borgert auf:
+
+»Um Gottes Willen, wie kommst du auf solche Gedanken? Wie darf ich das?«
+
+»Ich bitte dich, Georg, laß mich mitgehen, ich halte es hier nicht
+länger aus.«
+
+»Aber das ist undenkbar, Liebste! Ist es nicht Skandal genug, wenn ich
+allein verschwinde? Und dann dich noch mitnehmen? Unmöglich!«
+
+»Dann gehe ich allein, ich will fort, ich muß!«
+
+»Aber warum denn auf einmal, was ist denn passiert?«
+
+Frau Leimann brach in ein heftiges Schluchzen aus.
+
+»Geschlagen hat mich mein Mann, weil der Gerichtsvollzieher wieder bei
+mir war. Ich ertrage diese Behandlung nicht länger und dann..... dann
+....... ich habe auch kein Geld für meine Schulden, es gibt ein
+Unglück.«
+
+Borgert hatte Mühe, die erregte Frau wieder zu beruhigen.
+
+Er überlegte. Eigentlich war der Gedanke gar nicht so unrecht. Wenn sie
+doch einmal fort wollte, dann konnte sie auch gleich mit ihm gehen, dann
+hatte er wenigstens einen Menschen bei sich, mit dem er reden konnte und
+noch manches mehr, einen, der sich in der gleichen Lage befand wie er
+selbst. Und als Frau Leimann ihn mit flehenden Augen ansah, schloß er
+sie wieder in die Arme und flüsterte leise:
+
+»So komm mit! Morgen abend reisen wir!«
+
+Lange hielten sie sich in inniger Umarmung umschlungen, dann aber
+entwand sich Borgert den Liebkosungen der Frau und drückte sie in einen
+Sessel nieder.
+
+Er selbst nahm ihr gegenüber Platz und sagte:
+
+»Nun müssen wir aber einmal ganz vernünftig über alles reden.
+
+Erstens: Wie willst du fortkommen, ohne daß dein Mann etwas davon
+merkt?«
+
+»Max fährt morgen früh nach Berlin, er hat dort dienstlich zu tun. Hat
+er dir's noch nicht erzählt?«
+
+»Nein, aber das trifft sich ja ausgezeichnet. Nun weiter: Hast du
+Reisegeld?«
+
+»Ja, meine Mutter hat heute dreihundert Mark geschickt, und ich habe
+nichts damit bezahlt, weil ich fest entschlossen war, abzureisen.«
+
+»Dann bist du besser daran als ich, ich habe nämlich blos noch eine
+Mark, aber ich werde Rat schassen.
+
+Drittens: Wie willst du unauffällig dein Gepäck zur Bahn schaffen
+lassen? Denn du kannst doch nicht mit einem Kleide ausrücken!«
+
+»Ganz einfach, Georg! Bitte noch heute meinen Mann um den großen Koffer
+und sage, du müßtest nach Hause reisen. Dann packe ich alles hinein und
+der Bursche bringt ihn zu dir herunter. Er ist groß genug für uns
+beide!«
+
+»Ich sage es ja immer«, entgegnete Borgert lachend, »es ist ein altes
+Sprichwort:
+
+ »In größter Not ein Frauenmund
+ Tut dir die schlausten Schliche kund!«
+
+Das Rezept ist übrigens großartig und acceptiert.«
+
+»Und mit welchem Zuge fahren wir?«
+
+»Du fährst nachmittags, damit wir nicht zusammen abreisen, das würde
+natürlich auffallen. Ich komme mit dem Abendzuge nach. Wir treffen uns
+am besten in Frankfurt im Wartesaal, dort können wir dann alles weitere
+in Ruhe besprechen. Ich nehme natürlich drei Tage Urlaub, damit man mir
+nicht gleich jemand nachschickt.«
+
+»Dann wären wir ja soweit einig. Ich komme morgen Vormittag herunter,
+sobald mein Mann fort ist, dann können wir ja noch einmal über alles
+sprechen. Jetzt muß ich hinauf.«
+
+Noch ein inniger Kuß, und Frau Leimann wandte sich der Tür zu. Als sie
+Borgert von der Schwelle aus noch einmal zunickte, da gefiel sie ihm
+wieder. Das erhitzte Köpfchen mit den zerzausten Haaren und den
+leuchtenden Augen, es war doch wirklich reizend! Eine Art Wonne überkam
+ihn plötzlich bei dem Gedanken, daß er das entzückende Weib nun ganz
+besitzen, für immer um sich haben sollte, es würde ihm helfen, leichter
+über alles hinwegzukommen, was noch Unangenehmes bevorstand.
+
+Borgert hatte mit einem Schlage seine gute Laune zurückgewonnen, es war
+ihm fast wohl zu Mute. Denn jetzt bekam die ganze Flucht einen anderen
+Anstrich. Man würde sagen, sie seien aus Liebe mit einander geflohen.
+Skandal und Gerede gab das auch noch zur Genüge, aber die ganze
+Geschichte schien ihm gewissermaßen vornehmer, interessanter und
+entschuldbarer, als wenn es hieß, er sei auf und davon gegangen, weil er
+sich vor Schulden und den Folgen unsauberer Machinationen nicht habe
+retten können.
+
+Einen Augenblick allerdings mischte sich in diese Freude ein Mahnruf des
+Gewissens, das ihm verbot, ein neues Verbrechen zu begehen. Aber dieser
+Mahnruf klang so schwach und kraftlos, daß Borgert ihn kaum empfand. Die
+Hauptsache war ja doch, ihm bot sich eine Annehmlichkeit, ein Vorteil,
+den er sich nicht entgehen lassen wollte, lediglich mit Rücksicht auf
+andere. Die kamen doch erst in zweiter Linie!
+
+Denn je stärker der Egoismus im Menschen vorherrscht, umso leichter
+überwinden wir alle Regungen, alle sentimentalen Grübeleien, welche uns
+vor einer Sünde warnen, wenn wir aus ihr einen Vorteil zu gewinnen
+glauben, und nur dann weichen wir vom rechten Wege ab. Deshalb sind die
+größten Verbrecher auch die größten Egoisten.
+
+So wanderte denn Borgert wohlgemut der Stadt zu und betrat die Post, wo
+er ein Telegramm an einen Althändler in der Nachbarstadt sandte und
+diesen um einen Besuch am nächsten Morgen bat.
+
+Darauf begab er sich nach seinem Hause zurück und ging zu Leimann's
+hinauf.
+
+Er fand den Freund beim Kofferpacken.
+
+»Nun, morgen soll die Reise los gehen, wie ich höre, ich erfuhr es erst
+heute Mittag!« sagte Borgert, ihm die Hand reichend.
+
+»Ja, sehr entzückt bin ich gerade nicht, denn man ist in keiner Weise
+für eine solche Reise vorbereitet. Aber das ist ja immer so, erst im
+letzten Augenblick bekommt man seine Befehle, sodaß man gerade noch den
+Zug erreicht.«
+
+»Trotzdem beneide ich Sie um die schöne Reise! Mir steht eine weniger
+angenehme bevor.«
+
+»Wie, Sie wollen auch fort?«
+
+»Ich will eigentlich nicht, aber ich muß!«
+
+»Und wohin?«
+
+»Nach Hause, morgen Nachmittag fahre ich.«
+
+»Ah, ich verstehe, viel Glück und gute Verrichtung!«
+
+»Danke schön! A propos, können Sie mir einen Koffer borgen? Ich möchte
+gerne Verschiedenes mit nach Hause nehmen, und dazu ist der meinige zu
+klein.«
+
+»Aber gewiß, mein Bursche kann Ihnen den großen Korb hinunterbringen,
+wird der genügen?«
+
+»Natürlich, vollständig, besten Dank!«
+
+Borgert merkte, daß sein Besuch nicht ganz gelegen kam. Leimann hatte
+schlechte Laune und ließ sich auch gar nicht in seiner Beschäftigung
+stören. Er war so mit seinen Gedanken dabei, daß er Borgert's Fragen
+kaum hörte, und so hielt es dieser für angebracht, sich zu empfehlen,
+mit dem Versprechen, zum Abendessen wieder heraufzukommen.
+
+»Wann könnte ich wohl den Koffer haben?« fragte er im Weggehen.
+
+»Sowie mein Bursche aus der Stadt zurück ist, besorgt er ihn hinunter.
+Also auf Wiedersehen!«
+
+In seinem Zimmer ließ sich Borgert in einen Sessel nieder. Ihm war so
+wohl und frei, er hätte jauchzen mögen, denn einen Tag später war er den
+ganzen Krempel los und brauchte sich nicht mehr zu ärgern. Dabei diese
+nette Begleitung! Er wunderte sich, daß er auf diese Idee nicht früher
+gekommen war.
+
+Da fiel ihm ein, daß er ja noch gar nicht an's Packen gedacht habe, er
+wollte wenigstens alles zurechtlegen, damit nichts vergessen würde.
+
+Er ließ seinen Blick durch den eleganten Raum streifen und überlegte,
+was wohl des Mitnehmens wert sei. Dann nahm er von dem Sofapaneel einen
+silbernen Becher, das Abschiedsgeschenk seines früheren Regiments, und
+stellte ihn im Nebenzimmer auf einen Tisch.
+
+Ein Album, einige Photographien, ein Packet Briefe, 2 Reitpeitschen und
+2 kleine Ölgemälde -- Arbeiten seiner verstorbenen Schwester -- das war
+alles, was er mitzunehmen gedachte. Alles übrige konnte stehen bleiben
+als Trost für die Gläubiger.
+
+Als er gegen sieben Uhr bei Leimann's eintrat, fand er sie bereits bei
+Tisch.
+
+Leimann machte ein finsteres Gesicht und schaute kaum von seinem Teller
+auf, als Borgert eintrat.
+
+Seine Gattin saß mit rotem Kopf ihm gegenüber, aber sie berührte die
+Speisen nicht, sondern schaute nur angstvoll mitunter nach ihrem Gatten
+hinüber.
+
+Den ganzen Abend kam keine Stimmung in das Beisammensein, und nicht
+einmal eine Flasche Eckel vermochte die sonst gewohnte Heiterkeit wieder
+wach zu rufen. Leimann hatte eben schlechte Laune, und dann war nichts
+mit ihm anzufangen.
+
+Daher trennte man sich auch schon zu früher Stunde, und der Abschied der
+Freunde war kühler als sonst.
+
+Frau Leimann aber hatte noch auf dem Korridor Gelegenheit, ihrem
+Geliebten einen flüchtigen Kuß auf die Wangen zu drücken, als ihr Gatte
+hineingegangen war, um ein Streichholz zu holen.
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen war Borgert gerade erst ausgestanden, als schon der
+Althändler ankam.
+
+Der Oberleutnant begrüßte ihn freundlich und bat ihn, einzutreten, dann
+vollendete er seinen Anzug und begann mit dem Juden zu verhandeln.
+
+»Bitte, wollen Sie sich einmal mein Mobiliar ansehen,« sagte er, »ich
+gedenke die ganze Einrichtung, wie sie da steht, zu verkaufen, da ich
+versetzt bin, doch wollen Sie diesen Umstand vorläufig noch diskret
+behandeln. Wie viel würden Sie mir eventuell zahlen?«
+
+Der Jude sah sich nachdenklich in dem Zimmer um. Er befühlte und
+beklopfte die einzelnen Stücke, prüfte Decken und Teppiche und musterte
+eingehend das kostbare Schnitzwerk des Bücherschrankes. Dann zog er ein
+Notizbuch aus der Tasche, schielte nach den einzelnen Stücken hin und
+notierte sich den Preis. Schließlich wandte er sich Borgert zu und sagte
+mit fragender Miene:
+
+»Fünfzehnhundert Mark, Herr Oberleutnant, sofort auf den Tisch!«
+
+»Was, fünfzehnhundert Mark?«, stieß Borgert enttäuscht hervor, »aber ich
+bitte Sie, ich habe fast zehntausend Mark für die Einrichtung bezahlt.«
+
+»Tut mer leid, Herr Oberleutnant«, gab der Jude achselzuckend zu
+Antwort, »alte Sachen sind keine neie Sachen, mehr zahlt kein Mensch.«
+
+»Das ist zu wenig, das ist ja fast geschenkt.«
+
+»Nun, ich will Ihnen geben zweitausend Mark, aber keinen Pfennig
+darüber.«
+
+Borgert setzte sich in den Schreibstuhl. Er überlegte, und während
+dessen schaute der Jude erwartungsvoll auf sein Gesicht.
+
+»Gut, her mit dem Gelde, Sie haben den Krempel!« sagte Borgert nach
+einigem Besinnen.
+
+Denn schien ihm der Betrag von zweitausend Mark auch ein Lumpengeld für
+diese kostbaren Möbel, so war es doch besser, er entschloß sich schnell
+für einen geringeren Preis, ehe der ganze Fluchtplan infolge Mangels an
+Geld ins Wasser fiel.
+
+Schmunzelnd zog der Jude ein Papier aus der Tasche, schritt zum
+Schreibtisch und schrieb einige Worte auf das Blatt, welches er Borgert
+nun zur Unterschrift vorlegte.
+
+Als der Jude wieder hinaus war und Borgert die beiden Tausendmarkscheine
+in der Hand hielt, schien ihm nun das letzte Hindernis zur Flucht
+beseitigt, denn bares Geld war die Hauptsache. Er faltete die Scheine
+zusammen und steckte sie in seine Börse, trat dann in's Schlafzimmer an
+den Kleiderschrank und entnahm demselben den Reiseanzug. Das übrige
+Civil packte er zu Frau Leimann's Kleidern in den Koffer, darauf die
+paar Sachen, die er sonst noch mitnehmen wollte, und ließ den Koffer
+sogleich zur Bahn besorgen.
+
+Der Oberst zeigte wenig Lust, den Oberleutnant zu beurlauben, und erst
+auf nochmalige Vorstellung über die Dringlichkeit der Reise ließ er sich
+erweichen, einen dreitägigen Urlaub zu bewilligen. Er hoffte
+schließlich, Borgert würde mit seinem Vater übereinkommen und diese
+leidigen Geldgeschichten aus der Welt schaffen. Das konnte ihm ja nur
+angenehm sein, und so ließ er ihn reisen.
+
+Leimann war inzwischen schon über alle Berge. Die beiden Freunde hatten
+nicht einmal ein letztes Lebewohl einander zugerufen. Seine Gattin aber
+war noch sehr beschäftigt. Es gab so vielerlei zu tun, hier ein Packet
+Briefe zu verbrennen, die weder der Gatte noch Georg lesen durften, dort
+noch einige Kleinigkeiten einzupacken, meist wertlose, unscheinbare
+Sächelchen, deren Wert die Erinnerung bedeutete.
+
+Das Herz einer Frau hängt an solchen Dingen, die ihr schöne Augenblicke,
+liebe Bilder in der Erinnerung erwecken, und eher gibt sie dir den
+schönsten, im Laden gekauften Ring, als die trockene Blume oder das
+kleine Angebinde aus der Hand eines Mannes, welcher in ihrem Leben eine
+Rolle gespielt.
+
+Den heimlichen Abschied von Bubi, dem kleinen zweijährigen Söhnchen,
+hatte sie sich tags zuvor schwerer vorgestellt, und sie empfand jetzt
+sogar eine Art Gewissensbisse, daß sie so leichten Herzens, ohne Träne,
+das einzige Kind im Stiche lassen konnte, das jetzt, mutterlos, einer
+ungewissen, vielleicht traurigen Zukunft entgegen ging.
+
+Aber es war sonderbar! Vom ersten Augenblick an empfand sie eine gewisse
+Abscheu vor dem Kinde mit der breiten Nase, dem großen Mund und den
+winzigen, stechenden Augen. Schon nach wenigen Wochen zeigte sich eine
+ausgesprochene Ähnlichkeit mit dem Vater, und je mehr die Entfremdung
+der Gatten wuchs, umsomehr schwand der kleine Rest von Mutterliebe. Sie
+betrachtete das ewig schreiende, häßliche kleine Wesen lediglich als
+sein Kind, und sich selbst nur als das natürliche Mittel, um es zur Welt
+gebracht zu haben, und so war es gekommen, daß das arme Baby fast nur in
+der Küche oder der Mädchenstube sein Dasein fristete, gehütet und
+erzogen von den Dienstboten. Die Mutter bekam ihr Kind oft kaum eine
+Stunde am Tage zu sehen.
+
+Es gibt ja Frauen, die, eitel und sich ihrer eigenen Schönheit wohl
+bewußt, es für eine Schmähung der Natur, für eine Strafe des Himmels
+halten, wenn sie häßliche Kinder zur Welt bringen, vor denen sie dann
+ihr ganzes Leben eine innere Abneigung empfinden und ihnen aus dem Wege
+gehen, wie dem Gedächtnis einer Kränkung, die ihrem Frauenstolze
+widerfuhr.
+
+Ihr Gatte hatte es ja nicht anders um sie verdient, als daß sie ihn
+verließ, und deshalb empfand sie kaum das Bewußtsein einer Schuld, als
+sie um drei Uhr ein Abteil erster Klasse des Schnellzuges nach Frankfurt
+bestieg.
+
+Denn welcher Mensch strebt nicht, seine Sünden und Vergehen vor sich
+selbst zu rechtfertigen, zu entschuldigen? Oberflächliche,
+selbstsüchtige Menschen bringen es in diesem Streben so weit, daß sie in
+dem größten Verbrechen häufig nur eine kleine Inkorrektheit erblicken,
+welche die Mitmenschen falsch, zu hart beurteilen, weil sie die
+Beweggründe nicht verstehen können. --
+
+Zu diesen Menschen zählte auch Borgert. Dem Egoisten heiligt der Zweck
+die Mittel, und so schied er wohlgemut, voll innerer Genugtuung von der
+Garnison, den »Freunden« und seinen Pflichten, mit einem verächtlichen
+Lächeln auf den Lippen über die, welche in der Beschränktheit ihres
+Geistes festhalten an Sitte und Hergebrachtem, und nicht den Mut haben,
+die Rücksicht auf andere über Bord zu werfen, wenn sie ihrem eigenen
+Vorteil auf der Spur sind.
+
+Als die beiden am späten Abend in dem Speisesaal eines eleganten Hotels
+zusammen saßen, schien ihnen das Leben, die ganze Zukunft ein lichtes
+Bild mit wenig Schatten, und sie feierten bei einer Flasche
+französischen Sektes den ersten Tag ihrer jungen Ehe -- der _=freien=_
+Liebe.
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Sechstes Kapitel.
+
+
+Die Flucht des Oberleutnants Borgert war nicht lange geheim geblieben.
+
+Als er nach Ablauf des dreitägigen Urlaubs nicht zurückgekehrt war, und
+eine telegraphische Anfrage bei seinem Vater ergab, daß er das
+Elternhaus überhaupt nicht betreten habe, lag die Vermutung nahe, daß er
+sich durch Desertieren den Folgen seines bisherigen leichtsinnigen
+Lebens entzogen.
+
+Freilich hatte außer Leimann niemand recht gewußt, wie schlecht es mit
+Borgert's Verhältnissen stand. Erst als der Jude die ihm verkauften
+Sachen abholen und der mit einer umfangreichen neuen Pfändung
+beauftragte Gerichtsvollzieher die bereits von ihm beschlagnahmten
+Gegenstände zurückhalten wollte, kam die Katastrophe und enthüllte mit
+einem Schlage das gesamte System, in welchem Borgert »gearbeitet« hatte.
+
+Von Seiten des Gerichts ward das gesamte Eigentum des Oberleutnants mit
+Beschlag belegt, und ein Termin sollte entscheiden, in welcher Weise
+die einzelnen Gläubiger zu ihrem Rechte gelangen würden.
+
+Stellte auch die wertvolle Einrichtung ein ziemliches Kapital dar, so
+war dieses doch nur der Tropfen auf einen heißen Stein, denn als von
+Gerichtswegen eine Aufforderung durch die Zeitung an alle diejenigen
+erging, welche noch Forderungen nachweisen konnten, gingen ganze Berge
+von Rechnungen ein, deren Gesamtbetrag sich über zwanzigtausend Mark
+belief.
+
+Gleichzeitig verhängte der Gerichtsherr die Beschlagnahme des gesamten
+etwaigen Privatvermögens Borgert's, und die Staatsanwaltschaft folgte
+mit einem Steckbrief gegen den des Betrugs angeschuldigten Oberleutnant.
+
+Die Wohnung hatte das Gericht versiegelt, selbst das arme Pferd im
+Stalle trug in der Mähne ein kleines Siegel, welches man mit einem
+Bindfaden kunstgerecht hineingeflochten hatte.
+
+Wie ein Lauffeuer eilte die Kunde der neuesten Ereignisse durch die
+kleine Stadt und die Nachbarorte, auch in den Zeitungen las man kurze
+Notizen.
+
+Der Oberst war ganz niedergeschlagen. Die schlauen Herren des Regiments
+wollten zwar diese Katastrophe schon lange haben kommen sehen -- wie es
+ja bei allen Ereignissen Leute gibt, die ahnungslos ein Unheil neben
+sich erstehen sehen und dann, wenn das Unvermeidliche eingetreten, mit
+überlegenem Lächeln behaupten, sie hätten seit Jahren nichts anderes
+erwartet.
+
+Der Oberst aber äußerte tieftraurig zu Rittmeister König, diese neue
+Wendung der Dinge sei der »letzte Nagel zu seinem Zylinder,« und man sah
+ihn fortan nur noch mit bekümmerter Miene seinen Geschäften nachgehen.
+Denn allmählich sah er klar, daß die sachgemäße Leitung eines
+Offizierkorps etwas anders angefangen werden müsse, und daß die Art
+seiner Regierung wohl den falschen Weg gewandert sei.
+
+Daß Frau Leimann dem Oberleutnant gefolgt war, wurde erst nach einigen
+Tagen bekannt, als der von Berlin zurückgekehrte Gatte einen Brief
+erhielt, in welchem die Frau ihn um Verzeihung bat und beteuerte, sie
+habe nicht anders gekonnt.
+
+So war denn Leimann doppelt gestraft. Vor aller Welt blamiert und
+belächelt ob seiner durchgegangenen Ehehälfte, mußte er jetzt
+schleunigst den größten Teil seines Besitztums verkaufen, um den
+Forderungen derer gerecht zu werden, bei welchen er für Borgert
+Bürgschaft geleistet, und dabei blieb ihm nur das Nötigste übrig.
+
+Glaubte man anfangs durch Frau Leimann's Brief den Entflohenen auf der
+Spur zu sein, so war doch später das zahlreiche Aufgebot von Detektivs
+und Kriminalbeamten nicht im Stande, die Ausreißer zu fassen. Waren sie
+noch in Deutschland, oder im Auslande? Kein Mensch ahnte es.
+
+Etwa zwei Wochen nach der Flucht wurde auch Röse eingeliefert. Man hatte
+ihn auf den erlassenen Steckbrief hin an der belgischen Grenze
+ergriffen.
+
+Die Verhandlungen mit ihm ergaben, daß häufige Mißhandlungen seitens
+seines Oberleutnants die Triebfeder zu jenem Schritte gewesen waren.
+Milderte dies sein Strafmaß auch nur wenig, so bedauerte man doch
+allgemein den armen Soldaten, den Unbilden und schlechte Behandlung
+seiner Vorgesetzten ins Unglück gestürzt hatten. --
+
+ * * * * *
+
+In dem Ehescheidungsprozeß, welchen Leimann gegen seine Gattin
+angestrengt, kamen recht unliebsame Dinge zu Tage.
+
+Die beiden Mädchen des Hauses, sowie der Bursche wußten Tatsachen zu
+berichten, bei denen sich Leimann's wenige Haare sträubten, die er noch
+auf dem Kopfe trug, und er begriff nicht, wie er so blind sein konnte,
+um den Verrat nicht zu sehen, mit dem man ihn im eigenen Hause betrog.
+
+Die gerichtliche Scheidung wurde ausgesprochen, und Leimann reichte sein
+Abschiedsgesuch ein, weil er einesteils gezwungen war, sich einem
+einträglicheren Berufe zuzuwenden, andererseits, weil durch die
+gesamten Vorfälle sein Ruf derartig geschädigt war, daß dem weiteren
+Verbleiben in einem Offizierkorps erhebliche Bedenken entgegenstanden.
+
+So nahm er denn eine Stelle als Reisender einer Weinfirma an, welche ihm
+den nötigsten Lebensunterhalt verschaffte. Den ohne dies fast
+aufgelösten Haushalt hob er ganz auf und übergab sein Kind zur Erziehung
+einer befreundeten Familie, wofür diese als Entgelt den Anspruch auf die
+kleine Pension des Oberleutnants zugesichert erhielt.
+
+Fast gleichzeitig mit der Genehmigung seines Abschiedsgesuches wurde
+auch das Urteil über Borgert verkündet. Es lautete auf eine Gesamtstrafe
+von fünf Jahren Gefängnis, zehn Jahren Ehrverlust und Ausstoßung aus dem
+Heere, bewirkt durch Betrug, Fahnenflucht und Mißhandlung Untergebener
+in zehn Fällen.
+
+Die Zeitungen veröffentlichten das Urteil, und somit war denn die
+tatenreiche Laufbahn jenes Mannes in seinem Vaterlande beschlossen.
+
+ * * * * *
+
+Indes saß im Bureau der großen Fabrik an einem der zahlreichen
+Schreibtische der ehemalige Sergeant Schmitz.
+
+Die übrigen Angestellten hatten bereits ihre Plätze verlassen und waren
+gerade dabei, ihre Röcke von den Kleiderständern herabzunehmen, denn es
+hatte schon vor zehn Minuten Feierabend geläutet.
+
+Schmitz aber ließ sich durch die laute Unterhaltung seiner Umgebung
+nicht stören, er schrieb emsig und war ganz vertieft in die langen
+Zahlenreihen, welche auf dem Bogen vor ihm geschrieben standen.
+
+Der Raum hatte sich bereits geleert, und Schmitz wollte gerade einen
+neuen Bogen beginnen, als der Werkmeister Maurer eintrat.
+
+Er war ein Mann von gedrungenem Körperbau, mit scharfen, stechenden
+Augen in dem blassen, ovalen Gesichte. Der Schnurrbart hing um die
+Mundwinkel, und der ganze Gesichtsausdruck hatte etwas Rohes, Grausames,
+und besonders jetzt, da der Mann aus dem Halbdunkel von der Tür
+herüberschaute, sah er wie ein Raubtier aus.
+
+»Du kannst wohl wieder einmal nicht fertig werden? Kommst du bald?«
+redete er Schmitz an, welcher von seiner Arbeit nicht aufblickte,
+sondern nur kurz entgegnete:
+
+»Im Augenblick, setz dich so lange!«
+
+Die beiden Männer waren gute Freunde.
+
+Noch vor wenigen Wochen stand Schmitz zwischen den Arbeitern vor der
+Drehbank und schob mechanisch ein Holzstück nach dem anderen zwischen
+die spitzigen Zähne des rotierenden Eisens. Und er hatte sich ganz gut
+eingelebt in diese geisttötende Beschäftigung, die ihm nicht viel Zeit
+zum Denken übrig ließ. Denn hier galt es mit allen fünf Sinnen bei der
+Sache zu sein, wenn man nicht den Verlust eines Fingers oder einer Hand
+beklagen wollte.
+
+Man hatte aber bald in dem stillen, fleißigen Arbeiter den Mann
+entdeckt, dessen überlegene Ruhe und bestimmtes Auftreten ihn zu einem
+weiteren Wirkungskreise geeignet machten, und so ward denn Schmitz nach
+kurzer Zeit Aufseher der Maschinenhalle, in welcher er bis jetzt
+gearbeitet hatte.
+
+Die übrigen Arbeiter freilich sahen mit neidischen Blicken auf den
+Emporkömmling, der erst eben auf der Bildfläche erschienen war und ihnen
+gegenüber nun schon als Befehlender sich aufspielte. Es fehlte daher
+nicht an spöttischen Bemerkungen, der alte Soldat aber wies jeden, der
+ihm zu nahe trat, mit kalter Ruhe in seine Schranken zurück.
+
+Wenn er so des Morgens alle emsig bei der Arbeit sah, ging er manchmal
+zu Maurer hinüber, welcher im Maschinenhause beschäftigt war.
+
+Und bei diesen allmorgendlichen Plaudereien entdeckte Maurer, ein
+gefürchteter Sozialdemokrat der Stadt, bald in Schmitz einen Mann, der
+leicht zu gewinnen war und der ein tatkräftiger Genosse zu werden
+versprach, wenn man ihn nur geschickt ins rechte Fahrwasser
+hineinlenkte.
+
+Dieses Streben Maurer's ward umso mehr unterstützt, als Schmitz noch
+immer nicht den Groll gegen den Militarismus und die Staatsleitung,
+welche diesen groß gezogen, vergessen konnte. Ein tiefer innerer Grimm
+wühlte noch in ihm ob der Unbilden, die ihm die Früchte der besten Jahre
+seines Lebens zerstört.
+
+So hatte er denn bald mit Leib und Seele zur roten Fahne geschworen, und
+aus dem königstreuen Soldaten war eine tatkräftige Stütze der
+sozialistischen Partei geworden.
+
+Morgen sollte nun Schmitz eine Rede halten, vor einem großen Kreise
+seiner Gesinnungsgenossen, und deshalb wartete Maurer auf ihn, um noch
+einmal die wichtigsten Punkte mit seinem Freunde durchzusprechen.
+
+Als Schmitz seine Arbeit fortgelegt und den Bogen im Schreibtisch
+verschlossen hatte, auf dem die Arbeitsliste der vergangenen Woche
+verzeichnet stand, schritt er mit Maurer hinab, und schweigsam wandelten
+die beiden durch die enge Gasse nach Maurer's Wohnung hin.
+
+Aus einem Nachbarhause nahmen sie eine Kanne Bier mit, zündeten dann die
+Lampe an und begannen die Besprechung.
+
+Es handelte sich um ein neues Steuergesetz, welches besonders den
+arbeitenden Klassen zur Last fiel, und daher galt es, möglichst viele
+Gegner zu gewinnen, damit im Reichstag bei der letzten Lesung der
+Angelegenheit eine ausschlaggebende Majorität die Durchführung der
+Vorlage zum Scheitern brachte.
+
+Bis nach Mitternacht waren die beiden Freunde in eifriges Gespräch
+vertieft. Und als sie sich trennten, waren ihre gleichschlagenden Herzen
+um ein Band reicher.
+
+[Illustration]
+
+Den ganzen folgenden Tag befand sich Schmitz in einer Art fieberhafter
+Unruhe. Es schien ihm doch eine sonderbare Wandlung mit ihm vorgegangen
+seit der kurzen Zeit, die er des Königs Rock nicht mehr trug. Vor einem
+Jahre noch war er Soldat des Kaisers, ein Mann, der geschworen, das
+Vaterland zu schützen und es fördern zu helfen, und heute? Einer von
+denen, welche man beschuldigt an den Grundfesten des Staatsgebäudes zu
+rütteln, um sich nach eigenen Gesetzen ein neues Gemeinwesen zu
+schaffen.
+
+Doch als er am nämlichen Abend in stolzer Haltung die Rednertribüne
+betrat, und eine nach Hunderten zählende Menschenmenge dem neuen
+trefflichen Genossen Beifall rief, noch ehe er ein Wort gesprochen, da
+stieg ein nie empfundenes Gefühl des Selbstbewußtseins, ein
+unbestimmtes, gewaltiges Streben nach Großem in seiner Seele auf.
+Gefallen wollte er der versammelten Menge, sie hineinzwingen in den
+Bannkreis seiner Gedanken, daß alle ihm folgen mußten, willenlos, wie
+dem Hirten die Herde.
+
+Mit fester Stimme begann er seine Rede. In großen Zügen schilderte er
+zuerst die Art des neuen Gesetzentwurfs und legte sodann die Folgen
+desselben für die arbeitenden Klassen dar.
+
+Eine neue Steuer bedeute stets einen weiteren Schritt zur Verarmung der
+Mittellosen. Und diese neuen Ausgaben seien überflüssig, wenn man es
+unterließe, eine beständige Vergrößerung und fortwährende
+Ausrüstungsänderung der Armee vorzunehmen.
+
+»Unsummen verbraucht der Staat alljährlich für das Militär«, sagte er,
+»kaum hat man Millionen für die Einführung eines neuen Geschützes, die
+Aufstellung eines neuen Regiments aufgewendet so erweisen sich diese
+Änderungen oft bald als nicht mehr zeitgemäß, und neue Summen von
+unglaublicher Höhe werden gefordert, um einen Irrtum oder eine
+Übereilung gut zu machen. Deutschlands Ruf und Machtstellung hat ihm die
+Armee erworben, und sein Heer ist es, um welche die Nachbarländer es
+beneiden, aber stehen wir denn nicht auf dem Gipfel der militärischen
+Macht, müssen wir denn den Militarismus so weit ausdehnen, bis er
+schließlich alle anderen Organe der Staatsmaschine erdrückt?
+
+Wollte man nur einen Teil der Unsummen, die das Heer alljährlich
+verschlingt, anderen Gliedern des Reiches zuwenden, so würde es nicht
+nötig sein, den Bürger so unverhältnismäßig an seinem Einkommen zu
+kürzen. Dann wären wir ein reiches Land, der Bürger könnte den Wohlstand
+erreichen, die Industrie aufleben und mit neuen Kräften einen gewaltigen
+Aufschwung nehmen.
+
+Will man aber nicht abgehen von dieser enormen Bevorzugung des Heeres,«
+fuhr Schmitz fort, »so soll man die dafür nötigen Summen denen abnehmen,
+die in Nichtstun oder geringer Arbeit Millionen zusammenscharren. So
+aber belastet man den Reichen nicht mehr wie den Arbeiter, der ein Stück
+des sauer erworbenen Brotes hergibt, um ein Kapital mit aufbringen zu
+helfen, dessen Nutznießung ihm versagt bleibt.
+
+Denn welchen Segen bringt dem Bürger, dem Volke die Armee? Sie zieht
+seine Kinder heran, um sie in den besten Jahren der Jugend, in denen der
+Jüngling sich zum Manne entwickelt und sein Charakter reift, oft mit
+Ungerechtigkeit und Roheit zu behandeln und dann den einen als
+erbitterten Gegner der Staatsverfassung, manch anderen als Krüppel in's
+Leben zurückzuschicken. Und hat er auch die schönsten Jahre männlicher
+Arbeit, seine Gesundheit dem Staate geopfert, so schickt man ihn oft um
+einer Kleinigkeit willen hinaus in die Welt, wo er dann wie ein
+fortgejagter Hund nach Nahrung und einem neuen Herrn suchen muß.
+
+Darum laßt uns die Staatsleitung zu zwingen suchen, das Geld, welches
+sie zwecklos ausgibt, nutzbringend auf bessere Ziele zu verwenden, damit
+das Volk für seine Opfer auch einen Lohn genießt!«
+
+Die Worte des Redners, der an seine eigenen bitteren Erfahrungen gedacht
+hatte, waren von häufigen Rufen des Beifalls und der Zustimmung
+begleitet, als Schmitz aber von der Tribüne herabstieg, jubelte die
+begeisterte Volksmenge dem Manne zu, der die richtigen Mittel gefunden,
+ihr den Lebensweg zu ebnen.
+
+So überzeugend hatten seine Worte geklungen, daß mancher, der noch nicht
+fest entschlossen war, welcher Partei er seine Gesinnung zuwenden solle,
+bedingungslos sich dem Manne anschloß, in dessen Bann ihn der heutige
+Abend hineingezogen.
+
+Und so galt Schmitz mit einem Schlage als einer der tüchtigsten Anhänger
+der roten Partei, deren Macht in der großen Fabrikstadt immer weitere
+Kreise zog.
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Siebentes Kapitel.
+
+
+Vor dem Stabsgebäude des Regiments lehnte am eisernen Gitter
+Wachtmeister Krohn, der Regimentsschreiber.
+
+Behaglich rauchte er seine Morgenzigarre und las die »Deutsche Zeitung«,
+welche der Briefträger soeben für den Oberst abgegeben. Mit der Arbeit
+eilte es nicht sonderlich, denn der Oberst war zum Exerzieren
+hinausgeritten, und an solchen Tagen pflegte auch der Adjutant den
+versäumten Nachtschlaf etwas gründlicher nachzuholen.
+
+Krohn hatte sich gerade in den Inseratenteil der Zeitung vertieft, als
+Wachtmeister Schönemann mit schleppendem Säbel, eine Zigarette zwischen
+den Lippen, zu ihm herantrat. --
+
+»Morjen, Herr Kommandeur!« redete er Krohn scherzend an, »was gibt's
+Neues? Ist die Blechschmiede noch nicht im Gang?«
+
+»Nee,« antwortete der Gefragte gleichfalls scherzend, »die Schmiede sind
+noch unterwegs, es ist auch noch kein Blech von der Post gekommen.
+Übrigens, weißt du das Neueste? Ich hätt's fast vergessen!«
+
+»Nee. Hab ich einen Orden gekriegt?«
+
+»Das gerade nicht, aber König sitzt in Untersuchungshaft.«
+
+»Was? König? Potzdonnerwetter! Was hat denn der ausgefressen?«
+
+»Er soll so'n bißchen in die Schwadronskasse gegriffen haben. Hätte der
+reiche Kerl auch nicht nötig gehabt!«
+
+»Deuwel ja, das hätte ich auch nicht gedacht, gerade von dem nicht! Wie
+ist denn das rausgekommen?«
+
+»Habe keine Ahnung! Der Oberst muß wohl etwas erfahren haben. Er hat ihn
+gestern Nachmittag oben in sein Zimmer gerufen und ihm die Geschichte
+auf den Kopf zugesagt. Ich guckte durchs Schlüsselloch und sah, wie der
+arme Kerl ganz blaß wurde und gleich die Bücher holen wollte. Der Oberst
+ließ sich aber auf nichts ein und ließ ihn festsetzen!«
+
+»Aber die haben doch sonst so gut zusammen gestanden?«
+
+»Natürlich! Es muß eben was dran sein an der Geschichte, sonst hätte der
+Oberst die Sache vielleicht anders angegriffen, besonders, da er ja
+selbst verflucht auf der Kippe steht. Diese neue Schweinerei bricht
+ihm's Genick.«
+
+»Na, ich glaub noch nicht dran, bis ich's Schwarz auf Weiß habe. So was
+tut König nicht! Der Oberst ist ja immer gleich aus Rand und Band und
+freut sich förmlich, wenn er einem an den Kragen kann. Das soll
+»schneidig« aussehen!«
+
+»Na, wir werden's ja sehen!«
+
+ * * * * *
+
+Oberleutnant Borgert hatte es als seine letzte Aufgabe betrachtet, dem
+Rittmeister König für jenen Brief, mit welchem dieser sein
+Darlehnsgesuch abgewiesen hatte, ein Andenken zu versetzen.
+
+Die ihm bekannte, vermeintliche Tatsache schien ihm ein geeignetes
+Werkzeug zur Rache, und so hatte er denn durch gelegentliche Bemerkungen
+im Kameradenkreise dafür gesorgt, daß das Gerücht immer mehr
+durchsickerte. Schließlich hatte die Rederei und der Klatsch solchen
+Umfang angenommen, daß nichts übrig blieb, als der Sache auf den Grund
+zu gehen.
+
+König aber hatte keine Gelegenheit gefunden, sich selbst von dem
+ungeheuerlichen Verdachte zu reinigen, denn ihm gegenüber ließ man nie
+ein Wörtchen darüber fallen. Borgert hatte es fertig gebracht, eine
+allgemeine Mißstimmung gegen den sonst so beliebten Herrn zu erregen,
+und da dieser darauf nur mit einer kühlen Zurückhaltung antwortete,
+waren die Sympathien für ihn keineswegs gewachsen, vielmehr freute sich
+ein jeder im Stillen, daß es nun einen Sündenbock mehr gab.
+
+Leutnant Bleibtreu hätte vielleicht seinen Schwadronschef rechtzeitig
+von dem umlaufenden Gerüchte in Kenntnis setzen können, aber da er sich
+gerade auf Urlaub befand und mit den gleichalterigen Kameraden keinen
+Briefwechsel pflegte, erfuhr er erst durch König selbst von dem
+traurigen Ereignis.
+
+Gegen Gestellung einer hohen Kaution hatte man König aus der Haft
+entlassen, und so konnte er denn, vom Dienste suspendiert, in seiner
+Wohnung den Ausgang der Sache abwarten.
+
+Anfangs war er fassungslos. Nach fünfzehnjähriger, vorwurfsfreier
+Dienstzeit beschuldigte man ihn eines gewissenlosen, gemeinen Vergehens,
+auf die Rederei eines moralisch verkommenen und von jedermann
+belächelten Menschen hin, der ihm nur zu Dank verpflichtet war.
+
+Wo blieb das Vertrauen, die gute Kameradschaft, die man ihm sonst
+entgegen gebracht? War es nicht Pflicht der Vorgesetzten, diese für
+seine Verhältnisse höchst unwahrscheinliche Tatsache erst eingehend zu
+prüfen, bevor man aus ihr eine Beschuldigung formulierte, die geeignet
+war, seinen Ruf im Regiment und der ganzen Stadt völlig zu untergraben?
+
+Hatte schon seine Verhaftung die übertriebensten Gerüchte und
+Klatschereien in die Welt gesetzt, so mied man ihn jetzt förmlich als
+einen Verbrecher, einen Verfemten, und zeigte mit Fingern auf ihn und
+seine Familie.
+
+Nur Bleibtreu war fest von der Unschuld seines Freundes überzeugt, er
+kannte den Mann zu genau, als daß er auch nur einen Augenblick an
+König's Schuld glauben konnte.
+
+Er brachte dies zum Ausdruck, indem er täglich, offenkundig vor aller
+Welt, König's Wohnung aufsuchte und die Abende im Kreise seiner Familie
+verbrachte.
+
+Er schloß sich ihm auf seinen einsamen Spaziergängen an und setzte
+diesen Umgang auch fort, als man ihn seitens des Regiments vor König
+warnte und ihm die Kameraden sein Verhalten dadurch lohnten, daß sie ihn
+ebenfalls mieden und eine feindselige Stellung gegen ihn einnahmen.
+
+Alle Anfeindungen jedoch vermochten nicht, ihn in's Wanken zu bringen,
+er hätte es für feige und niedrig gehalten, einen Freund im Unglück zu
+verlassen, der ihn in guten Tagen zu Dank verpflichtet.
+
+Auch das gesamte Unteroffizierkorps des Regiments war bis zum gemeinen
+Mann hinab empört über die Art und Weise, wie man einen beliebten
+Vorgesetzten ins Unglück stürzte, und dies kam zum Ausdruck durch
+häufige Besuche einzelner Untergebener bei dem Rittmeister.
+
+Selbst das Zivil, welches sich vom Oberst und den Herren des Regiments
+fast ganz zurückgezogen hatte, war mit Ekel und Widerwillen erfüllt
+gegen diese unwürdigen Zustände, und bezeugte seine Sympathie für König
+in auffälliger Weise.
+
+Durch alle diese Umstände lernte König allmählich etwas heller in die
+Zukunft blicken, er tröstete sich über seine Lage mit dem Gedanken, daß
+die Gerechtigkeit siegen und einst der Tag kommen müsse, da er mit jenen
+zu Gericht ging, die ihm und seiner Ehre nahezutreten sich unterfingen.
+
+Aber es war eine lange Geduldsprobe, die man ihm auferlegte.
+
+Wäre der Fall ein solcher gewesen, daß er die öffentliche Meinung
+interessiert, dessen Ausgang in weitesten Kreisen Spannung und Neugierde
+erregt, vielleicht ein Totschlag, eine Mißhandlung oder ein ähnliches
+schwerwiegendes militärisches Vergehen, so würde man sich beeilt haben,
+durch schleunige Aburteilung die öffentliche Meinung zu beruhigen.
+
+Hier aber schien es keine Eile zu haben; der Mann mußte eben ruhig
+warten, bis man Zeit für seine Sache fand! Was machte es denn, wenn er
+Monate lang in Ungewißheit schwebte und diese lange Zeit dem Gerede
+übelwollender Leute immer von Neuem reichlichen Stoff zuführte?
+
+So fand erst nach sechs Wochen das erste Verhör statt, in welchem König
+Gelegenheit gegeben wurde, die ganze Angelegenheit aufzuklären und seine
+Unschuld nachzuweisen.
+
+Er sollte sich aber getäuscht haben in der Hoffnung, damit das Ende des
+Prozesses nahe sehen zu dürfen, denn jetzt forderte man die Bücher der
+letzten drei Jahre ein, um sie einer Prüfung zu unterziehen. Dazu
+brauchte der Gerichtshof volle drei Monate.
+
+Das Urteil in der Hauptverhandlung lautete auf Freisprechung.
+
+Es war erwiesen, daß ein Eingriff in die Kasse der Schwadron nicht
+stattgefunden, sondern ein solcher nur vorgespiegelt war, um die
+Schwierigkeiten weiterer Geldbeschaffung darzulegen und so weitere
+Darlehnsgesuche abschneiden zu können.
+
+König selbst hatte einen anderen Ausfall des Urteils für ausgeschlossen
+gehalten. Im Kameradenkreise rief dasselbe aber Ärger und Enttäuschung
+hervor, Genugtuung und Freude dagegen bei allen denen, welche dem Hause
+König wohlgesinnt waren und die Wahrheit der dem Rittmeister zur Last
+gelegten Tatsachen von Anfangs her bezweifelten.
+
+Als vier Monate später die Urteilsbestätigung eintraf, begannen die
+Verhandlungen von Neuem, denn jetzt war es der Ehrenrat, welcher die
+ganze Angelegenheit einer nochmaligen Prüfung unterzog, ob König
+vielleicht in irgend einem Punkte die Standesehre des Offiziers verletzt
+habe und somit seitens des Ehrengerichts etwa noch eine besondere
+Bestrafung verdiene.
+
+Daß nunmehr eine ungünstige Wendung der Dinge nicht mehr zu erwarten
+stehe, sagte König die ruhige Überlegung, denn selbst für den Fall einer
+Bestrafung konnte diese nur auf das Mindestmaß hinauslaufen und
+bedeutete somit keinen nachteiligen Schaden.
+
+Deshalb empfand der Rittmeister diese Zeit nicht mehr als eine Prüfung
+des Schicksals, als eine Zeit der Ungewißheit, des Zweifels, sondern er
+fühlte sich ganz wohl in dieser Ruhe und Zurückgezogenheit, nachdem er
+sich einmal an sie gewöhnt.
+
+Im Kreise seiner Familie kam er leicht über die Mißstimmung hinweg,
+welche sich manchmal noch bei ihm einschlich, und er verbrachte den Tag
+mit seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Klavierspiel, oder bei sonstiger
+Unterhaltung.
+
+Frau Clara hatte die schwere Zeit mit bewundernswerter Energie
+überstanden.
+
+Erst die beliebteste Dame des Regiments, verehrt und geschätzt von
+allen, dann die Gattin des Mannes, auf den man mit Fingern wies als
+einen Spitzbuben -- ein gewaltiger Schritt, wie er das stolze Gemüt
+einer Frau nur zu demütigen und zu verletzen vermag.
+
+Und doch war sie es, die stets von Neuem Sonne in die bedrückten Gemüter
+scheinen ließ, die mit oft mühsam erkünstelter Fröhlichkeit die Wolken
+der Sorge und der Verstimmung vertrieb.
+
+Selbst Bleibtreu gewann in der Nähe dieser reizenden Frau stets seine
+gute Laune wieder, wenn er einmal den Lebensmut ob dieser Wirrnis von
+Gemeinheit und Widerwärtigkeit verlor.
+
+Eines Tages trat er besonders niedergeschlagen bei Königs ein.
+Schweigsam nahm er Platz am Abendtische, und selbst Frau König's muntere
+Reden vermochten diesmal nicht, die Wolken von seiner Stirn zu
+scheuchen.
+
+Erst als man den kleinen Sohn des Hauses zu Bett gebracht und um den
+runden Tisch in König's Arbeitszimmer saß, schlug der Rittmeister dem
+Freunde auf die Schulter und sagte scherzend:
+
+»Was machen Sie denn heute für eine Leichenbittermiene? Ist zu Hause der
+Hafer schlecht geraten?«
+
+Über Bleibtreu's Gesicht ging nur ein trauriges Lächeln, aber er
+entgegnete nichts.
+
+»Nun sagen Sie doch, Mensch, was haben Sie denn?« begann der Rittmeister
+von Neuem.
+
+»Mein Gesuch um Versetzung ist heute abschlägig beschieden worden,«
+entgegnete der junge Offizier mit bedrückter Stimme.
+
+König entgegnete nichts, auch seine Gattin schwieg und schaute nur
+teilnahmsvoll auf ihren Freund.
+
+»Und was gedenken Sie nun zu tun?« fragte der Rittmeister nach einer
+Weile.
+
+»Ich habe heute meinen Abschied eingereicht.«
+
+Einen Augenblick sah das Ehepaar betroffen den Sprecher an, dann aber
+streckte König seinem Freunde die Hand entgegen und sagte:
+
+»Nun, daran haben Sie recht getan! Zwar bedaure ich Sie von Herzen, daß
+Sie sich jetzt in einem neuen Berufe einleben müssen, denn Sie sind noch
+jung, Ihr Leben ist noch lang. Aber ich verstehe die Beweggründe, welche
+Sie zu diesem Schritt veranlaßt haben. Sie haben als junger Offizier
+Dinge erlebt, die mich in meinen alten Tagen nicht weniger berühren, und
+ich kann es begreifen, wenn Sie die Achtung vor dem Berufe verloren
+haben, der Ihr bisheriges Leben ausgefüllt hat. Ich hätte Ihnen
+gewünscht, in einer anderen Garnison, unter anderen Verhältnissen und
+anderen Menschen erfahren zu können, daß es noch Offizierkorps gibt, in
+denen man leben und sich dieses Lebens freuen kann. Da Ihnen dies aber
+versagt ist, ist es das Beste, wenn Sie dem Soldatenstande den Rücken
+kehren. Ich selbst hätte Ihnen den Rat schon früher gegeben, hätte ich
+nicht Bedenken getragen, Sie zu einem Entschlusse zu drängen, den Sie
+später bereuen könnten. Um Ihnen zu zeigen, daß ich aus Überzeugung
+spreche, will ich Ihnen nur sagen, daß auch ich mich mit
+Abschiedsgedanken trage.«
+
+Diesmal war es Bleibtreu, der mit weit aufgerissenen Augen auf den
+Rittmeister schaute.
+
+»Aber warum denn?« brachte er erstaunt hervor, »Sie werden doch
+versetzt!«
+
+»Gewiß, ich werde versetzt. Aber mir geht es wie Ihnen: meine Achtung
+vor dem Stande, dem ich fünfzehn Jahre in Ehren angehört habe, ist
+dahin. Zwar habe ich in früherer Zeit bessere Verhältnisse kennen
+gelernt, aber daß es in einem Offizierkorps Zustände geben kann, wie in
+dem unseren, das hat mir gezeigt, daß ich nicht hineinpasse. Wer
+verspricht mir, daß ich in einer anderen Garnison nicht Ähnliches
+erleben muß? Außerdem kann ich wohl mit Sicherheit voraussehen, daß man
+mich nicht in eine Residenzstadt stecken wird.«
+
+»Und warum nicht?« fragte Bleibtreu.
+
+»__Semper aliquid haeret__, mein Lieber, zu Deutsch: >etwas bleibt immer
+daran hängen<, außerdem steht mir noch eine Bestrafung seitens des
+Ehrengerichts bevor, also auch eine minderwertige Garnison.«
+
+»Dann allerdings!« stimmte Bleibtreu bei.
+
+»Sehen Sie,« fuhr König fort, »seit neun Jahren lebe ich nun in diesem
+elenden Nest. Der reine Bauer bin ich geworden! Ja, es ist wirklich so,
+wenn Sie auch lachen. Wenn man niemals mehr unter andere Menschen kommt
+-- die paar Tage Urlaub spielen keine Rolle -- weiß man kaum noch, wie
+man sich zu benehmen hat, und man lebt sich in nachlässige Formen und
+Gewohnheiten ein, die der Kamerad aus Berlin oder Hannover abscheulich
+finden würde. Der Kasinoton, den wir allmählich hier ganz normal und
+selbstverständlich finden, würde in einer anderen Garnison unmöglich
+sein, weil dort die Menschen mehr mit anderen, täglich mit neuen,
+zusammen kommen, und so stets auf gute Sitten angewiesen sind. Stecken
+aber dieselben Menschen das ganze Jahr zusammen, allein, für sich
+abgeschlossen, dann lassen die Formen nach, und man wird schrittweise
+ein Salonflegel.«
+
+»Das ist ja nur natürlich, Herr Rittmeister! Man lebt hier wie in einem
+Taubenschlag beisammen, und jeder hat natürlich nichts Besseres zu tun,
+als seinem Nachbar auf die Finger zu sehen und sich in alles zu mischen,
+was er tut und läßt, weil ihn andere Dinge nicht beschäftigen, einfach
+weil es die in einer so kleinen Garnison gar nicht gibt.
+
+Daraus entstehen dann diese ewigen Stänkereien, und dazu kommt, daß man
+in diese weltvergessenen Nester oft Elemente setzt, die man in einer
+anständigen Garnison nicht brauchen kann, aber nicht ganz hinauswerfen
+möchte. Alle Augenblicke hört man: strafversetzt nach Mörchingen, Lyck
+oder wie die Nester alle heißen.«
+
+»Sehr richtig!« gab König eifrig zur Antwort. »Wer wo anders etwas
+verbrochen hat, kommt meist in eine Grenzgarnison, um ihn unschädlich zu
+machen. Man bedenkt aber nicht, das diese oft nicht einwandfreien
+Elemente unter einander mehr Unheil anrichten, als wenn sie zwischen
+einer mindestens gleich großen Zahl anständiger, tadelloser Kameraden
+lebten.
+
+Fast alle Skandalgeschichten in Offizierkorps passieren an der Grenze in
+solchen Nestern, die meist erst dadurch bekannt werden, weil sie nur auf
+großen Landkarten stehen.
+
+Hätten nun wenigstens die Offiziere hier Gelegenheit, ihren eigenen
+Wegen nachzugehen. Aber nein, sie sind gezwungen, fast nur im Kasino zu
+verkehren. Anderweitige Abwechslung, wie sie größere Städte in Hülle und
+Fülle bieten, gibt es nicht, und wer Lust hat, jeden Abend in derselben
+Kneipe dasselbe Bier zu trinken und dabei stets das Gewäsch derselben
+Menschen anzuhören, welches sich selten um anderes, als um langweiligen
+Stadtklatsch dreht? Das kann einer auf die Dauer nicht aushalten, denn
+die übrigen Kneipen des Ortes sind ihm verboten, weil sich Kreti und
+Pleti darin herumtreibt. Man geht also in's Kasino und trinkt aus purer
+langer Weile so lange, bis man genug hat, und dann entstehen die
+berühmten Skandalgeschichten. Bei diesem ewigen Zusammenhocken muß es ja
+zu Reibereien kommen, es sind doch schließlich alle verschieden geartete
+Menschen mit verschiedener Auffassung und Erziehung. In einer großen
+Garnison geht man nur ins Kasino, wenn man einen bestimmten Zweck damit
+verbindet, denn die Langeweile kann man sich hier anders vertreiben, als
+mit sinnlosem Gesaufe.
+
+Und ist einer gar noch hinter den Weibern her, dann ist erst recht der
+Teufel los. Sie haben ja hier die schönsten Beispiele: In einer
+Großstadt bieten sich seinen Gelüsten genug von dieser Sorte an, hier
+aber fehlen solche Existenzen, man vergreift sich also an den Frauen der
+Kameraden.«
+
+»Aber Offiziere müssen diese kleinen, meist sehr wichtigen
+Grenzgarnisonen doch auch haben!« warf Bleibtreu ein.
+
+»Gewiß,« entgegnete König eifrig, »man soll nur nicht so viele
+Minderwertige dahin schicken, sondern in erster Linie einwandfreie
+Offiziere mit anständiger Gesinnung und tadellosem Vorleben.
+
+Und das ganz besonders, wenn man diese Grenzgarnisonen als so wichtig
+bezeichnet, denn leichtsinnige Sumpfhühner werden in der Regel keine
+brauchbaren Offiziere sein, wenn man im Ernstfalle erhöhte Anforderungen
+an ihre Leistungsfähigkeit stellt.
+
+Aber jeder hält es für eine ganz besondere Strafe oder wenigstens für
+ein gewaltiges Pech, an die Grenze zu kommen, und schon das verleidet
+ihm oft die ganze Lust am Soldatenspielen. Himmel und Hölle werden in
+Bewegung gesetzt, um ja in einer anständigen Garnison zu bleiben. Der
+Gardeoffizier oder der aus einem feudalen Regiment verlebt seine ganze
+Dienstzeit herrlich und in Freuden in einer Großstadt. Warum vertrauert
+unsereiner seine schönsten Jahre in so einem Drecknest?«
+
+»Wahrscheinlich stößt man sich an den Kosten der Reisen durch viele
+Versetzungen, die dann doch eine bedeutende jährliche Mehrausgabe im
+Staatshaushalt bedeuten würden,« sagte Bleibtreu.
+
+»Das ist kein Grund, wenn man ernstlich will, geht alles. Jährlich
+strömen hunderte von Offizieren zu allen möglichen Kommandos in Berlin
+zusammen. Wenn diese beendigt sind, kann man ja jeden in eine andere
+Garnison schicken, dadurch entstehen nicht mehr Kosten, als wenn er in
+sein Stammregiment zurückkehrt. Dafür kommen wieder andere Offiziere
+nach Berlin, und diese dann wieder in andere Garnisonen. So gleicht sich
+der Offizierersatz prächtig aus, für einen Offizier, den das X. Regiment
+zur Ausbildung nach Berlin schickt, bekommt es einen Ausgebildeten
+zurück, der früher in Y. gestanden hat. Außerdem könnte man alljährlich
+außer der Reihe noch eine Auswechslung vornehmen, und dafür an einer
+anderen Ecke etwas sparen.
+
+Statt dessen aber besteht der Ersatz für Grenzgarnisonen, die außer
+vielleicht ein paar Kadetten keinen Nachwuchs an Fähnrichen haben, zum
+großen Teil aus Sündern und solchen, die sich in anderen Garnisonen
+unmöglich gemacht haben, abgesehen von höheren Offizieren, welche ein
+Grenzregiment für eine Auszeichnung halten, weil sie dann dem Feind am
+nächsten sind und zuerst draufhauen dürfen, wenn es losgeht.
+
+Aber auch das ist nur noch eine Illusion. Heutzutage, wo die Aussichten
+auf einen Krieg immer geringer werden, steht der Vorzug, dem Feind am
+nächsten zu sein, nur noch auf dem Papier.
+
+Bei dem jetzigen System müßte es Grundsatz sein, keinen Offizier länger
+als zwei, höchstens drei Jahre in einer Grenzgarnison zu belassen. Dann
+würde sich die Armee vor viel Schaden sichern, sowohl hinsichtlich ihrer
+Leistungsfähigkeit, als auch besonders ihres Rufes.
+
+Außerdem wäre eine schreiende Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft.«
+
+Bleibtreu nickte beistimmend, als König seine Ausführungen beendet hatte
+und sagte:
+
+»Ich stimme Ihnen durchaus bei, Herr Rittmeister! Aber trotz alledem
+könnten Sie es doch noch einmal in einer anderen Garnison versuchen,
+denn nach einer so langjährigen Dienstzeit würde ich es an Ihrer Stelle
+doch wenigstens bis zum Rittmeister erster Klasse aushalten. Das ist
+noch eine Zeit von ein bis zwei Jahren, und dann haben Sie einen
+bedeutenden Pensionsvorteil. Ist die neue Garnison nicht nach Wunsch, so
+bleibt zum Abschiednehmen noch genügend Zeit!«
+
+»Gewiß, Sie haben recht! Aber ich sagte Ihnen schon, daß ich jegliche
+Lust an meinem Berufe verloren habe.
+
+Fünfzehn Jahre habe ich gearbeitet und gestrebt. Ich habe meine Pflicht
+stets zur Zufriedenheit der Vorgesetzten getan und manche Auszeichnung
+erfahren. Jetzt aber bin ich lahm gelegt und sofort tritt ein anderer an
+meine Stelle. Nach den Früchten meiner bisherigen Tätigkeit fragt kein
+Mensch, die Maschine bleibt im Gange, als hätte ich nie existiert. Und
+wenn man so gar keinen nachhaltigen Erfolg aus seiner Lebensarbeit
+sieht, das ist so niederdrückend, so beschämend! Der tüchtige Arzt, der
+Kaufmann, der Jurist wird vermißt, wenn er aus seinem Wirkungskreise
+scheidet, nach uns aber fragt niemand, wenn man nicht gerade ein großer
+Feldherr gewesen ist. Niemals könnte ich wieder mit innerer Lust und
+Aufopferung meinen Dienst versehen, und deshalb gehe ich lieber.«
+
+ * * * * *
+
+Das Ehrengericht des Regiments hatte auf eine »Verwarnung« erkannt,
+»wegen Gefährdung der Standesehre«. Als Erklärung wurde hinzugefügt, daß
+der Offizier sich nicht in die Gefahr begeben dürfe, seitens der Welt
+falsch beurteilt zu werden. Da dies im vorliegenden Falle aber geschehen
+sei, müsse man dem Rittmeister König seine Handlungsweise als inkorrekt
+und nachteilig für seine Ehre als Offizier vor Augen führen.
+
+König las das Dienstschreiben mit spöttischem Lächeln, und am selben
+Abend lag sein Abschiedsgesuch beim Regiment.
+
+ * * * * *
+
+Wenige Wochen vorher hatte auch der Oberst ein Schreiben erhalten, aber
+von »oben«, und es steckte in einem blauen Umschlag.
+
+Er war darin bedeutet worden, daß man zwar seine trefflichen Verdienste
+anerkenne und zu würdigen wisse, nun aber für dieselben keine Verwendung
+mehr habe.
+
+»Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« Man nahm daher keinen
+Anstand, dem Oberst seine Wünsche zu erfüllen, als er um seinen Abschied
+bat, da er die Beschwerden des Königlichen Dienstes nicht mehr
+auszuhalten vermöge.
+
+So fuhr denn eines Tages ein gelbgestrichener Möbelwagen vor dem schönen
+Hause am Ende der Stadt vor, und man packte alles hinein, was des
+Mitgehens wert war.
+
+Der Oberst aber zog mit Familie sang- und klanglos zum Bahnhof, nur der
+Bursche erschien, denn er war zum Koffertragen kommandiert. Im letzten
+Augenblicke kam auch noch atemlos die Kinderfrau an und forderte
+energisch den letzten Monatslohn.
+
+Ein greller Pfiff, und der Schnellzug entführte einen Mann, der noch
+einmal mit traurigem Lächeln sein Auge über die Dächer der Stadt gleiten
+ließ, in welcher er fünf Jahre seine segensreiche Tätigkeit entfaltet.
+
+In der nämlichen Woche reisten Bleibtreu und König ab, in welchen die
+Armee zwei tüchtige Soldaten und ergebene Anhänger verlor.
+
+
+
+
+[Illustration]
+
+
+Achtes Kapitel.
+
+
+Acht Uhr vorbei. An einem Dezemberabend. Die Läden der Geschäftshäuser
+wurden geräuschvoll geschlossen, aus allen Teilen der Straße tönte das
+Rasseln der Jalousieen, die man vor den blendend erleuchteten
+Auslagefenstern herunterließ.
+
+Auf dem Asphalt wogte es von einer wortlos dahineilenden Menschenmasse.
+Hastend und jagend, als habe jeder einzelne etwas Versäumtes
+nachzuholen, schritten sie dahin, elegante Frauen, Männer im
+Arbeitsanzug, vornehm gekleidete Herren und der nicht enden wollende
+Schwarm junger Mädchen, welcher den Ladentischen und Kontors der
+Geschäftshäuser entströmte, vermischt mit jenen, die in langsamem
+Tändelschritt, von einer Woge aufdringlichen Parfums umgeben, ihre hoch
+aufgenommenen seidenen Röcke zur Schau tragen. Auf dem Fahrdamm sausten
+Cabs und Omnibusse in rastloser Folge dahin, elegante Pärchen,
+verschleierte Damen, Börsenbarone, Großkaufleute, Reisende und alle die
+ihrem Ziele zuführend, welche sich nicht mit dem Staub der Menge die
+Schuhe beschmutzen wollten, oder es besonders eilig hatten. Dazwischen
+ließ das Automobil seinen düsteren Klageruf erschallen, oder die
+Straßenbahn ihr Glockenzeichen, elegante Koupees rollten geräuschlos
+über den Asphalt, nur ab und zu bei dem weißen Licht der Läden oder
+Straßenlaternen einen Blick in ihr geheimnisvolles Innere gestattend.
+
+Diese ganze Wirrnis des Großstadtstraßenlebens, dies bunte Gedränge, das
+eilige Hasten und Jagen, alles trug den Stempel des Strebens, der
+Arbeit, es war wie in einem Ameisenhaufen, wo jedes einzelne Tierchen
+rastlos seine Pflicht erfüllt, um in gemeinsamer, emsiger Arbeit ein
+gemeinnütziges Ganzes zu schaffen.
+
+Um die Ecke nach einer schlecht erleuchteten Seitenstraße bog ein
+elegantes Paar und nahm seinen Weg auf dem von Papieren und Unrat aller
+Art bedeckten Fahrdamm, hindurch zwischen den zahllosen Wagen und Karren
+der Verkäufer.
+
+Vor einem einfachen Hause machten sie Halt und stiegen die ausgetretenen
+Steinstufen hinauf. Der Portier schaute aus seinem Verschlag und grüßte
+kurz das Paar, welches aus dem Monopol-Hotel hierher übergesiedelt war
+und ihm so oft zu denken gab.
+
+Es war der ehemalige Oberleutnant Borgert und Frau Leimann.
+
+Sie hatten ihre Schritte nach London gelenkt in der Hoffnung, hier vor
+einer etwaigen Verfolgung sicher zu sein und einen Unterhalt in dieser
+Millionenstadt zu finden, die so Manchem das tägliche Brot spendete.
+
+Das Geld war schnell zur Neige gegangen, denn wer in guten Tagen nicht
+zu rechnen versteht, vermag es auch nicht in den Tagen der Not. Und so
+hatte sich Borgert nach einer Beschäftigung umsehen müssen, um dem
+Hunger vorzubeugen, wie schwer es auch dem verwöhnten, nur im Nichtstun
+groß gewordenen Manne wurde, sich zur Arbeit zu zwingen.
+
+Aber in zwei Geschäfthäusern hatte man ihn wieder entlassen, und eben
+kehrte er von einem letzten erfolglosen Gange zurück.
+
+Mutlos und verzweifelt warf er sich auf das schmale Sopha und bedeckte
+das Gesicht mit den Händen, während sich Frau Leimann in einen kleinen
+Stuhl vor dem Kaminfeuer kauerte.
+
+Mit entgeisterten Augen schaute sie in die erlöschende Glut, -- es waren
+die letzten Kohlen, welche ihre Wärme in den dürftigen Raum ergossen.
+
+Beide sprachen kein Wort, und als Borgert endlich das Schweigen brach,
+fuhr die Frau erschreckt empor, wie aus einem angstvollen Traume.
+
+»Was soll nun werden?« sagte er leise.
+
+Frau Leimann antwortete nicht, sondern schaute wieder sinnend in das
+Kaminfeuer, und eine Träne leuchtete in ihrem Auge.
+
+»Morgen müssen wir hinaus aus dem Hause, wenn wir nicht zahlen, und dann
+können wir auf der Straße schlafen!«
+
+»Du mußt arbeiten, Georg!« entgegnete die Frau mit tränenerstickter
+Stimme, und sie versuchte einen energischen Ton in ihre Worte zu legen.
+
+»Hab' ich es nicht versucht?« gab er achselzuckend zurück, »hat man mich
+nicht jedesmal wieder hinausgeworfen? Und es hat auch keinen Zweck, daß
+ich noch einmal einen Anlauf nehme, ich kann eben nicht arbeiten, ich
+habe es nicht gelernt.«
+
+»Aber es muß etwas geschehen, wir müssen einen Ausweg finden!« rief die
+Frau verzweifelt. »Wenn du mich jetzt im Stiche lassen willst, so
+durftest du mich nicht mit in's Verderben locken!«
+
+»Locken?« fragte Borgert spöttisch, »wer hat dich denn gelockt? Warst du
+es nicht selbst, die mich flehentlich bat, mitgehen zu dürfen, weil du
+es bei deinem noblen Herrn Gemahl nicht mehr aushalten konntest?«
+
+»Wenn ich es tat, so mußtest du als Mann so viel Vernunft besitzen, mir
+mein Vorhaben auszureden!«
+
+»Euch Weibern soll einmal einer etwas ausreden, was ihr Euch in den Kopf
+gesetzt habt! Jetzt trage ich natürlich allein die Schuld, Ihr Weiber
+seid ja nie an etwas schuld.«
+
+»Lästere nicht, Georg, raffe dich zusammen und überlege, wie uns jetzt
+zu helfen ist. Es muß ein Mittel geben!«
+
+»Hier ist es!« entgegnen Borgert und warf einen kleinen Revolver auf den
+Tisch.
+
+Ein Schauer durchzuckte die Frau und einen Augenblick lehnte sie wie
+ohnmächtig an der Wand, während die weitgeöffneten Augen entsetzt auf
+das kleine Ding gerichtet waren, dessen Metall im Widerschein des Feuers
+leuchtete.
+
+»Um Gottes Willen!« stieß sie atemlos hervor, »bist du von Sinnen?«
+
+»Im Gegenteil«, erwiderte Borgert kühl, »es ist der einzige Weg, der uns
+erlösen kann, und nicht zum ersten Male kommt mir der Gedanke. Ist es
+nicht besser, diesem Hungerdasein und Hundeleben ein kurzes Ende zu
+machen, als sich vielleicht noch Jahre lang herumzuquälen in Not und
+Unsicherheit?«
+
+Frau Leimann tat sinnend einen Schritt nach dem erlöschenden Feuer hin,
+wie wenn es sie anzöge, um mit seiner wohltuenden Wärme das erstarrte
+Blut in ihren Adern neu zu beleben. Ihr Blick hing wie gebannt auf einem
+vergilbten Stahlstich über dem Kaminsims, der das Festgelage eines alten
+englischen Königs darstellte. Wie geistesabwesend schaute sie mit
+gläsernen Augen auf das Bildnis, welches so recht die Freuden des Lebens
+zu malen schien. Sie merkte es nicht, als Borgert leise hinter sie trat.
+
+Ein Schuß krachte und mit einem Aufschrei brach die Frau zusammen. Die
+linke Hand griff wie Hilfe suchend in den Feuerschein, und die kleinen
+blauen Flämmchen spielten ersterbend um die weiße Frauenhand, aus der
+mit dem Blute das Leben entwich.
+
+Einen Augenblick starrte der Mörder mit entgeistertem Blick auf das
+leblose Weib, dann richtete er die Waffe gegen sich, und ein zweiter
+Schuß setzte seinem Leben ein Ziel: er büßte im Tode die vielfache
+Schuld, die ihm das Leben verleidet.
+
+Als man nach vier Tagen auf einem entlegenen Friedhof, weit draußen am
+Themsestrand, die irdischen Reste des jungen Paares einscharrte, wußte
+niemand, wem auf der weiten Welt es angehörte: niemand ahnte das Drama
+seines Lebens und die Sünden, die ihm der Tod verzieh.
+
+
+
+
+ Druck von W. Hoppe, Borsdorf-Leipzig.
+
+
+
+
+Transcriber's Notes:
+
+gesperrt ersetzt durch/replaced by _= ... =_
+antiqua ersetzt durch/replaced by __ ... __
+Inhaltsverzeichnis eingefügt/table of contents added.
+
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Aus einer kleinen Garnison, by Fritz Oswald Bilse
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44719 ***