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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44722 ***
+
+ +--------------------------------------------------------------------+
+ | Anmerkungen zur Transkription |
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+ | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ markiert. |
+ | Informationen zu Korrekturen befinden sich am Ende des Texts. |
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+ FERDINAND LASSALLE
+
+ EINE WÜRDIGUNG
+ DES LEHRERS UND
+ KÄMPFERS
+
+ VON
+
+ EDUARD BERNSTEIN
+
+
+ VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN
+ 1919
+
+
+ ALLE RECHTE VORBEHALTEN
+ COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN
+
+
+ _DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_
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+Inhalt.
+
+
+ Seite
+
+ Vorwort 5
+
+ Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7
+
+ Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede
+ und der Franz von Sickingen 27
+
+ Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66
+
+ Das System der erworbenen Rechte 114
+
+ Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden
+ und das Arbeiterprogramm 145
+
+ Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das
+ Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186
+
+ Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens.
+ Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften
+ mit Staatskredit 213
+
+ Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen
+ Arbeitervereins 235
+
+ Lassalle und Bismarck 263
+
+ Lassalles letzte Schritte und Tod 285
+
+ Schlußbetrachtung 293
+
+
+
+
+Vorwort.
+
+
+Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre
+1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung
+„Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften
+Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte,
+dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß
+aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer
+ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene
+Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe.
+
+Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte
+Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen
+Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik
+vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der
+Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an
+und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das
+Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu
+gestalten, als es früher vor uns stand.
+
+Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der
+Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer
+Begründer verehrt, _für_ die Partei, also namentlich auch für
+bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf
+zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863
+neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu
+bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das
+literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift
+beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der
+Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen
+behandeln. Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur
+Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des
+Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen
+und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer
+Führer der sozialistischen Demokratie.
+
+_Berlin-Schöneberg_, im September 1919.
+
+ _Ed. Bernstein._
+
+
+
+
+FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE
+
+
+
+
+Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung.
+
+
+Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete
+Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren
+gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und
+Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder
+Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man
+alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so
+ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an
+bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem
+Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so
+hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner
+früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige
+Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe
+seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren
+Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf.
+
+Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der
+kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz
+zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der
+schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum
+Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst
+in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen
+die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem
+Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum
+zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller
+Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die
+Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen
+jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange
+Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit
+diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße,
+vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das
+aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den
+zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der
+bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum
+ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen
+Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch
+soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen
+Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die
+hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen
+Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und
+Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger
+ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist
+jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es
+wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf
+lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück.
+
+Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18.
+und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche
+Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in
+diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des
+Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr
+außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und
+Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den
+vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen
+an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die
+bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom
+proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine
+antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende
+Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer
+Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente
+des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die
+Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in
+England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in
+Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber
+sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die
+zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation
+zurückbleiben.
+
+Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger
+Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die
+entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine
+Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des
+Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche
+Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet,
+bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren
+sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre
+Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des
+Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem
+Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und
+Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie
+kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen
+Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die
+Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute
+Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei
+zu kämpfen.
+
+Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in
+Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch
+unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen
+Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort
+lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits
+die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren
+in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit,
+der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in
+Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor,
+während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie
+bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die
+Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in
+Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere
+Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon
+meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig
+große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk.
+Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er
+sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen
+einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und
+die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben
+dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den
+Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der
+Proudhonismus.
+
+In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die
+Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals
+in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der
+Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische
+Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte.
+
+In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse
+der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern
+teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf
+verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief,
+wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine
+verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits
+die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese
+überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo
+immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte,
+so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten
+des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in
+Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf
+der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von
+ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das
+Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen
+unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten
+noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten
+ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich
+an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres
+gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen,
+halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm
+aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger
+eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse
+mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der
+radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender
+Bourgeoisphilantropen.
+
+Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten
+mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor
+sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der
+erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England
+die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley,
+Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter
+veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu
+suchen -- nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre
+„moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß”
+usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren
+Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch
+die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen
+besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern,
+soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben
+von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische
+Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben,
+trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser
+Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes
+„Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits
+verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden
+Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die
+sogenannte freidenkerische Propaganda werfen.
+
+In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen,
+welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne
+drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische
+Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß
+nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18.
+Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung
+einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen,
+es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine
+der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre
+Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle
+Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber
+diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie
+sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine
+bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der
+Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren
+treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre
+Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine
+Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen
+großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der
+Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten
+Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig
+scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)
+
+In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der
+Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren
+Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben
+ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in
+nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche
+Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich
+mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen
+harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher
+Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der
+selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur
+„Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen
+Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands
+in ermunterndster Weise zustatten kam.
+
+Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften
+weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt;
+diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt
+werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie
+in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große
+Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister
+der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie
+angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr
+ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden
+fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die
+Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt
+hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und
+Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von
+Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone
+des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern
+als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom
+Kapital.
+
+Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband
+Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die
+selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische
+Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem
+Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der
+Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die
+Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne
+zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten
+Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte
+sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte,
+bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche
+und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften.
+
+Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen
+Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch,
+als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen,
+die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der
+Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet,
+Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation
+dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der
+liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich
+erwärmen?
+
+Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben
+werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift
+Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von
+den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der
+Arbeiter erwartete:
+
+„Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die
+Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen
+den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen. Denn
+muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer
+zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen?
+Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren
+Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst
+riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen
+übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die
+geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden?
+-- Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den
+Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die
+Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen
+ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher
+gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals
+allgemein und mit Sicherheit erreicht ...
+
+„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den
+Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer
+hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen
+Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern,
+weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während
+also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen
+annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und
+mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen
+Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem
+Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer
+Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur
+erblicken ...
+
+„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter
+sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen
+Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es
+allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen,
+durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird,
+ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert
+ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser
+Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen
+geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als
+Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer
+Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der
+Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten
+anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis
+dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar
+nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das
+Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und
+Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann
+erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in
+tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar
+hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und
+das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.)
+
+Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862
+tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine
+Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen
+beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten
+zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen,
+aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften.
+
+Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848
+bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und
+nehmen jetzt deren Faden wieder auf.
+
+Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen
+empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der
+Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte.
+Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen
+Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage,
+während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am
+Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten
+Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren
+Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war,
+sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des
+„Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der
+Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte
+sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche
+Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide
+Regierungen vorderhand noch „solidarisch”.
+
+Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung,
+die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850
+die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die
+Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und
+Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall
+gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall
+schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue
+Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr
+Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am
+wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit
+drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den
+Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position
+eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern
+Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein
+Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen
+der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer
+Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen
+gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben
+würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um
+dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die
+„Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen
+Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen,
+sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu
+gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging
+auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder
+Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche
+Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der
+„Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands
+Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle
+zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen
+Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien
+angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach
+die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man
+nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem
+Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte
+Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch
+abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen
+sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und
+Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter
+von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis
+geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten
+hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die
+liberalen „Freiheiten” brauchten?
+
+Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus
+jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die
+kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die
+über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. Man
+war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer
+Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die
+Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte
+deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und
+daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe.
+Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen
+Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den
+Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die
+Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu
+Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man
+hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt.
+
+Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts
+braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der
+Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im
+heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der
+Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in
+Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber
+kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden,
+daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten
+Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die
+nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der
+kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen,
+überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten
+Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen
+Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch
+immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem
+Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden
+Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr
+Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das
+Budgetrecht der Volksvertretung.
+
+Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt
+noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf
+jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren
+Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der
+Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die
+ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen
+dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten
+kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig
+ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst
+Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von
+Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit
+kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch
+sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die
+Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine
+eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch
+wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als
+eine bloße Kreatur der liberalen Partei.
+
+Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig
+aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein
+Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen
+feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der
+preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem
+Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten,
+_das_ „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten
+-- nämlich die Klassenkämpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so
+begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung
+handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es
+nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise
+auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht
+zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten,
+als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das
+Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein
+zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen
+Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” -- d. h. hübsch draußen
+bleiben -- war in der Tat typisch für das Unvermögen der
+Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als
+den denkenden Spießbürger -- ihr Ebenbild, ihren Gott.
+
+So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger
+Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur
+Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge
+die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war.
+
+
+
+
+Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz
+von Sickingen.
+
+
+Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in
+seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und
+geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich,
+sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunächst
+innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt
+Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst,
+verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde -- kurz,
+nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher
+völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im
+Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon
+hatte. Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen
+Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige
+Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach.
+Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders
+zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte,
+daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse
+darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem
+Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden
+Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen
+ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei
+seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen.
+Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein.
+
+Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie
+Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der
+Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen
+Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur
+Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer
+Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die
+Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit
+seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht
+kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles
+unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen
+Handelns liefert.
+
+Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große,
+man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir
+sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder
+Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das
+Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen
+noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines
+eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie
+gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine
+innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß
+Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden
+hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum
+Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren. Die
+Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten,
+unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte
+ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen
+jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter
+Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so
+selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen
+trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in
+das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen
+Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung
+gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am
+1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein
+Tagebuch:
+
+„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer
+der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu
+achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben
+wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich
+würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu
+einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen
+nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der
+Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die
+Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den
+Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder
+dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die
+Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen
+Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”,
+knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die
+Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht
+erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur
+sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die
+Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein
+besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate
+später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die
+Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus,
+auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man
+mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß
+die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns
+helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es
+kommt auf den Spieler an.”
+
+Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert,
+aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen
+Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle
+durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr
+angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und
+Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die
+Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer
+Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen,
+folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich
+weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische
+Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des
+Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte,
+Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand
+ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte
+betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst
+geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich
+bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat
+sein.”
+
+Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den
+sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten
+Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und
+von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium
+vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle
+von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig
+geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen,
+Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die
+Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für
+den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen
+Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater
+nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er -- nach seiner
+Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der
+Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer
+Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem
+mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je
+radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der
+Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule
+bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn
+eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz
+werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne. „Ich traue auf den
+Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den
+Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als
+mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als
+mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die
+Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von
+Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen,
+als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.”
+„Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu
+dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich
+abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß,
+als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen”
+Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin
+oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute
+sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren
+„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht
+einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium
+vorbereite.
+
+Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so
+weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie,
+geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer
+größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen
+Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand
+der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen
+Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz
+richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt,
+ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die
+Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte,
+reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen
+Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann
+durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich
+das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können.
+Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat
+ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen
+tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die
+intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf
+der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich
+zur Ursache seines jähen Endes geworden.
+
+Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später
+nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um
+die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche,
+kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen
+Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843
+schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit
+Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt
+wurde -- Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen
+Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im
+Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt
+--, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel
+mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in
+mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste
+leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen
+Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt.
+Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles
+Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat.
+
+Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die
+Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren
+vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten
+Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen
+ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens
+zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die
+Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen
+aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht
+mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen,
+während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer
+Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen
+Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit
+einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem
+Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines
+übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser
+Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den
+folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der
+Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist
+aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches
+Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß
+übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der
+vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus
+anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen
+den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um
+eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und
+Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt
+hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an.
+
+Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der
+hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren
+mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf
+hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche
+Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur
+die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen,
+außergewöhnlicher Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung der
+gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen Mittel des
+unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im
+ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewöhnlicher
+Genußmensch, scheute vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen,
+und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu
+Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die
+Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen
+von dem Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder herangeschleppt
+wurde, von der Qualität der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen.
+
+Und von den Rückwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im
+Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle nie ganz freimachen können. Wir
+meinen das nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine
+späteren Liebesaffären, sondern mit Bezug auf seine von nun an
+wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen und zu
+benutzen, das ihm für seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir
+meinen den Verlust jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung
+selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm
+vertretenen Grundsätzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an
+wiederholt und am stärksten in der tragischen Schlußepisode seines
+Lebens sich offenbarende Einbuße an gutem Geschmack und moralischem
+Unterscheidungsvermögen. Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich
+in den Hatzfeldtschen Prozeß gestürzt, -- er selbst gebraucht in der
+Kassettenrede das Bild des Schwimmers: „Welcher Mensch, der ein starker
+Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes
+fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, für einen guten
+Schwimmer hielt ich mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den
+Strom” -- gewiß, aber leider war es ein recht trüber Strom, in den er
+sich gestürzt, ein Strom, der sich in eine große Pfütze verlief, und als
+Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft,
+mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen
+besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes,
+drängten sie auch wiederholt siegreich zurück, aber schließlich ist er
+ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen,
+aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur
+gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben,
+sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis
+einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklären[1].
+
+Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst noch der Rolle zu
+gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat.
+
+Beim Ausbruch der März-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen
+des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich fast
+zur politischen Untätigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der
+Prozeß wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen ihn statt und
+er hatte alle Hände voll zu tun, sich auf diesen zu rüsten. Erst als
+er nach siebentägiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann
+er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit
+direkten Anteil zu nehmen.
+
+Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte,
+stand natürlich als Republikaner und Sozialist auf der äußersten Linken
+der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx
+redigierte „Neue Rheinische Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine
+Zeitlang dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten an, der in Köln
+seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in
+nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mündlich und
+schriftlich mit dem erwähnten Kreisausschuß, sandte wiederholt
+Mitteilungen und Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” und
+erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. So
+bildete sich allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr
+zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch später noch, als Marx im
+Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde.
+Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf
+einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes
+herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhältnis zwischen
+den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt.
+Was sonst noch einer über die politische Kampfgenossenschaft
+hinausgehenden Intimität im Wege stand, soll später erörtert werden.
+
+Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenüber nahm
+Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der „Neuen
+Rheinischen Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich
+ihr forderte er, als die preußische Regierung im November 1848 den
+Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst
+und den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, und die
+Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums
+in Anklagezustand, sowie mit der Erklärung geantwortet hatte, daß
+dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur
+Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung
+auf. Gleich dem Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch
+Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die königliche
+Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen
+freigesprochen, aber die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion
+stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur
+Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben,
+um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat
+verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre
+Berufsrichter -- Lassalle schließlich auch zu sechs Monaten
+Gefängnis.
+
+Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage ist unter dem Titel
+„Assisen-Rede” im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich
+gehalten worden, und alles, was in verschiedenen älteren Biographien
+über den „tiefen” Eindruck erzählt wird, den sie auf die Geschworenen
+und das Publikum gemacht habe, gehört daher in das Bereich der Fabel.
+Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben,
+und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt
+worden waren, beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit
+auszuschließen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklärung, die
+Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja
+höchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der
+Bestechung veranlaßt worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht
+erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich zu verteidigen,
+wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen.
+
+Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” bleibt jedenfalls ein
+interessantes Dokument für das Studium der politischen Entwicklung
+Lassalles. Er steht in ihr fast durchgängig auf dem von Karl Marx drei
+Monate vorher in dessen Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen
+Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste,
+ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und
+Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen Ausschmückung, er geht
+direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrängter
+Sprache, Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik seinen
+Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik
+der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe
+ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen
+politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von
+Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in -- oft sehr schönen -- Bildern
+und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen
+Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den
+Geschworenen, sondern zu den Tribünen, zu einer imaginären
+Volksversammlung, und schließt, nach Verkündigung einer Rache, die „so
+vollständig” sein wird wie „die Schmach, die man dem Volke antut”,
+mit einer Rezitation aus Tell.
+
+Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnäckigkeit
+Vergünstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden
+pflegten -- so erhielt er, was er später selbst für ungesetzlich
+erklärte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu
+plädieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Tätigkeit
+wieder fast vollständig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in
+Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus für
+politische Freunde und versammelte längere Zeit einen Kreis
+vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vorträge hielt.
+Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Prozeß der
+Friedensschluß. Die Gräfin erhielt ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt
+und Lassalle eine Rente von jährlich siebentausend Talern
+sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen
+Wünschen einzurichten.
+
+Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in Düsseldorf bei und arbeitete hier
+an seinem „Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen,
+u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese
+Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der
+das politische Leben erloschen war, aussöhnen. Es verlangte ihn nach
+einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder
+erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten, nach einem
+größeren Wirkungskreis. So erwirkt er sich denn 1857 durch die
+Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preußen von der
+Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu
+dürfen.
+
+Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle
+hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die „schmachvolle und
+unerträgliche Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die „über Preußen
+hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: „Warum zu soviel Gewalt noch
+soviel Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen wir nichts,
+nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig
+auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der
+Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam
+er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der
+Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim
+zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr
+rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt,
+daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative „Augsburger
+Allgemeine Zeitung” schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die
+wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, für sein gutes
+Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewußtsein der
+Festigkeit seines politischen Wollens für reine Formsache, daß er seine
+betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich
+da um verschiedene Anträge, der erste 1855 an den Berliner
+Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den
+damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darüber „Dokumente des
+Sozialismus”, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten
+machte er Karl Marx gegenüber kein Geheimnis.
+
+Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle durch Verbindungen der Gräfin
+Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, daß sich
+in den oberen Regionen Preußens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit
+diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle
+bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach
+London gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. Februar 1854 den
+Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage vorher vom Berliner
+Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustände im
+Berliner Kabinett -- der König und fast alle Minister für Rußland, nur
+Manteuffel und der Prinz von Preußen für England -- und die für gewisse
+Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen Maßregeln, worauf es heißt:
+„Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als
+wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier
+Wochen später machte er wieder allerhand Mitteilungen über beabsichtigte
+Schritte des Kabinetts, gestützt auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner
+‚offiziellen’, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle”. Am 20. Mai
+1854 klagt er, daß seine „diplomatische Quelle” eine weite Reise
+angetreten habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man
+kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit
+wieder verlieren, ist überaus ärgerlich.” Aber er hat immer noch
+Nebenquellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten,
+und ist u. a. „zeitig vorher von Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt
+worden.
+
+Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre
+Berichte mögen auch Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige
+Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit
+vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hüter der
+monarchischen Idee sie noch nicht für genügend erachteten, des Königs
+Regierungsunfähigkeit auszusprechen, so wußte man doch in allen
+unterrichteten Kreisen, daß der Regierungsantritt des Prinzen von
+Preußen nur noch eine Frage von Monaten sei.
+
+In Berlin vollendete Lassalle zunächst den Heraklit, der Ende 1857 im
+Verlage von Franz Duncker erschien.
+
+Über dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk
+gehen die Meinungen der Sachverständigen auseinander. Die einen stellen
+es als epochemachend hin, die andern behaupten, daß es in der Hauptsache
+nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß
+Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem Standpunkt steht -- die
+Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens
+als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die
+Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende
+Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, daß sie eine
+sehr tüchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der
+wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen.
+
+Für die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges
+ist sein Werk über Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht bloß
+darin von Bedeutung, daß es Lassalle als eben entschiedenen Anhänger
+Hegels zeigt. Man kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker G.
+Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer
+Ausschmückung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über
+Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit über Heraklit als
+Schlüssel zum Verständnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es
+gilt dies namentlich von Lassalles großem Kultus des Staatsgedankens --
+auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf
+Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer
+Hinsicht:
+
+„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in den einen Gedanken
+zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist:
+‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich griechisch und modern;
+aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen
+Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Übereinstimmung
+mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen
+Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation
+des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung
+im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung
+gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der
+Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” (Vgl. a. a. O. S. 40.)
+
+Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei
+Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie
+und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des „formellen
+Willens der Subjekte” darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man
+„nicht ungestraft in seinem Gemüte hegt”, und der in der Welt der
+Prinzipien das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der „rein
+äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten
+Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in
+und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und
+schwieligen Händen sprach”.
+
+Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich hat Lassalles
+althegelsche Staatsidee ihn später im Kampf gegen den Liberalismus weit
+über das Ziel hinausschießen lassen.
+
+Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes:
+
+„Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und
+Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so
+leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und
+dem Lobe anderer. Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die
+größeren Schicksale erlangen das größere Los.’ Und er hat gesagt, was
+das rechte Licht auf diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die sich
+weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rat
+fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige nur gut, die
+Besten aber dem Ruhme nachfolgen. ‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen
+die Besten eins statt allem, den immerwährenden Ruhm der
+Sterblichen.’ Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größere Los,
+welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre
+war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein
+durch Reflexion und Philosophie begründetes. ‚Der Ruhm’, sagt
+Lassalle, ‚ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das
+Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins
+überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in
+ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz
+selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit
+des Menschen”, und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der Grund ist,
+weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und
+über alle kleinen und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das
+der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann
+‚Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel’, so ist es auch der
+Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines
+spekulativen Prinzips erblickte.’”
+
+Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst
+Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz zu der
+Heraklitischen Verachtung der Menge war er für den Beifall durchaus
+nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr
+Höflichkeitsform war, unter Umständen mit fast naiver Genugtuung für die
+Sache selbst auf. Die Vorliebe für das Pathos, die sich bei Lassalle in
+so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur
+Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz
+freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß er aus
+dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe für den Lärm und
+Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je
+einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt
+sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivetät etwas
+Versöhnendes hat. Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift
+erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als
+volkserwählter Präsident der Republik „von sechs Schimmeln gezogen”
+seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder
+an eine Übertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß
+Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so
+fester in dem Herzen seiner Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die
+bekannte schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie von Sontzew beweist,
+daß es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei
+einer müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte,
+sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte,
+dessen Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er nennt sich --
+im Jahre 1860 -- „das Haupt einer Partei”, in bezug auf das sich
+„fast unsere ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren eine
+-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle „achtet, liebt,
+sogar nicht selten verehrt”, für die er „ein Mann von größtem Genie
+und von einem fast übermenschlichen Charakter ist, von dem sie die
+größten Taten erwarten”. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie
+und der größte Teil der Bourgeoisie -- fürchtet ihn „mehr als irgend
+jemand anders” und haßt ihn daher „unbeschreiblich”. Werde die
+Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew
+nicht verzeihen, daß sie einen solchen Menschen heiratete, so werden
+auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß ein
+solcher Mensch sie heiratete, „sie eines Glückes halber beneiden, das
+ihre Verdienste übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen
+nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse Ereignisse eintreten,
+eine Flut von Bewegung, Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen
+würde, wenn Sie mein Weib werden.”
+
+So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, so wenig sie
+der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer
+sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle
+vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen Liberalen und Demokraten
+auf bestem Fuße stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht hatte,
+deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, die in Regierungskreisen
+gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne
+-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die
+in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand
+und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein führte. Die
+Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Pläne. Jedes Wort der
+Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafür hielt, war
+für ihn Bestätigung seiner Mission, und nicht selten nahm er
+Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es ist merkwürdig, welcher
+Widersprüche die menschliche Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den
+Berichten seiner näheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht,
+mit schmeichelhaften Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren
+allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn
+selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht für echtes Gold.
+
+So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst
+verwachsen, daß, als er später wirklich an der Spitze einer Partei
+stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen
+Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten
+vermochte und danach behandelte. Man mißverstehe uns nicht. Es wäre
+absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle den Allgemeinen deutschen
+Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß der
+Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war
+überzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre
+nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr
+seine Persönlichkeit -- ich sage ausdrücklich nicht sein Leben,
+aufzuopfern.
+
+Soviel an dieser Stelle hierüber.
+
+Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem
+der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf
+entworfenes historisches Drama und ließ es, nachdem eine anonym
+eingereichte Bühnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele
+abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen.
+
+Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk verfehlt war, hat
+Lassalle später selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafür
+den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht
+das Drama, trotz einzelner höchst wirkungsvoller Szenen und der
+gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die
+Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es
+werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft
+von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, daß ein
+Freund Lassalles, den dieser, während er am „Franz von Sickingen”
+arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter metrischer
+Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das
+Stück lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, daß
+ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. Denn die
+Lassallesche Prosa hat wirklich eine Reihe großer Vorzüge, und selbst
+die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische zu verfallen,
+hätte in einem Drama wie der Sickingen nichts verschlagen. Aber
+Lassalle ließ sich nicht von seiner Idee abbringen, daß die Versform
+für das Drama unentbehrlich sei, und so stolpern nicht nur seine
+Ritter und Helden auf oft recht geschraubten fünffüßigen Jamben
+einher, selbst die aufständischen Bauern bedienen sich der Stelzen
+des Blankverses. Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten
+Losungsworten:
+
+ „Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?”
+ „Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,”
+
+die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.
+
+Indes diese technischen Fragen treten für uns zurück vor der Frage nach
+Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von
+Sickingen” über das historische Drama, wie es Schiller und Goethe
+geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen
+Kämpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden
+liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, während die
+eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen
+und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse
+der Zeiten und Völker zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, so
+daß sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die
+vielmehr nur die Träger und Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze
+sind, sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke der Nationen
+selbst -- „Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten
+allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit
+der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu
+ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es
+möglich,” meint Lassalle, „den Individuen aus der Bestimmtheit der
+Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus
+markige und feste, selbst derbe und realistische Individualität zu
+geben.” (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit
+Lassalle die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit sie
+überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die großen
+Kämpfe der Menschheit und der Völker so in Individuen verkörpern
+lassen, daß nicht das eine oder das andere, die Größe und umfassende
+Bedeutung jener Kämpfe oder die lebendige Persönlichkeit der
+Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir
+hier unerörtert lassen können. Es genügt, daß Lassalle bei der
+Durchführung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun
+zum Stoff des Dramas selbst.
+
+Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens
+gegen die deutschen Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund
+und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist
+eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in
+Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische oder der
+theoretische Repräsentant des niederen deutschen Adels.
+Merkwürdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem
+letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. „Lesen Sie mein
+Trauerspiel,” schreibt er an Sophie von Sontzew. „Alles, was ich Ihnen
+hier sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte
+alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen.
+Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies,
+da sein Schicksal und das meinige einander vollständig gleich und von
+überraschender Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst Lassalle schwer
+geworden sein, diese überraschende Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich
+um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte in Berlin ein
+luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen aller Kreise der besser
+situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt
+eines ähnlichen Hasses wie der fränkische Ritter, der Urheber der
+leidenschaftlichen Streitschriften wider die römische Pfaffenherrschaft.
+Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle
+und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen,
+was tatsächlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei
+seinem Werke geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem
+Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen über sich selbst
+ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns,
+wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund
+legt, erhalten dadurch für das Verständnis des Lassalleschen
+Ideenkreises eine besondere Bedeutung.
+
+Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des
+Ökolampadius gegen den geplanten Aufstand:
+
+ „Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.
+ Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,”
+
+ein echt Hegelscher Satz,
+
+ „Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!”
+
+Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung der Liebeslehre durch das
+Schwert” gesprochen:
+
+ „Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!
+ Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist
+ Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,
+ Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.
+ Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,
+ Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,
+ Den wir noch heut den Großen staunend nennen.
+ Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt,
+ Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab!
+ Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
+ Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht
+ Und Wissenschaft und Künste uns geboren.
+ Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!
+ So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet
+ Das Herrliche, das die Geschichte sah,
+ Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen,
+ Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!”
+
+Es liegt in den Sätzen „doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt
+ewig die Gewalt”, und „daß alles Große, was sich jemals wird
+vollbringen”, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde,
+unzweifelhaft viel Übertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, daß das
+für die Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene Wort”
+sei, daß, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein muß, für sie
+mit dem Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche,
+wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr
+darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr
+zeitgemäß, und nicht nur für die damalige Epoche, sind auch die
+Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen im letzten Akt
+zurufen läßt:
+
+ „O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht
+ Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten
+ In großen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_
+ Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,
+ Wo im Gewühl die Völker dich nur an
+ Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen;
+ Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle
+ Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe.
+ Dann probst du aus im ungeheuren Streit
+ Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,
+ Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!”
+
+Auch der Ausspruch Sickingens:
+
+ „Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.
+ Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,
+ Daß eines sich stets ändert mit dem andern,
+ Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”.
+
+ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider
+hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen
+Laufbahn unbeachtet gelassen.
+
+Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das
+Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz.
+
+Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind
+beide Vertreter des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit
+der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist
+diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das
+notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur
+beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz
+ihre Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das Material zu
+einer echten Tragödie gegeben, der vergebliche Kampf markiger
+Persönlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit.
+Merkwürdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen
+Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so
+bedeutungsvoll sie doch gerade für die -- wir wollen nicht einmal sagen,
+sozialistische, sondern überhaupt die moderne wissenschaftliche
+Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche
+Unternehmen an tausend Zufälligkeiten -- Unüberlegtheit, Mißgriffe in
+den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit
+den Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache”, was
+unwillkürlich an den recht unhistorischen Schluß in Götz von
+Berlichingen erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß!
+Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!” Begreift man aber, warum
+der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des
+untergehenden Rittertums zum Helden wählen konnte, so ist es schon
+schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, zu einer Zeit,
+wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur
+Beurteilung der Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, ein
+Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin
+als die Repräsentanten „eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt,
+auf dessen Resultaten”, wie er sich in der Vorrede ausdrückt, „unsere
+ganze Wirklichkeit lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden
+Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen Prozeß noch
+einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch
+die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu
+erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschloß ich mich zu
+diesem Drama.”
+
+Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache
+des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und für die
+Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des
+untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der
+aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung
+der Verhältnisse in Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren
+Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrängt
+und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen
+Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der
+Gründung des neudeutschen Reiches daran erinnert, daß er einmal eine so
+anständige Persönlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat --
+den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger Jahren
+und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus Hutten und
+Sickingen als Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung und
+ignorierte ihre Klassenbestrebungen.
+
+Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten
+und Franz von Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen Freiheit
+willen gegen den römischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen
+Sache gegen die Einzelfürsten. „Was wir wollen,” sagt Sickingen im
+Zwiegespräch mit Hutten, --
+
+ „das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland,
+ Zertrümmerung alles Pfaffenregiments,
+ Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen,
+ Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,
+ Wiedergeburt, zeitmäßige der alten,
+ Der urgermanischen gemeinen Freiheit,
+ Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft
+ Und usurpierten Zwischenregiments,
+ Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang
+ Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,
+ Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze
+ Des großen Reichs.”
+
+Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.”
+
+Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von Sickingen” als ein
+Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg für die
+Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorläufig ideale --
+Stellungnahme zu den politischen Strömungen der Zeit vollzogen. Es
+sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine
+Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen bürgerlichen
+Demokratie, auch gegenüber einer konkreten Frage des Tages offenbaren
+sollte[3].
+
+Der „Franz von Sickingen” war im Winter 1857/58 vollendet worden.
+Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und
+begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein
+Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in
+die er sich bei jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem
+Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung zu den großen
+Kämpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und
+Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich
+von Huttens „berauscht”, als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen
+elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf
+Huttens -- wäre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne
+ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu denken, den Plan des
+Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst
+fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” über ihn gekommen.
+Man spürt es dem Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut
+geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich,
+dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch über die ganze
+Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner der deutschen Dichter
+damals besser gemacht als Lassalle.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [1] Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses
+ in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im
+ Jahre 1855 eine von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach
+ London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und
+ Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx an
+ Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten.
+
+ [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild.
+ Berlin 1877.
+
+ [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich
+ durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachlaß von
+ Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die
+ seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W.
+ Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels
+ adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom
+ „Franz von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im
+ Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels
+ geschickt, worauf ihm diese, die damals noch örtlich getrennt lebten,
+ eingehend ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte Brief
+ Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in
+ einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure
+ beiderseitigen Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der
+ Hauptsache dieselben Punkte berühren”.
+
+ Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß die Kritik von
+ Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen
+ kritisieren zu müssen glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,”
+ schreibt Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch zu
+ abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in nuce dasselbe gesagt,
+ was ich oben ausgeführt habe. Der Lassallesche Sickingen ist nicht der
+ streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts,
+ er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte Liberale des neunzehnten
+ Jahrhunderts, das heißt der liberale Ideologe. Seine Reden fallen
+ gewöhnlich vollständig aus der Epoche, in der sie gehalten sein
+ sollen, heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle an
+ einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung ‚zu sehr
+ zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben habe’. Du (Marx)
+ begründest dies so: Ich hätte Sickingen und Hutten daran untergehen
+ lassen müssen, daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer
+ Einbildung revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres
+ Interesse vertraten. ‚Die adligen Repräsentanten der Revolution’,
+ sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern von Einheit und Freiheit immer
+ noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert
+ -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es
+ bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser,
+ und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz
+ bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in
+ viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten
+ Form sprechen lassen können, während jetzt in der That, außer der
+ religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt’.
+ ‚Bist Du nicht selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein
+ Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die
+ lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche zu
+ stellen?’”
+
+ Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen
+ fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende
+ Ausführungen beziehen, hier also unverständlich wären. Im wesentlichen
+ verteidigt sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die
+ ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im historischen
+ Sickingen vorhanden, damit genügend zum Ausdruck gebracht zu haben,
+ daß Sickingen, statt sich an die ganze Nation zu wenden, statt alle
+ revolutionären Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und sich an
+ ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen ritterlichen beginnt
+ und fortführt, bis er an der Beschränktheit seiner ritterlichen
+ Mittel zugrunde geht. Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil
+ er nicht weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich die
+ revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung aber habe er in
+ der einen Szene des Stückes, in der er die Bauern selbst auf die
+ Bühne bringe, und in den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden
+ Balthasars usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in
+ Wirklichkeit innegewohnt habe und noch darüber hinaus. Geschichtlich
+ sei die Bauernbewegung ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels.
+
+ Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in
+ verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, so u. a. im
+ „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Daß
+ die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit
+ zurückgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären,
+ die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs,
+ wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionäre in ihren
+ Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das übersieht
+ Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfällt,
+ die Geschichte aus den „Ideen” abzuleiten, so vollständig, daß er
+ zu der Marxschen Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem
+ Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen
+ lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, verstärkt durch ein
+ Ausrufungszeichen, macht.
+
+ Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine Berechtigung,
+ wenn im Stück auch nur die leiseste Andeutung gegeben wäre, daß
+ Sickingens Beschränkung auf seine ritterlichen Mittel seiner
+ ritterlichen Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht der
+ Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer Fehler behandelt.
+ Das reicht aus für die tragische Idee des Dramas, aber nicht für
+ die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an dem das
+ Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen ist.
+
+
+
+
+Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg.
+
+
+Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” als Buchdrama. Gerade
+als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die
+Entwicklung der Dinge in Deutschland eine große Rückwirkung ausüben
+sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und
+Cavour in Plombières verabredete französisch-sardinische Feldzug
+behufs Losreißung der Lombardei von Österreich und der Beseitigung
+der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien.
+
+Österreich gehörte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich
+natürlich die Frage, welche Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem
+Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des übrigen Deutschland, sich
+gegenüber Frankreich mit Österreich zu identifizieren oder nicht?
+
+Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, daß der Krieg einen
+zwieschlächtigen Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener war
+er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und
+Befreiung Italiens einen Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten
+Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die
+Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu stärken und
+die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel stand auf
+jeden Fall fest. Außerdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß
+Napoleon sich von seinem Verbündeten, dem König von Sardinien, für seine
+Bundesgenossenschaft einen hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen
+(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die „Einigung” Italiens
+in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den
+Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem
+Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer
+Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombières zwischen
+Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloße
+dynastische Intrige. Soviel war sicher, daß, wer diesen Krieg
+unterstützte, zunächst Napoleon III. und dessen Pläne unterstützte.
+
+Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. Gegen Österreich allein
+konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die
+übrigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preußen Österreich
+zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er denn
+durch seine Agenten und Geschäftsträger bei den deutschen Regierungen,
+in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteiführern mit allen
+Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg als eine Sache behandelt werde,
+die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für ein
+Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich in Italien ausübe,
+aufrechtzuerhalten, überhaupt einem so urreaktionären Staat wie
+Österreich Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene Feind der
+Freiheit der Völker; werde Österreich zertrümmert, so würde auch für
+Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen.
+
+Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen Federn, daß,
+wenn die Napoleonischen Pläne im Süden sich verwirklichten, der Rhein in
+direkte Gefahr geriete. Ihm würde der nächste Angriff gelten. Wer das
+linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen wolle,
+müsse dazu beitragen, daß Österreich seine militärischen Positionen in
+Oberitalien unbeeinträchtigt erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt
+werden.
+
+Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen
+wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei
+(Einigung Deutschlands unter Preußens Spitze, unter Hinauswerfung
+Österreichs aus dem deutschen Bund) überein, war direkt auf es
+zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine große Anzahl kleindeutscher
+Politiker nicht dazu entschließen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache
+Österreichs von der des übrigen Deutschland zu trennen. Dies erschien
+ihnen um so weniger zulässig, als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon
+den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg
+führte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im
+Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin,
+jetzt käme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons
+abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne man weiter reden. Bis
+es geschehen, müßten sich aber die Italiener gefallen lassen, daß man
+sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kämpften, einfach
+als dessen Verbündete behandelte.
+
+Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom kleindeutschen Standpunkt
+aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der
+vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. Wenn
+Österreich, und namentlich dessen außerdeutsche Besitzungen, um so eher
+je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum
+nicht mit Vergnügen ein Ereignis begrüßen, das sich als ein Schritt zur
+Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon
+erklärt, daß er nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? Warum
+also Österreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen
+werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch für die gerechteste
+Sache von der Welt kämpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er
+angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein Angriff auf
+ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit Österreichs
+und die Beschäftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der
+Einigung Deutschlands unter Preußens Führung auch durch positive
+Maßnahmen einen weiteren Schritt zu fördern?
+
+Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus
+konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859
+erschienenen Schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens”
+das Wort. Mit großer Energie bekämpft er die in den beiden Berliner
+Organen des norddeutschen Liberalismus, der „National-Zeitung” und der
+„Volks-Zeitung”, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles
+nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von
+Bonaparte ausgehenden Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich als
+Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, daß Preußen den
+Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine
+deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte
+Europas im Süden nach dem Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe
+im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie,
+seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen,
+„während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht,
+für die Erhöhung Preußens in der Deutschen Achtung zu sorgen”.
+Und, fügt Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung dessen
+gewiß sein. In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des
+deutschen Volks als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie
+selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden
+werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende
+Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig
+Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und
+zittert.”
+
+Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre zu einem Advokaten
+der „deutschen” Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt
+sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte nationale Programm
+als solches eine große Ähnlichkeit mit dem des im Sommer 1859
+gegründeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der
+Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen
+Einheit unter preußischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all
+seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark
+im Preußentum stecken geblieben. Nicht daß er bornierter preußischer
+Partikularist gewesen wäre -- wir werden gleich sehen, wie weit er
+davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf
+die auswärtige Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen
+durch die Brille des preußischen Demokraten an, sein Haß gegen
+Österreich war in dieser Hinsicht ebenso übertrieben, wie der
+Preußenhaß vieler süddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten.
+Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa
+aufzuweisen hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, neben
+Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte”; Österreich ist
+„ein reaktionäres Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller
+Freiheitsideen”; „der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt,
+zerstückt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut
+werden”, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen
+könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, und „wenn die Rechnung
+sonst ziemlich gleichstehen möchte -- das römische Konkordat hat
+Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des Klerus nicht
+geschlossen”. Selbst Rußland kommt noch besser weg, als Österreich.
+„Rußland ist ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von seiner
+despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit
+ihren despotischen Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier
+die Entschuldigung, daß sie nationales Element ist.” Ganz anders aber
+mit Österreich. „Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die
+Regierung das barbarische Prinzip, künstlich und gewaltsam seine
+Kulturvölker unter dasselbe beugend.”
+
+In dieser einseitigen und relativ -- d. h. wenn man die übrigen Staaten
+in Vergleich zieht -- damals auch übertriebenen Schwarzmalerei
+Österreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die
+Lassallesche Broschüre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor
+ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu
+ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie
+Hand zu lassen und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. Es war
+dies die Schrift Karl Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”,
+ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder
+indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich
+würde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange
+mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus über
+jeden Verdacht der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern erhaben,
+daß die Möglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der
+mir aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein falsches Licht auf
+Lassalle zu werfen. Zum Überfluß will ich aber noch einen Passus aus der
+Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die
+den Beweis lieferte, daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse
+schrieb und agitierte, und deren Beweisführung neun Jahre später durch
+die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde -- ein
+Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil er zweifelsohne gerade
+auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt:
+
+ „Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten,
+ die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein
+ Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und
+ Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten
+ aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des
+ italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenüber
+ auszuführen habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen
+ Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden
+ einer späteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es
+ in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu
+ tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der
+ Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat
+ außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten,
+ die er wirklich vertrat.” (K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.)
+
+Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, daß dort, wo Vogt mit
+Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der
+Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was übrigens Lassalle nicht
+verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. Januar 1861 zu
+erklären, daß er nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx'
+Überzeugung, daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, „ganz
+gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, der innere Beweis dafür[4]
+sei „mit einer immensen Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder
+Hinsicht ein meisterhaftes Ding”.
+
+Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst instruktives Buch zum
+Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet
+enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen
+Dutzend Abhandlungen ausreichen würde.
+
+Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse.
+
+Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so
+lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein großer Teil davon
+handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenüber
+einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch
+erhalten sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, ist bis
+jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen
+bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die
+Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre
+Begründung, da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich, meist darauf
+beschränkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwände gegen
+dieselbe möglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des
+weiteren dargelegt zu werden, warum in einer für Sozialisten
+geschriebenen Abhandlung über Lassalle nicht nur dessen persönliche
+Beziehung zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus,
+sondern auch sein Verhältnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer
+Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse
+ist.
+
+Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis lange Zeit seine
+fertige Schablone. Für die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete
+sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht
+international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren
+vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die
+Revolution gekümmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig.
+
+Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene
+Gegenüberstellung aufgegeben werden müssen.
+
+Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, war in demselben
+Verlage, wie später diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe Thema
+behandelte. Sie war betitelt: „Po und Rhein.” Der Verfasser, der sich
+ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift,
+suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß die von den Organen der
+österreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe zu
+seiner Verteidigung im Südwesten der italienischen Provinzen, falsch
+sei, daß auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition
+in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhängiges
+Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund,
+mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig genug Anlaß haben werde,
+Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen.
+Oberitalien sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens im Kriege
+nutzen, im Frieden immer nur schaden könne. Und auch der militärische
+Vorteil im Kriege würde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25
+Millionen Italienern. Aber, führte der Verfasser alsdann aus, die Frage
+um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und
+Italien, und nicht eine zwischen Österreich und Louis Napoleon.
+Gegenüber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in
+anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte,
+handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur
+gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn
+man sie nicht mehr halten kann ... „Werden wir angegriffen, so wehren
+wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit
+auftreten wolle, so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern
+Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber
+die Karte von Europa revidiert werden, „so haben wir Deutsche das
+Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe, und daß
+man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle
+Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber
+ist,” heißt es schließlich, „daß wir Deutsche einen ganz
+ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio,
+die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten
+gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und außen stark
+machen kann.”
+
+Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer als -- Friedrich Engels.
+Unnütz zu sagen, daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx
+veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle
+hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung
+ihres Inhalts an die -- damals noch unabhängige -- Wiener „Presse”
+geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. Er kannte also ihren
+Inhalt ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” schrieb,
+polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekämpft, daß, da
+der Krieg durch Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen
+Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit
+einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als
+solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt,
+Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert, und zwar in dem
+Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt und seine Studien”[5].
+
+Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen
+übereinstimmten, dafür nur ein Beispiel. Österreichischerseits war auf
+die Verträge von 1815 hingewiesen worden, durch welche Österreich der
+Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun:
+
+ Vogt:
+
+ „Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen
+ Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in
+ frecher Weise die Verträge gebrochen hat. Von allen andern sind sie
+ bis jetzt respektiert worden, nur Österreich hat sie gebrochen,
+ indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand
+ gegen die durch diese Verträge garantirte Republik Krakau
+ ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres
+ einverleibte.” („Studien”, S. 58.)
+
+ Lassalle:
+
+ „Die Verträge von 1815 können nicht einmal mehr diplomatisch
+ ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung
+ Belgiens, mit Füßen getreten und zerrissen gerade von Österreich
+ durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die
+ europäischen Kabinette zu protestieren nicht unterließen, haben sie
+ jede rechtliche Gültigkeit für jedes Mitglied der europäischen
+ Staatenfamilie verloren.” („Der Ital. Krieg usw.” Ges. Schriften
+ Bd. I S. 43.)
+
+Hören wir nun Marx gegen Vogt:
+
+„Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des
+Königreich Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus
+‚Achtung’ vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder
+die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit
+moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder
+besetzt von Russen, Österreichern und Preußen, wurde völlig als
+erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter
+Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und
+Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen,
+Österreicher und Preußen abermals Krakau, um es Österreich
+einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen
+Mächte, und die österreichische Konfiskation von 1846 war nur das
+letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr Vogt”, S.
+73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet
+„Palmerston and Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston seit
+1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes
+das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert,
+wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, daß Vogt
+auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von
+bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb.
+In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen
+bonapartistischen Pamphlete, „La vraie question, France, -- Italie --
+Autriche”, hatte es wörtlich geheißen:
+
+„Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische Regierung die
+Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben
+verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit
+diese Verträge garantierten?”
+
+Vogt hatte in seiner Manier überall noch einen Extratrumpf
+aufgesetzt. Phrasen wie „die einzige Regierung”, „in frecher
+Weise”, „frevelnde Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am
+Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die „politische Nemesis”
+gegen Österreich anruft.
+
+Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, das Vogtsche Machwerk
+noch nicht zu Gesicht bekommen, aber daß seine Schrift durch die von
+Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle in die Presse des In-
+und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt
+nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe ähnlicher an die Seite
+gesetzt werden können, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen
+Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß die Politik ihres Heros
+sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so übersahen sie dabei nur
+die eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen Regierung
+vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in
+den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener
+Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen ließ, um sie für seine damalige
+Politik zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in dieser Schrift,
+die später von bürgerlichen Schriftstellern als ungewöhnliche
+Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts
+„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten
+Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor
+der preußischen Heeresreform, daß, wenn Preußen einen deutschen
+Bürgerkrieg für die Herstellung einer einheitlichen deutschen
+Zentralgewalt ins Werk setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen
+kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” („Studien”
+S. 155.) Des weiteren wußte Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich
+im Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” klar
+geworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und
+der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur
+Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Österreichs zum Schwerte
+greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder
+für Österreich verhindern wird, um ... seinen Lohn für diese
+Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. („Studien” S.
+19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht
+verlangen.
+
+Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausführung gekommen.
+Bismarck, der dazu bereit gewesen wäre, war dem Prinzregenten von
+Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als Minister des Auswärtigen genehm
+zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurück,
+Österreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine
+Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine
+Truppen zurück. So „drauf und dran” Österreich zu helfen, wie
+Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht.
+
+„Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und die Aufgabe
+Preußens’” -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und
+Engels -- „wird Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr dort
+hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese
+annähernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein.
+Absolute Franzosenfresserei, Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, die
+revolutionäre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund),
+das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die
+Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der
+untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gießen
+suchen, und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen den Willen
+des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für
+unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müßte ein
+von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsre
+demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner
+Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen kommt dazu, daß man
+schon jetzt den Riß, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und
+gar zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand ich für Pflicht,
+mich entgegenzuwerfen ... Natürlich gebe ich mich keinen Augenblick
+der Täuschung hin, als könnte und würde die Regierung den sub III
+eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr
+fühlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er
+sofort in einen Vorwurf umschlägt. Er kann wie ein Eisblock wirken,
+an dem sich die Wogen dieser falschen Popularität zu brechen
+anfangen.”
+
+Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die
+revolutionäre als die nationale Bewegung zu fördern, die letztere der
+ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage
+war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale
+Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle
+einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine
+Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. Marx
+und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunächst darauf
+an, den gegen Deutschland als Ganzes geführten Streich durch eine
+gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, und nicht in dem
+Moment, wo ein solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst nur
+scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung Deutschlands führen mußte.
+Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage
+beruht im wesentlichen darauf, daß sie sie mehr in ihrem weiteren
+historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, während
+Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf die augenblicklichen
+Verhältnisse in der inneren Politik leiten ließ. Daher beging er auch
+die Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich streng zwischen
+Volk und Regierung unterschied, Österreich und das Haus Habsburg ohne
+weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung Österreichs” zu
+proklamieren, wo es sich zunächst doch nur um die Zertrümmerung des
+habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe
+an Rodbertus knüpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:
+
+ „Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die türkische
+ Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten
+ oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen”
+
+und sagt:
+
+„Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich in Ihrem letzten
+Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese
+Ansicht meinen besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten und
+mich dafür von ihnen einen Träumer nennen lassen müssen! Die ganze
+Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen
+orientalischen Frage hat für mich immer nur den vernünftigen Sinn und
+Zusammenhang gehabt, daß die Frage so lange hinausgeschoben werden
+muß, bis der naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, sie löst!
+Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrüder zur Welt
+gekommen zu sein.” (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl
+Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. Mai
+1863.)
+
+Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten sollte, nachdem
+vorher Österreich „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn
+und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich losgerissen
+worden, ist schwer verständlich.
+
+Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehört hierher:
+
+„Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, ist es die kleindeutsche
+Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem
+‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor
+1½ Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner
+Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir müssen alle wollen:
+Großdeutschland moins les dynasties.”
+
+„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen
+Partei zugute käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen Furcht vor:
+Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stück
+Nationalverrat.” (Brief vom 2. Mai 1863.)
+
+Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er
+es in „Der Italienische Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen wäre,
+er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben können, denn jenes ist
+ganz gewiß kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für
+seine viel weitergehenden politischen Zwecke, für die Herbeiführung
+der Revolution, die die nationale Frage im großdeutschen Sinne lösen
+sollte, zweckmäßig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai
+1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer
+bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen
+Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so
+können wir uns hier auf einige Auszüge und kurze Zusammenfassungen
+beschränken.
+
+Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne
+Datum, so daß dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt
+Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege gegen Frankreich ...
+sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein
+immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so,
+daß unsere Regierungen den Krieg machen müssen (und sie werden dies tun)
+und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre
+fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig
+entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit
+Leidwesen gesehen ... Käme nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung
+beigebracht wird[6], die Regierung führe diesen Krieg als einen
+nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet
+Ihr sehen, wie vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade bei
+Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen Treue’ das Volk an seine
+Regierungen binden würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist
+offenbar etwa folgendes:
+
+„1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere
+Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter
+Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf und dran sei, für
+Österreich einzutreten.”
+
+Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend.
+
+„2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden unsere Regierungen
+gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das
+Volksinteresse für den Sieg sie unterstützt.)
+
+„3. daß das Volk der Überzeugung sei, der Krieg werde im
+volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionären Sinne, also
+gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein können wir besorgen,
+und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.”
+
+Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben könne,
+„einen populären Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”.
+Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, die er als
+maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung auf die Aussichten der
+revolutionären Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung auf
+die Beziehungen der deutschen Demokratie zur französischen und
+italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als
+Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, daß er dieselbe Politik
+empfehle wie Vogt, der im französischen Solde schreibe, antwortet er:
+„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad
+absurdum führen? Dann könnte ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß
+Du das Unglück hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu
+sein.” Alsdann rühmt er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt
+habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” hätten zum Rückzug
+geblasen, die letztere „in einer Serie von sechs Leitartikeln eine
+vollständige Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht darauf kam,
+sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich
+so schnell bekehren ließen!
+
+In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heißt
+es: „Es ist ganz selbstredend, daß zwischen uns nicht das Prinzip,
+sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffaßte, die
+‚passendste Politik’ ... streitig war.” Und um wieder keinen Zweifel
+darüber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h.
+also doch die zur revolutionären Entwicklung passendste Politik.”
+
+Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen
+muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich
+meine Broschüre schrieb, sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg
+gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung,
+daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulär und
+verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück
+gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, nicht für diesen Krieg
+schreiben und propagieren ... Für die gegenwärtige Lage sind wir
+wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr für die
+zukünftige.”
+
+In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade
+eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich
+später zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen
+Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preußische Regierung
+überzeugt, wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch war und daß
+durchgreifende Änderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu
+setzen, sei es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit einiger
+Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. Wer es also mit „Preußens
+deutschem Beruf” ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation
+einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was
+ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: „Das
+Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- völlige, nur verkappte -- der
+Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung
+eines immensen Machtmittels für Absolutismus und Junkertum ist in zwei
+Worten der evidente Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt haben,
+so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es durchgesetzt. Wer jetzt in
+Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger
+sterben!”
+
+Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus
+Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem
+Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in
+der ausgeführt worden war, daß, wenn Preußen Österreich gegen Frankreich
+zu Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich intervenieren, d. h.
+Preußen _und_ Österreich den Krieg erklären würde. Diese Note sei,
+hatte Marx ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um einen Anschlag
+gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die
+Schwächung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei
+zweitens eine unverschämte Einmischung Rußlands in deutsche
+Angelegenheiten, die nicht geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun
+Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber
+selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur
+„die deutschen Regierungen”. „Denn, diable! was geht Dich und mich
+die Machtstellung des Prinzen von Preußen an? Da alle seine Tendenzen
+und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes
+gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen
+Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen so gering wie
+möglich ist.” Man müsse sich also eher solcher Demütigungen freuen und
+sie höchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die
+Franzosen unter Louis Philipp getan hätten.
+
+Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” ausdrücken, als es hier
+überall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster
+eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der
+Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, haben nach
+Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach
+einpacken müssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des
+„Italienischen Krieges” leiteten, sind alles andere, nur nicht eine
+Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, daß
+hier, wie es in den meisten bürgerlichen Biographien heißt, bei Lassalle
+der Parteimann hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im Gegenteil
+eher sagen, daß der Parteimann, der republikanische Revolutionär, den
+Patrioten zurückdrängt.
+
+Man könnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage
+aufwerfen: „Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an
+Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der
+Broschüre vertritt, wer garantiert dann, daß der erstere der wirklich
+von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle
+nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx
+gegenüber getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen aber so viele
+Gründe, daß es kaum der Mühe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der
+wichtigste ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre und Briefen
+schließlich doch nur ein scheinbarer ist. Wo Lassalle in der Broschüre
+etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen
+deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem großen „Wenn”,
+und diesem Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber nicht, dann”
+gegenüber, und formuliert dieses „Dann” so: „So wird damit nur aber
+und aber bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland einer
+nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die positiven Behauptungen in
+der Broschüre hält er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint
+es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschüre
+ausmachenden Darlegung, daß die Demokratie -- worunter er die
+Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg
+gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, weil sie sich dadurch mit den
+Unterdrückern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus
+ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. Bis soweit ist
+denn auch die Broschüre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt
+für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung
+vollkommen berechtigt.
+
+Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die
+gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich
+bekämpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem
+Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht
+an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er für eine Politik
+eintritt, von der er nicht auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch
+tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mußte glauben, er
+wünsche nichts sehnlicher, als daß die preußische Regierung die darin
+von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen,
+daß er sicher war, die preußische Regierung werde diese Politik nicht
+befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht
+gerechtfertigt. Das Advokatenstück, eine Sache nur deshalb zu
+empfehlen, weil man zu wissen glaubt, daß sie doch nicht geschieht, ist
+ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen
+Anhänger irrezuführen, was ja später auch in diesem Falle eingetreten
+ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist
+das denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition
+in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom „National”,
+auswärtige Politik machten, ebnete später dem Mörder der Republik, dem
+Bonapartismus, die Bahn. Wie die „reinen Republikaner” die
+napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die
+friderizianische Legende gegen die damalige preußische Regierung
+ausspielen zu können. Aber die friderizianische Tradition, wenigstens
+soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preußischen
+Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der
+Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda für sie.
+
+Wie diese später, sobald Preußen sich dazu militärisch stark genug
+fühlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg
+zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie Österreich glücklich aus
+dem deutschen Bund herausgedrängt und die „Einigung”
+Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, aber
+diese Realisierung des im „Italienischen Krieg” entwickelten Programms
+verhält sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte, wie in der
+Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7].
+
+[Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen Frage gebracht?
+Österreichs Verdrängung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische
+Propaganda im höchsten Grade gefördert, die österreichische Regierung
+muß heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese
+traten infolgedessen mit immer größeren Ansprüchen auf. Wo sie früher
+mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen wären,
+wollen sie heute herrschen und unterdrücken; in Prag, heute eine
+tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und französische
+Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die
+Angliederung der deutschen Landesteile Österreichs an Deutschland wird
+früher oder später freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach
+ungünstigeren Verhältnissen als vor der glorreichen Herauswerfung
+Österreichs aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das Deutsche Reich
+ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter
+um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat
+Rußland so stark gemacht, daß die deutsche Politik wieder das größte
+Interesse an der Erhaltung selbst dieses Österreichs hatte. Etwas ist
+immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Rußland der
+Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange
+mag das heutige Österreich als Staat noch eine Berechtigung haben.]
+
+Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes als die bloße
+Herausdrängung Österreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung,
+die Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder einen integrierenden
+Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber
+um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen,
+dessen unmittelbare Folge der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein
+Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, dessen Bevölkerung 1859
+ganz entschieden auf seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke
+Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle außer ihm liegenden
+Rücksichten zu opfern, erklärt dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie,
+die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs schärfste verurteilt
+hatte.
+
+Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der leidenschaftliche Drang, in
+die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer
+wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung
+an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen
+Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem
+Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die
+revolutionäre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die
+Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. März 1859 an Fr. Engels
+geschrieben:
+
+„Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen und
+geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von
+sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht,
+was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche Beginn praktischer
+Bewegungen alle größere theoretische Tätigkeit sistiert.”
+
+„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa weiß, wenn es
+dafür gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.”
+
+Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins
+monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine
+Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die
+Revolution für die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist
+gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt:
+Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Götter --
+die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” --
+das Volk -- in Bewegung setzen.
+
+ * * * * *
+
+Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen Krieg usw.”
+folgen ließ, war ein Beitrag für eine Zeitschrift in Buchform, die der
+demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel
+„Demokratische Studien” im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der
+später als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes politisches
+Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” Man könnte ihn als ein
+Nachwort zu „Der italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem
+Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen für gut
+befunden. Das „politische Vermächtnis” Fichtes ist, wie Lassalle unter
+Vorführung eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs zu
+einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit
+Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung
+der Einheit Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei einer Eroberung
+Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten würde
+„nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stämme durch
+die gewaltsame Aufdrängung des spezifischen Hausgeistes unter die
+Besonderheit desselben gebracht, preußifiziert, verbayert,
+verösterreichert!” ... „Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung
+fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen
+Besonderheiten liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das deutsche
+Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.”
+
+„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern
+mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke,
+wäre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealität dieser Entschließung
+ist es geradezu töricht von Männern zu verlangen” -- es ist von den
+deutschen Fürsten, speziell vom König von Preußen, die Rede -- „deren
+geistige Persönlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes
+Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte
+ist und die dies daher ebensowenig leisten können, als es einer von uns
+anderen leisten würde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschließlich
+durch dieselben Faktoren bestimmt worden wäre.”
+
+Dies sind die letzten eigenen Ausführungen Lassalles in dem Aufsatze. Es
+folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die Einheit
+Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage der „ausgebildeten
+persönlichen Freiheit”, und daß gerade deshalb die Deutschen „im
+ewigen Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes Reich des Rechts”
+darzustellen, ein Reich der „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles
+dessen, was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es von uns, die
+unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufügungen
+abschwächen zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger
+gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche” -- einen
+Artikel über eine „brennende Tagesfrage” zu schreiben -- „nicht
+buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfüllt --
+wie der meinige.”
+
+Welches aber war Lassalles Zweck bei der Veröffentlichung des Aufsatzes,
+der das Datum: Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief an Marx
+uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum
+er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen Werkes in
+Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens
+habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und
+tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschüre „Politische
+Totenschau” zeige, wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. Dann aber
+heißt es weiter:
+
+„Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht einigen entwickelnden
+Einfluß auf unsere deutschen Philister ausüben, und schlug ich aus, so
+kam der Auftrag jedenfalls an einen weit weniger entschiedenen, ja ganz
+unbedingt an einen mit monarchischem oder ähnlichem Demokratismus oder
+klein-deutschen Ideen Liebäugelnden, während mir der Auftrag die
+Möglichkeit bot, wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf
+ertönen zu lassen und so im Namen unserer Partei von einem Buche Besitz
+zu ergreifen, welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen
+Inhalt, obgleich ich weder über diesen noch seine Mitarbeiter Näheres
+weiß, schwerlich zur Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses
+unserer Partei beigetragen hätte.
+
+„So schreiben-wollend und nicht wollend entstand ein Artikel, von dem
+ich mir, speziell um ihn Dir zu überschicken, einen besonderen Abzug
+kommen ließ. (Das Buch erscheint erst zur Oktobermesse.) Ich schicke ihn
+gleichzeitig mit diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann an
+Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, ob er Dir gefallen.
+
+„Ich glaube, daß er mitten in diesem widrigen gothaischen Gesumme doch
+immerhin den erfrischenden Eindruck macht, daß hinter den Bergen auch
+noch Leute, daß eine republikanische Partei noch lebt, den Eindruck
+eines Trompetenstoßes.”
+
+Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle damals arbeitete, war das
+„System der erworbenen Rechte”. Drollig und doch wieder für jeden, der
+sich mit größeren Arbeiten beschäftigt, ungemein verständlich klingt die
+Klage Lassalles, die Arbeit ziehe sich so lange hin, daß er „bereits
+einen intensiven Haß gegen sie bekommen habe”. Aber das „verm--
+Werk”, wie er es an einer anderen Stelle in demselben Briefe nennt,
+sollte auch in den drei Monaten, die er sich nun als Termin stellt,
+noch nicht fertig werden.
+
+Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfällen jener chronischen
+Krankheit, von der er bereits in der Düsseldorfer Assisenrede spricht,
+und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. „Ich war und bin noch
+recht krank”, fängt ein Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein
+muß, „ich war von neuem krank und schlimmer als früher”, beginnt der
+obenzitierte Brief. „Habe ich mich in der letzten Zeit überarbeitet oder
+rächt sich nun zu lange Vernachlässigung”, heißt es weiter, „kurz,
+es scheint als ob meine Gesundheit aufgehört habe, der unverwüstliche
+Fels zu sein, auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.” Um
+sich gründlich zu heilen, ging Lassalle im Sommer desselben Jahres
+nach Aachen. Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin,
+Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedürftig
+war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so für
+sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den
+aber Fräulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.
+
+Es sind über diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die
+Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Fräulein von Sontzew,
+später die Gattin eines Gutsbesitzers in Südrußland, im Jahre 1877 in
+der Petersburger Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, und
+von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von
+F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffäre ist
+nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie
+von Sontzew schreibt, daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf sie
+gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt habe, ihn lieben zu können,
+es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie
+sich schließlich darüber klar geworden sei, daß eine Liebe, die
+zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie
+unter Hinweis auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen
+werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht gerade auf diese Kämpfe die
+junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgeständnisse und
+Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite
+scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein von Sontzew
+beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu
+sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame
+hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch
+wußte Lassalle sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über den
+Mißerfolg bald zu trösten.
+
+Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre sind die aus Anlaß
+dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor
+allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” bezeichnete,
+mehr als 35 Druckseiten ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines
+der interessantesten Dokumente für die Charakteristik Lassalles. Sehen
+wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jüngling heranreifenden Knaben,
+so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling sein Ich
+bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen
+Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge
+Lassalles ist seine -- man könnte fast sagen, unbewußte
+Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine beständige Neigung,
+ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte
+Natur. Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr
+Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die
+Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu
+verbergen. Aber es war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch anders
+zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften
+waren viel zu stark, als daß sie sich nicht überall verraten hätten,
+seine Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch jedes Gewand,
+in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem
+Bilde, das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl
+es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mädchen erscheinen wollte,
+der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern.
+
+Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und
+seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, wie er in
+diesem Manuskript sich im Glanze seines zukünftigen Ruhmes sonnt, sich
+als der Führer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar
+nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn fürchten und
+hassen läßt, wo zur Furcht und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso
+übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. „Nichts, Sophie,”
+schreibt er über den Erfolg der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur
+annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den
+ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz
+schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen,
+die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag
+verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen
+und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen
+diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte
+mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren
+Hauptführer an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, daß er aus
+diesem „mit nicht weniger Glanz” hervorging. „Ich werde Ihnen meine
+Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie
+wird Sie amüsieren.” Daß er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt
+er nicht.
+
+Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit
+fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen,
+statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief
+hindurch klingt der Ton einer echten Überzeugung. Selbst wenn Lassalle
+von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt „gewisser Ereignisse”
+-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zukünftigen Frau
+ausstatten würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht wahr, Sophie,
+mit so großen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen
+Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloße Spekulation auf
+individuelles Glück machen?” -- und bemerkt weiter: „Deshalb darf man
+in keiner Weise darauf rechnen.”
+
+Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte” Lassalles von
+Interesse. Er spricht sich darin sehr ausführlich über sein Verhältnis
+zur Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine
+früheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel
+sicher, daß Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um das er gerade
+warb und das als Gattin heimzuführen er so große Anstrengungen machte,
+seine derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit sie über die der
+Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, stärker zu schildern, als sie
+wirklich waren. Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in
+Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit für die Gräfin. Er
+liebe sie „mit der zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert
+hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte Mutter”. Er
+verlangt von Sophie, daß sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin
+„mit der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und hofft, obwohl
+die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” sei und, ehe sie nicht
+wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar
+werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu können, -- um „alle
+drei glücklich und vereint zu leben”[9].
+
+Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die Sache so hinstellen, als
+habe sich die Gräfin Hatzfeldt damals in Berlin und später Lassalle
+einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos übertrieben haben.
+Die Hatzfeldt hatte ihre großen Fehler und ihre Freundschaft ist
+Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst
+verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten
+wir es für unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem
+entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen
+Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene
+Behauptung, Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre gestürzt,
+um die Hatzfeldt loszuwerden.
+
+Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den Eindruck, den die Gräfin
+Hatzfeldt persönlich auf sie gemacht habe, nur günstig aus.
+
+Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen
+Aufenthalts in Aachen. Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit
+der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe über
+die Verhältnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle
+schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des
+Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders
+bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er
+in Berlin noch mit den Führern der liberalen Opposition auf bestem Fuße
+stand, über die damalige liberale Presse und über den von den Liberalen
+in den Himmel gehobenen preußischen Richterstand dachte. Da sie ebenso
+kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.
+
+Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn,
+unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der
+infamierendsten Handlungen verdächtigt hatte, wegen Verleumdung zur
+Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum
+Prozeß kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht,
+am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nämlich, daß wenn
+Zabel alle diese Verleumdungen Vogts über Marx wiederholt und sie dabei
+noch übertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben
+konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx
+selbst in Preußen für unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an
+Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Prozeß abgeraten
+hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:
+
+„Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei
+uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann!
+Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in
+einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz
+reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische
+Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte
+betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
+diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise für diesen
+Satz, und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und
+zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in
+reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich muß die Erinnerung daran gewaltsam
+unterdrücken. Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen
+Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie
+Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom
+ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewältigt und
+niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu
+werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer
+Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen höre.
+Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu
+unsern Richtern zu sein.
+
+„Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du. ‚Jedenfalls,’
+sagst Du, ‚liefern mir die Preußen so ein Material in die Hand, dessen
+angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!’ Nein,
+lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht,
+daß Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst.
+Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als
+wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest
+man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen
+wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein
+armseliges Wörtchen davon bringen. Sie werden sich hüten! Und unsere
+liberalen Blätter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein
+Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen
+Richterstand’ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken
+schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei
+vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde
+schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis
+zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die deutsche Zunge reicht’,
+ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen?
+O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel
+liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel!
+ich weiß wirklich keinen anderen Ausdruck für sie -- es ist die
+reine ......”
+
+Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck
+wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen.
+
+Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im zweiten Band der
+Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz über Lessing, den er
+bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: „Lessings Leben und
+Werke” geschrieben, und ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches
+Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen.
+
+Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig unbedeutend. Er ist noch
+vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich
+sehr stark an die Ausführungen an, die Heine in „Über Deutschland”
+mit Bezug auf Lessings Bedeutung für die Literatur und das öffentliche
+Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing
+als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des
+Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit der Situation des
+derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche
+Situationen erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm da wohl Heines
+Ausspruch vorgeschwebt haben: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann,
+der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und
+dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!”
+War es doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu
+werden. Wie im Hutten des „Franz von Sickingen”, so spiegelt sich auch
+im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es
+fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. „Allein wenn wir den
+Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte
+durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” fragt Lassalle, und
+um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten
+Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu
+lösen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum „Spartakus” eine
+Stelle, wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: „Ich höre,
+du philosophierst, Spartakus”, zurückgibt:
+
+ „Wo du nicht willst, daß ich philosophieren soll -- Philosophieren,
+ es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!”
+
+Zwei Dezennien darauf sei in der französischen Revolution diese
+Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr
+„wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus
+und dem Konsul der Zukunft”.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [4] Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der ursprünglich Vogt in
+ Schutz genommen, schon früher zugegeben.
+
+ [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre von Engels „Savoyen,
+ Nizza und der Rhein”. Lassalle hatte in seiner Broschüre die Annexion
+ Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn
+ Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende Kompensation
+ erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. Engels weist nun
+ nach, welche außerordentlich starke militärische Position der Besitz
+ Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe,
+ was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen
+ preis, weil es im Moment mehr dafür eintauschte, die Schweizer waren
+ aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner,
+ Stämpfli, Frey-Herosé u. a., taten ihr möglichstes, die Überlieferung
+ des bisher neutralen Savoyer Gebiets in französische Hände zu
+ verhindern. Im „Herr Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver
+ die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen
+ hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher Blick auf die
+ Landkarte.
+
+ [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: „Nur daß zum
+ Glück auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum
+ erscheint mir der revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.”
+ Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre?
+
+ [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in
+ griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die
+ russische Revolution mit der Auflösung des russischen Imperiums den
+ größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die
+ auch Wendungen enthält, zu denen ich mich grundsätzlich nicht mehr
+ bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen,
+ weil sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo sie
+ geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866
+ geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte.
+
+ In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle
+ Abänderung erfahren, die mir deshalb der Erwähnung wert erscheint,
+ weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der,
+ wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins
+ Deutsche zurückübersetzt lautet die Einleitung dort:
+
+ „Wohin hat die preußische Lösung der nationalen Frage Deutschland
+ gebracht? Lassen wir die Frage Elsaß-Lothringen beiseite -- die
+ Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und
+ betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenüber Rußland
+ und dem Panslawismus. Österreichs Verdrängung aus dem Deutschen Bund”
+ (weiter, wie im Original).
+
+ Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens mit keiner Silbe
+ erwähnt war und sie für Engländer damals noch kein spezielles
+ Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr,
+ ihrer zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu
+ bezeichnen -- „an additional blunder” heißt es im Englischen. Ein
+ Beweis, wie wenig Engels diese Annexion für endgültig ansah.
+
+ Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt wird: „Deutschland
+ gebracht”, war durch die Rücksicht auf das andre Lesepublikum von
+ selbst geboten. Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen
+ diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen.
+
+ [8] Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand
+ Lassalles”. Die Verfasserin ist nun auch längst aus dem Leben
+ geschieden.
+
+ [9] Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches Verhältnis
+ zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine
+ ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil die
+ Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, neben sich
+ noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine
+ ganze Abhandlung über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand
+ Lassalles, Nachtrag.)
+
+
+
+
+Das System der erworbenen Rechte.
+
+
+Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles wissenschaftliches
+Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur für den Rechtstheoretiker
+geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den
+praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich näher als die Materie des
+„Heraklit”, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die
+Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht
+gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein „Riesenwerk
+menschlichen Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen so
+ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der erworbenen Rechte”
+zugleich von der außerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem
+großen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus
+allen diesen Gründen wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei
+diesem Buche etwas länger aufhalten.
+
+Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers dieser Abhandlung,
+ein Urteil darüber zu fällen, welche positive Bereicherung die
+Rechtswissenschaft dem „System der erworbenen Rechte” verdankt. Das
+vermag nur der Kenner der gesamten einschlägigen Literatur, der
+theoretisch gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, die
+Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die
+Art, wie er sie löst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner
+Lösung zugrunde liegt.
+
+Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile
+zerfallende Gesamtwerk trägt. „Eine Versöhnung des positiven Rechts und
+der Rechtsphilosophie.” Lassalle führt in der Vorrede aus, daß trotz
+Hegels Versuch, eine Versöhnung zwischen dem positiven Recht und dem
+Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen
+und Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst vor Hegel
+gewesen. Die Schuld daran trügen aber weniger die ersteren als die
+letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials
+einzudringen, hätten sie sich begnügt, „im Himmel ihrer allgemeinen
+Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich
+zu bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche
+ein wahrer „horror pleni”, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran
+indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich hervorgehoben
+habe, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in
+die Erfahrungswissenschaften. Hegels „Rechtsphilosophie” konnte, führt
+Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe
+erschien, „als der erste Versuch, das Recht als einen vernünftigen, sich
+aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
+Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, als etwa die
+allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst”.
+Hätten nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, bei den
+„dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben -- „Eigentum, Familie,
+Vertrag usw.” -- stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, eine
+Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen
+Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu
+schreiben, so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen
+positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß mit den
+abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag,
+Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der römische Eigentumsbegriff
+ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der römische
+Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der
+römische Familienbegriff ein anderer als der germanische
+Familienbegriff usw., d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das
+Reich des historischen Geistes gehörend, es nicht mit logisch-ewigen
+Kategorien zu tun hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur
+Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des
+geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und
+Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind.” Eingehend
+und erschöpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des
+vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem
+Beispiel desselben der Beweis geliefert, daß „jene Hegelsche
+Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben werden muß und
+nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre
+Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu
+erzeugen ...” Das gelte aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen
+Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und wenn die Zeit
+theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte, -- „man
+kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas
+(ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle mit berechtigter
+Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies
+in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von
+ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im
+Grunde nur „dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, die „nur
+auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden soll. Es sind immer
+die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die
+nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. Hegel habe, wegen
+unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht
+häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin.
+„Wenn er die römischen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten
+Verstandes auffaßte, so werden wir auf das Positivste im ganzen
+Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von
+unseren Juristen, von den römischen aber das strikte Gegenteil gilt.
+Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die
+des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht
+durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit des
+religiösen und künstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit
+wird dann immer nur erwiesen sein, daß die Hegelsche Philosophie noch
+weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, und daß der spekulative
+Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
+Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System der erworbenen
+Rechte.)
+
+Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem
+Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits
+viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, aber er hält doch
+nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der
+Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen
+Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form
+der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der
+Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung
+und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen
+Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem
+Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich bei den
+Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische
+Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die
+„Realisationen historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen die Frage
+nach den Umständen, unter denen diese Geistesbegriffe sich
+entwickelten, nach den materiellen Verhältnissen, deren Ausdruck sie
+sind, ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar um und will
+„im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich
+rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß des
+jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. So muß er
+naturgemäß, auch bei dem größten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen
+Folgerungen gelangen.
+
+Als das „großartigste Beispiel”, an welchem diese ursächliche
+Abhängigkeit des „angeblich rein Positiven und Historischen” von den
+historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet
+Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des
+Werkes, der den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und germanischen
+Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung.” Die Stärke dieser
+Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchführung
+des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glänzenden Darstellung.
+Durch alle hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den
+Gedanken zu verfolgen, dem römischen Erbrecht liege der Gedanke der
+Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde,
+während im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne
+Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade
+das sei, was vom römischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres
+Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt
+die Schwäche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie
+ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt diese zwar wieder und
+immer wieder, läßt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter
+liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt es, daß das römische Erbrecht
+die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrückt? Von der römischen
+Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt
+es, daß das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der „Idee der
+germanischen Familie”. Welches ist die römische Unsterblichkeitsidee?
+Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der
+germanischen Familie? Die „sittliche Identität der Personen, die zu
+ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes
+oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns
+im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, warum
+diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen
+konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die
+Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Römer und Germanen aus
+deren wirklichen Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die letzte
+Quelle des Rechts erscheint überall der „Volksgeist”. Dabei verfällt
+denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit
+Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er
+unterscheidet zwar zwischen römischem und germanischem Volksgeist, aber
+er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße des römischen Volkes
+und konstruiert einen, ein für allemal -- das ganze Jahrtausend von der
+Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des römischen Weltreichs
+-- maßgebenden „römischen Volksgeist”, der sich zum -- ebenso
+konstruierten -- „germanischen Volksgeiste” etwa verhalte, wie „Wille
+zu Liebe”.
+
+Allerdings darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit, wo Lassalle sein
+„System der erworbenen Rechte” schrieb, die eigentliche
+Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der
+römischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen
+lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen
+Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß
+er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er sie nicht
+einmal richtig stellte.
+
+Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich
+durch Morgans epochemachende Untersuchungen über die Gens (Sippe) ist
+genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der
+verschiedenen Völker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die
+Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als
+die germanischen Stämme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit
+eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der
+Barbarei durchzumachen; der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von
+der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten
+noch in Gentilverbänden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden
+Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor:
+ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein
+Ding der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat
+die „Liebe” -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem
+altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Römern war dagegen schon vor
+Abschaffung des sogenannten Königtums die alte, auf persönlichen
+Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf
+Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche
+Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an
+Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Verbände als
+wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das römische Testament
+erwächst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen
+römischen „Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben
+Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist schuf, der das
+Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung[12] erfüllte. Wenn die
+Römer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt
+das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem
+die symbolische Handlung -- die Willensübertragung -- die Hauptsache,
+der substantielle Inhalt derselben -- die Vermögensübertragung --
+reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch
+weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Völker überhaupt alle
+wichtigen ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; es sei nur an die
+Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der
+Grenzmarken usw. erinnert. Was würde man von einem Historiker sagen,
+der den römischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausfluß der
+besonderen Natur des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer
+speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten
+Äcker Nebensache, der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache gewesen
+sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des
+Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes
+Terminus zurückführen wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den
+Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der
+Testamente bei den Römern bezeichnet, in der römischen Mythologie den
+letzten Grund dieser Rechtsschöpfung erblickt.[13]
+
+Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie
+unlogischen Behauptung, daß, wenn das römische Zwölftafelgesetz für den
+Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem
+nächsten Agnaten (Verwandte männlicher Linie) und, falls kein Agnat
+vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, daß das Testament
+auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das
+Intestaterbe aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden sei.
+Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz, obwohl es die
+Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung
+an. Es konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz der
+Testierfreiheit, daß derjenige erben soll, dem der Erblasser
+testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein
+Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder in Kraft, die
+urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nächste Agnat und dann die
+Gens, der ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut
+erscheint auf den zwölf Tafeln als letztes, weil es als das älteste das
+umfassendste ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz bildet.
+Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus
+hervor, daß er sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff des
+Willens” aufgebauten römischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal
+gezwungen sieht, zu behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee der
+Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde
+liegt” und die Agnaten als „die durch das Band der Gewalt vermittelte
+Personengemeinschaft” bezeichnet. Als gläubige Althegelianer haben die
+alten Römer „mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” den „tiefen
+Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, daß der nicht ausgedrückte
+Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat
+„den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen
+Organisation derselbe verwirklicht ist”. Das Testament, die
+Testierfreiheit, ist danach älter als der römische Staat, aber das
+Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat hat eines schönen
+Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidiärerben eingesetzt,
+und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, sondern in ihrer
+Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der
+Willensidentität.
+
+Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben,
+daß es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat,
+die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr vielmehr eines der
+Rechte, eines der Ämter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen,
+ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, daß erst mit der Lockerung
+des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich
+wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.
+
+Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte er, wie alle
+Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm über das Wesen des
+ursprünglichen römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu
+falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit näherzukommen,
+als seine Vorgänger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese.
+Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren,
+schneidet er sich jede Möglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu
+erkennen. Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beiläufig ebenfalls
+Hegelianer -- hatte römisches Intestaterbe und Testamentserbe als
+miteinander kämpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei
+Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine
+historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu
+erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, so richtig ist der ihr
+zugrunde liegende Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen
+Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen Rechtsbegriffe auf
+verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt
+gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler der historischen Schule”,
+das „aus dem Gedanken Abzuleitende” als ein „äußerlich und
+historisch Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern Seite erklärt
+er es als einen „Grundirrtum”, wenn andere Rechtsphilosophen von der
+Auffassung ausgehen, daß „das römische Intestaterbrecht seinem
+Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich ist es wirklich
+nichts anderes. Nur daß die hier in Betracht kommende Familie sich
+nicht mit der römischen Familie deckt, sondern den weiteren
+Geschlechtsverband umfaßt[14].
+
+Wir können auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber
+aus dem Bisherigen schon, daß der so kunstvoll ausgeführte Bau
+Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. So geschlossen und
+streng folgerichtig daher die Beweisführung, und so geistreich auch die
+Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er
+mit dem ganzen Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, hat er
+nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee ist nicht die
+Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des römischen Testaments,
+sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt
+bestehen, auch wenn der religiöse Hintergrund verschwindet. Und gerade
+in den vielen Formen und Formalitäten, von denen die Römer die
+Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig machten, liegt unseres
+Erachtens ein weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie Lassalle
+meint, die frühere, sondern umgekehrt die spätere Einrichtung gewesen
+ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das
+römische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme
+bildete, während das Intestaterbe noch die Regel war.
+
+Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie
+zieht, daß das Testament nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee --
+der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem Tode -- zu begreifen
+sei, daß es mit dieser „begrifflich” stehe und falle? Daß das moderne
+Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit der
+christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des
+nicht mehr auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in sich
+zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, nichts als ein großes
+Mißverständnis, eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies
+führt uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite,
+trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist.
+
+Der erste Teil des „Systems der erworbenen Rechte” führt den
+Untertitel „Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der
+Gesetze”. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen
+Grundsatz zu ermitteln, der ein für allemal die Grenze anzeigen soll,
+unter welchen Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende Kraft haben
+dürfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoßen. Mit anderen
+Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder
+Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das erstere und wann das
+letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als „erworbenes” zu
+respektieren, wann es ohne weiteres der Rückwirkung unterworfen sein
+soll.
+
+Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gerügte Fehler der
+Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, während alle ihre
+Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen Denkens, das Verständnis --
+innerhalb der bezeichneten Grenzen -- für das geschichtliche Moment,
+verbunden mit revolutionärer Kühnheit in der Verfolgung eines Gedankens
+bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung
+gelangen. So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als
+bei der Untersuchung über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie hoch
+oder gering man immer die Erörterung solcher rechtsphilosophischen
+Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß
+Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise löst, daß sowohl der
+Jurist wie der Revolutionär dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist
+gewiß eine respektable Leistung.
+
+Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als Normen auf:
+
+a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die
+Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.”
+
+b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne
+Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das
+Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein
+menschlichen oder natürlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen
+Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft
+selbst in ihren organischen Institutionen ändert.”
+
+Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbürgerlichen
+Befugnisse der Angehörigen des Landes ändert, tritt sofort in Kraft,
+läßt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher
+ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberührt, auch wenn diese
+Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das
+zur Volljährigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht,
+so verlieren alle Personen über 21 und unter 25 Jahren sofort die an die
+Volljährigkeit geknüpfte Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen,
+denn sie besaßen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die
+Rechtsgeschäfte, die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die ihnen
+bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue
+Gesetz nicht zurück. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch
+individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein
+erworbenes Recht.
+
+Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist
+nicht unter allen Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das Individuum
+kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern,
+insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen
+Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” Jedem Vertrage sei „von
+Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das
+in demselben für sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange
+Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht
+überhaupt als zulässig betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des
+Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame Bewußtsein des
+ganzen Volks, der allgemeine Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts
+könne sich daher das Individuum „niemals der Einwirkung des
+allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen. Nur ein solches
+Individuum würde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten können,
+welches, wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein Recht weder
+erwerben noch ausüben und haben wollte.” „Es läßt sich vom
+Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst
+desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftigen
+zwingenden und prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres als
+„diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” liege in der
+Forderung, daß „ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern
+soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen”. Wenn
+also „der öffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt
+ist, den Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft,
+Hörigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und
+Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit,
+fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschließen”, so
+könne dabei „von irgendwelcher Kränkung erworbener Rechte ... gar
+nicht die Rede sein”. So seien denn auch die Dekrete der berühmten
+Nacht vom 4. August 1789, durch welche die französische
+konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft
+herfließenden Rechte aufhob, von „jeder Rechtsverletzung und
+Rückwirkung” frei gewesen. Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein
+Recht der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, auch da noch
+anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom öffentlichen
+Bewußtsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist,
+heiße „vermöge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als
+Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem öffentlichen
+Geiste einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”.
+Von einer Entschädigung könne nur da die Rede sein, wo nicht das
+Rechtsverhältnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung
+aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von
+Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre
+des Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt werden.
+Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die französischen Versammlungen
+nach 1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des Begriffs”
+innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preußische Gesetz vom
+2. März 1850 über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen
+und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts
+als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewußtsein
+verordnete Vermögensverletzung der ärmsten Klassen zugunsten der
+adeligen Grundbesitzer, d. h. „logisch-konsequent” nichts als „ein
+Raub”[15].
+
+Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte,
+keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die
+aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil über die
+Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle,
+der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. Was
+aus dem ersteren folge, sei vielmehr, daß jede Zeit autonom sei, keine
+Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine
+„rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst noch fortwirken zu
+lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von
+jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut
+würde”. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er
+weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen,
+in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrückt
+habe. „Denn zum Begriff des Rechts gehört nur, daß der Volksgeist einen
+geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre,
+d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umständen
+nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatsächliche
+Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.”
+Diesen Grundsatz finde man schon bei den römischen Juristen, und die
+französische Gesetzgebung während und nach der französischen Revolution
+habe ihn von neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent
+recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionäre, es
+ratifizieren müssen, wenn er die französische Revolution in ihren
+rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms,
+datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgänge in
+Preußen und weist nach, wie im Gegensatz zur französischen Jurisprudenz
+das preußische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen über das
+durch die Märzrevolution von 1848 geschaffene und in der preußischen
+Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrücklich anerkannte neue
+Rechtsbewußtsein, daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind und
+Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch Wortkünste hinweggesetzt,
+Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer
+„Reaktionskonvent” betätigt habe. Vier Jahre, nachdem das „System”
+erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation
+des Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den „liberalen
+Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel
+Anspruch hatte.
+
+Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen erstens durch individuelle
+Willensaktion vermittelt und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem
+erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die
+Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der französische Konvent im
+Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, daß die
+Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw.
+Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die
+seit dem 14. Juli 1789 eröffnet worden, so verstieß er damit nach
+Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im
+Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. Ventose desselben Jahres in
+Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das Gesetz
+„nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem großen
+Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien
+entwickelt” habe, aber das Prinzip der Nichtrückwirkung nicht einmal
+„auch nur in Frage stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann
+eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. das Gesetz auch auf
+die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften ausdehnte.
+
+Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts
+zurückzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen über römisches
+und germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, auf Testamente und
+Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der „Reihen, in welche die
+Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende Erbrecht war danach in Rom
+„erworbenes Recht”, denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der
+„Substanz” des römischen Volkes, nämlich der Idee der Unsterblichkeit
+des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht --
+Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer
+Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität
+der Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen
+Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe
+hat”. Die Familie erbt, weil das Eigentum überhaupt nur
+Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber,
+nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, „nicht mehr
+auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der
+Familie als durch den präsumierten Willen des Toten berufen, sondern
+auf der Familie als Staatsinstitution”, auf dem „die
+Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des
+Staates”. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht,
+von dem wir jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine kompakte
+theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder Intestaterbfolge noch
+Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern „Regelung der
+Hinterlassenschaft von Sozietäts wegen”. Und Lassalle schließt sein
+Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das Testament nicht
+in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen
+habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima
+esset immortalis” -- „Testamente aber wären mit vollem Recht durchaus
+null und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.”
+
+Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklärung, was Lassalle meint,
+wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den
+Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht bald zeigen, daß sich aus
+unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere
+Folgerungen über das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben?” Was
+auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, können
+der Staat oder die Sozietät auch jederzeit ändern, einschränken oder
+ganz aufheben, wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint.
+Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der
+erworbenen Rechte „nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf eine
+Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so
+kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das
+ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrücken würde -- nach
+dieser Umsetzung schreit.
+
+Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den
+Worten beginnt, daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft
+gelöst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein
+könne und dürfe, als „die rechtswissenschaftliche Herausringung des
+unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen
+Gedankens”?
+
+Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst?
+
+Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr
+zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu
+sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die
+Darlegung, daß im allgemeinen „der kulturhistorische Gang aller
+Rechtsgeschichte” darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre des
+Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des
+Privateigentums zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in
+sehr feiner Entwicklung ausführt, mit Recht den größten Wert. Sie ist
+ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk
+begriffsscharfer Logik.
+
+Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn
+sein Beispiel vom Wesen des römischen und germanischen Erbrechts
+maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwäche dieses
+Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu
+rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen
+Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen
+Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser
+Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem
+und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben
+tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in
+letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen
+Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ändern
+sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den
+materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich wird.
+Dann entdeckt der „Volksgeist”, daß dieses Erbrecht seinem
+Rechtsbewußtsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen
+Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint nur als die letzte
+Instanz, die über ihren Bestand entscheidet, tatsächlich ist er so
+etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind
+die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die
+Verhältnisse, unter denen es die Gegenstände seines Bedarfs
+produziert[16].
+
+Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtümer der
+alten Juristen und Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? Der
+Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto
+größeren Schaden für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der
+Sphäre des juristischen und philosophischen „Begriffs” bleibt. Aus der
+„begrifflichen” Ableitung sollen sich die Dinge erklären, die
+„begriffliche” Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung bloßlegen. Die
+Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre
+eigenen Entwicklungsgesetze.
+
+Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger Jurist. Er brachte von
+Hause aus außergewöhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf
+mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte diese Eigenschaft noch
+stärker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen
+Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu
+verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft
+Glänzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche.
+Die juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die
+sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt
+sich schon hier im „System der erworbenen Rechte”, es bildet die
+Schwäche dieses Werkes, es sollte sich aber auch später in seiner
+sozialistischen Agitation zeigen.
+
+Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in
+Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt dagegen
+in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. Das ist
+um so merkwürdiger, als der Schritt, der geschehen mußte, um die
+Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, längst
+angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte.
+1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen Jahrbüchern in einem
+Aufsatz, der obendrein den Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen
+Rechtsphilosophie”, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift „La
+misère de la philosophie” ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx
+und Engels im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner Anwendung
+geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859
+erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” unter
+ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten Aufsatz, geschrieben:
+„Meine Untersuchung” -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung
+bildete -- „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie
+Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der
+sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern
+vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Es ist
+nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
+gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” Und obgleich
+Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am „System” arbeitete,
+obwohl er sich Marx gegenüber in den begeistertesten Ausdrücken über
+es äußerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die
+im Sinne des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein Vorwurf
+gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wäre im höchsten Grade
+abgeschmackt. Wir führen es an zur Kritik seines Standpunktes,
+seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die
+ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen
+Auseinandersetzung mit Marx über die im „System der erworbenen Rechte”
+aufgestellten Theorien des Erbrechts.
+
+Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß sich Marx sofort gegen diese
+auflehnen mußte, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im
+direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen
+Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor,
+daß die, übrigens nicht lange, brieflich geführte Debatte sich im
+wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament
+nur aus der römischen Mythologie, der römischen Unsterblichkeitsidee, zu
+begreifen sei, und daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals für
+sich allein das Testament habe entwickeln können, wenn sie es nicht
+schon im römischen Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz
+charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die
+ökonomische Entwicklung beziehen, Lassalle schließlich immer wieder mit
+juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. Die grundsätzliche
+Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in
+dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, zum
+sprechendsten Ausdruck.
+
+Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen
+geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das „System der erworbenen
+Rechte” eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen,
+der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, höchst anregende und
+genußreiche Lektüre.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit
+ derjenigen Rechtsgrundsätze, die durch die philosophische
+ Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der
+ Rechtsverhältnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen
+ angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es werden daher
+ vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende
+ Begriffe gebraucht.
+
+ [11] Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums
+ und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen”. 1.
+ Aufl. S. 93.
+
+ [12] Um das Jahr 450 v. Chr.
+
+ [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß das Aufkommen des
+ Ahnenkultus bei allen Völkern mit dem Übergang vom Mutterrecht zum
+ Vaterrecht zusammentrifft.
+
+ [14] Übrigens brauchen auch die Römer das Wort familia nicht bloß
+ zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden
+ Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls für den mehr oder
+ minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des römischen
+ Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrücklich zwischen
+ der „familia” im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im
+ weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle
+ diejenigen gehören „... die aus demselben Haus und derselben gens
+ hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die betreffende Stelle ein
+ weiterer Beweis, daß das römische Intestaterbe -- kein Familienerbe
+ gewesen sei. „Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht
+ der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben wollen!”
+
+ [15] Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung von
+ Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen von der Volksvertretung
+ erpreßt wurden, sagt Lassalle manches kräftige Wort. „Wenn eine
+ Staatsregierung”, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der
+ preußischen Regierung eingebrachten und solche Entschädigungen
+ stipulierenden Entwurf -- „die unbegreifliche Schwäche hat, einen
+ solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich
+ auf das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer
+ pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese
+ Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie
+ wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit
+ des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” Was
+ hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert hätte, noch nach
+ dreißig Jahren werden in Preußen solche „Schwächen” und solche
+ „Pflichtvergessenheit” berechtigte nationale Institutionen sein!
+ Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß,
+ als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die Tories nicht die
+ „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich aus ihren jetzt unspekulativ
+ gewordenen Güterankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen
+ Geist zu drehen!” Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er
+ erfahren haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war,
+ als das richtige „praktische Christentum”.
+
+ Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, die Neuauflage
+ des „Systems der erworbenen Rechte” zu besorgen, gerade Lothar
+ Bucher zufallen mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten
+ Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, den
+ Nachweis zu versuchen, wie das „System in den Gesetzberatungen der
+ letztverflossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden
+ können”. Tatsächlich schlagen die meisten der dafür in Betracht
+ kommenden Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins
+ Gesicht.
+
+ [16] Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar zu mechanisch
+ vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen können die
+ religiösen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem
+ Begriff des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum einen
+ großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse
+ ausüben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung
+ hindern oder verlangsamen. Schließlich sind es doch immer die
+ Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich
+ hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung
+ zugrunde liegen.
+
+ [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es „ein
+ Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung hingerissen” habe.
+
+
+
+
+Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das
+Arbeiterprogramm.
+
+
+Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee,
+in Berlin ein demokratisches Blatt im großen Stil zu gründen. Wie er
+über die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie
+er danach dürstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in
+Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV.
+eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle
+daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt
+wären, nach Deutschland zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches
+Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten Brief”, schreibt er unterm
+11. März an Marx, „fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König stürbe
+und Amnestie einträte, zurückkommen würdet, hier ein Blatt
+herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nämlich für
+diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden
+Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein großes Blatt
+herauszugeben. Würdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein,
+herzukommen? Und wieviel Kapital wäre zu einem großen Blatte
+erforderlich? Würde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu
+aufbringen könnte? Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir
+darüber schriebst, denn ich denke gern an dies château en Espagne!”
+In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und
+am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen in der Tat eine
+Amnestie herbeigeführt hatte, schreibt er dringender: „Noch einmal
+stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um hier ein
+Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der „Neuen
+Rheinischen Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher
+zurückkehren?”
+
+Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frühjahr 1861 in
+Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die
+ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben
+und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja „stets
+in der Minorität”! Dann aber legte die preußische Regierung die
+Amnestie so aus, daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch
+mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehörigkeit zum
+preußischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs
+ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Anträge
+genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von
+Ausländern überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten
+Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben der Regierung abhängen
+sollte, jeden davon wieder „abschieben” zu können, dessen Rückkehr
+ihr „unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx eingereichtes
+Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen
+abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. November 1861 datierten
+Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hieß,
+„zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Gründe vorhanden sind,
+welche für die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen
+könnten”. Damit war natürlich jeder Gedanke an eine Übersiedelung von
+Marx nach Berlin ausgeschlossen.
+
+Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Gräfin Hatzfeldt
+eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr
+instruktiv” für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf
+Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er „fast alle
+leitenden Persönlichkeiten” in den verschiedenen Städten, die er
+besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift
+„Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles”
+zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr.
+Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, hat Lassalle bei jenem
+Besuch Garibaldi zu einem militärischen Unternehmen in großem Stil
+gegen Österreich zu überreden gesucht und den Plan dann in London
+auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum
+Diktator aufwerfen, eine große Armee bilden und mit dieser über
+Padua noch weiter vordringen, während zugleich ein an die adriatische
+Küste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken und die
+Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb
+interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener
+Zeit die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, die
+unter anderm die erstrebte Lösung der deutschen Frage bringen sollte.
+Zu erwähnen ist noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach Italien
+einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischärler
+Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne
+auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über Becker Lassalle
+jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn
+gar nicht” -- schreibt er über Becker an Marx zu seiner
+„Information” -- „die, die ihn kennen, halten ihn für einen Blagueur
+und Bummelfritz, für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, der
+eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche
+liegt.” Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx'
+Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. „Du weißt, wie oft wir in
+die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hüten als vor
+unseren Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp war doch
+jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Großsprecher, sondern
+hatte wiederholt für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,
+auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es Lassalle also schon ankommen
+lassen können. Als er später den „Allgemeinen deutschen
+Arbeiter-Verein” ins Leben rief, wußte er auch Beckers Adresse zu
+finden[18] und stellte diesem gegenüber, der auf irgendeine Weise
+erfahren hatte, welche Redereien über ihn im Umlauf seien, die Sache
+so dar, als habe Marx aus einer Mücke einen Elefanten gemacht und
+einer harmlosen gelegentlichen Äußerung über Beckers Verkehr mit Türr
+eine so schlimme Deutung gegeben.
+
+Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin zurück. Er fand die
+politische Situation wesentlich verändert vor. Der Gegensatz zwischen
+dem König von Preußen und dem liberalen Bürgertum hatte sich zum
+offenen Konflikt verschärft; bei den Neuwahlen zur Kammer Anfang
+Dezember 1861 war die schwachmütige konstitutionelle Partei durch die,
+eine etwas schärfere Tonart anschlagende Fortschrittspartei verdrängt
+worden. Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres aus der bis dahin
+eine kleine Minderheit in der Kammer ausmachenden Fraktion
+„Jung-Litauen” entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber die
+Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene Partei. Sie bestand
+aus den verschiedenartigsten Elementen, liberalisierende
+Großbourgeois saßen in ihr neben kleinbürgerlichen Demokraten,
+ehemalige Republikaner mit verschwommenen sozialistischen Tendenzen
+neben Männern, die beinahe noch königlicher waren als der König
+selbst. In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es Wilhelm I. eben
+mit allen verdorben; nur die Partei der Junker und Mucker und die
+eigentliche Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. Die
+Fortschrittspartei verfügte über die große Mehrheit der Kammer und
+über fast die ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die
+das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten
+hegten, um sich ihr anschließen zu können, hielten es für gut, ihr
+zunächst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren
+Kampf mit der preußischen Regierung zu Ende führen werde.
+
+Lassalle war mit denjenigen Männern, die den Mittelpunkt der
+Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit
+zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem
+Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische Berliner
+„Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das,
+„wenn auch häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit
+viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Preßfesseln zur
+Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im
+allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter
+verteidigt”, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der
+„Neuen Rheinischen Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären”
+Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso theoretisch falsch wie
+praktisch verderblich” erklärt. „Wir müssen”, schrieb er, „in
+bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen
+Nüancen ebensosehr die Identität, als den Unterschied unsres
+sozial-revolutionären Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den
+Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.”
+Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt
+haben, alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien den
+reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre ich entschieden, daß ich
+diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr überall à outrance
+bekämpfen werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx
+mit, daß er die Weigerung der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung
+von ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als Anlaß benutzt
+habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. „Umgang
+meine ich, denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze den
+Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte Gelegenheit noch
+mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß
+ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen
+Gesindel gar kein Verhältnis möglich, und so werde ich denn dies
+benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natürliche
+Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.” In der vom 27. März
+1861 datierten Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” finden wir
+denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten
+Angriff auf die „Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den
+Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung und
+Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” fassen, die sie zwingt,
+„sich an bloße Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und
+für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle doch mit andern
+Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin
+selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß
+politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten.
+Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewöhnliche
+Salonlöwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder
+radikaltuende Künstler, wie Hans von Bülow usw., sich der intimen
+Freundschaft Lassalles rühmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der
+Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar
+unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum
+Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich
+Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862).
+Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft
+zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen „reizende
+blondlockige Frau” jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde
+ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate
+darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: „Beiläufig, mit dem ganz
+gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und fügt
+recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, daß seine Frau die
+Veranlassung davon bildet.”
+
+Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher,
+der nach Erlaß der Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war und sich
+in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern
+gehörte einer zahmeren zoologischen Gruppe an.
+
+Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit bestätigen, daß
+dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war,
+die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknüpften.
+Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19.
+Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den
+Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rüstow schrieb, „in
+langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen”
+für seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf
+eine am Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle Bezug und führt aus,
+daß er es zwar für möglich halte, die bestehende Ordnung -- „oder
+Unordnung” -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht,
+sie niederzuhalten; mit andern Worten, daß die Zeit für eine
+sozialistische Revolution noch nicht reif sei. „Bedenken Sie dazu noch
+eins: daß jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit
+hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns
+eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine ähnliche Bewegung
+wachrufen würde.” Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er
+nur „die lahme Antwort Machiavellis”: Politik ist die Wahl unter
+Übeln. „Ein Sieg des Militärs” -- d. h. der preußischen Regierung!!
+-- wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen Österreich wäre
+kein Sieg des reaktionären Prinzips”. Dafür stelle er Lassalle als
+Zeugen die „Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand gegen
+Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schluß zu, daß
+Lassalle eine Revolution erzwingen zu können glaubte und im Hinblick
+hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen hatte. Damit war der
+obenerwähnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu
+gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der
+für gewöhnlich in politischen Dingen ein sehr nüchterner Rechner war,
+zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von
+französischen, ungarischen oder italienischen Revolutionären angeregt
+worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien
+kennengelernt, muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rüstow um ihn
+wußte und, wie Lassalle Marx erzählte, ihn gebilligt habe, mag er
+auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militärs
+zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, daß er Lassalles
+eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles
+übereinstimmte.
+
+Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß zu einer Revolution in
+Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes
+war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rückkehr zum
+Studiertisch nötige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an
+die große national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen,
+verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen,
+was bei dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen Leben übrigens
+nur durchaus erklärlich war.
+
+Die erste Leistung, mit der er zunächst an die Öffentlichkeit trat, war
+das gemeinsam mit Bucher verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der
+Literarhistoriker”. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt
+zusammengeschriebenen „Geschichte der deutschen Literatur” ist, zeigt
+das Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt getroffen werden
+sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm
+mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte „Julian der
+Grabowite” füglich der Ausdruck werden können, „welcher den geistigen
+Höhepunkt dieser Partei kennzeichnet”. Eine etwas übertriebene Logik,
+wie es überhaupt in der Schrift an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war
+der Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da gerade in jenen
+Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelöst und Wilhelm I. ein
+Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War
+nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der
+Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese
+zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage
+gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie in einem Augenblick traf,
+wo sie zufällig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die
+Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe
+Geißelung der bei ihm oft in „gespreizter Bildungssprache” sich
+wichtig machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt.
+Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe die größten
+Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft fälschende und
+tendenziös-gehässige Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das
+Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, während Lothar Bucher
+als „das Setzerweib” vorgeführt wird.
+
+Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, in einem Berliner
+liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte
+Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht möglich war --, den Führern
+der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mündlich
+gegenüberzutreten. Als Thema wählte er die Frage des Tages: den
+ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung
+hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen”
+betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er
+entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm
+ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind
+Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten
+Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist; ein Volk
+besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkür der
+Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch
+ohne die Verfassung sich gegen sie zu schützen. Es sei daher der größte
+Fehler gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu
+ändern und vor allen Dingen das Heer aus einem königlichen in ein
+Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung
+so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschöpft
+hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder
+einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, möge man diese
+Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten
+Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen --
+d. h. als dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen Verhältnisse
+weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. „Das Fürstentum, meine
+Herren,” heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht
+Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen
+wären.”
+
+Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar
+richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie
+trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die
+Übersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hieß, die
+Partei aber -- ein Teil der Führer überhaupt nur, der andere jedenfalls
+zunächst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte.
+Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der
+Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im großen
+und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den
+Zeitpunkt für eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch
+Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen
+Gründe, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen,
+dieser Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion,
+daß man für die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese
+verletzte, für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine viel
+günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene
+Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen
+Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich
+wenigstens alle moralischen sichern.
+
+Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder
+Fortschrittler -- ja, jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben
+konnte, war er daher doch den Führern der Fortschrittspartei höchst
+unangenehm, während die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände
+rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, das Organ der
+Junker und Mucker. Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, wenn
+der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch
+deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage
+zwischen Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil
+dadurch ihre Position als einzig zuverlässige Stütze des Thrones eine
+um so befestigtere wurde. Man muß nicht vergessen, daß die
+„Neue Ära” Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron
+der Hohenzollern von der allzu lästig gewordenen Vormundschaft der
+ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenüber
+dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mußte diese dagegen dem
+König als das unbedingt kleinere Übel erscheinen.
+
+Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei weiteren
+fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, daß die
+fortschrittliche Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- „auf
+mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die
+Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über
+die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich
+unter diesen Verhältnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter
+entwickeln werde.
+
+Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im
+Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel
+Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: „Über den
+besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der
+gegenwärtigen Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte er vorher
+sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht
+einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus --
+unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen
+Reden. Eine ebenso klare wie schöne Sprache, gedrungene, flüssige,
+nirgends überladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz
+fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre
+formellen Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit
+einigen Einschränkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die
+Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte
+nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umständen, unter denen
+sie gehalten wurde, angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen
+Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache an der Hand konkreter
+Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in großen Zügen
+bereits vorgezeichnet ist.
+
+Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische
+Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch
+auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen gleichfalls
+geschieht, die Betonung der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der
+Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter vermöge ihrer
+Klassenlage in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche
+revolutionäre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die
+Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des
+kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des
+„Arbeiterprogramms”, unter welchem Namen der Vortrag später in Druck
+erschienen ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort wieder in
+juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen
+verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage
+selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte man darin eine bloße
+Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie
+Anstoß nehmen möchte. Indes es muß Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt
+werden, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig
+zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen nach einer populären
+Redewendung, die ihn vom „Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand”
+sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen
+Vorstellungen. Es ist derselbe Rückfall, der ihn den Begriff des
+Bourgeois nicht etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten
+läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge seiner ökonomischen Wirkungen
+und Kräfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen
+Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes genießt oder
+beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen
+Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen,
+verwischt er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer nur dann
+einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung
+eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des „Arbeiterprogramm”.)
+Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als
+bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal
+der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin.
+Das preußische Dreiklassenwahlsystem, eingeführt von der
+feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die bürgerliche
+Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des
+modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man
+den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten
+beschränkt, aber was wird dann aus dem „vierten Stand”?
+
+Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet
+Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel
+der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Daß
+jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern
+möglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den
+Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhängig
+macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache
+umgestoßen, daß gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte
+Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem
+am stärksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von den 97
+Millionen Talern, die der preußische Staat im Jahre 1855 aus Steuern
+einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist
+übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die 10 Millionen Taler
+Grundsteuer einfach für eine indirekte Steuer, da sie nicht von den
+Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis
+abgewälzt werde. Das Abwälzen war aber keineswegs eine so leichte Sache,
+solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die Zufuhr von
+außen abgesperrt waren. Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als
+eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche
+von den Grundbesitzern empfunden und bei Veräußerungen behandelt worden.
+9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als eine indirekte
+Steuer bezeichnet werden, da aber die ärmste Klasse keineswegs die
+meisten Prozesse führt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur
+Entlastung des großen Kapitals sprechen, wie immer man sonst über die
+Justizgebühren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des großen
+Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft.
+Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, daß
+sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden
+ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht.
+
+Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von
+Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafür
+anführt, daß „die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen
+Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer
+Konsequenz durchführe, als dies der Adel im Mittelalter mit dem
+Grundbesitz getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in
+Preußen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der
+halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte bloß den
+Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten
+Entfaltung gediehen war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die
+kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems die Presse, und
+obendrein in noch viel höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des
+großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig es natürlich war, gegen
+diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es
+wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, daß, wo er die
+Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen
+will, er hier ausschließlich formal-rechtliche Einrichtungen anführt,
+den Einfluß der ökonomischen Faktoren dagegen gänzlich ignoriert.
+
+Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der
+„Staatsidee”, einen Dithyrambus anzustimmen. Der „vierte Stand” hat
+„eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck
+des Staates als die Bourgeoisie”.
+
+Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der
+liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates
+einzig darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein
+Eigentum zu schützen.
+
+Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die Geschichte sei „ein Kampf
+mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der
+Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns
+befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte
+auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das
+ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt”.
+Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu
+vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei
+„die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen”, sein Zweck
+sei, „durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen,
+solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie
+als einzelne niemals erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe
+von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als
+einzelnen schlechthin unersteiglich wäre”. Und weiter sei sein Zweck,
+„das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
+Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche
+Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig
+ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei „die Erziehung und
+Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit”. So sehr sei dies
+„die wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie deshalb seit
+allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch
+ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner
+Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde”.
+
+Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft überhaupt
+haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als
+einzelne befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben dies die Bestimmung
+des Staates sei und sein müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des
+Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich diese „sittliche
+Natur” des Staates „mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein”
+zu seiner Aufgabe machen und „einen Aufschwung des Geistes, die
+Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit
+herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”.
+
+So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an
+einem großen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen
+Veränderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem
+Begriff und Wesen nach als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes,
+als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner „Idee”
+zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft
+erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen
+Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff ist sozusagen
+ein ewiger. In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer
+Festrede von Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen die
+Staatsidee des Liberalismus” an die „antike Bildung” appelliert,
+welche „nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes
+geworden” sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff
+des Staates sei dahin zu erweitern, daß „der Staat die Einrichtung
+sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen
+solle”. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus
+berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie
+des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so
+weit schießt Lassalle hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten
+beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden von denen der
+Gegenwart, daß die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für die
+Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa die Ideen der Alten über
+die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike
+Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs
+eine auf die Neuzeit übertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die
+Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” in
+sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige
+Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt
+es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates
+sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene
+gewesen. Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein
+Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den
+jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat
+unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit
+gefördert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.
+
+Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff
+der Alten unverändert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag
+ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten
+Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der
+Kultus des Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, und
+wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein
+direktes Eintreten für den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so
+verhinderte diese doch nicht, daß jener Kultus später von den
+Anwälten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten
+ausgebeutet wurde. Das ist überhaupt die Achillesferse aller auf
+abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär
+sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in Gefahr ist, in eine
+Verklärung bestehender oder vergangener Zustände umzuschlagen.
+Lassalles Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner Lassalle
+eines Tages mit den Streitern für das absolute Königtum und den
+Revolutionär Lassalle mit den eingefleischten Reaktionären
+zusammenführte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten
+eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte.
+
+So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen
+Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der späteren
+Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind.
+
+Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an
+die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus
+ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. „Es ziemen
+Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen
+Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn
+der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der
+Gegenwart gebaut werden soll!”
+
+Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so
+vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare
+politische Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei,
+zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch
+sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei einem
+Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen
+und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die
+Broschüre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862
+reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen
+Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der
+Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen „Aufreizung der besitzlosen
+Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden”. Am 17. November
+beschloß das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am
+16. Januar 1863 kam der Prozeß in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz
+einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem
+Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten gleich überlegen zeigte, und
+namentlich den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde Lassalle doch zu
+vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens
+den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine
+verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme
+der Broschüre blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ Lassalle den
+Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zürich in Neuauflage erscheinen.
+
+Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschüren über den
+Prozeß in der ersten Instanz -- von denen die erste die
+Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die Wissenschaft
+und die Arbeiter”), die zweite den stenographischen Bericht über die
+mündlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des
+erstinstanzlichen Urteils enthält -- und schließlich auch unter dem
+Titel: „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die
+eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende
+Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste
+Verteidigungsrede eine außerordentlich geschickte und wirkungsvolle
+Beweisführung dafür, daß der Satz in der preußischen Verfassung „die
+Wissenschaft und ihre Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das
+Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien
+den breiten Volkskreisen vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse
+infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche Verbündete der für
+ihre Freiheit kämpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede über die
+indirekte Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung mit sehr vielem
+geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit
+Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das
+System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch
+kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem
+bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, während in der ersten
+Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte
+betont wurde. Eine eingehendere Würdigung dieser Reden findet man in den
+Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier müssen wir vorerst wieder auf
+die Zeit zurückgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war,
+das Frühjahr 1862.
+
+Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher zunächst kein
+besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von
+der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den
+Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der äußeren, politischen Tendenz
+nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf
+eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte
+Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen
+Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen
+die Regierung spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel radikaler an
+als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der
+Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Großspurigkeit der
+Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hörer, ob Arbeiter
+oder Bürger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von
+außergewöhnlichem Radikalismus.
+
+So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der „Philosophischen
+Gesellschaft” in Berlin war, noch in demselben Frühjahr von dieser dazu
+ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum
+hundertjährigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu
+halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen
+Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen
+die leitenden Persönlichkeiten damals Anstoß. Da das Bürgertum in seiner
+großen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch
+Ideologie treiben.
+
+Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den „Demokratischen Studien”
+Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm
+jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu
+halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes
+Aufsatzes. Und Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht
+entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen.
+
+Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des
+deutschen Volksgeistes.” Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes Stellung
+in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt.
+Weiterhin aber verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche
+Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und
+seine Bedeutung besteht darin, daß die Deutschen die hohe
+weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem „reinen Geist” heraus diesem
+„nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, sondern sogar „die bloße
+Stätte seines Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. „Indem
+hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts
+Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen,
+kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trägt
+hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und
+vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” Und
+was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt
+habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen
+bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” und durchbebe „unter
+dem populären und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes
+edlere deutsche Herz”.
+
+Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des „reinen, mit
+nichts Geschichtlichem verwachsenen” Geistes hinstellen -- das ging noch
+über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit
+großer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte
+Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie
+einige Blätter schadenfroh berichteten, verließen die Hörer zum großen
+Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der Festrede, „um sich nach dem
+Zimmer des leckeren Mahles zu verfügen”. Sie vergaßen aber
+hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der
+philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gästen
+zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen
+lediglich des guten Tons halber besuchen.
+
+Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie,
+zusammen mit dem „Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über
+Verfassungswesen” durch Lothar Bucher an Marx. Er habe „etwas
+politisch-praktische Agitation beginnen” wollen, schreibt er unter dem
+9. Juni an letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag in vier
+Vereinen gehalten. Außerdem einen weit längeren Vortrag über den
+Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.”
+Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe mich jetzt auch
+entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn drucken zu lassen; er ist bereits
+unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im
+weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurück, daß
+durch die intensivere Beschäftigung mit anderen Dingen in den letzten
+drei Jahren die nationalökonomische Materie in seinem Kopf „gleichsam
+fossil” geworden sei. Erst wenn „alles wieder flüssig geworden”,
+werde er an die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur Kritik der
+politischen Ökonomie” gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen
+Besprechung und die Ausführung seines eigenen ökonomischen Werkes --
+„welch letztere freilich sehr lange dauern wird”. Dieses Programm
+werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im
+Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der
+Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz
+gehen.
+
+Er entschied sich für das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal
+an Marx, und zwar:
+
+„Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit
+Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rüstow
+gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt.
+C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er
+von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort
+Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine
+braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wünschenswert dies
+wäre. Habe also die Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von
+denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem
+Ziel führenden Vorschub zu tun. Tue Dein Möglichstes.
+
+„Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London komme, nimmt zu.
+
+ Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.”
+
+Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” standen im Lager des
+„Nationalvereins”, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte
+sie offenbar für Aktionen verwendbar machen, die zeitgemäß werden
+konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme
+d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre
+sind eine weitere Bestätigung für das weiter oben von den
+Revolutionsplänen Lassalles Gesagte.
+
+Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und
+einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die mir
+vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wäre aber falsch, daraus
+den Schluß zu ziehen, daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den
+beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber
+wissen wir von Marx, daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen
+ihm und Lassalle er dem letzteren die grundsätzliche Verschiedenheit der
+beiderseitigen Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen
+dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach
+Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein. Um so
+enger schloß sich Lassalle an Bucher an, der ihn später auch mit
+Rodbertus in Verbindung brachte.
+
+Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preußische
+Regierung der Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere Haltung
+einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis plötzlich der
+König in schroffer Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich auf keine
+Konzessionen in bezug auf die Verkürzung der Militärdienstpflicht
+einlasse und auch keine Neigung verspüre, um Indemnität für die
+verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation einzukommen. Die
+Kammer antwortete damit, daß sie die Forderung der Regierung, die Kosten
+der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben
+aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der
+Mehrheit zu brechen, berief der König an Stelle des Herrn v. d. Heydt
+den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am französischen
+Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe
+Betonung der königlichen Vorrechte war bereits im Einverständnis mit
+Bismarck erfolgt.
+
+Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” und 1849 in der
+Preußischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heißsporn
+aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann”
+entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien über Bord geworfen,
+um desto wirksamer die Interessen des „befestigten Grundbesitzes”
+wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus aufgegeben, um
+dem Königtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern,
+daß die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die
+Verantwortung für die Bedürfnisse und die Politik der Monarchie
+übernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus
+bekannten Regierungssystems übernommen, das, wenn es von Demokratie
+spricht, Regierungsgewalt meint, und von Fürsorge für das Wohl der
+Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der
+Arbeiter im Schilde führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er
+gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit
+Revolutionären Geschäfte machen kann, von der bonapartistischen, wie
+man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpönten Handlung
+beschuldigen muß, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im
+Begriff ist. Als Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit aller
+geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende Aufrichtigkeit an
+den Tag zu legen, um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr
+Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um die Wahrheit nicht zu
+sagen.
+
+Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem
+wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung
+in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch „Blut und
+Eisen” gelöst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das
+Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß bestehen, der Regierung
+nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von ihr
+anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklärung, die
+Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.
+
+Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die
+Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, während
+die Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” auf ihrer
+Seite hatte. Indes, er wußte ganz gut, daß er sich auf die preußischen
+Bajonette nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der
+auswärtigen Politik, geeignet, die ehemaligen „Gothaer”, d. h. die
+schwachliberalen Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, war
+vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte also anderwärts Verbündete gegen
+die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen.
+
+Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß man in Berlin in
+Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen
+Arbeiterkongresses zur Erörterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls
+ernsthaft zu betreiben, und daß in Zusammenkünften, die dieser Frage
+galten, ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer
+Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die
+Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts nützten.
+Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen soviel Geschrei machten,
+sei es nichts, nur der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, der
+behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden
+Äußerungen über die Schulzesche Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand
+die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein
+„Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen
+Arbeiterkongresses und die Gründung einer selbständigen
+Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das
+Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des Kongresses nach
+Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn
+fühlte, rückte er schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der
+Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die preußische Regierung
+den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der
+Gründung von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, daß Herr
+von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Gründung einer
+Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die
+Maschinenbauer waren damals, und noch lange später, in Berlin die
+Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natürlich müßten sich die Arbeiter
+dazu entschließen, der Fortschrittspartei den Rücken zu kehren, die
+eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei.
+
+Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig
+den Arbeiterkongreß betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so
+geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen Regierung zuliebe in den
+Rücken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch
+in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner
+auffällig flotten Lebensweise, die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar
+nicht paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse Anspielungen auf
+eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da
+er ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders
+Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildfläche und
+tauchte später als -- preußischer Polizeibeamter auf.
+
+Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878,
+August Bebel die Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum Fürsten
+avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von
+sich abzuschütteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung
+für sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die
+Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen
+auf die Wirkung dieses Kunstgriffs ließ er sich zu dem Geständnis
+verleiten, Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt für
+Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, und daß ihm „bei der
+Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, daß Herr Eichler im Dienste der
+Polizei gewesen ist und daß er Berichte geliefert hat”. (Vgl. die unter
+dem Titel „Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage”
+veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die Beratung des
+Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche
+vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” seinerzeit
+einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische Vettel” entpuppte
+sich als -- das Berliner Polizeipräsidium.
+
+Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag
+vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: „Was
+nun?” Er beruft sich dort darauf, daß die Ereignisse den Ausführungen
+in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, der
+Kriegsminister von Roon und der gegenwärtige Ministerpräsident von
+Bismarck hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind,
+bestätigt. Gestützt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich
+über die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun
+weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer
+Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar
+kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht
+der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur
+Wahrheit zu machen sei, da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden
+wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. Soll man zu dem Mittel
+der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als
+solche ein wirksames Mittel nur in den Händen eines Volkes, das, wie das
+englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner
+Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte,
+einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen „werde
+unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken”. Das
+einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, sobald sie
+wieder zusammentrete, „aussprechen das, was ist”. Das sei „das
+gewaltigste politische Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung
+unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren.
+Sobald sie wieder zusammentrete, müsse sie unverzüglich einen Beschluß
+fassen, daß sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze,
+es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung behilflich
+zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten,
+und daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so
+lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die
+verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. Sobald die
+Kammer diesen Beschluß gefaßt habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung
+nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten würden mit derselben
+Parole wiedergewählt werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht
+regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach außen würden
+so gewaltig darunter leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen sein
+werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gäbe es
+aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller
+Ausgaben der Regierung würden nur Volk und Regierung an die süße
+Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. Noch
+schlimmer würde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromiß
+einlassen, etwa für den Preis der Bewilligung der zweijährigen
+Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um
+die es sich jetzt handle. Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um
+so größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn sie sich gezwungen
+sehen werde, nachzugeben. „Um so mehr erkennt sie dann die
+gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an,
+wenn sie erst später umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen muß.”
+Dann aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. Keinen neuen
+Kompromiß mit dem alten Absolutismus, sondern „den Daumen aufs Auge und
+das Knie auf die Brust”.
+
+Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine versöhnliche Haltung
+gegenüber der Fortschrittspartei ein. Er will „der Einigkeit zuliebe”
+alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe,
+unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” und ihre Hintermänner, deren
+Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese
+„Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, die Regierung in eine
+konstitutionelle „umzulügen”, einen sehr großen Teil der
+Verantwortung für den jetzigen Stand der Dinge. Aber „Friede, meine
+Herren, der Vergangenheit”!
+
+Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und
+wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf seinen
+Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit nur oratorische
+Floskel war, um ihm später eine desto schärfere Position gegen die
+Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. Es mag beides
+zutreffen. Daß er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den
+Fortschrittlern grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher
+gesehen, viele persönliche Beziehungen ließen ihm das sogar als
+wünschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt ließ sich bei
+der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen
+Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler
+sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einfluß auf ihre Taktik
+einräumen würden, auf den er Anspruch zu haben glaubte.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [18] Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht
+ aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die
+ Veröffentlichungen R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im
+ Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf.
+
+ [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind Mitte der achtziger
+ Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.)
+ So dünn das Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im
+ Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über Lassalle dem
+ Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht
+ einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten
+ Lassalles den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten aus dem
+ Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen war. In einem der
+ Briefe ist von „Salingers genialer Komposition” die Rede. Der
+ Herausgeber, der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, macht
+ dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. Daß der Name Salinger
+ bzw. Solinger Pseudonym für Hans von Bülow war, wird dagegen nicht
+ einmal angedeutet. Bülow hatte die Komposition des Herweghschen
+ Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht.
+
+
+
+
+Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene
+Antwortschreiben, politischer Teil.
+
+
+Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle
+vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem
+Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut,
+wenn man es so schnell als möglich zum Äußersten treiben wollte, wenn
+man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn
+weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig -- mit einer
+Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch
+nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne
+Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf
+die Tribüne in der Kammer auf den famosen „passiven Widerstand”
+hinaus, über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. Durch
+beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und
+drastisch „aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung ebenso
+wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der
+Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein
+von Recht für die Außerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war
+ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung
+vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber dem Recht
+hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” sagt B. Becker sehr gut,
+„waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an
+juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewöhnt und den Streit
+der Kammermajorität mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit
+zu betrachten geneigt.”
+
+Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, daß er,
+gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach
+der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei Becker heißt, schrieb
+Lassalle den Aufsatz „Macht und Recht”, in welchem er der
+Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm
+ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar
+Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den
+Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin, dessen Erklärung, daß in
+Preußen „Recht vor Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem
+ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen
+hatte. „Es hat kein Mensch im preußischen Staat das Recht, vom
+‚Recht’ zu sprechen” -- ruft er aus -- „als die Demokratie, die
+alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht
+festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt
+hat.” Und: „Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr
+allein wird die Macht sein!”
+
+Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung an die radikale
+Berliner „Reform” eingesandt, verschloß letztere -- für die Lassalle
+noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre
+Spalten, desgleichen die „Vossische Zeitung”. Die letztere lehnte auch
+die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn
+als „Offenes Sendschreiben” in Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl
+dieses Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” der „Vossischen
+Zeitung” eigentlich rechtfertigte, kümmerte ihn nicht weiter.
+
+ * * * * *
+
+Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages „Was nun?” (Dezember 1862)
+und der Abfassung des „Sendschreibens” (Februar 1863) liegen wiederum
+zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei
+Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter
+F. W. Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin
+gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern des
+Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen
+Fortschrittsführern am 2. November einer großen Arbeiterversammlung
+beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das
+Mandat für die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu
+übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die selbst schon Sozialisten
+waren, daß die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen,
+dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei von einer
+selbständigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Spätere
+Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des
+Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwähnte klassische
+Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” des
+Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren
+die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch
+außerdem für keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so
+vortreffliche Kammer zusammengebracht, man könne es also schon noch eine
+Weile mitansehen. Daß die vortreffliche, d. h. die oppositionelle
+Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse war, kam
+den guten Leuten nicht zum Bewußtsein.
+
+Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem späteren
+Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand
+Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” aufmerksam gemacht
+und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht
+denken, wie sehr dies dessen Entschluß bestärken mußte, nunmehr das
+„Friede der Vergangenheit, meine Herren” zurückzunehmen. Als er das
+Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, war bereits zwischen ihm und
+dem Leipziger Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem offiziellen
+Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten über die Aufgaben der
+Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend
+erscheinenden Form darzulegen, und daß diese Form eben die einer
+Flugschrift sein sollte. Die äußerst interessanten damaligen Briefe
+Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in
+Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht
+worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß Lassalle, so froh
+er über die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem
+doch in keiner Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden
+Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr gut, worauf sie
+hinauswollten; worüber man noch unentschlossen war, das war weniger
+das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es
+war durchaus nicht „das Bewußtsein seiner eigenen Unklarheit”, wie
+Bernh. Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” stellenden
+Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das
+Komitee veranlaßte, in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an die
+deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, aber gegen
+Übereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen.
+Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, aber nicht so bald,
+daß nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan
+haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten Aufruf
+erließ, beschloß das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu
+schicken, der auch tags darauf abging:
+
+„Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.
+
+ Sehr geehrter Herr!
+
+Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen
+Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall von
+den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das
+Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung
+ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche
+Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen
+Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt,
+genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der
+Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig
+erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6)
+hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das
+Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug
+leisten könne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von
+Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die
+gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch
+wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch
+vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung:
+Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und
+geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner
+Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen:
+
+ Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form
+ Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren
+ dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert
+ der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse,
+ auszusprechen.
+
+ Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der
+ angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch
+ Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir
+ ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung
+ unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der
+ Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gruß und Handschlag!
+
+ Leipzig, 11. Februar 63.
+
+ Für das Zentralkomitee zur Berufung eines
+ Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses
+
+ Otto Dammer.”
+
+Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. März 1863 datierte
+„Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines
+allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand
+Lassalle”.
+
+Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger
+Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation
+Lassalles und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins”.
+
+ * * * * *
+
+Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt zunächst der Ansicht
+entgegen, daß die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekümmern
+hätten. Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der Politik zu
+beteiligen, bloß dürften sie dies nicht in der Weise tun, daß sie sich
+als den „selbstlosen Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei
+betrachteten. Der Nachweis dafür, daß die Fortschrittspartei den
+Anspruch darauf verwirkt habe, stützt sich im wesentlichen auf das von
+dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern
+nicht überall von gleichmäßiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf
+Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, daß sie „nur ....
+das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes
+habe”, so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage „Was nun?”
+als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des
+Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei
+auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Sünde
+anrechnete, daß sie
+
+ „sich durch ihr Dogma von der preußischen Spitze zwingt, in der
+ preußischen Regierung den berufenen Messias für die deutsche
+ Wiedergeburt zu sehen, während es, mit Einschluß Hessens, nicht
+ eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preußischen
+ in politischer Beziehung zurückstände, während es, und zwar mit
+ Einschluß Österreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung
+ gibt, welche der preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.”
+
+Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich recht. Die
+Organisation der Arbeiter als selbständige politische Partei mit eigenem
+Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung
+der politischen Zustände Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen
+konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom
+Heerbann der gegen den Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei
+abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser
+Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hieß die selbständige
+Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung der
+Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Daß sie diese in der Tat zur
+Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei
+selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenüber der neuen
+Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches
+Lassalle dieser Bewegung gab.
+
+Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” gesehen, welch
+abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff
+„Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß er einen
+wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. „Das uralte Vestafeuer
+aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene
+modernen Barbaren” -- nämlich die Manchesterpartei -- ruft er in der
+Rede „Die indirekte Steuer” den Richtern des Berliner Kammergerichts
+zu, und ähnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor.
+Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin,
+die Ursache von allerhand verhängnisvollen Fehlgriffen. Die
+althegelisch-ideologische Vorstellung vom „Staat” veranlaßte
+Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische
+Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für sie zunächst noch
+darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst
+loszuwerden. Es hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen
+Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, Sie wollten über
+Freizügigkeit debattieren? Ich weiß Ihnen hierauf nur mit dem
+Distichon Schillers zu antworten:
+
+ „Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,
+ Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” --
+
+Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem
+gesetzgebenden Körper „stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr
+debattiert”. Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die
+Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, während die Arbeiter sie
+unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und
+Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Rang auf einem
+Arbeiterkongreß einzunehmen hatten, war der, daß sie zugleich in hohem
+Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus waren; aber überflüssig
+war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in
+Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit über ihre Bedeutung herrschte.
+
+Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die
+Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen,
+zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig
+wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse für die politische Aktion
+aufzurütteln, sie zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen
+Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung der demokratischen
+Forderungen zu erwärmen. Und kein Zweifel, daß ihm zu jener Zeit diese
+zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge
+selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er
+diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren.
+
+Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu überzeugen,
+wie sie von bürgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf
+das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den
+Klassikern der politischen Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von
+Ricardo formuliert worden war, das „eherne und grausame Gesetz, wonach
+unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche
+Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt,
+der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur
+Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er zeitweilig über diesen Satz,
+so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung
+der Arbeiterbevölkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen
+der Lohn wieder auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er aber
+unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, größere Sterblichkeit
+unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine
+Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Löhne wieder
+stiegen. So tanzten „Arbeiter und Arbeitslohn immer um den äußersten
+Rand dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem
+notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, und dies „ändert sich nie”.
+
+Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen
+Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise
+zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der
+Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese
+vereinzelt blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile
+verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein würden, würden
+die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie
+als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage
+der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes
+ökonomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des
+Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr
+eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Gründung
+selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die
+erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal
+verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die
+Mitglieder in die „widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln
+und Unternehmergesinnungen” verwandelte. Die großen Fragen ließen sich
+nur mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die Assoziationen in
+großartigem Maßstabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmäßige
+Großindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das nötige
+Kapital, bzw. der nötige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei
+durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. „Nichts ist weiter entfernt
+von dem sogenannten Kommunismus oder Sozialismus als diese Forderung,
+bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle
+Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergütung
+beibehalten und zu dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, als daß
+ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, resp. der erforderliche
+Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird.” Der Beruf des Staates sei
+es aber gerade, die großen Kulturfortschritte der Menschheit zu
+erleichtern und zu vermitteln. „Dazu existiert er, hat immer dazu
+gedient und dienen müssen.” Was aber „ist denn der Staat”? Und
+Lassalle führt die Zahlen der preußischen Einkommensstatistik von
+1851 an, wonach in jenem Jahre 89 Prozent der Bevölkerung ein
+Einkommen unter 200 Talern gehabt hatten, dazu 7¼ Prozent der
+Bevölkerung ein solches von 200 bis 400 Talern, so daß also 96¼
+Prozent der Bevölkerung in elender, gedrückter Lage sich befänden.
+„Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehört der
+Staat, nicht uns, den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er! Was
+ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen,
+handgreiflicher als aus dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der
+ärmeren Klassen, große Assoziation -- das ist der Staat.” Und wie
+den Staat zu der geforderten Intervention vermögen? Dies werde nur
+durch das allgemeine und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn die
+gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten
+Wahlrecht hervorgehen -- „dann und nur dann werden Sie den Staat
+bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen”. Das
+allgemeine und direkte Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches,
+es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller
+sozialen Hilfe”. Darum mögen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen
+deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die
+Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen
+Ländern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der
+Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der
+Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet, so
+werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen würde.
+„Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder
+Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren
+und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach
+rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines
+und direktes Wahlrecht heißt oder damit in Zusammenhang steht und
+dazu führen kann.”
+
+Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt des „Offenen
+Antwortschreibens” und zugleich der Lassalleschen Agitation überhaupt.
+Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen
+Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest,
+die Bewegung auf diesen einen Punkt: „Allgemeines Wahlrecht behufs
+Erlangung von Staatshilfe für Produktionsgenossenschaften” zu
+beschränken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, daß die
+Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf
+einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu
+behalten, wenn man an die agitatorische Tätigkeit Lassalles den
+richtigen Maßstab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn,
+auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen.
+Ausdrücklich verweist Lassalle im „Offenen Antwortschreiben” auf die
+Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso
+scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu
+haben, wie der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an die Erklärung
+des Chartistenpredigers Stephens erinnert: „Der Chartismus, meine
+Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und
+Gabelfrage.”
+
+Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer
+praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage der
+damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube ich die Frage unbedingt
+bejahen zu müssen. Daß später Bismarck, wenn auch freilich nur zum
+Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einführte,
+ist für mich dabei nicht maßgebend. Allerhand Umstände hätten das
+verhindern können, ohne daß dadurch die Tatsache umgestoßen worden wäre,
+daß Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt,
+obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen Landtag beibehalten
+wurde, bleibt der Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach
+durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wußte ganz genau,
+daß, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele
+Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafür in den Kreisen der
+Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer scheeleren
+Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Blätter sprachen sich
+bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte es,
+wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch
+die er genau über die Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen
+unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht
+nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg -- der
+ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte -- schließlich kaum etwas
+anderes übrig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen und
+ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem
+Schritt mußte sie sich um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke,
+von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung bestand, die die
+Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte.
+Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg mußte ihr dies als der
+beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig
+gegen sich im Rücken zu haben[21].
+
+Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also
+Lassalle unzweifelhaft recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht
+auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen
+Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht
+nachgeben zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts
+mindestens noch weiter hinausgeschoben. „Seien Sie taub für alles, was
+nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder damit im
+Zusammenhang steht und dazu führen kann”, heißt es im „Offenen
+Antwortschreiben”. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, würde
+dieses, das muß man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrücklich
+ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage
+lösen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie
+überhaupt die Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache selbst
+gerechtfertigt?
+
+Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur
+Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus
+nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar während der
+Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung
+gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt worden durch
+die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das
+allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig
+verhindert, daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen können als
+„Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die
+Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat
+proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine
+Epoche sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, so daß
+nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafür gegeben waren, daß sie
+im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik hätte
+werden können. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch
+das Kaiserreich gestürzt werden?
+
+Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” sagt, was am
+2. Dezember 1851 gestürzt worden, das sei „nicht die Republik”
+gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz
+vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten
+Zensus zur Ausschließung der Arbeiter eingeführt hatte; die Republik
+des allgemeinen Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen
+Arbeiter einen unübersteiglichen Wall gefunden haben”, so wiederholt
+er damit ein Schlagwort der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la
+Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur
+verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche Wall”, als die auf Grund
+des allgemeinen Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? Warum
+hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich der Bourgeoisie”
+nicht verhindert?
+
+Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so würde er auf die Tatsache
+gestoßen sein, daß die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht
+halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche hätte
+stützen müssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht
+entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne
+industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, für einen
+Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen,
+aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem
+Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf
+die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgänge einzugehen sucht,
+hält ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite
+wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das Ökonomische packt er
+gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf,
+juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, daß er, um den
+Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevölkerung des
+Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung,
+und zwar ausschließlich an sie hält. Der Streit, der sich damals an
+diese Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, ist ein
+verhältnismäßig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentsätze
+nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde
+wenig an, die Tatsache, daß die große Masse der Bevölkerung in dürftigen
+Verhältnissen lebt, während nur eine kleine Minderheit im Überfluß
+schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle
+damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht
+aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht
+berücksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89
+Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, als deren „große
+Assoziation” er den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil davon
+Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter
+bildeten, die noch großenteils völlig unter der geistigen
+Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz unerörtert.
+Über die Hälfte der Bevölkerung Preußens entfiel damals auf den
+Ackerbau, die größeren Städte spielten bei weitem nicht die Rolle,
+die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung
+betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit
+vereinzelten Oasen[22].
+
+Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine Wahlrecht an der
+Zusammensetzung der Kammer ändern? War von ihm ein besseres Resultat zu
+erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848
+und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von
+Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich
+gewiß sehr zu wünschen. Aber im übrigen mußte es, gerade je mehr es die
+Wirkung erfüllte, die Lassalle von ihm versprach -- nämlich einen
+Volksvertretungskörper zusammenbringen, der „das genaue, treue Ebenbild
+ist des Volkes, das ihn gewählt hat” („Arbeiterprogramm”) -- die
+Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern.
+Denn so jämmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch
+wenigstens bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen
+Klassen zwar unter Umständen sämtlich revolutionäre Truppen stellen,
+aber keineswegs samt und sonders revolutionäre Klassen sind, er vergaß,
+daß die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern
+bestanden.
+
+Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen möglich war, so ist doch
+damit noch keineswegs gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder als
+Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigeführt haben würde.
+Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse der
+Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst das Gegenteil bewirken,
+statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in größerer
+Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren
+aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen
+Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil Ideologen, welche
+gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen
+Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur
+an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger
+Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafür, daß
+das allgemeine Stimmrecht „nicht notwendig dem Arbeiterstande die
+Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt worden, das allgemeine
+Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu
+verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar”.
+„Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, daß hier das Mittel mit
+zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen
+muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus
+geht auch hervor, daß, beinahe mehr noch als Rodbertus'
+gegensätzliches Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften,
+sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, daß er
+trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen
+Arbeiterverein nicht beitrat[23].
+
+Und wie man sonst auch über Rodbertus denken mag, seine Motive werden
+auf das Unzweifelhafteste durch den Schlußsatz seines Briefes
+charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl Lassalle recht habe,
+daß man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und
+freie Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in ihr Programm
+aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, der Ihnen schaden könnte, höchst
+wirksam zurückzuscheuchen”.
+
+Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus übertrieben, so
+nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die
+er später tatsächlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach
+von vornherein in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine Stelle aus
+dem teilweise schon früher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20.
+Juni 1859 über die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es:
+
+ „Im Anfang, als mit solcher Wut überall das nationale Geschrei
+ eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’
+ (Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr Redakteur) in einem
+ Leitartikel triumphierend aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei
+ aller Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine
+ welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von
+ der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.’ --
+ Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt dieses
+ Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewiß nicht! Ein
+ populärer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbürgerlichen
+ Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller
+ Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs
+ auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution
+ hinein würde die Wirkung dieser Strömung sich bemerklich machen.
+ Wir haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten Feind, den
+ wir haben, dem deutschen Spießbürgerindividualismus, durch einen
+ blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner
+ klassischen Form, in Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen.”
+
+So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der „Volkszeitung” verdiente in
+gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt,
+aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische
+Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus,
+während die Partei der „Volkszeitung” auf England, als ihr politisches
+Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht
+reaktionär, oder doch reaktionär nur insoweit, als es eben einseitig
+war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus
+Frankreichs ein Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, ihn mit
+dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine
+reaktionäre Seite ganz unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder
+einseitig.
+
+So weit über die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu
+seiner ökonomischen.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [20] Wohl ein Druckfehler. D. H.
+
+ [21] Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen Krieges”
+ gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht in die Schablone des „guten
+ Patrioten” passenden Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger
+ Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend
+ dafür ist auch eine Stelle in der Schrift „Was nun?”, die schon
+ deshalb hierher gehört, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag
+ tatsächlich nur zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder
+ Revolution. Anknüpfend daran, wie unmöglich und unhaltbar die
+ auswärtige diplomatische Stellung der preußischen Regierung wäre,
+ wenn sein Vorschlag befolgt würde, fährt Lassalle fort:
+
+ „Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein
+ unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der
+ Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden
+ Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter
+ einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den
+ diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und,
+ gleichviel ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt
+ in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft
+ habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei
+ historischen Studien mir die große Wahrheit auf das Genaueste zu
+ vergegenwärtigen, daß fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe
+ der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen würden,
+ wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen
+ unter einander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu
+ Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist
+ die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen
+ eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die
+ Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die
+ Geschichte genau und mit innerem Verständniß betrachten, so werden
+ Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so
+ riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa
+ vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit und Unverwüstlichkeit
+ unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten
+ wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl
+ unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische
+ zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche
+ derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen
+ kann -- das deutsche Volk!”
+
+ Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man
+ zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß, ein so wichtiger Faktor
+ des Fortschritts der Völker die Rivalität der Regierenden sein kann
+ und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein
+ Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des
+ Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des
+ heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg zwar
+ ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslöschen, es
+ aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schädigen kann,
+ daß er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber
+ auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwähnten Beispiel tut
+ Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlußsatz und seine Briefe
+ zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine übrigens
+ weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekämpfende Tendenz.
+
+ [22] Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft
+ kamen damals in Preußen erst 766180 selbsttätige Personen in der
+ Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter und Beamten eingeschlossen.
+
+ [23] Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem Brief” geheißen:
+ „Und ich wiederhole, daß ich mir auch von den Produktivassoziationen
+ nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die
+ Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch Lassalles wurden aber
+ diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine
+ Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen
+ Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn sie so schroffen
+ Widerstreit zwischen ihren Führern sehen, entmutigen müsse”.
+ (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.)
+
+
+
+
+Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben.
+
+Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit.
+
+
+Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das
+Beiwort „ehern” gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24]
+nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode --
+der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden
+Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen
+Großindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten
+Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperität, der rasch sich
+vollziehenden Steigerung der Produktivität der Arbeit usw. zum
+mindesten überlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von
+Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört
+ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert
+gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung
+des Arbeitsverhältnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle
+entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so
+hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die
+guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als
+Lassalle.
+
+Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn
+bestimmenden Gesetze, weil er den stärksten Schlag gegen die moderne
+Gesellschaft damit zu führen meinte, daß er nachwies, der Arbeiter
+erhalte unter keinen Umständen seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen
+Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen
+rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch höchst wirksam
+erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der
+Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den
+früheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein „ehernes”
+Gesetz es verhindert, daß der Lohn dauernd unter ein bestimmtes
+Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle
+ausdrücklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam
+hebt, aber doch hebt, so war der Beweis für die Notwendigkeit der von
+ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen.
+
+Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst später, und nur
+beiläufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit
+einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese
+Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen
+Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den in wechselnden
+Zeiträumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von
+beständigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse -- der
+schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden
+Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die
+wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten
+Abhängigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfällen des industriellen
+Zyklus sich zu befreien, die beständige Bedrohung mit dem
+Hinausgeworfenwerden aus einer Sphäre der Industrie in eine andre,
+tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die
+Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich
+macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum
+Schlechteren unterscheidet. Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit der
+scheinbaren Freiheit nur größer geworden. Sie ist es, die mit eherner
+Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der
+wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhöhe dagegen wechselt
+heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen
+Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die tatsächlich einen gewissen
+Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den
+verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils höher, teils aber
+auch geringer als in früheren Produktionsepochen. Beide hängen von sehr
+veränderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu
+Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den größten
+Veränderungen unterworfen, und beständig ist nur die Tendenz des
+Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die
+eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.
+
+Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der
+Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte,
+die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen
+Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat
+der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines
+Abhilfemittels von vornherein angezeigt. Es ignoriert, oder, um Lassalle
+auch nicht Unrecht zu tun, es unterschätzt die Stärke und den Umfang der
+Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale
+Rückwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir müssen hier
+wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel.
+Sein Ziel war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel
+aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich
+organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die
+sich von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, daß sie mit
+Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles
+weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der
+freiwilligen Entschließung jener überlassen -- es wird von ihnen erwartet,
+aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern,
+die sich zu assoziieren wünschten, die erforderlichen Mittel dazu auf
+dem Wege der Kreditgewährung vorstrecken.
+
+Die Assoziationen einer bestimmten Industrie würden also, solange sie
+nicht diese ganze Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen
+ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen
+dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche
+Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der Assoziationen
+Sonderinteressen herausentwickeln mußten, daß jede Assoziation danach
+streben mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu steigern, sei es auch
+auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit
+Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen
+von mehr oder minder großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle
+Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glückschancen mußten
+daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn
+und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie für andre
+Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gestützt darauf,
+daß 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr
+stark war --, daß sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter
+Industrien an den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation
+zusammentun würden, und sprach sich zweitens im „Bastiat-Schulze”
+später sogar dahin aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur einer
+Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil
+werden” lassen würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in
+dieselbe offen haltend”, aber selbst solche örtlich einheitlich
+organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz.
+Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch große Assekuranz- und
+Kreditverbände der Assoziationen untereinander in ihren ökonomischen
+Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, daß diese
+Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war
+für nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie.
+Sonst mußte die Überproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft
+sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie
+es oben heißt, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die
+Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte sich da, von seinem
+sozialistischen Gewissen getrieben, in einen großen Widerspruch. „Den
+Eintritt offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme jedes sich
+meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem „Offenen Antwortschreiben”
+sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber vollkommen unabhängig
+sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle
+der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit
+obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhängigen in ein
+öffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhältnissen staatliches
+Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt
+hätte scheitern müssen.
+
+Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist
+folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen
+eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, unterstanden sie den
+Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja
+gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion im Auge hatte, die
+zugleich die großen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz
+besteht, besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den
+Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder
+eine Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, daß sein Produkt
+jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht
+gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird.
+Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und
+Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine
+Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur möglich
+nach Maßgabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar
+durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz in der heutigen
+Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor
+Übervorteilung zu schützen und die Produktionskosten beständig zu
+senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten
+der Monopolinhaber zu überteuern und den Fortschritt der Technik, wenn
+nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn
+die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die
+Aufhebung des geschäftlichen Risikos für die Assoziationen würde also im
+Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn überhaupt zu
+verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich
+gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenüber die große
+Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wäre ein
+unlösbarer Antagonismus.
+
+In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das natürlich leicht zu
+verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der
+subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der
+Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der
+Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf
+gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische
+Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen
+so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die
+Lassalleschen Produktivgenossenschaften würden sich von den
+Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe,
+nicht dem Wesen nach unterschieden haben.
+
+Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu
+durchgebildeter Ökonom war, als daß ihm diese schwache Seite der
+Lassalleschen Assoziationen hätte entgehen können. Wir haben bereits aus
+dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus
+sich in seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern wollen, und die
+auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich
+deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war.
+Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an
+Rudolph Meyer hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, einige
+der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen.
+
+Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:
+
+„... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, daß
+dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen,
+das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel
+schlechteres, zu weit größeren Ungerechtigkeiten führendes Grund- und
+Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen
+hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich überführt, zu welchen
+Absurditäten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen müsse
+und (was ihm besonders unangenehm war) daß er gar nicht der Schöpfer
+dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la Révolution
+entlehnt habe.”[25]
+
+Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe
+ich gegen diese Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am
+Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie
+Settegast mit Recht sagt -- und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale
+Frage nicht gelöst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem
+Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich zu einem
+Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum
+liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis würde
+mich zu weit führen, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon
+in unserer Korrespondenz getrieben, daß er mir in einem seiner
+letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen denn, daß ich will, daß
+der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehören_ soll!’
+(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter
+an den einzelnen Betrieben wäre ein weit übleres Eigentum, als das
+individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer
+Kapitalistenassoziation.” ...
+
+Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur
+Veröffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber
+kaum anzunehmen, daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt haben
+würde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er
+gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht
+nämlich dagegen, daß Lassalle sich nicht in der Tat einmal so
+ausgedrückt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von
+den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat für das
+vorgeschossene Kapital zu zahlen hätten. Es liegt also in dem Satz noch
+nicht einmal ein Zugeständnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein
+solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich in eine --
+unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlägt,
+findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai
+1863. Dort heißt es:
+
+„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, wenn dem Arbeiter Boden,
+Kapital und Arbeitsprodukt gehört[26], von einer Lösung der sozialen
+Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch
+annähernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung
+geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. Bei der ländlichen
+Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein
+Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der
+Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich
+genau und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk schreibe, sehr
+explizit nachweisen.”
+
+Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der
+vorstehenden Sätze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die
+Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier
+gleichgültigen Zwischensatz lasse ich fort):
+
+„Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation wird dann der
+Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’,
+ist jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu verstehen. Ich
+verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz
+stattfinden könnte.
+
+Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw.
+Äckern würden doch zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die
+Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen
+Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben.
+
+Allein schon daraus allein, daß einer in der Gesellschaft mehr hat als
+sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, daß ein andrer weniger haben muß,
+als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns
+dieselbe übereinstimmend (vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen
+Briefes) denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen würde.
+
+Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgültigen
+Lösung der sozialen Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier
+immer als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem ‚mehr oder weniger’
+unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich ländlich oder industriell
+unter beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen kann,
+während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen mit derselben
+Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungünstigeren mit derselben
+Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wäre
+der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivität, der
+bestimmt wird durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum
+zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht.
+
+Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes können Sie das unmöglich
+bestreiten.
+
+Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation
+Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall
+sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes
+Arbeitsprodukt.”
+
+Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier gar nicht mehr möglich. Die
+„Idee”, welche Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt,
+ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der
+Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen
+oder der Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich durchaus dessen
+bewußt, daß, solange der letztere den Verteilungsmaßstab bildet, ein
+Bruchteil der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise
+weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten
+Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter
+Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen zunächst
+eine neue Ungleichheit schaffen würden. Gerade mit Rücksicht darauf
+habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines
+Vorschlages das Wort „Lösung der sozialen Frage” sorgfältig vermieden
+-- „nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern
+aus jenen theoretischen Gründen”.
+
+Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, daß die
+Ungleichheit bei den ländlichen Assoziationen durch eine
+differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden könne, welche „die
+ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hände des Staats bringen, den
+Arbeitern nur den wirklich gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll --
+die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer würde die
+Bezahlung bilden für die Überlassung der Bodenfläche an die
+assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heißt -- „schon aus
+Gerechtigkeit und Neid” von den ländlichen Assoziationen
+„leidenschaftlich begünstigt werden”. Der Staat aber hätte an dieser
+Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, öffentliche
+Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen
+solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, daß sobald die
+Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer großen
+Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhören
+und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden
+würde. „Würde hiermit nicht zugleich getötet werden, was man heut
+Überproduktion und Handelskrise nennt?”
+
+Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der
+Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthält keinen
+Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr
+wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung
+irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der
+Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfüllung gehen
+kann, aber nicht notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht,
+solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt
+wird. Und selbst wenn sie in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus
+nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder der einzelnen
+Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine größere oder
+unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
+erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. Es
+stände immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse.
+
+Hören wir noch einmal Rodbertus.
+
+Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel
+des „Neuen Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß Lassalle der
+„weitgehendsten Richtung des Sozialismus” angehört habe, und meint,
+das sei wohl richtig, es sei
+
+ „aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und der (Neue)
+ ‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine Produktivassoziation angestrebt
+ haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher der
+ Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören sollte, nur daß
+ Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu
+ sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es
+ ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar).
+ Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt,
+ setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ voraus. Wie soll also
+ jene ‚weitgehendste Richtung’ mit einer solchen Assoziation
+ vermittelt werden können?”
+
+Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation
+als „provisorische Institution” gedacht werden könne, und
+fährt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die
+Produktivassoziation, die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ in der
+Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als Übergangszustand zu jenem
+‚weitgehendsten’ Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gemäß,
+würde er nicht zu allgemeiner Brüderlichkeit, sondern zu dem
+schärfsten Korporationseigentum zurückführen, in welchem nur die
+Personen der Besitzenden gewechselt hätten, und das sich tausendmal
+verhaßter machen würde, als das heutige individuale Eigentum. Der
+Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben
+niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt
+ziemlich über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale
+Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum.
+Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die
+Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei
+Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die
+Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum
+zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen
+gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem
+Führer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ Ziel
+anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” (Briefe usw. von
+Rodbertus-Jagetzow.)
+
+Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen lassen, weil er Lassalle
+vielleicht am objektivsten gegenüberstand und in seiner Auffassung vom
+Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl
+niemand so eingehend mit Lassalle über die Produktivgenossenschaften
+diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch
+nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der „Lösung der
+sozialen Frage” hatte, nämlich den Normalwerksarbeitstag und den
+verhältnismäßigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der
+Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet,
+wenn er sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle
+wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel,
+und weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem „Mob” -- worunter er
+den ganzen Troß der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits
+zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte,
+stellte er das ihm ungefährlicher scheinende Postulat der
+Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf.
+
+Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz über Franz
+von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er
+„listete” mit der „Idee”, wie es in jenem Aufsatz heißt, und
+täuschte die Freunde mehr, als die Feinde. Aber er tat es, wie
+Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenüber
+Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu
+verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel
+zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schluß ziehen,
+daß Lassalle nicht von der Güte seines Mittels durchaus überzeugt
+war. Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so
+eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie
+sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung in bezug
+auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: „Kurz, ich begreife nicht,
+wie man nicht sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat ausgehend,
+der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren führt.” --
+Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser
+Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen
+Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel
+schwerwiegender wäre, als der eines theoretischen Irrtums.
+
+Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit
+der Zweck, dem diese dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der
+sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzügen bereits
+enthalten, daß hier in der Tat -- worauf er so großes Gewicht legte --
+„das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen”
+sei. Nun ist ja auch tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück
+Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit,
+und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die
+Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen Befreiung der
+Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den
+Zusammenhang mit dem großen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation
+verlorenging, möglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht
+nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr die Einheitlichkeit des
+Gedankens bei ihm im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen,
+welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser für ihn nicht der
+jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände
+war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch
+jeweilige historische Einflüsse zwar beeinträchtigt, dessen ewige
+„wahre Natur” aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher
+Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der
+Staatshilfe mehr als eine bloße praktische Maßregel zu erblicken
+und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des
+Sozialismus, eine selbständige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29].
+Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in
+engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen
+Lohngesetzes. Sie fußt auf denselben ökonomischen Voraussetzungen.
+Kurz, es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß.
+
+Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an die Richtigkeit seines
+Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so
+unbestimmt wie nur möglich äußerte. Er, der in dem schon zitierten
+Aufsatz über den „Franz von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte,
+welche Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten Zwecke der Bewegung
+andern (‚und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim
+zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen
+„sittliche Schuld” erblickt hatte, die seinen Untergang herbeiführen
+mußte, den Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm
+vertretenen Idee, ein „Abweichen von seinem Prinzip”, ein „halbes
+Gebrochensein” -- er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen
+dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck
+zuzuspitzen. Die Entschuldigung, daß man diesen Zweck dem „Mob” noch
+nicht sagen durfte, oder daß die Massen für ihn noch nicht zu
+gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen für das wirkliche
+Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese
+überhaupt verfrüht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn
+erlangt, nicht zum Ziele führen. In den Händen einer Arbeiterschaft,
+die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag,
+konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als nützen und mußten
+die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden
+Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer liefern. War aber die
+Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen,
+dann mußte dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit
+noch nicht als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes Ziel
+hingestellt zu werden, aber nicht nur der Führer, sondern auch jeder
+der Geführten mußte wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß es
+nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wäre dadurch nicht
+mehr vor den Kopf gestoßen worden, als es durch den Kampf um das
+Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der
+Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz
+handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung mit Recht, „sind
+zu täuschen, Klassen niemals.”
+
+Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär erscheint, der sei auf die
+Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit
+will ich zum Schluß auf dieses Thema übergehen.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [24] „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des ehernen
+ Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung ist von mir später
+ gesondert in das Buch „Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes”
+ (erster Teil der Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des
+ Sozialismus”, Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden.
+
+ [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc
+ „entlehnt” -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner
+ Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung
+ zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit dem ersteren
+ hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbständigkeit der
+ Assoziation gemein.
+
+ [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen
+ Briefe heißt es „nicht gehört”. Das „nicht” beruht aber, wie
+ sich im folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem
+ Abdruck des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463).
+
+ [27] D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über einen gewissen
+ Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt nicht bewirtschaftet wird,
+ weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte
+ Arbeit abwirft.
+
+ [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen von Henry George,
+ Flürscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der
+ Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir früher gesehen haben,
+ jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern
+ müßte.
+
+ [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle
+ z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur Arbeiterfrage” den sogenannten
+ Manchestermännern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß
+ sie, wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden in der
+ Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, daß
+ die Manchestermänner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft
+ untergehen lassen wollen.
+
+
+
+
+Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.
+
+
+Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation können hier nicht
+dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen
+Werkes annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, vorderhand
+nur die allgemeinen Züge der Bewegung hervorzuheben.
+
+Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst nur zum Teil die Wirkung,
+die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in
+Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze liest sich mit solcher
+Leichtigkeit, daß es dem Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon
+jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk,
+sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu
+verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben.
+Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden
+bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft
+ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen
+in Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und Industrieorten am
+Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge
+eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie
+namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus
+der Zeit vor und während der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das
+Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf
+längere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt und
+betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Führer der
+Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion.
+
+Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen und außerhalb Preußens
+anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen
+wahren Sturm erregt -- nämlich einen wahren Sturm der Entrüstung, der
+leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so groß vorgekommen, so
+erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und
+nun wurde ihnen plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen
+Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, das ihnen das
+Volk bisher entgegengebracht, unwürdig erwiesen hätten und daß daher
+jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder
+Arbeiter, ihnen den Rücken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung
+verträgt keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in
+einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die
+Feindseligkeiten zwischen ihr und der preußischen Regierung hatten
+allmählich einen Höhegrad erreicht, daß eine gewaltsame Lösung des
+Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mußte man sich auf das
+Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, daß
+die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe,
+hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten können, das Volk, das
+politisch denke, stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht
+hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. Denn wenn die
+Fortschrittler auch keine große Lust hatten, Revolution zu machen, an
+Drohungen mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen[30].
+
+Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne,
+der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen,
+man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser
+Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte?
+Das hieß ihnen Unmenschliches zumuten.
+
+Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr
+Möglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu
+lassen, und die nachträgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser
+Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist,
+um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. Die Art der Gegenwehr
+nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. Daß
+die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion
+hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf
+gemacht werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal nicht bestreiten,
+daß Lassalles „Antwortschreiben” zunächst Wasser auf die Mühle der
+preußischen Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu beschränken,
+Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine
+starke Position, oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken
+Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner
+Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und
+entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit
+hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht zugleich mit einer so
+riesigen Dosis von Selbstüberhebung gepaart gewesen wäre. Lassalles
+einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte
+getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des
+Staats gegenüber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil
+unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die
+platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen
+Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaßen sie so sehr
+alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst früher in bezug auf die
+nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben
+hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die
+Übertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen
+Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen
+über Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten
+Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszüge aus der 1858
+erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausführungen Schulzes in
+seinem „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” -- eine
+Zusammenstellung von sechs Vorträgen, die letzten davon bestimmt,
+Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Während
+dort es als eine der schönsten Wirkungen der selbsthilflerischen
+Assoziationen bezeichnet wurde, daß sie den Unternehmergewinn
+herunterdrücken hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft ein
+solches Ding wie Unternehmergewinn” gar nicht kenne und also
+auch natürlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und
+Unternehmergewinn. Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und b)
+Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenüber
+solcher „Wissenschaft” brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu
+sein, um mit ihr fertig zu werden.
+
+Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz seiner packenden
+Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenüber nicht den
+Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des „Offenen
+Antwortschreibens” gleich der der von Luther an die Wittenberger
+Schloßkirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits
+erwähnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunächst
+auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in
+Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen
+„Arbeitertag des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, in einer
+zum Abschluß derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer
+Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, für
+das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne
+Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in
+Anwesenheit von Delegierten aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln,
+Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und
+Frankfurt a. M.), der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet,
+auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten
+demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte.
+Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische,
+was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den
+Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an die Gründung eines allgemeinen
+Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen
+gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der
+Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich
+die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten für
+die Person des Präsidenten, der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar
+sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten
+konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche
+Präsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenüber Lassalles
+ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte Annahme der Statuten nicht
+durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde
+Lassalle zum Präsidenten erwählt, und nachdem man ihm noch die Befugnis
+zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen
+Vizepräsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an.
+Er war somit anerkannter Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber
+blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhängerschaft
+beschränkt. Drei Monate nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des
+Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wäre das ein gar
+nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz
+andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer
+Propagandagesellschaft, sondern der Führer einer Massenbewegung sein.
+Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern.
+
+Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine
+wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war
+das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht
+sechs Wochen alt, da trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige
+Erholungsreise an -- zunächst in die Schweiz, dann an die Nordsee.
+Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine
+rege Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für den Verein zu
+gewinnen, wobei er übrigens nicht sehr wählerisch vorging, aber gerade
+das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ er ruhen.
+Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafür, daß der Verein
+wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, obwohl es
+ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begnügte sich mit
+gelegentlichen Subventionen an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten
+Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” und den in Leipzig von
+einem Eigenbrödler, Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”,
+womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten wurden, ohne
+jedoch deshalb aufzuhören beständig zwischen Leben und Sterben zu
+schweben.
+
+Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der
+vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den bürgerlichen
+Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem
+Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute war, wie bereits erwähnt,
+stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium,
+andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches Mißtrauen gegen
+Lassalle davon abgehalten, sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder
+andere hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei
+von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein
+beitraten, ließen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und
+verhielten sich im übrigen durchaus passiv. Dafür agitierten zwar andere
+Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse
+hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretär des Vereins, Jul.
+Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für
+den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den
+Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit der
+unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des
+Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem
+Verfassungskampf in Preußen als ein fast unübersteigbares Hindernis, so
+daß an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft
+die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel
+unpolitischer Natur, Gründung von Unterstützungskassen usw., das
+Werbegeschäft fördern solle.
+
+Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser
+Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den
+Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation
+usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, daß der
+Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ändern mußte. Er würde
+aufgehört haben, eine jederzeit disponible politische Maschine
+abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert.
+
+Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit
+der er bei seiner Rückkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und
+zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm am günstigsten erwiesen
+hatte. Es ist dies die Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter
+Abgeordnetentag”.
+
+Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in
+Barmen, Solingen und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in
+seiner Agitation. Welche Einflüsse während der Sommermonate auf ihn
+eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden können, indes wird
+man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin Hatzfeldt und ihre
+Verbindungen schließt. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein
+noch größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als
+dieser selbst; für sie ging das Interesse am Sozialismus vollständig auf
+im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie überhaupt erst
+zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre
+große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet,
+die wohl versprachen, seinem persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu
+verschaffen, die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade
+kompromittieren konnten. Für sie war eben die Bewegung Lassalle und
+Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille
+der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigennützigen Freunde
+sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber
+obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen
+Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbständigen
+Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie
+bestärken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und
+Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf
+jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als
+der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache für dieses
+Unrecht, sie hetzen und schüren und intrigieren -- alles in bester
+Absicht, aber zum größten Schaden dessen, für den es vermeintlich
+geschieht.
+
+Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so
+sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf
+Erfahrung überlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab
+er viel auf ihren Rat; er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen
+Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schluß seiner Laufbahn
+geschriebenen Briefe an die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die
+Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des
+Präsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe.
+Das ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle hätte wohl auch
+ohne die Gräfin das Präsidium angenommen. Aber in solchen Situationen
+läßt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was
+man selbst möchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint.
+Die Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es
+liegt der Schluß mehr als nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge
+getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preußens damals
+vorbereiteten. Es sei nur an die Erklärung Lassalles in seiner
+Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon vom ersten
+Tage, wo er seine Agitation begann, gewußt habe, daß Bismarck das
+allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklärung,
+daß, als er das „Offene Antwortschreiben” erließ, ihm „klar” war,
+daß „große auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es
+unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. Er stellt es zwar dort so
+hin, als ob dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse mit
+sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber
+gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die
+„Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus „diplomatischen
+Quellen” über die Vorgänge in Regierungskreisen zugingen.
+
+Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als Lassalle
+selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und
+stillen Diplomatie abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf verfallen,
+hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich
+als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an
+Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um
+jeden Preis zu erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament und
+seinem hochgradigen Selbstgefühl nur zu bereitwillige Unterstützung.
+Inwieweit damals schon die Fäden angeknüpft waren, die später Lassalle
+ins Palais des Herrn von Bismarck führten, läßt sich heute nicht mehr
+feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede
+„Die Feste, die Presse usw.” für den Druck niederschrieb, an seinen
+Freund Levy richtete: „Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein
+paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst
+beweisen, daß an diesen Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die
+Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die
+teilweise sehr übertrieben sind, während dagegen dem Minister Bismarck
+unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und
+der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so
+meistert hier der Demagoge die ersteren.
+
+Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, nachdem sie den Landtag
+nach Hause geschickt, die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche
+die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger zweimaliger
+Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inländischen Zeitung oder
+Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche Wohlfahrt
+gefährdender Haltung zeitweise oder dauernd” zu verbieten. Die
+liberale Presse, ausschließlich in den Händen von Privatunternehmern,
+hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der Dauer der
+Preßordonnanzen überhaupt nichts mehr über die innere Politik zu
+schreiben. Das war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es war auch
+nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es
+hinstellt. Lassalle übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht
+beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaßten
+Blätter der Opposition geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene
+oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der
+Begründung der Preßordonnanz hatte es ausdrücklich geheißen:
+
+ „Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse derselben (d. h. der
+ liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon
+ deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die
+ meisten der oppositionellen Organe durch eine langjährige Gewöhnung
+ des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden
+ Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu
+ bekämpfen ist.”
+
+Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf ankommen ließen,
+verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Möglichkeit,
+andere Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen
+abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maßregel wurde also gerade
+durch dies zeitweilige Schweigen über die innere Politik vereitelt.
+Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. Lassalle
+meint in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich hätte verbieten
+lassen, wenn der Spießbürger nicht mehr beim Frühstück seine gewohnte
+Zeitung bekommen hätte, dann würde die Erbitterung über die
+Preßordonnanzen im Volke aufs höchste gesteigert worden sein und die
+Regierung sich gezwungen gesehen haben, nachzugeben. Indes, die
+Erbitterung war nicht minder groß, wenn der Spießer zwar seine gewohnte
+Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben
+vordemonstriert wurde, daß seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er
+zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.
+
+Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, die nicht aufrechtzuerhalten
+war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein
+Provisorium, und die liberalen Blätter hatten gar keine Ursache, während
+desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrückt -- „mit Ehren
+zu sterben”.
+
+Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe
+spiegelten diese Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle drückt das
+so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die reaktionären Blätter wußten
+damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren kaum
+hinreichenden Ausdruck zu geben.” Und er zitiert als Beweis die
+„Berliner Revue”, das Organ des reaktionärsten Muckertums.
+
+Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, ihren Angriffen auf die
+liberale Presse ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, sich zu
+gebärden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen.
+Statt jedoch gegen diese Fälschung des sozialistischen Gedankens zu
+protestieren und jede Solidarität mit ihren Urhebern zurückzuweisen,
+leistete Lassalle dem Spiel der Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre
+Blechmünzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab.
+
+Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute ein Geldgeschäft ist, ein
+großer Übelstand, ein mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen
+Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das kapitalistische
+Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten
+durch beschränkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten
+Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die
+Freiheit der Presse ermöglicht. Davon aber wollte die preußische
+Regierung nichts wissen, und Lassalle unterstützte ihren Widerstand
+noch, indem er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber zugleich
+erklärte, daß diese ohnmächtig sein würde, das Wesen der Presse
+umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen würde,
+Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde die Presse nämlich aufhören,
+eine lukrative Geldspekulation zu sein, und würden wieder nur solche
+Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl und das geistige
+Interesse des Volkes kämpfen.
+
+Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos
+dieses Mittel wäre? Lassalle hätte nur seine Blicke über den
+Grenzbereich des preußischen Staates hinaus nach England und Frankreich
+zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu
+überzeugen. In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen
+eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, während in Frankreich
+den Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber
+durch eine hohe Steuer fast unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert
+war. War deshalb die französische Presse besser als die englische?
+Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit
+nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem
+Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse für seine Zwecke
+zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse
+Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel höherem Grade
+dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war.
+
+Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine
+Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen
+Lebens bezeichnet werden muß. War der Zeitpunkt auch schlecht gewählt,
+war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und für sich bleibt
+die Tatsache, daß die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein
+kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die
+Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden muß, soll sie sich vom
+Einfluß der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber
+war, was Lassalle über die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863
+Bismarck zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß die Feste weiter
+nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die
+Regierung, wie sie in Frankreich und England unter ähnlichen
+Verhältnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren,
+so mußte er hervorheben, daß mit den Festen allein noch nichts getan
+war, daß, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die
+Regierung um keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte er
+sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse über die Feste zu
+wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen suchte,
+noch zu überbieten. Niemand, der die Geschichte der preußischen
+Verfassungskämpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der
+Lassalleschen Rede lesen können, ohne sie zu mißbilligen.
+
+Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu
+Frankfurt a. M. zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wäre
+berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo
+er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den
+deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen --
+wir haben gesehen, wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” das
+„Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen und Preußen als den
+reaktionärsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn
+Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel
+getrieben hätte, wie die Fortschrittler, nur daß er nach der andern
+Seite hin liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe gegen
+Bismarck und die preußische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe
+direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie
+„mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” über die
+Beschlüsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis
+aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler alte Weiber seien.
+Noch ein Passus der Rede zeugt von der veränderten Frontrichtung
+Lassalles.
+
+Der Führer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den
+Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut,
+wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft der Volkspartei und
+die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionären
+Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk sei nicht bloß einmütig,
+sondern auch so gemäßigt bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche
+nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann,
+keine Verantwortung dafür habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte,
+welche, weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung greife.”
+
+Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung eine zwar recht
+lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. „Wir
+wollen keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen unsere Hände in
+Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und
+dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, wenn man wirklich die
+ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider
+zugleich auch sehr gebräuchliche Art zu drohen -- so gebräuchlich, daß,
+wie gesagt, über den Sinn der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich
+war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht
+verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die
+Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern
+um ihnen zu drohen für den Fall, daß es zu einer Revolution oder einem
+Staatsstreich kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn
+von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen:
+„Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals
+dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege käme, es den
+Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis
+zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution!
+Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor.”
+
+Und „die ganze Versammlung erhebt in großer Aufregung ihre Hände”,
+heißt es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht über die
+Rede.
+
+Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” bedeuten? Es war kaum eine
+andre Auslegung möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn nicht
+direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es „auf diesem
+oder jenem Wege” zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. Eine solche
+Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die
+Fortschrittler, statt sie vorwärtszutreiben, erst recht kopfscheu zu
+machen.
+
+In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten.
+Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu
+unterbrechen, wurden von exaltierten Anhängern desselben mit
+Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse löste der
+Bürgermeister eine halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf
+Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das andere ausbringenden
+Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck
+aufgab, das mit den Worten beginnt: „Fortschrittlicher Bürgermeister hat
+soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen
+und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene
+Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst”, und mit
+der „Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß.
+
+Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung
+angeführt werden kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten der
+Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttäuschung über die
+verhältnismäßig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen
+Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige,
+aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre
+-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt,
+so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend
+geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- daß Lassalle, als er
+nach Deutschland zurückkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich
+so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches
+Telegramm hätte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn
+einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, und der
+seiner inneren Überzeugung nach sicherlich sich noch für einen solchen
+hielt. Wenn nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste Taktgefühl
+Lassalle verbieten müssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt
+herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann.
+
+Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflösung
+der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, so
+folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung unternommene Schritte,
+die ebenfalls den politischen Grundsätzen, als deren Vertreter Lassalle
+auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem
+in enger Verbindung mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht.
+
+Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch
+gemacht haben sollten, waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen
+Gefängnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen
+Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten,
+unterstützt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an
+den König von Preußen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige
+Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu
+seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, „wie wenig entmonarchisiert”
+das Volk in Preußen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen
+hatte: „Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als
+zu Demokraten”, er, der als Führer der neuen Bewegung doch vor allem die
+Pflicht hatte, seinen Anhängern das Beispiel demokratischen Stolzes zu
+geben, ermuntert sie, vom König von Preußen Begnadigung zu erbetteln.
+Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am 20.
+April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte Klings, daß gegen
+Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Sämtliche
+Hauptmitglieder des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. „Die
+beiden von hier Verurteilten gehören zu der entschiedensten
+Arbeiterpartei und würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht zu
+bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen
+widerstreitet, Sr. Majestät verpflichtet zu sein.”
+
+Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er
+schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem Stolz.
+Aber den Gedanken der Adresse an den König gab er noch immer nicht auf,
+sondern suchte nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch der
+Verurteilten von großem Nutzen sein könne. Es kann, heißt es wörtlich,
+„vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn die Adresse
+von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte
+oben eine -- für uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche
+man sich um so mehr ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an die
+Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein
+Schritt, den man, wie Ihnen der beigefügte Leitartikel der
+ministeriellen Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) zeigt,
+oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. Indes auch diese
+Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des
+empfohlenen Schrittes zu überzeugen, und so blieb der Bewegung diese
+Bloßstellung erspart.
+
+Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurückkehrte, ging er
+zunächst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt für seine Sache zu
+erobern. Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter Berlins”, ließ ihn
+in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter
+den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam
+geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte
+der Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” und „Reform”)
+über die rheinischen Versammlungen anknüpft, war der Erfolg doch
+zunächst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in
+Berlin fanden in kleineren Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött
+Anlaß, und als in der ersten größeren Versammlung Lassalle auf
+Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde,
+klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der
+Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der
+Vorträge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen
+bald wieder ab, so daß der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis
+auf über 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864
+kaum noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein ein großer
+Teil Nichtarbeiter waren.
+
+Neben der Agitation beschäftigten Lassalle auch sehr stark seine
+Prozesse und sonstigen Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm dem
+Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen
+die Fortschrittspartei kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in
+Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges Werkzeug
+gebrauchen ließ. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren
+Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu überschütten.
+Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen
+Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch „mürbe” zu bekommen.
+Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede
+„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und erhob gegen Lassalle
+Anklage auf Verletzung der §§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches
+(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung
+von Anordnungen der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle
+unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster
+Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war,
+mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefängnis.
+Wegen der Flugschrift „An die Arbeiter Berlins” erhob die
+Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle
+und ließ auch, wie bereits erwähnt, Lassalle in Untersuchungshaft
+nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides,
+Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persönlichen Rachsucht des
+Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr
+vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bös zerzaust
+hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. März 1864 vor dem
+Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht
+weniger als drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen
+Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat
+lautete, auf Freisprechung und überwies die Behandlung der
+untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verstöße gegen
+das Strafgesetz der zuständigen Gerichtsabteilung.
+
+Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist ein wichtiges Dokument für
+die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie
+eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen Arbeit Lassalles
+zu erwähnen, die Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein
+propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden muß. Es ist dies die
+Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische
+Julian, oder Kapital und Arbeit”.
+
+Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, die
+Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und
+unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” als
+Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation veröffentlichte. Diese,
+aus den plattesten Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie
+zusammengesetzten Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe,
+den auf der Höhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei,
+die in ihm ihren ökonomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu
+vernichten. Berücksichtigt man, daß Lassalle zu systematischen
+ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment,
+wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk machen wollte,
+durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man
+außerdem in Betracht, daß Lassalle, während er den „Bastiat-Schulze”
+schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten für die Leitung des
+Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin,
+in diesem Buch einen neuen Beweis für das außergewöhnliche Talent, die
+staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des Lassalleschen Geistes
+zu erblicken. Freilich trägt der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs
+deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik
+der Popularität der Schrift zugute kommt, sind die Umstände, unter denen
+diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so
+größer war, als Lassalle wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine
+falsche Position geriet -- die Enttäuschung einerseits, und das
+Bestreben, sich über diese Enttäuschung selbst hinwegzutäuschen,
+andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. Aber auch
+inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Höhe des Gegenstandes,
+sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein
+nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche
+und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht
+frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen hat der „Bastiat-Schulze”
+jedoch das große Verdienst, den historischen Sinn und das Verständnis
+für die tieferen Probleme der Ökonomie unter den deutschen Arbeitern in
+hohem Grade gefördert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung
+auf die Höhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen
+Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war,
+ noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen
+ Eindrücke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- überall wurde
+ in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir Knaben nur
+ in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer
+ Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschüler gehörten den
+ bürgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber
+ die einen wie die andern waren gleich fest davon überzeugt, daß eine
+ Revolution „kommen muß”, denn „mein Vater hat es auch gesagt”.
+ Jede Äußerung der Wortführer der Fortschrittspartei, die als
+ ein Hinweis auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde
+ triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse
+ auf den König und seine Minister.
+
+ [31] So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles gegen
+ Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach Befriedigung”
+ seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen für dieselbe Sache”
+ falsch. Beides fällt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs
+ dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber lustig,
+ daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und
+ tierischer Arbeit darin erblicke, daß die erstere Arbeit für künftige
+ Bedürfnisse sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren
+ Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, daß der Mensch mit
+ Bewußtsein, das Tier ohne solches tätig sei. Und ähnlich an anderen
+ Stellen.
+
+
+
+
+Lassalle und Bismarck.
+
+
+Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen und geschrieben
+hat, trägt immer deutlicher die Züge der inneren Ermattung, der
+geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprüngliche,
+das natürliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die
+Stärke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man
+vergleiche das „Arbeiterprogramm” mit der Ronsdorfer Rede, die
+Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter” mit der
+Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, und man wird das hier Gesagte
+verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke treten an
+ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische
+Beweisführung, und statt zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer
+mehr auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern
+vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten
+Erfolgen.
+
+Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die
+Behauptung der Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation die
+schließliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit großem Geschick
+das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt
+zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von
+„Wallensteins Tod”:
+
+ „Wär's möglich? -- könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?
+ Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?”
+
+Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation
+um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser
+jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, wie der Friedländer -- um
+sein eigenes Bild zu brauchen -- „Dinge getan, welche er à deux mains
+verwenden konnte”. Er hatte sich nicht damit begnügt, die Vorgänge in
+der inneren und äußeren Politik objektiv zu studieren, um den günstigen
+Moment zur Aktion für seine Pläne auszunützen, er war bereits dazu
+übergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen die er
+kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte
+Unterhandlung getreten. Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein
+sagen:
+
+ „Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam
+ Nicht über diese Schwelle noch!”
+
+Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch
+innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu
+treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht die Versuchung von
+sich wies”?
+
+Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende
+Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck
+hatte, ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die langjährige
+Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer
+1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche
+Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern
+derselben unter Hinzufügung der näheren Umstände mitgeteilt, und als
+August Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom 16. September 1878 die
+Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags
+darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte
+nur in Abrede zu stellen, daß es sich dabei um politische
+Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen
+der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es drehte sich bei diesen
+Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um
+Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die
+Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Fürst
+Bismarck war für diesen Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er
+weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung
+des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der
+schleswig-holsteinische Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei.
+Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen
+zwischen Lassalle und dem Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der
+letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich
+ausdrücklich konstatieren muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte
+und erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu
+können.” Darauf antwortete nun Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten
+sich gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umständen
+aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so
+ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung
+einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht gekommen.” Er habe es „mit
+einem gewissen Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert.
+Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er „von deren
+Unzweckmäßigkeit noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die damals
+eingetretenen politischen Ereignisse die Fortführung der in dieser
+Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht er,
+sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, ihn brieflich darum
+gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu
+herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren. „Was hätte mir
+Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In
+allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du
+gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man
+anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, was
+kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als
+Minister hätte geben können.”
+
+Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der „offiziell noch nie gelogen”
+hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloßen
+Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und
+würde dieser nicht den „revolutionären Juden” wiederholt -- er selbst
+gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, während Sophie Hatzfeldt
+behauptet hatte, daß es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche
+gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert
+haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in
+der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche
+nachzulesen, um sich zu überzeugen, wie stark sich das Ministerium
+Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht
+einzuführen, und dazu gab es unter den obwaltenden Umständen kaum
+einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert
+in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige
+Äußerungen und knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten
+Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte mit Bismarck
+bekannt geworden, richtig gewürdigt werden können:
+
+„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte
+Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen!
+
+Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich
+Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es
+vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt!
+
+Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust
+zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr
+mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine
+und direkte Wahlrecht oktroyiert.
+
+Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf
+dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen
+mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene
+Notwendigkeit gegründet sind.
+
+Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird
+vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die
+Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht
+ist oktroyiert!”
+
+Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewußt, „schon
+an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erlaß meines
+Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand
+entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffaßte”. Aber wenn es
+auch zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter 1862/63 in
+Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es möglich sei, durch
+eine Änderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu
+sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32],
+so würde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer
+bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben
+und immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn er nicht aus seinen
+Unterhaltungen mit Bismarck die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun
+vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, diese Oktroyierung
+beschlossene Sache sei.
+
+Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, daß es
+zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen
+schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen überzeugt hatte,
+daß Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt
+unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer
+möglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die
+Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, geht schon daraus
+hervor, daß Lassalle fortfuhr, von allen seinen Veröffentlichungen usw.
+durch das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” ein
+Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift
+„persönlich” an Bismarck übersenden zu lassen.
+
+Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß seine Verhandlungen mit
+Lassalle wegen des „do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen führen
+konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachträglich
+protzenhaft mit der Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel geben? Er
+hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Bismarck
+hatte es zu jener Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe
+brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache
+war nur die, daß es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles
+Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, daß
+Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: „Sie
+können unsre Bevollmächtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. Sie
+können sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen,
+während wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen über diesen
+Punkt, aber lügen schickt sich für uns nicht” -- nach seiner Rückkehr
+nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge übertrieb. Er
+wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit
+wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre
+Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie es
+in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.
+
+Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst seine eigne Bewandtnis.
+Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren
+darüber, daß er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen
+politischen Verbündeten haben würde, solange dieses Bündnis im
+Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern
+Worten, daß Lassalle genau so mit ihm verfahren würde, wie er mit
+ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald er das
+von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mußte ihn die erste
+Unterredung mit Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie
+Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein Fisch ohne Gräten”
+war, sondern ganz gehörige Gräten und Stacheln hatte. Mit der
+Aussicht auf ein Pöstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da
+nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle
+leicht sehr unbequem werden, also warum sich übereilen? Die Agitation
+Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger
+gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck
+brauchte.
+
+In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter”,
+gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklärt:
+
+„Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die Einführung des
+Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, daß sie dem deutschen
+Bürgertum zur Last falle?... Die preußische Regierung ist es, nicht die
+besitzenden Klassen in Preußen, welche für alle Zeiten und vor allem
+Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten
+Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: „Bourgeoisie und Arbeiter
+sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre
+Unterdrücker” -- d. h. also gegen die Regierung.
+
+Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. März 1864 -- ist ihm der
+Verfassungskonflikt in Preußen nur noch der Kampf zwischen dem
+Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” könne das Königtum
+nicht weichen, „vollkommen wohl” aber könne es „das Volk auf die
+Bühne rufen und sich auf es stützen. Es brauche sich hierzu nur
+seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich
+Volkskönigtum gewesen.”
+
+„Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der
+Bourgeoisie könnte dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch aus
+seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des
+Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen
+ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.”
+
+Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im weiteren Verlaufe seiner
+Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung
+als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt.
+Niemand lasse aber „gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband
+drehen, an welchem er erwürgt wird, und das ist niemand zu verdenken,
+und daher auch dem Königtum nicht”. Beständig auf das angebliche
+„Recht” hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, daß es mehr
+in seiner Stellung läge, sich auf das wirkliche Recht zurückzuziehen
+und das Volk auf die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen und
+von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband
+winden zu lassen, an dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle,
+sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung gestürzt und das
+allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der
+intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte.
+
+Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur durch die Tatsache seiner
+Agitation -- was unter Umständen nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion
+vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die
+Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch immer mit
+Wallenstein ausrufen:
+
+ „Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht
+ Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!”
+
+Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar
+machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck
+abschütteln zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal der
+Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck seinen „Bevollmächtigten”. Aber
+er vergaß, daß es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker ist als
+selbst der stärkste individuelle Wille, und daß, indem er überhaupt
+um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu
+vertrauen und ausschließlich ihr seine Energie zu widmen, er nach
+seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab.
+
+In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles
+über die Grundidee seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: mit
+der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen Schwenkung war
+Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz
+als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es
+ist merkwürdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal
+vorgezeichnet hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende
+Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke durch diplomatische
+Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen
+Gegner -- die preußische Regierung -- zu täuschen, aber er täuschte
+tatsächlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er
+nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp
+persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie Lassalle von Sickingen
+schreibt, daß „dieser große Diplomat und Realist, der alles sorgsam
+vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen will, gerade dadurch
+zuletzt gezwungen ist, dem zufälligsten Zufall alles anheim zu
+geben”, und, „während die Rechnung auf jene Täuschung durch den
+Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen an der bewußten Natur des
+Bestehenden zugrunde gehen muß, die Entscheidung, statt wie er
+wollte, aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus denen des
+ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen muß”[33] -- so sieht
+auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit dem Zufall
+zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen in der inneren und
+äußeren Politik abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine
+realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, daß beim
+Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler
+lahmzulegen, der die meisten Trümpfe in der Hand -- beim politischen
+Spiel, der über die meisten tatsächlichen Machtfaktoren zu gebieten
+hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war,
+konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich mehr Bismarcks, als
+dieser sein „Bevollmächtigter” wurde.
+
+Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, „die
+Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen
+des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine
+schwächste Agitationsrede, ausschließlich auf den äußeren Effekt
+berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede bewußt war,
+zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den überall
+eingestreuten Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze -- Krücken,
+deren ein Vortrag, der an Hand und Fuß gesund ist, durchaus entbehren
+kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar
+beeinträchtigen würden. Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der
+Vorzüge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen
+deren Fehler.
+
+Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz
+nach tadelnswerter als alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen.
+
+Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die
+Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin
+geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe gegen die Übelstände,
+unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da
+es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte,
+auf Veranlassung Bismarcks vom König empfangen worden und hatten auf
+ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König habe seine Minister
+angewiesen, „eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig
+und mit allem Ernst vorzubereiten”.
+
+Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang
+der Deputation von Seiten des Königs als einen Erfolg seiner
+Agitation hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich war,
+niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere Übertreibungen in
+der Ansprache, erklärte sich auch diese aus der Situation Lassalles.
+Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der
+Deputation durch den König und den Worten des letzteren eine
+Auslegung, die zunächst nur als eine Reklame für jenen und dessen
+Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der
+offiziösen „Zeidlerschen Korrespondenz” über den Empfang der
+Deputation beim König und liest gerade die dem Königtum günstigste
+Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrücklich
+verzeichnet, „mit dem höchsten Nachdruck der Stimme und begleitet
+sie mit der eindringlichsten Handbewegung”[34].
+
+In den Worten des Königs liege, erklärt er, „die Anerkennung des
+Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” --
+nämlich, daß eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung
+notwendig sei -- ferner, „das Versprechen des Königs, daß diese
+Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die
+Gesetzgebung erfolgen soll”, und drittens, da „eine
+Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz
+erwählte Kammer, dem Könige niemals die zu diesem Zwecke
+erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn die
+Sache ohne Geld zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu einem
+solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in dem königlichen
+Versprechen, „innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen”
+auch „das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden”.
+
+Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, welche diesem
+ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ...
+zugehört” habe, in einen „nicht zu beschreibenden Jubel” ausbrechen,
+der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu
+sprechen versuchte.
+
+War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, daß die Arbeiter Lassalles
+Auslegung des königlichen Versprechens für bare Münze nahmen, das
+schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte.
+
+Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in
+Betracht kamen, diese nur durch möglichst glänzende Ausmalung der
+bisher erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit für den
+Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere
+Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine
+in der „Kreuzzeitung” erschienene Rezension des „Bastiat-Schulze”,
+die nach Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, als daß die in
+ihr an Lassalle gerichteten Fragen hätten unbeantwortet bleiben
+dürfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes
+ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und läßt die Erwiderung und zwei
+Exemplare der Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck senden.
+Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck
+zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche
+Jubel” sollte Köder für Bismarck und den König sein. Aber niemand
+kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu
+gestalten, daß sie den gewünschten Effekt nach oben mache, bewirkte,
+daß sie tatsächlich einen durch und durch cäsaristischen Charakter
+erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus:
+Cäsarismus in den Reihen der Partei, und Cäsarismus in der Politik
+der Partei.
+
+„Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres,
+nichts Unintelligenteres,” heißt es in der Einsendung an die
+„Kreuzzeitung”, „als der unruhige, nörgelnde liberale
+Individualismus, diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser
+unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit,
+sondern wurzelt notwendig und naturgemäß nur in den Viertels- und
+Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie.
+
+Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage
+angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die
+Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner würden hier in
+diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehört zu werden. Der
+oligarchische Boden allein ist der homogene, mütterliche Boden für den
+negativen, ätzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und
+ihre subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.”
+
+Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen:
+
+„Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe
+ich zu erwähnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit
+und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser
+Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein
+epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte,
+da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen
+Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines
+Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt
+oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis
+zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein ‚Nein’
+gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut
+habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit
+beruhende!... Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den
+Arbeitern Worte gehört, die sich in den Satz zusammenfassen:
+Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer
+zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen,
+zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige
+Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit dem Hammer!
+
+Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar
+betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten,
+Freiheit und Autorität, -- die höchsten Gegensätze, sie sind auf das
+innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im
+kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen darstellt. Nicht
+eine Spur ist in uns von jenem nörgelnden Geiste des Liberalismus, von
+jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von
+welchem der Körper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...”
+
+Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der
+nämlich, daß in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen
+Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf
+die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und daß in der Tat schon die
+Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist
+der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, während umgekehrt der
+Bourgeois nur unter anormalen Verhältnissen, nicht aber durch die bloße
+Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion
+sich veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt aber durch die
+obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion
+heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; wo die Masse ihren
+Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus
+einem revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden. Die persönliche
+Diktatur ist in den Kämpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der
+Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionären
+Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den „negativen, ätzenden
+Individualismus” aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein
+Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefährdet erscheint. In
+solchen Momenten wird das Schlagwort von der „einen reaktionären
+Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung sich
+verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich
+unfähig fühlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern
+unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persönlichkeit
+ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser
+Persönlichkeit entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden
+Individualismus”. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den
+letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die
+Partei, die tatsächlich am konsequentesten deren Klassenforderungen
+vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren
+Interessen, weil sie durch ihre „Nörgelei” die staatserhaltende
+Tätigkeit der Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre 1851
+die französische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter
+jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum
+Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten
+usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der
+Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloßen Hüters
+der Ruhe und Ordnung für die Bourgeoisie zu begnügen.
+
+Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat absolut keinen Anlaß,
+ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das
+„Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber zu verzichten. Und wir
+haben bei der Solinger Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle
+den Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz pochte, er
+gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und
+kräftiges „Nein” hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum
+Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten
+Anlaß ein ebensolches „Nein” gehört -- er sprach, wenn er sich
+rühmte, in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und Freiheit” in
+der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen
+Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus.
+
+Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß er von Anfang an die
+persönliche Spitze für unerläßlich gehalten hatte. Zu diesem bloßen
+Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis hinzu. Die Politik, die
+er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder
+und Anhänger der Bewegung kritiklos dem Führer folgten und ohne Murren
+taten, was er von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen
+des Königs von Preußen gegenüber den schlesischen Webern in einer Weise
+behandelte, daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt den
+Demokraten -- man möchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das
+übrige aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so mußten auch sie
+bereit sein, auf Kommando das Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn
+eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag,
+so ist es die Tatsache, daß sie für Lassalle unter den gegebenen
+Verhältnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die
+Arbeiter je nach Bedürfnis für seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu
+haben, und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, um nach oben hin
+als eine bündnisfähige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige
+Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr
+möglich.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert.
+ Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schlußwort einer
+ Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck
+ und tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer Sitzung des
+ konservativen preußischen Volksvereins vom 2. November 1862: „Meine
+ Herren, täuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn
+ sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu
+ lösen, so ist all Euer Laufen und Mühen umsonst. Ich schließe deshalb
+ mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und
+ Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch
+ mehr Energie, treiben wir es nicht bloß für die Zeit der Wahlen.”
+
+ [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen
+ Schriften dem für das große Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum
+ Franz von Sickingen angefügt (vgl. Bd. I).
+
+ [34] Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst baldigen
+ gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhülfe ihrer Not
+ entließen Seine Majestät die Deputation. Das königliche Versprechen
+ wird erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges
+ widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue
+ Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.”
+
+
+
+
+Lassalles letzte Schritte und Tod.
+
+
+Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere
+Vereinsleitung als auch was die geplante nächste äußere Aktion des
+Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. Im
+Verein drang er auf die Ausstoßung Vahlteichs, der in bezug auf die
+Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei
+nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so daß den Vereinsmitgliedern
+kaum etwas anderes übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn
+Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit
+höchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich
+gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise
+zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens
+erst kennenlernen mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder bereits
+gegen ihn beeinflußt waren.
+
+Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge zur Abänderung der
+Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken
+an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache
+hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst
+bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein
+letzter Versuch, „einen Druck auf die Ereignisse auszuüben”,
+mißglücken sollte.
+
+Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in
+Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben
+von Dänemark eroberten Herzogtümer Schleswig-Holstein.
+
+Als im Winter 1863 der Tod des Königs von Dänemark die
+schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrängt hatte, hatte
+Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung
+stand und deshalb ein großes Interesse daran hatte, je nach derjenigen
+Politik, für die die preußische Regierung sich entschloß, den Verein
+Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den
+„Schleswig-Holstein-Dusel” Stimmung gemacht[35] und eine Resolution
+ausgearbeitet und überall annehmen lassen, in der erklärt wurde:
+
+ „Die einheitliche Gestaltung Deutschlands würde die
+ schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser
+ großen Aufgabe gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in
+ Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben ein ausländischer
+ Fürst ist, von verhältnismäßig sehr untergeordnetem Interesse.”
+
+Im übrigen enthält die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine
+Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die
+Einverleibung der Herzogtümer in Deutschland „nötigenfalls mit
+Waffengewalt” durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der
+Hut zu sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen
+Aufgaben abziehen”. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird
+der Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit
+benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage
+abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen
+sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember
+1863.
+
+Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es handelte sich um die Frage,
+was mit ihnen geschehen solle. Ein großer Teil der Fortschrittler trat
+für die legitimen Ansprüche des Herzogs von Augustenburg ein, während
+man in maßgebenden Kreisen Preußens auf die Annexion der Herzogtümer in
+Preußen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien
+hatten, zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in Deutschland noch
+einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache,
+der zur Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs
+zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches
+Taktgefühl verloren, daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine
+große Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution
+beschließen zu lassen, des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die
+Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und der übrigen deutschen
+Staaten an Preußen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte
+bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu
+welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs
+gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung
+entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausführung des Vorhabens
+gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer
+demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren
+Führer glücklicherweise erspart.
+
+Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch einen Prozeß ausgefochten,
+in die Schweiz gegangen. Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad,
+und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Fräulein Helene von
+Dönniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht
+und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen
+hatte. Es entwickelte sich im Anschluß an den Besuch jene Liebesaffäre,
+deren Schlußresultat der frühzeitige Tod Lassalles war.
+
+Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre sind heute so bekannt und
+die für Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affäre so
+über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine Wiedererzählung des
+ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte
+sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er
+entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen
+gelernt haben -- man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre im kleinen und
+auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen
+Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dönniges
+das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist,
+das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den
+mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner Persönlichkeit gelingen
+muß, diese Schwierigkeit zu überwinden. Selbstbewußt, und zugleich mit
+umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er
+seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern
+und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie
+mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines,
+unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der
+jungen Dame erfahren die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung
+und erklären, Lassalle unter keinen Umständen als Schwiegersohn annehmen
+zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph
+wird nur um so größer sein, je größer der Widerstand der Eltern. Von
+diesem Selbstbewußtsein getragen, begeht er einen Schritt, der die
+Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum
+Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen selbst
+an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein
+anderer. Und ohne Rücksicht darauf, was er sich und seiner politischen
+Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es für ihn
+nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das
+Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges
+beobachten und über jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch die
+Vermittlung Hans von Bülows wird Richard Wagner ersucht, den König von
+Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dönniges zu
+intervenieren, während dem Bischof Ketteler von Mainz der Übertritt
+Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen
+Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht
+die geringsten Gedanken darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen
+Mission war, die er übernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu
+antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch
+kümmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten würdig
+erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur
+Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er hätte stolz sein
+dürfen, wo er stolz sein mußte, war er es nicht.
+
+Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts
+tun, weil Helene von Dönniges protestantisch war, und der
+Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswärtigen an
+den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm,
+führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, daß er durch die Art
+seines Vorgehens sich und das Weib, für das er kämpfte, in eine total
+falsche Position gebracht hatte. Obwohl er gewußt hatte, daß Helene
+jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug für sein
+zukünftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- „erhalten Sie mir
+Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist”, hatte
+er am 2. August an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr
+jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste Willensstärke erforderte,
+und war empört darüber, daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen
+suchte. Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, die Dinge
+ausschließlich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen
+zu betrachten, hatte er ganz außer Erwägung gelassen, daß gerade die
+unterwürfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ändern,
+und sah den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste Spiel” einer
+„verworfenen Dirne”, wo weiter nichts vorlag, als die Unbeständigkeit
+eines verwöhnten Weltkindes.
+
+Indes, er war nervös total heruntergekommen und besaß längst nicht mehr
+die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu
+Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und
+Hölle in Bewegung zu setzen, die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen
+oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft,
+sondern eines hochgradigen Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel
+von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach den übereinstimmenden
+Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich
+auf ein stark zerrüttetes Nervensystem.
+
+In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die erlittene Niederlage
+ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu
+verschaffen für die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So töricht
+das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden
+Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affäre spielte,
+ist das Duell das reinigende Bad für allen Schmutz und allen Schimpf,
+und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besaß, sich im Kampf um
+irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschränken, welche sich für den
+Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft
+schicken, so war es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich
+erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu
+verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell
+gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der
+verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der
+erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit
+die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten Dr. Dammer,
+ an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus
+ widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wörtlich geheißen:
+ „Die erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der ganze
+ Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht höchst unangenehm ist.”
+ Der Widerspruch in den Telegrammen erklärt sich jetzt durch die
+ widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war,
+ ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.
+
+
+
+
+Schlußbetrachtung.
+
+
+So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles,
+seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so,
+vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein
+Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt,
+war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit
+hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr
+problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der
+er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben.
+
+Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl
+getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen
+wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert
+worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt.
+
+Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt
+hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich
+seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst
+anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl
+hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent
+weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf
+diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen
+lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß
+genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz
+hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte,
+ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten
+Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu
+Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel,
+geben?”
+
+Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen
+ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland
+niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen,
+bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”,
+selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution
+beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts
+geändert haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht
+war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges
+genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt
+des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen
+an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „... Ich muß noch vorher in
+Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich
+wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage
+und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel”
+von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses
+Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige
+Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck
+kommen. Sie lautet:
+
+„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich
+nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur
+genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben.
+
+Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher,
+als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft
+und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde
+ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste
+Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel
+sähe, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich für mich schickt;
+denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber
+bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium
+übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig.
+Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre,
+mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!)
+
+Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam
+entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und
+chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane
+Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus
+besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse
+auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht
+versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon!
+
+Ach könnte ich mich zurückziehen!” --
+
+In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig
+und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte
+Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die
+jene resignierten Sätze diktierten.
+
+Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am
+3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorläufigen
+Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph.
+Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung für „Mr. Ferdinand
+Lassalle professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte
+Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk
+von der Hand des alten Freiheitsveteranen:
+
+„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhängnisvollen Jahre
+1864 hier mitteilte, er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt
+machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische Bewegung in
+etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß
+es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht
+hinreichend fühle, namentlich werde er die bevorstehenden
+Gefängnisstrafen nicht überdauern können. Hierauf gab ich ihm den Rat,
+sich unter bewandten Umständen irgendwo einen festen Wohnsitz zu
+gründen, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er
+dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das
+Bürgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden hätte.
+In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige Reisen machen.
+Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11.
+August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.”
+
+Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate.
+
+Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an
+ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um
+Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend
+des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und
+setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente
+von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von
+jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen
+Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten
+Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den
+Arbeiterstand zum Siege führen”.
+
+Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles
+Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken
+zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre
+gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den
+Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu
+räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen
+politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich
+zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die
+Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen,
+sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei,
+wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So
+liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch
+sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in
+seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit
+stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich
+in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür
+gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht
+darüber im „Nordstern” erschien.
+
+In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten
+-- so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte,
+er stets das Ich hatte vorangehen lassen.
+
+Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte
+es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber
+ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit
+wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus.
+
+Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser
+Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im
+hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten
+Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so
+mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind,
+gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht
+ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob
+Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein
+anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß
+zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer
+Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über
+diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener
+hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers
+in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte
+anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen
+Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und
+konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen,
+aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur
+großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende
+entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte,
+während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung,
+die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit.
+
+Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr
+begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für
+den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent
+geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte
+hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große
+agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene
+Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende
+für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen
+Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der
+Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie
+in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verständiger
+Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der
+aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in
+ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon
+Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in
+seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen
+hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche
+Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten
+zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des
+Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das
+äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen
+aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine
+Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare
+Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die
+Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug
+auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben.
+
+Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre
+Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen
+doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug,
+zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer
+Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst
+aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch.
+Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die
+er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in
+dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die
+Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche
+anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik
+fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen
+irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der
+Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent
+im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft;
+kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines
+Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß
+von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner
+sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die
+bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war
+unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an
+Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner
+bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit
+den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch
+konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus
+Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle
+nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die
+verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter
+denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden,
+einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie
+getan.
+
+Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat
+langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden
+wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich
+oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie
+heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen
+sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der
+Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften
+von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne
+Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der
+Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das
+Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb.
+
+Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende
+Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl
+Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und
+Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da
+sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten,
+ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und
+dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so
+bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der
+Arbeiterbewegung.
+
+Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne
+Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung
+darunter litt, und darum sei es hier erwähnt.
+
+Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher
+von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute
+hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht
+in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu
+untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des
+einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht,
+und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat
+keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre
+Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher
+auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt
+darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in
+Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich
+gefördert haben.
+
+Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße,
+als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders
+gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für
+die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben
+Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit
+andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht
+wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein.
+
+Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der
+Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele
+Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab
+sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die
+Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung
+und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft.
+
+Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig
+wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es
+bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und
+brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber
+wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so
+gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat,
+-- so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur
+erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er
+hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen
+Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen
+politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den
+Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein
+eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein
+vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung
+des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der
+Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
+für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun
+gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der
+Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als
+nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen
+Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime
+Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes
+und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war
+freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da.
+Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen.
+Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich
+gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land
+geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen
+zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen
+ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine
+politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten
+auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet.
+Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es
+im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen
+deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen _organischen_ Weg
+gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden
+Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das große, das unvergängliche
+Verdienst Ferdinand Lassalles.
+
+
+
+
+ +--------------------------------------------------------------------+
+ | Anmerkungen zur Transkription |
+ | |
+ | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide |
+ | Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: |
+ | |
+ | anderm -- anderem |
+ | andern -- anderen |
+ | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein |
+ | eigne -- eigene |
+ | garnicht -- gar nicht |
+ | heut -- heute |
+ | Testamentrecht -- Testamentsrecht |
+ | Vermittelung -- Vermittlung |
+ | Verständniß -- Verständnis |
+ | |
+ | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: |
+ | |
+ | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. |
+ | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. |
+ | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert. |
+ | S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert. |
+ | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert. |
+ | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert. |
+ | S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert. |
+ | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert |
+ | (Fußnote). |
+ | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert. |
+ | S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt. |
+ | S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt. |
+ | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert. |
+ | S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt. |
+ | S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote). |
+ | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert. |
+ | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert. |
+ | S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14). |
+ | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert. |
+ | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert. |
+ | S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt. |
+ | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert. |
+ | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert. |
+ | S. 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt. |
+ | S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert. |
+ | S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht. |
+ | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert. |
+ | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert. |
+ | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert. |
+ | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert. |
+ | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert. |
+ | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert. |
+ +--------------------------------------------------------------------+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44722 ***
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+<h1>FERDINAND LASSALLE</h1>
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+<p class="center pagebreak"><big><big><big><br /><br />FERDINAND LASSALLE</big></big></big></p>
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+<p class="center"><br /><big><big>EINE WÜRDIGUNG<br />
+DES LEHRERS UND<br />
+KÄMPFERS<br /><br /><br /></big></big></p>
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+<p class="center">VON</p>
+
+<p class="center"><big>EDUARD BERNSTEIN<br /><br /><br /><br /><br /><br /></big></p>
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+
+<hr class="full" />
+<p class="center">VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN<br />
+1 9 1 9
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+<p class="center pagebreak"><br /><br />
+<br /><br /><br /><br /><br /><br />
+ALLE RECHTE VORBEHALTEN<br />
+COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN
+<br /><br />
+<br /><br /><br /><br /><br /><br /></p>
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+<p class="center"><em class="gesperrt">DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG</em>
+</p>
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+<tr><td align="left"></td><td align="right">Seite</td></tr>
+<tr><td class="tdl">Vorwort</td><td align="right"><a href="#Seite_5">5</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung</td><td align="right"><a href="#Seite_7">7</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz von Sickingen</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">27</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Ferdinand_Lassalle">66</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Das System der erworbenen Rechte</td><td align="right"><a href="#Das_System_der_erworbenen_Rechte">114</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Der_preussische_Verfassungskonflikt">145</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalle">186</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_213">213</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_235">235</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalle und Bismarck</td><td align="right"><a href="#Lassalle_und_Bismarck">263</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalles letzte Schritte und Tod</td><td align="right"><a href="#Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">285</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Schlußbetrachtung</td><td align="right"><a href="#Schlussbetrachtung">293</a></td></tr>
+</table></div>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Vorwort" id="Vorwort">Vorwort.</a></h2>
+
+
+<p>Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer
+ersten Gestalt im Jahre 1891 verfaßt, als eine
+Einleitung zu der damals von der Buchhandlung
+&#8222;Vorwärts&#8221; veranstalteten Sammelausgabe von
+Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand,
+daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen
+Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten,
+und daß aus buchhändlerischen Gründen
+die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich
+kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte
+verschiedene Mängel zur Folge, die ich später oft
+bedauert habe.</p>
+
+<p>Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden
+ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier
+zu bessern, was nach meiner eigenen Überzeugung
+und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten
+Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere
+aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen,
+teilweise recht bedeutsamen Briefe
+von, an und über Lassalle berücksichtigt worden,
+die dazu beigetragen haben, das Bild des großen
+Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher
+zu gestalten, als es früher vor uns stand.</p>
+
+<p>Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die
+besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mit<span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span>glied
+der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begründer
+verehrt, <em class="gesperrt">für</em> die Partei, also namentlich
+auch für bildungsdürstige Arbeiter geschrieben,
+hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die
+Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der
+von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in
+möglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen.
+Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur
+Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich
+zurücktreten mußte. Die Schrift beansprucht
+nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die
+Lassalle von der Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers
+oder Literaturpsychologen behandeln.
+Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment
+um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade
+in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses
+steht und an dem Lassalle am meisten gelegen
+war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender
+Lehrer des Sozialismus und als politischer
+Führer der sozialistischen Demokratie.</p>
+
+<p>
+<span>&nbsp; &nbsp; <em class="gesperrt">Berlin-Schöneberg</em>, im September 1919.</span><br />
+</p>
+<p class="right"><em class="gesperrt">Ed. Bernstein</em>. &nbsp;
+</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p>
+
+
+
+
+<p class="center pagebreak"><big><big>FERDINAND LASSALLE UND DIE<br />
+DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE<br /><br /></big></big></p>
+
+
+<h2 class="nopagebreak"><a name="Deutschland_am" id="Deutschland_am">Deutschland am
+Vorabend der Lassalleschen Bewegung.</a></h2>
+
+
+<p>Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende
+und ausgebeutete Klassen gibt, hat es
+auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren
+gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen,
+Ehrgeizige und Schwärmer gefunden,
+welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung
+oder Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in
+Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen
+unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen,
+so ist der Sozialismus so alt wie die
+Zivilisation. Hält man sich jedoch an bestimmtere
+Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen
+nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie
+und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der
+Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit
+dem irgendeiner früheren Epoche nur soviel gemein,
+daß er wie jener der geistige Niederschlag
+der besonderen, von den Besitzlosen geführten
+Klassenkämpfe seiner Zeit ist. Überall drückt
+die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden
+er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche
+ihren Stempel auf.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span></p>
+
+<p>Der moderne Sozialismus ist das Produkt des
+Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft,
+er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen
+Bourgeoisie und modernem Proletariat,
+einem Gegensatz, der schon verhältnismäßig früh
+in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum
+Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang
+von den Kämpfenden selbst in seiner vollen
+Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf
+gegen die privilegierten Stände der feudalen
+Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem
+absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum
+zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der
+Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen,
+die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung
+ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger
+Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen
+Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit
+im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die
+es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint
+ihm als deren vernunftgemäße, vor dem
+gesunden Menschenverstand Bestand habende
+Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber,
+soweit es sich selbst bereits von den zunftbürgerlichen
+Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen
+der bürgerlichen Wortführer so lange
+für bare Münze, als das Bürgertum ausschließlich
+Opposition gegen die Vertreter der ständischen
+Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die
+letzteren besiegt oder doch soweit zurückgedrängt,
+um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen<span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span>
+gehen zu können, so stellt sich bald
+heraus, daß die hinter ihm stehenden Plebejer
+ganz andere Begriffe von dem versprochenen
+Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen
+Freunde und Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen,
+die um so heftiger ausfallen, je
+größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat
+ist jedoch noch nicht stark genug, seinen
+Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit
+rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht
+und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz
+zurück.</p>
+
+<p>Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen
+des 16., 17. und 18. und selbst noch
+der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die
+rasche Entwicklung, welche die Revolution der
+Produktionsverhältnisse in diesem Jahrhundert
+nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des
+Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte
+nicht mehr außergewöhnlicher Veranlassungen,
+um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen
+der beiden an den Tag treten zu lassen,
+er kam in den vorgeschrittenen Ländern auch
+ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an,
+sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren,
+die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung
+wurde vom proletarischen Standpunkt
+aus der Kritik unterworfen, es entstand eine
+antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig
+unbedeutende Reibereien im Schoße
+der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span>
+Flügel gegen einen andern aber genügten, um
+die tatkräftigeren Elemente des Proletariats als
+selbständige Partei mit eigenen Forderungen in
+die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung
+des liberalen Bürgertums in England wurde das
+Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution
+in Frankreich leitete erst eine rein republikanische
+Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionäre
+Bewegungen ein, die zusammen
+an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation
+zurückbleiben.</p>
+
+<p>Literarisch und propagandistisch schlägt die
+Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland
+hinüber. Schriftsteller und Politiker, die
+entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch
+in der Heimat für eine Zeitlang zu entgehen, sich
+ins Ausland begeben, werden Proselyten des
+Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland
+zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer
+Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet,
+bringen die sozialistische Lehre in die Heimat
+zurück und kolportieren sie auf den Herbergen.
+Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre
+Propagandagesellschaften gegründet und schließlich,
+am Vorabend des Revolutionsjahres 1848,
+tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem
+Programm, das mit unübertroffener revolutionärer
+Schärfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen
+Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet,
+aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen
+Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span>
+zunächst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam
+mit der Bourgeoisie gegen die absolute
+Monarchie, das feudale Grundeigentum und die
+reaktionäre Kleinbürgerei zu kämpfen.</p>
+
+<p>Die Februarrevolution in Frankreich und die
+Märzrevolution in Deutschland fanden das erstere
+in seinen Zentren stark sozialistisch unterwühlt,
+das letztere gleichfalls schon mit einer relativ
+großen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter
+durchsetzt. Hier wie dort lieferten die Arbeiter,
+wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits
+die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber
+die Verhältnisse waren in Frankreich, trotz seiner
+politischen und ökonomischen Überlegenheit, der
+Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger
+als in Deutschland. Auf dem Lande herrschte
+der kleinbäuerliche Grundsatz vor, während in
+den Städten und Industriebezirken zwar die große
+Industrie bereits um sich gegriffen, aber doch
+noch lange nicht die Alleinherrschaft erobert
+hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in
+Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das
+kleinere und mittlere Handwerk, wenn es auch
+aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon
+meist für den Großindustriellen arbeitete, noch
+eine verhältnismäßig große Rolle, ganz besonders
+auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend
+hatte der französische Sozialismus
+selbst dort, wo er sich vom eigentlichen Utopismus
+freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen
+einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span>
+die Februarrevolution und die furchtbare Lehre
+der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben
+dem utopistischen Sozialismus bei den französischen
+Arbeitern den Todesstoß, aber an seine
+Stelle trat auf Jahre hinaus &mdash; der Proudhonismus.</p>
+
+<p>In dieser relativen Unreife der ökonomischen
+Verhältnisse liegt die Erklärung für die sonst unbegreifliche
+Tatsache, daß, während es damals in
+Frankreich von Sozialisten wimmelte, während
+über 200 Mitglieder der Deputiertenkammer sich
+&#8222;Sozialdemokraten&#8221; nannten, die bonapartistische
+Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten
+abzuspeisen vermochte.</p>
+
+<p>In Deutschland war die Unreife natürlich noch
+größer. Die große Masse der Arbeiter steckte
+nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern
+teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen.
+Auf verschiedenen der Arbeiterkongresse,
+die das Jahr 1848 ins Leben rief,
+wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert.
+Nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit der
+deutschen Arbeiter hatte bereits die revolutionäre
+Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese
+überall in den vordersten Reihen der Volksparteien
+kämpfte, wenn sie, wo immer sie konnte, die
+bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte,
+so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen
+Leibe. Die Kommunisten des Jahres 1848 fielen
+auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in
+Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten,
+als die Reaktion auf der ganzen Linie gesiegt,<span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span>
+das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von ihnen
+im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen,
+die das Frühjahr 1848 ins Leben
+gerufen, wurden von den Regierungen unterschiedlos
+aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was
+an Sozialisten noch im Lande blieb, zog sich entweder
+in Erwartung günstigerer Zeiten ganz von
+der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und
+schloß sich an die ihm adäquate Fraktion des
+bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres gilt
+namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des
+halb schöngeistigen, halb sansculottischen &#8222;wahren&#8221;
+Sozialismus, der mit so vielem Lärm aufgetreten
+war. Die Arbeiter selbst aber, mehr
+oder weniger eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken
+ihrer Organisation als Klasse mit selbständigen
+Zielen ab und verfallen der Vormundschaft
+der radikalen Bourgeoisparteien oder
+der Protektion wohlmeinender Bourgeoisphilantropen.</p>
+
+<p>Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen
+wesentlichen Punkten mit den in England und
+Frankreich unter den gleichen Umständen vor
+sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der
+Fehlschlag der erneuerten Agitation der Chartisten
+im Jahre 1848 hatte in England die Wirkung,
+daß der christliche Sozialismus der Maurice,
+Kingsley, Ludlow sich in den Vordergrund drängte
+und einen Teil der Arbeiter veranlaßte, in selbsthilflerischen
+Genossenschaften ihre Befreiung zu
+suchen &mdash; nicht nur ihre ökonomische, sondern<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span>
+auch ihre &#8222;moralische&#8221;, ihre Befreiung vom
+&#8222;Egoismus&#8221;, vom &#8222;Klassenhaß&#8221; usw. Wenn nun
+diese &#8218;christlichen Sozialisten&#8217; auch mit ihren
+Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche
+Zwecke verbanden, noch die Geschäfte irgendeiner
+besonderen Partei der besitzenden Klassen
+besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda
+unter den Arbeitern, soweit ihr Einfluß reichte,
+doch zunächst die der Ablenkung derselben von
+den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d.&nbsp;h.
+politische Entmannung. Soweit es gelang, den
+&#8222;Klassenegoismus&#8221; zu vertreiben, trat in den
+meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser
+Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder
+philisterhaftes &#8222;Bildungs&#8221;-Pharisäertum. Die
+Gewerkvereinsbewegung ihrerseits verliert sich
+fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden
+Interessen, während die Reste der Oweniten
+sich meist auf die sogenannte freidenkerische
+Propaganda werfen.</p>
+
+<p>In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion
+gewesen, welche die Arbeiterklasse
+in den Hintergrund der revolutionären Bühne
+drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund.
+Der rege politische Geist des Pariser Proletariats
+konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß nicht
+sofort ertötet werden. &#8222;Es versucht sich&#8221;, wie
+Marx im 18. Brumaire schreibt, &#8222;jedesmal wieder
+vorzudrängen, sobald die Bewegung einen neuen
+Anlauf zu nehmen scheint.&#8221; Indes seine Kraft
+war gebrochen, es konnte selbst nicht einmal mehr<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span>
+vorübergehend siegen. &#8222;Sobald eine der höher
+über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre
+Gärung gerät, geht es eine Verbindung
+mit ihr ein und teilt so alle Niederlagen, die die
+verschiedenen Parteien nacheinander erleiden.
+Aber diese nachträglichen Schläge schwächen sich
+immer mehr ab, je mehr sie sich auf die ganze
+Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine bedeutenderen
+Führer in der Versammlung und in
+der Presse fallen der Reihe nach den Gerichten
+zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren
+treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich
+auf doktrinäre Experimente, Tauschbanken und
+Arbeiter-Assoziationen, also in eine Bewegung,
+worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren
+eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr
+hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf
+Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen,
+seine Erlösung zu vollbringen
+sucht, also notwendig scheitert.&#8221; (Der achtzehnte
+Brumaire, 3.&nbsp;Aufl., S.&nbsp;14 und 15.)</p>
+
+<p>In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen
+Niederlage der Arbeiter keine Rede sein
+konnte, weil diese sich zu einer größeren Aktion
+als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten,
+unterblieben ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche
+von Arbeitern, sich in nennenswerter Weise
+selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche
+Philanthropie in Vereinen &#8222;für das Wohl der
+arbeitenden Klasse&#8221; sich mit der Frage der
+Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span>
+harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein
+kleinbürgerlicher Demokrat, der preußische Abgeordnete
+Schulze-Delitzsch, der selbsthilflerischen
+Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur
+&#8222;Lösung der sozialen Frage&#8221; zu gelangen, bei
+welchem löblichen Unternehmen ihm gerade die
+ökonomische Rückständigkeit Deutschlands in ermunterndster
+Weise zustatten kam.</p>
+
+<p>Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei
+seinen Genossenschaften weniger die Arbeiter, als
+die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt;
+diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine
+in den Stand gesetzt werden, mit der Großindustrie
+zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie
+in Deutschland noch wenig entwickelt
+war, es dafür aber eine große Anzahl von Handwerksmeistern
+gab, die sich noch nicht, wie die
+Meister der kleinen Industrie in Frankreich und
+England, an die große Industrie angepaßt hatten,
+sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr
+ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf
+einen fruchtbaren Boden fallen, die geschilderten
+Genossenschaften ihnen auch, solange sich die
+Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges
+noch nicht bemächtigt hatte, wirklich von
+Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und
+Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch
+Konsumvereine von Kleinbürgern und Arbeitern,
+und im Hintergrunde winkten &mdash; als die Krone
+des Ganzen erscheinend &mdash; die Produktivgenossenschaften
+von Arbeitern als die Verwirklichung<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span>
+des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom
+Kapital.</p>
+
+<p>Ebensowenig wie die englischen christlichen
+Sozialisten verband Schulze-Delitzsch ursprünglich
+mit der Propaganda für die selbsthilflerischen
+Genossenschaften spezifische politische Parteizwecke,
+sondern folgte, gleich jenen, nur einer
+mit seinem Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie.
+Zur Zeit, als er sich der Bewegung zuwandte,
+war die politische Partei, zu der er gehörte,
+die Linke der preußischen Nationalversammlung,
+von der öffentlichen Bühne zurückgetreten.
+Nachdem sie sich von der Krone und deren
+geliebten Krautjunkern nach allen Regeln der
+Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte sie, als die
+preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem
+oktroyierte, bis auf weiteres das Feld geräumt.
+Sie ballte die Faust in der Tasche und ließ die
+Reaktion sich selbst abwirtschaften.</p>
+
+<p>Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber
+Kleinbürger mit liberalen Anschauungen, dabei in
+seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch,
+als er von der Reaktion gemaßregelt worden war,
+eine Idee aufgegriffen, die damals allgemein in
+der Luft lag. &#8222;Assoziation&#8221; hatte der Ruf der
+Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren
+gelautet, Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr
+gegründet, Assoziation dozierte der
+konservative Schriftsteller V.&nbsp;A.&nbsp;Huber, warum
+sollte der liberale Kreisrichter Schulze nicht auch
+für &#8222;Assoziationen&#8221; sich erwärmen?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span></p>
+
+<p>Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer
+Stelle einzugehen haben werden, so seien hier nur
+aus einer 1858 veröffentlichten Schrift Schulze-Delitzschs
+einige Sätze zitiert über die Wirkungen,
+die er von den selbsthilflerischen Genossenschaften
+in bezug auf die Lage der Arbeiter
+erwartete:</p>
+
+<p>&#8222;Und was die im Lohndienst verbleibenden
+Arbeiter anbelangt, so ist die Konkurrenz, welche
+die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen
+den Unternehmern machen, auch für sie
+von den günstigsten Folgen. Denn muß nicht die
+solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der
+Unternehmer zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich
+der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht
+die Inhaber der großen Etablissements dadurch
+genötigt, ihren Arbeitern möglichst gute Bedingungen
+zu bieten, weil sie sonst riskieren, daß
+dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen
+übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen,
+wozu natürlich die geschicktesten und strebsamsten
+Arbeiter am ersten geneigt sein werden?
+&mdash; Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter
+selbst den Arbeitgebern Konkurrenz bieten,
+läßt sich ein dauernder Einfluß auf die Lohnerhöhung,
+auf eine günstigere Stellung der Arbeiter
+im ganzen ausüben, den man mittelst gesetzlicher
+Zwangsmittel, wie wir früher gesehen
+haben, oder durch die Appellation an die Humanität
+niemals allgemein und mit Sicherheit erreicht ...</p>
+
+<p>&#8222;Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements<span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span>
+von den Arbeitern errichtet und
+das bisherige Monopol der Großunternehmer hierbei
+durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben,
+daß sich die enormen Gewinne derselben, welche
+sie früher ausschließlich zogen, vermindern, weil
+sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen
+müssen. Während also der Reichtum von der
+einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen
+wird, schwindet auf der andern Seite der
+Notstand mehr und mehr, und die Zustände beginnen
+sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes
+zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus
+wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen,
+diesen unseligen Auswüchsen unserer Industrie,
+in denen wir zwei gleich feindliche Mächte
+wahrer Kultur erblicken ...</p>
+
+<p>&#8222;Nur darauf kommen wir immer wieder zurück:
+daß ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft
+und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen
+wagen und tatsächlich die Möglichkeit
+dartun, daß sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung
+der übrigen Klassen, durchzusetzen vermögen,
+man sich von seiten dieser wohl hüten
+wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man
+viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen
+Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn
+dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz
+fühlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem
+sie den Unternehmern einmal selbst als
+Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie
+auf Beachtung ihrer Wünsche, auf das Entgegenkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span>
+des Publikums, insbesondere der Kapitalisten
+rechnen, welche sie erst dann als Leute
+zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr
+auch mitzählen, während sie ihnen bis dahin
+für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig
+für sich gar nicht in Ansatz kamen. Auf
+dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse
+die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche
+und Strebungen, mögen sie noch so gerecht
+und billig sein, finden nur dann erst Geltung,
+wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind,
+daß sie in tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen
+sich unabweisbar hervordrängen.&#8221; ...
+(Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen
+und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig
+1858, S.&nbsp;58, 61 und 63.)</p>
+
+<p>Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß,
+der im Sommer 1862 tagte, mußte Schulze eingestehen,
+daß noch fast gar keine Produktivgenossenschaften
+und nur eine winzige Anzahl
+von Konsumvereinen beständen. Nur die aus
+Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten
+zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine
+gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl,
+die Rohstoffgenossenschaften.</p>
+
+<p>Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges
+der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der
+Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und
+nehmen jetzt deren Faden wieder auf.</p>
+
+<p>Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen
+Reaktion einen empfindlichen Stoß versetzt, indem<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span>
+er die &#8222;Solidarität der Regierungen&#8221;, die
+eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken
+brachte. Die Rivalität zwischen Preußen und
+Österreich trat in dem verschiedenen Verhalten
+des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland
+von neuem zutage, während der Tod Nikolaus&nbsp;I.
+und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende
+des Krieges befand, die Reaktionsparteien in
+Europa ihres stärksten Hortes beraubte. Rußland
+hatte vorläufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten
+zu tun, daß es auf Jahre hinaus
+nicht in der Lage war, sich für die Sache der
+Ordnung in irgendeinem andern Lande des &#8222;Prinzips&#8221;
+halber zu interessieren, es kam für die
+innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand
+außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte sich
+die Rivalität zwischen Preußen und Österreich
+auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern
+gegenüber blieben beide Regierungen
+vorderhand noch &#8222;solidarisch&#8221;.</p>
+
+<p>Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine
+Geschäftsstockung, die 1857 und 1858
+sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität
+1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht
+hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die
+alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und
+Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder
+ins Wanken. Überall gärte es in den unter der
+Krisis leidenden Volkskreisen, überall schöpfte
+die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der
+Massen neue Kraft, überall erhoben die &#8222;Mächte<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span>
+des Umsturzes&#8221; von neuem ihr Haupt. Am
+drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich
+am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte
+es Napoleon III. mit drakonischen Gewaltmaßregeln,
+zu denen das Attentat Orsinis ihm den
+Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er
+dadurch seine Position eher verschlimmerte als
+sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel.
+Er versuchte durch einen populären auswärtigen
+Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen
+und sein Leben vor den Dolchen der
+Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige
+Mitglied ihrer Verschwörung durch Orsini wissen
+lassen, daß, wenn er sein ihnen gegebenes Wort
+nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn
+erheben würden. Der italienische Feldzug wurde
+also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in
+Preußen mit der Regentschaft Wilhelms&nbsp;I. die
+&#8222;Neue Ära&#8221; ihren Anfang. Von dem vorderhand
+noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, Österreichs
+Hegemonie in Deutschland zu brechen,
+sucht Wilhelm&nbsp;I., damals noch Prinzregent, das
+liberale Bürgertum zu gewinnen und ernennt ein
+diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch
+alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun
+wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden,
+überbot sich der bürgerliche Liberalismus in allen
+möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der &#8222;Nationalverein&#8221;
+wurde gegründet mit dem Programm:
+Deutschlands Einigung unter Preußens Spitze.
+Preußen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span>
+politischen und nationalen Aspirationen der liberalen
+Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer
+Völkerfrühling schien angebrochen und ein viel
+schönerer als der von 1848, denn er versprach
+die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären
+Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt
+macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe
+entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht
+die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach
+sich hübsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn
+es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten
+kommen sollte &mdash; hatte nicht das Beispiel der
+Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine,
+der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die
+Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt
+und ihnen den Beweis geliefert, welche große
+Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten hätten,
+sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts
+als die liberalen &#8222;Freiheiten&#8221; brauchten?</p>
+
+<p>Wer heute die sozialpolitische Literatur des
+deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest,
+dem fällt nichts so sehr auf als die kolossale
+Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht,
+die über den engen Horizont des aufgeklärten
+Gewürzkrämers hinausgehen. Man war
+sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel
+von altathenischer Verfassung und englischem
+Parlamentarismus zu erzählen, aber die Nutzanwendung,
+die man aus allem zog, war immer
+die, daß der aufgeklärte deutsche Gewürzkrämer
+oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und<span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span>
+daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert
+sei, daß es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgefälligen
+Naivetät trieb man es im preußischen
+Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch
+ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit
+dieser Naivetät entfremdete man sich die Arbeiterklasse,
+lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz
+dazu Veranlassung gab. Man wußte
+erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte
+&#8222;auch wirklich nichts&#8221; aus ihr gelernt.</p>
+
+<p>Auf die Ursachen und den Gegenstand des
+preußischen Verfassungskonflikts braucht hier
+nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach
+aus, und der Liberalismus sah sich plötzlich, er
+wußte selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit
+eben der Regierung, die er die schöne Rolle der
+Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht,
+die Hegemonie in Deutschland zugesprochen
+hatte. Indes das war vorläufig nur
+Pech, aber kein Unglück. Die liberale Partei war
+mittlerweile so stark geworden, daß sie den Streit
+eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem
+bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast
+das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strömung
+hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt;
+von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen
+Feudalen und Betbrüder abgesehen, überließen
+sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei
+die Ausfechtung des Kampfes mit
+der preußischen Regierung. Welche Fehler diese
+Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span>
+Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm,
+in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs
+neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum
+und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der
+ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente
+lag: das Budgetrecht der Volksvertretung.</p>
+
+<p>Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe
+zuerkennen, heißt noch nicht, sich ihr mit
+Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf
+jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch
+die entwickelteren Elemente unter den deutschen
+Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten,
+die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die
+Kost, die ihnen in den von diesen patronisierten
+Bildungs- usw. Vereinen dargeboten wurde, unmöglich
+auf die Dauer genügen. Noch waren die
+alten kommunistischen und revolutionären Traditionen
+nicht völlig ausgestorben, noch gab es gar
+manchen Arbeiter, der entweder selbst Mitglied
+irgendeiner der kommunistischen Verbindungen
+gewesen oder von Mitgliedern über deren Grundsätze
+aufgeklärt, von ihnen mit kommunistischen
+Schriften versehen worden war. Unter diesen,
+und durch sie angeregt, fing man an, in immer
+weiteren Kreisen der Arbeiter die Frage zu erörtern,
+ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht
+sofort eine eigne Arbeiterpartei mit einem eignen
+Arbeiterprogramm, so doch wenigstens einen
+Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei
+als eine bloße Kreatur der liberalen Partei.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span></p>
+
+<p>Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler
+nur ein wenig aus der Geschichte anderer
+Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein
+Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung
+sich ihnen feindselig gegenüberstellte, solange
+sie selbst im Kampf mit der preußischen
+Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel
+von dem Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie
+ja die Volkssache vertraten, <em class="gesperrt">das</em> &#8222;Volk&#8221;, und
+als &#8222;Volk der Denker&#8221; über die Einseitigkeiten &mdash;
+nämlich die Klassenkämpfe &mdash; des Auslandes
+erhaben seien; und so begriffen sie denn auch
+nicht, daß es sich hier um eine Strömung handelte,
+die früher oder später eintreten mußte, und daß
+es nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige
+Weise auseinanderzusetzen. So verliebt
+waren sie in sich, daß sie gar nicht zu fassen
+vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr
+geizen konnten, als nach der Ehre, durch sie vertreten
+zu sein. Die Antwort auf das Gesuch, den
+Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein
+zu erleichtern: &#8222;Die Arbeiter sollen sich
+als die geborenen Ehrenmitglieder des Vereins betrachten&#8221;
+&mdash; d.&nbsp;h. hübsch draußen bleiben &mdash; war
+in der Tat typisch für das Unvermögen der Parteigenossen
+des braven Schulze, etwas anderes zu
+begreifen, als den denkenden Spießbürger &mdash; ihr
+Ebenbild, ihren Gott.</p>
+
+<p>So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen
+in Leipziger Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis
+die Bildung eines Komitees zur Einberufung<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span>
+eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer
+Folge die Anknüpfung von Verhandlungen
+mit Ferdinand Lassalle war.</p>
+
+
+
+<hr class="chap" />
+<h2><a name="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess" id="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß,
+die Assisenrede und der
+Franz von Sickingen.</a></h2>
+
+
+<p>Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle
+wandte, stand dieser in seinem 37. Lebensjahre,
+in der Vollkraft seiner körperlichen und geistigen
+Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben
+hinter sich, sich politisch und wissenschaftlich &mdash;
+beides allerdings zunächst innerhalb bestimmter
+Kreise &mdash; einen Namen gemacht, er unterhielt
+Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der
+Literatur und Kunst, verfügte über ansehnliche
+Geldmittel und einflußreiche Freunde &mdash; kurz,
+nach landläufigen Begriffen konnte ihm das
+Komitee, eine aus bisher völlig unbekannten Persönlichkeiten
+zusammengesetzte Vertretung einer
+im Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts
+bieten, was er nicht schon hatte. Trotzdem ging
+er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen
+Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte,
+der Bewegung diejenige Richtung zu geben, die
+seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach.
+Von anderen Rücksichten abgesehen, zog
+ihn gerade der Umstand besonders zu ihr hin,
+daß die Bewegung noch keine bestimmte Form
+angenommen hatte, daß sie sich ihm als eine ohne<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span>
+Schwierigkeit zu modelnde Masse darstellte. Ihr
+erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in
+seinem Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur
+seinen hochfliegenden Plänen, das war überhaupt
+eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen ungemein
+sympathisch sein mußte. Die Einladung traf
+ihn nicht nur bei seiner sozialistischen Überzeugung,
+sondern auch bei seinen Schwächen. Und
+so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf
+sie ein.</p>
+
+<p>Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine
+eigentliche Biographie Ferdinand Lassalles zu
+geben, die sehr ansehnliche Zahl der Lebensbeschreibungen
+des Gründers des Allgemeinen
+Deutschen Arbeitervereins noch um eine weitere
+zu vermehren. Der für sie zur Verfügung stehende
+Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer
+Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will,
+ist vielmehr die Persönlichkeit und Bedeutung
+Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit seine
+politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit
+in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist ein
+Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles unerläßlich,
+da er erst den Schlüssel zum Verständnis
+seines politischen Handelns liefert.</p>
+
+<p>Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung
+Lassalles eine große, man kann sogar
+sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben.
+Wir sprechen hier nicht schlechthin von vererbten
+Eigenschaften oder Dispositionen, sondern von
+der bedeutungsvollen Tatsache, daß das Bewußt<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span>sein,
+von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen
+noch in vorgeschrittenen Jahren
+peinlich war, und daß es ihm trotz seines eifrigen
+Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses
+Bemühens nie gelang, sich tatsächlich über seine
+Abstammung hinwegzusetzen, eine innerliche Befangenheit
+loszuwerden. Aber man darf nicht
+vergessen, daß Lassalles Wiege im östlichen Teil
+der preußischen Monarchie gestanden hatte &mdash; er
+wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren &mdash;,
+wo bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal
+formell völlig emanzipiert waren. Die Wohlhabenheit
+seiner Eltern ersparte Lassalle viele
+Widerwärtigkeiten, unter denen die ärmeren Juden
+damals zu leiden hatten, aber sie schützte ihn nicht
+vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die
+Angehörigen jeder für untergeordnet gehaltenen
+Rasse, auch wenn sie sich in guter Lebensstellung
+befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so
+selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend
+auf war, zunächst einen trotzigen Fanatismus des
+Widerstandes erzeugen, der dann später oft in
+das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus
+bei dem jungen Lassalle war, geht aus
+seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung
+gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und
+1841 hervor. Am 1.&nbsp;Februar&nbsp;1840 schreibt der
+noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein Tagebuch:</p>
+
+<p>&#8222;... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich
+glaube, ich bin einer der besten Juden, die es<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span>
+gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten.
+Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers &#8218;Leila&#8217;
+mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen
+drückenden Lage zu reißen. Ich würde selbst das
+Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu
+einem geachteten Volke machen. O, wenn ich
+meinen kindischen Träumen nachhänge, so ist es
+immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der
+Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig
+zu machen.&#8221; Die Mißhandlungen der Juden in
+Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den Ausruf:
+&#8222;Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich,
+es räche oder dulde die Behandlung.&#8221; Und an
+den Satz eines Berichterstatters: &#8222;Die Juden
+dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur
+von diesen Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion
+ertragen werden können&#8221;, knüpft er die
+von Börne übernommene Betrachtung an: &#8222;Also
+sogar die Christen wundern sich über unser träges
+Blut, daß wir uns nicht erheben, nicht lieber auf
+dem Schlachtfeld, als auf der Tortur sterben
+wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen
+sich die Schweizer einst erhoben, größer?...
+Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los.&#8221;
+Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate
+später (30. Juli): &#8222;Wieder die abgeschmackten
+Geschichten, daß die Juden Christenblut
+brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus,
+auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber
+aus allen Winkeln der Erde man mit diesen Beschuldigungen
+hervortritt, scheint mir anzudeuten,<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span>
+daß die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat
+durch Christenblut uns helfen werden. Aide-toi
+et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es kommt
+auf den Spieler an.&#8221;</p>
+
+<p>Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich
+der Blick erweitert, aber die Wirkung, die solche
+Jugendeindrücke auf die geistigen Dispositionen
+ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife
+Lassalle durch den Stachel der &#8222;Torturen&#8221;, von
+denen er schreibt, um so mehr angetrieben, sich
+für seine Person um jeden Preis Anerkennung
+und Geltung zu verschaffen. Auf der anderen
+Seite wird der Rebell gegen die Unterdrückung
+der Juden durch die Christen bald politischer
+Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er
+Schillers Fiesko gesehen, folgende, von merkwürdig
+scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung:
+&#8222;Ich weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische
+Gesinnungen habe
+wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle
+des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich
+nicht damit begnügt hätte, Genuas erster Bürger
+zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand
+ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich
+die Sache bei Lichte betrachte, daß ich bloß
+Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren,
+ich würde mit Leib und Leben Aristokrat
+sein. So aber, da ich bloß ein schlichter Bürgerssohn
+bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat
+sein.&#8221;</p>
+
+<p>Sein politischer Radikalismus ist es auch, der<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span>
+1841 den sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt,
+den vorübergehend gefaßten Entschluß, sich zum
+Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben
+und von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken,
+sich zum Universitätsstudium vorzubereiten. Die
+lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle
+von seinem Vater wider seinen Willen auf die
+Handelsschule nach Leipzig geschickt worden, ist
+durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen,
+Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium
+auf die Handelsschule betrieben. Freilich
+nicht aus vorübergehender Vorliebe für den
+Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer
+Reihe von leichtsinnigen Streichen zu entgehen,
+die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem
+Vater nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu
+müssen, welche er &mdash; nach seiner Ansicht unverdient
+&mdash; zu erhalten pflegte. Als es ihm aber
+auf der Leipziger Handelsschule nicht besser erging
+als auf dem Breslauer Gymnasium, als er
+auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor
+allem mit dem Direktor in Konflikte geriet, die
+sich immer mehr zuspitzten, je radikaler Lassalles
+Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der
+Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat
+er die Handelsschule bezogen, und schon am
+3. August &#8222;hofft&#8221; er, daß der &#8222;Zufall&#8221; ihn eines
+Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen
+Schauplatz werfen werde, auf dem er öffentlich
+wirken könne. &#8222;Ich traue auf den Zufall und
+auf meinen festen Willen, mich mehr mit den<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span>
+Musen als den Haupt- und Strazzabüchern, mich
+mehr mit Hellas und dem Orient, als mit Indigo
+und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren
+Priestern, als mit Krämern und ihren Kommis
+zu beschäftigen, mich mehr um die Freiheit, als
+um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die
+Hunde von Aristokraten, die dem Menschen sein
+erstes, höchstes Gut wegnehmen, als die Konkurrenten,
+die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.&#8221;
+&#8222;Aber beim Verwünschen soll's nicht
+bleiben,&#8221; setzt er noch hinzu. Zu dem Radikalismus
+kommt der immer stärkere Drang, den Juden
+in sich abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich
+so energisch, daß, als Lassalle im Mai 1841
+dem Vater seinen &#8222;unwiderruflichen&#8221; Entschluß
+mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt,
+Medizin oder Jura zu studieren, weil &#8222;der Arzt
+wie der Advokat Kaufleute sind, die mit ihrem
+Wissen Handel treiben&#8221;. Er aber wolle studieren
+&#8222;des Wirkens wegen&#8221;. Mit dem letzteren war der
+Vater zwar nicht einverstanden, er willigte aber
+ein, daß Lassalle sich zum Studium vorbereite.</p>
+
+<p>Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war
+im Jahre 1842 schon so weit, sein Maturitätsexamen
+abzulegen. Er studiert zuerst Philologie,
+geht aber dann zur Philosophie über und entwirft
+den Plan zu einer größeren philologisch-philosophischen
+Arbeit über den Philosophen Herakleitos
+von Ephesus. Daß er sich gerade diesen
+Denker zum Gegenstand der Untersuchung auswählte,
+von dem selbst die größten Philosophen<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span>
+Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher
+seien, ob sie ihn ganz richtig verstanden, und
+der deshalb den Beinamen &#8222;der Dunkle&#8221; erhielt,
+ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für
+Lassalle. Mehr noch als die Lehre Heraklits,
+den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt
+hatte, reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur
+durch glänzende Leistungen Lorbeeren zu erlangen
+waren. Neben dem schon erwähnten Trieb,
+jedermann durch außergewöhnliche Leistungen zu
+verblüffen, hatte Lassalle zugleich das Bewußtsein,
+jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen
+zu können. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen
+war das Fatum seines Lebens. Es hat ihn in
+der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen
+lassen, vor denen tausend andere zurückgeschreckt
+wären, selbst wenn sie über die intellektuellen
+Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber
+auf der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller
+Fehlgriffe und schließlich zur Ursache seines
+jähen Endes geworden.</p>
+
+<p>Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845
+an den Rhein und später nach Paris, teils um
+dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um
+die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens
+der Epoche, kennenzulernen. In Paris gingen damals
+die Wogen der sozialistischen Bewegung
+sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin,
+der 1843 schon sein sozialistisches Damaskus gefunden
+hatte. Ob und inwieweit Lassalle mit
+den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span>
+wurde &mdash; Karl Marx war, nachdem die
+&#8222;Deutsch-französischen Jahrbücher&#8221; eingegangen
+und der &#8222;Vorwärts&#8221; sistiert worden war, im
+Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und
+nach Brüssel übersiedelt &mdash;, darüber fehlen zuverlässige
+Angaben. Wir wissen nur, daß er
+viel mit Heinrich Heine verkehrte, an den er
+empfohlen war, und dem er in mißlichen Geldangelegenheiten
+(einem Erbschaftsstreit) große
+Dienste leistete. Die Briefe, in denen der kranke
+Dichter dem zwanzigjährigen Lassalle seine Dankbarkeit
+und Bewunderung aussprach, sind bekannt.
+Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken
+Eindruck Lassalles Selbstbewußtsein auf Heine
+gemacht hat.</p>
+
+<p>Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle
+im Jahre 1846 die Bekanntschaft der Gräfin
+Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren vergeblich
+bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten
+Aristokraten, der sie allen Arten von
+Demütigungen und Kränkungen ausgesetzt hatte,
+gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens
+zu erlangen. Man hat über die Motive,
+welche Lassalle veranlaßten, die Führung der
+Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen
+aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis
+mit der zwar nicht mehr jugendlichen,
+aber noch immer schönen Frau zurückführen
+wollen, während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß
+mit großer Leidenschaftlichkeit dagegen
+verwahrt hat, durch irgendeinen anderen Beweggrund<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span>
+dazu veranlaßt worden zu sein, als den des
+Mitleids mit einer verfolgten, von allen helfenden
+Freunden verlassenen Frau, dem Opfer ihres
+Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen
+eines übermütigen Aristokraten. Es liegt
+absolut kein Grund vor, dieser Lassalleschen Beteuerung
+nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in
+den folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres
+Verhältnis als das der Freundschaft zur
+Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es
+ist aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich,
+daß ein solches Verhältnis gleich
+am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den
+Prozeß übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher
+ist es, daß neben der vielleicht etwas
+romantisch übertriebenen, aber doch durchaus anerkennenswerten
+Parteinahme für eine verfolgte
+Frau und dem Haß gegen den hochgestellten
+Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier
+um eine Sache handelte, die nur mit Anwendung
+außergewöhnlicher Mittel und Kraftentfaltung zu
+gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle
+ausgeübt hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog
+ihn unbedingt an.</p>
+
+<p>Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph
+gehabt, daß der hochmütige Aristokrat vor ihm,
+dem &#8222;dummen Judenjungen&#8221; kapitulieren mußte.
+Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem
+Kampf hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte
+er freilich außergewöhnliche Mittel aufwenden
+müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span>
+nur die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in
+die rechtlichen Streitfragen, außergewöhnlicher
+Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung
+der gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen
+Mittel des unterirdischen Krieges:
+die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im
+ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf
+Hatzfeldt, ein gewöhnlicher Genußmensch, scheute
+vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen,
+und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen,
+nahm die Gegenseite zu Mitteln ihre
+Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren.
+Wer die Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen,
+kann sich keine Ahnung machen von dem
+Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder
+herangeschleppt wurde, von der Qualität der
+beiderseitigen Anklagen und &mdash; Zeugen.</p>
+
+<p>Und von den Rückwirkungen der umgekehrten
+Augiasarbeit im Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle
+nie ganz freimachen können. Wir meinen das
+nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick
+auf seine späteren Liebesaffären, sondern
+mit Bezug auf seine von nun an wiederholt bewiesene
+Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen
+und zu benutzen, das ihm für seine jeweiligen
+Zwecke dienlich erschien; wir meinen den Verlust
+jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung
+selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt
+verbietet, der mit den von ihm vertretenen Grundsätzen
+in Widerspruch steht, wir meinen die
+von da an wiederholt und am stärksten in der<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span>
+tragischen Schlußepisode seines Lebens sich offenbarende
+Einbuße an gutem Geschmack und moralischem
+Unterscheidungsvermögen. Als jugendlicher
+Enthusiast hatte Lassalle sich in den Hatzfeldtschen
+Prozeß gestürzt, &mdash; er selbst gebraucht
+in der Kassettenrede das Bild des Schwimmers:
+&#8222;Welcher Mensch, der ein starker Schwimmer
+ist, sieht einen andern von den Wellen eines
+Stromes fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen?
+Nun wohl, für einen guten Schwimmer hielt ich
+mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den
+Strom&#8221; &mdash; gewiß, aber leider war es ein recht
+trüber Strom, in den er sich gestürzt, ein Strom,
+der sich in eine große Pfütze verlief, und als
+Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen
+Moral der Gesellschaft, mit der er sich zu befassen
+gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen
+besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen
+dieses Giftes, drängten sie auch wiederholt
+siegreich zurück, aber schließlich ist er ihnen
+doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu
+scharf erscheinen, aber wir werden im weiteren
+Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur gerecht
+gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine
+Apologie zu schreiben, sondern eine kritische Darstellung
+zu geben, und das erste Erfordernis einer
+solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu
+erklären<a name="FNAnker_1_1" id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a>.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p>
+
+<p>Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst
+noch der Rolle zu gedenken, die Lassalle
+im Jahre 1848 gespielt hat.</p>
+
+<p>Beim Ausbruch der März-Revolution war
+Lassalle so tief in den Maschen des Hatzfeldtschen
+Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich
+fast zur politischen Untätigkeit verurteilt
+sah. Im August 1848 fand der Prozeß
+wegen &#8222;Verleitung zum Kassettendiebstahl&#8221; gegen
+ihn statt und er hatte alle Hände voll zu tun, sich
+auf diesen zu rüsten. Erst als er nach siebentägiger
+Verhandlung freigesprochen worden war, gewann
+er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen
+jener bewegten Zeit direkten Anteil zu nehmen.</p>
+
+<p>Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt
+Heines, lebte, stand natürlich als Republikaner
+und Sozialist auf der äußersten Linken
+der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war
+die von Karl Marx redigierte &#8222;Neue Rheinische
+Zeitung&#8221;. Karl Marx gehörte ferner eine Zeitlang
+dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten
+an, der in Köln seinen Sitz hatte. So war
+eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in
+nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte
+mündlich und schriftlich mit dem erwähnten
+Kreisausschuß, sandte wiederholt Mitteilungen und
+<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span>
+Korrespondenzen an die &#8222;Neue Rheinische Zeitung&#8221;
+und erschien auch gelegentlich selbst auf
+der Redaktion dieses Blattes. So bildete sich
+allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr
+zwischen Lassalle und Marx heraus, der
+auch später noch, als Marx im Exil lebte, in
+Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt
+wurde. Lassalle besuchte Marx 1862 in
+London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf einer
+Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht
+hatte. Indes herrschte zu keiner Zeit ein tieferes
+Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden, dazu
+waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt.
+Was sonst noch einer über die politische
+Kampfgenossenschaft hinausgehenden Intimität im
+Wege stand, soll später erörtert werden.</p>
+
+<p>Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848
+gegenüber nahm Lassalle genau dieselbe Haltung
+ein, wie die Redaktion der &#8222;Neuen Rheinischen
+Zeitung&#8221; und die Partei, die hinter dieser stand.
+Gleich ihr forderte er, als die preußische Regierung
+im November 1848 den Sitz der Nationalversammlung
+verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst und
+den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte,
+und die Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung
+des Ministeriums in Anklagezustand, sowie
+mit der Erklärung geantwortet hatte, daß dieses
+Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben,
+zur Organisierung des bewaffneten Widerstandes
+gegen die Steuererhebung auf. Gleich dem
+Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span>
+Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen
+die königliche Gewalt unter Anklage gestellt, gleich
+ihm von den Geschworenen freigesprochen, aber
+die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion
+stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage,
+zur Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte
+aufgefordert zu haben, um ihn vor das
+Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat
+verurteilte dieses &mdash; die Regierung kannte unzweifelhaft
+ihre Berufsrichter &mdash; Lassalle schließlich
+auch zu sechs Monaten Gefängnis.</p>
+
+<p>Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage
+ist unter dem Titel &#8222;Assisen-Rede&#8221; im Druck
+erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich gehalten
+worden, und alles, was in verschiedenen älteren
+Biographien über den &#8222;tiefen&#8221; Eindruck erzählt
+wird, den sie auf die Geschworenen und das Publikum
+gemacht habe, gehört daher in das Bereich
+der Fabel. Lassalle hatte die Rede noch vor der
+Verhandlung in Druck gegeben, und da einzelne
+der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf
+gesetzt worden waren, beschloß der Gerichtshof,
+die Öffentlichkeit auszuschließen. Als trotz
+Lassalles Protest und der Erklärung, die Verbreitung
+der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen
+erfolgt, ja höchstwahrscheinlich von seinen Feinden
+durch das Mittel der Bestechung veranlaßt
+worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht
+erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich
+zu verteidigen, wurde aber nichtsdestoweniger
+freigesprochen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span></p>
+
+<p>Ob aber gehalten oder nicht, die &#8222;Assisen-Rede&#8221;
+bleibt jedenfalls ein interessantes Dokument
+für das Studium der politischen Entwicklung Lassalles.
+Er steht in ihr fast durchgängig auf dem
+von Karl Marx drei Monate vorher in dessen
+Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen
+Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden
+zeigt dies aufs deutlichste, ebenso aber auch die
+Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und
+Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen
+Ausschmückung, er geht direkt auf die Sache ein,
+entwickelt in einfacher und gedrängter Sprache,
+Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik
+seinen Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe
+mit einer Charakteristik der politischen
+Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person
+stehe ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe,
+den Geschworenen einen politischen Vortrag
+zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast
+von Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in &mdash;
+oft sehr schönen &mdash; Bildern und in Superlativen.
+Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen
+Sache oder von seiner Person die Rede ist, er
+spricht nicht zu den Geschworenen, sondern zu
+den Tribünen, zu einer imaginären Volksversammlung,
+und schließt, nach Verkündigung einer
+Rache, die &#8222;so vollständig&#8221; sein wird wie &#8222;die
+Schmach, die man dem Volke antut&#8221;, mit einer
+Rezitation aus Tell.</p>
+
+<p>Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine
+Energie und Hartnäckigkeit Vergünstigungen ertrotzte,<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span>
+die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden
+pflegten &mdash; so erhielt er, was er später selbst
+für ungesetzlich erklärte, wiederholt Urlaub, um
+in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu plädieren
+&mdash; und in den darauffolgenden Jahren wurde
+Lassalles Tätigkeit wieder fast vollständig durch
+die Hatzfeldtsche Angelegenheit in Anspruch genommen.
+Daneben hielt Lassalle ein gastliches
+Haus für politische Freunde und versammelte
+längere Zeit einen Kreis vorgeschrittener Arbeiter
+um sich, denen er politische Vorträge hielt. Endlich
+erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen
+Prozeß der Friedensschluß. Die Gräfin erhielt
+ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt und Lassalle
+eine Rente von jährlich siebentausend Talern
+sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise
+ganz nach seinen Wünschen einzurichten.</p>
+
+<p>Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in
+Düsseldorf bei und arbeitete hier an seinem
+&#8222;Heraklit&#8221; weiter. Daneben unternahm er allerhand
+Reisen, u.&nbsp;a. auch eine in den Orient. Auf
+die Dauer aber konnten ihn diese Unterbrechungen
+nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt,
+in der das politische Leben erloschen war, aussöhnen.
+Es verlangte ihn nach einem freieren, anregenderen
+Leben, als es die rheinische Stadt bot
+oder erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden
+Persönlichkeiten, nach einem größeren Wirkungskreis.
+So erwirkt er sich denn 1857 durch die Vermittlung
+Alexander von Humboldts beim Prinzen
+von Preußen von der Berliner Polizei die Erlaubnis,<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span>
+seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu
+dürfen.</p>
+
+<p>Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen
+Beachtung. Lassalle hatte im Mai 1849
+in flammenden Worten die &#8222;schmachvolle und unerträgliche
+Gewaltherrschaft&#8221; gebrandmarkt, die
+&#8222;über Preußen hereingebrochen&#8221;; er hatte ausgerufen:
+&#8222;Warum zu soviel Gewalt noch soviel
+Heuchelei? Doch das ist preußisch&#8221; und &#8222;vergessen
+wir nichts, nie, niemals... Bewahren wir
+sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig auf, wie
+die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges
+Erbe ist der Racheschwur, der sich an diese
+Knochen knüpft.&#8221; (Assisenrede.) Wie kam er
+nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es
+dem guten Willen der Regierung, die in der angegebenen
+Weise angegriffen worden war, anheim
+zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in
+politischen Dingen sehr rigoros sein und hat es
+1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt,
+daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative
+&#8222;Augsburger Allgemeine Zeitung&#8221;
+schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die
+wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten,
+für sein gutes Recht, die Aufenthaltsbewilligung
+zu verlangen, und im Bewußtsein der Festigkeit
+seines politischen Wollens für reine Formsache,
+daß er seine betreffenden Eingaben als Gesuche
+abzufassen hatte. Denn es handelt sich da um verschiedene
+Anträge, der erste 1855 an den Berliner
+Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span>
+1856, direkt an den damaligen Prinzregenten gerichtet
+(Vgl. darüber &#8222;Dokumente des Sozialismus&#8221;,
+Jahrgang 1903, S.&nbsp;130 und 407&nbsp;ff.) Aus
+diesen Schritten machte er Karl Marx gegenüber
+kein Geheimnis.</p>
+
+<p>Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle
+durch Verbindungen der Gräfin Hatzfeldt, die
+ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war,
+daß sich in den oberen Regionen Preußens ein
+neuer Wind vorbereite. Wie weit diese Verbindungen
+reichten, geht aus Informationen hervor,
+die Lassalle bereits im Jahre 1854, beim
+Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach London
+gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. Februar
+1854 den Wortlaut einer Erklärung mit,
+die einige Tage vorher vom Berliner Kabinett nach
+Paris und London abgegangen sei, schildert die
+Zustände im Berliner Kabinett &mdash; der König
+und fast alle Minister für Rußland, nur Manteuffel
+und der Prinz von Preußen für England &mdash; und
+die für gewisse Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen
+Maßregeln, worauf es heißt: &#8222;Alle
+die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so
+betrachten, als wenn Du sie aus Manteuffels und
+Aberdeens eigenem Munde hättest!&#8221; Vier Wochen
+später machte er wieder allerhand Mitteilungen
+über beabsichtigte Schritte des Kabinetts, gestützt
+auf Mitteilungen &#8222;zwar nicht aus meiner &#8218;offiziellen&#8217;,
+aber doch aus ziemlich glaubhafter
+Quelle&#8221;. Am 20. Mai 1854 klagt er, daß seine
+&#8222;diplomatische Quelle&#8221; eine weite Reise angetreten<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span>
+habe. &#8222;Eine so vorzügliche Quelle, durch die man
+kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann
+auf so lange Zeit wieder verlieren, ist überaus
+ärgerlich.&#8221; Aber er hat immer noch Nebenquellen,
+die ihn über Interna des Berliner Kabinetts
+unterrichten, und ist u.&nbsp;a. &#8222;zeitig vorher von
+Bonins Entlassung usw.&#8221; benachrichtigt worden.</p>
+
+<p>Einige dieser Quellen standen dem Berliner
+Hof sehr nahe, und ihre Berichte mögen auch
+Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige
+Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das
+Jahr 1857 bereits sehr weit vorgeschritten, und
+wenn auch die getreuen Minister und Hüter der
+monarchischen Idee sie noch nicht für genügend
+erachteten, des Königs Regierungsunfähigkeit auszusprechen,
+so wußte man doch in allen unterrichteten
+Kreisen, daß der Regierungsantritt des
+Prinzen von Preußen nur noch eine Frage von
+Monaten sei.</p>
+
+<p>In Berlin vollendete Lassalle zunächst den
+Heraklit, der Ende 1857 im Verlage von Franz
+Duncker erschien.</p>
+
+<p>Über dieses beinahe mehr noch philologische
+als philosophische Werk gehen die Meinungen der
+Sachverständigen auseinander. Die einen stellen
+es als epochemachend hin, die andern behaupten,
+daß es in der Hauptsache nichts sage, was nicht
+schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß
+Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem
+Standpunkt steht &mdash; die Dinge werden aus den
+Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span>
+als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt,
+deren Bewegung die Geschichte erzeugt.
+Aber auch diejenigen, welche die epochemachende
+Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten,
+geben zu, daß sie eine sehr tüchtige Leistung ist.
+Sie verschaffte Lassalle in der wissenschaftlichen
+Welt einen geachteten Namen.</p>
+
+<p>Für die Charakteristik Lassalles und seines
+geistigen Entwicklungsganges ist sein Werk über
+Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht
+bloß darin von Bedeutung, daß es Lassalle als
+eben entschiedenen Anhänger Hegels zeigt. Man
+kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker
+G. Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft
+zugunsten belletristischer Ausschmückung mit den
+Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über
+Lassalle<a name="FNAnker_2_2" id="FNAnker_2_2"></a><a href="#Fussnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> auf verschiedene Stellen in der Arbeit
+über Heraklit als Schlüssel zum Verständnis von
+Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es gilt
+dies namentlich von Lassalles großem Kultus
+des Staatsgedankens &mdash; auch in dieser Hinsicht
+war Lassalle Althegelianer &mdash; und in bezug
+auf Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm.
+Brandes schreibt in ersterer Hinsicht:</p>
+
+<p>&#8222;Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in
+den einen Gedanken zusammen, der zugleich der
+ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist:
+&#8218;Hingabe an das Allgemeine.&#8217; Das ist zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span>
+griechisch und modern; aber Lassalle kann sich
+das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen
+Ausführung dieses Gedankens bei dem alten
+Griechen die Übereinstimmung mit Hegels Staatsphilosophie
+nachzuweisen: &#8218;Wie in der Hegelschen
+Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt
+werden als die Realisation des allgemeinen
+substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung
+im geringsten an den formellen Willen
+der Subjekte und deren Zählung gedacht wird,
+so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr
+von der Kategorie der empirischen Allheit entfernt.&#8217;&#8221;
+(Vgl.&nbsp;a.&nbsp;a.&nbsp;O.&nbsp;S.&nbsp;40.)</p>
+
+<p>Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen
+dieser Staatsidee, die bei Lassalle immer wiederkehrt,
+und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie
+und zum allgemeinen Stimmrecht &mdash; die
+doch die Herrschaft des &#8222;formellen Willens
+der Subjekte&#8221; darstellen &mdash; einen Gegensatz erblickt,
+den man &#8222;nicht ungestraft in seinem Gemüte
+hegt&#8221;, und der in der Welt der Prinzipien
+das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der
+&#8222;rein äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit
+seiner ausgesucht eleganten Kleidung, seiner ausgesucht
+feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln
+in und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit
+rußiger Haut und schwieligen Händen sprach&#8221;.</p>
+
+<p>Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich
+hat Lassalles althegelsche Staatsidee ihn später
+im Kampf gegen den Liberalismus weit über das
+Ziel hinausschießen lassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span></p>
+
+<p>Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm
+schreibt Brandes:</p>
+
+<p>&#8222;Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen
+&mdash; Heraklit und Lassalle, bildet der trotz
+des Selbstgefühls und des Stolzes so leidenschaftliche
+Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung
+und dem Lobe anderer. Heraklit hat
+das oft zitierte Wort gesprochen: &#8218;Die größeren
+Schicksale erlangen das größere Los.&#8217;
+Und er hat gesagt, was das rechte Licht auf
+diesen Satz wirft: &#8218;Daß die Menge und die
+sich weise Dünkenden den Sängern der Völker
+folgen und die Gesetze um Rat fragen,
+nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige
+nur gut, die Besten aber dem Ruhme nachfolgen.
+&#8218;Denn,&#8217; fügt er hinzu, &#8218;es wählen die Besten eins
+statt allem, den immerwährenden Ruhm der Sterblichen.&#8217;
+Ruhm war für Heraklit also gerade jenes
+größere Los, welches das größere Schicksal erlangen
+kann; sein Trachten nach Ehre war nicht
+nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern
+ein durch Reflexion und Philosophie begründetes.
+&#8218;Der Ruhm&#8217;, sagt Lassalle, &#8218;ist in der
+Tat das Entgegengesetzte von allem, das Entgegengesetzte
+gegen die Kategorie des unmittelbaren
+realen Seins überhaupt und seiner einzelnen
+Zwecke. Er ist Sein der Menschen in ihrem
+Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen
+Existenz selbst, er ist darum erreichte und
+wirklich gewordene Unendlichkeit des Menschen&#8221;,
+und mit Wärme fügt er hinzu: &#8218;Wie dies der<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span>
+Grund ist, weshalb der Ruhm seit je die großen
+Seelen so mächtig ergriffen und über alle kleinen
+und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie
+das der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt,
+daß er erst annahen kann &#8218;Hand in Hand mit dem
+prüfenden Todesengel&#8217;, so ist es auch der Grund,
+weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung
+seines spekulativen Prinzips erblickte.&#8217;&#8221;</p>
+
+<p>Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich
+mit dem Ruhm, der erst Hand in Hand mit dem
+Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz
+zu der Heraklitischen Verachtung der Menge war
+er für den Beifall durchaus nicht unempfindlich
+und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr Höflichkeitsform
+war, unter Umständen mit fast naiver
+Genugtuung für die Sache selbst auf. Die Vorliebe
+für das Pathos, die sich bei Lassalle in so
+hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine
+Neigung zur Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch
+von einer Dosis davon nicht ganz freizusprechen,
+so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß
+er aus dem, was Brandes &#8222;seine unselige Vorliebe
+für den Lärm und Trommelschall der Ehre,
+für ihre Pauken und Trompeten&#8221; nennt, je einen
+Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen
+Briefen tritt sie mit einer Offenheit zutage, die
+in ihrer Naivetät etwas Versöhnendes hat. Wenn
+Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift
+erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt
+habe, wie er einst als volkserwählter Präsident
+der Republik &#8222;von sechs Schimmeln gezogen&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span>
+seinen Einzug in Berlin halten werde, so
+ist man versucht, entweder an eine Übertreibung
+der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß
+Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden
+Zukunft um so fester in dem Herzen seiner
+Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die bekannte
+schriftliche &#8222;Seelenbeichte&#8221; an Sophie
+von Sontzew beweist, daß es sich bei diesem Zukunftsbild
+keineswegs nur um die Spielerei einer
+müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten
+handelte, sondern um einen Gedanken,
+in dem Lassalle selbst sich berauschte, dessen
+Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er
+nennt sich &mdash; im Jahre 1860 &mdash; &#8222;das Haupt
+einer Partei&#8221;, in bezug auf das sich &#8222;fast unsere
+ganze Gesellschaft&#8221; in zwei Parteien teile, deren
+eine &mdash; ein Teil der Bourgeoisie und das Volk &mdash;
+Lassalle &#8222;achtet, liebt, sogar nicht selten verehrt&#8221;,
+für die er &#8222;ein Mann von größtem Genie
+und von einem fast übermenschlichen Charakter
+ist, von dem sie die größten Taten erwarten&#8221;.
+Die andere Partei &mdash; die ganze Aristokratie und
+der größte Teil der Bourgeoisie &mdash; fürchtet ihn
+&#8222;mehr als irgend jemand anders&#8221; und haßt ihn
+daher &#8222;unbeschreiblich&#8221;. Werde die Frauenwelt
+dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von
+Sontzew nicht verzeihen, daß sie einen solchen
+Menschen heiratete, so werden auf der andern
+Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß
+ein solcher Mensch sie heiratete, &#8222;sie eines
+Glückes halber beneiden, das ihre Verdienste<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span>
+übersteige&#8221;. Und &#8222;freilich, ich verhehle es Ihnen
+nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse
+Ereignisse eintreten, eine Flut von Bewegung,
+Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen würde,
+wenn Sie mein Weib werden.&#8221;</p>
+
+<p>So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen,
+so wenig sie der Wirklichkeit entsprachen
+zu einer Zeit, wo von einer sozialistisch-demokratischen
+Partei gar keine Rede war, Lassalle
+vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen
+Liberalen und Demokraten auf bestem Fuße
+stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht
+hatte, deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte,
+die in Regierungskreisen gehegt wurden, so wohnt
+ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne
+&mdash; Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte
+an die Partei, die in ihm ihr Haupt erblickte,
+wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand
+und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes
+Dasein führte. Die Partei, das war
+er &mdash; seine Bestrebungen und seine Pläne. Jedes
+Wort der Anerkennung von seiten seiner Freunde
+oder aber, was er dafür hielt, war für ihn Bestätigung
+seiner Mission, und nicht selten nahm
+er Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es
+ist merkwürdig, welcher Widersprüche die menschliche
+Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den
+Berichten seiner näheren Bekannten und aus
+seinen Briefen hervorgeht, mit schmeichelhaften
+Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren allenfalls
+Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span>
+anderen auf ihn selbst angewendet, nahm er sie
+dagegen leicht für echtes Gold.</p>
+
+<p>So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung
+mit ihm selbst verwachsen, daß, als er später
+wirklich an der Spitze einer Partei stand, oder
+wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen
+Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel
+seiner Person zu betrachten vermochte
+und danach behandelte. Man mißverstehe uns
+nicht. Es wäre absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle
+den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein nur ins
+Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß
+der Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck
+war. Lassalle war überzeugter Sozialist, das
+unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre nicht
+imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung
+aufzugehen, ihr seine Persönlichkeit &mdash; ich sage
+ausdrücklich nicht sein Leben, aufzuopfern.</p>
+
+<p>Soviel an dieser Stelle hierüber.</p>
+
+<p>Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher
+Ritter. Kurz nachdem der Heraklit erschienen,
+vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf
+entworfenes historisches Drama und ließ
+es, nachdem eine anonym eingereichte Bühnenbearbeitung
+von der Intendantur der Kgl. Schauspiele
+abgelehnt worden war, 1859 unter seinem
+Namen im Druck erscheinen.</p>
+
+<p>Daß der &#8222;Franz von Sickingen&#8221; als Bühnenwerk
+verfehlt war, hat Lassalle später selbst eingesehen,
+und er hat als Hauptursache dafür den
+Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span>
+der Tat macht das Drama, trotz einzelner höchst
+wirkungsvoller Szenen und der gedankenreichen
+Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck,
+die Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel
+Reflexion da, und es werden vor allem viel zuviel
+Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft von
+einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt,
+daß ein Freund Lassalles, den dieser, während
+er am &#8222;Franz von Sickingen&#8221; arbeitete, um
+seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter
+metrischer Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag
+gemacht habe, er solle das Stück lieber in
+Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen,
+daß ein besserer Rat gar nicht gegeben
+werden konnte. Denn die Lassallesche Prosa hat
+wirklich eine Reihe großer Vorzüge, und selbst
+die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische
+zu verfallen, hätte in einem Drama wie der
+Sickingen nichts verschlagen. Aber Lassalle ließ
+sich nicht von seiner Idee abbringen, daß die
+Versform für das Drama unentbehrlich sei, und
+so stolpern nicht nur seine Ritter und Helden auf
+oft recht geschraubten fünffüßigen Jamben einher,
+selbst die aufständischen Bauern bedienen
+sich der Stelzen des Blankverses. Eine Ausnahme
+machen sie nur bei den bekannten Losungsworten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?&#8221;<br /></span>
+<span class="i0">&#8222;Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.</p>
+
+<p>Indes diese technischen Fragen treten für uns
+zurück vor der Frage nach Inhalt und Tendenz<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span>
+des Dramas. Lassalle wollte mit dem &#8222;Franz von
+Sickingen&#8221; über das historische Drama, wie es
+Schiller und Goethe geschaffen, einen weiteren
+Schritt hinaus machen. Die historischen Kämpfe
+sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst
+den Boden liefern, auf welchem sich der tragische
+Konflikt bewegt, während die eigentliche dramatische
+Handlung sich um rein individuelle Interessen
+und Geschicke dreht, vielmehr sollten die
+kulturhistorischen Prozesse der Zeiten und Völker
+zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden,
+so daß sich diese nicht mehr um die Individuen
+als solche dreht, die vielmehr nur die Träger und
+Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze sind,
+sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke
+der Nationen selbst &mdash; &#8222;Schicksale, welche
+über das Wohl und Wehe des gesamten allgemeinen
+Geistes entscheiden und von den dramatischen
+Personen mit der verzehrenden Leidenschaft,
+welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer
+eigenen Lebensfrage gemacht werden. &#8222;Bei alledem
+sei es möglich,&#8221; meint Lassalle, &#8222;den Individuen
+aus der Bestimmtheit der Gedanken und
+Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus
+markige und feste, selbst derbe und realistische
+Individualität zu geben.&#8221; (Vgl. das Vorwort zum
+Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit Lassalle
+die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit
+sie überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen
+sich die großen Kämpfe der Menschheit
+und der Völker so in Individuen verkörpern<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span>
+lassen, daß nicht das eine oder das andere, die
+Größe und umfassende Bedeutung jener Kämpfe
+oder die lebendige Persönlichkeit der Individuen
+dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage,
+die wir hier unerörtert lassen können. Es genügt,
+daß Lassalle bei der Durchführung des Dramas
+von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun
+zum Stoff des Dramas selbst.</p>
+
+<p>Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen
+Franz von Sickingens gegen die deutschen
+Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein
+Freund und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die
+Helden des Dramas, und es ist eigentlich schwer
+zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in
+Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische
+oder der theoretische Repräsentant des
+niederen deutschen Adels. Merkwürdigerweise
+hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in
+dem letzteren sich selbst zu zeichnen versucht.
+&#8222;Lesen Sie mein Trauerspiel,&#8221; schreibt er an
+Sophie von Sontzew. &#8222;Alles, was ich Ihnen hier
+sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen.
+Auch er hatte alle Verleumdungen, alle Arten
+von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich
+habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht,
+und ich konnte dies, da sein Schicksal und das
+meinige einander vollständig gleich und von überraschender
+Ähnlichkeit sind.&#8221; Es würde selbst
+Lassalle schwer geworden sein, diese überraschende
+Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich um
+die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span>
+in Berlin ein luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen
+aller Kreise der besser situierten Gesellschaft
+und erfreute sich als Politiker nicht
+entfernt eines ähnlichen Hasses wie der fränkische
+Ritter, der Urheber der leidenschaftlichen Streitschriften
+wider die römische Pfaffenherrschaft.
+Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien
+zwischen Lassalle und Hutten ziehen, aber
+in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen,
+was tatsächlich war, sondern was Lassalle
+glaubte und wovon er sich bei seinem Werke
+geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem
+Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen
+über sich selbst ausgesetzt. Genug, wir
+haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor
+uns, wie er um jene Zeit dachte, und die Reden,
+die er Hutten in den Mund legt, erhalten dadurch
+für das Verständnis des Lassalleschen Ideenkreises
+eine besondere Bedeutung.</p>
+
+<p>Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens
+auf die Bedenken des Ökolampadius gegen den
+geplanten Aufstand:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.<br /></span>
+<span class="i0">Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>ein echt Hegelscher Satz,</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Doch ihre Form bleibt ewig &mdash; die Gewalt!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und dann, als Ökolampadius von der &#8222;Entweihung
+der Liebeslehre durch das Schwert&#8221; gesprochen:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span></p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!<br /></span>
+<span class="i0">Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist<br /></span>
+<span class="i0">Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,<br /></span>
+<span class="i0">Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.<br /></span>
+<span class="i0">Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,<br /></span>
+<span class="i0">Den wir noch heut den Großen staunend nennen.<br /></span>
+<span class="i0">Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt,<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab!<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht<br /></span>
+<span class="i0">Und Wissenschaft und Künste uns geboren.<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!<br /></span>
+<span class="i0">So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet<br /></span>
+<span class="i0">Das Herrliche, das die Geschichte sah,<br /></span>
+<span class="i0">Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen,<br /></span>
+<span class="i0">Dem <em class="gesperrt">Schwert</em> zuletzt verdankt es sein Gelingen!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Es liegt in den Sätzen &#8222;doch ihre &mdash; der Geschichte
+&mdash; Form bleibt ewig die Gewalt&#8221;, und
+&#8222;daß alles Große, was sich jemals wird vollbringen&#8221;,
+dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken
+werde, unzweifelhaft viel Übertreibung.
+Trotzdem hatte der Hinweis, daß das für die
+Freiheit geschwungene Schwert das &#8222;fleischgewordene
+Wort&#8221; sei, daß, wer die Freiheit erwerben
+will, bereit sein muß, für sie mit dem
+Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in
+einer Epoche, wo man in weiten Kreisen der ehemaligen
+Demokratie sich immer mehr darauf verlegte,
+alles von der Macht des Wortes zu erwarten.
+Sehr zeitgemäß, und nicht nur für die
+damalige Epoche, sind auch die Worte, die
+Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen
+im letzten Akt zurufen läßt:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span></p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht<br /></span>
+<span class="i0">Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten<br /></span>
+<span class="i0">In großen Dingen schlau zu sein. <em class="gesperrt">Verkleidung</em><br /></span>
+<span class="i0">Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,<br /></span>
+<span class="i0">Wo im Gewühl die Völker dich nur an<br /></span>
+<span class="i0">Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen;<br /></span>
+<span class="i0">Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle<br /></span>
+<span class="i0">Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe.<br /></span>
+<span class="i0">Dann probst du aus im ungeheuren Streit<br /></span>
+<span class="i0">Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,<br /></span>
+<span class="i0">Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Auch der Ausspruch Sickingens:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.<br /></span>
+<span class="i0">Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,<br /></span>
+<span class="i0">Daß eines sich stets ändert mit dem andern,<br /></span>
+<span class="i0">Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt&#8221;.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis
+Lassalles. Leider hat er ihn jedoch gerade
+in der kritischsten Periode seiner politischen Laufbahn
+unbeachtet gelassen.</p>
+
+<p>Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten
+auf, sondern nehmen wir das Ganze des Dramas,
+ziehen wir seine Quintessenz.</p>
+
+<p>Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte
+ist bekannt. Sie sind beide Vertreter
+des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die
+Zeit der Reformation im Untergehen begriffenen
+Klasse. Was sie wollen, ist diesen Untergang
+aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das notwendigerweise
+scheitert und dasjenige, was es
+verhindern will, nur beschleunigt. Da Hutten wie
+Sickingen durch Charakter wie Intelligenz ihre
+Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span>
+Material zu einer echten Tragödie gegeben,
+der vergebliche Kampf markiger Persönlichkeiten
+gegen die geschichtliche Notwendigkeit. Merkwürdigerweise
+wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen
+Bewegung im Lassalleschen Drama
+am wenigsten behandelt, so bedeutungsvoll sie
+doch gerade für die &mdash; wir wollen nicht einmal
+sagen, sozialistische, sondern überhaupt die moderne
+wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ist.
+Im Drama geht das Hutten-Sickingensche Unternehmen
+an tausend Zufälligkeiten &mdash; Unüberlegtheit,
+Mißgriffe in den Mitteln, Verrat usw. &mdash;
+zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit den
+Worten: &#8222;Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich
+unsere Rache&#8221;, was unwillkürlich an den recht
+unhistorischen Schluß in Götz von Berlichingen
+erinnert: &#8222;Wehe dem Jahrhundert, das dich von
+sich stieß! Wehe der Nachkommenschaft, die
+dich verkennt!&#8221; Begreift man aber, warum der
+junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich
+einen Vertreter des untergehenden Rittertums zum
+Helden wählen konnte, so ist es schon schwerer
+zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später,
+zu einer Zeit, wo die Geschichtsforschung bereits
+ganz andere Gesichtspunkte zur Beurteilung der
+Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte,
+ein Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben
+dieses Rittertums schlechthin als die Repräsentanten
+&#8222;eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt,
+auf dessen Resultaten&#8221;, wie er sich in der
+Vorrede ausdrückt, &#8222;unsere ganze Wirklichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span>
+lebt&#8221;. &#8222;Ich wollte,&#8221; sagt er an der betreffenden
+Stelle weiter, &#8222;wenn möglich, diesen kulturhistorischen
+Prozeß noch einmal in bewußter Erkenntnis
+und leidenschaftlicher Ergreifung durch
+die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen
+solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie
+gegeben &mdash; und darum entschloß ich mich zu
+diesem Drama.&#8221;</p>
+
+<p>Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen
+neben und mit der Sache des Rittertums noch
+den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und
+für die Einheit des Reiches, zwei Forderungen,
+welche ideologisch die des untergehenden Rittertums
+waren, geschichtlich aber im Interesse der
+aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn
+auch durch die Entwicklung der Verhältnisse in
+Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren
+Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in
+den Vordergrund gedrängt und im neunzehnten
+Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen
+Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche
+Adel hat sich erst nach der Gründung des neudeutschen
+Reiches daran erinnert, daß er einmal
+eine so anständige Persönlichkeit wie Franz von
+Sickingen hervorgebracht hat &mdash; den Hutten kann
+er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger
+Jahren und noch später feierte der &#8222;Gartenlauben&#8221;-Liberalismus
+Hutten und Sickingen als
+Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung
+und ignorierte ihre Klassenbestrebungen.</p>
+
+<p>Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span>
+der Fall. Ulrich von Hutten und Franz von
+Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen
+Freiheit willen gegen den römischen Antichrist,
+nur im Interesse der nationalen Sache gegen die
+Einzelfürsten. &#8222;Was wir wollen,&#8221; sagt Sickingen
+im Zwiegespräch mit Hutten, &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland,<br /></span>
+<span class="i0">Zertrümmerung alles Pfaffenregiments,<br /></span>
+<span class="i0">Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen,<br /></span>
+<span class="i0">Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,<br /></span>
+<span class="i0">Wiedergeburt, zeitmäßige der alten,<br /></span>
+<span class="i0">Der urgermanischen gemeinen Freiheit,<br /></span>
+<span class="i0">Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft<br /></span>
+<span class="i0">Und usurpierten Zwischenregiments,<br /></span>
+<span class="i0">Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang<br /></span>
+<span class="i0">Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,<br /></span>
+<span class="i0">Ein &mdash; evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze<br /></span>
+<span class="i0">Des großen Reichs.&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und Hutten antwortet: &#8222;Treu ist das Bild.&#8221;</p>
+
+<p>Da Lassalle ausdrücklich den &#8222;Franz von
+Sickingen&#8221; als ein Tendenzdrama bezeichnet, so
+haben wir in ihm einen Beleg für die Wandlung,
+die sich in ihm in bezug auf seine &mdash; vorläufig
+ideale &mdash; Stellungnahme zu den politischen Strömungen
+der Zeit vollzogen. Es sollte indes gar
+nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine
+Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen
+bürgerlichen Demokratie, auch gegenüber
+einer konkreten Frage des Tages offenbaren
+sollte<a name="FNAnker_3_3" id="FNAnker_3_3"></a><a href="#Fussnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a>.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span></p>
+
+<p>Der &#8222;Franz von Sickingen&#8221; war im Winter
+1857/58 vollendet worden. Lassalle hatte ihn,
+wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span>
+begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete.
+Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig
+aus der abstrakten Gedankenwelt, in die er sich bei<span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span>
+jener Arbeit &#8222;einspintisieren&#8221; mußte, mit einem
+Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung
+zu den großen Kämpfen der Menschheit
+stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und
+Reformationszeit studiert und sich an den Werken
+und dem Leben Ulrich von Huttens &#8222;berauscht&#8221;,
+als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span>
+elenden &#8222;modernen&#8221; Dramas auf den Gedanken
+brachte: Das &mdash; der Kampf Huttens &mdash; wäre
+ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne
+ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu
+denken, den Plan des Dramas entworfen, wurde
+sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst
+fertig machen müsse. Es sei &#8222;wie eine Eingebung&#8221;
+über ihn gekommen. Man spürt es dem
+Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut
+geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten
+Fehler erhebt es sich, dank seines geistigen Gehalts,
+immer noch himmelhoch über die ganze
+Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner
+der deutschen Dichter damals besser gemacht als
+Lassalle.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+<h2><a name="Ferdinand_Lassalle" id="Ferdinand_Lassalle">Ferdinand Lassalle
+und der italienische Krieg.</a></h2>
+
+
+<p>Anfang 1859 erschien der &#8222;Franz von Sickingen&#8221;
+als Buchdrama. Gerade als er herauskam,
+stand Europa am Vorabend eines Krieges, der
+auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland
+eine große Rückwirkung ausüben sollte. Es war
+der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis
+Napoleon und Cavour in Plombières verabredete
+französisch-sardinische Feldzug behufs Losreißung
+der Lombardei von Österreich und der
+Beseitigung der österreichischen Oberherrschaft
+in Mittelitalien.</p>
+
+<p>Österreich gehörte damals zum deutschen Bund,<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span>
+und so erhob sich natürlich die Frage, welche
+Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem
+Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des
+übrigen Deutschland, sich gegenüber Frankreich
+mit Österreich zu identifizieren oder nicht?</p>
+
+<p>Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert,
+daß der Krieg einen zwieschlächtigen
+Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener
+war er ein nationaler Befreiungskampf, der die
+Sache der Einigung und Befreiung Italiens einen
+Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten Frankreichs
+dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen,
+um die Herrschaft des bonapartistischen
+Regimes in Frankreich zu stärken und die Machtstellung
+Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel
+stand auf jeden Fall fest. Außerdem pfiffen
+es die Spatzen von den Dächern, daß Napoleon
+sich von seinem Verbündeten, dem König von
+Sardinien, für seine Bundesgenossenschaft einen
+hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen (Nizza
+und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die
+&#8222;Einigung&#8221; Italiens in jenem Moment nur soweit
+stattfinden sollte, als sich mit den Interessen des
+bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem
+Grunde denunzierte z.&nbsp;B. ein so leidenschaftlicher
+italienischer Patriot wie Mazzini bereits
+Ende 1858 den in Plombières zwischen Napoleon
+und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als
+eine bloße dynastische Intrige. Soviel war sicher,
+daß, wer diesen Krieg unterstützte, zunächst
+Napoleon III. und dessen Pläne unterstützte.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span></p>
+
+<p>Napoleon III. brauchte aber Unterstützung.
+Gegen Österreich allein konnte er im Bunde mit
+Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber
+die übrigen Staaten des Deutschen Bundes und
+namentlich Preußen Österreich zu Hilfe, so stand
+die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er
+denn durch seine Agenten und Geschäftsträger
+bei den deutschen Regierungen, in der deutschen
+Presse und unter den deutschen Parteiführern
+mit allen Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg
+als eine Sache behandelt werde, die Deutschland
+etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für
+ein Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich
+in Italien ausübe, aufrechtzuerhalten, überhaupt
+einem so urreaktionären Staat wie Österreich
+Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene
+Feind der Freiheit der Völker; werde
+Österreich zertrümmert, so würde auch für
+Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen.</p>
+
+<p>Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen
+Federn, daß, wenn die Napoleonischen
+Pläne im Süden sich verwirklichten, der
+Rhein in direkte Gefahr geriete. Ihm würde der
+nächste Angriff gelten. Wer das linke Rheinufer
+vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen
+wolle, müsse dazu beitragen, daß Österreich seine
+militärischen Positionen in Oberitalien unbeeinträchtigt
+erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt
+werden.</p>
+
+<p>Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene
+Parole stimmte in vielen wesentlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span>
+Punkten mit dem Programm der kleindeutschen
+Partei (Einigung Deutschlands unter Preußens
+Spitze, unter Hinauswerfung Österreichs aus dem
+deutschen Bund) überein, war direkt auf es zugeschnitten.
+Trotzdem konnten sich eine große
+Anzahl kleindeutscher Politiker nicht dazu entschließen,
+gerade in diesem Zeitpunkt die Sache
+Österreichs von der des übrigen Deutschland zu
+trennen. Dies erschien ihnen um so weniger zulässig,
+als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon
+den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen
+Regierung in Petersburg führte, dieser also den
+weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen
+im Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr
+ging ihre Meinung dahin, jetzt käme es vor
+allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons
+abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne
+man weiter reden. Bis es geschehen, müßten sich
+aber die Italiener gefallen lassen, daß man sie,
+solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes
+kämpften, einfach als dessen Verbündete behandelte.</p>
+
+<p>Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom
+kleindeutschen Standpunkt aus auch zu einer andern
+Auffassung der Situation gelangen, in der vorentwickelten
+Gedankenreihe eine Inkonsequenz
+erblicken konnte. Wenn Österreich, und namentlich
+dessen außerdeutsche Besitzungen, um so
+eher je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen
+werden sollten, warum nicht mit Vergnügen
+ein Ereignis begrüßen, das sich als ein<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span>
+Schritt zur Verwirklichung dieses Programms darstellte?
+Hatte nicht Napoleon erklärt, daß er
+nur Österreich und nicht Deutschland bekriege?
+Warum also Österreich gegen Frankreich beistehen,
+zumal man dadurch gezwungen werde,
+auch die Italiener zu bekriegen, die doch für
+die gerechteste Sache von der Welt kämpften?
+Warum den Rhein verteidigen, ehe er angegriffen,
+ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein
+Angriff auf ihn beabsichtigt sei? Warum nicht
+lieber die Verlegenheit Österreichs und die Beschäftigung
+Napoleons in Italien benutzen, um die
+Sache der Einigung Deutschlands unter Preußens
+Führung auch durch positive Maßnahmen einen
+weiteren Schritt zu fördern?</p>
+
+<p>Dieser &mdash; es sei wiederholt &mdash; vom kleindeutschen
+Standpunkt aus konsequenteren Politik
+spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 erschienenen
+Schrift &#8222;Der Italienische Krieg und
+die Aufgabe Preußens&#8221; das Wort. Mit großer
+Energie bekämpft er die in den beiden Berliner
+Organen des norddeutschen Liberalismus, der
+&#8222;National-Zeitung&#8221; und der &#8222;Volks-Zeitung&#8221;, &mdash;
+in der ersteren unter anderm auch von Lassalles
+nachmaligem Freunde, Lothar Bucher &mdash; verfochtene
+Ansicht, einem von Bonaparte ausgehenden
+Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich
+als Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert
+er dagegen, daß Preußen den Moment benutzen
+solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine
+deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span>
+Napoleon die Karte Europas im Süden nach dem
+Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe im
+Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn
+jener Italien befreie, seinerseits Schleswig-Holstein
+zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen,
+&#8222;während die Demolierung Österreichs sich schon
+von selbst vollzieht, für die Erhöhung Preußens
+in der Deutschen Achtung zu sorgen&#8221;. Und, fügt
+Lassalle schließlich hinzu, &#8222;möge die Regierung
+dessen gewiß sein. In diesem Kriege, der ebensosehr
+ein Lebensinteresse des deutschen Volks
+als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie
+selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse
+vor ihm zu Boden werfen mit einer Expansivkraft,
+wie ihrer nur der berauschende Ausbruch
+einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche
+seit fünfzig Jahren komprimiert in dem Herzen
+eines großen Volkes zuckt und zittert.&#8221;</p>
+
+<p>Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre
+zu einem Advokaten der &#8222;deutschen&#8221; Politik
+Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt
+sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte
+nationale Programm als solches eine große Ähnlichkeit
+mit dem des im Sommer 1859 gegründeten
+Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit
+der Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung
+der deutschen Einheit unter preußischer
+Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all seinem
+theoretischen Radikalismus in der Praxis noch
+ziemlich stark im Preußentum stecken geblieben.
+Nicht daß er bornierter preußischer Partikularist<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span>
+gewesen wäre &mdash; wir werden gleich sehen,
+wie weit er davon entfernt war &mdash;, aber er sah
+die nationale Bewegung und die auf die auswärtige
+Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen
+durch die Brille des preußischen Demokraten
+an, sein Haß gegen Österreich war in dieser
+Hinsicht ebenso übertrieben, wie der Preußenhaß
+vieler süddeutscher Demokraten und selbst
+Sozialisten. Österreich ist ihm &#8222;der kulturfeindlichste
+Staatsbegriff, den Europa aufzuweisen
+hat&#8221;, er möchte &#8222;den Neger kennen lernen, der,
+neben Österreich gestellt, nicht ins Weißliche
+schimmerte&#8221;; Österreich ist &#8222;ein reaktionäres
+Prinzip&#8221;, der &#8222;gefährlichste Feind aller Freiheitsideen&#8221;;
+&#8222;der Staatsbegriff Österreich&#8221; muß &#8222;zerfetzt,
+zerstückt, vernichtet, zermalmt &mdash; in alle
+vier Winde zerstreut werden&#8221;, jede politische
+Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen
+könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen,
+und &#8222;wenn die Rechnung sonst ziemlich gleichstehen
+möchte &mdash; das römische Konkordat hat
+Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des
+Klerus nicht geschlossen&#8221;. Selbst Rußland kommt
+noch besser weg, als Österreich. &#8222;Rußland ist
+ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von
+seiner despotischen Regierung soweit zu zivilisieren
+gesucht wird, als mit ihren despotischen
+Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier
+die Entschuldigung, daß sie nationales Element
+ist.&#8221; Ganz anders aber mit Österreich. &#8222;Hier
+vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span>
+das barbarische Prinzip, künstlich und
+gewaltsam seine Kulturvölker unter dasselbe beugend.&#8221;</p>
+
+<p>In dieser einseitigen und relativ &mdash; d.&nbsp;h. wenn
+man die übrigen Staaten in Vergleich zieht &mdash;
+damals auch übertriebenen Schwarzmalerei Österreichs
+und auch sonst in verschiedenen Punkten,
+begegnet sich die Lassallesche Broschüre mit einer
+Schrift, die schon einige Wochen vor ihr erschienen
+war und ebenfalls die Tendenz hatte, die
+Deutschen zu ermahnen, Napoleon in Italien, solange
+er den Befreier spiele, freie Hand zu lassen
+und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren.
+Es war dies die Schrift Karl Vogts
+&#8222;Studien zur gegenwärtigen Lage Europas&#8221;, ein die
+bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und
+direkt oder indirekt auch auf bonapartistischen
+Antrieb geschriebenes Buch. Ich würde Anstand
+genommen haben, diese Schrift in irgendeinem
+Zusammenhange mit der Lassalleschen zu zitieren,
+indes Lassalle ist so durchaus über jeden Verdacht
+der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern
+erhaben, daß die Möglichkeit absolut
+ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der mir
+aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein
+falsches Licht auf Lassalle zu werfen. Zum
+Überfluß will ich aber noch einen Passus aus
+der Vorrede zum &#8222;Herr Vogt&#8221; von Karl Marx
+hierhersetzen, jener Schrift, die den Beweis lieferte,
+daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse
+schrieb und agitierte, und deren Beweisführung<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span>
+neun Jahre später durch die in den Tuilerien
+vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde &mdash;
+ein Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil
+er zweifelsohne gerade auch auf Lassalle sich bezieht.
+Marx schreibt:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Von Männern, die schon vor 1848 miteinander
+darin übereinstimmten, die Unabhängigkeit
+Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als
+ein Recht dieser Länder, sondern als das Interesse
+Deutschlands und Europas zu vertreten,
+wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt
+über die Taktik, die Deutschland bei
+Gelegenheit des italienischen Krieges von 1859
+Louis Bonaparte gegenüber auszuführen habe.
+Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen
+Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen,
+über die zu entscheiden einer späteren Zeit
+vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe
+es in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts
+und seiner Klique zu tun. Selbst die Ansicht,
+die er zu vertreten vorgab, und in der Einbildung
+eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt
+in der Tat außerhalb der Grenzen meiner Kritik.
+Ich behandle die Ansichten, die er wirklich vertrat.&#8221;
+(K. Marx &#8222;Herr Vogt&#8221;. Vorwort V, VI.)</p></blockquote>
+
+<p>Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden,
+daß dort, wo Vogt mit Argumenten operiert, die
+sich auch bei Lassalle finden, dieser in der Marxschen
+Schrift mitkritisiert wird, was übrigens
+Lassalle nicht verhindert hat, in einem Briefe an<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span>
+Marx vom 19. Januar 1861 zu erklären, daß er
+nach der Lektüre des &#8222;Herr Vogt&#8221; Marx' Überzeugung,
+daß Vogt von Bonaparte bestochen sei,
+&#8222;ganz gerechtfertigt und in der Ordnung&#8221; finde,
+der innere Beweis dafür<a name="FNAnker_4_4" id="FNAnker_4_4"></a><a href="#Fussnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> sei &#8222;mit einer immensen
+Evidenz geführt&#8221;. Das Buch sei &#8222;in jeder Hinsicht
+ein meisterhaftes Ding&#8221;.</p>
+
+<p>Jedenfalls ist der &#8222;Herr Vogt&#8221; ein äußerst
+instruktives Buch zum Verständnis der Geschichte
+des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet
+enthält eine Fülle von geschichtlichem Material,
+das zu einem ganzen Dutzend Abhandlungen ausreichen
+würde.</p>
+
+<p>Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein
+besonderes Interesse.</p>
+
+<p>Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle
+war zu keiner Zeit so lebhaft, als in den Jahren
+1859 und 1860, und ein großer Teil davon handelt
+eben von dem italienischen Krieg und der
+ihm gegenüber einzunehmenden Haltung. Ob die
+Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch erhalten
+sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden,
+ist bis jetzt nicht bekannt, noch ob der
+jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen bereit ist.
+Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung,
+die Marx damals einnahm, nur unvollkommen
+zu ersehen, und noch weniger ihre Begründung,
+da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich,<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span>
+meist darauf beschränkt, seine Stellungnahme zu
+motivieren und die Einwände gegen dieselbe möglichst
+zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht
+des weiteren dargelegt zu werden, warum in einer
+für Sozialisten geschriebenen Abhandlung über
+Lassalle nicht nur dessen persönliche Beziehung
+zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen
+Sozialismus, sondern auch sein Verhältnis
+zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer Behandlung
+der politischen und sozialen Fragen von
+besonderem Interesse ist.</p>
+
+<p>Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis
+lange Zeit seine fertige Schablone. Für
+die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete
+sie: Lassalle war national, Marx und Engels
+waren in jeder Hinsicht international, Lassalle
+war deutscher Patriot, Marx und Engels waren
+vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die
+Weltrepublik und die Revolution gekümmert, was
+aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig.</p>
+
+<p>Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser
+Schrift hat jene Gegenüberstellung aufgegeben
+werden müssen.</p>
+
+<p>Noch ehe Lassalles &#8222;Italienischer Krieg&#8221; erschien,
+war in demselben Verlage, wie später
+diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe
+Thema behandelte. Sie war betitelt: &#8222;Po und
+Rhein.&#8221; Der Verfasser, der sich ebensowenig
+nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner
+Schrift, suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen,
+daß die von den Organen der österreichischen<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span>
+Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe
+zu seiner Verteidigung im Südwesten der
+italienischen Provinzen, falsch sei, daß auch ohne
+diese Deutschland noch eine starke Defensivposition
+in den Alpen habe, namentlich sobald ein
+einheitliches und unabhängiges Italien geschaffen
+sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund,
+mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig
+genug Anlaß haben werde, Deutschlands Bundesgenossenschaft
+gegen Frankreich zu suchen. Oberitalien
+sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens
+im Kriege nutzen, im Frieden immer nur
+schaden könne. Und auch der militärische Vorteil
+im Kriege würde erkauft durch die geschworene
+Feindschaft von 25 Millionen Italienern. Aber,
+führte der Verfasser alsdann aus, die Frage um
+den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen
+Deutschland und Italien, und nicht eine zwischen
+Österreich und Louis Napoleon. Gegenüber
+einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner
+eigenen, in anderer Beziehung anti-deutschen Interessen
+willen sich einmischte, handle es sich um
+die einfache Behauptung einer Provinz, die man
+nur gezwungen abtritt, einer militärischen Position,
+die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr
+halten kann ... &#8222;Werden wir angegriffen, so
+wehren wir uns.&#8221; Wenn Napoleon als Paladin
+der italienischen Unabhängigkeit auftreten wolle,
+so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern
+Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie
+ernst es ihm ist. Solle aber die Karte von Europa<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span>
+revidiert werden, &#8222;so haben wir Deutsche das
+Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch
+geschehe, und daß man nicht, wie es
+beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein
+solle Opfer bringen.&#8221; &#8222;Das Endresultat dieser
+ganzen Untersuchung aber ist,&#8221; heißt es schließlich,
+&#8222;daß wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten
+Handel machen würden, wenn wir den Po,
+den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen
+Plunder vertauschen könnten gegen die Einheit ...
+die allein uns nach innen und außen stark machen
+kann.&#8221;</p>
+
+<p>Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer
+als &mdash; Friedrich Engels. Unnütz zu sagen,
+daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx
+veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle
+besorgt. Lassalle hatte auch, wie aus einem seiner
+Briefe hervorgeht, eine Besprechung ihres Inhalts
+an die &mdash; damals noch unabhängige &mdash;
+Wiener &#8222;Presse&#8221; geschickt, deren Redakteur mit
+ihm verwandt war. Er kannte also ihren Inhalt
+ganz genau, als er seinen &#8222;Italienischen Krieg&#8221;
+schrieb, polemisiert somit auch gegen sie, wenn er
+die Ansicht bekämpft, daß, da der Krieg durch
+Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in
+ein gegen Deutschland gerichtetes Unternehmen
+verwandelt sei, das notgedrungen mit einem
+Angriff auf den Rhein enden werde, er auch
+deutscherseits nur als solches zu behandeln sei.
+Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt,
+Lassalles Schrift im &#8222;Herr Vogt&#8221; mitkritisiert,<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span>
+und zwar in dem Abschnitt VIII &#8222;Dâ-dâ-Vogt
+und seine Studien&#8221;<a name="FNAnker_5_5" id="FNAnker_5_5"></a><a href="#Fussnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a>.</p>
+
+<p>Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit
+den Vogtschen übereinstimmten, dafür nur ein
+Beispiel. Österreichischerseits war auf die Verträge
+von 1815 hingewiesen worden, durch welche
+Österreich der Besitz der Lombardei garantiert
+worden war. Darauf antworten nun:</p>
+
+
+<div class="center" style="font-size: 90%;">
+<table border="0" cellpadding="8" cellspacing="0" summary="Antworten Vogt - Lassalle">
+<col width="50%" />
+<col width="50%" />
+<tr><td>Vogt:</td><td>Lassalle:</td></tr>
+<tr><td align="justify" valign="top">
+&#8222;Es ist sonderbar, eine
+solche Sprache in dem
+Munde der einzigen Regierung
+(bei Vogt unterstrichen)
+zu vernehmen,
+die bis jetzt in frecher
+Weise die Verträge gebrochen
+hat. Von allen andern
+sind sie bis jetzt respektiert
+worden, nur Österreich
+hat sie gebrochen, indem
+es mitten im Frieden,
+ohne Ursache, seine frevelnde
+Hand gegen die
+durch diese Verträge garantirte
+Republik Krakau
+ausstreckte und dieselbe
+dem Kaiserstaat ohne weiteres
+einverleibte.&#8221; (&#8222;Studien&#8221;,
+S. 58.)
+</td><td align="justify" valign="top">
+&#8222;Die Verträge von 1815
+können nicht einmal mehr
+diplomatisch ernstlich aufgerufen
+werden. Verletzt
+durch die Konstituirung
+Belgiens, mit Füßen getreten
+und zerrissen gerade
+von Österreich durch die
+gewaltsame Okkupation
+Krakaus, gegen welche die
+europäischen Kabinette zu
+protestieren nicht unterließen,
+haben sie jede rechtliche
+Gültigkeit für jedes
+Mitglied der europäischen
+Staatenfamilie verloren.&#8221;
+(&#8222;Der Ital. Krieg usw.&#8221;
+Ges. Schriften Bd. I S.&nbsp;43.)
+</td></tr>
+</table>
+</div>
+
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p>
+
+<p>Hören wir nun Marx gegen Vogt:</p>
+
+<p>&#8222;Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution
+und Selbständigkeit des Königreich Polen, durch
+die Verträge von 1815 garantiert, aus &#8218;Achtung&#8217;
+vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete
+nicht minder die Integrität Krakaus, als es die
+freie Stadt im Jahre 1831 mit moskowitischen
+Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau
+wieder besetzt von Russen, Österreichern und
+Preußen, wurde völlig als erobertes Land behandelt
+und appellierte noch im Jahre 1840, unter
+Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens
+an England und Frankreich. Endlich am 22. Februar
+1846 besetzten Russen, Österreicher und
+Preußen abermals Krakau, um es Österreich einzuverleiben.
+Der Vertragsbruch geschah durch
+die drei nordischen Mächte, und die österreichische
+Konfiskation von 1846 war nur das letzte Wort
+des russischen Einmarsches von 1831.&#8221; (&#8222;Herr
+Vogt&#8221;, S.&nbsp;73/74.) In einer Note weist dann<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span>
+Marx noch auf sein Pamphlet &#8222;Palmerston and
+Poland&#8221; hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston
+seit 1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau
+mitgearbeitet habe. Indes das letztere ist eine
+Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, wohl
+aber interessiert uns der andere Nachweis bei
+Marx, daß Vogt auch mit der Verweisung auf
+das Beispiel Krakaus nur eine von bonapartistischer
+Seite ausgehende Argumentation ab- und
+umschrieb. In einem der Anfang 1859 bei Dentu
+in Paris herausgekommenen bonapartistischen
+Pamphlete, &#8222;La vraie question, France, &mdash; Italie
+&mdash; Autriche&#8221;, hatte es wörtlich geheißen:</p>
+
+<p>&#8222;Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische
+Regierung die Unverletzbarkeit der
+Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben
+verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau,
+dessen Unabhängigkeit diese Verträge garantierten?&#8221;</p>
+
+<p>Vogt hatte in seiner Manier überall noch
+einen Extratrumpf aufgesetzt. Phrasen wie &#8222;die
+einzige Regierung&#8221;, &#8222;in frecher Weise&#8221;, &#8222;frevelnde
+Hand&#8221; sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am
+Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die
+&#8222;politische Nemesis&#8221; gegen Österreich anruft.</p>
+
+<p>Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb,
+das Vogtsche Machwerk noch nicht zu Gesicht
+bekommen, aber daß seine Schrift durch die von
+Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle
+in die Presse des In- und Auslandes lancierten
+Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt nach<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span>
+diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe
+ähnlicher an die Seite gesetzt werden können,
+gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen
+Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß
+die Politik ihres Heros sogar die Sanktion Lassalles
+erhalten habe, so übersahen sie dabei nur die
+eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen
+Regierung vorgehaltene Programm, wie
+immer es von Lassalle selbst gemeint war, in den
+entscheidenden Punkten dem Programm glich, das
+Bonaparte zu jener Zeit den deutschen Patrioten
+vorsetzen ließ, um sie für seine damalige Politik
+zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in
+dieser Schrift, die später von bürgerlichen Schriftstellern
+als ungewöhnliche Vorhersagungen bezeichnet
+worden sind, finden sich auch in Vogts
+&#8222;Studien&#8221; und andern aus bonapartistischen Quellen
+gespeisten Pamphleten. Gerade Vogt wußte z.&nbsp;B.
+schon im Jahre 1859, also noch vor der preußischen
+Heeresreform, daß, wenn Preußen einen
+deutschen Bürgerkrieg für die Herstellung einer
+einheitlichen deutschen Zentralgewalt ins Werk
+setzen würde, dieser Krieg &#8222;nicht so viel Wochen
+kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.&#8221;
+(&#8222;Studien&#8221; S.&nbsp;155.) Des weiteren wußte
+Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich im
+Stich lassen werde, es mußte nach ihm &#8222;dem Kurzsichtigsten&#8221;
+klar geworden sein, daß ein Einverständnis
+zwischen Preußens Regierung und der
+kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß
+Preußen nicht zur Verteidigung der außerdeutschen<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span>
+Provinzen Österreichs zum Schwerte
+greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner
+Bundesglieder für Österreich verhindern
+wird, um ... seinen Lohn für diese Anstrengungen
+in norddeutschen Flachlanden zu erhalten.
+(&#8222;Studien&#8221; S.&nbsp;19.) Mehr Vorhersagungen kann
+man wirklich von einem Propheten nicht verlangen.</p>
+
+<p>Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur
+Ausführung gekommen. Bismarck, der dazu bereit
+gewesen wäre, war dem Prinzregenten von
+Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als
+Minister des Auswärtigen genehm zu sein. Der
+nachmalige Wilhelm&nbsp;I. schreckte vor dem Gedanken
+zurück, Österreich rundheraus die Bundeshilfe
+zu versagen. Er stellte seine Bedingungen,
+und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt
+er seine Truppen zurück. So &#8222;drauf und dran&#8221;
+Österreich zu helfen, wie Lassalle eine Zeitlang
+annahm, war auch er nicht.</p>
+
+<p>&#8222;Meine Broschüre &#8218;Der italienische Krieg und
+die Aufgabe Preußens&#8217;&#8221; &mdash; schreibt Lassalle
+unterm 27. Mai 1859 an Marx und Engels &mdash; &#8222;wird
+Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr
+dort hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens
+durch diese annähernd von der Stimmung
+hier unterrichtet gewesen zu sein. Absolute Franzosenfresserei,
+Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand,
+die revolutionäre Entwicklung Frankreichs
+der wirkliche geheime Grund), das ist das Horn,
+in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die
+Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend,<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span>
+ins Herz der untersten Volksklassen
+und der demokratischen Kreise zu gießen suchen,
+und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen
+den Willen des Volkes von der Regierung unternommener
+Krieg gegen Frankreich für unsere
+revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich
+müßte ein von verblendeter Volkspopularität
+getragener Krieg auf unsre demokratische Entwicklung
+einwirken. Zu den im 6.&nbsp;Kapitel meiner
+Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen
+kommt dazu, daß man schon jetzt den Riß, der
+uns von unsern Regierungen trennt, ganz und gar
+zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand
+ich für Pflicht, mich entgegenzuwerfen ... Natürlich
+gebe ich mich keinen Augenblick der Täuschung
+hin, als könnte und würde die Regierung den
+sub III eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!...
+Aber eben um so mehr fühlte ich mich
+gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade
+weil er sofort in einen Vorwurf umschlägt. Er
+kann wie ein Eisblock wirken, an dem sich die
+Wogen dieser falschen Popularität zu brechen
+anfangen.&#8221;</p>
+
+<p>Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner
+Schrift mehr darauf an, die revolutionäre als die
+nationale Bewegung zu fördern, die letztere der
+ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich
+war berechtigt, die Frage war eben nur, ob das
+Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale
+Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung
+zwischen Lassalle einerseits und Marx und Engels<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span>
+andererseits durchaus keine Meinungsverschiedenheit
+bestand, in falsche Bahnen lenken mußte.
+Marx und Engels behaupteten das. Nach ihrer
+Ansicht kam es zunächst darauf an, den gegen
+Deutschland als Ganzes geführten Streich durch
+eine gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen,
+und nicht in dem Moment, wo ein
+solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst
+nur scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung
+Deutschlands führen mußte. Die Meinungsverschiedenheit
+zwischen ihnen und Lassalle in
+dieser Frage beruht im wesentlichen darauf, daß
+sie sie mehr in ihrem weiteren historischen und
+internationalen Zusammenhang betrachteten, während
+Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf
+die augenblicklichen Verhältnisse in der inneren
+Politik leiten ließ. Daher beging er auch die
+Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich
+streng zwischen Volk und Regierung unterschied,
+Österreich und das Haus Habsburg ohne
+weiteres zu identifizieren und die &#8222;Zertrümmerung
+Österreichs&#8221; zu proklamieren, wo es sich
+zunächst doch nur um die Zertrümmerung des
+habsburgischen Regierungssystems handeln konnte.
+In einem seiner Briefe an Rodbertus knüpft er
+an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben,
+wo &mdash; die türkische Erbschaft an Deutschland
+gefallen sein wird und deutsche Soldaten oder
+Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>und sagt:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span></p>
+
+<p>&#8222;Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich
+in Ihrem letzten Schreiben diese Worte las! Denn
+wie oft habe ich nicht gerade diese Ansicht meinen
+besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten
+und mich dafür von ihnen einen Träumer nennen
+lassen müssen! Die ganze Verschiebung der seit
+1839 so oft in Angriff genommenen orientalischen
+Frage hat für mich immer nur den vernünftigen
+Sinn und Zusammenhang gehabt, daß die Frage
+so lange hinausgeschoben werden muß, bis der
+naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution,
+sie löst! Wir scheinen im Geist als siamesische
+Zwillingsbrüder zur Welt gekommen zu sein.&#8221;
+(Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus-Jagetzow,
+herausgegeben von Ad. Wagner, Brief
+vom 8.&nbsp;Mai&nbsp;1863.)</p>
+
+<p>Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten
+sollte, nachdem vorher Österreich &#8222;zerfetzt,
+zerstückt, vernichtet, zermalmt&#8221;, Ungarn
+und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich
+losgerissen worden, ist schwer verständlich.</p>
+
+<p>Noch eine andere Stelle aus den Briefen an
+Rodbertus gehört hierher:</p>
+
+<p>&#8222;Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe,
+ist es die kleindeutsche Partei. Alles Kleindeutsche
+ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem
+&#8218;Staatsmann&#8217; der Kleindeutschen, abgeleitet) und
+reine Feigheit. Vor 1&frac12; Jahren hielt ich hier einmal
+bei mir eine Versammlung meiner Freunde<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span>
+ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir
+müssen alle wollen: Großdeutschland moins les
+dynasties.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben,
+das der kleindeutschen Partei zugute
+käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen
+Furcht vor: Ernst, Krieg, Revolution, Republik
+und als ein gutes Stück Nationalverrat.&#8221; (Brief
+vom 2.&nbsp;Mai&nbsp;1863.)</p>
+
+<p>Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem
+nationalen Programm, wie er es in &#8222;Der Italienische
+Krieg usw.&#8221; entwickelte, ernst gewesen
+wäre, er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben
+können, denn jenes ist ganz gewiß kleindeutsch.
+Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für seine
+viel weitergehenden politischen Zwecke, für die
+Herbeiführung der Revolution, die die nationale
+Frage im großdeutschen Sinne lösen sollte, zweckmäßig
+erschien. In den, auf sein Schreiben vom
+27. Mai 1859 folgenden Briefen an Marx und
+Engels spricht er sich immer bestimmter in diesem
+Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen Briefe
+nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen
+sind, so können wir uns hier auf einige
+Auszüge und kurze Zusammenfassungen beschränken.</p>
+
+<p>Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen
+Briefe sind sehr oft ohne Datum, so daß dieses
+aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt
+Lassalle an Marx: &#8222;Nur in dem populären Kriege<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span>
+gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglück. In
+dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein
+immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe
+verteilt sich also so, daß unsere Regierungen
+den Krieg machen müssen (und sie werden dies
+tun) und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr
+scheint dort, zehn Jahre fern von hier, wirklich
+noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig entmonarchisiert
+unser Volk ist. Ich habe es auch
+erst in Berlin mit Leidwesen gesehen ... Käme
+nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung
+beigebracht wird<a name="FNAnker_6_6" id="FNAnker_6_6"></a><a href="#Fussnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a>, die Regierung führe diesen
+Krieg als einen nationalen, sie habe sich zu einer
+nationalen Tat erhoben, so solltet Ihr sehen, wie
+vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade
+bei Unglücksfällen, das Band der &#8218;deutschen
+Treue&#8217; das Volk an seine Regierungen binden
+würde ...&#8221; Was in unserm Interesse liegt, ist
+offenbar etwa folgendes:</p>
+
+<p>&#8222;1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen,
+wie gesagt, unsere Regierungen schon von
+selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter
+Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf
+und dran sei, für Österreich einzutreten.&#8221;</p>
+
+<p>Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt
+zutreffend.</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span></p>
+<p>&#8222;2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden
+unsere Regierungen gleichfalls von selbst besorgen,
+und um so mehr, je weniger das Volksinteresse
+für den Sieg sie unterstützt.)</p>
+
+<p>&#8222;3. daß das Volk der Überzeugung sei, der
+Krieg werde im volksfeindlichen, im dynastischen,
+im kontrerevolutionären Sinne, also gegen seine
+Interessen, unternommen. &mdash; Dies allein können
+wir besorgen, und dies zu besorgen ist daher
+unsere Pflicht.&#8221;</p>
+
+<p>Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen
+Zweck es haben könne, &#8222;einen populären Krieg
+gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen&#8221;.
+Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten,
+die er als maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung
+auf die Aussichten der revolutionären
+Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung
+auf die Beziehungen der deutschen Demokratie
+zur französischen und italienischen Demokratie.
+Die Frage der Interessen Deutschlands
+als Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt,
+daß er dieselbe Politik empfehle wie Vogt, der
+im französischen Solde schreibe, antwortet er:
+&#8222;Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft,
+die ich habe, ad absurdum führen? Dann könnte
+ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß Du
+das Unglück hast, diesmal mit Venedey und
+Waldeck einer Meinung zu sein.&#8221; Alsdann rühmt
+er sich, daß seine Broschüre &#8222;immens&#8221; gewirkt
+habe, &#8222;Volks-Zeitung&#8221; und &#8222;National-Zeitung&#8221;
+hätten zum Rückzug geblasen, die letztere &#8222;in<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span>
+einer Serie von sechs Leitartikeln eine vollständige
+Schwenkung gemacht&#8221;. Daß Lassalle gar nicht
+darauf kam, sich zu fragen, warum denn diese
+Organe kleindeutscher Richtung sich so schnell
+bekehren ließen!</p>
+
+<p>In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 &mdash;
+nach Villafranca &mdash; heißt es: &#8222;Es ist ganz selbstredend,
+daß zwischen uns nicht das Prinzip, sondern,
+wie Du sagst und wie ich es nie anders
+auffaßte, die &#8218;passendste Politik&#8217; ... streitig war.&#8221;
+Und um wieder keinen Zweifel darüber zu lassen,
+wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: &#8222;d.&nbsp;h.
+also doch die zur revolutionären Entwicklung
+passendste Politik.&#8221;</p>
+
+<p>Anfang 1860 an Fr. Engels: &#8222;Nur zur Vermeidung
+von Mißverständnissen muß ich bemerken,
+daß ich übrigens auch im vorigen Jahre,
+als ich meine Broschüre schrieb, sehnlichst
+wünschte, daß Preußen den Krieg gegen Napoleon
+mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung,
+daß die Regierung ihn mache, er aber
+beim Volke so unpopulär und verhaßt wie möglich
+sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück
+gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen,
+nicht für diesen Krieg schreiben und propagieren
+... Für die gegenwärtige Lage sind wir
+wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl
+ebensosehr für die zukünftige.&#8221;</p>
+
+<p>In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf
+die damals gerade eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage
+zu sprechen, die bekanntlich später<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span>
+zum Konflikt zwischen der Regierung und der
+liberalen Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung
+1859 hatte die preußische Regierung überzeugt,
+wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch
+war und daß durchgreifende Änderungen notwendig
+waren, um sie in den Stand zu setzen, sei
+es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit
+einiger Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken.
+Wer es also mit &#8222;Preußens deutschem Beruf&#8221;
+ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation
+einwilligen oder mindestens objektiv ihre
+Berechtigung anerkennen, was ja auch die Fortschrittler
+anfangs taten. Hören wir nun Lassalle:
+&#8222;Das Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung &mdash;
+völlige, nur verkappte &mdash; der Landwehr als letzten
+demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung
+eines immensen Machtmittels für Absolutismus
+und Junkertum ist in zwei Worten der evidente
+Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt
+haben, so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es
+durchgesetzt. Wer jetzt in Berlin lebt und nicht
+am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger
+sterben!&#8221;</p>
+
+<p>Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe
+Lassalles an Marx aus Aachen vom 11. September
+1860 zitiert. Marx hatte u.&nbsp;a. auch in einem Briefe
+an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs
+hingewiesen, in der ausgeführt worden war, daß,
+wenn Preußen Österreich gegen Frankreich zu
+Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich
+<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span>
+intervenieren, d.&nbsp;h. Preußen <em class="gesperrt">und</em> Österreich den
+Krieg erklären würde. Diese Note sei, hatte Marx
+ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um
+einen Anschlag gehandelt habe, bei dem die Befreiung
+Italiens nur Vorwand, die Schwächung
+Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und
+sie sei zweitens eine unverschämte Einmischung
+Rußlands in deutsche Angelegenheiten, die nicht
+geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun
+Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung
+nicht erblicken, aber selbst wenn eine solche darin
+enthalten sei, so treffe sie ja doch nur &#8222;die deutschen
+Regierungen&#8221;. &#8222;Denn, diable! was geht
+Dich und mich die Machtstellung des Prinzen von
+Preußen an? Da alle seine Tendenzen und Interessen
+gegen die Tendenzen und Interessen des
+deutschen Volkes gerichtet sind, so liegt es vielmehr
+gerade im Interesse des deutschen Volkes,
+wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen
+so gering wie möglich ist.&#8221; Man müsse sich also
+eher solcher Demütigungen freuen und sie höchstens
+in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen,
+wie es die Franzosen unter Louis Philipp getan
+hätten.</p>
+
+<p>Man kann sich wohl nicht &#8222;hochverräterischer&#8221;
+ausdrücken, als es hier überall geschieht, und diejenigen,
+die ehedem Lassalle als das Muster eines
+guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses
+Wortes der Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten,
+haben nach Veröffentlichung der Lassalleschen
+Briefe an Marx und Engels einfach einpacken
+müssen. Die Motive, die Lassalle bei der<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span>
+Abfassung des &#8222;Italienischen Krieges&#8221; leiteten,
+sind alles andere, nur nicht eine Anerkennung der
+nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt,
+daß hier, wie es in den meisten bürgerlichen
+Biographien heißt, bei Lassalle der Parteimann
+hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im
+Gegenteil eher sagen, daß der Parteimann, der
+republikanische Revolutionär, den Patrioten zurückdrängt.</p>
+
+<p>Man könnte freilich mit einem gewissen Schein
+von Recht die Frage aufwerfen: &#8222;Ja, wenn der
+Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an
+Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem,
+den er in der Broschüre vertritt, wer garantiert
+dann, daß der erstere der wirklich von Lassalle
+im Innersten seines Herzens eingenommene ist?
+Kann Lassalle nicht, da er doch das eine Mal
+sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx gegenüber
+getan haben?&#8221; Gegen diese Annahme sprechen
+aber so viele Gründe, daß es kaum der Mühe
+lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der wichtigste
+ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre
+und Briefen schließlich doch nur ein scheinbarer
+ist. Wo Lassalle in der Broschüre etwas sagt,
+was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten
+Ideen deckt, da spricht er immer nur
+hypothetisch mit einem großen &#8222;Wenn&#8221;, und diesem
+Wenn stellt er am Schluß ein &#8222;Wenn aber
+nicht, dann&#8221; gegenüber, und formuliert dieses
+&#8222;Dann&#8221; so: &#8222;So wird damit nur aber und aber
+bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span>
+einer nationalen Tat nicht mehr fähig ist.&#8221; Die
+positiven Behauptungen in der Broschüre hält er
+aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint
+es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt
+der Broschüre ausmachenden Darlegung, daß die
+Demokratie &mdash; worunter er die Gesamtheit der
+entschiedenen Oppositionsparteien verstand &mdash;
+den Krieg gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe,
+weil sie sich dadurch mit den Unterdrückern Italiens
+identifiziere, und es war ihm ferner durchaus
+ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs.
+Bis soweit ist denn auch die Broschüre,
+ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt
+für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung
+vollkommen berechtigt.</p>
+
+<p>Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt
+Lassalle eine Diplomatie, die gerade er in seinem
+Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich
+bekämpft hatte. Auch der demokratische
+Politiker braucht nicht in jedem Zeitpunkt seine
+letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht
+ihm nicht an und bringt ihn in eine falsche Lage,
+wenn er für eine Politik eintritt, von der er nicht
+auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch tut
+Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift
+mußte glauben, er wünsche nichts sehnlicher, als
+daß die preußische Regierung die darin von ihm
+entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich
+darauf berufen, daß er sicher war, die preußische
+Regierung werde diese Politik nicht befolgen. Damit
+war aber das Doppelspiel sicherlich nicht gerechtfertigt.<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span>
+Das Advokatenstück, eine Sache nur
+deshalb zu empfehlen, weil man zu wissen glaubt,
+daß sie doch nicht geschieht, ist ein durchaus
+falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen
+Anhänger irrezuführen, was ja später auch
+in diesem Falle eingetreten ist. Das Beispiel, auf
+das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist das
+denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische
+Opposition in Frankreich unter Louis
+Philipp, die Herren vom &#8222;National&#8221;, auswärtige
+Politik machten, ebnete später dem Mörder der
+Republik, dem Bonapartismus, die Bahn. Wie die
+&#8222;reinen Republikaner&#8221; die napoleonische Legende
+gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die
+friderizianische Legende gegen die damalige
+preußische Regierung ausspielen zu können. Aber
+die friderizianische Tradition, wenigstens soweit
+sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der
+preußischen Regierung aufgegeben, und statt gegen
+die Hauspolitik der Hohenzollern, machte Lassalle
+Propaganda für sie.</p>
+
+<p>Wie diese später, sobald Preußen sich dazu
+militärisch stark genug fühlte, energisch aufgenommen
+wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg
+zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie
+Österreich glücklich aus dem deutschen Bund herausgedrängt
+und die &#8222;Einigung&#8221; Rumpf-Deutschlands
+alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen,
+aber diese Realisierung des im &#8222;Italienischen
+Krieg&#8221; entwickelten Programms verhält
+sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte,<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span>
+wie in der Lessingschen Fabel das Kamel zum
+Pferd<a name="FNAnker_7_7" id="FNAnker_7_7"></a><a href="#Fussnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a>.</p>
+
+<p>[Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen
+Frage gebracht? Österreichs Verdrängung
+aus dem deutschen Bund hat die panslawistische
+Propaganda im höchsten Grade gefördert, die
+österreichische Regierung muß heute den Slawen
+eine Konzession nach der andern machen, und
+diese traten infolgedessen mit immer größeren
+Ansprüchen auf. Wo sie früher mit Anerkennung
+ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen
+wären, wollen sie heute herrschen und unterdrücken;
+in Prag, heute eine tschechische Stadt,
+fraternisierten Tschechen und französische Chauvinisten<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span>
+und toastierten auf den Kampf wider das
+Deutschtum. Die Angliederung der deutschen
+Landesteile Österreichs an Deutschland wird
+früher oder später freilich doch erfolgen, aber
+unter zehnfach ungünstigeren Verhältnissen als
+vor der glorreichen Herauswerfung Österreichs
+aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das
+Deutsche Reich ruhig zusehen, wie in jenen
+Landesteilen die Slawisierung immer weiter um
+sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung
+Deutschlands hat Rußland so stark gemacht,
+daß die deutsche Politik wieder das größte Interesse
+an der Erhaltung selbst dieses Österreichs
+hatte. Etwas ist immer noch besser als gar nichts.
+Und freilich, solange in Rußland der Zarismus
+mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht,<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span>
+so lange mag das heutige Österreich als Staat
+noch eine Berechtigung haben.]</p>
+
+<p>Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes
+als die bloße Herausdrängung Österreichs aus
+dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung, die
+Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder
+einen integrierenden Teil der einen und unteilbaren
+deutschen Republik bilden sollten. Aber um
+so weniger durfte er auch nur zum Schein ein
+Programm aufstellen, dessen unmittelbare Folge
+der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein
+Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland,
+dessen Bevölkerung 1859 ganz entschieden auf
+seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke
+Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle
+außer ihm liegenden Rücksichten zu opfern, erklärt
+dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie,
+die er noch soeben im &#8222;Franz von Sickingen&#8221; aufs
+schärfste verurteilt hatte.</p>
+
+<p>Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der
+leidenschaftliche Drang, in die aktuelle Politik
+einzugreifen. Er spricht sich immer und immer
+wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um
+jene Zeit die Beteiligung an irgendeiner Sache mit
+dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen Arbeiten,
+die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht
+es mit dem Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit
+bietet, unmittelbar auf die revolutionäre
+Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch
+die Wissenschaft liegen. So hatte er auch am
+21. März 1859 an Fr. Engels geschrieben:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p>
+
+<p>&#8222;Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen
+und geschichtsphilosophischen Fache &mdash; ich meine
+Geschichte im Sinne von sozialer Kulturentwicklung
+&mdash; von nun an wohl verbleiben, wenn nicht,
+was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche
+Beginn praktischer Bewegungen alle größere
+theoretische Tätigkeit sistiert.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was
+ich etwa weiß, wenn es dafür gelingt, einiges von
+dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.&#8221;</p>
+
+<p>Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben,
+sollte Lassalle ins monarchistisch-kleindeutsche
+Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine Diplomatie
+war falsch, aber seine Absicht war die alte
+geblieben: die Revolution für die eine und unteilbare
+deutsche Republik. Sie ist gemeint, wenn
+er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt:
+Flectere si nequeo superos acheronta movebo
+&mdash; wenn ich die Götter &mdash; die Regierung &mdash;
+nicht beeinflussen kann, werde ich den &#8222;Acheron&#8221;
+&mdash; das Volk &mdash; in Bewegung setzen.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Die nächste Publikation, die Lassalle dem &#8222;Italienischen
+Krieg usw.&#8221; folgen ließ, war ein Beitrag
+für eine Zeitschrift in Buchform, die der
+demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode
+unter dem Titel &#8222;Demokratische Studien&#8221; im
+Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der später
+als Broschüre herausgegebene Aufsatz: &#8222;Fichtes<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span>
+politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart.&#8221;
+Man könnte ihn als ein Nachwort zu &#8222;Der
+italienische Krieg usw.&#8221; bezeichnen, in welchem
+Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen
+für gut befunden. Das &#8222;politische Vermächtnis&#8221;
+Fichtes ist, wie Lassalle unter Vorführung
+eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs
+zu einer politischen Abhandlung darlegt, der
+Gedanke der Einheit Deutschlands als unitarische
+Republik. Anders sei die Verwirklichung der Einheit
+Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei
+einer Eroberung Deutschlands durch irgendeinen
+der bestehenden deutschen Staaten würde &#8222;nicht
+Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen
+Stämme durch die gewaltsame Aufdrängung des
+spezifischen Hausgeistes unter die Besonderheit
+desselben gebracht, preußifiziert, verbayert, verösterreichert!&#8221;
+... &#8222;Und indem so auch noch diejenige
+Ausgleichung fortfiele, welche jetzt noch
+in dem Dasein der verschiedenen Besonderheiten
+liegt,&#8221; schreibt er, &#8222;würde gerade dadurch das
+deutsche Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel
+aufgehoben.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen
+Hausgeiste, sondern mit freiem Aufgehen
+desselben in den nationalen Geist und seine
+Zwecke, wäre freilich ein ganz anderes! Aber
+die Idealität dieser Entschließung ist es geradezu
+töricht von Männern zu verlangen&#8221; &mdash; es ist von
+den deutschen Fürsten, speziell vom König von
+Preußen, die Rede &mdash; &#8222;deren geistige Persönlichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span>
+doch wie die aller anderen ein bestimmtes
+Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition,
+Neigung und Geschichte ist und die dies daher
+ebensowenig leisten können, als es einer von uns
+anderen leisten würde, wenn seine Bildung und
+Erziehung ausschließlich durch dieselben Faktoren
+bestimmt worden wäre.&#8221;</p>
+
+<p>Dies sind die letzten eigenen Ausführungen
+Lassalles in dem Aufsatze. Es folgen dann nur
+noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die
+Einheit Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage
+der &#8222;ausgebildeten persönlichen Freiheit&#8221;,
+und daß gerade deshalb die Deutschen &#8222;im ewigen
+Weltenplane&#8221; berufen seien, ein &#8222;wahrhaftes
+Reich des Rechts&#8221; darzustellen, ein Reich der
+&#8222;Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen,
+was Menschenantlitz trägt&#8221;. Und &#8222;ferne sei es
+von uns, die unerreichbare Gewalt dieser Worte
+durch irgendwelche Hinzufügungen abschwächen
+zu wollen,&#8221; schließt Lassalle. Dann, zum Verleger
+gewendet: &#8222;Habe ich nun, geehrter Herr,
+auch Ihrem Wunsche&#8221; &mdash; einen Artikel über eine
+&#8222;brennende Tagesfrage&#8221; zu schreiben &mdash; &#8222;nicht
+buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich,
+Ihr Zweck erfüllt &mdash; wie der meinige.&#8221;</p>
+
+<p>Welches aber war Lassalles Zweck bei der
+Veröffentlichung des Aufsatzes, der das Datum:
+Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief
+an Marx uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860
+legt Lassalle diesem dar, warum er, obwohl
+seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span>
+Werkes in Anspruch genommen sei, Walesrodes
+Einladung angenommen habe. Erstens habe er
+in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden,
+der mutvoll und tapfer, wie auch seine verdienstliche
+Broschüre &#8222;Politische Totenschau&#8221; zeige,
+wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. Dann
+aber heißt es weiter:</p>
+
+<p>&#8222;Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht
+einigen entwickelnden Einfluß auf unsere
+deutschen Philister ausüben, und schlug ich aus,
+so kam der Auftrag jedenfalls an einen weit
+weniger entschiedenen, ja ganz unbedingt an einen
+mit monarchischem oder ähnlichem Demokratismus
+oder klein-deutschen Ideen Liebäugelnden,
+während mir der Auftrag die Möglichkeit bot,
+wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf
+ertönen zu lassen und so im Namen unserer
+Partei von einem Buche Besitz zu ergreifen,
+welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen
+Inhalt, obgleich ich weder über diesen noch
+seine Mitarbeiter Näheres weiß, schwerlich zur
+Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses
+unserer Partei beigetragen hätte.</p>
+
+<p>&#8222;So schreiben-wollend und nicht wollend entstand
+ein Artikel, von dem ich mir, speziell um
+ihn Dir zu überschicken, einen besonderen Abzug
+kommen ließ. (Das Buch erscheint erst zur
+Oktobermesse.) Ich schicke ihn gleichzeitig mit
+diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann
+an Engels zu senden und endlich mir zu schreiben,
+ob er Dir gefallen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p>
+
+<p>&#8222;Ich glaube, daß er mitten in diesem widrigen
+gothaischen Gesumme doch immerhin den erfrischenden
+Eindruck macht, daß hinter den Bergen
+auch noch Leute, daß eine republikanische Partei
+noch lebt, den Eindruck eines Trompetenstoßes.&#8221;</p>
+
+<p>Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle
+damals arbeitete, war das &#8222;System der erworbenen
+Rechte&#8221;. Drollig und doch wieder für jeden,
+der sich mit größeren Arbeiten beschäftigt, ungemein
+verständlich klingt die Klage Lassalles,
+die Arbeit ziehe sich so lange hin, daß er &#8222;bereits
+einen intensiven Haß gegen sie bekommen habe&#8221;.
+Aber das &#8222;verm&mdash; Werk&#8221;, wie er es an einer
+anderen Stelle in demselben Briefe nennt, sollte
+auch in den drei Monaten, die er sich nun als
+Termin stellt, noch nicht fertig werden.</p>
+
+<p>Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfällen
+jener chronischen Krankheit, von der er
+bereits in der Düsseldorfer Assisenrede spricht,
+und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte.
+&#8222;Ich war und bin noch recht krank&#8221;, fängt ein
+Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein
+muß, &#8222;ich war von neuem krank und schlimmer
+als früher&#8221;, beginnt der obenzitierte Brief. &#8222;Habe
+ich mich in der letzten Zeit überarbeitet oder rächt
+sich nun zu lange Vernachlässigung&#8221;, heißt es
+weiter, &#8222;kurz, es scheint als ob meine Gesundheit
+aufgehört habe, der unverwüstliche Fels zu sein,
+auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.&#8221;
+Um sich gründlich zu heilen, ging Lassalle im
+Sommer desselben Jahres nach Aachen. Dort<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span>
+machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin,
+Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls
+einer Kur bedürftig war, nach Aachen begleitet
+hatte, und diese Dame nahm Lassalle so
+für sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen
+Heiratsantrag machte, den aber Fräulein von
+Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.</p>
+
+<p>Es sind über diese Episode aus dem bewegten
+Leben Lassalles fast nur die Aufzeichnungen bekannt
+geworden, die das damalige Fräulein von
+Sontzew, später die Gattin eines Gutsbesitzers in
+Südrußland, im Jahre 1877 in der Petersburger
+Revue &#8222;Der Europäische Bote&#8221; veröffentlicht hat,
+und von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein
+Jahr darauf im Verlage von F.&nbsp;A.&nbsp;Brockhaus in
+Leipzig erschien<a name="FNAnker_8_8" id="FNAnker_8_8"></a><a href="#Fussnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a>. Die eigentliche Liebesaffäre
+ist nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein
+korrekt zu. Sophie von Sontzew schreibt,
+daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf
+sie gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt
+habe, ihn lieben zu können, es seien aber stets
+sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie
+sich schließlich darüber klar geworden sei, daß
+eine Liebe, die zweifelt, keine Liebe sei &mdash; vor
+allem keine Liebe, wie Lassalle sie unter Hinweis
+auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft
+ihm bringen werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span>
+gerade auf diese Kämpfe die junge Dame
+mehr schreckte, als sie zugesteht &mdash; Tagebuchgeständnisse
+und Memoiren sagen bekanntlich nie
+die volle Wahrheit. Auf der andern Seite scheint
+uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein
+von Sontzew beinahe als ein Verbrechen anrechnet,
+von Lassalle geliebt worden zu sein, ohne
+seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental.
+Die Dame hatte ein unbestrittenes Recht, ihr
+Herz nicht zu verschenken, auch wußte Lassalle
+sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über
+den Mißerfolg bald zu trösten.</p>
+
+<p>Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre
+sind die aus Anlaß dieser geschriebenen
+Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor
+allem der schon früher erwähnte, als &#8222;Seelenbeichte&#8221;
+bezeichnete, mehr als 35 Druckseiten
+ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines der
+interessantesten Dokumente für die Charakteristik
+Lassalles. Sehen wir in dessen erstem Tagebuch
+den zum Jüngling heranreifenden Knaben, so
+sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling
+sein Ich bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem
+Falle das oben von solchen Bekenntnissen
+Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge
+Lassalles ist seine &mdash; man könnte fast
+sagen, unbewußte Wahrhaftigkeit. Lassalle war,
+wie schon seine beständige Neigung, ins Pathetische
+zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte
+Natur. Er schauspielerte gern ein wenig
+und war viel zu sehr Gesellschaftsmensch, um<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span>
+darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die
+Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete,
+seine Gedanken zu verbergen. Aber es
+war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch
+anders zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen
+und Leidenschaften waren viel zu stark,
+als daß sie sich nicht überall verraten hätten, seine
+Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch
+jedes Gewand, in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken.
+So schaut auch aus dem Bilde,
+das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich
+entwirft, obwohl es eine Schilderung gibt, wie er
+dem jungen Mädchen erscheinen wollte, der richtige
+Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und
+seinen Fehlern.</p>
+
+<p>Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges
+Selbstvertrauen und seine Einbildungskraft
+zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt,
+wie er in diesem Manuskript sich im Glanze seines
+zukünftigen Ruhmes sonnt, sich als der Führer
+einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch
+gar nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie
+ihn fürchten und hassen läßt, wo zur Furcht
+und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso
+übertreibt er seine schon erzielten Triumphe.
+&#8222;Nichts, Sophie,&#8221; schreibt er über den Erfolg
+der Kassettenrede, &#8222;kann Ihnen auch nur annähernd
+eine Vorstellung von dem elektrischen
+Eindruck geben, den ich hervorbrachte. Die ganze
+Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz
+schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span>
+... alle Klassen, die ganze Bourgeoisie
+war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag verschafft
+mir in der Rheinprovinz den Ruf eines
+Redners ohnegleichen und eines Mannes von unbegrenzter
+Energie, und die Zeitungen trugen
+diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit
+diesem Tage erkannte mich die demokratische
+Partei in der Rheinprovinz als ihren Hauptführer
+an.&#8221; Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß,
+daß er aus diesem &#8222;mit nicht weniger Glanz&#8221;
+hervorging. &#8222;Ich werde Ihnen meine Rede aus
+diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt
+ist; sie wird Sie amüsieren.&#8221; Daß er die
+Rede gar nicht gehalten hat, schreibt er nicht.</p>
+
+<p>Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen
+oder kindischen Eitelkeit fehlen aber auch nicht
+solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen,
+statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und
+durch den ganzen Brief hindurch klingt der Ton
+einer echten Überzeugung. Selbst wenn Lassalle
+von dem &#8222;Glanz&#8221; spricht, mit dem der Eintritt
+&#8222;gewisser Ereignisse&#8221; &mdash; der erwarteten Revolution
+&mdash; das Leben seiner zukünftigen Frau ausstatten
+würde, setzt er sofort hinzu: &#8222;Aber, nicht
+wahr, Sophie, mit so großen Dingen, die das
+Ziel der Anstrengungen des ganzen Menschengeschlechts
+bilden, darf man nicht eine bloße
+Spekulation auf individuelles Glück machen?&#8221; &mdash;
+und bemerkt weiter: &#8222;Deshalb darf man in keiner
+Weise darauf rechnen.&#8221;</p>
+
+<p>Noch in einer anderen Hinsicht ist die &#8222;Seelenbeichte&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span>
+Lassalles von Interesse. Er spricht sich
+darin sehr ausführlich über sein Verhältnis zur
+Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches
+in bezug auf seine früheren Beziehungen zu dieser
+Frau idealisiert sein, so ist doch soviel sicher, daß
+Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um
+das er gerade warb und das als Gattin heimzuführen
+er so große Anstrengungen machte, seine
+derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit
+sie über die der Achtung und Dankbarkeit hinausgingen,
+stärker zu schildern, als sie wirklich waren.
+Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief
+in Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit
+für die Gräfin. Er liebe sie &#8222;mit der
+zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert
+hat&#8221;, noch &#8222;dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte
+Mutter&#8221;. Er verlangt von Sophie, daß sie,
+wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin &#8222;mit
+der wahren Zärtlichkeit einer Tochter&#8221; liebe, und
+hofft, obwohl die Gräfin &#8222;außerordentlich zartfühlend&#8221;
+sei und, ehe sie nicht wisse, ob Sophie
+Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar
+werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen
+zu können, &mdash; um &#8222;alle drei glücklich und vereint
+zu leben&#8221;<a name="FNAnker_9_9" id="FNAnker_9_9"></a><a href="#Fussnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a>.</p>
+
+<p>Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die
+Sache so hinstellen, als habe sich die Gräfin Hatzfeldt<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span>
+damals in Berlin und später Lassalle einer
+Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos
+übertrieben haben. Die Hatzfeldt hatte ihre großen
+Fehler und ihre Freundschaft ist Lassalle unseres
+Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst
+verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser
+Ansicht sind, halten wir es für unsere Pflicht, da,
+wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem entgegenzutreten.
+Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen
+Schriftstellern dem bekannten Beckerschen
+Pamphlet nachgeschriebene Behauptung,
+Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre
+gestürzt, um die Hatzfeldt loszuwerden.</p>
+
+<p>Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den
+Eindruck, den die Gräfin Hatzfeldt persönlich auf
+sie gemacht habe, nur günstig aus.</p>
+
+<p>Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus
+der Zeit seines damaligen Aufenthalts in Aachen.
+Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit
+der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen
+in einem der Briefe über die Verhältnisse am
+russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle
+schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich
+viel des Interessanten, und eine Stelle in
+einem davon ist ganz besonders bemerkenswert,
+weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit,
+wo er in Berlin noch mit den Führern der liberalen<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span>
+Opposition auf bestem Fuße stand, über die damalige
+liberale Presse und über den von den
+Liberalen in den Himmel gehobenen preußischen
+Richterstand dachte. Da sie ebenso kurz wie
+drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.</p>
+
+<p>Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung,
+Zabel, der ihn, unter Benutzung des
+gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der infamierendsten
+Handlungen verdächtigt hatte, wegen
+Verleumdung zur Rechenschaft ziehen wollen, war
+aber in drei Instanzen, noch ehe es zum Prozeß
+kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter
+am Stadtgericht, am Kammergericht und am Obertribunal
+in Berlin fanden nämlich, daß wenn Zabel
+alle diese Verleumdungen Vogts über Marx
+wiederholt und sie dabei noch übertrumpft hatte,
+er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben
+konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren
+nun hatte Marx selbst in Preußen für
+unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an
+Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang
+an vom Prozeß abgeraten hatte, weil doch
+auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:</p>
+
+<p>&#8222;Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von
+den Richtern abhängt bei uns, ob es ein Individuum
+überhaupt nur bis zum Prozeß bringen
+kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal
+Unrecht getan, als ich in einem meiner Briefe
+sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage
+ganz reuig an meine Brust und nehme das gänzlich<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span>
+zurück. Die preußische Justiz wenigstens
+scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte
+betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz
+andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht,
+noch ganz anders starke Beweise für diesen Satz,
+und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an
+ihnen erlebt, und zwar zu dreimal drei Dutzenden
+und in Straf- wie besonders sogar in reinen Zivilprozessen
+... Uff! Ich muß die Erinnerung daran
+gewaltsam unterdrücken. Denn wenn ich an diesen
+zehnjährigen täglichen Justizmord denke, den ich
+erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor
+den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom
+ersticken wollte! Nun, ich habe das alles
+lange bewältigt und niedergelebt, es ist Zeit genug
+seitdem verflossen, um kalt darüber zu werden,
+aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln
+tieferer Verachtung, als wenn ich von Richtern
+und Recht bei uns sprechen höre. Galeerensträflinge
+scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis
+zu unsern Richtern zu sein.</p>
+
+<p>&#8222;Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst
+Du. &#8218;Jedenfalls,&#8217; sagst Du, &#8218;liefern mir die
+Preußen so ein Material in die Hand, dessen angenehme
+Folgen in der Londoner Presse sie bald
+merken sollen!&#8217; Nein, lieber Freund, sie werden
+gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, daß
+Du sie in der Londoner Presse darstellen und
+vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts
+davon, gar nichts, es wird sein, als wenn Du gar
+nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span>
+liest man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren
+deutschen Zeitungen wird auch keine einzige davon
+Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein armseliges
+Wörtchen davon bringen. Sie werden sich
+hüten! Und unsere liberalen Blätter am allermeisten!
+Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein
+Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den
+&#8218;preußischen Richterstand&#8217; bringen, bei dessen
+bloßer Erwähnung sie vor Entzücken schnalzen &mdash;
+sie sprechen schon das Wort nie anders als mit
+zwei vollen Pausbacken aus &mdash; und vor Respekt
+mit dem Kopf auf die Erde schlagen! O, gar
+nichts werden sie davon bringen, es von der Donau
+bis zum Rhein und soweit sonst nur immer &#8218;die
+deutsche Zunge reicht&#8217;, ruhig totschweigen! Was
+ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? O,
+unsere Polizei ist, man sage was man will, noch
+immer ein viel liberaleres Institut als unsere Presse!
+Es ist &mdash; hilf Himmel! ich weiß wirklich keinen
+anderen Ausdruck für sie &mdash; es ist die reine ......&#8221;</p>
+
+<p>Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu
+burschikos, um es im Druck wiederzugeben, der
+Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen.</p>
+
+<p>Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im
+zweiten Band der Demokratischen Studien einen
+kleinen Aufsatz über Lessing, den er bereits
+1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches:
+&#8222;Lessings Leben und Werke&#8221; geschrieben, und
+ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches
+Werk &#8222;Das System der erworbenen Rechte&#8221; erscheinen.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span></p>
+
+<p>Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig
+unbedeutend. Er ist noch vorwiegend in althegelianischer
+Sprache gehalten und lehnt sich
+sachlich sehr stark an die Ausführungen an, die
+Heine in &#8222;Über Deutschland&#8221; mit Bezug auf
+Lessings Bedeutung für die Literatur und das
+öffentliche Leben in Deutschland abgibt. Wie
+Heine feiert auch Lassalle Lessing als den zweiten
+Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des
+Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit
+der Situation des derzeitigen Deutschland mit
+der zur Zeit Lessings ausruft: &#8222;ähnliche Situationen
+erzeugen ähnliche Charaktere&#8221;, so mag ihm
+da wohl Heines Ausspruch vorgeschwebt haben:
+&#8222;Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da
+vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing
+fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland
+so sehr bedarf &mdash; der dritte Befreier!&#8221; War es
+doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte
+Befreier zu werden. Wie im Hutten des &#8222;Franz
+von Sickingen&#8221;, so spiegelt sich auch im Lessing
+dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt
+wider. Es fehlt selbst die Apotheose des Schwertes
+nicht. &#8222;Allein wenn wir den Begriff Lessings
+durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte
+durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?&#8221;
+fragt Lassalle, und um denjenigen, die nach
+Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten
+Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die
+letzten Zweifel zu lösen, zitiert er aus den Lessingschen
+Fragmenten zum &#8222;Spartakus&#8221; eine Stelle,<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span>
+wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls:
+&#8222;Ich höre, du philosophierst, Spartakus&#8221;,
+zurückgibt:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Wo du nicht willst, daß ich philosophieren
+soll &mdash; Philosophieren, es macht mich lachen! &mdash;
+Nun wohlan! Wir wollen fechten!&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Zwei Dezennien darauf sei in der französischen
+Revolution diese Prophezeiung Lessings eingetroffen.
+Und dieser Ausgang werde nach Stahr &#8222;wohl
+auch das Ende vom Liede sein in dem Handel
+zwischen dem Spartakus und dem Konsul der Zukunft&#8221;.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+<h2><a name="Das_System_der_erworbenen_Rechte" id="Das_System_der_erworbenen_Rechte">Das System der erworbenen Rechte.</a></h2>
+
+
+<p>Das &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;, Lassalles
+wissenschaftliches Hauptwerk, ist zwar in erster
+Linie nur für den Rechtstheoretiker geschrieben,
+doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den
+praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich
+näher als die Materie des &#8222;Heraklit&#8221;, und wir
+wollen daher versuchen, wenigstens die Hauptgedanken
+dieser Arbeit darzustellen, von der
+Lassalle mit Recht gelegentlich den Ausdruck gebrauchen
+durfte, ein &#8222;Riesenwerk menschlichen
+Fleißes&#8221;. Darüber herrscht bei Sachverständigen
+so ziemlich Einstimmigkeit, daß das &#8222;System der
+erworbenen Rechte&#8221; zugleich von der außerordentlichen
+geistigen Schaffenskraft, wie dem großen
+juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis
+ablegt. Aus allen diesen Gründen wird man es<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span>
+berechtigt finden, wenn wir uns bei diesem Buche
+etwas länger aufhalten.</p>
+
+<p>Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers
+dieser Abhandlung, ein Urteil darüber zu
+fällen, welche positive Bereicherung die Rechtswissenschaft
+dem &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;
+verdankt. Das vermag nur der Kenner der gesamten
+einschlägigen Literatur, der theoretisch
+gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf,
+die Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich
+mit seinem Buche stellt, die Art, wie er sie löst,
+und den theoretischen Standpunkt, der seiner
+Lösung zugrunde liegt.</p>
+
+<p>Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben,
+den das in zwei Teile zerfallende Gesamtwerk
+trägt. &#8222;Eine Versöhnung des positiven
+Rechts und der Rechtsphilosophie.&#8221; Lassalle
+führt in der Vorrede aus, daß trotz Hegels Versuch,
+eine Versöhnung zwischen dem positiven
+Recht und dem Naturrecht<a name="FNAnker_10_10" id="FNAnker_10_10"></a><a href="#Fussnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> herzustellen, die
+Entfremdung zwischen positiven Juristen und
+Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst
+vor Hegel gewesen. Die Schuld daran trügen aber
+weniger die ersteren als die letzteren; statt in<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span>
+den Reichtum des positiven Rechtsmaterials einzudringen,
+hätten sie sich begnügt, &#8222;im Himmel
+ihrer allgemeinen Redensarten der groben Erde
+des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich zu
+bleiben&#8221;. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen
+Richtung herrsche ein wahrer &#8222;horror pleni&#8221;,
+ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran indes
+Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich
+hervorgehoben habe, daß die Philosophie nichts
+so sehr erfordere, als die Vertiefung in die Erfahrungswissenschaften.
+Hegels &#8222;Rechtsphilosophie&#8221;
+konnte, führt Lassalle aus, nach den gesamten
+Grundbedingungen, unter denen dieselbe
+erschien, &#8222;als der erste Versuch, das Recht als
+einen vernünftigen, sich aus sich selbst entwickelnden
+Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
+Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen,
+als etwa die allgemeine logische Disposition
+eines Werkes zu dem Werke selbst&#8221;. Hätten
+nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt,
+bei den &#8222;dünnen, allgemeinen Grundlinien&#8221; derselben
+&mdash; &#8222;Eigentum, Familie, Vertrag usw.&#8221; &mdash;
+stehenzubleiben, &#8222;wären sie dazu übergegangen,
+eine Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne
+einer philosophischen Entwicklung der konkreten
+einzelnen Rechtsinstitute desselben zu schreiben,
+so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser
+einzelnen positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt
+haben, daß mit den abstrakt-allgemeinen
+Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag,
+Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span>
+römische Eigentumsbegriff ein anderer ist, als
+der germanische Eigentumsbegriff, der römische
+Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische
+Erbtumsbegriff, der römische Familienbegriff ein
+anderer als der germanische Familienbegriff usw.,
+d.&nbsp;h. daß die Rechtsphilosophie, als in das Reich
+des historischen Geistes gehörend, es nicht mit
+logisch-ewigen Kategorien zu tun hat, sondern daß
+die Rechtsinstitute nur Realisationen historischer
+Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des geistigen
+Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister
+und Zeitperioden, und daher nur als solche zu
+begreifen sind.&#8221; Eingehend und erschöpfend sei
+dies durch den ganzen zweiten Teil des vorliegenden
+Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen
+und an dem Beispiel desselben der Beweis geliefert,
+daß &#8222;jene Hegelsche Disposition selbst,
+wie der gesamte Bau und die Architektonik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben
+werden muß und nichts von der Hegelschen
+Philosophie bewahrt werden kann, als ihre
+Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre
+Rechtsphilosophie zu erzeugen ...&#8221; Das gelte
+aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen
+Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und
+wenn die Zeit theoretischer Muße für die Deutschen
+niemals aufhören sollte, &mdash; &#8222;man kann sie
+heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum
+felicitas (ein seltenes Glück) nennen&#8221;, fügt Lassalle
+mit berechtigter Bitterkeit hinzu &mdash; so werde
+er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies in einem<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span>
+neuen System der Philosophie nachweisen. Indes
+werde die von ihm verlangte totale Reformation
+der Hegelschen Philosophie doch im Grunde nur
+&#8222;dieselbe von Hegel getragene Fahne&#8221; darstellen,
+die &#8222;nur auf einem anderen Wege zum Siege geführt
+werden soll. Es sind immer die Grundprinzipien
+und die Methode der Hegelschen Philosophie,
+die nur gegen Hegel selbst Recht behalten&#8221;.
+Hegel habe, wegen unzureichender Bekanntschaft
+mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht
+häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner
+anderen Disziplin. &#8222;Wenn er die römischen Juristen
+als die Tätigkeit des abstrakten Verstandes auffaßte,
+so werden wir auf das Positivste im ganzen
+Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis
+bringen, wie dies nur von unseren Juristen, von
+den römischen aber das strikte Gegenteil gilt.
+Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr
+schlechterdings nur die des spekulativen Begriffs
+ist, nur eine sich selbst nicht durchsichtige und
+bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit
+des religiösen und künstlerischen Geistes der Fall
+ist ... Allein hiermit wird dann immer nur erwiesen
+sein, daß die Hegelsche Philosophie noch
+weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte,
+und daß der spekulative Begriff noch weitere
+Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
+Hegel selbst erkannt hatte.&#8221; (Vorwort zum System
+der erworbenen Rechte.)</p>
+
+<p>Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor,
+wie weit Lassalle in dem Werke selbst noch auf<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span>
+Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits
+viel unabhängiger gegenüber als im &#8222;Heraklit&#8221;,
+aber er hält doch nicht nur an der Methode, sondern
+auch noch an den Grundprinzipien der Hegelschen
+Philosophie fest, d.&nbsp;h. nicht nur an der dialektischen
+Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes,
+der dialektischen Form der Untersuchung,
+sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus,
+der Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen
+auf die Entwicklung und Bewegung
+der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der
+materiellen Grundlage dieser Bewegung. Wie
+Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem Wege
+stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich
+bei den Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige,
+sondern um historische Kategorien handelt, aber er
+behandelt diese Kategorien nur als die &#8222;Realisationen
+historischer Geistesbegriffe&#8221;, läßt dagegen
+die Frage nach den Umständen, unter denen diese
+Geistesbegriffe sich entwickelten, nach den materiellen
+Verhältnissen, deren Ausdruck sie sind,
+ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar
+um und will &#8222;im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen
+suchen, wie das angeblich rein Positive
+und Historische nur notwendiger Ausfluß des
+jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist&#8221;.
+So muß er naturgemäß, auch bei dem größten
+Aufwand von Scharfsinn, zu falschen Folgerungen
+gelangen.</p>
+
+<p>Als das &#8222;großartigste Beispiel&#8221;, an welchem
+diese ursächliche Abhängigkeit des &#8222;angeblich rein<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span>
+Positiven und Historischen&#8221; von den historischen
+Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei,
+bezeichnet Lassalle die gesamte Darstellung des
+Erbrechts im zweiten Bande des Werkes, der
+den Titel trägt: &#8222;Das Wesen des römischen und
+germanischen Erbrechts in historisch-philosophischer
+Entwickelung.&#8221; Die Stärke dieser Arbeit
+beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten
+Durchführung des leitenden Gedankens und der
+oft wahrhaft glänzenden Darstellung. Durch alle
+hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht
+Lassalle den Gedanken zu verfolgen, dem römischen
+Erbrecht liege der Gedanke der Fortdauer
+des subjektiven Willens des Erblassers im Erben
+zugrunde, während im altgermanischen Erbrecht,
+dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne Testament),
+die Idee der Familie den leitenden Gedanken
+bilde, es gerade das sei, was vom römischen
+Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: &#8222;wahres
+Familienrecht&#8221;. Das ist soweit im allgemeinen
+richtig. Aber nun beginnt die Schwäche der
+Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf
+sie ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt
+diese zwar wieder und immer wieder, läßt
+keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter
+liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt
+es, daß das römische Erbrecht die Fortpflanzung
+des subjektiven Willens ausdrückt? Von der
+römischen Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus
+der Laren und Manen. Woher kommt es, daß
+das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span>
+der &#8222;Idee der germanischen Familie&#8221;. Welches
+ist die römische Unsterblichkeitsidee? Die Fortdauer
+des subjektiven Willens. Welches ist die
+Idee der germanischen Familie? Die &#8222;sittliche
+Identität der Personen, die zu ihrer substantiellen
+Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes
+oder die Liebe hat.&#8221; Damit sind wir so klug
+wie vorher, wir drehen uns im Kreise der Ideen
+und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung,
+warum diese Idee hier, jener Begriff dort die
+ihm zugewiesene Rolle spielen konnten. Auch
+mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die
+Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der
+Römer und Germanen aus deren wirklichen
+Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die
+letzte Quelle des Rechts erscheint überall der
+&#8222;Volksgeist&#8221;. Dabei verfällt denn Lassalle in
+denselben Fehler, den er an einer andern Stelle
+mit Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum
+Vorwurf macht, er unterscheidet zwar zwischen
+römischem und germanischem Volksgeist, aber er
+ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße
+des römischen Volkes und konstruiert einen, ein
+für allemal &mdash; das ganze Jahrtausend von der
+Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung
+des römischen Weltreichs &mdash; maßgebenden
+&#8222;römischen Volksgeist&#8221;, der sich zum &mdash;
+ebenso konstruierten &mdash; &#8222;germanischen Volksgeiste&#8221;
+etwa verhalte, wie &#8222;Wille zu Liebe&#8221;.</p>
+
+<p>Allerdings darf nicht übersehen werden, daß
+zur Zeit, wo Lassalle sein &#8222;System der erworbenen<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span>
+Rechte&#8221; schrieb, die eigentliche Geschichtsforschung
+in bezug auf die Entstehung und Entwicklung
+der römischen Gesellschaft und der
+germanischen Vorzeit noch sehr im argen lag,
+selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie
+in wichtigen Punkten im Dunkeln tappten. Es
+trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß er die
+Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er
+sie nicht einmal richtig stellte.</p>
+
+<p>Erst durch die Fortschritte der vergleichenden
+Ethnologie und namentlich durch Morgans epochemachende
+Untersuchungen über die Gens (Sippe)
+ist genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche
+Entwicklung der verschiedenen Völker geschaffen
+worden, um erkennen zu lassen, warum
+die Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die
+Geschichte eintraten, als die germanischen Stämme
+zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit
+eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe
+zur Oberstufe der Barbarei durchzumachen; der
+Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von
+der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht
+ganz vollzogen, sie lebten noch in Gentilverbänden
+&mdash; auf Blutsverwandtschaft beruhenden Genossenschaften
+&mdash; und noch herrschte der Kommunismus
+der Sippe vor: ein auf dem subjektiven Willen
+beruhendes Erbrecht war daher einfach ein Ding
+der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft,
+so wenig hat die &#8222;Liebe&#8221; &mdash; eine viel
+modernere Erfindung &mdash; etwas mit dem altgermanischen
+Erbrecht zu tun. Bei den Römern<span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span>
+war dagegen schon vor Abschaffung des sogenannten
+Königtums die alte, auf persönlichen Blutbanden
+beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt
+und eine neue, auf Gebietseinteilung und Vermögensunterschied
+begründete, wirkliche Staatsverfassung
+an ihre Stelle gesetzt worden<a name="FNAnker_11_11" id="FNAnker_11_11"></a><a href="#Fussnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a>. Privateigentum
+an Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen
+Verbände als wirtschaftliche
+Einheit sind der Boden, auf dem das römische
+Testament erwächst, nicht als Produkt eines
+von vornherein gegebenen besonderen römischen
+&#8222;Volksgeists&#8221;, sondern als ein Produkt derselben
+Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist
+schuf, der das Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung<a name="FNAnker_12_12" id="FNAnker_12_12"></a><a href="#Fussnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a>
+erfüllte. Wenn die Römer
+dem Testament eine gewisse feierliche Weihe
+gaben, so berechtigt das keineswegs dazu, das
+Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem die
+symbolische Handlung &mdash; die Willensübertragung
+&mdash; die Hauptsache, der substantielle Inhalt derselben
+&mdash; die Vermögensübertragung &mdash; reine
+Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen
+Kulturstufe, und noch weit in die Zivilisation
+hinein, kleiden die Völker überhaupt alle wichtigen
+ökonomischen Handlungen in religiöse Akte;
+es sei nur an die Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen,
+an die Einweihung der Grenzmarken<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span>
+usw. erinnert. Was würde man von einem Historiker
+sagen, der den römischen Kultus des Gottes
+Terminus als den Ausfluß der besonderen Natur
+des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck
+einer speziell römischen &#8222;Idee&#8221; hinstellen wollte,
+bei der die eingegrenzten Äcker Nebensache,
+der Begriff der &#8222;Endlichkeit&#8221; die Hauptsache
+gewesen sei? Was von einem Rechtshistoriker,
+der das Aufkommen des Privateigentums an Grund
+und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes
+Terminus zurückführen wollte? Und genau dies
+ist es, wenn Lassalle den Kultus der Manen und
+Laren als die Ursache des Aufkommens der
+Testamente bei den Römern bezeichnet, in der
+römischen Mythologie den letzten Grund dieser
+Rechtsschöpfung erblickt.<a name="FNAnker_13_13" id="FNAnker_13_13"></a><a href="#Fussnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a></p>
+
+<p>Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso
+unhistorischen wie unlogischen Behauptung, daß,
+wenn das römische Zwölftafelgesetz für den
+Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die
+Hinterlassenschaft dem nächsten Agnaten (Verwandte
+männlicher Linie) und, falls kein Agnat
+vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis
+sei, daß das Testament auch der geschichtlichen
+Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das Intestaterbe
+aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden
+sei. Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz,<span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span>
+obwohl es die Reihenfolge umkehrt, den wirklichen
+Gang der historischen Entwicklung an. Es
+konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz
+der Testierfreiheit, daß derjenige erben
+soll, dem der Erblasser testamentarisch die Hinterlassenschaft
+zugeschrieben hat. Ist aber kein
+Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder
+in Kraft, die urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst
+erbt der nächste Agnat und dann die Gens, der
+ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich
+erste Institut erscheint auf den zwölf Tafeln als
+letztes, weil es als das älteste das umfassendste
+ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz
+bildet. Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion
+ist, geht schon daraus hervor, daß er
+sich, um seine Theorie von dem, auf den &#8222;Begriff
+des Willens&#8221; aufgebauten römischen Erbrecht
+aufrechtzuerhalten, einmal gezwungen sieht, zu
+behaupten, daß &#8222;den Agnaten nicht die Idee
+der Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen
+Auffassung zugrunde liegt&#8221; und die
+Agnaten als &#8222;die durch das Band der Gewalt
+vermittelte Personengemeinschaft&#8221; bezeichnet.
+Als gläubige Althegelianer haben die alten Römer
+&#8222;mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz&#8221;
+den &#8222;tiefen Satz der spekulativen Logik&#8221; verwirklicht,
+daß der nicht ausgedrückte Wille des
+Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt
+hat &#8222;den allgemeinen Willen des Volkes oder
+den Staat, in dessen Organisation derselbe verwirklicht
+ist&#8221;. Das Testament, die Testierfreiheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span>
+ist danach älter als der römische Staat, aber das
+Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat
+hat eines schönen Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft
+als Subsidiärerben eingesetzt, und
+zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität,
+sondern in ihrer Eigenschaft als Organe der
+Staatsordnung, als Organe der Willensidentität.</p>
+
+<p>Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade
+umgekehrt zugetragen haben, daß es nicht der
+Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet
+hat, die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr
+vielmehr eines der Rechte, eines der Ämter, die
+sie innegehabt, nach dem andern abgenommen,
+ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat,
+daß erst mit der Lockerung des Gentilverbandes,
+mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich
+wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.</p>
+
+<p>Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte
+er, wie alle Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit
+ihm und vor ihm über das Wesen des ursprünglichen
+römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise
+zu falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt
+der Wahrheit näherzukommen, als seine Vorgänger,
+steht er ihr vielmehr viel ferner als diese.
+Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff
+zu konstruieren, schneidet er sich jede Möglichkeit
+ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu erkennen.
+Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans
+&mdash; beiläufig ebenfalls Hegelianer &mdash; hatte römisches
+Intestaterbe und Testamentserbe als miteinander<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span>
+kämpfende Gedanken hingestellt, die
+keinerlei Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts
+haben und sie als eine historische Stammesverschiedenheit
+zwischen Patriziern und Plebejern
+zu erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung,
+so richtig ist der ihr zugrunde liegende
+Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen
+Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen
+Rechtsbegriffe auf verschiedenem historischen
+Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt
+gerade in ihm einen Rückfall in den &#8222;Fehler
+der historischen Schule&#8221;, das &#8222;aus dem Gedanken
+Abzuleitende&#8221; als ein &#8222;äußerlich und historisch
+Gegebenes vorauszusetzen&#8221;. Und auf der andern
+Seite erklärt er es als einen &#8222;Grundirrtum&#8221;, wenn
+andere Rechtsphilosophen von der Auffassung ausgehen,
+daß &#8222;das römische Intestaterbrecht seinem
+Gedanken nach wahres Familienrecht sei&#8221;. Tatsächlich
+ist es wirklich nichts anderes. Nur daß
+die hier in Betracht kommende Familie sich nicht
+mit der römischen Familie deckt, sondern den
+weiteren Geschlechtsverband umfaßt<a name="FNAnker_14_14" id="FNAnker_14_14"></a><a href="#Fussnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a>.</p>
+
+<p>Wir können auf den Gegenstand hier nicht
+weiter eingehen, man sieht aber aus dem Bisherigen<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span>
+schon, daß der so kunstvoll ausgeführte
+Bau Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente
+ruht. So geschlossen und streng folgerichtig
+daher die Beweisführung, und so geistreich auch
+die Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare
+&mdash; gerade das, was er mit dem ganzen
+Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte,
+hat er nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee
+ist nicht die Grundlage, sondern die ideologische
+Umkleidung des römischen Testaments,
+sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt.
+Dieser bleibt bestehen, auch wenn der religiöse
+Hintergrund verschwindet. Und gerade in den
+vielen Formen und Formalitäten, von denen die
+Römer die Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig
+machten, liegt unseres Erachtens ein
+weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie
+Lassalle meint, die frühere, sondern umgekehrt
+die spätere Einrichtung gewesen ist und wahrscheinlich
+&mdash; wie auch bei den Deutschen, nachdem
+diese das römische Recht bereits angenommen
+hatten, &mdash; lange Zeit die Ausnahme bildete,
+während das Intestaterbe noch die Regel war.</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span></p>
+<p>Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die
+Lassalle aus seiner Theorie zieht, daß das Testament
+nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee &mdash;
+der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem
+Tode &mdash; zu begreifen sei, daß es mit dieser &#8222;begrifflich&#8221;
+stehe und falle? Daß das moderne
+Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit
+der christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit,
+der Unsterblichkeit des nicht mehr
+auf die Außenwelt bezogenen, sondern des &#8222;in
+sich zurückgezogenen Geistes&#8221; gewichen sei,
+nichts als ein großes Mißverständnis, eine &#8222;kompakte
+theoretische Unmöglichkeit&#8221; sei? Dies führt
+uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu
+dem der zweite, trotz seiner Abgeschlossenheit,
+eben doch nur eine Art Anhang ist.</p>
+
+<p>Der erste Teil des &#8222;Systems der erworbenen
+Rechte&#8221; führt den Untertitel &#8222;Die Theorie der
+erworbenen Rechte und der Kollision der Gesetze&#8221;.
+Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen
+Grundsatz zu ermitteln, der ein für
+allemal die Grenze anzeigen soll, unter welchen
+Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende
+Kraft haben dürfen, ohne gegen die Rechtsidee
+selbst zu verstoßen. Mit anderen Worten, wann
+da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz
+oder Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das
+erstere und wann das letztere entscheiden, wann
+ein Recht wirklich als &#8222;erworbenes&#8221; zu respektieren,
+wann es ohne weiteres der Rückwirkung
+unterworfen sein soll.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p>
+
+<p>Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich
+der oben gerügte Fehler der Lassalleschen Untersuchungsmethode
+weniger geltend, während alle
+ihre Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen
+Denkens, das Verständnis &mdash; innerhalb der bezeichneten
+Grenzen &mdash; für das geschichtliche
+Moment, verbunden mit revolutionärer Kühnheit
+in der Verfolgung eines Gedankens bis in seine
+letzten Konsequenzen &mdash; zu ihrer vollen Entfaltung
+gelangen. So ist das Resultat denn auch
+ein viel befriedigenderes, als bei der Untersuchung
+über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie
+hoch oder gering man immer die Erörterung
+solcher rechtsphilosophischen Fragen veranschlagen
+mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß
+Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise
+löst, daß sowohl der Jurist wie der Revolutionär
+dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist
+gewiß eine respektable Leistung.</p>
+
+<p>Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als
+Normen auf:</p>
+
+<p>a) &#8222;Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein
+Individuum nur durch die Vermittelung seiner
+Willensaktionen trifft.&#8221;</p>
+
+<p>b) &#8222;Jedes Gesetz darf rückwirken, welches
+das Individuum ohne Dazwischenschiebung eines
+solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das Individuum
+also unmittelbar in seinen unwillkürlichen,
+allgemein menschlichen oder natürlichen oder
+von der Gesellschaft ihm übertragenen Qualitäten
+trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span>
+selbst in ihren organischen Institutionen
+ändert.&#8221;</p>
+
+<p>Ein Gesetz z.&nbsp;B., welches die privatrechtlichen
+oder staatsbürgerlichen Befugnisse der Angehörigen
+des Landes ändert, tritt sofort in Kraft, läßt
+aber die Handlungen, welche die Individuen auf
+Grund der vorher ihnen zustehenden Befugnisse
+getroffen haben, unberührt, auch wenn diese Befugnisse
+selbst durch es aufgehoben werden. Wenn
+heute ein Gesetz das zur Volljährigkeit erforderliche
+Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht,
+so verlieren alle Personen über 21 und unter
+25 Jahren sofort die an die Volljährigkeit geknüpfte
+Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen,
+denn sie besaßen sie nicht durch individuellen
+Willensakt. Aber auf die Rechtsgeschäfte,
+die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die
+ihnen bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen
+hatten, wirkt das neue Gesetz nicht zurück.
+Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch
+individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte
+Recht ist ein erworbenes Recht.</p>
+
+<p>Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung
+erworbene Recht ist nicht unter allen
+Umständen der Rückwirkung entzogen. &#8222;Das
+Individuum kann sich und andern nur insoweit
+und auf so lange Rechte sichern, insoweit und
+solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen
+Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.&#8221;
+Jedem Vertrage sei &#8222;von Anfang an die stillschweigende
+Klausel hinzuzudenken, als solle das<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span>
+in demselben für sich oder andere stipulierte Recht
+nur auf so lange Zeit Geltung haben, solange die
+Gesetzgebung ein solches Recht überhaupt als zulässig
+betrachten wird&#8221;. &#8222;Die alleinige Quelle des
+Rechts&#8221;, führt Lassalle aus, &#8222;ist das gemeinsame
+Bewußtsein des ganzen Volks, der allgemeine
+Geist&#8221;. Durch Erwerbung eines Rechts könne sich
+daher das Individuum &#8222;niemals der Einwirkung des
+allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen.
+Nur ein solches Individuum würde diese Einwirkung
+wirklich von sich abhalten können, welches,
+wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein
+Recht weder erwerben noch ausüben und haben
+wollte.&#8221; &#8222;Es läßt sich vom Individuum kein
+Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich
+mittelst desselben für selbstherrlich für alle
+Zeiten und gegen alle künftigen zwingenden und
+prohibitiven Gesetze erklären.&#8221; Nichts andres
+als &#8222;diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums&#8221;
+liege in der Forderung, daß &#8222;ein erworbenes
+Recht auch für solche Zeiten fortdauern
+soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit
+ausschließen&#8221;. Wenn also &#8222;der öffentliche Geist
+in seiner Fortentwicklung dazu gelangt ist, den
+Fortbestand eines früheren Rechts, z.&nbsp;B. Leibeigenschaft,
+Hörigkeit, Robotten, Bann- und
+Zwanggerechtigkeiten, Dienste und Abgaben bestimmter
+Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit,
+fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab
+auszuschließen&#8221;, so könne dabei &#8222;von irgendwelcher
+Kränkung erworbener Rechte ... gar<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span>
+nicht die Rede sein&#8221;. So seien denn auch die
+Dekrete der berühmten Nacht vom 4.&nbsp;August&nbsp;1789,
+durch welche die französische konstituierende
+Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft
+herfließenden Rechte aufhob, von &#8222;jeder
+Rechtsverletzung und Rückwirkung&#8221; frei gewesen.
+Es gab da &#8222;nichts zu entschädigen&#8221;. Ein Recht
+der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus,
+auch da noch anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen
+Rechts vom öffentlichen Bewußtsein
+bereits prohibiert, d.&nbsp;h. als widerrechtlich bestimmt
+ist, heiße &#8222;vermöge der Kraft der Logik gar
+nichts Geringeres, als Klassen oder Individuen
+das Recht zusprechen, dem öffentlichen Geiste
+einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen&#8221;.
+Von einer Entschädigung könne nur
+da die Rede sein, wo nicht das Rechtsverhältnis
+selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung
+aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte
+Klasse von Rechtsobjekten, sondern nur
+einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre des
+Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt
+werden. Diesen Grundsatz haben, weist
+er nach, die französischen Versammlungen nach
+1789 durchgängig mit der &#8222;wahrhaften Logik des
+Begriffs&#8221; innegehalten. Dagegen sei beispielsweise
+das preußische Gesetz vom 2.&nbsp;März&nbsp;1850
+über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen
+und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe
+von Bestimmungen nichts als eine widerrechtlich
+und wider das eigne Rechtsbewußtsein verordnete<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span>
+Vermögensverletzung der ärmsten Klassen
+zugunsten der adeligen Grundbesitzer, d.&nbsp;h.
+&#8222;logisch-konsequent&#8221; nichts als &#8222;ein Raub&#8221;<a name="FNAnker_15_15" id="FNAnker_15_15"></a><a href="#Fussnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a>.</p>
+
+<p>Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl,
+der geschrieben hatte, keine Zeit sei berufen,
+Gericht zu halten über die Vergangenheit und die
+aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem
+Urteil über die Angemessenheit, anzuerkennen oder
+zu vernichten, &mdash; erwidert Lassalle, der Vordersatz
+sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr
+falsch. Was aus dem ersteren folge, sei vielmehr,
+daß jede Zeit autonom sei, keine Zeit unter der
+Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine
+&#8222;rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst
+noch fortwirken zu lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein
+widerspricht, und von ihr also von<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span>
+jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt
+des Rechts, angeschaut würde&#8221;. Es sei aber
+durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er
+weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee,
+seinen neuen Willen, in Worten &mdash; durch
+den Mund der Volksvertretung etwa &mdash; ausgedrückt
+habe. &#8222;Denn zum Begriff des Rechts
+gehört nur, daß der Volksgeist einen geistigen
+Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre,
+d.&nbsp;h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies
+kann aber unter Umständen nicht weniger bestimmt
+und energisch als durch Worte durch tatsächliche
+Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen,
+den ein Volk vornimmt.&#8221; Diesen Grundsatz
+finde man schon bei den römischen Juristen,
+und die französische Gesetzgebung während und<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span>
+nach der französischen Revolution habe ihn von
+neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem
+Konvent recht gegeben, die Geschichtsschreibung,
+auch die reaktionäre, es ratifizieren müssen, wenn
+er die französische Revolution in ihren rechtlichen
+Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des
+Bastillesturms, datierte. Und wieder exemplifiziert
+Lassalle auf analoge Vorgänge in Preußen und
+weist nach, wie im Gegensatz zur französischen
+Jurisprudenz das preußische Obertribunal sich in
+mehreren Erkenntnissen über das durch die Märzrevolution
+von 1848 geschaffene und in der
+preußischen Verfassung (selbst der oktroyierten)
+ausdrücklich anerkannte neue Rechtsbewußtsein,
+daß &#8222;alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind
+und Standesvorrechte nicht stattfinden&#8221;, durch
+Wortkünste hinweggesetzt, Standesvorrechte wiederhergestellt,
+kurz, sich als ein wahrer &#8222;Reaktionskonvent&#8221;
+betätigt habe. Vier Jahre, nachdem
+das &#8222;System&#8221; erschienen, bewies das genannte
+Tribunal in der famosen Interpretation des
+Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den
+&#8222;liberalen Kalbsköpfen&#8221;, wie sehr es auf diesen,
+ihm von Lassalle verliehenen Titel Anspruch hatte.</p>
+
+<p>Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen
+erstens durch individuelle Willensaktion vermittelt
+und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem
+erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist.
+Das ist in kurzem die Theorie der erworbenen
+Rechte. Wenn also der französische Konvent im
+Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span>
+1794) bestimmte, daß die Vorschriften dieses
+Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. Erbschaften
+aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung
+finden sollten, die seit dem 14. Juli 1789 eröffnet
+worden, so verstieß er damit nach Lassalle durchaus
+nicht gegen den Grundsatz der erworbenen
+Rechte. Im Gegenteil durfte er mit vollem Recht
+am 22. Ventose desselben Jahres in Beantwortung
+mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das
+Gesetz &#8222;nur die seit jenem Tage &mdash; eben dem
+14. Juli 1789 &mdash; von einem großen Volke, das
+seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien
+entwickelt&#8221; habe, aber das Prinzip der
+Nichtrückwirkung nicht einmal &#8222;auch nur in Frage
+stelle&#8221;, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann
+eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d.&nbsp;h.
+das Gesetz auch auf die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten
+Erbschaften ausdehnte.</p>
+
+<p>Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage
+des Erbrechts zurückzukehren, worauf Lassalle
+mit seinen Untersuchungen über römisches und
+germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische,
+auf Testamente und Intestaterbfolge nicht der
+Familie, sondern der &#8222;Reihen, in welche die
+Willensgemeinschaft sich gliedert&#8221;, beruhende
+Erbrecht war danach in Rom &#8222;erworbenes Recht&#8221;,
+denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der
+&#8222;Substanz&#8221; des römischen Volkes, nämlich der
+Idee der Unsterblichkeit des Willenssubjekts.
+Ebenso war das altgermanische Erbrecht &mdash;
+Intestatrecht der Familie &mdash; erworbenes Recht,<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span>
+denn es entsprach einer Idee des altgermanischen
+Volksgeistes, der auf der &#8222;sittlichen Identität der
+Personen&#8221; beruhenden Familie, die &#8222;zu ihrer substantiellen
+Grundlage die sich empfindende Einheit
+des Geistes oder die Liebe hat&#8221;. Die Familie
+erbt, weil das Eigentum überhaupt nur Familieneigentum
+ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe
+aber, nachdem das Eigentum rein individuelles
+Eigentum geworden, &#8222;nicht mehr auf der Familie
+als aus eigenem Recht erbender, auch nicht
+auf der Familie als durch den präsumierten
+Willen des Toten berufen, sondern auf der Familie
+als Staatsinstitution&#8221;, auf dem &#8222;die Vermögenshinterlassenschaften
+regelnden allgemeinen
+Willen des Staates&#8221;. Und das letztere sei auch
+der Fall mit dem Testamentrecht, von dem wir
+jetzt gesehen haben, daß es heutzutage &#8222;eine
+kompakte theoretische Unmöglichkeit&#8221; sei. Weder
+Intestaterbfolge noch Testamentrecht sind heute
+Naturrechte, sondern &#8222;Regelung der Hinterlassenschaft
+von Sozietäts wegen&#8221;. Und Lassalle schließt
+sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der,
+trotzdem er das Testament nicht in seinem vollen
+Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen
+habe: &#8222;Testamenta vero mero jure nullius essent
+momenti, nisi anima esset immortalis&#8221; &mdash; &#8222;Testamente
+aber wären mit vollem Recht durchaus null
+und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.&#8221;</p>
+
+<p>Braucht es hiernach noch einer besonderen
+Erklärung, was Lassalle meint, wenn er, gegen
+Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend,<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span>
+in den Satz ausbricht: &#8222;Und es wird sich vielleicht
+bald zeigen, daß sich aus unseren objektiven
+Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere
+Folgerungen über das moderne Testamentsrecht
+von selbst ergeben?&#8221; Was auf keinem
+Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution
+ist, können der Staat oder die Sozietät auch jederzeit
+ändern, einschränken oder ganz aufheben,
+wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint.
+Wenn daher G.&nbsp;Brandes und andere nach
+ihm im ganzen System der erworbenen Rechte
+&#8222;nicht eine Zeile&#8221; gefunden haben, welche auf
+eine Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie
+in die Praxis hinweise, so kann man ihnen
+aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein,
+das ganze Werk ist es, das &mdash; wie Lassalle sich
+ausdrücken würde &mdash; nach dieser Umsetzung
+schreit.</p>
+
+<p>Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben,
+wenn er die Vorrede mit den Worten beginnt,
+daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe
+wahrhaft gelöst haben soll, es in seinem letzten
+Resultate nichts Geringeres sein könne und dürfe,
+als &#8222;die rechtswissenschaftliche Herausringung
+des unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden
+politisch-sozialen Gedankens&#8221;?</p>
+
+<p>Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst?</p>
+
+<p>Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft,
+so scheint die ihr zugrunde liegende Auffassung
+heut so ziemlich allgemein anerkannt zu
+sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span>
+abgesehen, die Darlegung, daß im allgemeinen
+&#8222;der kulturhistorische Gang aller Rechtsgeschichte&#8221;
+darin bestehe, &#8222;immer mehr die Eigentumssphäre
+des Privatindividuums zu beschränken,
+immer mehr Objekte außerhalb des Privateigentums
+zu setzen&#8221;. Lassalle legte auf die Stelle, wo
+er dies in sehr feiner Entwicklung ausführt, mit
+Recht den größten Wert. Sie ist ein ganzes geschichtsphilosophisches
+Programm, ein Meisterwerk
+begriffsscharfer Logik.</p>
+
+<p>Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung
+der Theorie, wenn sein Beispiel vom
+Wesen des römischen und germanischen Erbrechts
+maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der
+Schwäche dieses Vergleichs bereits oben gekennzeichnet
+und brauchen daher hier nur zu rekapitulieren.
+Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen
+Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer
+Zusammenhang zwischen Erbsystem und
+Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist
+dieser Zusammenhang doch nicht der von letzter
+Ursache und Wirkung. Erbsystem und Volksgeist
+stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben
+tieferliegenden Ursache oder Gruppe von
+Ursachen an. Beide sind in letzter Instanz das
+Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen
+Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen
+aus diesen heraus und ändern sich mit ihnen, d.&nbsp;h.
+das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den
+materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich
+wird. Dann entdeckt der &#8222;Volksgeist&#8221;,<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span>
+daß dieses Erbrecht seinem Rechtsbewußtsein
+nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen
+Rechtseinrichtungen. Der &#8222;Volksgeist&#8221; erscheint
+nur als die letzte Instanz, die über ihren Bestand
+entscheidet, tatsächlich ist er so etwas wie Gerichtsvollzieher,
+die wirklich bestimmende Instanz
+sind die materiellen Lebensbedingungen des
+Volkes, die Art, wie, und die Verhältnisse, unter
+denen es die Gegenstände seines Bedarfs produziert<a name="FNAnker_16_16" id="FNAnker_16_16"></a><a href="#Fussnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a>.</p>
+
+<p>Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen,
+die Irrtümer der alten Juristen und
+Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie?
+Der Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner
+Konsequenz, aber zum desto größeren Schaden
+für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende
+in der Sphäre des juristischen und philosophischen
+&#8222;Begriffs&#8221; bleibt. Aus der &#8222;begrifflichen&#8221; Ableitung
+sollen sich die Dinge erklären, die &#8222;begriffliche&#8221;
+Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung
+bloßlegen. Die Dinge aber richten sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span>
+nach den Begriffen, sie haben ihre eigenen Entwicklungsgesetze.</p>
+
+<p>Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger
+Jurist. Er brachte von Hause aus außergewöhnliche
+Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf
+mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte
+diese Eigenschaft noch stärker in ihm entwickelt.
+Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen Rechtsgrundsatz
+bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs
+zu verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser,
+da leistet er wahrhaft Glänzendes. Aber seine
+starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche. Die
+juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so
+sieht er auch die sozialen Probleme vorwiegend
+mit den Augen des Juristen an. Das zeigt sich
+schon hier im &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;,
+es bildet die Schwäche dieses Werkes, es sollte
+sich aber auch später in seiner sozialistischen Agitation
+zeigen.</p>
+
+<p>Das &#8222;System usw.&#8221; sollte laut Vorrede zugleich
+eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie
+sein. Es kritisiert sie aber nur in Nebenpunkten,
+macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt
+dagegen in der Hauptsache auf demselben Standpunkt
+stehen, wie diese. Das ist um so merkwürdiger,
+als der Schritt, der geschehen mußte,
+um die Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt
+treffenden zu gestalten, längst angegeben war, und
+zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte.
+1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen
+Jahrbüchern in einem Aufsatz, der obendrein den<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span>
+Titel führt: &#8222;Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie&#8221;,
+auf ihn hingewiesen, 1846 in der
+Schrift &#8222;La misère de la philosophie&#8221; ihn deutlich
+vorgezeichnet, 1847 hatten Marx und Engels
+im &#8222;Kommunistischen Manifest&#8221; das Beispiel seiner
+Anwendung geliefert, und endlich hatte Karl
+Marx in der Vorrede zu seiner 1859 erschienenen
+Schrift &#8222;Zur Kritik der politischen Ökonomie&#8221;
+unter ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten
+Aufsatz, geschrieben: &#8222;Meine Untersuchung&#8221;
+&mdash; zu der jener Aufsatz nur die Einleitung bildete &mdash; &#8222;mündete
+in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse
+wie Staatsformen weder aus sich selbst
+zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen
+Entwicklung des menschlichen Geistes,
+sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen
+wurzeln ... Es ist nicht das Bewußtsein
+der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt
+ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.&#8221;
+Und obgleich Lassalle dieses Buch schon
+kannte, als er noch am &#8222;System&#8221; arbeitete, obwohl
+er sich Marx gegenüber in den begeistertesten
+Ausdrücken über es äußerte<a name="FNAnker_17_17" id="FNAnker_17_17"></a><a href="#Fussnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a>, findet sich in
+seinem Werk auch nicht eine Zeile, die im Sinne
+des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein
+Vorwurf gegen Lassalle ausgesprochen werden?
+Das wäre im höchsten Grade abgeschmackt. Wir
+führen es an zur Kritik seines Standpunktes, seiner<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span>
+Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch
+die ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch
+in der brieflichen Auseinandersetzung mit Marx
+über die im &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221; aufgestellten
+Theorien des Erbrechts.</p>
+
+<p>Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß
+sich Marx sofort gegen diese auflehnen mußte,
+denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt
+im direkten Widerspruch. Was er Lassalle
+entgegenhielt, ist aus dessen Briefen nur unvollkommen
+zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen
+hervor, daß die, übrigens nicht lange, brieflich
+geführte Debatte sich im wesentlichen um die
+Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament
+nur aus der römischen Mythologie, der römischen
+Unsterblichkeitsidee, zu begreifen sei, und
+daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals
+für sich allein das Testament habe entwickeln
+können, wenn sie es nicht schon im römischen
+Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz charakteristisch
+zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die
+sich auf die ökonomische Entwicklung beziehen,
+Lassalle schließlich immer wieder mit juristisch-ideologischen
+Wendungen antwortet. Die grundsätzliche
+Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte
+beider Denker kommt in dieser
+Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen
+können, zum sprechendsten Ausdruck.</p>
+
+<p>Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz
+des falschen geschichtstheoretischen Standpunktes
+bleibt das &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221; eine<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span>
+sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen,
+der Lassalles theoretischen Standpunkt
+nicht teilt, höchst anregende und genußreiche
+Lektüre.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Der_preussische_Verfassungskonflikt" id="Der_preussische_Verfassungskonflikt">Der preußische Verfassungskonflikt,
+die Verfassungsreden
+und das Arbeiterprogramm.</a></h2>
+
+
+<p>Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861
+sehr stark mit der Idee, in Berlin ein demokratisches
+Blatt im großen Stil zu gründen. Wie er
+über die liberale Presse dachte, haben wir oben
+gesehen, und ebenso, wie er danach dürstete,
+unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in
+Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben
+Friedrich Wilhelms IV. eine allgemeine
+Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle
+daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels
+in diesem Falle geneigt wären, nach Deutschland
+zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches
+Blatt herauszugeben. &#8222;In meinem vorletzten
+Brief&#8221;, schreibt er unterm 11. März an Marx,
+&#8222;fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König
+stürbe und Amnestie einträte, zurückkommen
+würdet, hier ein Blatt herauszugeben? Antworte
+doch darauf. Ich trage mich nämlich für diesen
+Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden
+Hoffnung, dann mit Euch (hier in
+Berlin) ein großes Blatt herauszugeben. Würdet
+Ihr also in solchem Falle geneigt sein, herzukommen?<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span>
+Und wieviel Kapital wäre zu einem großen
+Blatte erforderlich? Würde es hinreichen, wenn
+man etwa 10000 Taler dazu aufbringen könnte?
+Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir
+darüber schriebst, denn ich denke gern an dies
+château en Espagne!&#8221; In den folgenden Briefen
+kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und am
+19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen
+in der Tat eine Amnestie herbeigeführt hatte,
+schreibt er dringender: &#8222;Noch einmal stelle ich
+Dir die Frage: 1.&nbsp;wieviel Kapital ist nötig, um
+hier ein Blatt zu stiften? 2.&nbsp;Wer von den ehemaligen
+Redakteuren der &#8222;Neuen Rheinischen
+Zeitung&#8221; würde eventuell zu solchem Zweck hierher
+zurückkehren?&#8221;</p>
+
+<p>Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte
+und ihn im Frühjahr 1861 in Berlin besuchte, zerschlug
+sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die
+ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der
+Redaktion eine Stimme haben und Marx und
+Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei
+er ja &#8222;stets in der Minorität&#8221;! Dann aber legte
+die preußische Regierung die Amnestie so aus,
+daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch
+mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer
+Zugehörigkeit zum preußischen Staatsverband verlustig
+gegangen seien, sie keineswegs ohne weiteres
+wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden
+Anträge genau so behandelt werden sollten,
+wie die Naturalisationsgesuche von Ausländern
+überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span>
+Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben
+der Regierung abhängen sollte, jeden davon wieder
+&#8222;abschieben&#8221; zu können, dessen Rückkehr ihr
+&#8222;unbequem&#8221; war. Ein von Lassalle für Marx
+eingereichtes Naturalisationsgesuch wurde denn
+auch richtig in allen Instanzen abgelehnt, da, wie
+es in einem vom 11. November 1861 datierten
+Bescheid des &mdash; liberalen &mdash; Ministers Schwerin
+an Lassalle hieß, &#8222;zur Zeit wenigstens durchaus
+keine besonderen Gründe vorhanden sind, welche
+für die Erteilung der Naturalisation an den
+p. Marx sprechen könnten&#8221;. Damit war natürlich
+jeder Gedanke an eine Übersiedelung von Marx
+nach Berlin ausgeschlossen.</p>
+
+<p>Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen
+mit der Gräfin Hatzfeldt eine Reise nach
+Italien, die, wie er an Marx schreibt, &#8222;sehr instruktiv&#8221;
+für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei
+Garibaldi auf Caprera sei sehr interessant gewesen,
+auch habe er &#8222;fast alle leitenden Persönlichkeiten&#8221;
+in den verschiedenen Städten, die er
+besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker
+in seiner Schrift &#8222;Enthüllungen über das tragische
+Lebensende Ferdinand Lassalles&#8221; zuerst bekannt
+gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief
+an Fr. Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird,
+hat Lassalle bei jenem Besuch Garibaldi zu einem
+militärischen Unternehmen in großem Stil gegen
+Österreich zu überreden gesucht und den Plan
+dann in London auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi
+sollte sich danach in Neapel zum Diktator<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span>
+aufwerfen, eine große Armee bilden und mit
+dieser über Padua noch weiter vordringen, während
+zugleich ein an die adriatische Küste geworfenes
+detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken
+und die Ungarn insurgieren sollte. Ein
+Plan, der namentlich deshalb interessant ist, weil
+er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener Zeit
+die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte,
+die unter anderm die erstrebte Lösung der
+deutschen Frage bringen sollte. Zu erwähnen ist
+noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach
+Italien einen Empfehlungsbrief an den deutschen
+Sozialisten und Freischärler Johann Philipp Becker
+gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne auf
+Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über
+Becker Lassalle jedoch bewogen, jenem aus dem
+Wege zu gehen. &#8222;Die meisten kennen ihn gar
+nicht&#8221; &mdash; schreibt er über Becker an Marx zu
+seiner &#8222;Information&#8221; &mdash; &#8222;die, die ihn kennen,
+halten ihn für einen Blagueur und Bummelfritz,
+für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr,
+der eine entschieden napoleonische Kreatur ist,
+und dem er auf der Tasche liegt.&#8221; Infolgedessen
+habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' Empfehlungsbrief
+keinen Gebrauch zu machen. &#8222;Du
+weißt, wie oft wir in die Lage kommen, im Ausland
+uns vor nichts mehr zu hüten als vor unseren
+Landsleuten.&#8221; Nun, der wackere Jean Philipp
+war doch jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene
+Großsprecher, sondern hatte wiederholt
+für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span>
+auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es
+Lassalle also schon ankommen lassen können. Als
+er später den &#8222;Allgemeinen deutschen Arbeiter-Verein&#8221;
+ins Leben rief, wußte er auch Beckers
+Adresse zu finden<a name="FNAnker_18_18" id="FNAnker_18_18"></a><a href="#Fussnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> und stellte diesem gegenüber,
+der auf irgendeine Weise erfahren hatte, welche
+Redereien über ihn im Umlauf seien, die Sache
+so dar, als habe Marx aus einer Mücke einen
+Elefanten gemacht und einer harmlosen gelegentlichen
+Äußerung über Beckers Verkehr mit Türr
+eine so schlimme Deutung gegeben.</p>
+
+<p>Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin
+zurück. Er fand die politische Situation wesentlich
+verändert vor. Der Gegensatz zwischen dem
+König von Preußen und dem liberalen Bürgertum
+hatte sich zum offenen Konflikt verschärft; bei
+den Neuwahlen zur Kammer Anfang Dezember
+1861 war die schwachmütige konstitutionelle Partei
+durch die, eine etwas schärfere Tonart anschlagende
+Fortschrittspartei verdrängt worden.
+Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres
+aus der bis dahin eine kleine Minderheit in der
+Kammer ausmachenden Fraktion &#8222;Jung-Litauen&#8221;
+entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber
+die Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene
+Partei. Sie bestand aus den verschiedenartigsten<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span>
+Elementen, liberalisierende Großbourgeois
+saßen in ihr neben kleinbürgerlichen Demokraten,
+ehemalige Republikaner mit verschwommenen
+sozialistischen Tendenzen neben Männern, die beinahe
+noch königlicher waren als der König selbst.
+In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es
+Wilhelm&nbsp;I. eben mit allen verdorben; nur die
+Partei der Junker und Mucker und die eigentliche
+Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung.
+Die Fortschrittspartei verfügte über die
+große Mehrheit der Kammer und über fast die
+ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute,
+die das innere Wesen dieser Partei durchschauten
+und zu radikale Ansichten hegten, um sich ihr
+anschließen zu können, hielten es für gut, ihr zunächst
+nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten,
+wie sie ihren Kampf mit der preußischen Regierung
+zu Ende führen werde.</p>
+
+<p>Lassalle war mit denjenigen Männern, die den
+Mittelpunkt der Fortschrittspartei in Berlin bildeten,
+schon seit einiger Zeit zerfallen. Anfangs
+1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem
+Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische
+Berliner &#8222;Volkszeitung&#8221; eine Lanze eingelegt,
+sie ein Blatt genannt, das, &#8222;wenn auch
+häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist,
+und mit viel weniger Konsequenz, als es sich trotz
+der Preßfesseln zur Pflicht machen sollte, doch
+immerhin den demokratischen Standpunkt im allgemeinen
+durch alle die Jahre hindurch verteidigt
+hat und weiter verteidigt&#8221;, und hatte jede andere<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span>
+Politik, als die 1848 von der &#8222;Neuen Rheinischen
+Zeitung&#8221; gegenüber den &#8222;blau-revolutionären&#8221;
+Blättern und Parteien eingenommene für &#8222;ebenso
+theoretisch falsch wie praktisch verderblich&#8221; erklärt.
+&#8222;Wir müssen&#8221;, schrieb er, &#8222;in bezug auf
+die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen
+Nüancen ebensosehr die Identität,
+als den Unterschied unsres sozial-revolutionären
+Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den
+Unterschied herauskehren &mdash; wird Zeit sein, wenn
+sie gesiegt haben.&#8221; Sollte die Partei in London
+dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt haben,
+alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien
+den reaktionären gleichzustellen, dann &#8222;erkläre
+ich entschieden, daß ich diese Wandlung nicht
+mitmachen, sie vielmehr überall à outrance bekämpfen
+werde&#8221;. Im Brief vom 19. Januar 1861
+teilt er jedoch Marx mit, daß er die Weigerung
+der &#8222;Volkszeitung&#8221;, eine längere Einsendung von
+ihm gegen die &#8222;Nationalzeitung&#8221; abzudrucken, als
+Anlaß benutzt habe, um mit ihrem Herausgeber,
+Franz Duncker, zu brechen. &#8222;Umgang meine ich,
+denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze
+den Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte
+Gelegenheit noch mehr als ein Grund.
+Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß
+ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem
+mattherzigen Gesindel gar kein Verhältnis möglich,
+und so werde ich denn dies benutzen, um
+alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine
+natürliche Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span>
+In der vom 27. März 1861 datierten
+Vorrede zum &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;
+finden wir denn auch schon einen an jener Stelle
+sogar ziemlich unvermittelten Angriff auf die
+&#8222;Wortführer der liberalen Bourgeoisie&#8221;, die den
+Begriff des Politischen in einer &#8222;geistlosen Verflachung
+und Oberflächlichkeit&#8221;, in einer &#8222;Isoliertheit&#8221;
+fassen, die sie zwingt, &#8222;sich an bloße
+Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten
+und für Worte zu kämpfen&#8221;. Indes blieb Lassalle
+doch mit andern Fortschrittlern und Nationalvereinlern
+in Verkehr, und in Berlin selbst hatte
+der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß
+politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles
+Umgang bildeten. Abgesehen von einigen wirklichen
+Gelehrten, durften ganz gewöhnliche Salonlöwen,
+wie der Baron Korff, Meyerbeers
+Schwiegersohn, oder radikaltuende Künstler, wie
+Hans von Bülow usw., sich der intimen Freundschaft
+Lassalles rühmen<a name="FNAnker_19_19" id="FNAnker_19_19"></a><a href="#Fussnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a>. In der Rechtfertigungsschrift
+der Frau Helene von Racowitza wird
+von der Schreiberin, zwar unabsichtlich aber desto
+eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum Teil<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span>
+ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in
+der sich Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft
+machte (Anfang 1862). Vom Rechtsanwalt
+Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft
+zwischen Helene und Lassalle stattfand,
+und dessen &#8222;reizende blondlockige Frau&#8221;
+jener Lassalle als &#8222;einen der intimsten Freunde
+ihres Mannes&#8221; bezeichnete, schreibt Lassalle selbst
+wenige Monate darauf &mdash; am 9.&nbsp;Juni&nbsp;1862 &mdash; an
+Marx: &#8222;Beiläufig, mit dem ganz gemeinen Hecht
+Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen&#8221; und
+fügt recht bezeichnend hinzu: &#8222;Glaube etwa nicht,
+daß seine Frau die Veranlassung davon bildet.&#8221;</p>
+
+<p>Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles
+mit Lothar Bucher, der nach Erlaß der
+Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war
+und sich in Berlin niedergelassen hatte. Bucher
+war freilich kein Hecht, sondern gehörte einer
+zahmeren zoologischen Gruppe an.</p>
+
+<p>Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus
+jener Zeit bestätigen, daß dieser aus Italien mit
+ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war,
+die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span>
+anknüpften. Einer der interessantesten
+davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. Januar
+1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht
+ging und den Lassalle, wie er unterm 9.&nbsp;Februar&nbsp;1862
+an W.&nbsp;Rüstow schrieb, &#8222;in langen, mit
+rasender geistiger Anstrengung verbundenen
+Unterredungen&#8221; für seine Ideen zu gewinnen versucht
+hatte, nimmt in jenem Brief auf eine am
+Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle
+Bezug und führt aus, daß er es zwar für möglich
+halte, die bestehende Ordnung &mdash; &#8222;oder Unordnung&#8221;
+&mdash; der Dinge in Deutschland niederzuwerfen,
+aber noch nicht, sie niederzuhalten; mit andern
+Worten, daß die Zeit für eine sozialistische Revolution
+noch nicht reif sei. &#8222;Bedenken Sie dazu
+noch eins: daß jede sozialistische Bewegung in
+Frankreich auf lange Zeit hinaus mit dem Kot
+und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei
+uns eine Menge gesunder und reiner Elemente
+gegen eine ähnliche Bewegung wachrufen würde.&#8221;
+Auf die Frage, was denn also geschehen solle,
+habe er nur &#8222;die lahme Antwort Machiavellis&#8221;:
+Politik ist die Wahl unter Übeln. &#8222;Ein Sieg des
+Militärs&#8221; &mdash; d.&nbsp;h. der preußischen Regierung!! &mdash;
+wäre &#8222;ein Übel&#8221;, aber &#8222;ein Sieg des heutigen
+Österreich wäre kein Sieg des reaktionären Prinzips&#8221;.
+Dafür stelle er Lassalle als Zeugen die
+&#8222;Berliner Revue&#8221; usw. usw. Diese als Einwand
+gegen Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen
+nur den Schluß zu, daß Lassalle eine Revolution
+erzwingen zu können glaubte und im Hinblick<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span>
+hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen
+hatte. Damit war der obenerwähnte Versuch,
+Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu
+gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur,
+wie Lassalle, der für gewöhnlich in politischen
+Dingen ein sehr nüchterner Rechner war, zu einem
+so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er
+von französischen, ungarischen oder italienischen
+Revolutionären angeregt worden war, die Lassalle
+auf seiner Reise nach und durch Italien kennengelernt,
+muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm
+Rüstow um ihn wußte und, wie Lassalle Marx
+erzählte, ihn gebilligt habe, mag er auch auf Anregungen
+dieses etwas phantasiereichen Militärs
+zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben,
+daß er Lassalles eignem Kopf entsprungen war,
+so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles übereinstimmte.</p>
+
+<p>Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß
+zu einer Revolution in Deutschland vor allem noch
+die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes war
+die Situation doch zu bewegt, um die zu einer
+Rückkehr zum Studiertisch nötige Ruhe in ihm
+aufkommen zu lassen. Statt alsbald an die große
+national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich
+vorgenommen, verschob er sie immer wieder, um
+sich den Fragen des Tages zu widmen, was bei
+dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen
+Leben übrigens nur durchaus erklärlich war.</p>
+
+<p>Die erste Leistung, mit der er zunächst an die
+Öffentlichkeit trat, war das gemeinsam mit Bucher<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span>
+verfaßte Pamphlet &#8222;Julian Schmidt, der Literarhistoriker&#8221;.
+Obwohl die Schrift formell Kritik
+einer von Schmidt zusammengeschriebenen &#8222;Geschichte
+der deutschen Literatur&#8221; ist, zeigt das
+Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt
+getroffen werden sollte. Und auch die
+liberale Partei. Da Schmidt deren Programm mitunterschrieben
+hatte und eifrig verfocht, sollte
+&#8222;Julian der Grabowite&#8221; füglich der Ausdruck
+werden können, &#8222;welcher den geistigen Höhepunkt
+dieser Partei kennzeichnet&#8221;. Eine etwas übertriebene
+Logik, wie es überhaupt in der Schrift
+an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war der
+Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da
+gerade in jenen Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus
+aufgelöst und Wilhelm&nbsp;I. ein Reskript
+gegen die fortschrittlich-liberale Presse
+erlassen hatte. War nun auch die Fraktion
+Grabow &mdash; die altliberale Partei &mdash; nicht mit der
+Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein
+gutes Teil mehr als diese zu Kompromissen geneigt,
+so machte sie doch in der Verfassungsfrage
+gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie
+in einem Augenblick traf, wo sie zufällig sich
+besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war
+die Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente,
+die scharfe Geißelung der bei ihm oft
+in &#8222;gespreizter Bildungssprache&#8221; sich wichtig
+machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt.
+Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe
+die größten Denker und Dichter Deutschlands<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span>
+gegen die oft fälschende und tendenziös-gehässige
+Schmidtsche Überkritik. Wo &#8222;der Setzer&#8221; das
+Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht,
+während Lothar Bucher als &#8222;das Setzerweib&#8221;
+vorgeführt wird.</p>
+
+<p>Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt,
+in einem Berliner liberalen Bezirksverein
+einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte
+Gelegenheit &mdash; da es ihm in der Presse nicht möglich
+war &mdash;, den Führern der Fortschrittspartei
+vor ihren eignen Leuten mündlich gegenüberzutreten.
+Als Thema wählte er die Frage des
+Tages: den ausgebrochenen Verfassungskonflikt.
+Aber mit geschickter Berechnung hielt er sich
+in dem ersten Vortrag, den er &#8222;Über Verfassungswesen&#8221;
+betitelte, noch absolut auf dem Boden
+akademischer Darlegung. Er entwickelt seinen
+prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm
+ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen
+sind Machtfragen, eine Verfassung
+hat nur dann und so lange gesicherten Bestand,
+als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse
+ist; ein Volk besitzt nur dann in der Verfassung
+einen Schutz gegen Willkür der Regierenden,
+wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen
+Fall auch ohne die Verfassung sich gegen
+sie zu schützen. Es sei daher der größte Fehler
+gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen
+Machtfaktoren zu ändern und vor allen Dingen das
+Heer aus einem königlichen in ein Volksheer zu
+verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span>
+Verfassung so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution
+Kraft genug geschöpft hatte, die Nationalversammlung
+auseinanderzujagen. Wenn das
+Volk wieder einmal in die Lage komme, eine Verfassung
+zu machen, möge man diese Erfahrung
+daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten
+Heeresvorlagen seien ebenfalls aus
+diesem Gesichtspunkt zu beurteilen &mdash; d.&nbsp;h. als
+dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen
+Verhältnisse weiter zugunsten der Regierung umzugestalten.
+&#8222;Das Fürstentum, meine Herren,&#8221;
+heißt es am Schluß, &#8222;hat praktische Diener, nicht
+Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen
+zu wünschen wären.&#8221;</p>
+
+<p>Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht,
+ist unbestreitbar richtig. Auch die meisten
+Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie
+trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so
+taten sie dies, weil die Übersetzung des ersteren
+in die Praxis einfach die Revolution hieß, die
+Partei aber &mdash; ein Teil der Führer überhaupt
+nur, der andere jedenfalls zunächst &mdash; den Kampf
+auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte.
+Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener
+Gegner der Revolution zu sein, als
+wie Lassalle die Fortschrittler &mdash; und im großen
+und ganzen auch durchaus mit Recht &mdash; damals
+hinstellte, um den Zeitpunkt für eine solche als
+noch nicht gekommen zu erachten. Auch Lassalles
+Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben,
+trotz der vielen Gründe, die er hatte, die bestehende<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span>
+Ordnung der Dinge zu hassen, dieser
+Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot
+jedoch die Fiktion, daß man für die bestehende Verfassung
+gegen die Regierung, die diese verletzte,
+für das &#8222;Recht&#8221; gegen die Macht kämpfte, eine
+viel günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere
+Position, als die offene Proklamierung des Kampfes
+um die Macht selbst. Die materiellen Machtmittel
+hatte die Regierung in der Hand, darum
+wollte man sich wenigstens alle moralischen sichern.</p>
+
+<p>Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt
+hatte, was nicht jeder Fortschrittler &mdash; ja,
+jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben
+konnte, war er daher doch den Führern der
+Fortschrittspartei höchst unangenehm, während die
+Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände
+rieb. Ganz offen bejubelte ihn die &#8222;Kreuz-Zeitung&#8221;,
+das Organ der Junker und Mucker.
+Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war,
+wenn der Konflikt ins Herz des Feindes getragen
+wurde, lag ihr auch deshalb daran, die Verfassungsfrage
+als eine reine Machtfrage zwischen
+Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen,
+weil dadurch ihre Position als einzig zuverlässige
+Stütze des Thrones eine um so befestigtere wurde.
+Man muß nicht vergessen, daß die &#8222;Neue Ära&#8221;
+Wilhelms&nbsp;I. nebenbei ein Versuch gewesen war,
+den Thron der Hohenzollern von der allzu
+lästig gewordenen Vormundschaft der ostelbischen
+Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren.
+Gegenüber dem Programm, wie es Lassalle formulierte,<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span>
+mußte diese dagegen dem König als das
+unbedingt kleinere Übel erscheinen.</p>
+
+<p>Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei
+weiteren fortschrittlichen Versammlungen gehalten
+hat &mdash; ein Beweis, daß die fortschrittliche
+Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand &mdash;
+&#8222;auf mehrfaches Andringen&#8221; in Druck erscheinen.
+Inzwischen hatten die Neuwahlen zum Landtage
+einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über
+die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten
+Blicks, wie sich unter diesen Verhältnissen
+der Konflikt zwischen den beiden weiter entwickeln
+werde.</p>
+
+<p>Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in
+Berlin &mdash; im Handwerkerverein der Oranienburger
+Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel Berlins &mdash;
+noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel
+gab: &#8222;Über den besonderen Zusammenhang der
+Idee des Arbeiterstandes mit der gegenwärtigen
+Geschichtsperiode&#8221;. Auch diesen Vortrag hatte
+er vorher sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist,
+wenngleich in Einzelheiten nicht einwandfrei &mdash;
+schon der Titel fordert zur Kritik heraus &mdash; unzweifelhaft
+eine der besten, wenn nicht die beste
+der Lassalleschen Reden. Eine ebenso klare wie
+schöne Sprache, gedrungene, flüssige, nirgends
+überladene und doch nie trockene Darstellung, von
+Satz zu Satz fortschreitende systematische Entwicklung
+des Grundgedankens, sind ihre formellen
+Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach &mdash; wie
+gesagt, mit einigen Einschränkungen &mdash; eine vortreffliche<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span>
+Einleitung in die Gedankenwelt des
+Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem
+Werte nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und
+den Umständen, unter denen sie gehalten wurde,
+angepaßte Umschreibung des &#8222;Kommunistischen
+Manifestes&#8221; bezeichne; sie führt in der Hauptsache
+an der Hand konkreter Beispiele aus, was
+im historischen Teil des Manifestes in großen
+Zügen bereits vorgezeichnet ist.</p>
+
+<p>Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie
+und die juristische Auffassungsweise in die
+Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch
+auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen
+gleichfalls geschieht, die Betonung
+der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der
+Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter
+vermöge ihrer Klassenlage in der modernen
+bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche revolutionäre
+Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen
+ist, die Gesellschaft auf eine neue Grundlage
+zu stellen &mdash; die Grundidee des kommunistischen
+Manifestes &mdash; ist auch der leitende Gedanke
+des &#8222;Arbeiterprogramms&#8221;, unter welchem
+Namen der Vortrag später in Druck erschienen
+ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort
+wieder in juristische Begriffe kristallisiert und
+mit ideologischen Vorstellungen verquickt wird.
+Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage
+selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte
+man darin eine bloße Konzession an den Sprachgebrauch
+erblicken, an der nur Pedanterie Anstoß<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span>
+nehmen möchte. Indes es muß Lassalle zu
+seinem Lobe nachgesagt werden, daß er in der
+Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig
+zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen
+nach einer populären Redewendung, die ihn vom
+&#8222;Arbeiterstand&#8221;, von einem &#8222;vierten Stand&#8221;
+sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich
+juristischen Vorstellungen. Es ist derselbe
+Rückfall, der ihn den Begriff des Bourgeois nicht
+etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten
+läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge
+seiner ökonomischen Wirkungen und Kräfte verleiht,
+sondern &mdash; von den rechtlichen und staatlichen
+Privilegien, die der Kapitalist auf Grund
+seines Besitzes genießt oder beansprucht. Statt
+den fundamentalen Unterschied zwischen dem
+modernen Bourgeois und dem mittelalterlichen
+Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, verwischt
+er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer
+nur dann einen Bourgeois sein, wenn
+er staatlich und rechtlich die Stellung eines
+Feudalen beansprucht. (Vgl.&nbsp;S.&nbsp;20-22 des
+&#8222;Arbeiterprogramm&#8221;.) Und, wie immer, konsequent
+selbst in seinem Irrtum, stellt er als bezeichnendes
+Merkmal &mdash; d.&nbsp;h. nicht als ein, sondern
+als <em class="gesperrt">das</em> Merkmal der Bourgeoisie-Gesellschaft
+&mdash; das Klassen- oder Zensuswahlsystem
+hin. Das preußische Dreiklassenwahlsystem,
+eingeführt von der feudalistisch-absolutistischen
+Reaktion gegen die bürgerliche Revolution des
+Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span>
+des modernen Bourgeoisiestaates. Das
+hat allenfalls einen Sinn, wenn man den Begriff
+Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten
+beschränkt, aber was wird dann aus
+dem &#8222;vierten Stand&#8221;?</p>
+
+<p>Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten
+Bourgeoisiestaates bezeichnet Lassalle die Ausbildung
+des Systems der indirekten Steuern als
+Mittel der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht
+privilegierten Klassen. Daß jeder privilegierten
+Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den
+Steuern möglichst zu befreien, kann unbestritten
+bleiben. Aber wenn Lassalle den Begriff des
+Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten
+abhängig macht, dann wird seine Theorie schon
+durch die einfache Tatsache umgestoßen, daß
+gerade in dem Lande, wo das allgemeine und
+direkte Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich,
+das indirekte Steuersystem am stärksten
+ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von
+den 97 Millionen Talern, die der preußische Staat
+im Jahre 1855 aus Steuern einnahm, nur etwa
+13 Millionen aus direkten Steuern herstammen,
+ist übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die
+10 Millionen Taler Grundsteuer einfach für eine
+indirekte Steuer, da sie nicht von den Grundbesitzern
+bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis
+abgewälzt werde. Das Abwälzen war
+aber keineswegs eine so leichte Sache, solange die
+Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die
+Zufuhr von außen abgesperrt waren. Die Grundsteuer<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span>
+hat vielmehr lange Zeit als eine reine Reallast
+auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als
+solche von den Grundbesitzern empfunden und
+bei Veräußerungen behandelt worden. 9 Millionen
+Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als
+eine indirekte Steuer bezeichnet werden, da aber
+die ärmste Klasse keineswegs die meisten Prozesse
+führt, so kann man hier nicht von einer
+Steuer zur Entlastung des großen Kapitals
+sprechen, wie immer man sonst über die Justizgebühren
+denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit
+des großen Kapitals ist kein notwendiges
+Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. Diese
+unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft
+dadurch, daß sie nicht an gesetzliche
+Statuierung der Klassenunterschiede gebunden ist,
+vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung
+aller fortbesteht.</p>
+
+<p>Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung
+von Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer
+als einen Beleg dafür anführt, daß
+&#8222;die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen
+Privilegiums und Elementes &mdash; des Kapitals &mdash;
+mit noch strengerer Konsequenz durchführe, als
+dies der Adel im Mittelalter mit dem Grundbesitz
+getan hatte&#8221;. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel
+waren in Preußen keineswegs Regierungsmittel
+der Bourgeoisie, sondern der halb-feudalen
+und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte
+bloß den Blick nach England zu wenden, wo die
+Bourgeoisie zur weitesten Entfaltung gediehen<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span>
+war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die
+kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems
+die Presse, und obendrein in noch viel
+höherem Maße als in Preußen, &#8222;Privilegium des
+großen Kapitalbesitzes&#8221; werden kann. So richtig
+es natürlich war, gegen diese Mittel der politischen
+Repression die Stimme zu erheben, so ist es
+wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer
+Denkweise, daß, wo er die Wirkung der Herrschaft
+der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen
+will, er hier ausschließlich formal-rechtliche
+Einrichtungen anführt, den Einfluß der ökonomischen
+Faktoren dagegen gänzlich ignoriert.</p>
+
+<p>Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin,
+dem Staat, der &#8222;Staatsidee&#8221;, einen Dithyrambus
+anzustimmen. Der &#8222;vierte Stand&#8221; hat &#8222;eine ganz
+andere, ganz verschiedene Auffassung von dem
+sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie&#8221;.</p>
+
+<p>Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle
+die Auffassung der liberalen Freihandelsschule
+hin, nach welcher die Aufgabe des Staates einzig
+darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen
+und sein Eigentum zu schützen.</p>
+
+<p>Das sei aber eine &#8222;Nachtwächteridee&#8221;. Die
+Geschichte sei &#8222;ein Kampf mit der Natur, mit
+dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der
+Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller
+Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht
+am Anfang der Geschichte auftrat. Die
+fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit &mdash;
+das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span>
+Geschichte darstellt&#8221;. Diese Entwicklung des
+Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen,
+das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der
+Staat sei &#8222;die Einheit der Individuen in einem
+sittlichen Ganzen&#8221;, sein Zweck sei, &#8222;durch diese
+Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen,
+solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu
+erreichen, die sie als einzelne niemals erreichen
+könnten, sie zu befähigen, eine Summe von Bildung,
+Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen
+sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich
+wäre&#8221;. Und weiter sei sein Zweck, &#8222;das menschliche
+Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
+Entwicklung zu bringen, mit anderen
+Worten, die menschliche Bestimmung &mdash; d.&nbsp;i. die
+Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist &mdash;
+zum wirklichen Dasein zu gestalten&#8221;. Er sei
+&#8222;die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts
+zur Freiheit&#8221;. So sehr sei dies &#8222;die
+wahre und höhere Aufgabe&#8221; des Staates, daß &#8222;sie
+deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der
+Dinge selbst von dem Staate, auch ohne seinen
+Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen
+seiner Leiter, mehr oder weniger ausgeführt
+wurde&#8221;.</p>
+
+<p>Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der
+Gesellschaft überhaupt haben schon durch die
+hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als einzelne
+befänden, den &#8222;tiefen Instinkt, daß eben
+dies die Bestimmung des Staates sei und sein
+müsse&#8221;. Ein unter die Herrschaft der Idee des<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span>
+Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich
+diese &#8222;sittliche Natur&#8221; des Staates &#8222;mit höchster
+Klarheit und völligem Bewußtsein&#8221; zu seiner Aufgabe
+machen und &#8222;einen Aufschwung des Geistes,
+die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung,
+Wohlsein und Freiheit herbeiführen, wie
+sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte&#8221;.</p>
+
+<p>So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet
+diese Darstellung doch an einem großen Fehler:
+Trotz aller Betonung der geschichtlichen Veränderungen
+in Staat und Gesellschaft erscheint
+der Staat hier seinem Begriff und Wesen nach
+als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes, als
+habe er von Anfang an einen bestimmten, einen
+seiner &#8222;Idee&#8221; zugrunde liegenden Zweck gehabt,
+der zeitweise verkannt, mangelhaft erkannt oder
+ignoriert worden sei und dem daher zur vollen
+Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff
+ist sozusagen ein ewiger. In diesem Sinne
+zitiert Lassalle eine Stelle aus einer Festrede von
+Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner &#8222;gegen
+die Staatsidee des Liberalismus&#8221; an die &#8222;antike
+Bildung&#8221; appelliert, welche &#8222;nun einmal die unverlierbare
+Grundlage des deutschen Geistes geworden&#8221;
+sei und von der aus sich die Ansicht
+erzeuge, der Begriff des Staates sei dahin zu erweitern,
+daß &#8222;der Staat die Einrichtung sei, in
+welcher die ganze Tugend der Menschheit sich
+verwirklichen solle&#8221;. So begreiflich und innerhalb
+gewisser Grenzen auch durchaus berechtigt
+der Protest gegen die sich damals breitmachende<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span>
+Theorie des absoluten sozialpolitischen Gehen-
+und Geschehenlassens war, so weit schießt Lassalle
+hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten
+beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden
+von denen der Gegenwart, daß die
+Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für
+die Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa
+die Ideen der Alten über die Arbeit, das Geld,
+die Familie. Gleich diesen ist die antike Staatsidee
+nur Material der vergleichenden Forschung,
+aber keineswegs eine auf die Neuzeit übertragbare
+Theorie. Wenn nach Boeckh die Staatsidee des
+Liberalismus die Gefahr einer &#8222;modernen Barbarei&#8221;
+in sich trug, so die Aufpfropfung der antiken
+Staatsidee auf die heutige Gesellschaft die Gefahr
+einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt
+es auch durchaus nicht, was Lassalle von den
+Wirkungen des Staates sagt. Diese sind vielmehr
+zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene gewesen.
+Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen
+worden, ehe ein Staat bestand, und wichtige
+Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den
+jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm;
+der Staat hat unzweifelhaft im wesentlichen den
+Fortschritt der Menschheit gefördert, aber doch
+auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.</p>
+
+<p>Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch,
+den Staatsbegriff der Alten unverändert wieder
+herstellen zu wollen &mdash; auch Boeckh lag ein
+solcher Gedanke fern &mdash;, aber mit dem schlechtweg
+abgeleiteten Staatsbegriff wurde die Sache<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span>
+nicht besser, sondern schlimmer. Der Kultus des
+Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates,
+und wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer
+Gesinnung ein direktes Eintreten für
+den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so verhinderte
+diese doch nicht, daß jener Kultus später
+von den Anwälten des bestehenden Staates weidlich
+zu dessen Gunsten ausgebeutet wurde. Das
+ist überhaupt die Achillesferse aller auf abgeleitete
+Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär
+sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in
+Gefahr ist, in eine Verklärung bestehender oder
+vergangener Zustände umzuschlagen. Lassalles
+Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner
+Lassalle eines Tages mit den Streitern für das
+absolute Königtum und den Revolutionär Lassalle
+mit den eingefleischten Reaktionären zusammenführte.
+Der philosophische Absolutismus hatte zu
+allen Zeiten eine Ader, die ihn dem politischen
+Absolutismus nahe brachte.</p>
+
+<p>So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst
+vortrefflichen Eigenschaften, im Keim bereits alle
+Fehler, welche in der späteren Lassalleschen Bewegung
+zutage getreten sind.</p>
+
+<p>Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter,
+sich ganz von dem Gedanken an die hohe geschichtliche
+Mission ihrer Klasse durchdringen
+zu lassen, aus ihm die Pflicht zu einer ganz neuen
+Haltung herzuleiten. &#8222;Es ziemen Ihnen nicht
+mehr die Laster der Unterdrückten, noch die
+müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span>
+selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden.
+Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der
+Gegenwart gebaut werden soll!&#8221;</p>
+
+<p>Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag
+drucken. Aber so vorsichtig er auch gehalten
+ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare politische
+Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner
+Polizei, zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen
+sehr gut bekannt waren, doch sofort, worauf
+der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei
+einem Berliner Drucker hergestellte Auflage von
+3000 Exemplaren beschlagnahmen und gegen
+Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni
+war die Broschüre im Druck vollendet und konfisziert
+worden. Am 4.&nbsp;November&nbsp;1862 reichte
+der Staatsanwalt von Schelling &mdash; ein Sohn des
+Philosophen Schelling &mdash; beim Berliner Stadtgericht
+das Gesuch ein um Einleitung der Strafuntersuchung
+gegen Lassalle wegen &#8222;Aufreizung
+der besitzlosen Klassen zu Haß und Verachtung
+gegen die Besitzenden&#8221;. Am 17.&nbsp;November beschloß
+das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu
+geben, und am 16.&nbsp;Januar&nbsp;1863 kam der Prozeß
+in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz einer
+wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich
+Lassalle dem Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten
+gleich überlegen zeigte, und namentlich
+den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde
+Lassalle doch zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.
+Er appellierte und hatte wenigstens den
+Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe<span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span>
+in eine verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe
+umwandelte. Die Beschlagnahme der Broschüre
+blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ
+Lassalle den Vortrag nun bei Meyer &amp; Zeller in
+Zürich in Neuauflage erscheinen.</p>
+
+<p>Ebenfalls bei Meyer &amp; Zeller erschienen die
+drei Broschüren über den Prozeß in der ersten
+Instanz &mdash; von denen die erste die Verteidigungsrede
+Lassalles (unter dem Sondertitel: &#8222;Die
+Wissenschaft und die Arbeiter&#8221;), die zweite den
+stenographischen Bericht über die mündlichen
+Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite
+Kritik des erstinstanzlichen Urteils enthält &mdash; und
+schließlich auch unter dem Titel: &#8222;Die indirekte
+Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen&#8221;, die
+eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten
+Steuer darbietende Verteidigungsrede in der zweiten
+Instanz. War die erste Verteidigungsrede eine
+außerordentlich geschickte und wirkungsvolle Beweisführung
+dafür, daß der Satz in der preußischen
+Verfassung &#8222;die Wissenschaft und ihre
+Lehre sind frei&#8221; sinnlos wäre, wenn er nicht das
+Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft
+und ihre Theorien den breiten Volkskreisen
+vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse
+infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche
+Verbündete der für ihre Freiheit kämpfenden
+Wissenschaft sei, so ist die Rede über die indirekte
+Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung
+mit sehr vielem geschichtlichen und statistischen
+Material, die man noch heute mit Frucht<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span>
+lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften
+gegen das System der indirekten Steuern, die je
+geschrieben wurden. Politisch kommt in dieser
+zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit
+dem bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck,
+während in der ersten Rede noch die Gemeinsamkeit
+des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte
+betont wurde. Eine eingehendere
+Würdigung dieser Reden findet man in den Vorworten
+des Schreibers zu ihnen. Hier müssen
+wir vorerst wieder auf die Zeit zurückgehen, in
+welcher der Vortrag selbst gehalten worden war,
+das Frühjahr 1862.</p>
+
+<p>Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher
+zunächst kein besonderes Aufsehen machte. So
+sehr er sich dem inneren Gehalt nach von der
+Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern
+damals von den Fortschrittsrednern vorgesetzt
+wurde, der äußeren, politischen Tendenz nach
+wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen,
+Anspielungen auf eine Neuauflage der
+1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte
+Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen
+Dutzendredner nicht fehlen. Ja,
+da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen die Regierung
+spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel
+radikaler an als der fast ganz akademisch gehaltene
+Vortrag Lassalles. Wenn der Philister oppositionell
+ist, nimmt er es in der Großspurigkeit
+der Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit
+seiner Hörer, ob Arbeiter oder Bürger,<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span>
+machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von
+außergewöhnlichem Radikalismus.</p>
+
+<p>So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der
+&#8222;Philosophischen Gesellschaft&#8221; in Berlin war,
+noch in demselben Frühjahr von dieser dazu ausersehen,
+bei der auf den 19. Mai veranstalteten
+Gedenkfeier zum hundertjährigen Geburtstage des
+Philosophen Fichte die Festrede zu halten. Weder
+an seinem sozialen noch an seinem politischen
+Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl
+bekannt war, nahmen die leitenden Persönlichkeiten
+damals Anstoß. Da das Bürgertum in
+seiner großen Mehrheit oppositionell war, durften
+auch seine Gelehrten noch Ideologie treiben.</p>
+
+<p>Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den
+&#8222;Demokratischen Studien&#8221; Fichte als Apostel der
+deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm jetzt
+den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine
+Festrede zu halten, so war das im Grunde nichts
+als eine Anerkennung jenes Aufsatzes. Und
+Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht
+entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung
+zu wiederholen.</p>
+
+<p>Die Rede trägt den Titel: &#8222;Die Philosophie
+Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes.&#8221;
+Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes
+Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie
+zur Anschauung bringt. Weiterhin aber
+verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche
+Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische
+Volksidee, und seine Bedeutung besteht<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span>
+darin, daß die Deutschen die hohe weltgeschichtliche
+Aufgabe haben, aus dem &#8222;reinen
+Geist&#8221; heraus diesem &#8222;nicht bloß eine reale Wirklichkeit&#8221;,
+sondern sogar &#8222;die bloße Stätte seines
+Daseins, sein Territorium&#8221;, erst zu schaffen.
+&#8222;Indem hier das Sein aus dem reinen Geist selbst
+erzeugt wird, mit nichts Geschichtlichem, nichts
+Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen,
+kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild
+sein, und trägt hierin die Notwendigkeit
+jener Bestimmung zur höchsten und vollendetsten
+Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.&#8221;
+Und was Fichte philosophisch in der
+Einsamkeit seines Denkens aufgestellt habe, das
+sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen
+bewahrheitend, bereits &#8222;zur Religion geworden&#8221;
+und durchbebe &#8222;unter dem populären und dogmatischen
+Namen der deutschen Einheit jedes edlere
+deutsche Herz&#8221;.</p>
+
+<p>Das Streben nach der deutschen Einheit als
+die Frucht des &#8222;reinen, mit nichts Geschichtlichem
+verwachsenen&#8221; Geistes hinstellen &mdash; das ging noch
+über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb
+scheint auch der mit großer Konsequenz
+und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte
+Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total
+verfehlt zu haben. Wie einige Blätter schadenfroh
+berichteten, verließen die Hörer zum großen
+Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der
+Festrede, &#8222;um sich nach dem Zimmer des leckeren
+Mahles zu verfügen&#8221;. Sie vergaßen aber<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span>
+hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur
+aus Mitgliedern der philosophischen Gesellschaft,
+sondern in der Mehrheit aus deren Gästen zusammensetzte
+&mdash; meist also Leute, die solche
+Festversammlungen lediglich des guten Tons halber
+besuchen.</p>
+
+<p>Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck
+erscheinen und sandte sie, zusammen mit dem
+&#8222;Julian Schmidt&#8221;, und dem Vortrag &#8222;über Verfassungswesen&#8221;
+durch Lothar Bucher an Marx.
+Er habe &#8222;etwas politisch-praktische Agitation beginnen&#8221;
+wollen, schreibt er unter dem 9.&nbsp;Juni an
+letzteren. &#8222;So habe ich den Verfassungsvortrag
+in vier Vereinen gehalten. Außerdem einen weit
+längeren Vortrag über den Arbeiterstand geschrieben
+und in einem Arbeiterverein gehalten.&#8221;
+Es ist dies das &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;. &#8222;Ich habe
+mich jetzt auch entschlossen,&#8221; setzt er hinzu, &#8222;ihn
+drucken zu lassen; er ist bereits unter der Presse.
+Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.&#8221; Im weiteren
+Verlauf seines Briefes kommt er wieder
+darauf zurück, daß durch die intensivere Beschäftigung
+mit anderen Dingen in den letzten drei
+Jahren die nationalökonomische Materie in seinem
+Kopf &#8222;gleichsam fossil&#8221; geworden sei. Erst wenn
+&#8222;alles wieder flüssig geworden&#8221;, werde er an
+die zweite Lektüre des Marxschen Buches &#8222;Zur
+Kritik der politischen Ökonomie&#8221; gehen, und dann
+ziemlich gleichzeitig an dessen Besprechung und
+die Ausführung seines eigenen ökonomischen
+Werkes &mdash; &#8222;welch letztere freilich sehr lange<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span>
+dauern wird&#8221;. Dieses Programm werde ohnehin
+durch eine zweimonatige Reise unterbrochen,
+denn im Sommer halte er es in Berlin nicht aus.
+Im Juli werde er nach der Schweiz reisen oder
+erst nach London kommen und dann in die Schweiz
+gehen.</p>
+
+<p>Er entschied sich für das letztere. Vorher aber
+schrieb er noch einmal an Marx, und zwar:</p>
+
+<p>&#8222;Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann
+Schweigert, der mit Auszeichnung unter
+Garibaldi und speziell unter meinem Freund
+Rüstow gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste
+Kerl von der Welt. C'est un homme
+d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine,
+die er von Coburg aus organisiert und geht jetzt
+nach London, um dort Geldmittel für 3000 Gewehre
+aufzutreiben, die er für die Wehrvereine
+braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen,
+wie wünschenswert dies wäre. Habe also die
+Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen,
+von denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann
+oder sonstigen zu diesem Ziel führenden Vorschub
+zu tun. Tue Dein Möglichstes.</p>
+
+<p>&#8222;Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London
+komme, nimmt zu.</p>
+
+<p>
+Berlin, 19. 6. 62. &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; Dein F. Lassalle.&#8221;<br />
+</p>
+
+<p>Die von Coburg aus organisierten &#8222;Wehrvereine&#8221;
+standen im Lager des &#8222;Nationalvereins&#8221;, der
+seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte
+sie offenbar für Aktionen verwendbar machen,<span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span>
+die zeitgemäß werden konnten, wenn Garibaldi
+sich von neuem erhob. Die Betonung des &#8222;homme
+d'action&#8221;, und das große Interesse an der Beschaffung
+der 3000 Gewehre sind eine weitere
+Bestätigung für das weiter oben von den Revolutionsplänen
+Lassalles Gesagte.</p>
+
+<p>Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst,
+die sich auf Besuche und einen zu unternehmenden
+gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die
+mir vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab.
+Es wäre aber falsch, daraus den Schluß zu ziehen,
+daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen
+den beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie
+stattgefunden. Wohl aber wissen wir von Marx,
+daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen
+ihm und Lassalle er dem letzteren die
+grundsätzliche Verschiedenheit der beiderseitigen
+Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg
+gegen dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem
+Lassalle im Herbst 1862 nach Berlin zurückgekehrt
+war, schlief die Korrespondenz gänzlich
+ein. Um so enger schloß sich Lassalle an Bucher
+an, der ihn später auch mit Rodbertus in Verbindung
+brachte.</p>
+
+<p>Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick,
+als wolle die preußische Regierung der
+Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere
+Haltung einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt,
+bis plötzlich der König in schroffer
+Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich
+auf keine Konzessionen in bezug auf die Verkürzung<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span>
+der Militärdienstpflicht einlasse und auch
+keine Neigung verspüre, um Indemnität für die
+verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation
+einzukommen. Die Kammer antwortete
+damit, daß sie die Forderung der Regierung,
+die Kosten der Heeresorganisation in
+den Etat der ordentlichen Ausgaben aufzunehmen,
+mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den
+Widerstand der Mehrheit zu brechen, berief der
+König an Stelle des Herrn v.&nbsp;d.&nbsp;Heydt den gerade
+in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am
+französischen Hofe, Otto&nbsp;v.&nbsp;Bismarck, ins Ministerium.
+Die vorhergegangene schroffe Betonung
+der königlichen Vorrechte war bereits im
+Einverständnis mit Bismarck erfolgt.</p>
+
+<p>Bismarck, der 1847 im &#8222;Vereinigten Landtag&#8221;
+und 1849 in der Preußischen Nationalversammlung
+als feudal-junkerlicher Heißsporn aufgetreten
+war, hatte sich inzwischen zum &#8222;modernen Staatsmann&#8221;
+entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien
+über Bord geworfen, um desto wirksamer
+die Interessen des &#8222;befestigten Grundbesitzes&#8221;
+wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus
+aufgegeben, um dem Königtum dadurch
+eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, daß
+die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch
+nichts als die Verantwortung für die Bedürfnisse
+und die Politik der Monarchie übernehmen sollte.
+Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus
+bekannten Regierungssystems übernommen,
+das, wenn es von Demokratie spricht, Regierungsgewalt<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span>
+meint, und von Fürsorge für das Wohl
+der Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug
+auf die Taschen der Arbeiter im Schilde
+führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er
+gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter
+der Hand mit Revolutionären Geschäfte machen
+kann, von der bonapartistischen, wie man stets in
+dem Augenblick den Gegner einer verpönten
+Handlung beschuldigen muß, wo man selbst eben
+diese Handlung zu begehen im Begriff ist. Als
+Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit
+aller geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende
+Aufrichtigkeit an den Tag zu legen,
+um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr
+Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um
+die Wahrheit nicht zu sagen.</p>
+
+<p>Mit dieser &#8222;Aufrichtigkeit&#8221; trat Bismarck auch
+vor die Kammer, trotzdem wurde ihm jedoch sein
+deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung
+in der Budgetkommission, die deutsche
+Frage werde nur durch &#8222;Blut und Eisen&#8221; gelöst
+werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand.
+Das Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß
+bestehen, der Regierung nichts zu bewilligen,
+bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von
+ihr anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus
+vertagte mit der Erklärung, die Regierung werde
+vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.</p>
+
+<p>Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte.
+Wohl hatte er die Regierungsgewalt, d.&nbsp;h.
+die organisierte Macht, hinter sich, während die<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span>
+Kammer vorläufig nichts als die &#8222;öffentliche Meinung&#8221;
+auf ihrer Seite hatte. Indes, er wußte ganz
+gut, daß er sich auf die preußischen Bajonette
+nicht &#8222;setzen&#8221; konnte. Auf durchgreifende Erfolge
+in der auswärtigen Politik, geeignet, die
+ehemaligen &#8222;Gothaer&#8221;, d.&nbsp;h. die schwachliberalen
+Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen,
+war vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte
+also anderwärts Verbündete gegen die Fortschrittspartei
+zu gewinnen suchen.</p>
+
+<p>Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß
+man in Berlin in Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung
+eines Allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses
+zur Erörterung von besonderen Fragen
+des Arbeiterwohls ernsthaft zu betreiben, und
+daß in Zusammenkünften, die dieser Frage galten,
+ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler
+mit besonderer Heftigkeit die Fortschrittspartei
+der Lahmheit anklagte und gegen die Schulzeschen
+Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts
+nützten. Mit der &#8222;Selbsthilfe&#8221;, von der die Liberalen
+soviel Geschrei machten, sei es nichts, nur
+der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler,
+der behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner
+absprechenden Äußerungen über die Schulzesche
+Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand die Mittel,
+nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein
+&#8222;Vorwärts&#8221; gleichfalls die Idee der Einberufung
+eines allgemeinen Arbeiterkongresses und
+die Gründung einer selbständigen Arbeiterorganisation
+lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span>
+Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des
+Kongresses nach Berlin zu gewinnen, und als man
+ihm etwas genauer auf den Zahn fühlte, rückte er
+schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der
+Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die
+preußische Regierung den guten Willen habe, den
+Arbeitern zu helfen, namentlich bei der Gründung
+von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen,
+daß Herr von Bismarck bereit sei, 30000 Taler
+zur Gründung einer Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft
+zu liefern &mdash; die Maschinenbauer
+waren damals, und noch lange später, in
+Berlin die Kerntruppe der Fortschrittspartei!
+Natürlich müßten sich die Arbeiter dazu entschließen,
+der Fortschrittspartei den Rücken zu
+kehren, die eine Partei der Bourgeoisie, der
+Hauptfeindin der Arbeiter, sei.</p>
+
+<p>Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die
+Leute, welche in Leipzig den Arbeiterkongreß
+betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so
+geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen
+Regierung zuliebe in den Rücken zu fallen. Eichler
+zog unverrichteter Sache heim und scheint auch
+in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man
+ihm wegen seiner auffällig flotten Lebensweise,
+die zu seiner &#8222;Arbeitslosigkeit&#8221; so gar nicht
+paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse
+Anspielungen auf eine reiche vornehme Dame, die
+Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da er
+ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts
+besonders Unwahrscheinliches. Eichler verschwand<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span>
+dann von der Bildfläche und tauchte später
+als &mdash; preußischer Polizeibeamter auf.</p>
+
+<p>Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung
+vom 16. September 1878, August Bebel die
+Eichlersche &#8222;Mission&#8221; dem inzwischen zum
+Fürsten avancierten Bismarck vorhielt, suchte
+dieser tags darauf den Eichler von sich abzuschütteln,
+indem er ein Versehen Bebels in der
+Zeitbestimmung für sich ausnutzte &mdash; Bebel hatte
+September statt Oktober 1862 als die Zeit des
+Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben;
+aber im Vertrauen auf die Wirkung dieses Kunstgriffs
+ließ er sich zu dem Geständnis verleiten,
+Eichler habe späterhin &#8222;Forderungen an mich gestellt
+für Dienste, die er mir nicht geleistet hatte&#8221;,
+und daß ihm &#8222;bei der Gelegenheit erst in Erinnerung
+gekommen, daß Herr Eichler im Dienste
+der Polizei gewesen ist und daß er Berichte
+geliefert hat&#8221;. (Vgl. die unter dem Titel &#8222;Die
+Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage&#8221;
+veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die
+Beratung des Sozialistengesetzes, 1878, S.&nbsp;85.)
+Mit andern Worten, die angebliche vornehme
+Dame, oder, wie sich der Leipziger &#8222;Volksstaat&#8221;
+seinerzeit einmal drastisch ausdrückte, die &#8222;aristokratische
+Vettel&#8221; entpuppte sich als &mdash; das
+Berliner Polizeipräsidium.</p>
+
+<p>Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am
+13. Oktober Bismarck den Landtag vertagt hatte,
+hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag:
+&#8222;Was nun?&#8221; Er beruft sich dort darauf, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span>
+die Ereignisse den Ausführungen in seinem ersten
+Vortrage recht gegeben haben. Die &#8222;Kreuzzeitung&#8221;,
+der Kriegsminister von Roon und der
+gegenwärtige Ministerpräsident von Bismarck
+hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen
+Machtfragen sind, bestätigt. Gestützt auf ihre
+Macht habe die Regierung fortgefahren, sich über
+die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es
+handle sich nun weniger um die Frage, wie
+der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer
+Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen
+das Volk zum Teil gar kein Interesse habe, sondern
+einfach um die Frage, wie das Budgetrecht
+der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische
+Regime zur Wahrheit zu machen sei,
+da &#8222;in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden
+wahrhaft konstitutionellen Regierung&#8221; bestehe.
+Soll man zu dem Mittel der Steuerverweigerung
+greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei
+als solche ein wirksames Mittel nur in den Händen
+eines Volkes, das, wie das englische, die vielen
+Machtmittel der organisierten Macht auf seiner
+Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn
+sie dazu dienen sollte, einen allgemeinen Aufstand
+zu entflammen. Aber an einen solchen
+&#8222;werde unter den jetzigen Umständen hoffentlich
+wohl niemand denken&#8221;. Das einzige Mittel
+sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse,
+sobald sie wieder zusammentrete, &#8222;aussprechen
+das, was ist&#8221;. Das sei &#8222;das gewaltigste politische
+Mittel&#8221;. Die Kammer müsse es der Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span>
+unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus
+weiter zu regieren. Sobald sie wieder zusammentrete,
+müsse sie unverzüglich einen Beschluß
+fassen, daß sie, solange die Regierung
+ihren Verfassungsbruch fortsetze, es ablehne,
+durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung
+behilflich zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen
+Zustandes aufrechtzuhalten, und
+daß sie daher ihre Sitzungen &#8222;auf unbestimmte
+Zeit, und zwar auf so lange aussetze, bis die
+Regierung den Nachweis antritt, daß die verweigerten
+Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden&#8221;.
+Sobald die Kammer diesen Beschluß gefaßt
+habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung
+nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten
+würden mit derselben Parole wiedergewählt
+werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht
+regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung
+nach außen würden so gewaltig darunter
+leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen
+sein werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel,
+den Konflikt beizulegen, gäbe es aber nicht.
+Durch Forttagen und Verweigern anderer oder
+auch aller Ausgaben der Regierung würden nur
+Volk und Regierung an die süße Gewohnheit der
+Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt.
+Noch schlimmer würde es sein, wollte die Kammer
+sich auf einen Kompromiß einlassen, etwa für
+den Preis der Bewilligung der zweijährigen Dienstzeit.
+Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen
+Grundfrage, um die es sich jetzt handle.<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span>
+Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um so
+größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn
+sie sich gezwungen sehen werde, nachzugeben.
+&#8222;Um so mehr erkennt sie dann die gesellschaftliche
+Macht des Bürgertums als die ihr überlegene
+Macht an, wenn sie erst später umkehrend sich
+vor Volk und Kammer beugen muß.&#8221; Dann
+aber &#8222;keinen Versöhnungsdusel, meine Herren&#8221;.
+Keinen neuen Kompromiß mit dem alten Absolutismus,
+sondern &#8222;den Daumen aufs Auge und
+das Knie auf die Brust&#8221;.</p>
+
+<p>Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen
+eine versöhnliche Haltung gegenüber der Fortschrittspartei
+ein. Er will &#8222;der Einigkeit zuliebe&#8221;
+alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf
+dem Herzen habe, unterdrücken. Nur die &#8222;Volkszeitung&#8221;
+und ihre Hintermänner, deren Politik
+das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an.
+Diese &#8222;Geistesärmsten&#8221; trügen durch ihre Versuche,
+die Regierung in eine konstitutionelle &#8222;umzulügen&#8221;,
+einen sehr großen Teil der Verantwortung
+für den jetzigen Stand der Dinge. Aber
+&#8222;Friede, meine Herren, der Vergangenheit&#8221;!</p>
+
+<p>Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so
+friedlich gesinnt war und wirklich sich dem
+Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf
+seinen Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit
+nur oratorische Floskel war, um ihm
+später eine desto schärfere Position gegen die
+Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen.
+Es mag beides zutreffen. Daß er einem<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span>
+zeitweiligen Zusammengehen mit den Fortschrittlern
+grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir
+vorher gesehen, viele persönliche Beziehungen
+ließen ihm das sogar als wünschenswert erscheinen,
+und vom prinzipiellen Standpunkt ließ
+sich bei der damaligen Sachlage auch nichts dagegen
+einwenden. Auf der anderen Seite war es
+aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler
+sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen
+Einfluß auf ihre Taktik einräumen würden,
+auf den er Anspruch zu haben glaubte.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Lassalle" id="Lassalle">Lassalle
+und das Leipziger Arbeiterkomitee. &mdash;
+Das Offene Antwortschreiben,
+politischer Teil.</a></h2>
+
+
+<p>Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung,
+d.&nbsp;h. die von Lassalle vorgeschlagene Kampfesmethode,
+nicht ein. Man kann ihnen auch von
+ihrem Standpunkt aus nicht unrecht geben.
+Lassalles Vorschlag war sehr gut, wenn man es
+so schnell als möglich zum Äußersten treiben
+wollte, wenn man entschlossen, sowie in der Lage
+war, auf einen Staatsstreich &mdash; denn weiter blieb
+der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig &mdash; mit
+einer Revolution zu antworten. Soweit waren
+aber die Fortschrittler noch nicht, und darum
+zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne
+Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige
+Verzicht auf die Tribüne in der Kammer<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span>
+auf den famosen &#8222;passiven Widerstand&#8221; hinaus,
+über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig
+machte. Durch beharrliche Verweigerung des
+Budgets konnte man ebenso laut und drastisch
+&#8222;aussprechen, was ist&#8221;, die öffentliche Meinung
+ebenso wirksam oder noch mehr in Erregung
+halten, als durch das Mittel der Vertagung ins
+Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen
+Schein von Recht für die Außerkraftsetzung der
+Verfassung lieferte. Das war ja aber die Hauptidee
+der Taktik der Fortschrittler, die Regierung
+vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber
+dem Recht hinzustellen. &#8222;Ihre Hauptwortführer,&#8221;
+sagt B.&nbsp;Becker sehr gut, &#8222;waren meist Leute
+aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich
+an juristisch-advokatorische <em class="gesperrt">Dehnbarkeit</em><a name="FNAnker_20_20" id="FNAnker_20_20"></a><a href="#Fussnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a>
+gewöhnt und den Streit der Kammermajorität mit
+der Regierung wie einen langen Rechtsstreit zu
+betrachten geneigt.&#8221;</p>
+
+<p>Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle
+den Vorwurf, daß er, gleich der Regierung, Macht
+vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach
+der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei
+Becker heißt, schrieb Lassalle den Aufsatz &#8222;Macht
+und Recht&#8221;, in welchem er der Fortschrittspartei
+rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es
+war ihm ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit
+jenes Vorwurfs mit ein paar Worten schlagend
+nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe
+den Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin,<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span>
+dessen Erklärung, daß in Preußen &#8222;Recht vor
+Macht gehe&#8221;, sie so laut bejubelten, an einem
+ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor
+Recht ging, teilgenommen hatte. &#8222;Es hat kein
+Mensch im preußischen Staat das Recht, vom
+&#8218;Recht&#8217; zu sprechen&#8221; &mdash; ruft er aus &mdash; &#8222;als die
+Demokratie, die alte und wahre Demokratie.
+Denn sie allein ist es, die stets am Recht festgehalten
+und sich zu keinem Kompromiß mit der
+Macht erniedrigt hat.&#8221; Und: &#8222;Bei der Demokratie
+allein ist alles Recht &mdash; und bei ihr allein
+wird die Macht sein!&#8221;</p>
+
+<p>Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung
+an die radikale Berliner &#8222;Reform&#8221; eingesandt,
+verschloß letztere &mdash; für die Lassalle noch
+im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt
+hatte &mdash; ihre Spalten, desgleichen die &#8222;Vossische
+Zeitung&#8221;. Die letztere lehnte auch die Aufnahme
+des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf
+Lassalle ihn als &#8222;Offenes Sendschreiben&#8221; in
+Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl dieses
+Verlagsortes die &#8222;preßgesetzlichen Bedenken&#8221;
+der &#8222;Vossischen Zeitung&#8221; eigentlich rechtfertigte,
+kümmerte ihn nicht weiter.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages
+&#8222;Was nun?&#8221; (Dezember 1862) und der Abfassung
+des &#8222;Sendschreibens&#8221; (Februar 1863)
+liegen wiederum zwei Monate. Noch vor dieser
+Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei Mitglieder<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span>
+des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter
+F.&nbsp;W.&nbsp;Fritzsche und der Schuhmacher
+Julius Vahlteich, nach Berlin gefahren und hatten
+dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern
+des Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch
+und noch etlichen Fortschrittsführern
+am 2.&nbsp;November einer großen Arbeiterversammlung
+beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit
+beschlossen wurde, das Mandat für die Einberufung
+des Kongresses dem Leipziger Komitee
+zu übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die
+selbst schon Sozialisten waren, daß die Arbeiter
+Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen,
+dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei
+von einer selbständigen Arbeiterbewegung
+sehr wenig wissen wollten. Spätere
+Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In
+bezug auf die Frage des Beitritts zum Nationalverein
+erhielt man die bereits erwähnte klassische
+Antwort, die Arbeiter sollten sich als &#8222;Ehrenmitglieder&#8221;
+des Nationalvereins betrachten. In
+bezug auf die Frage des Wahlrechts waren die
+Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten,
+hielten sie auch außerdem für keine brennende.
+Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so vortreffliche
+Kammer zusammengebracht, man könne
+es also schon noch eine Weile mitansehen. Daß
+die vortreffliche, d.&nbsp;h. die oppositionelle Kammer,
+lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse
+war, kam den guten Leuten nicht zum Bewußtsein.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p>
+
+<p>Von dem jugendlichen Berliner Demokraten,
+dem späteren Fortschrittsabgeordneten Ludwig
+Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand
+Lassalle und dessen Vortrag &#8222;Das Arbeiterprogramm&#8221;
+aufmerksam gemacht und setzten sich
+nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich
+leicht denken, wie sehr dies dessen Entschluß
+bestärken mußte, nunmehr das &#8222;Friede der Vergangenheit,
+meine Herren&#8221; zurückzunehmen. Als
+er das Sendschreiben &#8222;Macht und Recht&#8221; erließ,
+war bereits zwischen ihm und dem Leipziger
+Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem
+offiziellen Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten
+über die Aufgaben der Arbeiterbewegung
+und die Frage der Assoziationen in einer ihm
+passend erscheinenden Form darzulegen, und daß
+diese Form eben die einer Flugschrift sein sollte.
+Die äußerst interessanten damaligen Briefe
+Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von
+Prof.&nbsp;H.&nbsp;Oncken in Grünbergs &#8222;Archiv für die
+Geschichte des Sozialismus&#8221; veröffentlicht worden
+(Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß
+Lassalle, so froh er über die Verbindung mit dem
+Leipziger Komitee war, sich diesem doch in keiner
+Weise aufdrängte. Die Leipziger, d.&nbsp;h. die treibenden
+Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr
+gut, worauf sie hinauswollten; worüber man noch
+unentschlossen war, das war weniger das Wesen
+der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm.
+Es war durchaus nicht &#8222;das Bewußtsein
+seiner eigenen Unklarheit&#8221;, wie Bernh.<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span>
+Becker in seiner &#8222;Die Wahrheit über alles&#8221;
+stellenden Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation
+schreibt, die das Komitee veranlaßte,
+in einem vom 10. Februar datierten &#8222;Aufruf an
+die deutschen Arbeiter&#8221; gleichzeitig für Beschleunigung,
+aber gegen Übereilung des zu berufenden
+Arbeiterkongresses sich auszusprechen.
+Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden,
+aber nicht so bald, daß nicht inzwischen die
+Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan haben
+konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten
+Aufruf erließ, beschloß das Komitee,
+folgenden Brief an Lassalle zu schicken, der auch
+tags darauf abging:</p>
+
+<p>
+&nbsp; &#8222;Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.<br />
+<br />
+&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; Sehr geehrter Herr!<br />
+</p>
+
+<p>Ihre Broschüre: &#8218;Über den besonderen Zusammenhang
+der gegenwärtigen Geschichtsperiode
+mit der Idee des Arbeiterstandes&#8217; ist hier überall
+von den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen
+worden und das Zentralkomitee hat sich in
+Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung ausgesprochen.
+Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr
+ernstliche Bedenken ausgesprochen worden, ob
+die von Schulze-Delitzsch empfohlenen Assoziationen
+der großen Mehrzahl der Arbeiter, die
+gar nichts besitzt, genügend helfen können, ob
+namentlich durch dieselben die Stellung der Arbeiter
+im Staat in der Art verändert werden kann,<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span>
+wie es notwendig erscheinen muß. Das Zentralkomitee
+hat in der Arbeiterzeitung (Nr.&nbsp;6) hierüber
+seine Ansichten ausgesprochen; es ist der
+Überzeugung, daß das Assoziationswesen unter
+unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug leisten
+könne. &mdash; Da nun aber aller Orten die Ideen
+von Schulze-Delitzsch als maßgebend für den
+Arbeiterstand, unter dem wir die gedrückteste
+Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden,
+und da doch wohl noch andere Mittel und Wege,
+als die von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen,
+denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung:
+Verbesserung der Lage der Arbeiter
+in politischer, materieller und geistiger Beziehung
+zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner
+Sitzung vom 10.&nbsp;Februar&nbsp;cr. einstimmig beschlossen:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend
+erscheinenden Form Ihre Ansichten über die
+Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren
+dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders
+auch über den Wert der Assoziationen für die
+ganz unbemittelte Volksklasse, auszusprechen.</p>
+
+<p>Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten,
+welche Sie in der angeführten Broschüre
+ausgesprochen haben, und werden deshalb auch
+Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen
+wissen. Wir ersuchen Sie schließlich nur
+noch um möglichst baldige Erfüllung unserer
+Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span>
+der Arbeiterbewegung zu beschleunigen. &mdash;
+Mit Gruß und Handschlag!</p>
+
+<p>Leipzig, 11. Februar 63.</p></blockquote>
+
+<p class="center">
+Für das Zentralkomitee zur Berufung eines<br />
+Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses<br />
+<br />
+&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; Otto Dammer.&#8221;<br />
+</p>
+
+<p>Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom
+1. März 1863 datierte &#8222;Offene Antwortschreiben
+an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen
+deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig
+von Ferdinand Lassalle&#8221;.</p>
+
+<p>Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee
+und im Leipziger Arbeiterverein selbst beginnt
+die eigentlich sozialistische Agitation Lassalles
+und die Geschichte des &#8222;Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins&#8221;.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221; Lassalles tritt
+zunächst der Ansicht entgegen, daß die Arbeiter
+sich nicht um die Politik zu bekümmern hätten.
+Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der
+Politik zu beteiligen, bloß dürften sie dies nicht
+in der Weise tun, daß sie sich als den &#8222;selbstlosen
+Chor und Resonanzboden&#8221; der Fortschrittspartei
+betrachteten. Der Nachweis dafür, daß
+die Fortschrittspartei den Anspruch darauf verwirkt
+habe, stützt sich im wesentlichen auf das
+von dieser im Verfassungskonflikt beobachtete<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span>
+Verhalten und ist insofern nicht überall von gleichmäßiger
+Beweiskraft. Wenn Lassalle z.&nbsp;B. auf
+Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf,
+daß sie &#8222;nur .... das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht
+zum Inhalt ihres Kampfes habe&#8221;,
+so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage
+&#8222;Was nun?&#8221; als das eigentliche und mit aller
+Energie zu vertretende Objekt des Kampfes bezeichnet
+hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei
+auf ihn selbst berufen, wenn er es
+ihr als eine politische Sünde anrechnete, daß sie</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;sich durch ihr Dogma von der preußischen
+Spitze zwingt, in der preußischen Regierung
+den berufenen Messias für die deutsche Wiedergeburt
+zu sehen, während es, mit Einschluß
+Hessens, nicht eine einzige deutsche Regierung
+gibt, welche hinter der preußischen in politischer
+Beziehung zurückstände, während es,
+und zwar mit Einschluß Österreichs (!!), fast
+keine einzige deutsche Regierung gibt, welche der
+preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich
+recht. Die Organisation der Arbeiter als
+selbständige politische Partei mit eigenem Programm
+war eine geschichtliche Notwendigkeit, und
+wenn die Entwicklung der politischen Zustände
+Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen
+konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten
+war, die Arbeiter vom Heerbann der gegen den
+Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei abzutrennen,<span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span>
+so lag von seiten der letzteren genug
+vor, was zu dieser Abtrennung geradezu herausforderte.
+Zudem hieß die selbständige Organisierung
+der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung
+der Aggressivkraft der Fortschrittspartei.
+Daß sie diese in der Tat zur Folge hatte,
+ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei
+selbst &mdash; ihrer wahrhaft bornierten
+Haltung gegenüber der neuen Bewegung. Zum
+Teil allerdings auch Schuld des Programms,
+welches Lassalle dieser Bewegung gab.</p>
+
+<p>Wir haben bei Besprechung des &#8222;Arbeiterprogramms&#8221;
+gesehen, welch abstrakte, rein ideologische
+Vorstellung Lassalle mit dem Begriff
+&#8222;Staat&#8221; verband. Es ist keine Übertreibung zu
+sagen, daß er einen wahren Kultus mit dem Staatsbegriff
+trieb. &#8222;Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation,
+den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen
+jene modernen Barbaren&#8221; &mdash; nämlich die Manchesterpartei
+&mdash; ruft er in der Rede &#8222;Die
+indirekte Steuer&#8221; den Richtern des Berliner
+Kammergerichts zu, und ähnliche Stellen finden
+sich in fast allen seinen Reden vor. Dieser Staatskultus
+ist die Achillesferse der Lassalleschen
+Doktrin, die Ursache von allerhand verhängnisvollen
+Fehlgriffen. Die althegelisch-ideologische
+Vorstellung vom &#8222;Staat&#8221; veranlaßte Lassalle, in
+einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische
+Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für
+sie zunächst noch darum handelte, die Bevormundungen
+des Polizeistaats erst loszuwerden. Es<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span>
+hört sich sehr hübsch an, wenn er im &#8222;Offenen
+Antwortschreiben&#8221; den Arbeitern zuruft: &#8222;Wie,
+Sie wollten über Freizügigkeit debattieren? Ich
+weiß Ihnen hierauf nur mit dem Distichon Schillers
+zu antworten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,<br /></span>
+<span class="i0">Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?&#8221; &mdash;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge,
+die man in einem gesetzgebenden Körper &#8222;stumm
+und lautlos dekretiert, aber nicht mehr debattiert&#8221;.
+Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit
+ihnen die Koalitionsfreiheit eben noch nicht da,
+während die Arbeiter sie unbedingt brauchten.
+Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und
+Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten
+Rang auf einem Arbeiterkongreß einzunehmen
+hatten, war der, daß sie zugleich in
+hohem Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus
+waren; aber überflüssig war ihre Diskutierung
+schon deshalb nicht, weil selbst in Arbeiterkreisen
+noch sehr viel Unklarheit über ihre
+Bedeutung herrschte.</p>
+
+<p>Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm
+wichtiger als sie die Forderung der Staatshilfe
+schien. Einmal der Sache selbst wegen, zweitens
+aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe
+das einzig wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse
+für die politische Aktion aufzurütteln, sie
+zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span>
+Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung
+der demokratischen Forderungen zu erwärmen.
+Und kein Zweifel, daß ihm zu jener
+Zeit diese zweite Seite die wichtigere war. Sie
+war es auch nach Lage der Dinge selbst. Es
+handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel,
+durch die er diesen Zweck zu erreichen suchte,
+richtig waren.</p>
+
+<p>Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der
+Selbsthilfe zu überzeugen, wie sie von bürgerlicher
+Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle
+auf das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion,
+wie es von den Klassikern der politischen
+Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von
+Ricardo formuliert worden war, das &#8222;eherne und
+grausame Gesetz, wonach unter der Herrschaft
+von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche
+Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt
+reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig
+zur Fristung der Existenz und
+zur Fortpflanzung erforderlich ist&#8221;. Steige er
+zeitweilig über diesen Satz, so bewirkten leichtere
+Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung
+der Arbeiterbevölkerung und damit des
+Arbeiterangebots, infolgedessen der Lohn wieder
+auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er
+aber unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung,
+größere Sterblichkeit unter den Arbeitern,
+Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine Verminderung
+des Arbeiterangebots, infolgedessen
+die Löhne wieder stiegen. So tanzten &#8222;Arbeiter<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span>
+und Arbeitslohn immer um den äußersten Rand
+dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder
+Zeit zu dem notwendigsten Lebensunterhalt gehört&#8221;,
+und dies &#8222;ändert sich nie&#8221;.</p>
+
+<p>Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse,
+durch die individuellen Anstrengungen ihrer Mitglieder
+ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise
+zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es
+verfehlt, die Lage der Arbeiter durch Konsumvereine
+verbessern zu wollen. So lange diese vereinzelt
+blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern
+Vorteile verschaffen. Von dem Zeitpunkt
+aber an, wo sie allgemein würden, würden die
+Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder
+verlieren, was sie als Konsumenten, beim Einkauf
+ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage
+der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur
+von dem Druck jenes ökonomischen Gesetzes befreit
+werden, wenn an die Stelle des Arbeitslohns
+der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse
+ihr eigener Unternehmer werde. Das sei
+aber nicht durch die Gründung selbsthilflerischer
+Assoziationen zu erreichen, da diesen die erforderlichen
+Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft
+dem Schicksal verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist
+seinen Einzug halte und die Mitglieder
+in die &#8222;widrige Karikatur der Arbeiter
+mit Arbeitermitteln und Unternehmergesinnungen&#8221;
+verwandelte. Die großen Fragen ließen sich nur
+mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die
+Assoziationen in großartigem Maßstabe und mit<span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span>
+Ausdehnung auf die fabrikmäßige Großindustrie
+ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber &mdash; das
+nötige Kapital, bzw. der nötige Kredit &mdash; vom
+Staat dargeboten werden. Das sei durchaus kein
+Kommunismus oder Sozialismus. &#8222;Nichts ist weiter
+entfernt von dem sogenannten Kommunismus oder
+Sozialismus als diese Forderung, bei welcher
+die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle
+Freiheit, individuelle Lebensweise und
+individuelle Arbeitsvergütung beibehalten und zu
+dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen,
+als daß ihnen durch ihn das erforderliche Kapital,
+resp. der erforderliche Kredit zu ihrer Assoziation
+vermittelt wird.&#8221; Der Beruf des Staates sei es
+aber gerade, die großen Kulturfortschritte der
+Menschheit zu erleichtern und zu vermitteln.
+&#8222;Dazu existiert er, hat immer dazu gedient und
+dienen müssen.&#8221; Was aber &#8222;ist denn der Staat&#8221;?
+Und Lassalle führt die Zahlen der preußischen
+Einkommensstatistik von 1851 an, wonach in
+jenem Jahre 89 Prozent der Bevölkerung ein Einkommen
+unter 200 Talern gehabt hatten, dazu
+7&frac14; Prozent der Bevölkerung ein solches von
+200 bis 400 Talern, so daß also 96&frac14; Prozent
+der Bevölkerung in elender, gedrückter Lage sich
+befänden. &#8222;Ihnen also, meine Herren, den notleidenden
+Klassen, gehört der Staat, nicht uns,
+den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er!
+Was ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen
+jetzt aus wenigen Zahlen, handgreiflicher als aus
+dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der ärmeren<span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span>
+Klassen, große Assoziation &mdash; das ist der Staat.&#8221;
+Und wie den Staat zu der geforderten Intervention
+vermögen? Dies werde nur durch das allgemeine
+und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn
+die gesetzgebenden Körper Deutschlands aus
+dem allgemeinen und direkten Wahlrecht hervorgehen
+&mdash; &#8222;dann und nur dann werden Sie den
+Staat bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht
+zu unterziehen&#8221;. Das allgemeine und direkte
+Wahlrecht ... &#8222;ist nicht nur Ihr politisches, es
+ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung
+aller sozialen Hilfe&#8221;. Darum mögen
+sich die Arbeiter zu einem allgemeinen deutschen
+Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe
+die Einführung des allgemeinen und direkten
+Wahlrechts in allen deutschen Ländern. Werde
+diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der
+Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher
+auch mit der Magenwärme durch den ganzen
+nationalen Körper hin verbreitet, so werde es keine
+Macht geben, die sich dem lange widersetzen
+würde. &#8222;Alle Kunst praktischer Erfolge besteht
+darin, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt &mdash;
+auf den wichtigsten Punkt &mdash; zu konzentrieren
+und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken
+Sie nicht nach rechts noch links, seien Sie taub
+für alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht
+heißt oder damit in Zusammenhang steht
+und dazu führen kann.&#8221;</p>
+
+<p>Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt
+des &#8222;Offenen Antwortschreibens&#8221; und zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span>
+der Lassalleschen Agitation überhaupt.
+Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort
+der Bestrebungen Lassalles gesagt war, so hielt
+doch Lassalle bis zuletzt daran fest, die Bewegung
+auf diesen einen Punkt: &#8222;Allgemeines
+Wahlrecht behufs Erlangung von Staatshilfe für
+Produktionsgenossenschaften&#8221; zu beschränken,
+eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes,
+daß die Kunst praktischer Erfolge darin besteht,
+alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt zu
+konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im
+Auge zu behalten, wenn man an die agitatorische
+Tätigkeit Lassalles den richtigen Maßstab anlegen
+will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn,
+auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet
+gewesen. Ausdrücklich verweist Lassalle
+im &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221; auf die Agitation
+und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England,
+und ebenso scheint ihm die Agitation der
+englischen Chartisten vorgeschwebt zu haben, wie
+der Satz von der &#8222;Magenfrage&#8221; beweist, der an
+die Erklärung des Chartistenpredigers Stephens
+erinnert: &#8222;Der Chartismus, meine Freunde, ist
+keine politische Frage, sondern eine Messer- und
+Gabelfrage.&#8221;</p>
+
+<p>Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen,
+ob denn ein unmittelbarer praktischer Erfolg der
+so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage
+der damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube
+ich die Frage unbedingt bejahen zu müssen. Daß
+später Bismarck, wenn auch freilich nur zum<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span>
+Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine
+Wahlrecht einführte, ist für mich dabei nicht
+maßgebend. Allerhand Umstände hätten das verhindern
+können, ohne daß dadurch die Tatsache
+umgestoßen worden wäre, daß Lassalles Berechnung
+ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt,
+obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen
+Landtag beibehalten wurde, bleibt der
+Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach
+durchaus der damaligen politischen Situation.
+Lassalle wußte ganz genau, daß, wenn im Lager
+der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht
+viele Gegner und im ganzen nur laue Freunde
+hatte, dafür in den Kreisen der Regierung das
+Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer
+scheeleren Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen
+Blätter sprachen sich bereits ganz unverhohlen
+in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte
+es, wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht
+an Verbindungen, durch die er genau über die
+Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen
+unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem
+Verfassungskonflikt nicht nachgeben wollte, so
+blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg &mdash; der
+ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte &mdash; schließlich
+kaum etwas anderes übrig, als Napoleon
+III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen
+und ein anderes, &#8222;demokratischeres&#8221; Wahlrecht
+zu oktroyieren. Zu diesem Schritt mußte sie sich
+um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke,
+von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung<span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span>
+bestand, die die Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems
+auf ihre Fahne geschrieben hatte.
+Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg
+mußte ihr dies als der beste Ausweg erscheinen,
+gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig
+gegen sich im Rücken zu haben<a name="FNAnker_21_21" id="FNAnker_21_21"></a><a href="#Fussnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a>.</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p>
+<p>Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen
+Erfolgs hatte also Lassalle unzweifelhaft<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span>
+recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht
+auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen.
+Allerdings um einen Preis: wenn die Regierung
+es gab, um der Fortschrittspartei nicht nachgeben
+zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts
+mindestens noch weiter hinausgeschoben.
+&#8222;Seien Sie taub für alles, was nicht
+allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder
+damit im Zusammenhang steht und dazu führen
+kann&#8221;, heißt es im &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221;.
+Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt,
+würde dieses, das muß man bei Lassalle, wenn
+er es auch nicht ausdrücklich ausspricht, logischerweise
+als Voraussetzung annehmen, auch diese
+Frage lösen. War aber diese Erwartung Lassalles
+vom allgemeinen Wahlrecht, wie überhaupt die
+Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache
+selbst gerechtfertigt?</p>
+
+<p>Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und
+direkte Wahlrecht lagen zur Zeit Lassalles nur
+aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus
+nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte
+zwar während der Februarrepublik eine Reihe
+von Sozialisten in die Volksvertretung gebracht,
+aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt
+worden durch die der Vertreter der verschiedenen
+Bourgeoisparteien, und das allgemeine Wahlrecht
+hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig verhindert,
+daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte
+unternehmen können als &#8222;Wiederhersteller des
+allgemeinen Wahlrechts&#8221;. Und dabei war die<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span>
+Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom
+Pariser Proletariat proklamiert worden als soziale
+Republik, ihr war vorhergegangen eine Epoche
+sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung,
+so daß nach dieser Seite hin die Voraussetzungen
+dafür gegeben waren, daß sie im Laufe
+der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik
+hätte werden können. Warum wurde sie es nicht?
+Warum konnte sie vielmehr durch das Kaiserreich
+gestürzt werden?</p>
+
+<p>Wenn Lassalle am Schluß des &#8222;Arbeiterprogramms&#8221;
+sagt, was am 2.&nbsp;Dezember&nbsp;1851 gestürzt
+worden, das sei &#8222;nicht die Republik&#8221; gewesen,
+sondern die Bourgeoisrepublik, welche
+durch das Wahlgesetz vom Mai 1850 das allgemeine
+Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten
+Zensus zur Ausschließung der Arbeiter
+eingeführt hatte; die Republik des allgemeinen
+Wahlrechts aber würde &#8222;an der Brust der französischen
+Arbeiter einen unübersteiglichen Wall
+gefunden haben&#8221;, so wiederholt er damit ein Schlagwort
+der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la
+Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet,
+sondern nur verschiebt. Wo war dieser &#8222;unübersteigliche
+Wall&#8221;, als die auf Grund des allgemeinen
+Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob?
+Warum hatten die Pariser Arbeiter diesen &#8222;Staatsstreich
+der Bourgeoisie&#8221; nicht verhindert?</p>
+
+<p>Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so
+würde er auf die Tatsache gestoßen sein, daß
+die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span>
+halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als
+solche hätte stützen müssen, noch nicht entwickelt
+genug war &mdash; d.&nbsp;h. nicht entwickelt genug im
+sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne
+industrielle Proletariat war da, es war stark genug
+gewesen, für einen Augenblick die bestehende
+Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen,
+aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir
+begegnen hier wieder dem Grundfehler der
+Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo
+Lassalle auf die tieferen Ursachen der geschichtlichen
+Vorgänge einzugehen sucht, hält ihn seine
+mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen
+Seite wirklich auf den Grund zu gehen, und auch
+das Ökonomische packt er gerade da an, wo es
+sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf,
+juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären,
+daß er, um den Arbeitern zu zeigen, aus
+welchen Elementen sich die Bevölkerung des
+Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der
+Einkommensverteilung, und zwar ausschließlich an
+sie hält. Der Streit, der sich damals an diese
+Stelle des &#8222;Offenen Antwortschreibens&#8221; knüpfte,
+ist ein verhältnismäßig untergeordneter. Ob
+Lassalle sich um einige Prozentsätze nach der
+einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf
+kommt im Grunde wenig an, die Tatsache, daß
+die große Masse der Bevölkerung in dürftigen
+Verhältnissen lebt, während nur eine kleine
+Minderheit im Überfluß schwelgt, konnten die
+Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span>
+damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer
+ganzen Rabulistik nicht aus der Welt leugnen.
+Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht berücksichtigt,
+aus wie verschiedenartigen Elementen
+sich die 96 oder 89 Prozent der Bevölkerung zusammensetzten,
+als deren &#8222;große Assoziation&#8221; er
+den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil
+davon Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie
+vor allem die Landarbeiter bildeten, die noch
+großenteils völlig unter der geistigen Vormundschaft
+ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz
+unerörtert. Über die Hälfte der Bevölkerung
+Preußens entfiel damals auf den Ackerbau, die
+größeren Städte spielten bei weitem nicht die
+Rolle, die sie heute spielen, vom Standpunkt der
+industriellen Entwicklung betrachtet, war der
+ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit
+vereinzelten Oasen<a name="FNAnker_22_22" id="FNAnker_22_22"></a><a href="#Fussnote_22_22" class="fnanchor">[22]</a>.</p>
+
+<p>Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine
+Wahlrecht an der Zusammensetzung der
+Kammer ändern? War von ihm ein besseres
+Resultat zu erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht
+im Frankreich der Jahre 1848 und 1849?
+Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl
+von Arbeitervertretern in die Volksvertretung
+bringen, und das war an sich gewiß sehr zu
+wünschen. Aber im übrigen mußte es, gerade je<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span>
+mehr es die Wirkung erfüllte, die Lassalle von
+ihm versprach &mdash; nämlich einen Volksvertretungskörper
+zusammenbringen, der &#8222;das genaue, treue
+Ebenbild ist des Volkes, das ihn gewählt hat&#8221;
+(&#8222;Arbeiterprogramm&#8221;) &mdash; die Zusammensetzung
+der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern.
+Denn so jämmerlich immer die damalige
+Volksvertretung war, sie war doch wenigstens
+bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen
+Klassen zwar unter Umständen sämtlich
+revolutionäre Truppen stellen, aber keineswegs
+samt und sonders revolutionäre Klassen sind,
+er vergaß, daß die 89 Prozent nur erst zum Teil
+aus modernen Proletariern bestanden.</p>
+
+<p>Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen
+möglich war, so ist doch damit noch keineswegs
+gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder
+als Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit
+herbeigeführt haben würde. Bei der politischen
+und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse
+der Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst
+das Gegenteil bewirken, statt Vertreter
+moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in
+größerer Anzahl als bisher in die Kammer bringen.
+Nicht alle Fortschrittler waren aus Klasseninteresse
+Gegner oder laue Freunde des allgemeinen
+Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil
+Ideologen, welche gerade durch die Entwicklung
+der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen Wert
+skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten
+dachten so. Es sei nur an Rodbertus erinnert,<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span>
+der in seinem Offenen Brief an das Leipziger
+Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als
+ein Beispiel dafür, daß das allgemeine Stimmrecht
+&#8222;nicht notwendig dem Arbeiterstande die
+Staatsgewalt in die Hände spielt&#8221;. Es sei gesagt
+worden, das allgemeine Wahlrecht solle nur Mittel
+zum Zweck sein, Mittel seien aber &#8222;zu verschiedenen
+Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten
+brauchbar&#8221;. &#8222;Sind Sie,&#8221; fragt er, &#8222;dessen gewiß,
+daß hier das Mittel mit zwingender Notwendigkeit
+zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen
+muß? Ich glaube das nicht.&#8221; Aus den Briefen
+Lassalles an Rodbertus geht auch hervor, daß,
+beinahe mehr noch als Rodbertus' gegensätzliches
+Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften,
+sein Gegensatz gegen das allgemeine
+Stimmrecht der Grund war, daß er trotz aller
+dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen
+Deutschen Arbeiterverein nicht beitrat<a name="FNAnker_23_23" id="FNAnker_23_23"></a><a href="#Fussnote_23_23" class="fnanchor">[23]</a>.</p>
+
+<p>Und wie man sonst auch über Rodbertus denken
+mag, seine Motive werden auf das Unzweifelhafteste<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span>
+durch den Schlußsatz seines Briefes
+charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl
+Lassalle recht habe, daß man solche Fragen
+nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und freie
+Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in
+ihr Programm aufzunehmen, um &#8222;jeden Reaktionär,
+der Ihnen schaden könnte, höchst wirksam
+zurückzuscheuchen&#8221;.</p>
+
+<p>Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des
+Bonapartismus übertrieben, so nahm Lassalle sie
+seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung,
+die er später tatsächlich in dieser Richtung
+machte, lag dem Ideengang nach von vornherein
+in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine
+Stelle aus dem teilweise schon früher zitierten
+Brief Lassalles an Marx vom 20. Juni 1859 über
+die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Im Anfang, als mit solcher Wut überall
+das nationale Geschrei eines Krieges gegen
+Frankreich ausbrach, rief die &#8218;Volkszeitung&#8217;
+(Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr
+Redakteur) in einem Leitartikel triumphierend
+aus: &#8218;Will man wissen, was dies Geschrei aller
+Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man
+seine welthistorische Bedeutung kennen? Die
+Emanzipation Deutschlands von der politischen
+Entwicklung Frankreichs &mdash; das bedeutet es.&#8217; &mdash;
+Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt
+dieses Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen?
+Doch gewiß nicht! Ein populärer
+Krieg gegen Frankreich &mdash; und unsere kleinbürgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span>
+Demokraten, unsere Dezentralisten,
+die Feinde aller Gesellschaftsinitiative,
+haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs auf
+lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die
+deutsche Revolution hinein würde die Wirkung
+dieser Strömung sich bemerklich machen. Wir
+haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten
+Feind, den wir haben, dem deutschen
+Spießbürgerindividualismus, durch einen blutigen
+Antagonismus gegen den romanisch-sozialen
+Geist in seiner klassischen Form, in Frankreich,
+noch neue Kräfte zuzuführen.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der
+&#8222;Volkszeitung&#8221; verdiente in gewisser Hinsicht
+zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier
+beilegt, aber des zitierten Satzes wegen vielleicht
+am wenigsten. Die politische Entwicklung Frankreichs
+war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus,
+während die Partei der &#8222;Volkszeitung&#8221; auf
+England, als ihr politisches Vorbild, schwor. Das
+war sicher sehr einseitig, aber noch nicht reaktionär,
+oder doch reaktionär nur insoweit, als
+es eben einseitig war. Lassalles Auffassung, die
+in dem staatlichen Zentralismus Frankreichs ein
+Produkt des &#8222;romanisch-sozialen&#8221; Geistes sah,
+ihn mit dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte,
+dagegen seine reaktionäre Seite ganz
+unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder einseitig.</p>
+
+<p>So weit über die politische Seite des Lassalleschen
+Programms, nun zu seiner ökonomischen.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Der_oekonomische_Inhalt" id="Der_oekonomische_Inhalt">Der ökonomische Inhalt
+des Offenen Antwortschreiben.</a></h2>
+
+<p>Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften
+mit Staatskredit.</p>
+
+
+<p>Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief
+und dem er das Beiwort &#8222;ehern&#8221; gab, entspricht,
+wie ich an anderer Stelle<a name="FNAnker_24_24" id="FNAnker_24_24"></a><a href="#Fussnote_24_24" class="fnanchor">[24]</a> nachgewiesen
+zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode
+&mdash; der Manufakturindustrie &mdash; und
+einem auf ihr beruhenden Gesellschaftszustande,
+ist also in der Gesellschaft der modernen Großindustrie,
+der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten
+Kreislaufes von Krisis, Stockung und
+Prosperität, der rasch sich vollziehenden Steigerung
+der Produktivität der Arbeit usw. zum mindesten
+überlebt. Auch setzt es ein absolut freies
+Walten von Angebot und Nachfrage auf dem
+Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört ist, sobald
+die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert
+gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung,
+in die Regelung des Arbeitsverhältnisses
+eingreifen. Wenn also die Liberalen
+Lassalle entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme
+nicht, es sei veraltet, so hatte das teilweise seine<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span>
+Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die
+guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere
+Fehler als Lassalle.</p>
+
+<p>Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter
+der den Lohn bestimmenden Gesetze, weil
+er den stärksten Schlag gegen die moderne Gesellschaft
+damit zu führen meinte, daß er nachwies,
+der Arbeiter erhalte unter keinen Umständen
+seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen Anteil an
+dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der
+Frage einen rechtlichen Charakter, und agitatorisch
+hat sich das auch höchst wirksam erwiesen. Aber
+in der Sache selbst traf er damit keineswegs den
+Kern der Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit
+hat der Arbeiter auch unter den früheren Produktionsformen
+nicht erhalten, und wenn ein
+&#8222;ehernes&#8221; Gesetz es verhindert, daß der Lohn
+dauernd unter ein bestimmtes Minimum sinkt,
+dieses Minimum selbst aber &mdash; wie Lassalle ausdrücklich
+zugab &mdash; im Laufe der Entwicklung
+sich zwar langsam hebt, aber doch hebt, so war
+der Beweis für die Notwendigkeit der von ihm
+geforderten Einmischung des Staates schwer zu
+erbringen.</p>
+
+<p>Das, worauf es wirklich ankommt, ist von
+Lassalle erst später, und nur beiläufig, hervorgehoben
+worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters
+mit einem Bruchteil des von ihm erzeugten
+neuen Wertes, sondern diese Ablohnung in Verbindung
+mit der Unsicherheit der proletarischen
+Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span>
+in wechselnden Zeiträumen einander folgenden
+Kontraktionen des Weltmarktes, von beständigen
+Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse
+&mdash; der schreiende Gegensatz zwischen dem
+immer mehr gesellschaftlich werdenden Charakter
+der Produktion und ihrer anarchischen Leitung,
+dabei die wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen
+Arbeiter, aus der doppelten Abhängigkeit
+vom Unternehmertum und den Wechselfällen des
+industriellen Zyklus sich zu befreien, die beständige
+Bedrohung mit dem Hinausgeworfenwerden
+aus einer Sphäre der Industrie in eine
+andre, tieferstehende, oder in das Heer der
+Arbeitslosen &mdash; das ist es, was die Lage der
+Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich
+macht, sie von der bei jeder vorhergehenden
+Produktionsweise zum Schlechteren unterscheidet.
+Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit
+der scheinbaren Freiheit nur größer geworden.
+Sie ist es, die mit eherner Wucht auf der Arbeiterklasse
+lastet, und deren Druck zunimmt mit der
+wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die
+Lohnhöhe dagegen wechselt heute, je nach den
+verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen
+Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die
+tatsächlich einen gewissen Wohlstand darstellen,
+und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den verschiedenen
+Industrien eine sehr verschiedene, teils
+höher, teils aber auch geringer als in früheren
+Produktionsepochen. Beide hängen von sehr veränderlichen
+Faktoren ab, beide wechseln nicht nur<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span>
+von Industrie zu Industrie, sondern sind auch in
+jeder einzelnen Industrie den größten Veränderungen
+unterworfen, und beständig ist nur die
+Tendenz des Kapitals, die Ausbeutungsrate zu
+erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die eine
+oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.</p>
+
+<p>Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache
+der Leiden der Arbeiterklasse in der heutigen
+Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, die
+gar nicht das charakterisierende Merkmal der
+modernen Produktionsweise ist &mdash; denn, wie gesagt,
+den vollen Arbeitsertrag hat der Arbeiter
+zu keiner Zeit erhalten &mdash; war der Hauptfehler
+seines Abhilfemittels von vornherein angezeigt.
+Es ignoriert, oder, um Lassalle auch nicht Unrecht
+zu tun, es unterschätzt die Stärke und den
+Umfang der Gesetze der Warenproduktion und
+deren wirtschaftliche und soziale Rückwirkungen
+auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir
+müssen hier wieder genau unterscheiden zwischen
+Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. Sein Ziel
+war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben,
+sein Mittel aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel
+war die gesellschaftlich organisierte Produktion,
+sein Mittel die individuelle Assoziation, die sich
+von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied,
+daß sie mit Staatskredit, mit Staatsmitteln
+ausgestattet werden sollte. Alles weitere, der
+Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm
+der freiwilligen Entschließung jener überlassen &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span>
+es wird von ihnen erwartet, aber ihnen nicht zur
+Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern,
+die sich zu assoziieren wünschten, die
+erforderlichen Mittel dazu auf dem Wege der
+Kreditgewährung vorstrecken.</p>
+
+<p>Die Assoziationen einer bestimmten Industrie
+würden also, solange sie nicht diese ganze
+Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen
+ihres Produktionszweigs in Konkurrenz
+zu treten, sich den Bedingungen dieser Konkurrenz
+zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche
+Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der
+Assoziationen Sonderinteressen herausentwickeln
+mußten, daß jede Assoziation danach streben
+mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu
+steigern, sei es auch auf Kosten andrer Assoziationen
+oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit
+Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben
+Privatunternehmungen von mehr oder minder
+großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle
+Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle
+Glückschancen mußten daher bei ihnen eine hervorragende
+Rolle spielen, die Frage von Gewinn
+und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten,
+wie für andre Privatunternehmungen. Lassalle
+glaubte zwar erstens &mdash; gestützt darauf, daß 1848
+in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften
+sehr stark war &mdash;, daß sich sofort mindestens
+alle Arbeiter bestimmter Industrien an
+den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation
+zusammentun würden, und sprach sich<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span>
+zweitens im &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; später sogar dahin
+aus, daß der Staat in jeder Stadt immer &#8222;nur
+einer Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig
+den Staatskredit zuteil werden&#8221; lassen
+würde, &#8222;allen Arbeitern dieses Gewerkes den
+Eintritt in dieselbe offen haltend&#8221;, aber selbst
+solche örtlich einheitlich organisierten Assoziationen
+blieben noch immer in nationaler Konkurrenz.
+Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch
+große Assekuranz- und Kreditverbände der Assoziationen
+untereinander in ihren ökonomischen
+Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der
+Hand, daß diese Assekuranz ein Unding war,
+wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war
+für nationale Organisation und nationale Monopolisierung
+der Industrie. Sonst mußte die Überproduktion
+sehr bald die Assekuranzgesellschaft
+sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich,
+wenn der Staat, wie es oben heißt, allen
+Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die
+Assoziationen &#8222;offen hielt&#8221;. Lassalle verwickelte
+sich da, von seinem sozialistischen Gewissen getrieben,
+in einen großen Widerspruch. &#8222;Den Eintritt
+offen halten&#8221; heißt die Assoziation zur Aufnahme
+jedes sich meldenden Arbeiters verpflichten.
+Nach dem &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221;
+sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber
+vollkommen unabhängig sein, ihm nur das Recht
+der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle
+der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen
+zustehen. Mit obiger Verpflichtung war<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span>
+sie dagegen aus einem unabhängigen in ein öffentliches,
+d.&nbsp;h. unter den gegebenen Verhältnissen
+staatliches Institut umgewandelt &mdash; ein innerer
+Gegensatz, an dem sie unbedingt hätte scheitern
+müssen.</p>
+
+<p>Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen
+Produktivgenossenschaft ist folgender. Solange
+die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen
+eines bestimmten Industriezweiges umfaßten,
+unterstanden sie den Zwangsgesetzen der
+Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja
+gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion
+im Auge hatte, die zugleich die großen Weltmarktsindustrien
+bilden. Wo aber Konkurrenz besteht,
+besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz
+zwingt den Unternehmer, sei er eine einzelne
+Person, eine Aktiengesellschaft oder eine
+Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen,
+daß sein Produkt jeweilig als unterwertig &mdash; d.&nbsp;h.
+als Erzeugnis von nicht gesellschaftlich notwendiger
+Arbeit &mdash; aus dem Markt geworfen wird.
+Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und
+Stockung, Konkurrenz und Bankrotte sind in der
+heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine Beherrschung
+der Produktion durch die Produzenten
+selbst ist nur möglich nach Maßgabe der Aufhebung
+der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar
+durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz
+in der heutigen Gesellschaft die wichtige
+Mission hat, die Konsumenten vor Übervorteilung
+zu schützen und die Produktionskosten beständig<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span>
+zu senken, hat das Monopol umgekehrt die
+Tendenz, die Konsumenten zugunsten der Monopolinhaber
+zu überteuern und den Fortschritt der
+Technik, wenn nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen.
+Das letztere um so mehr, wenn die
+beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols
+sind. Die Aufhebung des geschäftlichen
+Risikos für die Assoziationen würde also im
+Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
+wenn überhaupt zu verwirklichen, notwendigerweise
+auf Kosten der Konsumenten vor sich
+gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten
+gegenüber die große Mehrheit ausmachen. Zwischen
+Assoziations- und Gesamtinteresse wäre
+ein unlösbarer Antagonismus.</p>
+
+<p>In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das
+natürlich leicht zu verhindern, aber ein solches
+wird nicht den Umweg von der subventionierten
+Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung
+der Produktion gehen, sondern die Produktion,
+auch wenn sie sich dabei der Form der genossenschaftlichen
+Betriebe bedient, von vornherein auf
+gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die
+kapitalistische Gesellschaft verpflanzt, wird gerade
+die Produktivgenossenschaft dagegen so oder
+so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen.
+Die Lassalleschen Produktivgenossenschaften
+würden sich von den Schulze-Delitzschschen nur
+quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe, nicht
+dem Wesen nach unterschieden haben.</p>
+
+<p>Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus,<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span>
+der ein viel zu durchgebildeter Ökonom
+war, als daß ihm diese schwache Seite der Lassalleschen
+Assoziationen hätte entgehen können. Wir
+haben bereits aus dem oben zitierten Brief Lassalles
+an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus sich in
+seinem &#8222;Offenen Brief&#8221; über sie hatte äußern
+wollen, und die auf jenen folgenden Briefe
+Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich deutlich
+durchblicken, welches der Haupteinwand von
+Rodbertus war. Noch deutlicher aber geht dies
+aus den Briefen von Rodbertus an Rudolph Meyer
+hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein,
+einige der betreffenden Stellen hier folgen zu
+lassen.</p>
+
+<p>Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:</p>
+
+<p>&#8222;... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg,
+auch nachweisen, daß dasjenige Kollektiveigentum,
+das die Sozialdemokraten heute verfolgen,
+das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften,
+ein viel schlechteres, zu weit größeren
+Ungerechtigkeiten führendes Grund- und Kapitaleigentum
+ist, als das heutige individuelle. Die
+Arbeiter folgen hier noch Lassalle. Ich hatte ihn
+aber brieflich überführt, zu welchen Absurditäten
+und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen
+müsse und (was ihm besonders unangenehm
+war) daß er gar nicht der Schöpfer dieser Idee
+sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la
+Révolution entlehnt habe.&#8221;<a name="FNAnker_25_25" id="FNAnker_25_25"></a><a href="#Fussnote_25_25" class="fnanchor">[25]</a></p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span></p>
+
+<p>Brief vom 24. Mai 1872: &#8222;Noch einen dritten
+Grund allgemeiner Natur habe ich gegen diese
+Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am
+Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder
+eine Gratifikation, wie Settegast mit Recht sagt &mdash;
+und mit &#8218;Biergeldern&#8217; wird die soziale Frage nicht
+gelöst &mdash; oder sie entwickelt sich auch zu einem
+Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich
+zu einem Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds.
+Dies Kollektiveigentum liegt aber nicht
+auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis
+würde mich zu weit führen, aber so weit hatte
+ich Lassalle denn doch schon in unserer Korrespondenz
+getrieben, daß er mir in einem seiner
+letzten Briefe schrieb: &#8218;Aber, wer sagt Ihnen
+denn, daß ich will, daß der Produktivassoziation
+der Fonds zum Betriebe <em class="gesperrt">gehören</em> soll!&#8217; (sic!)
+Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum
+der Arbeiter an den einzelnen Betrieben wäre
+ein weit übleres Eigentum, als das individuale
+Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum
+einer Kapitalistenassoziation.&#8221; ...</p>
+
+<p>Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in
+keinem der zur Veröffentlichung gelangten Briefe
+Lassalles an Rodbertus. Es ist aber kaum anzunehmen,
+daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt<span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span>
+haben würde, wenn er den Wortlaut
+nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er
+gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein
+triftiger Grund spricht nämlich dagegen, daß
+Lassalle sich nicht in der Tat einmal so ausgedrückt
+haben sollte. In allen Lassalleschen
+Reden ist vielmehr von den Zinsen die Rede,
+welche die Assoziationen dem Staat für das vorgeschossene
+Kapital zu zahlen hätten. Es liegt
+also in dem Satz noch nicht einmal ein Zugeständnis
+an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein
+solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich
+in eine &mdash; unbeabsichtigte &mdash; Verurteilung der
+Produktivassoziationen umschlägt, findet sich dagegen
+in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom
+26. Mai 1863. Dort heißt es:</p>
+
+<p>&#8222;Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß,
+wenn dem Arbeiter Boden, Kapital und Arbeitsprodukt
+gehört<a name="FNAnker_26_26" id="FNAnker_26_26"></a><a href="#Fussnote_26_26" class="fnanchor">[26]</a>, von einer Lösung der sozialen
+Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat
+wird sich also auch annähernd herausstellen,
+wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung geliefert
+wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört.
+Bei der ländlichen Assoziation wird dann der
+Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span>
+Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation
+wird er in der Regel mehr erhalten als
+seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich genau
+und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk
+schreibe, sehr explizit nachweisen.&#8221;</p>
+
+<p>Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus
+entweder den Sinn der vorstehenden Sätze nicht
+genau verstanden hatte oder Lassalle in die Enge
+jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt
+(einen hier gleichgültigen Zwischensatz lasse ich
+fort):</p>
+
+<p>&#8222;Meine Äußerung: &#8218;bei der ländlichen Assoziation
+wird dann der Arbeiter entweder mehr
+oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben&#8217;, ist
+jedenfalls in bezug auf das &#8218;mehr&#8217; doch leicht zu
+verstehen. Ich verstehe gar nicht die Schwierigkeit,
+die in bezug auf diesen Satz stattfinden
+könnte.</p>
+
+<p>Die Assoziationen auf den besser beschaffenen
+oder besser gelegenen usw. Äckern würden doch
+zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt
+die Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr
+als ihren wirklichen Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt,
+haben.</p>
+
+<p>Allein schon daraus allein, daß einer in der
+Gesellschaft mehr hat als sein legitimes Arbeitsprodukt,
+folgt, daß ein andrer weniger haben muß,
+als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages,
+wie wir uns dieselbe übereinstimmend
+(vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen Briefes)<span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span>
+denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen
+würde.</p>
+
+<p>Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt
+(im Sinne der endgültigen Lösung der sozialen
+Frage, also im Sinne der &#8218;Idee&#8217;, die ich hier immer
+als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem
+&#8218;mehr oder weniger&#8217; unterstelle)? Ist es das
+Produkt, das ich ländlich oder industriell unter
+beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen
+kann, während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen
+mit derselben Arbeit mehr, ein Dritter
+unter noch ungünstigeren mit derselben Arbeit
+weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein
+Arbeitsprodukt wäre der Anteil an der gesamten
+gesellschaftlichen Produktivität, der bestimmt wird
+durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum
+zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft
+steht.</p>
+
+<p>Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes
+können Sie das unmöglich bestreiten.</p>
+
+<p>Und folglich haben, solange die Arbeiter der
+einen Assoziation Grundrente beziehen, die Arbeiter
+der andern, die nicht in diesem Fall sind,
+weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes
+Arbeitsprodukt.&#8221;</p>
+
+<p>Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier
+gar nicht mehr möglich. Die &#8222;Idee&#8221;, welche
+Lassalle bei dem &#8222;mehr oder weniger&#8221; unterstellt,
+ist die kommunistische, die das gesamte
+Arbeitsprodukt der Gesellschaft und nicht den<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span>
+individuellen Arbeitsertrag des einzelnen oder der
+Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich
+durchaus dessen bewußt, daß, solange der letztere
+den Verteilungsmaßstab bildet, ein Bruchteil
+der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise
+weniger erhalten werde als ihm
+auf Grund des von ihm verrichteten Anteils an
+der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter
+Verteilung, zukommen sollte, d.&nbsp;h. daß die Assoziationen
+zunächst eine neue Ungleichheit schaffen
+würden. Gerade mit Rücksicht darauf habe er,
+so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung
+seines Vorschlages das Wort &#8222;Lösung
+der sozialen Frage&#8221; sorgfältig vermieden &mdash; &#8222;nicht
+aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei,
+sondern aus jenen theoretischen Gründen&#8221;.</p>
+
+<p>Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt
+Lassalle, daß die Ungleichheit bei den ländlichen
+Assoziationen durch eine differenzierende Grundsteuer
+leicht beseitigt werden könne, welche &#8222;die
+ganze Grundrente abolieren, d.&nbsp;h. in die Hände
+des Staats bringen, den Arbeitern nur den wirklich
+gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen&#8221; soll &mdash; die
+Grundrente im Sinne Ricardos genommen<a name="FNAnker_27_27" id="FNAnker_27_27"></a><a href="#Fussnote_27_27" class="fnanchor">[27]</a>. Die
+Grundsteuer würde die Bezahlung bilden für die
+Überlassung der Bodenfläche an die assoziierten<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span>
+Arbeiter und &mdash; wie es bei Lassalle heißt &mdash; &#8222;schon
+aus Gerechtigkeit und Neid&#8221; von den
+ländlichen Assoziationen &#8222;leidenschaftlich begünstigt
+werden&#8221;. Der Staat aber hätte an dieser
+Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft,
+Kunst, öffentliche Ausgaben aller Art zu
+bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen
+solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen,
+daß sobald die Assoziationen jeder einzelnen
+Branche sich zu je einer großen Assoziation
+zusammengezogen haben, der private
+Zwischenhandel aufhören und der Verkauf in
+vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt
+werden würde. &#8222;Würde hiermit nicht zugleich
+getötet werden, was man heut Überproduktion
+und Handelskrise nennt?&#8221;</p>
+
+<p>Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung
+der Grundrente<a name="FNAnker_28_28" id="FNAnker_28_28"></a><a href="#Fussnote_28_28" class="fnanchor">[28]</a> ist ein durchaus
+rationeller, d.&nbsp;h. er enthält keinen Widerspruch
+in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens
+sehr wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen
+Stufe der Entwicklung irgendwie verwirklicht
+werden wird. Die Idee der Zusammenziehung
+der Assoziationen ist dagegen nur ein frommer
+Wunsch, der in Erfüllung gehen kann, aber nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span>
+notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht,
+solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen
+Assoziationen gestellt wird. Und selbst wenn sie
+in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus
+nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder
+der einzelnen Assoziation nicht in ihrem
+Anteil an deren Ertrage eine größere oder
+unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen
+Gesamtprodukts erhalten, als ihnen
+auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme.
+Es stände immer wieder Assoziationsinteresse
+gegen Gesamtinteresse.</p>
+
+<p>Hören wir noch einmal Rodbertus.</p>
+
+<p>Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August
+1872 nimmt er auf einen Artikel des &#8222;Neuen
+Sozialdemokrat&#8221; Bezug, wo ausgeführt war, daß
+Lassalle der &#8222;weitgehendsten Richtung des Sozialismus&#8221;
+angehört habe, und meint, das sei wohl
+richtig, es sei</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und
+der (Neue) &#8218;Sozialdemokrat&#8217; ursprünglich eine
+Produktivassoziation angestrebt haben, wie
+Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher
+der Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören
+sollte, nur daß Schulze-Delitzsch wollte, sie
+sollten sich das Kapital selbst dazu sparen, und
+Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige,
+sollte es ihnen liefern (ob leihen oder schenken,
+ist wohl nicht ganz klar). Aber eine Produktivassoziation,
+die den Kapitalgewinn einsackt,<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span>
+setzt ja das Kapitaleigentum, das &#8218;Gehören&#8217;
+voraus. Wie soll also jene &#8218;weitgehendste Richtung&#8217;
+mit einer solchen Assoziation vermittelt
+werden können?&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die
+Produktivassoziation als &#8222;provisorische Institution&#8221;
+gedacht werden könne, und fährt nach einigen
+allgemeinen Bemerkungen fort: &#8222;Genug, die Produktivassoziation,
+die Lassalle und der &#8218;Sozialdemokrat&#8217;
+in der Tat angestrebt, kann auch nicht
+einmal als Übergangszustand zu jenem &#8218;weitgehendsten&#8217;
+Ziele dienen, denn, der menschlichen
+Natur gemäß, würde er nicht zu allgemeiner
+Brüderlichkeit, sondern zu dem schärfsten Korporationseigentum
+zurückführen, in welchem nur
+die Personen der Besitzenden gewechselt hätten,
+und das sich tausendmal verhaßter machen würde,
+als das heutige individuale Eigentum. Der Durchgang
+von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum
+kann eben niemals das Korporations- oder
+auch Kollektiveigentum sein (es kommt ziemlich
+über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale
+Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum
+zum Staatseigentum. Und hierin liegt
+die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die
+Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel
+(das auch bei Lassalle noch kein praktisches Interesse
+erregen sollte) doch die Produktivassoziation
+mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum
+zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr
+hinter den Wagen gespannt worden, als von den<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span>
+Berliner Sozialdemokraten (und ihrem Führer
+Lassalle, insofern er ebenfalls jenes &#8218;weitgehendste&#8217;
+Ziel anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.&#8221;
+(Briefe usw. von Rodbertus-Jagetzow.)</p>
+
+<p>Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen
+lassen, weil er Lassalle vielleicht am objektivsten
+gegenüberstand und in seiner Auffassung vom
+Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle
+hatte, auch wohl niemand so eingehend mit Lassalle
+über die Produktivgenossenschaften diskutiert hat,
+wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich
+auch nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie
+von der &#8222;Lösung der sozialen Frage&#8221; hatte, nämlich
+den Normalwerksarbeitstag und den verhältnismäßigen
+Arbeitslohn. Aber den schwachen
+Punkt in der Lassalleschen Assoziation hat er
+in der Hauptsache richtig bezeichnet, wenn er
+sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen
+spannt. Lassalle wollte die Vergesellschaftung
+der Produktion und der Produktionsmittel, und
+weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem
+&#8222;Mob&#8221; &mdash; worunter er den ganzen Troß der
+Gedankenlosen aller Parteien verstand &mdash; bereits
+zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen
+schleudern wollte, stellte er das ihm ungefährlicher
+scheinende Postulat der Produktivgenossenschaft
+mit Staatskredit auf.</p>
+
+<p>Er beging damit denselben Fehler, den er in
+seinem Aufsatz über Franz von Sickingen als
+die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte,
+er &#8222;listete&#8221; mit der &#8222;Idee&#8221;, wie es in jenem<span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span>
+Aufsatz heißt, und täuschte die Freunde mehr,
+als die Feinde. Aber er tat es, wie Sickingen,
+im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt
+gegenüber Rodbertus erklärt hat, er sei bereit,
+auf die Assoziationen zu verzichten, sobald jener
+ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel
+zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus
+nicht den Schluß ziehen, daß Lassalle nicht von
+der Güte seines Mittels durchaus überzeugt war.
+Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und
+kann sie um so eher abgeben, je mehr er seiner
+Sache sicher zu sein glaubt. Und wie sehr dies
+bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung
+in bezug auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber:
+&#8222;Kurz, ich begreife nicht, wie man nicht
+sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat
+ausgehend, der organische Entwicklungskeim ist,
+der zu allem weiteren führt.&#8221; &mdash; Er ist also unbedingt
+von dem Vorwurf freizusprechen, mit
+dieser Forderung den Arbeitern etwas empfohlen
+zu haben, von dessen Richtigkeit er nicht durchdrungen
+war, ein Vorwurf, der viel schwerwiegender
+wäre, als der eines theoretischen Irrtums.</p>
+
+<p>Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen
+mit Staatskredit der Zweck, dem diese
+dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der
+sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen
+Grundzügen bereits enthalten, daß hier in der
+Tat &mdash; worauf er so großes Gewicht legte &mdash; &#8222;das
+Mittel von der eignen Natur des Zweckes
+ganz und gar durchdrungen&#8221; sei. Nun ist ja auch<span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span>
+tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück
+Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der
+Gemeinschaftlichkeit, und die Forderung der
+Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die
+Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen
+Befreiung der Arbeiterklasse in Anspruch zu
+nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den Zusammenhang
+mit dem großen Ganzen, der bei der
+Schulzeschen Assoziation verlorenging, möglichst
+zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht
+nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr
+die Einheitlichkeit des Gedankens bei ihm
+im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen,
+welche Auffassung er vom Staat hatte,
+wie dieser für ihn nicht der jeweilige politische
+Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände
+war, sondern die Verwirklichung eines ethischen
+Begriffs, der durch jeweilige historische Einflüsse
+zwar beeinträchtigt, dessen ewige &#8222;wahre Natur&#8221;
+aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher
+Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der
+Forderung der Staatshilfe mehr als eine bloße
+praktische Maßregel zu erblicken und ihr, wie
+Lassalle dies getan, als einem fundamentalen
+Prinzip des Sozialismus, eine selbständige prinzipielle
+Bedeutung zuzuschreiben<a name="FNAnker_29_29" id="FNAnker_29_29"></a><a href="#Fussnote_29_29" class="fnanchor">[29]</a>. Und ebenso<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span>
+steht die Forderung der Produktivgenossenschaften
+in engster Ideenverbindung mit Lassalles
+Theorie des ehernen Lohngesetzes. Sie fußt auf
+denselben ökonomischen Voraussetzungen. Kurz,
+es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß.</p>
+
+<p>Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an
+die Richtigkeit seines Mittels glaubte, um es zu
+rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so unbestimmt
+wie nur möglich äußerte. Er, der in
+dem schon zitierten Aufsatz über den &#8222;Franz
+von Sickingen&#8221; so trefflich dargelegt hatte, welche
+Gefahr darin liegt, &#8222;die wahren und letzten
+Zwecke der Bewegung andern (&#8218;und beiläufig
+eben dadurch häufig sogar sich selbst&#8217;) geheim
+zu halten&#8221;, der in diesem Geheimhalten bei
+Sickingen dessen &#8222;sittliche Schuld&#8221; erblickt hatte,
+die seinen Untergang herbeiführen mußte, den
+Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht
+der von ihm vertretenen Idee, ein &#8222;Abweichen
+von seinem Prinzip&#8221;, ein &#8222;halbes Gebrochensein&#8221;
+&mdash; er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen
+dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt
+auf den wirklichen Zweck zuzuspitzen. Die Entschuldigung,
+daß man diesen Zweck dem &#8222;Mob&#8221;
+noch nicht sagen durfte, oder daß die Massen
+für ihn noch nicht zu gewinnen waren, trifft nicht
+zu. Waren die Massen für das wirkliche Ziel der<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span>
+Bewegung noch nicht zu interessieren, so war
+diese überhaupt verfrüht und dann konnte auch das
+Mittel, selbst wenn erlangt, nicht zum Ziele führen.
+In den Händen einer Arbeiterschaft, die ihre weltgeschichtliche
+Mission noch nicht zu begreifen
+vermag, konnte das allgemeine Wahlrecht mehr
+schaden als nützen und mußten die Produktivgenossenschaften
+mit Staatskredit nur der bestehenden
+Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer
+liefern. War aber die Arbeiterschaft
+entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu
+begreifen, dann mußte dieses auch offen ausgesprochen
+werden. Es brauchte damit noch nicht
+als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes
+Ziel hingestellt zu werden, aber nicht nur der
+Führer, sondern auch jeder der Geführten mußte
+wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß
+es nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die
+Masse wäre dadurch nicht mehr vor den Kopf
+gestoßen worden, als es durch den Kampf um
+das Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst
+darauf hin, wie fein der Instinkt der herrschenden
+Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz
+handelt. &#8222;Individuen,&#8221; sagt er in dieser Beziehung
+mit Recht, &#8222;sind zu täuschen, Klassen niemals.&#8221;</p>
+
+<p>Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär
+erscheint, der sei auf die Geschichte der
+Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen.
+Und damit will ich zum Schluß auf dieses Thema
+übergehen.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Gruendung_und_Fuehrung" id="Gruendung_und_Fuehrung">Gründung und Führung
+des Allgemeinen Deutschen
+Arbeitervereins.</a></h2>
+
+
+<p>Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation
+können hier nicht dargestellt werden, soll diese
+Schrift nicht den Umfang eines ganzen Werkes
+annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken,
+vorderhand nur die allgemeinen Züge
+der Bewegung hervorzuheben.</p>
+
+<p>Das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221; hatte zunächst
+nur zum Teil die Wirkung, die Lassalle sich von
+ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy
+in Düsseldorf und andere schreiben: &#8222;Das Ganze
+liest sich mit solcher Leichtigkeit, daß es dem
+Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon
+jahrelang!&#8221; Die Schrift war wirklich ein agitatorisches
+Meisterwerk, sachlich und doch nicht
+trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu verfallen,
+voller Wärme und zugleich mit scharfer
+Logik geschrieben. Aber &mdash; die Arbeiter lasen
+sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden
+bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen
+der Arbeiterschaft ein. Dies war der Fall, wie
+wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen in
+Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M., in einigen größeren Städten und
+Industrieorten am Rhein und in Hamburg. Teils
+hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge eine
+sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils
+lebten, wie namentlich am Rhein, die Traditionen
+der sozialistischen Propaganda aus der Zeit vor<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span>
+und während der 1848 er Revolution wieder auf.
+Aber das Gros der Arbeiter, die an der politischen
+Bewegung teilnahmen, blieb auf längere Zeit
+hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt
+und betrachtete Lassalle mit denselben Augen
+wie die meisten Führer der Fortschrittspartei &mdash; als
+einen Handlanger der Reaktion.</p>
+
+<p>Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen
+und außerhalb Preußens anbetrifft, so hatte bei
+dieser allerdings das &#8222;Antwortschreiben&#8221; einen
+wahren Sturm erregt &mdash; nämlich einen wahren
+Sturm der Entrüstung, der leidenschaftlichen Erbitterung.
+Sie waren sich so groß vorgekommen,
+so erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der
+bedrohten Volksrechte, und nun wurde ihnen
+plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen
+Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens,
+das ihnen das Volk bisher entgegengebracht,
+unwürdig erwiesen hätten und daß daher
+jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine,
+insbesondere jeder Arbeiter, ihnen den Rücken
+zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung verträgt
+keine kämpfende Partei, am allerwenigsten,
+wenn sie sich in einer Situation befindet, wie
+damals die Fortschrittspartei. Die Feindseligkeiten
+zwischen ihr und der preußischen Regierung
+hatten allmählich einen Höhegrad erreicht, daß
+eine gewaltsame Lösung des Konfliktes fast unvermeidlich
+schien, jedenfalls mußte man sich auf
+das Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen
+der Regierungsorgane, daß die Fortschrittspartei<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span>
+gar nicht das wirkliche Volk hinter sich
+habe, hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten
+können, das Volk, das politisch denke,
+stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht
+hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt.
+Denn wenn die Fortschrittler auch keine große
+Lust hatten, Revolution zu machen, an Drohungen
+mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen<a name="FNAnker_30_30" id="FNAnker_30_30"></a><a href="#Fussnote_30_30" class="fnanchor">[30]</a>.</p>
+
+<p>Und gerade in einem solchen Augenblick sollte
+man sich von einem Manne, der als Demokrat,
+als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen
+lassen, man habe die Sache des Volkes preisgegeben,
+ruhig mitansehen, wie dieser Mensch
+die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich
+zu scharen suchte? Das hieß ihnen Unmenschliches
+zumuten.</p>
+
+<p>Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern
+ihr Möglichstes zu versuchen, die<span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span>
+Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu lassen,
+und die nachträgliche Kritik hat es daher nur
+mit dem Wie dieser Gegenwehr zu tun, nicht
+mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist,
+um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten.
+Die Art der Gegenwehr nun kann kaum anders
+bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich.
+Daß die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger
+der Reaktion hinstellten, ist eigentlich noch
+das geringste, was ihnen zum Vorwurf gemacht
+werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal
+nicht bestreiten, daß Lassalles &#8222;Antwortschreiben&#8221;
+zunächst Wasser auf die Mühle der preußischen
+Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu
+beschränken, Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten,
+in denen sie eine starke Position,
+oder, wie die Engländer es nennen, &#8222;einen starken
+Fall&#8221; ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf
+diejenigen seiner Angriffe an, die sie bei ihrer
+schwachen Seite trafen, und entwickelten dabei
+eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit
+hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht
+zugleich mit einer so riesigen Dosis von Selbstüberhebung
+gepaart gewesen wäre. Lassalles einseitiger
+Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte
+getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen
+Aufgaben des Staats gegenüber, seinem,
+wie wir gesehen haben, auf zum Teil unrichtigen
+Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz
+die platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen
+Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span>
+Wut vergaßen sie so sehr alle Wirklichkeit, alles,
+was sie selbst früher in bezug auf die nachteiligen
+Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben
+hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit
+ihrer Behauptungen selbst die Übertreibungen
+Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen
+Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch
+und Genossen über Nacht zu dessen
+Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten
+Abschnitt dieser Schrift (S.&nbsp;18&nbsp;ff.) gegebenen
+Auszüge aus der 1858 erschienenen Schrift des
+ersteren mit den Ausführungen Schulzes in seinem
+&#8222;Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus&#8221;
+&mdash; eine Zusammenstellung von sechs Vorträgen,
+die letzten davon bestimmt, Lassalle vor
+den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten.
+Während dort es als eine der schönsten Wirkungen
+der selbsthilflerischen Assoziationen bezeichnet
+wurde, daß sie den Unternehmergewinn herunterdrücken
+hülfen, heißt es hier, daß &#8222;die Wissenschaft
+ein solches Ding wie Unternehmergewinn&#8221;
+gar nicht kenne und also auch natürlich keinen
+Gegensatz zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn.
+Sie kenne nur &#8222;a) Unternehmerlohn und
+b) Kapitalgewinn&#8221; (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel
+S.&nbsp;153). Gegenüber solcher &#8222;Wissenschaft&#8221;
+brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu sein,
+um mit ihr fertig zu werden.</p>
+
+<p>Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz
+seiner packenden Rhetorik hatte Lassalle doch
+den Fortschrittlern gegenüber nicht den Erfolg,<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span>
+auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung
+des &#8222;Offenen Antwortschreibens&#8221; gleich der der
+von Luther an die Wittenberger Schloßkirche genagelten
+Thesen &mdash; wie sie Lassalle sich laut
+dem bereits erwähnten Schreiben an seinen Freund
+Levy versprach &mdash; konnte zunächst auch nicht
+entfernt die Rede sein. Am 19.&nbsp;Mai&nbsp;1863 hatte
+Lassalle in Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M., nachdem er zwei
+Tage vorher auf dem dort abgehaltenen &#8222;Arbeitertag
+des Maingaues&#8221; eine vierstündige Rede gehalten,
+in einer zum Abschluß derselben anberaumten
+Volksversammlung die Annahme einer Resolution
+durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden
+verpflichteten, für das Zustandekommen eines
+allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne
+Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward
+alsdann in Leipzig, in Anwesenheit von Delegierten
+aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln,
+Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen,
+Leipzig, Dresden und Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M.), der
+&#8222;Allgemeine Deutsche Arbeiterverein&#8221; gegründet,
+auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein
+mit dem ihm befreundeten demokratischen Fortschrittsabgeordneten
+Ziegler ausgearbeitet hatte.
+Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine
+streng zentralistische, was sich zum Teil durch
+die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch
+den Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an
+die Gründung eines allgemeinen Arbeiterversicherungsverbandes
+gedacht worden war. Der Plan
+war fallen gelassen worden, aber Lassalle behielt<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span>
+trotzdem die Bestimmungen der Statuten bei, die
+sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich
+die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen
+Vollmachten für die Person des Präsidenten,
+der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar
+sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf
+dieser ersten konstituierenden Versammlung Anzeichen
+einer Opposition gegen solche Präsidialgewalt
+bemerkbar, aber sie konnte gegenüber
+Lassalles ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte
+Annahme der Statuten nicht durchdringen.
+Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg)
+wurde Lassalle zum Präsidenten erwählt, und
+nachdem man ihm noch die Befugnis zugestanden,
+so oft und auf so lange als er wollte, einen Vizepräsidenten
+zu ernennen, nahm er nach einigem
+Zaudern die Wahl an. Er war somit anerkannter
+Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber
+blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe
+Anhängerschaft beschränkt. Drei Monate
+nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des
+Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900.
+An sich wäre das ein gar nicht zu verachtender
+Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz
+andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der
+Leiter einer Propagandagesellschaft, sondern der
+Führer einer Massenbewegung sein. Die Massen
+aber blieben der neuen Organisation fern.</p>
+
+<p>Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft,
+er konnte zeitweise eine wahrhafte Riesenarbeit
+leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span>
+war das stetige, solide, ausdauernde Schaffen.
+Der Verein war noch nicht sechs Wochen alt, da
+trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige
+Erholungsreise an &mdash; zunächst in die Schweiz,
+dann an die Nordsee. Freilich blieb Lassalle auch
+unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine rege
+Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für
+den Verein zu gewinnen, wobei er übrigens nicht
+sehr wählerisch vorging, aber gerade das, worauf
+es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ
+er ruhen. Ferner sorgte er unbegreiflicherweise
+nicht einmal dafür, daß der Verein wenigstens
+ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte,
+obwohl es ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte.
+Er begnügte sich mit gelegentlichen Subventionen
+an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten
+Freischärler Bruhn herausgegebene &#8222;Nordstern&#8221;
+und den in Leipzig von einem Eigenbrödler,
+Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene &#8222;Zeitgeist&#8221;,
+womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten
+wurden, ohne jedoch deshalb aufzuhören beständig
+zwischen Leben und Sterben zu schweben.</p>
+
+<p>Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch
+die meisten der vorgeschrittenen Demokraten und
+Sozialisten aus den bürgerlichen Kreisen, an die
+sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte,
+dem Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute
+war, wie bereits erwähnt, stark verphilistert oder
+doch auf dem besten Wege zum Philisterium,
+andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches
+Mißtrauen gegen Lassalle davon abgehalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span>
+sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder andere
+hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die
+Fortschrittspartei von links her zu attackieren. Und
+selbst diejenigen, die dem Verein beitraten, ließen
+es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden
+und verhielten sich im übrigen durchaus
+passiv. Dafür agitierten zwar andere Mitglieder
+des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse
+hervorgegangenen, um so eifriger, und der
+Sekretär des Vereins, Jul. Vahlteich, entwickelte
+eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für
+den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen
+durchaus nicht den Anstrengungen. Auf
+der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit
+der unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der
+andern die das Interesse des Augenblicks absorbierende
+nationale Bewegung in Verbindung mit
+dem Verfassungskampf in Preußen als ein fast
+unübersteigbares Hindernis, so daß an verschiedenen
+Orten die Mitglieder des Vereins bereits
+lebhaft die Frage diskutierten, ob man nicht durch
+Anziehungsmittel unpolitischer Natur, Gründung
+von Unterstützungskassen usw., das Werbegeschäft
+fördern solle.</p>
+
+<p>Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt,
+auf die Diskussion dieser Frage einzugehen &mdash;
+vgl. seinen Brief vom 29.&nbsp;August&nbsp;1863 an den
+Vereinssekretär (zitiert bei B.&nbsp;Becker, Geschichte
+der Arbeiteragitation usw. S.&nbsp;83) &mdash;, er kam aber
+wieder davon ab, weil er einsah, daß der Verein
+damit notwendigerweise seinen Charakter ändern<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span>
+mußte. Er würde aufgehört haben, eine jederzeit
+disponible politische Maschine abzugeben, und nur
+als eine solche hatte er in den Augen Lassalles
+Wert.</p>
+
+<p>Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken
+einer Rede, mit der er bei seiner Rückkehr
+die Agitation wieder aufnehmen wollte, und
+zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm
+am günstigsten erwiesen hatte. Es ist dies die
+Rede &#8222;Die Feste, die Presse und der Frankfurter
+Abgeordnetentag&#8221;.</p>
+
+<p>Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom
+20. bis 29.&nbsp;September&nbsp;1863 in Barmen, Solingen
+und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt
+in seiner Agitation. Welche Einflüsse während
+der Sommermonate auf ihn eingewirkt hatten, wird
+wohl kaum festgestellt werden können, indes wird
+man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin
+Hatzfeldt und ihre Verbindungen schließt. Die
+Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein noch
+größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben
+zu sehen, als dieser selbst; für sie ging
+das Interesse am Sozialismus vollständig auf im
+Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung
+sie überhaupt erst zum Sozialismus gekommen
+war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre
+große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie
+ihm zu Schritten riet, die wohl versprachen, seinem
+persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu verschaffen,
+die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade
+kompromittieren konnten. Für sie war eben die<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span>
+Bewegung Lassalle und Lassalle die Bewegung,
+sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille
+der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche
+uneigennützigen Freunde sind indessen in der
+Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie
+aber obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung
+usw. in besonderen Klassenvorurteilen befangen
+und haben sie keinen eigenen selbständigen
+Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen
+schlimmer als Gift. Sie bestärken den Gegenstand
+ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und
+Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit,
+indem sie ihn auf jedes Unrecht aufmerksam
+machen, das ihm scheinbar geschehen;
+mehr als der Beleidigte selbst verzehren sie sich
+im Durst nach Rache für dieses Unrecht, sie
+hetzen und schüren und intrigieren &mdash; alles in
+bester Absicht, aber zum größten Schaden dessen,
+für den es vermeintlich geschieht.</p>
+
+<p>Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite
+Frau, die Lassalle, so sehr sie ihm an Wissen
+und Energie nachstand, doch in bezug auf Erfahrung
+überlegen war. Wo seine Leidenschaft
+nicht im Wege stand, gab er viel auf ihren Rat;
+er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen
+Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am
+Schluß seiner Laufbahn geschriebenen Briefe an
+die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die
+Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die
+ihn zur Annahme des Präsidiums des Allgemeinen
+Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe. Das<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span>
+ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle
+hätte wohl auch ohne die Gräfin das Präsidium
+angenommen. Aber in solchen Situationen läßt
+man sich besonders gern durch gute Freunde zu
+dem bestimmen, was man selbst möchte, weil es
+die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. Die
+Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt
+haben, und es liegt der Schluß mehr als
+nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge
+getan haben wird, die sich in den oberen Regionen
+Preußens damals vorbereiteten. Es sei nur an
+die Erklärung Lassalles in seiner Verteidigungsrede
+im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon
+vom ersten Tage, wo er seine Agitation begann,
+gewußt habe, daß Bismarck das allgemeine Wahlrecht
+oktroyieren werde, und an die weitere
+Erklärung, daß, als er das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221;
+erließ, ihm &#8222;klar&#8221; war, daß &#8222;große
+auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte,
+welche es unmöglich machen, das Volk zu ignorieren&#8221;.
+Er stellt es zwar dort so hin, als ob
+dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse
+mit sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen
+an Marx haben wir aber gesehen, wie sehr er
+sich bei seinen politischen Schritten durch die
+&#8222;Informationen&#8221; beeinflussen ließ, die ihm aus
+&#8222;diplomatischen Quellen&#8221; über die Vorgänge in
+Regierungskreisen zugingen.</p>
+
+<p>Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum
+des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
+sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span>
+Lassalle selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang
+auf die Mittel der Intrige und stillen Diplomatie
+abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf
+verfallen, hinten herum das zu erreichen, was
+auf dem Wege des offenen Kampfes sich als
+so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben
+fand sie an Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er
+sich einmal als Ziel gesetzt, um jeden Preis zu
+erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament
+und seinem hochgradigen Selbstgefühl nur
+zu bereitwillige Unterstützung. Inwieweit damals
+schon die Fäden angeknüpft waren, die später
+Lassalle ins Palais des Herrn von Bismarck führten,
+läßt sich heute nicht mehr feststellen, aber
+sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die
+Rede &#8222;Die Feste, die Presse usw.&#8221; für den Druck
+niederschrieb, an seinen Freund Levy richtete:
+&#8222;Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein
+paar Leute in Berlin,&#8221; als auch vor allem der
+Inhalt der Rede selbst beweisen, daß an diesen
+Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die
+Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei,
+die teilweise sehr übertrieben sind,
+während dagegen dem Minister Bismarck unumwunden
+geschmeichelt wird. Hatten bis dahin
+stets der Demokrat und der Sozialist in Lassalle
+die demagogische Ader in ihm gemeistert, so
+meistert hier der Demagoge die ersteren.</p>
+
+<p>Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung,
+nachdem sie den Landtag nach Hause geschickt,
+die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span>
+die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger
+zweimaliger Verwarnung das fernere Erscheinen
+irgendeiner inländischen Zeitung oder
+Zeitschrift &#8222;wegen fortdauernder, die öffentliche
+Wohlfahrt gefährdender Haltung zeitweise oder
+dauernd&#8221; zu verbieten. Die liberale Presse, ausschließlich
+in den Händen von Privatunternehmern,
+hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der
+Dauer der Preßordonnanzen überhaupt nichts
+mehr über die innere Politik zu schreiben. Das
+war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es
+war auch nicht so schlimmer Verrat an der eigenen
+Sache als wie Lassalle es hinstellt. Lassalle
+übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht
+beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen
+war, die ihm verhaßten Blätter der Opposition
+geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene oder
+eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen.
+In der Begründung der Preßordonnanz hatte es
+ausdrücklich geheißen:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse
+derselben (d.&nbsp;h. der liberalen Presse)
+vermittelst der konservativen Presse kann schon
+deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise
+haben, weil die meisten der oppositionellen
+Organe durch eine langjährige Gewöhnung
+des Publikums und durch die industrielle
+Seite der betreffenden Unternehmungen eine
+Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu
+bekämpfen ist.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span></p>
+
+<p>Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf
+ankommen ließen, verboten zu werden, so erhielt
+die Regierung auch keine Möglichkeit, andere
+Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder
+jenen die Annoncen abspenstig zu machen. Der
+eine Zweck der Maßregel wurde also gerade
+durch dies zeitweilige Schweigen über die innere
+Politik vereitelt. Nicht minder aber auch der
+zweite, direkt politische Zweck. Lassalle meint
+in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich
+hätte verbieten lassen, wenn der Spießbürger nicht
+mehr beim Frühstück seine gewohnte Zeitung bekommen
+hätte, dann würde die Erbitterung über
+die Preßordonnanzen im Volke aufs höchste gesteigert
+worden sein und die Regierung sich gezwungen
+gesehen haben, nachzugeben. Indes, die
+Erbitterung war nicht minder groß, wenn der
+Spießer zwar seine gewohnte Zeitung forterhielt,
+aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben
+vordemonstriert wurde, daß seinem Organ
+ein Knebel angelegt war, wenn er zwar sein Blatt,
+aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.</p>
+
+<p>Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel,
+die nicht aufrechtzuerhalten war, sobald der Landtag
+wieder zusammentrat. Es handelte sich um
+ein Provisorium, und die liberalen Blätter hatten
+gar keine Ursache, während desselben, Bismarck
+zuliebe &mdash; wie Lassalle es ausdrückt &mdash; &#8222;mit
+Ehren zu sterben&#8221;.</p>
+
+<p>Die Wut der Regierung war denn auch eine
+nicht geringe, und ihre Organe spiegelten diese<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span>
+Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle
+drückt das so aus, daß er sagt: &#8222;Selbst (!) die
+reaktionären Blätter wußten damals ihrem Erstaunen
+und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren
+kaum hinreichenden Ausdruck zu geben.&#8221;
+Und er zitiert als Beweis die &#8222;Berliner Revue&#8221;,
+das Organ des reaktionärsten Muckertums.</p>
+
+<p>Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte,
+ihren Angriffen auf die liberale Presse ein sozialistisches
+Mäntelchen umzuhängen, sich zu gebärden,
+als ob sie ihres kapitalistischen Charakters
+halber angriffen. Statt jedoch gegen diese Fälschung
+des sozialistischen Gedankens zu protestieren
+und jede Solidarität mit ihren Urhebern
+zurückzuweisen, leistete Lassalle dem Spiel der
+Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre Blechmünzen
+den Arbeitern als echtes Gold ausgab.</p>
+
+<p>Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute
+ein Geldgeschäft ist, ein großer Übelstand, ein
+mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen
+Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das
+kapitalistische Privateigentum besteht, schwerlich
+abzuhelfen, &mdash; am allerwenigsten durch beschränkende
+Gesetze des selbst noch kapitalistisch
+geleiteten Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen
+werden kann, wird sie durch die Freiheit
+der Presse ermöglicht. Davon aber wollte
+die preußische Regierung nichts wissen, und
+Lassalle unterstützte ihren Widerstand noch, indem
+er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber
+zugleich erklärte, daß diese ohnmächtig sein<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span>
+würde, das Wesen der Presse umzuwandeln, wenn
+nicht zugleich der Presse das Recht entzogen
+würde, Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde
+die Presse nämlich aufhören, eine lukrative Geldspekulation
+zu sein, und würden wieder nur solche
+Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl
+und das geistige Interesse des Volkes kämpfen.</p>
+
+<p>Braucht es noch eines besonderen Nachweises,
+wie absolut wirkungslos dieses Mittel wäre?
+Lassalle hätte nur seine Blicke über den Grenzbereich
+des preußischen Staates hinaus nach England
+und Frankreich zu richten brauchen, um sich
+von der Verkehrtheit seiner Idee zu überzeugen.
+In England bildete und bildet heute noch das
+Annoncenwesen eine sehr wesentliche Einnahmequelle
+der Presse, während in Frankreich den
+Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht
+direkt verboten, aber durch eine hohe Steuer fast
+unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert
+war. War deshalb die französische Presse besser
+als die englische? Weniger im Dienst des Kapitalismus,
+weniger korrumpiert als jene? Mit
+nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte
+es im Gegenteil dem Bonapartismus sehr wesentlich
+erleichtert, die Presse für seine Zwecke zu
+korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische
+Presse Frankreichs nicht verhindert, der
+hohen Finanz in viel höherem Grade dienstbar
+zu sein, als es die politische Presse Englands war.</p>
+
+<p>Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil
+seiner Rede wenigstens eine Frage, die in der<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span>
+Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen
+Lebens bezeichnet werden muß. War der
+Zeitpunkt auch schlecht gewählt, war das Heilmittel
+auch von problematischem Wert, an und
+für sich bleibt die Tatsache, daß die Presse, ob
+mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein kapitalistisches
+Institut wird, ein Krebsschaden, auf
+den die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt
+werden muß, soll sie sich vom Einfluß der
+Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend
+aber war, was Lassalle über die Feste
+sagt, welche die Fortschrittler 1863 Bismarck
+zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß
+die Feste weiter nichts waren, als Agitationsversammlungen,
+als Demonstrationen gegen die
+Regierung, wie sie in Frankreich und England
+unter ähnlichen Verhältnissen auch veranstaltet
+worden waren. Wollte er sie kritisieren, so mußte
+er hervorheben, daß mit den Festen allein noch
+nichts getan war, daß, wenn es bei ihnen blieb,
+die Sache des Volks gegen die Regierung um
+keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte
+er sich darauf, die Redensarten der
+Regierungspresse über die Feste zu wiederholen,
+den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen
+suchte, noch zu überbieten. Niemand,
+der die Geschichte der preußischen Verfassungskämpfe
+des Jahres 1863 genauer kennt, wird
+diese Stelle der Lassalleschen Rede lesen können,
+ohne sie zu mißbilligen.</p>
+
+<p>Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im<span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span>
+Sommer 1863 zu Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M. zusammengetretenen
+Deutschen Abgeordnetentages, wäre
+berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in
+demselben Augenblick, wo er den Fortschrittlern
+einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den
+deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von
+Bismarck bangezumachen &mdash; wir haben gesehen,
+wie er ihnen im &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221;
+das &#8222;Dogma von der preußischen Spitze&#8221; vorgeworfen
+und Preußen als den reaktionärsten
+der deutschen Staaten hingestellt hatte &mdash; wenn
+Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits
+ein gleiches Spiel getrieben hätte, wie die Fortschrittler,
+nur daß er nach der andern Seite hin
+liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe
+gegen Bismarck und die preußische Regierung,
+wohl aber eine ganze Reihe direkter und indirekter
+Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie
+&#8222;mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung&#8221;
+über die Beschlüsse der Kammer hinweggehen,
+und er stellt Bismarck das Zeugnis
+aus, er sei &#8222;ein Mann&#8221;, während die Fortschrittler
+alte Weiber seien. Noch ein Passus der Rede
+zeugt von der veränderten Frontrichtung Lassalles.</p>
+
+<p>Der Führer des Nationalvereins, Herr von
+Bennigsen, hatte den Abgeordnetentag mit folgenden
+Worten geschlossen, und es ist ganz gut,
+wieder einmal daran zu erinnern: &#8222;Die Leidenschaft
+der Volkspartei und die Verstocktheit der
+Regierenden habe schon oft zu revolutionären
+Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span>
+sei nicht bloß einmütig, sondern auch so gemäßigt
+bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche nationale
+Partei, die keine Revolution wolle und keine
+machen kann, keine Verantwortung dafür habe,
+wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, welche,
+weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung
+greife.&#8221;</p>
+
+<p>Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung
+eine zwar recht lendenlahme Drohung, aber doch
+eine Drohung mit der Revolution. &#8222;Wir wollen
+keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen
+unsere Hände in Unschuld, aber wenn ihr nicht
+nachgebt, dann wird sie doch kommen, und dann
+habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.&#8221; Eine,
+wenn man wirklich die ganze Nation hinter sich
+hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider zugleich
+auch sehr gebräuchliche Art zu drohen &mdash; so
+gebräuchlich, daß, wie gesagt, über den Sinn
+der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich
+war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als
+ob er die Drohung nicht verstanden habe, und
+er stellt sich so, nicht etwa, um die Fortschrittler
+zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern,
+sondern um ihnen zu drohen für den Fall, daß
+es zu einer Revolution oder einem Staatsstreich
+kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch
+des Herrn von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende
+Pronunziamento folgen: &#8222;Erheben wir
+also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn
+jemals dieser Umschwung, sei es auf diesem,
+sei es auf jenem Wege käme, es den Fortschrittlern<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span>
+und Nationalvereinlern gedenken zu
+wollen, daß sie bis zum letzten Augenblicke erklärt
+haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet
+euch dazu, hebt eure Hände empor.&#8221;</p>
+
+<p>Und &#8222;die ganze Versammlung erhebt in großer
+Aufregung ihre Hände&#8221;, heißt es in dem, von
+Lassalle selbst redigierten Bericht über die Rede.</p>
+
+<p>Was sollte diese Drohung, dieses &#8222;Gedenken&#8221;
+bedeuten? Es war kaum eine andre Auslegung
+möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn
+nicht direkt angreifen, so doch im Stich lassen
+wollte, wenn es &#8222;auf diesem oder jenem Wege&#8221;
+zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte.
+Eine solche Drohung in diesem Moment konnte
+aber nur die eine Wirkung haben, die Fortschrittler,
+statt sie vorwärtszutreiben, erst recht
+kopfscheu zu machen.</p>
+
+<p>In einer der Versammlungen, in Solingen, kam
+es zu blutigen Konflikten. Eine Anzahl Fortschrittler,
+die versucht hatten, Lassalle zu unterbrechen,
+wurden von exaltierten Anhängern desselben
+mit Messerstichen bedacht. Auf Grund
+dieser Vorkommnisse löste der Bürgermeister eine
+halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf
+Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das
+andere ausbringenden Menge zum Telegraphenbureau
+eilte und das bekannte Telegramm an
+Bismarck aufgab, das mit den Worten beginnt:
+&#8222;Fortschrittlicher Bürgermeister hat soeben an
+der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten
+Gendarmen und mehreren Polizisten<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span>
+mit gezogenem Säbel von mir einberufene Arbeiterversammlung
+ohne jeden gesetzlichen Grund
+aufgelöst&#8221;, und mit der &#8222;Bitte um strengste,
+schleunigste, gesetzliche Genugtuung&#8221; schloß.</p>
+
+<p>Auch wenn man alles in Betracht zieht, was
+zu Lassalles Entschuldigung angeführt werden
+kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten
+der Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine
+Enttäuschung über die verhältnismäßig geringen
+Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen Widerwillen
+gegen die feige Taktik der Fortschrittler,
+seine einseitige, aber doch aufrichtige Gegnerschaft
+gegen die liberale Wirtschaftslehre &mdash; kurz,
+wenn man sich noch so sehr in seine damalige
+Lage hineindenkt, so geht doch aus diesem Telegramm,
+in Verbindung mit der vorstehend geschilderten
+Rede, eines unbestreitbar hervor &mdash;
+daß Lassalle, als er nach Deutschland zurückkam,
+bereits seinen inneren Halt &mdash; wenn ich mich
+so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren
+hatte. Ein solches Telegramm hätte man keinem
+Konservativen verziehen, geschweige denn einem
+Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt,
+und der seiner inneren Überzeugung nach
+sicherlich sich noch für einen solchen hielt. Wenn
+nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste
+Taktgefühl Lassalle verbieten müssen, sich zu
+einem Appell an die Staatsgewalt herbeizulassen,
+der mit einer politischen Denunziation begann.</p>
+
+<p>Und wenn man selbst dieses Telegramm noch
+mit der durch die Auflösung der Versammlung<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span>
+hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte,
+so folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung
+unternommene Schritte, die ebenfalls den
+politischen Grundsätzen, als deren Vertreter
+Lassalle auftrat, schnurstracks entgegenstanden.
+Hier nur ein Beispiel, das zudem in enger Verbindung
+mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht.</p>
+
+<p>Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung
+vom Messer Gebrauch gemacht haben sollten,
+waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen
+verurteilt worden. Und da war es
+Lassalle, der allen Ernstes und wiederholt den
+Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, unterstützt
+durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein
+Gnadengesuch an den König von Preußen richten.
+Man denke, Lassalle, der noch einige Jahre zuvor
+geschrieben hatte (vgl.&nbsp;S.&nbsp;88 dieser Schrift), er
+habe zu seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen,
+&#8222;wie wenig entmonarchisiert&#8221; das Volk in Preußen
+sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen
+hatte: &#8222;Ich habe keine Lust und keinen
+Beruf, zu andern zu sprechen, als zu Demokraten&#8221;,
+er, der als Führer der neuen Bewegung
+doch vor allem die Pflicht hatte, seinen Anhängern
+das Beispiel demokratischen Stolzes zu
+geben, ermuntert sie, vom König von Preußen
+Begnadigung zu erbetteln. Indes, die Arbeiter
+zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am
+20. April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte
+Klings, daß gegen Lassalles Vorschlag allgemeine<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span>
+Abneigung herrsche. Sämtliche Hauptmitglieder
+des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen.
+&#8222;Die beiden von hier Verurteilten
+gehören zu der entschiedensten Arbeiterpartei und
+würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht
+zu bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen,
+weil es ihren Gesinnungen widerstreitet, Sr. Majestät
+verpflichtet zu sein.&#8221;</p>
+
+<p>Dieser Widerstand erweckte das demokratische
+Gewissen Lassalles, und er schrieb an Klings,
+die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem
+Stolz. Aber den Gedanken der Adresse an den
+König gab er noch immer nicht auf, sondern suchte
+nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch
+der Verurteilten von großem Nutzen sein
+könne. Es kann, heißt es wörtlich, &#8222;vielleicht
+auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn
+die Adresse von mehreren tausend Arbeitern
+unterschrieben ist, man diesem Schritte oben
+eine &mdash; für uns ganz unverbindliche &mdash; Auslegung
+gibt, durch welche man sich um so mehr
+ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an
+die Oktroyierung des allgemeinen und direkten
+Wahlrechts zu gehen: ein Schritt, den man, wie
+Ihnen der beigefügte Leitartikel der ministeriellen
+Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung)
+zeigt, oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt&#8221;.
+Indes auch diese Perspektive vermochte
+die Solinger nicht von der Richtigkeit des empfohlenen
+Schrittes zu überzeugen, und so blieb
+der Bewegung diese Bloßstellung erspart.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span></p>
+
+<p>Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin
+zurückkehrte, ging er zunächst mit allem Eifer
+daran, die Hauptstadt für seine Sache zu erobern.
+Er verfaßte einen Aufruf &#8222;An die Arbeiter
+Berlins&#8221;, ließ ihn in 16000 Exemplaren abziehen
+und einen Teil davon unentgeltlich unter
+den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der
+Aufruf sehr wirksam geschrieben ist und namentlich
+geschickt an die entstellten Berichte der
+Berliner fortschrittlichen Presse (&#8222;Volkszeitung&#8221;
+und &#8222;Reform&#8221;) über die rheinischen Versammlungen
+anknüpft, war der Erfolg doch zunächst
+ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen
+Lassalles in Berlin fanden in kleineren
+Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött Anlaß,
+und als in der ersten größeren Versammlung
+Lassalle auf Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft
+verhaftet wurde, klatschten fanatisierte
+Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit
+der Personen, die sich als Neugierige oder
+unter dem Eindruck der Vorträge Lassalles in
+die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen bald
+wieder ab, so daß der Verein, der Anfang
+Dezember 1863 es bis auf über 200 Mitglieder
+in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 kaum
+noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein
+ein großer Teil Nichtarbeiter waren.</p>
+
+<p>Neben der Agitation beschäftigten Lassalle
+auch sehr stark seine Prozesse und sonstigen
+Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm
+dem Ministerium Bismarck auch seine Agitation<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span>
+war, soweit diese sich gegen die Fortschrittspartei
+kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in
+Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges
+Werkzeug gebrauchen ließ. Es konnte
+ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren
+Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw.
+zu überschütten. Dadurch kam es in die Lage,
+entweder zur rechten Zeit einen unbequemen
+Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch
+&#8222;mürbe&#8221; zu bekommen. Wie dem jedoch sei,
+die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede
+&#8222;Die Feste, die Presse usw.&#8221; konfiszieren und
+erhob gegen Lassalle Anklage auf Verletzung der
+§§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches
+(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen
+behufs Herabsetzung von Anordnungen
+der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle
+unendlich viel Scherereien und endete, nachdem
+Lassalle in erster Instanz in contumaciam zu
+einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, mit
+seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs
+Monaten Gefängnis. Wegen der Flugschrift &#8222;An
+die Arbeiter Berlins&#8221; erhob die Staatsanwaltschaft
+in Berlin Anklage wegen Hochverrats
+gegen Lassalle und ließ auch, wie bereits erwähnt,
+Lassalle in Untersuchungshaft nehmen, aus
+der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde.
+Beides, Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten
+indes der persönlichen Rachsucht des Staatsanwalts
+von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein
+Jahr vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span>
+so bös zerzaust hatte. In der Gerichtsverhandlung,
+die am 12. März 1864 vor dem
+Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte
+der Staatsanwalt nicht weniger als drei Jahre
+Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen
+Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit
+die Anklage auf Hochverrat lautete, auf Freisprechung
+und überwies die Behandlung der untergeordneteren,
+von der Staatsanwaltschaft behaupteten
+Verstöße gegen das Strafgesetz der
+zuständigen Gerichtsabteilung.</p>
+
+<p>Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist
+ein wichtiges Dokument für die Geschichte der
+Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf
+sie eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen
+Arbeit Lassalles zu erwähnen, die
+Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein
+propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden
+muß. Es ist dies die Streitschrift &#8222;Herr Bastiat-Schulze
+von Delitzsch, der ökonomische Julian,
+oder Kapital und Arbeit&#8221;.</p>
+
+<p>Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt,
+die Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im
+Berliner Arbeiterverein hielt und unter dem Titel
+&#8222;Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus&#8221;
+als Gegenschrift gegen die Lassallesche
+Agitation veröffentlichte. Diese, aus den plattesten
+Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie zusammengesetzten
+Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene
+Handhabe, den auf der Höhe seines
+Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span>
+Partei, die in ihm ihren ökonomischen Heros
+verehrte, jetzt auch theoretisch zu vernichten. Berücksichtigt
+man, daß Lassalle zu systematischen
+ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war,
+sondern gerade in dem Moment, wo er sich an
+die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk
+machen wollte, durch die praktische Agitation
+davon abgelenkt wurde, und zieht man außerdem
+in Betracht, daß Lassalle, während er den
+&#8222;Bastiat-Schulze&#8221; schrieb, durch seine Prozesse
+und die Arbeiten für die Leitung des Vereins
+fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann
+man nicht umhin, in diesem Buch einen neuen
+Beweis für das außergewöhnliche Talent, die
+staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des
+Lassalleschen Geistes zu erblicken. Freilich trägt
+der &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; daneben auch aufs deutlichste
+die Spuren seines Entstehens. So sehr
+die Form der Polemik der Popularität der Schrift
+zugute kommt, sind die Umstände, unter denen
+diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit
+Lassalles, die um so größer war, als Lassalle
+wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine
+falsche Position geriet &mdash; die Enttäuschung einerseits,
+und das Bestreben, sich über diese Enttäuschung
+selbst hinwegzutäuschen, andererseits,
+dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen.
+Aber auch inhaltlich ist sie keineswegs
+immer auf der Höhe des Gegenstandes, sondern
+verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die
+obendrein nicht einmal immer in der Sache zutrifft<a name="FNAnker_31_31" id="FNAnker_31_31"></a><a href="#Fussnote_31_31" class="fnanchor">[31]</a>.<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span>
+Dazu ist der sachliche und theoretische
+Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht
+frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen
+hat der &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; jedoch das große Verdienst,
+den historischen Sinn und das Verständnis
+für die tieferen Probleme der Ökonomie unter
+den deutschen Arbeitern in hohem Grade gefördert
+zu haben. Stellenweise erhebt sich die
+Darstellung auf die Höhe des Besten, was Lassalle
+je geschrieben hat, an diesen Stellen leuchtet sein
+Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Lassalle_und_Bismarck" id="Lassalle_und_Bismarck">Lassalle und Bismarck.</a></h2>
+
+
+<p>Was Lassalle nach dem &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; gesprochen
+und geschrieben hat, trägt immer deutlicher
+die Züge der inneren Ermattung, der
+geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr
+die ursprüngliche, das natürliche Produkt des
+Glaubens an die eigene Kraft und die Stärke<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span>
+der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine
+erzwungene. Man vergleiche das &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;
+mit der Ronsdorfer Rede, die Verteidigungsrede
+&#8222;Die Wissenschaft und die Arbeiter&#8221;
+mit der Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß,
+und man wird das hier Gesagte verstehen.
+Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke
+treten an ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt
+die zwingende logische Beweisführung, und statt
+zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer mehr
+auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch
+den Fortschrittlern vorgeworfen, tut er jetzt
+selbst &mdash; er berauscht sich in erdichteten Erfolgen.</p>
+
+<p>Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu
+seiner Verteidigung gegen die Behauptung der
+Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation
+die schließliche Anwendung der physischen Gewalt
+sei, mit großem Geschick das Bild des Schillerschen
+Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt
+zu den Schweden und zitiert die Verse des
+Monologs im ersten Akt von &#8222;Wallensteins Tod&#8221;:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Wär's möglich? &mdash; könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?<br /></span>
+<span class="i0">Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf
+Lassalles eigene Situation um jene Zeit passen,
+wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser
+jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte,
+wie der Friedländer &mdash; um sein eigenes Bild zu
+brauchen &mdash; &#8222;Dinge getan, welche er à deux<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span>
+mains verwenden konnte&#8221;. Er hatte sich nicht
+damit begnügt, die Vorgänge in der inneren und
+äußeren Politik objektiv zu studieren, um den
+günstigen Moment zur Aktion für seine Pläne
+auszunützen, er war bereits dazu übergegangen,
+mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen
+die er kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn
+von Bismarck in direkte Unterhandlung getreten.
+Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein
+sagen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Noch ist sie rein &mdash; noch! das Verbrechen kam<br /></span>
+<span class="i0">Nicht über diese Schwelle noch!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen.
+Aber war er auch innerlich noch frei? Konnte
+nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu
+treiben, die &#8222;Tat&#8221; zu vollbringen, weil er &#8222;nicht
+die Versuchung von sich wies&#8221;?</p>
+
+<p>Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte
+und eingehende Besprechungen unter vier Augen
+mit dem damaligen Herrn von Bismarck hatte,
+ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die
+langjährige Vertraute Lassalles, die Gräfin
+Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer 1878,
+als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die
+deutsche Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner
+Initiative Vertretern derselben unter Hinzufügung
+der näheren Umstände mitgeteilt, und als August
+Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom
+16. September 1878 die Sache im deutschen
+Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck
+tags darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span>
+zu haben, und suchte nur in Abrede zu stellen,
+daß es sich dabei um politische Verhandlungen
+gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen
+der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: &#8222;Es
+drehte sich bei diesen Unterhaltungen und Unterhandlungen
+um zweierlei, erstens um Oktroyierung
+des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um
+die Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften.
+Fürst Bismarck war für diesen
+Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er
+weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort
+mit der Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts
+vorzugehen, bevor nicht der schleswig-holsteinische
+Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei.
+Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden
+tiefe Differenzen zwischen Lassalle und dem
+Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der
+letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach,
+sondern es war, wie ich ausdrücklich konstatieren
+muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte und
+erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht
+einlassen zu können.&#8221; Darauf antwortete nun
+Bismarck: &#8222;Unsre Unterhaltungen drehten sich
+gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter
+keinen Umständen aber jemals um eine Oktroyierung
+desselben. Auf einen so ungeheuerlichen Gedanken,
+das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung
+einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht
+gekommen.&#8221; Er habe es &#8222;mit einem gewissen
+Widerstreben&#8221;, als &#8222;Frankfurter Tradition&#8221; akzeptiert.
+Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe,<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span>
+so sei er &#8222;von deren Unzweckmäßigkeit
+noch heute nicht überzeugt&#8221;. Nur hätten die
+damals eingetretenen politischen Ereignisse die
+Fortführung der in dieser Hinsicht angebahnten
+Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht
+er, sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht,
+ihn brieflich darum gebeten, und er,
+Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu
+herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren.
+&#8222;Was hätte mir Lassalle bieten und geben
+können? Er hatte nichts hinter sich. In allen
+politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich
+gebe, damit du gibst) eine Sache, die im Hintergrunde
+steht, auch wenn man anstandshalber nicht
+davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß,
+was kannst du armer Teufel geben? &mdash; Er hatte
+nichts, was er mir als Minister hätte geben können.&#8221;</p>
+
+<p>Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der
+&#8222;offiziell noch nie gelogen&#8221; hat, hier mit der
+Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer
+bloßen Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht
+zum Minister gegangen, und würde dieser nicht
+den &#8222;revolutionären Juden&#8221; wiederholt &mdash; er
+selbst gesteht, daß es viermal gewesen sein könne,
+während Sophie Hatzfeldt behauptet hatte, daß
+es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche
+gewesen sei &mdash; zu sich gebeten und mit ihm
+stundenlang disputiert haben. Weiter braucht man
+nur die Reden der Regierungsvertreter in der
+Kammer und die Artikel in der Regierungspresse
+aus jener Epoche nachzulesen, um sich zu überzeugen,<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span>
+wie stark sich das Ministerium Bismarck
+damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine
+Wahlrecht einzuführen, und dazu gab es unter
+den obwaltenden Umständen kaum einen anderen
+Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst
+zitiert in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof
+einige derartige Äußerungen und
+knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten
+Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte
+mit Bismarck bekannt geworden,
+richtig gewürdigt werden können:</p>
+
+<p>&#8222;Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine
+und direkte Wahlrecht herstellen und
+somit die Verfassung stürzen zu wollen!</p>
+
+<p>Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher
+Privatmann, kann ich Ihnen sagen: ich will nicht
+nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht
+vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie
+gestürzt!</p>
+
+<p>Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen,
+ohne daß eine Faust zur Gewalt sich
+geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr
+mehr, so ist in der friedlichsten Weise von
+der Welt das allgemeine und direkte Wahlrecht
+oktroyiert.</p>
+
+<p>Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt
+werden, Karten auf dem Tisch! Es ist
+die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen
+mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil
+sie auf erzene Notwendigkeit gegründet sind.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p>
+
+<p>Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem
+feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr
+vergehen &mdash; und Herr von Bismarck hat die Rolle
+Robert Peels gespielt, und das allgemeine und
+direkte Wahlrecht ist oktroyiert!&#8221;</p>
+
+<p>Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von
+Anfang an gewußt, &#8222;schon an dem ersten Tage,
+an welchem ich durch den Erlaß meines Antwortschreibens
+diese Agitation begann, und es
+konnte niemand entgehen, der mit klarem Blick
+die Situation auffaßte&#8221;. Aber wenn es auch
+zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter
+1862/63 in Regierungskreisen die Frage in Betracht
+zog, ob es möglich sei, durch eine Änderung
+des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit
+zu sprengen, und zu diesem Behufe in
+sozialer Frage zu machen begann<a name="FNAnker_32_32" id="FNAnker_32_32"></a><a href="#Fussnote_32_32" class="fnanchor">[32]</a>, so würde
+Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit
+von einer bevorstehenden Oktroyierung des<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span>
+allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben und
+immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn
+er nicht aus seinen Unterhaltungen mit Bismarck
+die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun
+vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges,
+diese Oktroyierung beschlossene Sache sei.</p>
+
+<p>Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck
+bestreitet, daß es zwischen ihm und Lassalle zu
+einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen
+schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen
+überzeugt hatte, daß Bismarck noch abwarten
+wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt
+unternahm &mdash; und darum spricht Lassalle auch
+immer nur von einer möglicherweise binnen Jahresfrist
+erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die
+Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war,
+geht schon daraus hervor, daß Lassalle fortfuhr,
+von allen seinen Veröffentlichungen usw. durch
+das Sekretariat des &#8222;Allgemeinen deutschen Arbeitervereins&#8221;
+ein Doppelexemplar in verschlossenem
+Kuvert und mit der Aufschrift &#8222;persönlich&#8221;
+an Bismarck übersenden zu lassen.</p>
+
+<p>Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß
+seine Verhandlungen mit Lassalle wegen des
+&#8222;do ut des&#8221; zu keinen bestimmten Abmachungen
+führen konnten. Zwar stand die Sache nicht so,
+wie Bismarck sie nachträglich protzenhaft mit der
+Phrase abtut: &#8222;Was kannst du armer Teufel
+geben? Er hatte nichts, was er mir als Minister
+hätte geben können.&#8221; Bismarck hatte es zu jener
+Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span>
+brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm
+immerhin geben. Die Sache war nur die, daß
+es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen
+Lassalles Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das
+auch mit einer der Gründe, daß Lassalle, der
+noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben
+hatte: &#8222;Sie können unsre Bevollmächtigten keine
+Unwahrheiten sagen lassen. Sie können sie also
+nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu
+sprechen, während wir vielleicht nicht 1000 haben.
+Man kann schweigen über diesen Punkt, aber
+lügen schickt sich für uns nicht&#8221; &mdash; nach seiner
+Rückkehr nach Berlin in geradezu krankhafter
+Weise seine Erfolge übertrieb. Er wollte um
+jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht
+gelang, mit wirklichen Massen aufzumarschieren.
+Aber Bismarck war durch andre Berichterstatter
+wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie
+es in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.</p>
+
+<p>Und dann hatte es mit dem &#8222;Geben&#8221; auch sonst
+seine eigne Bewandtnis. Bismarck war sich schwerlich
+auch nur einen Augenblick im unklaren darüber,
+daß er an Lassalle nur so lange und nur
+insoweit einen politischen Verbündeten haben
+würde, solange dieses Bündnis im Interesse
+Lassalles und seiner politischen Zwecke lag &mdash;
+mit andern Worten, daß Lassalle genau so mit
+ihm verfahren würde, wie er mit ihm, d.&nbsp;h. sich
+unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald
+er das von ihm erreicht hatte, was er brauchte.
+Davon mußte ihn die erste Unterredung mit<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span>
+Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie
+Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, &#8222;ein
+Fisch ohne Gräten&#8221; war, sondern ganz gehörige
+Gräten und Stacheln hatte. Mit der Aussicht auf
+ein Pöstchen &mdash; von Geld gar nicht zu reden &mdash;
+war da nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht
+gegeben, konnte Lassalle leicht sehr unbequem
+werden, also warum sich übereilen? Die Agitation
+Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer
+schroffer und einseitiger gegen die liberale Partei,
+und das war vorderhand alles, was Bismarck
+brauchte.</p>
+
+<p>In seiner Verteidigungsrede &#8222;Die Wissenschaft
+und die Arbeiter&#8221;, gehalten am 16. Januar 1863,
+hatte Lassalle erklärt:</p>
+
+<p>&#8222;Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die
+Einführung des Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden
+Klassen, daß sie dem deutschen Bürgertum
+zur Last falle?... Die preußische Regierung
+ist es, nicht die besitzenden Klassen in Preußen,
+welche für alle Zeiten und vor allem Volk die
+Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten
+Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.&#8221; Und:
+&#8222;Bourgeoisie und Arbeiter sind wir die Glieder
+eines Volkes und ganz einig gegen unsre Unterdrücker&#8221;
+&mdash; d.&nbsp;h. also gegen die Regierung.</p>
+
+<p>Vor dem Staatsgerichtshof aber &mdash; am 12. März
+1864 &mdash; ist ihm der Verfassungskonflikt in
+Preußen nur noch der Kampf zwischen dem
+Königtum und einer &#8222;Clique&#8221;. Dieser &#8222;Clique&#8221;
+könne das Königtum nicht weichen, &#8222;vollkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span>
+wohl&#8221; aber könne es &#8222;das Volk auf die Bühne
+rufen und sich auf es stützen. Es brauche sich
+hierzu nur seines Ursprungs zu erinnern, denn
+alles Königtum ist ursprünglich Volkskönigtum
+gewesen.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum
+von der Schöpfung der Bourgeoisie könnte
+dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch
+aus seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht,
+auf den Knauf des Schwertes gestützt, könnte
+das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist,
+wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele
+zu verfolgen.&#8221;</p>
+
+<p>Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im
+weiteren Verlaufe seiner Rede steigert Lassalle
+sie noch, indem er die bestehende Verfassung
+als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene
+Gunst hinstellt. Niemand lasse aber &#8222;gern aus
+seiner eigenen Gunst ein Halsband drehen, an
+welchem er erwürgt wird, und das ist niemand
+zu verdenken, und daher auch dem Königtum
+nicht&#8221;. Beständig auf das angebliche &#8222;Recht&#8221;
+hingedrängt, habe sich das Königtum &#8222;erinnert,
+daß es mehr in seiner Stellung läge, sich auf das
+wirkliche Recht zurückzuziehen und das Volk auf
+die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen
+und von einer Handvoll Personen sich aus seiner
+eignen Gunst ein Halsband winden zu lassen, an
+dem es erwürgt wird&#8221;. So würde er, Lassalle,
+sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung
+gestürzt und das allgemeine Wahlrecht<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span>
+oktroyiert haben werde, wenn man ihn der
+intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes
+anklagte.</p>
+
+<p>Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur
+durch die Tatsache seiner Agitation &mdash; was unter
+Umständen nicht zu vermeiden ist &mdash; der Reaktion
+vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel
+auch immer mehr darin, die Sprache der
+Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch
+immer mit Wallenstein ausrufen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht<br /></span>
+<span class="i0">Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen
+Zwecken dienstbar machen, sie selbst aber im
+gegebenen Moment mit einem Ruck abschütteln
+zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal
+der Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck
+seinen &#8222;Bevollmächtigten&#8221;. Aber er vergaß, daß
+es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker
+ist als selbst der stärkste individuelle Wille, und
+daß, indem er überhaupt um den Erfolg spielte,
+statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu vertrauen
+und ausschließlich ihr seine Energie zu
+widmen, er nach seiner eignen Theorie die Bewegung
+selbst zum Teil bereits aufgab.</p>
+
+<p>In der Tat, um noch einmal auf den schon
+zitierten Aufsatz Lassalles über die Grundidee
+seines &#8222;Franz von Sickingen&#8221; zurückzugreifen:
+mit der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen
+Schwenkung war Lassalle genau zu derselben
+Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span>
+als die &#8222;sittliche Schuld&#8221; Franz von Sickingens
+hingestellt hatte. Es ist merkwürdig, wie genau
+Lassalle dort sein eignes Schicksal vorgezeichnet
+hat. Auch er war auf die &#8222;sich realistisch dünkende
+Verständigkeit&#8221; verfallen, revolutionäre Zwecke
+durch diplomatische Mittel erreichen zu wollen, er
+hatte eine Maske vorgenommen, seinen Gegner &mdash;
+die preußische Regierung &mdash; zu täuschen, aber
+er täuschte tatsächlich nicht diese, sondern die
+Massen des Volkes, ohne die er nichts war; die
+Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp
+persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie
+Lassalle von Sickingen schreibt, daß &#8222;dieser
+große Diplomat und Realist, der alles sorgsam
+vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen
+will, gerade dadurch zuletzt gezwungen ist, dem
+zufälligsten Zufall alles anheim zu geben&#8221;, und,
+&#8222;während die Rechnung auf jene Täuschung durch
+den Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen
+an der bewußten Natur des Bestehenden zugrunde
+gehen muß, die Entscheidung, statt wie er wollte,
+aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus
+denen des ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen
+muß&#8221;<a name="FNAnker_33_33" id="FNAnker_33_33"></a><a href="#Fussnote_33_33" class="fnanchor">[33]</a> &mdash; so sieht auch er,
+Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit
+dem Zufall zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen
+in der inneren und äußeren Politik<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span>
+abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine
+realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte
+nicht, daß beim Spiel derjenige die meisten
+Aussichten hat seinen Mitspieler lahmzulegen,
+der die meisten Trümpfe in der Hand &mdash; beim
+politischen Spiel, der über die meisten tatsächlichen
+Machtfaktoren zu gebieten hat. Und da
+das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck
+war, konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich
+mehr Bismarcks, als dieser sein &#8222;Bevollmächtigter&#8221;
+wurde.</p>
+
+<p>Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer
+Ansprache, &#8222;die Agitation des Allgemeinen
+deutschen Arbeitervereins und das Versprechen
+des Königs von Preußen&#8221; hielt. Es ist seine letzte
+und zugleich seine schwächste Agitationsrede, ausschließlich
+auf den äußeren Effekt berechnet.
+Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede
+bewußt war, zeigt ihre von ihm selbst redigierte
+gedruckte Ausgabe mit den überall eingestreuten
+Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze &mdash; Krücken,
+deren ein Vortrag, der an Hand und
+Fuß gesund ist, durchaus entbehren kann, und die
+den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar beeinträchtigen
+würden. Aber die Ronsdorfer Rede
+weist keinen der Vorzüge der ersten Agitationsreden
+Lassalles auf, potenziert dagegen deren
+Fehler.</p>
+
+<p>Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach,
+sie ist auch ihrer Tendenz nach tadelnswerter als
+alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span></p>
+
+<p>Schlesische Weber hatten, durch die Not
+getrieben und durch die Sozialdemagogie der
+Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin
+geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe
+gegen die Übelstände, unter denen sie litten,
+zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da
+es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen
+Fabrikanten handelte, auf Veranlassung Bismarcks
+vom König empfangen worden und hatten auf
+ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König
+habe seine Minister angewiesen, &#8222;eine gesetzliche
+Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig und
+mit allem Ernst vorzubereiten&#8221;.</p>
+
+<p>Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen
+Weber und den Empfang der Deputation von
+Seiten des Königs als einen Erfolg seiner Agitation
+hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich
+war, niemand zum besonderen Vorwurf machen.
+Wie andere Übertreibungen in der Ansprache, erklärte
+sich auch diese aus der Situation Lassalles.
+Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab
+dem Empfang der Deputation durch den König
+und den Worten des letzteren eine Auslegung,
+die zunächst nur als eine Reklame für jenen und
+dessen Regierung wirken konnte. Er verliest den
+Arbeitern einen Bericht der offiziösen &#8222;Zeidlerschen
+Korrespondenz&#8221; über den Empfang der
+Deputation beim König und liest gerade die dem
+Königtum günstigste Stelle daraus, wie er in
+der gedruckten Rede ausdrücklich verzeichnet,
+&#8222;mit dem höchsten Nachdruck der Stimme<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span>
+und begleitet sie mit der eindringlichsten Handbewegung&#8221;<a name="FNAnker_34_34" id="FNAnker_34_34"></a><a href="#Fussnote_34_34" class="fnanchor">[34]</a>.</p>
+
+<p>In den Worten des Königs liege, erklärt er,
+&#8222;die Anerkennung des Hauptgrundsatzes, zu
+dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen&#8221; &mdash; nämlich,
+daß eine Regelung der Arbeiterfrage
+durch die Gesetzgebung notwendig sei &mdash; ferner,
+&#8222;das Versprechen des Königs, daß diese Regelung
+der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot
+durch die Gesetzgebung erfolgen soll&#8221;, und
+drittens, da &#8222;eine Fortschrittskammer, eine nach
+dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz erwählte
+Kammer, dem Könige niemals die zu diesem
+Zwecke erforderlichen Gelder bewilligen und
+ebensowenig, selbst wenn die Sache ohne Geld
+zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu
+einem solchen Gesetz erteilen würde&#8221;, so sei in
+dem königlichen Versprechen, &#8222;innerlich durch die
+Kraft der Logik eingeschlossen&#8221; auch &#8222;das
+allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen
+worden&#8221;.</p>
+
+<p>Bei diesen Worten läßt der Bericht &#8222;die Versammlung,
+welche diesem ganzen letzten Teil der
+Rede in einer unglaublichen Spannung ... zugehört&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span>
+habe, in einen &#8222;nicht zu beschreibenden
+Jubel&#8221; ausbrechen, der immer wieder von neuem
+begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu sprechen
+versuchte.</p>
+
+<p>War der Jubel wirklich so groß, so bewies er,
+daß die Arbeiter Lassalles Auslegung des königlichen
+Versprechens für bare Münze nahmen, das
+schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt
+werden konnte.</p>
+
+<p>Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit
+die Arbeiter in Betracht kamen, diese nur
+durch möglichst glänzende Ausmalung der bisher
+erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit
+für den Verein hingerissen werden. Aber
+die Rede ist noch an eine andere Adresse als
+die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung
+auf eine in der &#8222;Kreuzzeitung&#8221; erschienene
+Rezension des &#8222;Bastiat-Schulze&#8221;, die nach
+Lassalle &#8222;von zu beachtenswerter Seite&#8221; kam,
+als daß die in ihr an Lassalle gerichteten Fragen
+hätten unbeantwortet bleiben dürfen, verweist
+Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes
+ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und
+läßt die Erwiderung und zwei Exemplare der
+Rede unter Kuvert &#8222;persönlich&#8221; an Bismarck
+senden. Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf
+die Regierung Eindruck zu machen &mdash; ad
+usum delphini geschrieben. Der &#8222;unbeschreibliche
+Jubel&#8221; sollte Köder für Bismarck und den
+König sein. Aber niemand kann zwei Herren
+dienen, und das Bestreben, die Rede so zu gestalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span>
+daß sie den gewünschten Effekt nach
+oben mache, bewirkte, daß sie tatsächlich einen
+durch und durch cäsaristischen Charakter erhielt.
+Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus:
+Cäsarismus in den Reihen der Partei, und
+Cäsarismus in der Politik der Partei.</p>
+
+<p>&#8222;Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres,
+nichts Unintelligenteres,&#8221; heißt es
+in der Einsendung an die &#8222;Kreuzzeitung&#8221;, &#8222;als
+der unruhige, nörgelnde liberale Individualismus,
+diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser
+unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs
+Massenkrankheit, sondern wurzelt notwendig und
+naturgemäß nur in den Viertels- und Achtels-Intelligenzen
+der Bourgeoisie.</p>
+
+<p>Der Grund ist klar: Der Geist der Massen
+ist, ihrer Massenlage angemessen, immer auf
+objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die
+Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner
+würden hier in diesem Stimmenakkord verklingen,
+ohne nur gehört zu werden. Der oligarchische
+Boden allein ist der homogene, mütterliche
+Boden für den negativen, ätzenden Individualismus
+unserer liberalen Bourgeoisie und ihre
+subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.&#8221;</p>
+
+<p>Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen:</p>
+
+<p>&#8222;Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element
+unseres Erfolges habe ich zu erwähnen. Es
+ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit und
+Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht!<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span>
+Auch in dieser Hinsicht, und in dieser Hinsicht
+vor allem, steht unser Verein epochemachend,
+und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte,
+da! Dieser große Verein, sich erstreckend
+über fast alle deutschen Länder, regt
+sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit
+eines Individuums! In den wenigsten Gemeinden
+bin ich persönlich bekannt oder jemals
+persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom
+Rhein bis zur Nordsee, und von der Elbe bis
+zur Donau noch niemals ein &#8218;Nein&#8217; gehört, und
+gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut
+habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten
+Freiwilligkeit beruhende!... Wohin ich gekommen
+bin, überall habe ich von den Arbeitern Worte
+gehört, die sich in den Satz zusammenfassen: Wir
+müssen unserer aller Willen in einen einzigen
+Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer
+in die Hände eines Mannes legen, zu dessen
+Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das
+nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne
+mit dem Hammer!</p>
+
+<p>Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner
+bisher für unvereinbar betrachteten, deren
+Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten,
+Freiheit und Autorität, &mdash; die höchsten Gegensätze,
+sie sind auf das innigste vereinigt in unserem
+Verein, welcher so nur das Vorbild im kleinen
+unserer nächsten Gesellschaftsform im großen
+darstellt. Nicht eine Spur ist in uns von jenem
+nörgelnden Geiste des Liberalismus, von jener<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span>
+Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens,
+von welchem der Körper unserer
+Bourgeoisie durchfressen ist ...&#8221;</p>
+
+<p>Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger
+Gedanke zugrunde, der nämlich, daß in der
+modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen
+Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse
+auf die gemeinsame Aktion angewiesen
+sind, und daß in der Tat schon die
+Existenzbedingungen des modernen industriellen
+Proletariers den Geist der Gemeinschaftlichkeit
+in ihm entwickeln, während umgekehrt der Bourgeois
+nur unter anormalen Verhältnissen, nicht
+aber durch die bloße Art seiner gesellschaftlichen
+Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion sich
+veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt
+aber durch die obige Verallgemeinerung
+eine total falsche Deutung. Die Massenaktion
+heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur;
+wo die Masse ihren Willen aus der Hand gibt,
+ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus einem
+revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden.
+Die persönliche Diktatur ist in den Kämpfen der
+modernen Gesellschaft jedesmal der Rettungsanker
+der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden
+reaktionären Klassen gewesen, niemand ist mehr
+geneigt, den &#8222;negativen, ätzenden Individualismus&#8221;
+aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald
+sein Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft
+gefährdet erscheint. In solchen Momenten wird
+das Schlagwort von der &#8222;einen reaktionären<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span>
+Masse&#8221; zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung
+sich verallgemeinert, der Bonapartismus.
+Die zur Selbstregierung sich unfähig fühlenden
+Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern
+unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne
+Persönlichkeit ab und verdammen jeden
+Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser Persönlichkeit
+entgegenzutreten, als &#8222;unruhigen, nörgelnden
+Individualismus&#8221;. So beschuldigte die deutsche
+Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
+immer wieder gerade die Partei, die tatsächlich
+am konsequentesten deren Klassenforderungen
+vertritt &mdash; die deutschfreisinnige Partei &mdash; des
+Verrats an ihren Interessen, weil sie durch
+ihre &#8222;Nörgelei&#8221; die staatserhaltende Tätigkeit der
+Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre
+1851 die französische Bourgeoisie ihre eigenen
+parlamentarischen Vertreter jedesmal, wenn diese
+daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel
+zum Staatsstreich zu verweigern, solange als
+Unruhestifter, Anarchisten usw. an, bis Napoleon
+stark genug war, sich zum Diktator der Bourgeoisie
+aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des
+bloßen Hüters der Ruhe und Ordnung für die
+Bourgeoisie zu begnügen.</p>
+
+<p>Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat
+absolut keinen Anlaß, ihren Willen aus der Hand
+zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das
+&#8222;Besserwissen-Wollen&#8221; ihren Führern gegenüber
+zu verzichten. Und wir haben bei der Solinger
+Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle den<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span>
+Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz
+pochte, er gerade aus den Reihen der Arbeiter
+heraus ein sehr deutliches und kräftiges &#8222;Nein&#8221;
+hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum
+Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er
+bei einem bestimmten Anlaß ein ebensolches
+&#8222;Nein&#8221; gehört &mdash; er sprach, wenn er sich rühmte,
+in dem von ihm geleiteten Verein &#8222;Autorität und
+Freiheit&#8221; in der oben geschilderten Weise verwirklicht
+zu haben, mehr einen Wunsch, als eine
+bereits verwirklichte Tatsache aus.</p>
+
+<p>Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß
+er von Anfang an die persönliche Spitze für unerläßlich
+gehalten hatte. Zu diesem bloßen
+Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis
+hinzu. Die Politik, die er jetzt eingeschlagen
+hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder
+und Anhänger der Bewegung kritiklos dem
+Führer folgten und ohne Murren taten, was er
+von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen
+des Königs von Preußen gegenüber den
+schlesischen Webern in einer Weise behandelte,
+daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt
+den Demokraten &mdash; man möchte sagen,
+vor seinem Gewissen &mdash; salvierte, das übrige
+aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so
+mußten auch sie bereit sein, auf Kommando das
+Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn eines
+die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu
+entschuldigen vermag, so ist es die Tatsache, daß
+sie für Lassalle unter den gegebenen Verhältnissen<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span>
+eine Notwendigkeit war. Er brauchte die
+Diktatur, um die Arbeiter je nach Bedürfnis für
+seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu haben,
+und er brauchte die Bestätigung der Diktatur,
+um nach oben hin als eine bündnisfähige Macht
+zu erscheinen. Die Rede war der notwendige
+Schritt auf der einmal betretenen Bahn &mdash; ein
+Halt war da nicht mehr möglich.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod" id="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">Lassalles letzte Schritte und Tod.</a></h2>
+
+
+<p>Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl
+was die innere Vereinsleitung als auch was die
+geplante nächste äußere Aktion des Vereins anbetrifft,
+bewegten sich denn auch in der gleichen
+Richtung. Im Verein drang er auf die Ausstoßung
+Vahlteichs, der in bezug auf die Organisation
+in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte
+dabei nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich,
+so daß den Vereinsmitgliedern kaum etwas anderes
+übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem
+Herrn Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch
+sonst in dieser Angelegenheit höchst illoyal, indem
+er z.&nbsp;B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich
+gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben
+in solcher Weise zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich
+selbst den Inhalt des Schreibens erst kennenlernen
+mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder
+bereits gegen ihn beeinflußt waren.</p>
+
+<p>Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge
+zur Abänderung der Organisation denken mochte,<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span>
+die Art, wie Lassalle schon den Gedanken an
+eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat
+an der Sache hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt,
+als er, Lassalle, selbst bereits halb
+entschlossen war, den Verein fallen zu lassen,
+wenn sein letzter Versuch, &#8222;einen Druck auf die
+Ereignisse auszuüben&#8221;, mißglücken sollte.</p>
+
+<p>Dieser Versuch oder &#8222;Coup&#8221;, wie Lassalle
+ihn selbst genannt, sollte in Hamburg in Szene
+gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der
+soeben von Dänemark eroberten Herzogtümer
+Schleswig-Holstein.</p>
+
+<p>Als im Winter 1863 der Tod des Königs von
+Dänemark die schleswig-holsteinische Frage in
+den Vordergrund gedrängt hatte, hatte Lassalle,
+der in jenem Moment bereits mit Bismarck in
+Unterhandlung stand und deshalb ein großes Interesse
+daran hatte, je nach derjenigen Politik, für
+die die preußische Regierung sich entschloß, den
+Verein Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern
+gegen den &#8222;Schleswig-Holstein-Dusel&#8221;
+Stimmung gemacht<a name="FNAnker_35_35" id="FNAnker_35_35"></a><a href="#Fussnote_35_35" class="fnanchor">[35]</a> und eine Resolution ausgearbeitet<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span>
+und überall annehmen lassen, in der
+erklärt wurde:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Die einheitliche Gestaltung Deutschlands
+würde die schleswig-holsteinische Frage ganz
+von selbst erledigen. Dieser großen Aufgabe
+gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in
+Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben
+ein ausländischer Fürst ist, von verhältnismäßig
+sehr untergeordnetem Interesse.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Im übrigen enthält die Resolution nur mehr
+oder weniger allgemeine Wendungen; alle deutschen
+Regierungen seien verpflichtet, die Einverleibung
+der Herzogtümer in Deutschland
+&#8222;nötigenfalls mit Waffengewalt&#8221; durchzusetzen,
+aber das Volk wird aufgefordert, auf der Hut zu
+sein; es &#8222;lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen
+zentralen Aufgaben abziehen&#8221;. Gegen
+die Fortschrittler und Nationalvereinler wird der
+Vorwurf erhoben, daß sie &#8222;Schleswig-Holstein
+als eine Gelegenheit benutzen zu wollen scheinen,
+um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage
+abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem
+sie nicht gewachsen sind, unter dem Schein
+des Patriotismus zu entfliehen&#8221;. Dies im Dezember
+1863.</p>
+
+<p>Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es
+handelte sich um die Frage, was mit ihnen geschehen
+solle. Ein großer Teil der Fortschrittler
+trat für die legitimen Ansprüche des Herzogs
+von Augustenburg ein, während man in maßgebenden
+Kreisen Preußens auf die Annexion der<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span>
+Herzogtümer in Preußen hinarbeitete. So wenig
+Interesse nun die demokratischen Parteien hatten,
+zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in
+Deutschland noch einen 34sten zu schaffen, so
+hatten sie andrerseits auch keine Ursache, der zur
+Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen
+Machtzuwachs zuzusprechen. Lassalle aber hatte
+bereits so sehr sein politisches Taktgefühl verloren,
+daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg
+eine große Volksversammlung abzuhalten und
+von dieser eine Resolution beschließen zu lassen,
+des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die
+Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und
+der übrigen deutschen Staaten an Preußen zu
+annektieren. Es braucht nicht durch Worte bezeichnet
+zu werden, welche Rolle Lassalle damit
+auf sich nahm und zu welcher Rolle er die sozialistisch
+gesinnten Arbeiter Hamburgs gebrauchen
+wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung
+entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur
+Ausführung des Vorhabens gekommen, es blieb
+den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen
+ihrer demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen
+Pflicht gegen ihren Führer glücklicherweise
+erspart.</p>
+
+<p>Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch
+einen Prozeß ausgefochten, in die Schweiz gegangen.
+Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi
+Kaltbad, und dort besuchte ihn gelegentlich eines
+Ausfluges Fräulein Helene von Dönniges, deren
+Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span>
+gemacht und der er, nach ihrer Darstellung, schon
+damals seine Hand angetragen hatte. Es entwickelte
+sich im Anschluß an den Besuch jene
+Liebesaffäre, deren Schlußresultat der frühzeitige
+Tod Lassalles war.</p>
+
+<p>Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre
+sind heute so bekannt und die für Lassalle bezeichnenderen
+Schritte desselben in dieser Affäre
+so über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine
+Wiedererzählung des ganzen Verlaufs der Sache
+hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte sich
+bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem
+neuen Lichte; er entwickelte vielmehr nur Eigenschaften,
+die wir bereits bei ihm kennen gelernt
+haben &mdash; man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre
+im kleinen und auf einem andern Gebiet
+lediglich ein Abbild der Lassalleschen Agitationsgeschichte
+darstellt. Lassalle glaubt in Helene
+von Dönniges das Weib seiner Wahl gefunden
+zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, das Jawort
+der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht
+den mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner
+Persönlichkeit gelingen muß, diese Schwierigkeit
+zu überwinden. Selbstbewußt, und zugleich mit
+umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden
+Momente, entwirft er seinen Operationsplan.
+Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern
+erobern und ihnen die Einwilligung abringen, ehe
+sie noch recht wissen, was sie mit ihrer Genehmigung
+tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines,
+unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span>
+eine Unvorsichtigkeit der jungen Dame erfahren
+die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung
+und erklären, Lassalle unter keinen Umständen
+als Schwiegersohn annehmen zu wollen. Indes
+noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein
+Triumph wird nur um so größer sein, je größer
+der Widerstand der Eltern. Von diesem Selbstbewußtsein
+getragen, begeht er einen Schritt, der
+die Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung,
+auf dem geplanten Wege zum Ziele zu gelangen,
+ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen
+selbst an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht
+dieser Weg, so ist's ein anderer. Und ohne Rücksicht
+darauf, was er sich und seiner politischen
+Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen
+Kampf, bei dem es für ihn nur einen Gesichtspunkt
+gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht,
+das Erfolg verspricht. Spione werden angestellt,
+die die Familie Dönniges beobachten und über
+jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch
+die Vermittlung Hans von Bülows wird Richard
+Wagner ersucht, den König von Bayern zu
+veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn
+v. Dönniges zu intervenieren, während dem Bischof
+Ketteler von Mainz der Übertritt Lassalles zum
+Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof
+seinen Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache.
+Lassalle machte sich nicht die geringsten Gedanken
+darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen
+Mission war, die er übernommen
+hatte, bei einem Minister von Schrenk zu antichambrieren,<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span>
+damit dieser ihm zu seiner Geliebten
+verhelfe, noch kümmerte er sich darum, wie wenig
+er sich seines Vorbildes Hutten würdig erwies,
+wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms
+um Hilfe zur Erlangung eines Weibes petitionierte.
+Hier, wo er hätte stolz sein dürfen, wo
+er stolz sein mußte, war er es nicht.</p>
+
+<p>Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof
+von Mainz konnte gar nichts tun, weil Helene
+von Dönniges protestantisch war, und der Vermittlungsversuch,
+den ein vom bayerischen Minister
+des Auswärtigen an den Schauplatz des Konfliktes
+entsandter Vertrauensmann unternahm,
+führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern,
+daß er durch die Art seines Vorgehens sich und
+das Weib, für das er kämpfte, in eine total falsche
+Position gebracht hatte. Obwohl er gewußt hatte,
+daß Helene jeder Willensenergie entbehrte und
+darin gerade einen Vorzug für sein zukünftiges
+Zusammenleben mit ihr erblickt hatte &mdash; &#8222;erhalten
+Sie mir Helene in den unterwürfigen Gesinnungen,
+in denen sie jetzt ist&#8221;, hatte er am 2.&nbsp;August an
+die Gräfin Hatzfeldt geschrieben &mdash;, hatte er ihr
+jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste
+Willensstärke erforderte, und war empört darüber,
+daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen suchte.
+Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt,
+die Dinge ausschließlich unter dem Gesichtswinkel
+seiner Stimmungen und Interessen zu betrachten,
+hatte er ganz außer Erwägung gelassen,
+daß gerade die unterwürfigsten Menschenkinder<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span>
+am leichtesten ihre Empfindungen ändern, und sah
+den &#8222;bodenlosen Verrat&#8221; und das &#8222;unerhörteste
+Spiel&#8221; einer &#8222;verworfenen Dirne&#8221;, wo weiter
+nichts vorlag, als die Unbeständigkeit eines verwöhnten
+Weltkindes.</p>
+
+<p>Indes, er war nervös total heruntergekommen
+und besaß längst nicht mehr die Energie eines
+gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu Gewaltmitteln,
+das Bestreben, um jeder Kleinigkeit
+wegen Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen,
+die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen oder
+sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise
+geistiger Kraft, sondern eines hochgradigen
+Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel
+von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach
+den übereinstimmenden Berichten der Augenzeugen
+bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich
+auf ein stark zerrüttetes Nervensystem.</p>
+
+<p>In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die
+erlittene Niederlage ruhig zu ertragen, und er
+suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu verschaffen
+für die ihm nach seiner Ansicht angetane
+Schmach. So töricht das Duell an sich
+ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden
+Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in
+denen die Affäre spielte, ist das Duell das
+reinigende Bad für allen Schmutz und allen
+Schimpf, und wenn Lassalle nicht die moralische
+Kraft besaß, sich im Kampf um irgendeine Sache
+auf solche Mittel zu beschränken, welche sich
+für den Vertreter der Partei der sozialistischen<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span>
+Umgestaltung der Gesellschaft schicken, so war
+es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich
+erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner
+Umgebung Genugtuung zu verschaffen suchte.
+Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im
+Duell gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist
+Lassalle, sondern der verjunkerte Kaufmannssohn
+Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der
+erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde,
+so sühnte er damit die Schuld, daß er jenem
+die Macht über sich eingeräumt hatte.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Schlussbetrachtung" id="Schlussbetrachtung">Schlußbetrachtung.</a></h2>
+
+
+<p>So machte ein frühzeitiger Tod der politischen
+Laufbahn Lassalles, seinen Plänen und Hoffnungen
+ein jähes Ende. Vielleicht war es gut
+so, vielleicht hat er es selbst in seinen letzten
+Stunden nicht als ein Unglück empfunden. Das
+Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt,
+war wieder in die Ferne gerückt, und für die
+ruhige Organisationsarbeit hielt er sich nicht geschaffen.
+So sah seine nächste Zukunft sehr
+problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen
+Hast, mit der er sich in die Dönniges-Affäre
+gestürzt hatte, viel beigetragen haben.</p>
+
+<p>Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen,
+was Lassalle wohl getan hätte, wenn er
+nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen
+wäre. Indes ist diese Frage bisher meist<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span>
+in einer Weise erörtert worden, die ein kurzes
+Eingehen darauf rechtfertigt.</p>
+
+<p>Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde
+Lassalle, wenn er weiter gelebt hätte, nach Lage
+der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich
+seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen
+Staatsdienst anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt
+Lassalle absolut falsch. Wohl hätte die
+von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn
+konsequent weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager
+führen müssen, aber auf diesen
+letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht
+ankommen lassen. Er hätte nie den preußischen
+Beamtenrock angezogen. Er besaß genug, um
+nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und
+seinem Ehrgeiz hätte eine Stelle, wie die
+preußische Regierung sie ihm bieten konnte,
+ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten
+stets unveränderten Gesinnung entsprochen hätte.
+In dieser Hinsicht hätte eher er zu Bismarck, als
+dieser zu ihm sagen können: &#8222;Was kannst du,
+armer Teufel, geben?&#8221;</p>
+
+<p>Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle
+sich, sobald die gegen ihn erkannten Strafen rechtskräftig
+geworden, dauernd im Ausland niedergelassen
+und dort einen Umschwung der Verhältnisse
+in Preußen, bzw. Deutschland abgewartet
+hätte. Denn daß der Hamburger &#8222;Coup&#8221;, selbst
+wenn die Versammlung zustande kam und die
+Resolution beschlossen wurde, an den tatsächlichen
+Verhältnissen zunächst nichts geändert<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span>
+haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering
+diese Aussicht war, geht daraus hervor, daß das
+bloße Jawort Helenes von Dönniges genügt hatte,
+um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen
+Effekt des &#8222;Coup&#8221; erheblich zu erschüttern. Am
+27. Juli hatte er über diesen an die Gräfin Hatzfeldt
+geschrieben: &#8222;... Ich muß noch vorher in
+Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen,
+vielleicht tatsächlich wichtigen Coup schlagen will.&#8221;
+Tags darauf erhält er Helenes Zusage und schreibt
+nun an die Gräfin, daß er sich selbst &#8222;nicht zu
+viel&#8221; von dem Versuch in Hamburg verspreche.
+Die betreffende Stelle dieses Briefes ist zwar
+oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige
+Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie
+auch hier zum Abdruck kommen. Sie lautet:</p>
+
+<p>&#8222;Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie
+schreiben: &#8218;Können Sie sich nicht auf einige Zeit
+in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur
+genügen?&#8217; Sie meinen, ich müsse Politik haben.</p>
+
+<p>Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich
+wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik
+loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft
+und Natur zurückzuziehen. Ich bin der
+Politik müde und satt. Zwar würde ich so leidenschaftlich
+wie je für dieselbe entflammen, wenn
+ernste Ereignisse da wären, oder wenn ich die
+Macht hätte, oder ein Mittel sähe, sie zu erobern &mdash; ein
+solches Mittel, das sich für mich
+schickt; denn ohne höchste Macht läßt sich nichts
+machen. Zum Kinderspiel aber bin ich zu alt<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span>
+und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das
+Präsidium übernommen! Ich gab nur Ihnen nach.
+Darum drückt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich
+es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen
+wäre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen!
+(Aber wie es los werden?!)</p>
+
+<p>Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich,
+langsam, langsam entwickeln, und meine glühende
+Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen
+Prozessen keinen Spaß. Politik heißt
+aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere
+kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen!
+Ich werde versuchen, in Hamburg einen
+Druck auf die Ereignisse auszuüben. Aber inwieweit
+das wirken wird, das kann ich nicht versprechen
+und verspreche mir selbst nicht zu viel
+davon!</p>
+
+<p>Ach könnte ich mich zurückziehen!&#8221; &mdash;</p>
+
+<p>In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer
+Stelle, er sei &#8222;lustig und voller Lebenskraft&#8221;
+und &#8222;nun, die alte Kraft ist noch da, das alte
+Glück auch noch&#8221;. Es waren also lediglich politische
+Erwägungen, die jene resignierten Sätze
+diktierten.</p>
+
+<p>Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von
+Dönniges in Bern am 3.&nbsp;August&nbsp;1864 in Genf eintraf,
+scheint Lassalle bereits zur vorläufigen Expatriierung
+entschlossen gewesen zu sein. In den
+Papieren Joh. Ph. Beckers befindet sich eine von der
+Genfer Regierung für &#8222;Mr. Ferdinand Lassalle
+professeur&#8221;, wohnhaft &#8222;chez Mr. Becker&#8221;, ausgestellte<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span>
+Aufenthaltsbewilligung, und auf dem
+Umschlag derselben folgender Vermerk von der
+Hand des alten Freiheitsveteranen:</p>
+
+<p>&#8222;Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft
+im verhängnisvollen Jahre 1864 hier mitteilte,
+er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt
+machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische
+Bewegung in etwa einem Jahre zum
+Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß
+es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche
+Kraft nicht hinreichend fühle, namentlich werde
+er die bevorstehenden Gefängnisstrafen nicht
+überdauern können. Hierauf gab ich ihm den
+Rat, sich unter bewandten Umständen irgendwo
+einen festen Wohnsitz zu gründen, zu diesem Behufe
+sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn
+er dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei
+Jahren nachweise, sich das Bürgerrecht zu erwerben,
+was damals gar keinen Anstand gefunden
+hätte. In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige
+Reisen machen. Lassalle schlug ohne Bedenken
+ein, und ich verschaffte ihm am 11. August
+1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.&#8221;</p>
+
+<p>Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf
+vorläufig sechs Monate.</p>
+
+<p>Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen
+deutschen Arbeitervereins an ihn gelangten, hat
+Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes
+um Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet.
+Erst als er am Vorabend des Duells
+sein Testament machte, gedachte er wieder des<span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span>
+Vereins und setzte dem Sekretär desselben,
+Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente von
+jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und
+eine ebensolche von jährlich 150 Talern für seinen
+persönlichen Bedarf. Als seinen Nachfolger empfahl
+er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten
+Bernhard Becker. Er solle an der Organisation
+festhalten, &#8222;sie wird den Arbeiterstand
+zum Siege führen&#8221;.</p>
+
+<p>Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die
+Nachricht von Lassalles Tod nicht geringe Bestürzung.
+Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken
+zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in
+einer gewöhnlichen Liebesaffäre gefallen sei. Sie
+glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von
+den Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen
+Agitator aus dem Wege zu räumen, und feierten
+den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen
+politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus
+entwickelte sich zunächst, eine Art Lassalle-Religion,
+deren Propagierung vor allem die Gräfin
+Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen
+Gründen, sich angelegen sein ließ. Sehr
+trug zu diesem Kultus auch die Art bei, wie
+Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten
+war. So liebenswürdig er im Umgang
+mit ihnen sein konnte, so hatte er doch sorgfältig
+darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung
+sowohl wie in seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche
+und geistige Überlegenheit stets vor
+Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span>
+er ferner sich in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter
+feiern lassen und selbst dafür gesorgt, daß
+ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender
+Bericht darüber im &#8222;Nordstern&#8221; erschien.</p>
+
+<p>In seinen Reden war seine Person immer mehr
+in den Vordergrund getreten &mdash; so stark, daß,
+wenn er sich in Verbindung mit andern genannt
+hatte, er stets das Ich hatte vorangehen lassen.</p>
+
+<p>Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen,
+auf die Masse hatte es, namentlich bei
+der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber
+ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um
+Lassalles Persönlichkeit wob, um so stärkere
+Wirkung übte der Zauber nachträglich aus.</p>
+
+<p>Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu
+verkennen, daß dieser Kultus der Persönlichkeit
+Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im
+hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt
+nun einmal in den meisten Menschen der Zug,
+eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment
+um so mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender
+ihre Ziele sind, gern in einer Person
+verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht
+ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter,
+ob Charlatane oder Illusionäre, und
+sie ist in England und Amerika ein anerkannter
+Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so
+stark, daß zuweilen die bloße Tatsache, daß eine
+Persönlichkeit aus einer Körperschaft Gleicher
+oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über
+diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen,<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span>
+die jener hartnäckig verweigert wurde.
+Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers in
+Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele
+in der Geschichte anderer Länder ermangelt.
+Dutzende von Mitgliedern der französischen
+Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung
+und Charakter überlegen und konnten auf die
+ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik
+verweisen, aber sie sanken doch zu Nullen ihm
+gegenüber herab, während er zur großen Eins
+emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende
+entflammte. Warum? Weil sich plötzlich
+in ihm eine Idee verkörperte, während die
+Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen
+und Erfahrung, die sie repräsentierte, nichts war
+als eine anonyme Vielheit.</p>
+
+<p>Der Name Lassalle wurde zum Banner, für
+das sich die Massen immer mehr begeisterten, je
+mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen.
+Für den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem
+außergewöhnlichen Talent geschrieben, populär
+und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend,
+übten sie und üben sie zum Teil noch
+heute eine große agitatorische Wirkung aus.
+Das &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;, das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221;,
+das &#8222;Arbeiterlesebuch&#8221; usw. haben
+Hunderttausende für den Sozialismus gewonnen.
+Die Kraft der Überzeugung, die in diesen Schriften
+weht, hat Hunderttausende zum Kampf für
+die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren
+sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span>
+Phrasengeklingel, &mdash; ein verständiger
+Realismus, der sich zwar gelegentlich in den
+Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit
+im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor
+und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt.
+Wovon Lassalle in seiner Praxis eher
+etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten
+und besten Agitationsschriften das rechte Maß
+dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung
+brauchte. Wenn die deutsche Sozialdemokratie
+den Wert einer kräftigen Organisation zu allen
+Zeiten zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der
+Notwendigkeit des Zusammenfassens der Kräfte
+so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das äußere
+Band einer Organisation doch alle Funktionen
+einer solchen aufrechtzuerhalten gewußt hat, so
+ist das zum großen Teil eine Erbschaft der Agitation
+Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache,
+daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft
+die Traditionen der Lassalleschen Agitation
+am stärksten waren, in bezug auf die Organisation
+in der Regel am meisten geleistet haben.</p>
+
+<p>Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht
+haben, ohne auch ihre Nachteile in den Kauf
+nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen
+doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche
+Agitation trug, zwieschlächtig in ihrer theoretischen
+Grundlage, zwieschlächtig in ihrer
+Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen,
+nachdem Lassalle selbst aus dem Leben geschieden
+war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span>
+an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der
+Schwenkung, die er während der letzten Monate
+seiner Agitation vollzogen, er selbst in dem Bewußtsein
+und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick
+umkehren, die Maske abwerfen zu können.
+Aber, um einen seiner eignen Aussprüche anzuwenden:
+Individuen können sich verstellen,
+Massen nie. Seine Politik fortführen hieß, wenn
+es buchstäblich genommen wurde, die Massen
+irreführen. Und die Massen wurden irregeführt.
+Es kam die Zeit der Schweitzerschen Diktatur.
+Ob J.&nbsp;B.&nbsp;von Schweitzer je ein Regierungsagent
+im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war,
+scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber
+kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der
+eines Regierungsagenten nahekam. Kam es doch
+unter seiner Leitung dahin, daß von Agitatoren
+des &#8222;Allgemeinen deutschen Arbeitervereins&#8221;
+Republikaner sein für gleichbedeutend mit Bourgeois
+sein erklärt wurde, weil die bisherigen Republiken
+Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer
+war unzweifelhaft der begabteste Nachfolger
+Lassalles. Aber wenn er ihn an Talent nahezu
+erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen
+seiner bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger
+Scheu als Lassalle hat er mit den preußischen
+Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies
+jedoch konnte, ohne je um einen, seine Politik
+unterstützenden Satz aus Lassalles Reden in Verlegenheit
+zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle
+nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span>
+um die verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung
+kämpfenden Parteien, unter denen sich
+Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler
+usw. befanden, einfach als eine &#8222;Clique&#8221; zu bezeichnen,
+hat selbst Schweitzer nie getan.</p>
+
+<p>Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in
+der Bewegung fort, und es hat langwierige und
+schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden
+wurden. Was die theoretischen Irrtümer
+Lassalles anbetrifft, die ich oben ausführlicher
+behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie
+heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der
+deutschen sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige
+Wertschätzung der Gewerkschaftsbewegung
+Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften
+von einem großen Teil der Sozialisten mit
+dem Hinweis auf das &#8222;eherne Lohngesetz&#8221; bekämpft
+wurden. Die persönliche Färbung, die
+Lassalle der Bewegung gab, hatte zur Folge,
+daß diese nach seinem Tode in das Fahrwasser
+der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in
+ihm trieb.</p>
+
+<p>Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt
+und auffallende Eigenschaften entwickelt haben,
+pflegen alsbald eine große Anzahl Nachahmer
+zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und
+Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode
+fröhlich aus dem Boden. Da sie aber in Ermangelung
+seines Talents sich darauf beschränken
+mußten, ihm nachzuahmen &#8222;wie er sich geräuspert
+und wie er gespuckt&#8221;, und dies, wie wir gesehen<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span>
+haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so
+bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen
+der Arbeiterbewegung.</p>
+
+<p>Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie
+kann ohne Bitterkeit darüber hinweggehen.
+Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung
+darunter litt, und darum sei es hier erwähnt.</p>
+
+<p>Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck
+dessen, was ich vorher von dem Erbe gesagt,
+das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute
+hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und
+das liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Solange
+ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu
+untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn
+höher als der Ruhm des einzelnen steht das Interesse
+der großen Sache, für die der Kampf geht,
+und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die
+Sozialdemokratie hat keine Legenden und braucht
+keine Legenden, sie betrachtet ihre Vorkämpfer
+nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann
+es daher auch vertragen, wenn sie als Menschen
+kritisiert werden. Sie würdigt darum nicht weniger
+ihre Verdienste und hält das Andenken derer
+in Ehren, die das Werk der Befreiung der
+Arbeiterklasse wesentlich gefördert haben.</p>
+
+<p>Und das hat Lassalle in hohem Maße getan.
+Vielleicht in höherem Maße, als er selbst am Vorabend
+seines Todes geahnt hat. Es ist anders gekommen,
+als wie er glaubte, aber die Bewegung
+ist heute dieselbe, für die er im Frühjahr 1863
+das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben Ziele,<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span>
+für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer
+Weise und mit andern Forderungen kämpft. Nach
+etlichen Jahren wird sie vielleicht wieder in
+andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe
+Bewegung sein.</p>
+
+<p>Kein Mensch, und sei er der größte Denker,
+kann den Weg der Sozialdemokratie im einzelnen
+vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele
+Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer
+noch werden ins Grab sinken müssen, bis das Ziel
+der Bewegung erreicht ist; aber die Leichensteine
+ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der
+Bewegung und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit
+für die Zukunft.</p>
+
+<p>Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht
+geschaffen, so wenig wie irgendein andrer sie
+geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es bereits
+unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands
+gärte und brodelte, als Lassalle sich an die
+Spitze der Bewegung stellte. Aber wenn er auch
+nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden
+darf, so gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er
+Großes für sie ausgerichtet hat, &mdash; so Großes, wie
+es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist
+nur erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes
+Streben verbreitet, er hat der deutschen
+Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen
+Mission beigebracht, er hat sie gelehrt,
+sich zur selbständigen politischen Partei zu organisieren,
+und er hat auf diese Weise den Entwicklungsprozeß
+der Bewegung ganz erheblich<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span>
+beschleunigt. Sein eigentliches Unternehmen
+schlug fehl, aber der Kampf für es war kein
+vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die
+Fahne für die Erkämpfung des allgemeinen,
+gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank
+der Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen
+deutschen Arbeitervereins für diese Forderung
+wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun gleichfalls
+ihrer anzunehmen, und so verschwand sie
+nicht mehr von der Tagesordnung und mußte die
+Berliner Regierung in sie einwilligen, als nach
+dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung
+des Norddeutschen Bundes geschaffen wurde. Das
+allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht
+wurde wenigstens für den Reichstag des
+Norddeutschen Bundes und später des Deutschen
+Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch
+war freilich die Zeit der Siege durch die Waffe
+dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu
+können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen
+lernen. Die Siege sind dann nicht ausgeblieben,
+von Wahl zu Wahl haben sie sich gehäuft, und
+im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer
+Form ins Land geht, hat die deutsche Arbeiterschaft
+vermittelst des nun auf die Wahlen zu
+allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen
+ausgedehnten und in jeder
+Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine politische
+Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten
+Aussichten auf Durchsetzung tiefgreifender
+Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. Sie zum<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span>
+Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren
+Ziele, wie es im Liede heißt, Schwerter gegeben,
+zugleich aber auch in die Seelen deutscher
+Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen <em class="gesperrt">organischen</em>
+Weg gepflanzt zu haben, der unter
+allen Gesichtspunkten dem wilden Massenkampf
+vorzuziehen ist, &mdash; bleibt das große, das unvergängliche
+Verdienst Ferdinand Lassalles.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span></p>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_1_1" id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang
+des Hatzfeldt-Prozesses in Verbindung stehen, bezieht
+sich ein Teil der Anklagen, welche im Jahre 1855 eine
+von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles,
+nach London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten
+bei Karl Marx und Freiligrath gegen Lassalle
+erhob und die auf diese beiden, wie Marx an Engels
+schrieb, einen <em class="gesperrt">entscheidenden Eindruck</em> machten.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_2_2" id="Fussnote_2_2"></a><a href="#FNAnker_2_2"><span class="label">[2]</span></a> G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches
+Charakterbild. Berlin 1877.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_3_3" id="Fussnote_3_3"></a><a href="#FNAnker_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben,
+als ich durch die Freundlichkeit von Friedrich
+Engels die im Nachlaß von Karl Marx vorgefundenen
+Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die seitdem
+von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart,
+J.&nbsp;H.&nbsp;W.&nbsp;Dietz Nachfolger). Ein vom 7.&nbsp;Mai&nbsp;1859
+datierter, an Marx und Engels adressierter Brief handelt
+bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom &#8222;Franz
+von Sickingen&#8221;. Lassalle hatte von dem Drama, sobald
+es im Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl
+Marx und Friedrich Engels geschickt, worauf ihm
+diese, die damals noch örtlich getrennt lebten, eingehend
+ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte
+Brief Lassalles ist dessen Antwort auf diese
+Urteile. Er verbindet sie in einem und demselben
+Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, &#8222;Eure beiderseitigen
+Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein,
+doch in der Hauptsache dieselben Punkte berühren&#8221;.
+</p>
+<p>
+Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß
+die Kritik von Marx wie Engels eben die Punkte betrifft,
+die auch ich im obigen kritisieren zu müssen
+glaubte. &#8222;Ihr stimmt beide darin überein,&#8221; schreibt
+Lassalle an einer Stelle, &#8222;daß auch Sickingen noch
+zu abstrakt gezeichnet ist.&#8221; In diesem Satze ist in
+nuce dasselbe gesagt, was ich oben ausgeführt habe.
+Der Lassallesche Sickingen ist nicht der streitbare
+Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts,
+er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte
+Liberale des neunzehnten Jahrhunderts, das heißt der
+liberale Ideologe. Seine Reden fallen gewöhnlich vollständig
+aus der Epoche, in der sie gehalten sein sollen,
+heraus. &#8222;Ihr begegnet Euch Beide&#8221;, schreibt Lassalle
+an einer andern Stelle, &#8222;daß ich die Bauernbewegung
+&#8218;zu sehr zurückgesetzt&#8217;, &#8218;nicht genug hervorgehoben
+habe&#8217;. Du (Marx) begründest dies so: Ich hätte
+Sickingen und Hutten daran untergehen lassen müssen,
+daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer Einbildung
+revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres
+Interesse vertraten. &#8218;Die adligen Repräsentanten
+der Revolution&#8217;, sagst Du, &#8218;hinter deren Stichwörtern
+von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des
+alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert &mdash;
+durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie
+sie es bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern,
+namentlich dieser, und der revolutionären Elemente in
+den Städten mußten einen ganz bedeutend aktiveren
+Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in viel
+höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer
+naivsten Form sprechen lassen können, während jetzt
+in der That, außer der religiösen Freiheit, die bürgerliche
+Einheit die Hauptidee bleibt&#8217;. &#8218;Bist Du nicht
+selbst&#8217;, rufst Du aus, &#8218;gewissermaßen wie Dein Franz
+von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen,
+die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche
+zu stellen?&#8217;&#8221;
+</p>
+<p>
+Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen
+fortgelassen, weil sie sich meist auf
+im Brief vorhergehende Ausführungen beziehen, hier
+also unverständlich wären. Im wesentlichen verteidigt
+sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die
+ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im
+historischen Sickingen vorhanden, damit genügend zum
+Ausdruck gebracht zu haben, daß Sickingen, statt sich
+an die ganze Nation zu wenden, statt alle revolutionären
+Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und
+sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen
+ritterlichen beginnt und fortführt, bis er an der Beschränktheit
+seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht.
+Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil er nicht
+weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich
+die revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung
+aber habe er in der einen Szene des Stückes, in
+der er die Bauern selbst auf die Bühne bringe, und in
+den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars
+usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben,
+welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt habe und noch
+darüber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung
+ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels.
+</p>
+<p>
+Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich
+auch in verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten,
+so u.&nbsp;a. im &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;. Sie ist aber
+m.&nbsp;E. keineswegs richtig. Daß die Bauern mit Forderungen
+auftraten, die auf die Vergangenheit zurückgriffen,
+stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären,
+die Bauern waren zwar keine neue Klasse,
+aber sie waren keineswegs, wie die Ritter, eine untergehende
+Klasse. Das Reaktionäre in ihren Forderungen
+ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das
+übersieht Lassalle, der als Hegelianer hier wieder
+in den Fehler verfällt, die Geschichte aus den &#8222;Ideen&#8221;
+abzuleiten, so vollständig, daß er zu der Marxschen
+Bemerkung: &#8222;Du hättest dann auch in viel höherem
+Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten
+Form sprechen lassen können&#8221;, ein doppeltes Fragezeichen,
+verstärkt durch ein Ausrufungszeichen, macht.
+</p>
+<p>
+Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine
+Berechtigung, wenn im Stück auch nur die leiseste
+Andeutung gegeben wäre, daß Sickingens Beschränkung
+auf seine ritterlichen Mittel seiner ritterlichen
+Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht
+der Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer
+Fehler behandelt. Das reicht aus für die tragische
+Idee des Dramas, aber nicht für die Veranschaulichung
+des historischen Anachronismus, an dem das Sickingensche
+Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen
+ist.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_4_4" id="Fussnote_4_4"></a><a href="#FNAnker_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der
+ursprünglich Vogt in Schutz genommen, schon früher
+zugegeben.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_5_5" id="Fussnote_5_5"></a><a href="#FNAnker_5_5"><span class="label">[5]</span></a> Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre
+von Engels &#8222;Savoyen, Nizza und der Rhein&#8221;. Lassalle
+hatte in seiner Broschüre die Annexion Savoyens an
+Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn
+Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende
+Kompensation erhielte, &#8222;ganz unanstößige&#8221; Sache hingestellt.
+Engels weist nun nach, welche außerordentlich
+starke militärische Position der Besitz Savoyens
+Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe,
+was doch auch in Betracht zu ziehen war.
+Sardinien gab Savoyen preis, weil es im Moment mehr
+dafür eintauschte, die Schweizer waren aber durchaus
+nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner,
+Stämpfli, Frey-Herosé u.&nbsp;a., taten ihr möglichstes, die
+Überlieferung des bisher neutralen Savoyer Gebiets
+in französische Hände zu verhindern. Im &#8222;Herr
+Vogt&#8221; kann man nachlesen, durch welche Manöver
+die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen
+hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher
+Blick auf die Landkarte.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_6_6" id="Fussnote_6_6"></a><a href="#FNAnker_6_6"><span class="label">[6]</span></a> Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung:
+&#8222;Nur daß zum Glück auch Ihr ihm dieselbe
+nicht beibringen werdet, und darum erscheint mir der
+revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.&#8221; Wenn
+dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre?</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_7_7" id="Fussnote_7_7"></a><a href="#FNAnker_7_7"><span class="label">[7]</span></a> Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage
+die oben in griechische Klammern gesetzte Betrachtung,
+die nicht nur durch die russische Revolution
+mit der Auflösung des russischen Imperiums den
+größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat,
+sondern die auch Wendungen enthält, zu denen ich
+mich grundsätzlich nicht mehr bekennen kann. Ich
+habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, weil
+sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo
+sie geschrieben wurde &mdash; 1891 &mdash; nach meiner Ansicht
+die durch 1866 geschaffene Lage unter deutschem
+Gesichtspunkt darstellte.
+</p>
+<p>
+In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung
+eine redaktionelle Abänderung erfahren, die mir deshalb
+der Erwähnung wert erscheint, weil sie zweifelsohne
+auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der,
+wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe
+durchgesehen hat. Ins Deutsche zurückübersetzt lautet
+die Einleitung dort:
+</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Wohin hat die preußische Lösung der nationalen
+Frage Deutschland gebracht? Lassen wir die Frage
+Elsaß-Lothringen beiseite &mdash; die Annexion dieser
+Provinzen war ein weiterer Bockstreich &mdash; und betrachten
+wir nur die Lage des deutschen Volkes
+gegenüber Rußland und dem Panslawismus. Österreichs
+Verdrängung aus dem Deutschen Bund&#8221;
+(weiter, wie im Original).</p></blockquote>
+
+<p>
+Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens
+mit keiner Silbe erwähnt war und sie für Engländer
+damals noch kein spezielles Interesse hatte, nimmt
+Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, ihrer
+zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler
+zu bezeichnen &mdash; &#8222;an additional blunder&#8221; heißt es im
+Englischen. Ein Beweis, wie wenig Engels diese
+Annexion für endgültig ansah.
+</p>
+<p>
+Daß im Englischen statt &#8222;uns gebracht&#8221; gesagt
+wird: &#8222;Deutschland gebracht&#8221;, war durch die Rücksicht
+auf das andre Lesepublikum von selbst geboten.
+Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen
+diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_8_8" id="Fussnote_8_8"></a><a href="#FNAnker_8_8"><span class="label">[8]</span></a> Unter dem Titel &#8222;Eine Liebes-Episode aus dem
+Leben Ferdinand Lassalles&#8221;. Die Verfasserin ist
+nun auch längst aus dem Leben geschieden.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_9_9" id="Fussnote_9_9"></a><a href="#FNAnker_9_9"><span class="label">[9]</span></a> Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches
+Verhältnis zu Sophie von Hatzfeldt in einem
+Fragment gebliebenen Brief an eine ungenannte
+Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil
+die Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen,
+neben sich noch Sophie von Hatzfeldt um
+Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine ganze Abhandlung
+über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe
+Ferdinand Lassalles, Nachtrag.)</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_10_10" id="Fussnote_10_10"></a><a href="#FNAnker_10_10"><span class="label">[10]</span></a> Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht
+man die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundsätze, die
+durch die philosophische Untersuchung vom Begriff
+und Wesen des Rechts und der Rechtsverhältnisse
+gewonnen werden und als den Menschen sozusagen
+angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es
+werden daher vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht
+als Gleiches bezeichnende Begriffe gebraucht.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_11_11" id="Fussnote_11_11"></a><a href="#FNAnker_11_11"><span class="label">[11]</span></a> Vgl. Fr. Engels, &#8222;Der Ursprung der Familie, des
+Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an
+Lewis&nbsp;H.&nbsp;Morgans Forschungen&#8221;. 1.&nbsp;Aufl.&nbsp;S.&nbsp;93.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_12_12" id="Fussnote_12_12"></a><a href="#FNAnker_12_12"><span class="label">[12]</span></a> Um das Jahr 450 v. Chr.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_13_13" id="Fussnote_13_13"></a><a href="#FNAnker_13_13"><span class="label">[13]</span></a> Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß
+das Aufkommen des Ahnenkultus bei allen Völkern
+mit dem Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht
+zusammentrifft.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_14_14" id="Fussnote_14_14"></a><a href="#FNAnker_14_14"><span class="label">[14]</span></a> Übrigens brauchen auch die Römer das Wort
+familia nicht bloß zur Bezeichnung der einzelnen,
+unter einem Oberhaupt stehenden Hausgenossenschaft,
+sondern bereits ebenfalls für den mehr oder minder
+gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des
+römischen Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird
+ausdrücklich zwischen der &#8222;familia&#8221; im engeren Sinne
+(jure proprio) und der familia im weiteren Sinne (communi
+jure) unterschieden, zu welch letzterer alle diejenigen
+gehören &#8222;... die aus demselben Haus und derselben
+gens hervorgegangen sind.&#8221; Für Lassalle ist die
+betreffende Stelle ein weiterer Beweis, daß das römische
+Intestaterbe &mdash; kein Familienerbe gewesen sei.
+&#8222;Denn,&#8221; sagt er u.&nbsp;a., &#8222;man wird doch ... das Erbrecht
+der Gentilen nicht als ein &#8218;Familienrecht&#8217; ausgeben
+wollen!&#8221;</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_15_15" id="Fussnote_15_15"></a><a href="#FNAnker_15_15"><span class="label">[15]</span></a> Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung
+von Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen
+von der Volksvertretung erpreßt wurden, sagt
+Lassalle manches kräftige Wort. &#8222;Wenn eine Staatsregierung&#8221;,
+schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von
+der preußischen Regierung eingebrachten und solche
+Entschädigungen stipulierenden Entwurf &mdash; &#8222;die unbegreifliche
+Schwäche hat, einen solchen Vorschlag
+zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich auf
+das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine
+Kammer pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht
+auf diese Schwäche auf einen solchen Vorschlag
+einzugehen, so würde sie wenigstens weit logischer
+handeln, gleich geradezu die Hörigkeit des Volkes
+von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.&#8221;
+Was hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert
+hätte, noch nach dreißig Jahren werden in Preußen
+solche &#8222;Schwächen&#8221; und solche &#8222;Pflichtvergessenheit&#8221;
+berechtigte nationale Institutionen sein! Freilich, Lassalle
+war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß,
+als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die
+Tories nicht die &#8222;Schamlosigkeit&#8221; gehabt haben, &#8222;sich
+aus ihren jetzt unspekulativ gewordenen Güterankäufen
+ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen Geist zu drehen!&#8221;
+Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er erfahren
+haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter
+nichts war, als das richtige &#8222;praktische Christentum&#8221;.
+</p>
+<p>
+Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe,
+die Neuauflage des &#8222;Systems der erworbenen
+Rechte&#8221; zu besorgen, gerade Lothar Bucher zufallen
+mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten
+Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert,
+den Nachweis zu versuchen, wie das &#8222;System in den
+Gesetzberatungen der letztverflossenen zehn Jahre hätte
+benutzt oder erprobt werden können&#8221;. Tatsächlich
+schlagen die meisten der dafür in Betracht kommenden
+Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches
+direkt ins Gesicht.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_16_16" id="Fussnote_16_16"></a><a href="#FNAnker_16_16"><span class="label">[16]</span></a> Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar
+zu mechanisch vorstellen. Nach dem Gesetz der
+Wechselwirkungen können die religiösen, Rechts- usw.
+Anschauungen, kurz das, was man unter dem Begriff
+des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum
+einen großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse
+ausüben, innerhalb gewisser Grenzen
+z.&nbsp;B. ihre Fortentwicklung hindern oder verlangsamen.
+Schließlich sind es doch immer die Menschen, die ihre
+eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich hier
+um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung
+zugrunde liegen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_17_17" id="Fussnote_17_17"></a><a href="#FNAnker_17_17"><span class="label">[17]</span></a> In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt
+er es &#8222;ein Meisterwerk&#8221;, das ihn &#8222;zur höchsten Bewunderung
+hingerissen&#8221; habe.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_18_18" id="Fussnote_18_18"></a><a href="#FNAnker_18_18"><span class="label">[18]</span></a> Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut
+kannten, geht aus einem Briefe Mazzinis an Becker
+vom Juni 1861 hervor. Vgl. die Veröffentlichungen
+R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im
+Jahrgang 1888 der &#8222;Neuen Zeit&#8221;, S.&nbsp;458&nbsp;usf.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_19_19" id="Fussnote_19_19"></a><a href="#FNAnker_19_19"><span class="label">[19]</span></a> Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind
+Mitte der achtziger Jahre im Buchhandel erschienen.
+(Dresden und Leipzig, H.&nbsp;Minden.) So dünn das
+Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im
+Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über
+Lassalle dem Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben;
+die Briefe selbst sind nicht einmal chronologisch geordnet,
+wozu deren Nichtdatierung von seiten Lassalles
+den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten
+aus dem Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen
+war. In einem der Briefe ist von &#8222;Salingers
+genialer Komposition&#8221; die Rede. Der Herausgeber,
+der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten,
+macht dazu die Note &#8222;Arbeiterhymne von Herwegh&#8221;.
+Daß der Name Salinger bzw. Solinger Pseudonym für
+Hans von Bülow war, wird dagegen nicht einmal angedeutet.
+Bülow hatte die Komposition des Herweghschen
+Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_20_20" id="Fussnote_20_20"></a><a href="#FNAnker_20_20"><span class="label">[20]</span></a> Wohl ein Druckfehler.
+</p>
+<p class="right">D. H.
+</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_21_21" id="Fussnote_21_21"></a><a href="#FNAnker_21_21"><span class="label">[21]</span></a> Wir haben oben, bei Besprechung des &#8222;Italienischen
+Krieges&#8221; gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht
+in die Schablone des &#8222;guten Patrioten&#8221; passenden
+Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger Verwicklungen
+auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend
+dafür ist auch eine Stelle in der Schrift
+&#8222;Was nun?&#8221;, die schon deshalb hierher gehört, weil
+Lassalles dort entwickelter Vorschlag tatsächlich nur
+zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder
+Revolution. Anknüpfend daran, wie unmöglich und
+unhaltbar die auswärtige diplomatische Stellung der
+preußischen Regierung wäre, wenn sein Vorschlag befolgt
+würde, fährt Lassalle fort:
+</p>
+<p>
+&#8222;Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube,
+dies sei ein unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat
+der Politiker, wie der Naturforscher, Alles zu betrachten,
+was ist, und also alle wirkenden Kräfte in
+Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten
+unter einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der
+Konflikt in den diplomatischen Beziehungen ist einmal
+eine wirkende Kraft und, gleichviel ob gut oder
+schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt in Rechnung
+gezogen werden. Überdies aber, meine Herren,
+wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille
+meines Zimmers bei historischen Studien mir die große
+Wahrheit auf das Genaueste zu vergegenwärtigen, daß
+fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe der
+Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch
+stehen würden, wenn nicht seit je die Eifersucht und
+der Gegensatz der Regierungen unter einander ein
+wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu
+Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber,
+meine Herren, ist die Existenz der Deutschen nicht
+von so prekärer Natur, daß bei ihnen eine Niederlage
+ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz
+der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine
+Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verständniß
+betrachten, so werden Sie sehen, daß die
+Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so
+riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem
+übrigen Europa vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit
+und Unverwüstlichkeit unserer nationalen
+Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten
+wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in
+demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die
+sächsische, preußische, bayerische zusammenbrechen,
+aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben
+unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein
+ankommen kann &mdash; das deutsche Volk!&#8221;
+</p>
+<p>
+Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten,
+doch darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens,
+daß, ein so wichtiger Faktor des Fortschritts der Völker
+die Rivalität der Regierenden sein kann und unzweifelhaft
+oft gewesen ist, sie doch auch recht oft
+als ein Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt,
+sich als ein Hemmnis des Fortschritts erwiesen hat.
+Es sei nur an die beiden Gesichter des heutigen Militarismus
+erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg
+zwar ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der
+Nationen auslöschen, es aber doch so wesentlich in
+seinen Lebensinteressen schädigen kann, daß er immer
+eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber
+auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwähnten
+Beispiel tut Lassalle nur das erstere, aber wie der
+Schlußsatz und seine Briefe zeigen, war er auch zu
+dem Letzteren sehr geneigt &mdash; eine übrigens weit verbreitete,
+aber darum nicht minder zu bekämpfende
+Tendenz.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_22_22" id="Fussnote_22_22"></a><a href="#FNAnker_22_22"><span class="label">[22]</span></a> Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft
+kamen damals in Preußen erst 766180
+selbsttätige Personen in der Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter
+und Beamten eingeschlossen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_23_23" id="Fussnote_23_23"></a><a href="#FNAnker_23_23"><span class="label">[23]</span></a> Ursprünglich hatte es in Rodbertus' &#8222;Offenem
+Brief&#8221; geheißen: &#8222;Und ich wiederhole, daß ich mir
+auch von den Produktivassoziationen nicht im Geringsten
+einen Beitrag zu dem verspreche, was man
+die Lösung der sozialen Frage nennt.&#8221; Auf Wunsch
+Lassalles wurden aber diese Worte beim Druck
+fortgelassen, da er der Sache nach eine Wiederholung
+des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen
+Form aber notwendigerweise &#8222;die Arbeiter, wenn
+sie so schroffen Widerstreit zwischen ihren Führern
+sehen, entmutigen müsse&#8221;. (Lassalles Brief an Rodbertus
+vom 22. April 1863.)</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_24_24" id="Fussnote_24_24"></a><a href="#FNAnker_24_24"><span class="label">[24]</span></a> &#8222;Neue Zeit&#8221;, Jahrgang 1890/91: &#8222;Zur Frage des
+ehernen Lohngesetzes.&#8221; Die so betitelte Abhandlung
+ist von mir später gesondert in das Buch &#8222;Zur Theorie
+des Lohngesetzes und Verwandtes&#8221; (erster Teil der
+Sammelschrift &#8222;Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus&#8221;,
+Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_25_25" id="Fussnote_25_25"></a><a href="#FNAnker_25_25"><span class="label">[25]</span></a> Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation
+Louis Blanc &#8222;entlehnt&#8221; &mdash; richtiger, Louis Blancs
+Assoziationsplan in seiner Weise umgearbeitet. Lassalles
+Vorschlag nimmt eine Mittelstellung zwischen
+Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit
+dem ersteren hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren
+die Selbständigkeit der Assoziation gemein.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_26_26" id="Fussnote_26_26"></a><a href="#FNAnker_26_26"><span class="label">[26]</span></a> In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe
+der Lassalleschen Briefe heißt es &#8222;nicht gehört&#8221;.
+Das &#8222;nicht&#8221; beruht aber, wie sich im folgenden zeigt,
+auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck
+des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl.&nbsp;a.&nbsp;a.&nbsp;O.
+S.&nbsp;463).</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_27_27" id="Fussnote_27_27"></a><a href="#FNAnker_27_27"><span class="label">[27]</span></a> D.&nbsp;h. als der Überschuß des Bodenertrags über
+einen gewissen Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt
+nicht bewirtschaftet wird, weil er nicht einmal
+vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte Arbeit
+abwirft.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_28_28" id="Fussnote_28_28"></a><a href="#FNAnker_28_28"><span class="label">[28]</span></a> Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen
+von Henry George, Flürscheim usw., da Lassalle
+die allgemeine Verwirklichung der Assoziationen voraussetzt,
+ohne welche, wie wir früher gesehen haben,
+jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen
+Lohngesetz scheitern müßte.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_29_29" id="Fussnote_29_29"></a><a href="#FNAnker_29_29"><span class="label">[29]</span></a> Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch,
+wenn Lassalle z.&nbsp;B. in seiner Leipziger Rede &#8222;Zur
+Arbeiterfrage&#8221; den sogenannten Manchestermännern
+u.&nbsp;a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß sie,
+wenn sie könnten, den Staat &#8222;untergehen lassen würden
+in der Gesellschaft&#8221;. Tatsächlich liegt das Bezeichnende
+jedoch darin, daß die Manchestermänner
+den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft untergehen
+lassen wollen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_30_30" id="Fussnote_30_30"></a><a href="#FNAnker_30_30"><span class="label">[30]</span></a> Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein
+Schulknabe war, noch sehr gut jener Epoche; aus
+ihr datieren meine ersten politischen Eindrücke. In
+der Schulklasse, auf dem Turnplatz &mdash; überall wurde
+in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir
+Knaben nur in unserer Art wieder, was wir im elterlichen
+Hause, in unserer Umgebung, zu vernehmen
+pflegten. Meine Mitschüler gehörten den bürgerlichen
+Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an,
+aber die einen wie die andern waren gleich fest davon
+überzeugt, daß eine Revolution &#8222;kommen muß&#8221;, denn
+&#8222;mein Vater hat es auch gesagt&#8221;. Jede Äußerung der
+Wortführer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis
+auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde
+triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen
+Spottverse auf den König und seine Minister.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_31_31" id="Fussnote_31_31"></a><a href="#FNAnker_31_31"><span class="label">[31]</span></a> So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles
+gegen Schulze-Delitzsch, &#8222;Bedürfnis&#8221; und &#8222;Trieb nach
+Befriedigung&#8221; seien &#8222;nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen
+für dieselbe Sache&#8221; falsch. Beides fällt
+in der Regel zusammen, ist aber keineswegs dasselbe.
+Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber
+lustig, daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen
+menschlicher und tierischer Arbeit darin erblicke,
+daß die erstere Arbeit für künftige Bedürfnisse
+sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren
+Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen,
+daß der Mensch mit Bewußtsein, das Tier ohne solches
+tätig sei. Und ähnlich an anderen Stellen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_32_32" id="Fussnote_32_32"></a><a href="#FNAnker_32_32"><span class="label">[32]</span></a> Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers
+erinnert. Ferner ist interessant folgende Stelle aus
+dem Schlußwort einer Ansprache des Herrn Herm.
+Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck und
+tonangebenden Leiter der &#8222;Kreuz-Zeitung&#8221;, in einer
+Sitzung des konservativen preußischen Volksvereins
+vom 2.&nbsp;November&nbsp;1862: &#8222;Meine Herren, täuschen
+wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn
+sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die
+soziale Frage zu lösen, so ist all Euer Laufen und
+Mühen umsonst. Ich schließe deshalb mit der Aufforderung,
+treiben wir das, was wir als die Aufgaben
+und Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben
+wir das mit noch mehr Energie, treiben wir es
+nicht bloß für die Zeit der Wahlen.&#8221;</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_33_33" id="Fussnote_33_33"></a><a href="#FNAnker_33_33"><span class="label">[33]</span></a> Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der
+Lassalleschen Schriften dem für das große Publikum
+bestimmten Vorwort Lassalles zum Franz von Sickingen
+angefügt (vgl. Bd. I).</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_34_34" id="Fussnote_34_34"></a><a href="#FNAnker_34_34"><span class="label">[34]</span></a> Die Stelle lautet: &#8222;Mit dem Trost einer möglichst
+baldigen gesetzlichen Regelung der Frage und
+dadurch Abhülfe ihrer Not entließen Seine Majestät
+die Deputation. Das königliche Versprechen wird
+erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges
+widerhallen und vielen hundert duldenden
+redlichen Familien neue Hoffnung und neue Kraft
+zum muthigen Ausharren geben.&#8221;</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_35_35" id="Fussnote_35_35"></a><a href="#FNAnker_35_35"><span class="label">[35]</span></a> In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten
+Dr. Dammer, an den Lassalle in der ersten
+Aufregung zwei sich durchaus widersprechende Telegramme
+gesandt, hatte es wörtlich geheißen: &#8222;Die
+erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der
+ganze Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht
+höchst unangenehm ist.&#8221; Der Widerspruch in den
+Telegrammen erklärt sich jetzt durch die widerspruchsvolle
+Situation, in die Lassalle geraten war. Er war,
+ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.</p></div>
+
+<div class='transnote'><h3>Anmerkungen zur Transkription:</h3>
+Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide
+Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen:
+
+<ul class="index">
+<li>anderm &mdash; anderem</li>
+<li>andern &mdash; anderen</li>
+<li>Arbeiterverein &mdash; Arbeiter-Verein</li>
+<li>eigne &mdash; eigene</li>
+<li>garnicht &mdash; gar nicht</li>
+<li>heut &mdash; heute</li>
+<li>Nothwendigkeit &mdash; Notwendigkeit</li>
+<li>Testamentrecht &mdash; Testamentsrecht</li>
+<li>Verständniß &mdash; Verständnis</li>
+<li>Vermittelung &mdash; Vermittlung</li>
+</ul>
+
+Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen:
+
+<ul class="index">
+<li>Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben.</li>
+<li>S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert.</li>
+<li>S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert.</li>
+<li>S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert.</li>
+<li>S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert.</li>
+<li>S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert.</li>
+<li>S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert (Fußnote).</li>
+<li>S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert.</li>
+<li>S. 49 &#8218; vor "Denn" eingefügt.</li>
+<li>S. 55 &#8222; vor "Bei alledem" entfernt.</li>
+<li>S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert.</li>
+<li>S. 72 &#8222; vor "zerfetzt" eingesetzt.</li>
+<li>S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote).</li>
+<li>S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert.</li>
+<li>S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert.</li>
+<li>S. 128 &#8222; vor "..." eingesetzt (Fußnote 14).</li>
+<li>S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert.</li>
+<li>S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert.</li>
+<li>S. 138 &#8222; am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt.</li>
+<li>S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert.</li>
+<li>S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert.</li>
+<li>S. 206 &#8221; hinter "Bourgeoisie" eingefügt.</li>
+<li>S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert.</li>
+<li>S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht.</li>
+<li>S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert.</li>
+<li>S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert.</li>
+<li>S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert.</li>
+<li>S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert.</li>
+<li>S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert.</li>
+<li>Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert.</li>
+</ul>
+
+</div>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44722 ***</div>
+</body>
+</html>
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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+The Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Ferdinand Lassalle
+ Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers
+
+Author: Eduard Bernstein
+
+Release Date: January 20, 2014 [EBook #44722]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***
+
+
+
+
+Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the
+Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+(This book was produced from scanned images of public
+domain material from the Google Print project.)
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+
+
+
+
+ +--------------------------------------------------------------------+
+ | Anmerkungen zur Transkription |
+ | |
+ | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ markiert. |
+ | Informationen zu Korrekturen befinden sich am Ende des Texts. |
+ +--------------------------------------------------------------------+
+
+
+
+
+ FERDINAND LASSALLE
+
+ EINE WÜRDIGUNG
+ DES LEHRERS UND
+ KÄMPFERS
+
+ VON
+
+ EDUARD BERNSTEIN
+
+
+ VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN
+ 1919
+
+
+ ALLE RECHTE VORBEHALTEN
+ COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN
+
+
+ _DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_
+
+
+
+
+Inhalt.
+
+
+ Seite
+
+ Vorwort 5
+
+ Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7
+
+ Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede
+ und der Franz von Sickingen 27
+
+ Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66
+
+ Das System der erworbenen Rechte 114
+
+ Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden
+ und das Arbeiterprogramm 145
+
+ Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das
+ Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186
+
+ Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens.
+ Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften
+ mit Staatskredit 213
+
+ Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen
+ Arbeitervereins 235
+
+ Lassalle und Bismarck 263
+
+ Lassalles letzte Schritte und Tod 285
+
+ Schlußbetrachtung 293
+
+
+
+
+Vorwort.
+
+
+Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre
+1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung
+„Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften
+Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte,
+dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß
+aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer
+ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene
+Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe.
+
+Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte
+Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen
+Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik
+vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der
+Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an
+und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das
+Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu
+gestalten, als es früher vor uns stand.
+
+Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der
+Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer
+Begründer verehrt, _für_ die Partei, also namentlich auch für
+bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf
+zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863
+neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu
+bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das
+literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift
+beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der
+Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen
+behandeln. Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur
+Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des
+Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen
+und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer
+Führer der sozialistischen Demokratie.
+
+_Berlin-Schöneberg_, im September 1919.
+
+ _Ed. Bernstein._
+
+
+
+
+FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE
+
+
+
+
+Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung.
+
+
+Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete
+Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren
+gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und
+Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder
+Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man
+alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so
+ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an
+bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem
+Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so
+hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner
+früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige
+Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe
+seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren
+Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf.
+
+Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der
+kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz
+zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der
+schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum
+Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst
+in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen
+die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem
+Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum
+zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller
+Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die
+Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen
+jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange
+Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit
+diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße,
+vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das
+aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den
+zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der
+bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum
+ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen
+Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch
+soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen
+Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die
+hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen
+Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und
+Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger
+ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist
+jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es
+wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf
+lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück.
+
+Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18.
+und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche
+Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in
+diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des
+Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr
+außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und
+Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den
+vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen
+an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die
+bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom
+proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine
+antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende
+Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer
+Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente
+des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die
+Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in
+England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in
+Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber
+sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die
+zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation
+zurückbleiben.
+
+Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger
+Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die
+entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine
+Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des
+Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche
+Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet,
+bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren
+sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre
+Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des
+Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem
+Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und
+Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie
+kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen
+Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die
+Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute
+Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei
+zu kämpfen.
+
+Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in
+Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch
+unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen
+Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort
+lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits
+die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren
+in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit,
+der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in
+Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor,
+während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie
+bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die
+Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in
+Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere
+Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon
+meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig
+große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk.
+Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er
+sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen
+einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und
+die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben
+dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den
+Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der
+Proudhonismus.
+
+In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die
+Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals
+in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der
+Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische
+Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte.
+
+In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse
+der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern
+teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf
+verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief,
+wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine
+verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits
+die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese
+überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo
+immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte,
+so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten
+des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in
+Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf
+der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von
+ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das
+Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen
+unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten
+noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten
+ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich
+an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres
+gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen,
+halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm
+aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger
+eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse
+mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der
+radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender
+Bourgeoisphilantropen.
+
+Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten
+mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor
+sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der
+erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England
+die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley,
+Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter
+veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu
+suchen -- nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre
+„moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß”
+usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren
+Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch
+die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen
+besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern,
+soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben
+von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische
+Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben,
+trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser
+Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes
+„Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits
+verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden
+Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die
+sogenannte freidenkerische Propaganda werfen.
+
+In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen,
+welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne
+drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische
+Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß
+nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18.
+Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung
+einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen,
+es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine
+der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre
+Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle
+Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber
+diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie
+sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine
+bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der
+Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren
+treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre
+Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine
+Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen
+großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der
+Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten
+Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig
+scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)
+
+In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der
+Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren
+Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben
+ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in
+nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche
+Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich
+mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen
+harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher
+Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der
+selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur
+„Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen
+Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands
+in ermunterndster Weise zustatten kam.
+
+Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften
+weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt;
+diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt
+werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie
+in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große
+Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister
+der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie
+angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr
+ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden
+fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die
+Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt
+hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und
+Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von
+Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone
+des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern
+als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom
+Kapital.
+
+Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband
+Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die
+selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische
+Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem
+Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der
+Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die
+Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne
+zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten
+Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte
+sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte,
+bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche
+und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften.
+
+Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen
+Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch,
+als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen,
+die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der
+Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet,
+Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation
+dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der
+liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich
+erwärmen?
+
+Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben
+werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift
+Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von
+den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der
+Arbeiter erwartete:
+
+„Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die
+Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen
+den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen. Denn
+muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer
+zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen?
+Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren
+Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst
+riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen
+übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die
+geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden?
+-- Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den
+Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die
+Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen
+ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher
+gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals
+allgemein und mit Sicherheit erreicht ...
+
+„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den
+Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer
+hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen
+Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern,
+weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während
+also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen
+annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und
+mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen
+Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem
+Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer
+Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur
+erblicken ...
+
+„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter
+sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen
+Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es
+allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen,
+durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird,
+ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert
+ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser
+Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen
+geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als
+Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer
+Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der
+Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten
+anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis
+dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar
+nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das
+Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und
+Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann
+erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in
+tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar
+hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und
+das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.)
+
+Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862
+tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine
+Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen
+beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten
+zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen,
+aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften.
+
+Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848
+bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und
+nehmen jetzt deren Faden wieder auf.
+
+Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen
+empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der
+Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte.
+Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen
+Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage,
+während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am
+Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten
+Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren
+Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war,
+sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des
+„Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der
+Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte
+sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche
+Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide
+Regierungen vorderhand noch „solidarisch”.
+
+Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung,
+die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850
+die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die
+Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und
+Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall
+gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall
+schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue
+Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr
+Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am
+wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit
+drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den
+Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position
+eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern
+Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein
+Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen
+der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer
+Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen
+gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben
+würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um
+dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die
+„Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen
+Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen,
+sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu
+gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging
+auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder
+Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche
+Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der
+„Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands
+Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle
+zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen
+Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien
+angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach
+die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man
+nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem
+Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte
+Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch
+abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen
+sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und
+Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter
+von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis
+geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten
+hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die
+liberalen „Freiheiten” brauchten?
+
+Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus
+jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die
+kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die
+über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. Man
+war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer
+Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die
+Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte
+deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und
+daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe.
+Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen
+Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den
+Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die
+Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu
+Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man
+hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt.
+
+Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts
+braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der
+Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im
+heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der
+Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in
+Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber
+kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden,
+daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten
+Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die
+nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der
+kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen,
+überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten
+Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen
+Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch
+immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem
+Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden
+Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr
+Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das
+Budgetrecht der Volksvertretung.
+
+Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt
+noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf
+jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren
+Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der
+Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die
+ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen
+dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten
+kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig
+ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst
+Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von
+Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit
+kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch
+sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die
+Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine
+eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch
+wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als
+eine bloße Kreatur der liberalen Partei.
+
+Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig
+aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein
+Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen
+feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der
+preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem
+Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten,
+_das_ „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten
+-- nämlich die Klassenkämpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so
+begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung
+handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es
+nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise
+auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht
+zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten,
+als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das
+Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein
+zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen
+Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” -- d. h. hübsch draußen
+bleiben -- war in der Tat typisch für das Unvermögen der
+Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als
+den denkenden Spießbürger -- ihr Ebenbild, ihren Gott.
+
+So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger
+Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur
+Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge
+die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war.
+
+
+
+
+Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz
+von Sickingen.
+
+
+Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in
+seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und
+geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich,
+sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunächst
+innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt
+Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst,
+verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde -- kurz,
+nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher
+völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im
+Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon
+hatte. Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen
+Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige
+Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach.
+Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders
+zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte,
+daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse
+darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem
+Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden
+Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen
+ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei
+seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen.
+Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein.
+
+Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie
+Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der
+Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen
+Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur
+Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer
+Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die
+Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit
+seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht
+kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles
+unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen
+Handelns liefert.
+
+Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große,
+man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir
+sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder
+Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das
+Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen
+noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines
+eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie
+gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine
+innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß
+Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden
+hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum
+Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren. Die
+Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten,
+unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte
+ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen
+jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter
+Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so
+selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen
+trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in
+das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen
+Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung
+gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am
+1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein
+Tagebuch:
+
+„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer
+der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu
+achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben
+wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich
+würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu
+einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen
+nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der
+Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die
+Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den
+Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder
+dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die
+Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen
+Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”,
+knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die
+Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht
+erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur
+sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die
+Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein
+besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate
+später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die
+Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus,
+auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man
+mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß
+die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns
+helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es
+kommt auf den Spieler an.”
+
+Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert,
+aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen
+Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle
+durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr
+angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und
+Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die
+Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer
+Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen,
+folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich
+weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische
+Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des
+Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte,
+Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand
+ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte
+betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst
+geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich
+bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat
+sein.”
+
+Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den
+sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten
+Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und
+von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium
+vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle
+von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig
+geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen,
+Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die
+Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für
+den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen
+Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater
+nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er -- nach seiner
+Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der
+Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer
+Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem
+mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je
+radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der
+Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule
+bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn
+eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz
+werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne. „Ich traue auf den
+Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den
+Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als
+mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als
+mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die
+Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von
+Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen,
+als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.”
+„Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu
+dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich
+abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß,
+als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen”
+Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin
+oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute
+sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren
+„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht
+einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium
+vorbereite.
+
+Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so
+weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie,
+geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer
+größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen
+Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand
+der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen
+Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz
+richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt,
+ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die
+Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte,
+reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen
+Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann
+durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich
+das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können.
+Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat
+ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen
+tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die
+intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf
+der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich
+zur Ursache seines jähen Endes geworden.
+
+Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später
+nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um
+die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche,
+kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen
+Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843
+schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit
+Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt
+wurde -- Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen
+Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im
+Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt
+--, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel
+mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in
+mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste
+leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen
+Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt.
+Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles
+Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat.
+
+Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die
+Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren
+vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten
+Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen
+ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens
+zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die
+Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen
+aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht
+mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen,
+während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer
+Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen
+Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit
+einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem
+Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines
+übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser
+Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den
+folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der
+Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist
+aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches
+Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß
+übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der
+vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus
+anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen
+den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um
+eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und
+Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt
+hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an.
+
+Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der
+hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren
+mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf
+hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche
+Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur
+die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen,
+außergewöhnlicher Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung der
+gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen Mittel des
+unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im
+ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewöhnlicher
+Genußmensch, scheute vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen,
+und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu
+Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die
+Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen
+von dem Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder herangeschleppt
+wurde, von der Qualität der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen.
+
+Und von den Rückwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im
+Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle nie ganz freimachen können. Wir
+meinen das nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine
+späteren Liebesaffären, sondern mit Bezug auf seine von nun an
+wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen und zu
+benutzen, das ihm für seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir
+meinen den Verlust jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung
+selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm
+vertretenen Grundsätzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an
+wiederholt und am stärksten in der tragischen Schlußepisode seines
+Lebens sich offenbarende Einbuße an gutem Geschmack und moralischem
+Unterscheidungsvermögen. Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich
+in den Hatzfeldtschen Prozeß gestürzt, -- er selbst gebraucht in der
+Kassettenrede das Bild des Schwimmers: „Welcher Mensch, der ein starker
+Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes
+fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, für einen guten
+Schwimmer hielt ich mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den
+Strom” -- gewiß, aber leider war es ein recht trüber Strom, in den er
+sich gestürzt, ein Strom, der sich in eine große Pfütze verlief, und als
+Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft,
+mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen
+besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes,
+drängten sie auch wiederholt siegreich zurück, aber schließlich ist er
+ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen,
+aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur
+gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben,
+sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis
+einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklären[1].
+
+Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst noch der Rolle zu
+gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat.
+
+Beim Ausbruch der März-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen
+des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich fast
+zur politischen Untätigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der
+Prozeß wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen ihn statt und
+er hatte alle Hände voll zu tun, sich auf diesen zu rüsten. Erst als
+er nach siebentägiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann
+er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit
+direkten Anteil zu nehmen.
+
+Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte,
+stand natürlich als Republikaner und Sozialist auf der äußersten Linken
+der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx
+redigierte „Neue Rheinische Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine
+Zeitlang dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten an, der in Köln
+seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in
+nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mündlich und
+schriftlich mit dem erwähnten Kreisausschuß, sandte wiederholt
+Mitteilungen und Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” und
+erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. So
+bildete sich allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr
+zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch später noch, als Marx im
+Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde.
+Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf
+einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes
+herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhältnis zwischen
+den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt.
+Was sonst noch einer über die politische Kampfgenossenschaft
+hinausgehenden Intimität im Wege stand, soll später erörtert werden.
+
+Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenüber nahm
+Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der „Neuen
+Rheinischen Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich
+ihr forderte er, als die preußische Regierung im November 1848 den
+Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst
+und den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, und die
+Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums
+in Anklagezustand, sowie mit der Erklärung geantwortet hatte, daß
+dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur
+Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung
+auf. Gleich dem Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch
+Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die königliche
+Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen
+freigesprochen, aber die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion
+stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur
+Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben,
+um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat
+verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre
+Berufsrichter -- Lassalle schließlich auch zu sechs Monaten
+Gefängnis.
+
+Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage ist unter dem Titel
+„Assisen-Rede” im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich
+gehalten worden, und alles, was in verschiedenen älteren Biographien
+über den „tiefen” Eindruck erzählt wird, den sie auf die Geschworenen
+und das Publikum gemacht habe, gehört daher in das Bereich der Fabel.
+Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben,
+und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt
+worden waren, beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit
+auszuschließen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklärung, die
+Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja
+höchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der
+Bestechung veranlaßt worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht
+erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich zu verteidigen,
+wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen.
+
+Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” bleibt jedenfalls ein
+interessantes Dokument für das Studium der politischen Entwicklung
+Lassalles. Er steht in ihr fast durchgängig auf dem von Karl Marx drei
+Monate vorher in dessen Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen
+Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste,
+ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und
+Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen Ausschmückung, er geht
+direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrängter
+Sprache, Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik seinen
+Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik
+der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe
+ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen
+politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von
+Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in -- oft sehr schönen -- Bildern
+und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen
+Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den
+Geschworenen, sondern zu den Tribünen, zu einer imaginären
+Volksversammlung, und schließt, nach Verkündigung einer Rache, die „so
+vollständig” sein wird wie „die Schmach, die man dem Volke antut”,
+mit einer Rezitation aus Tell.
+
+Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnäckigkeit
+Vergünstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden
+pflegten -- so erhielt er, was er später selbst für ungesetzlich
+erklärte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu
+plädieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Tätigkeit
+wieder fast vollständig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in
+Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus für
+politische Freunde und versammelte längere Zeit einen Kreis
+vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vorträge hielt.
+Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Prozeß der
+Friedensschluß. Die Gräfin erhielt ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt
+und Lassalle eine Rente von jährlich siebentausend Talern
+sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen
+Wünschen einzurichten.
+
+Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in Düsseldorf bei und arbeitete hier
+an seinem „Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen,
+u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese
+Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der
+das politische Leben erloschen war, aussöhnen. Es verlangte ihn nach
+einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder
+erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten, nach einem
+größeren Wirkungskreis. So erwirkt er sich denn 1857 durch die
+Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preußen von der
+Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu
+dürfen.
+
+Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle
+hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die „schmachvolle und
+unerträgliche Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die „über Preußen
+hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: „Warum zu soviel Gewalt noch
+soviel Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen wir nichts,
+nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig
+auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der
+Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam
+er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der
+Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim
+zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr
+rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt,
+daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative „Augsburger
+Allgemeine Zeitung” schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die
+wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, für sein gutes
+Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewußtsein der
+Festigkeit seines politischen Wollens für reine Formsache, daß er seine
+betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich
+da um verschiedene Anträge, der erste 1855 an den Berliner
+Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den
+damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darüber „Dokumente des
+Sozialismus”, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten
+machte er Karl Marx gegenüber kein Geheimnis.
+
+Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle durch Verbindungen der Gräfin
+Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, daß sich
+in den oberen Regionen Preußens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit
+diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle
+bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach
+London gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. Februar 1854 den
+Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage vorher vom Berliner
+Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustände im
+Berliner Kabinett -- der König und fast alle Minister für Rußland, nur
+Manteuffel und der Prinz von Preußen für England -- und die für gewisse
+Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen Maßregeln, worauf es heißt:
+„Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als
+wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier
+Wochen später machte er wieder allerhand Mitteilungen über beabsichtigte
+Schritte des Kabinetts, gestützt auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner
+‚offiziellen’, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle”. Am 20. Mai
+1854 klagt er, daß seine „diplomatische Quelle” eine weite Reise
+angetreten habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man
+kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit
+wieder verlieren, ist überaus ärgerlich.” Aber er hat immer noch
+Nebenquellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten,
+und ist u. a. „zeitig vorher von Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt
+worden.
+
+Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre
+Berichte mögen auch Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige
+Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit
+vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hüter der
+monarchischen Idee sie noch nicht für genügend erachteten, des Königs
+Regierungsunfähigkeit auszusprechen, so wußte man doch in allen
+unterrichteten Kreisen, daß der Regierungsantritt des Prinzen von
+Preußen nur noch eine Frage von Monaten sei.
+
+In Berlin vollendete Lassalle zunächst den Heraklit, der Ende 1857 im
+Verlage von Franz Duncker erschien.
+
+Über dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk
+gehen die Meinungen der Sachverständigen auseinander. Die einen stellen
+es als epochemachend hin, die andern behaupten, daß es in der Hauptsache
+nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß
+Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem Standpunkt steht -- die
+Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens
+als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die
+Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende
+Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, daß sie eine
+sehr tüchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der
+wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen.
+
+Für die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges
+ist sein Werk über Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht bloß
+darin von Bedeutung, daß es Lassalle als eben entschiedenen Anhänger
+Hegels zeigt. Man kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker G.
+Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer
+Ausschmückung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über
+Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit über Heraklit als
+Schlüssel zum Verständnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es
+gilt dies namentlich von Lassalles großem Kultus des Staatsgedankens --
+auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf
+Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer
+Hinsicht:
+
+„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in den einen Gedanken
+zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist:
+‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich griechisch und modern;
+aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen
+Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Übereinstimmung
+mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen
+Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation
+des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung
+im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung
+gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der
+Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” (Vgl. a. a. O. S. 40.)
+
+Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei
+Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie
+und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des „formellen
+Willens der Subjekte” darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man
+„nicht ungestraft in seinem Gemüte hegt”, und der in der Welt der
+Prinzipien das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der „rein
+äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten
+Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in
+und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und
+schwieligen Händen sprach”.
+
+Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich hat Lassalles
+althegelsche Staatsidee ihn später im Kampf gegen den Liberalismus weit
+über das Ziel hinausschießen lassen.
+
+Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes:
+
+„Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und
+Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so
+leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und
+dem Lobe anderer. Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die
+größeren Schicksale erlangen das größere Los.’ Und er hat gesagt, was
+das rechte Licht auf diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die sich
+weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rat
+fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige nur gut, die
+Besten aber dem Ruhme nachfolgen. ‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen
+die Besten eins statt allem, den immerwährenden Ruhm der
+Sterblichen.’ Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größere Los,
+welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre
+war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein
+durch Reflexion und Philosophie begründetes. ‚Der Ruhm’, sagt
+Lassalle, ‚ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das
+Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins
+überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in
+ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz
+selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit
+des Menschen”, und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der Grund ist,
+weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und
+über alle kleinen und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das
+der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann
+‚Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel’, so ist es auch der
+Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines
+spekulativen Prinzips erblickte.’”
+
+Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst
+Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz zu der
+Heraklitischen Verachtung der Menge war er für den Beifall durchaus
+nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr
+Höflichkeitsform war, unter Umständen mit fast naiver Genugtuung für die
+Sache selbst auf. Die Vorliebe für das Pathos, die sich bei Lassalle in
+so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur
+Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz
+freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß er aus
+dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe für den Lärm und
+Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je
+einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt
+sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivetät etwas
+Versöhnendes hat. Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift
+erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als
+volkserwählter Präsident der Republik „von sechs Schimmeln gezogen”
+seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder
+an eine Übertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß
+Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so
+fester in dem Herzen seiner Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die
+bekannte schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie von Sontzew beweist,
+daß es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei
+einer müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte,
+sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte,
+dessen Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er nennt sich --
+im Jahre 1860 -- „das Haupt einer Partei”, in bezug auf das sich
+„fast unsere ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren eine
+-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle „achtet, liebt,
+sogar nicht selten verehrt”, für die er „ein Mann von größtem Genie
+und von einem fast übermenschlichen Charakter ist, von dem sie die
+größten Taten erwarten”. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie
+und der größte Teil der Bourgeoisie -- fürchtet ihn „mehr als irgend
+jemand anders” und haßt ihn daher „unbeschreiblich”. Werde die
+Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew
+nicht verzeihen, daß sie einen solchen Menschen heiratete, so werden
+auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß ein
+solcher Mensch sie heiratete, „sie eines Glückes halber beneiden, das
+ihre Verdienste übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen
+nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse Ereignisse eintreten,
+eine Flut von Bewegung, Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen
+würde, wenn Sie mein Weib werden.”
+
+So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, so wenig sie
+der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer
+sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle
+vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen Liberalen und Demokraten
+auf bestem Fuße stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht hatte,
+deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, die in Regierungskreisen
+gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne
+-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die
+in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand
+und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein führte. Die
+Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Pläne. Jedes Wort der
+Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafür hielt, war
+für ihn Bestätigung seiner Mission, und nicht selten nahm er
+Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es ist merkwürdig, welcher
+Widersprüche die menschliche Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den
+Berichten seiner näheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht,
+mit schmeichelhaften Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren
+allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn
+selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht für echtes Gold.
+
+So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst
+verwachsen, daß, als er später wirklich an der Spitze einer Partei
+stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen
+Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten
+vermochte und danach behandelte. Man mißverstehe uns nicht. Es wäre
+absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle den Allgemeinen deutschen
+Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß der
+Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war
+überzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre
+nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr
+seine Persönlichkeit -- ich sage ausdrücklich nicht sein Leben,
+aufzuopfern.
+
+Soviel an dieser Stelle hierüber.
+
+Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem
+der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf
+entworfenes historisches Drama und ließ es, nachdem eine anonym
+eingereichte Bühnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele
+abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen.
+
+Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk verfehlt war, hat
+Lassalle später selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafür
+den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht
+das Drama, trotz einzelner höchst wirkungsvoller Szenen und der
+gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die
+Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es
+werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft
+von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, daß ein
+Freund Lassalles, den dieser, während er am „Franz von Sickingen”
+arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter metrischer
+Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das
+Stück lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, daß
+ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. Denn die
+Lassallesche Prosa hat wirklich eine Reihe großer Vorzüge, und selbst
+die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische zu verfallen,
+hätte in einem Drama wie der Sickingen nichts verschlagen. Aber
+Lassalle ließ sich nicht von seiner Idee abbringen, daß die Versform
+für das Drama unentbehrlich sei, und so stolpern nicht nur seine
+Ritter und Helden auf oft recht geschraubten fünffüßigen Jamben
+einher, selbst die aufständischen Bauern bedienen sich der Stelzen
+des Blankverses. Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten
+Losungsworten:
+
+ „Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?”
+ „Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,”
+
+die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.
+
+Indes diese technischen Fragen treten für uns zurück vor der Frage nach
+Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von
+Sickingen” über das historische Drama, wie es Schiller und Goethe
+geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen
+Kämpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden
+liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, während die
+eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen
+und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse
+der Zeiten und Völker zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, so
+daß sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die
+vielmehr nur die Träger und Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze
+sind, sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke der Nationen
+selbst -- „Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten
+allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit
+der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu
+ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es
+möglich,” meint Lassalle, „den Individuen aus der Bestimmtheit der
+Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus
+markige und feste, selbst derbe und realistische Individualität zu
+geben.” (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit
+Lassalle die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit sie
+überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die großen
+Kämpfe der Menschheit und der Völker so in Individuen verkörpern
+lassen, daß nicht das eine oder das andere, die Größe und umfassende
+Bedeutung jener Kämpfe oder die lebendige Persönlichkeit der
+Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir
+hier unerörtert lassen können. Es genügt, daß Lassalle bei der
+Durchführung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun
+zum Stoff des Dramas selbst.
+
+Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens
+gegen die deutschen Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund
+und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist
+eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in
+Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische oder der
+theoretische Repräsentant des niederen deutschen Adels.
+Merkwürdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem
+letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. „Lesen Sie mein
+Trauerspiel,” schreibt er an Sophie von Sontzew. „Alles, was ich Ihnen
+hier sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte
+alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen.
+Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies,
+da sein Schicksal und das meinige einander vollständig gleich und von
+überraschender Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst Lassalle schwer
+geworden sein, diese überraschende Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich
+um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte in Berlin ein
+luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen aller Kreise der besser
+situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt
+eines ähnlichen Hasses wie der fränkische Ritter, der Urheber der
+leidenschaftlichen Streitschriften wider die römische Pfaffenherrschaft.
+Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle
+und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen,
+was tatsächlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei
+seinem Werke geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem
+Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen über sich selbst
+ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns,
+wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund
+legt, erhalten dadurch für das Verständnis des Lassalleschen
+Ideenkreises eine besondere Bedeutung.
+
+Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des
+Ökolampadius gegen den geplanten Aufstand:
+
+ „Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.
+ Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,”
+
+ein echt Hegelscher Satz,
+
+ „Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!”
+
+Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung der Liebeslehre durch das
+Schwert” gesprochen:
+
+ „Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!
+ Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist
+ Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,
+ Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.
+ Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,
+ Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,
+ Den wir noch heut den Großen staunend nennen.
+ Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt,
+ Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab!
+ Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
+ Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht
+ Und Wissenschaft und Künste uns geboren.
+ Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!
+ So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet
+ Das Herrliche, das die Geschichte sah,
+ Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen,
+ Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!”
+
+Es liegt in den Sätzen „doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt
+ewig die Gewalt”, und „daß alles Große, was sich jemals wird
+vollbringen”, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde,
+unzweifelhaft viel Übertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, daß das
+für die Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene Wort”
+sei, daß, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein muß, für sie
+mit dem Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche,
+wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr
+darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr
+zeitgemäß, und nicht nur für die damalige Epoche, sind auch die
+Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen im letzten Akt
+zurufen läßt:
+
+ „O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht
+ Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten
+ In großen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_
+ Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,
+ Wo im Gewühl die Völker dich nur an
+ Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen;
+ Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle
+ Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe.
+ Dann probst du aus im ungeheuren Streit
+ Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,
+ Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!”
+
+Auch der Ausspruch Sickingens:
+
+ „Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.
+ Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,
+ Daß eines sich stets ändert mit dem andern,
+ Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”.
+
+ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider
+hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen
+Laufbahn unbeachtet gelassen.
+
+Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das
+Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz.
+
+Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind
+beide Vertreter des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit
+der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist
+diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das
+notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur
+beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz
+ihre Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das Material zu
+einer echten Tragödie gegeben, der vergebliche Kampf markiger
+Persönlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit.
+Merkwürdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen
+Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so
+bedeutungsvoll sie doch gerade für die -- wir wollen nicht einmal sagen,
+sozialistische, sondern überhaupt die moderne wissenschaftliche
+Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche
+Unternehmen an tausend Zufälligkeiten -- Unüberlegtheit, Mißgriffe in
+den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit
+den Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache”, was
+unwillkürlich an den recht unhistorischen Schluß in Götz von
+Berlichingen erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß!
+Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!” Begreift man aber, warum
+der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des
+untergehenden Rittertums zum Helden wählen konnte, so ist es schon
+schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, zu einer Zeit,
+wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur
+Beurteilung der Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, ein
+Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin
+als die Repräsentanten „eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt,
+auf dessen Resultaten”, wie er sich in der Vorrede ausdrückt, „unsere
+ganze Wirklichkeit lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden
+Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen Prozeß noch
+einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch
+die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu
+erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschloß ich mich zu
+diesem Drama.”
+
+Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache
+des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und für die
+Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des
+untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der
+aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung
+der Verhältnisse in Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren
+Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrängt
+und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen
+Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der
+Gründung des neudeutschen Reiches daran erinnert, daß er einmal eine so
+anständige Persönlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat --
+den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger Jahren
+und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus Hutten und
+Sickingen als Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung und
+ignorierte ihre Klassenbestrebungen.
+
+Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten
+und Franz von Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen Freiheit
+willen gegen den römischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen
+Sache gegen die Einzelfürsten. „Was wir wollen,” sagt Sickingen im
+Zwiegespräch mit Hutten, --
+
+ „das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland,
+ Zertrümmerung alles Pfaffenregiments,
+ Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen,
+ Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,
+ Wiedergeburt, zeitmäßige der alten,
+ Der urgermanischen gemeinen Freiheit,
+ Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft
+ Und usurpierten Zwischenregiments,
+ Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang
+ Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,
+ Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze
+ Des großen Reichs.”
+
+Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.”
+
+Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von Sickingen” als ein
+Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg für die
+Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorläufig ideale --
+Stellungnahme zu den politischen Strömungen der Zeit vollzogen. Es
+sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine
+Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen bürgerlichen
+Demokratie, auch gegenüber einer konkreten Frage des Tages offenbaren
+sollte[3].
+
+Der „Franz von Sickingen” war im Winter 1857/58 vollendet worden.
+Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und
+begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein
+Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in
+die er sich bei jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem
+Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung zu den großen
+Kämpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und
+Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich
+von Huttens „berauscht”, als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen
+elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf
+Huttens -- wäre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne
+ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu denken, den Plan des
+Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst
+fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” über ihn gekommen.
+Man spürt es dem Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut
+geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich,
+dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch über die ganze
+Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner der deutschen Dichter
+damals besser gemacht als Lassalle.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [1] Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses
+ in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im
+ Jahre 1855 eine von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach
+ London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und
+ Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx an
+ Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten.
+
+ [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild.
+ Berlin 1877.
+
+ [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich
+ durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachlaß von
+ Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die
+ seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W.
+ Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels
+ adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom
+ „Franz von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im
+ Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels
+ geschickt, worauf ihm diese, die damals noch örtlich getrennt lebten,
+ eingehend ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte Brief
+ Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in
+ einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure
+ beiderseitigen Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der
+ Hauptsache dieselben Punkte berühren”.
+
+ Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß die Kritik von
+ Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen
+ kritisieren zu müssen glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,”
+ schreibt Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch zu
+ abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in nuce dasselbe gesagt,
+ was ich oben ausgeführt habe. Der Lassallesche Sickingen ist nicht der
+ streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts,
+ er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte Liberale des neunzehnten
+ Jahrhunderts, das heißt der liberale Ideologe. Seine Reden fallen
+ gewöhnlich vollständig aus der Epoche, in der sie gehalten sein
+ sollen, heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle an
+ einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung ‚zu sehr
+ zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben habe’. Du (Marx)
+ begründest dies so: Ich hätte Sickingen und Hutten daran untergehen
+ lassen müssen, daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer
+ Einbildung revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres
+ Interesse vertraten. ‚Die adligen Repräsentanten der Revolution’,
+ sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern von Einheit und Freiheit immer
+ noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert
+ -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es
+ bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser,
+ und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz
+ bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in
+ viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten
+ Form sprechen lassen können, während jetzt in der That, außer der
+ religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt’.
+ ‚Bist Du nicht selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein
+ Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die
+ lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche zu
+ stellen?’”
+
+ Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen
+ fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende
+ Ausführungen beziehen, hier also unverständlich wären. Im wesentlichen
+ verteidigt sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die
+ ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im historischen
+ Sickingen vorhanden, damit genügend zum Ausdruck gebracht zu haben,
+ daß Sickingen, statt sich an die ganze Nation zu wenden, statt alle
+ revolutionären Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und sich an
+ ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen ritterlichen beginnt
+ und fortführt, bis er an der Beschränktheit seiner ritterlichen
+ Mittel zugrunde geht. Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil
+ er nicht weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich die
+ revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung aber habe er in
+ der einen Szene des Stückes, in der er die Bauern selbst auf die
+ Bühne bringe, und in den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden
+ Balthasars usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in
+ Wirklichkeit innegewohnt habe und noch darüber hinaus. Geschichtlich
+ sei die Bauernbewegung ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels.
+
+ Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in
+ verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, so u. a. im
+ „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Daß
+ die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit
+ zurückgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären,
+ die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs,
+ wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionäre in ihren
+ Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das übersieht
+ Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfällt,
+ die Geschichte aus den „Ideen” abzuleiten, so vollständig, daß er
+ zu der Marxschen Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem
+ Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen
+ lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, verstärkt durch ein
+ Ausrufungszeichen, macht.
+
+ Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine Berechtigung,
+ wenn im Stück auch nur die leiseste Andeutung gegeben wäre, daß
+ Sickingens Beschränkung auf seine ritterlichen Mittel seiner
+ ritterlichen Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht der
+ Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer Fehler behandelt.
+ Das reicht aus für die tragische Idee des Dramas, aber nicht für
+ die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an dem das
+ Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen ist.
+
+
+
+
+Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg.
+
+
+Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” als Buchdrama. Gerade
+als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die
+Entwicklung der Dinge in Deutschland eine große Rückwirkung ausüben
+sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und
+Cavour in Plombières verabredete französisch-sardinische Feldzug
+behufs Losreißung der Lombardei von Österreich und der Beseitigung
+der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien.
+
+Österreich gehörte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich
+natürlich die Frage, welche Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem
+Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des übrigen Deutschland, sich
+gegenüber Frankreich mit Österreich zu identifizieren oder nicht?
+
+Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, daß der Krieg einen
+zwieschlächtigen Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener war
+er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und
+Befreiung Italiens einen Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten
+Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die
+Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu stärken und
+die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel stand auf
+jeden Fall fest. Außerdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß
+Napoleon sich von seinem Verbündeten, dem König von Sardinien, für seine
+Bundesgenossenschaft einen hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen
+(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die „Einigung” Italiens
+in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den
+Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem
+Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer
+Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombières zwischen
+Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloße
+dynastische Intrige. Soviel war sicher, daß, wer diesen Krieg
+unterstützte, zunächst Napoleon III. und dessen Pläne unterstützte.
+
+Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. Gegen Österreich allein
+konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die
+übrigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preußen Österreich
+zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er denn
+durch seine Agenten und Geschäftsträger bei den deutschen Regierungen,
+in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteiführern mit allen
+Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg als eine Sache behandelt werde,
+die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für ein
+Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich in Italien ausübe,
+aufrechtzuerhalten, überhaupt einem so urreaktionären Staat wie
+Österreich Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene Feind der
+Freiheit der Völker; werde Österreich zertrümmert, so würde auch für
+Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen.
+
+Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen Federn, daß,
+wenn die Napoleonischen Pläne im Süden sich verwirklichten, der Rhein in
+direkte Gefahr geriete. Ihm würde der nächste Angriff gelten. Wer das
+linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen wolle,
+müsse dazu beitragen, daß Österreich seine militärischen Positionen in
+Oberitalien unbeeinträchtigt erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt
+werden.
+
+Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen
+wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei
+(Einigung Deutschlands unter Preußens Spitze, unter Hinauswerfung
+Österreichs aus dem deutschen Bund) überein, war direkt auf es
+zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine große Anzahl kleindeutscher
+Politiker nicht dazu entschließen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache
+Österreichs von der des übrigen Deutschland zu trennen. Dies erschien
+ihnen um so weniger zulässig, als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon
+den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg
+führte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im
+Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin,
+jetzt käme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons
+abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne man weiter reden. Bis
+es geschehen, müßten sich aber die Italiener gefallen lassen, daß man
+sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kämpften, einfach
+als dessen Verbündete behandelte.
+
+Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom kleindeutschen Standpunkt
+aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der
+vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. Wenn
+Österreich, und namentlich dessen außerdeutsche Besitzungen, um so eher
+je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum
+nicht mit Vergnügen ein Ereignis begrüßen, das sich als ein Schritt zur
+Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon
+erklärt, daß er nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? Warum
+also Österreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen
+werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch für die gerechteste
+Sache von der Welt kämpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er
+angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein Angriff auf
+ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit Österreichs
+und die Beschäftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der
+Einigung Deutschlands unter Preußens Führung auch durch positive
+Maßnahmen einen weiteren Schritt zu fördern?
+
+Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus
+konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859
+erschienenen Schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens”
+das Wort. Mit großer Energie bekämpft er die in den beiden Berliner
+Organen des norddeutschen Liberalismus, der „National-Zeitung” und der
+„Volks-Zeitung”, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles
+nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von
+Bonaparte ausgehenden Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich als
+Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, daß Preußen den
+Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine
+deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte
+Europas im Süden nach dem Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe
+im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie,
+seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen,
+„während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht,
+für die Erhöhung Preußens in der Deutschen Achtung zu sorgen”.
+Und, fügt Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung dessen
+gewiß sein. In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des
+deutschen Volks als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie
+selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden
+werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende
+Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig
+Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und
+zittert.”
+
+Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre zu einem Advokaten
+der „deutschen” Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt
+sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte nationale Programm
+als solches eine große Ähnlichkeit mit dem des im Sommer 1859
+gegründeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der
+Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen
+Einheit unter preußischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all
+seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark
+im Preußentum stecken geblieben. Nicht daß er bornierter preußischer
+Partikularist gewesen wäre -- wir werden gleich sehen, wie weit er
+davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf
+die auswärtige Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen
+durch die Brille des preußischen Demokraten an, sein Haß gegen
+Österreich war in dieser Hinsicht ebenso übertrieben, wie der
+Preußenhaß vieler süddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten.
+Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa
+aufzuweisen hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, neben
+Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte”; Österreich ist
+„ein reaktionäres Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller
+Freiheitsideen”; „der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt,
+zerstückt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut
+werden”, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen
+könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, und „wenn die Rechnung
+sonst ziemlich gleichstehen möchte -- das römische Konkordat hat
+Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des Klerus nicht
+geschlossen”. Selbst Rußland kommt noch besser weg, als Österreich.
+„Rußland ist ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von seiner
+despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit
+ihren despotischen Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier
+die Entschuldigung, daß sie nationales Element ist.” Ganz anders aber
+mit Österreich. „Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die
+Regierung das barbarische Prinzip, künstlich und gewaltsam seine
+Kulturvölker unter dasselbe beugend.”
+
+In dieser einseitigen und relativ -- d. h. wenn man die übrigen Staaten
+in Vergleich zieht -- damals auch übertriebenen Schwarzmalerei
+Österreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die
+Lassallesche Broschüre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor
+ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu
+ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie
+Hand zu lassen und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. Es war
+dies die Schrift Karl Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”,
+ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder
+indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich
+würde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange
+mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus über
+jeden Verdacht der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern erhaben,
+daß die Möglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der
+mir aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein falsches Licht auf
+Lassalle zu werfen. Zum Überfluß will ich aber noch einen Passus aus der
+Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die
+den Beweis lieferte, daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse
+schrieb und agitierte, und deren Beweisführung neun Jahre später durch
+die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde -- ein
+Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil er zweifelsohne gerade
+auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt:
+
+ „Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten,
+ die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein
+ Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und
+ Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten
+ aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des
+ italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenüber
+ auszuführen habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen
+ Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden
+ einer späteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es
+ in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu
+ tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der
+ Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat
+ außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten,
+ die er wirklich vertrat.” (K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.)
+
+Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, daß dort, wo Vogt mit
+Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der
+Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was übrigens Lassalle nicht
+verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. Januar 1861 zu
+erklären, daß er nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx'
+Überzeugung, daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, „ganz
+gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, der innere Beweis dafür[4]
+sei „mit einer immensen Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder
+Hinsicht ein meisterhaftes Ding”.
+
+Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst instruktives Buch zum
+Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet
+enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen
+Dutzend Abhandlungen ausreichen würde.
+
+Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse.
+
+Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so
+lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein großer Teil davon
+handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenüber
+einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch
+erhalten sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, ist bis
+jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen
+bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die
+Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre
+Begründung, da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich, meist darauf
+beschränkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwände gegen
+dieselbe möglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des
+weiteren dargelegt zu werden, warum in einer für Sozialisten
+geschriebenen Abhandlung über Lassalle nicht nur dessen persönliche
+Beziehung zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus,
+sondern auch sein Verhältnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer
+Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse
+ist.
+
+Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis lange Zeit seine
+fertige Schablone. Für die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete
+sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht
+international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren
+vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die
+Revolution gekümmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig.
+
+Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene
+Gegenüberstellung aufgegeben werden müssen.
+
+Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, war in demselben
+Verlage, wie später diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe Thema
+behandelte. Sie war betitelt: „Po und Rhein.” Der Verfasser, der sich
+ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift,
+suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß die von den Organen der
+österreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe zu
+seiner Verteidigung im Südwesten der italienischen Provinzen, falsch
+sei, daß auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition
+in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhängiges
+Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund,
+mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig genug Anlaß haben werde,
+Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen.
+Oberitalien sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens im Kriege
+nutzen, im Frieden immer nur schaden könne. Und auch der militärische
+Vorteil im Kriege würde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25
+Millionen Italienern. Aber, führte der Verfasser alsdann aus, die Frage
+um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und
+Italien, und nicht eine zwischen Österreich und Louis Napoleon.
+Gegenüber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in
+anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte,
+handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur
+gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn
+man sie nicht mehr halten kann ... „Werden wir angegriffen, so wehren
+wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit
+auftreten wolle, so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern
+Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber
+die Karte von Europa revidiert werden, „so haben wir Deutsche das
+Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe, und daß
+man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle
+Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber
+ist,” heißt es schließlich, „daß wir Deutsche einen ganz
+ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio,
+die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten
+gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und außen stark
+machen kann.”
+
+Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer als -- Friedrich Engels.
+Unnütz zu sagen, daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx
+veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle
+hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung
+ihres Inhalts an die -- damals noch unabhängige -- Wiener „Presse”
+geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. Er kannte also ihren
+Inhalt ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” schrieb,
+polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekämpft, daß, da
+der Krieg durch Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen
+Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit
+einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als
+solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt,
+Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert, und zwar in dem
+Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt und seine Studien”[5].
+
+Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen
+übereinstimmten, dafür nur ein Beispiel. Österreichischerseits war auf
+die Verträge von 1815 hingewiesen worden, durch welche Österreich der
+Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun:
+
+ Vogt:
+
+ „Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen
+ Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in
+ frecher Weise die Verträge gebrochen hat. Von allen andern sind sie
+ bis jetzt respektiert worden, nur Österreich hat sie gebrochen,
+ indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand
+ gegen die durch diese Verträge garantirte Republik Krakau
+ ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres
+ einverleibte.” („Studien”, S. 58.)
+
+ Lassalle:
+
+ „Die Verträge von 1815 können nicht einmal mehr diplomatisch
+ ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung
+ Belgiens, mit Füßen getreten und zerrissen gerade von Österreich
+ durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die
+ europäischen Kabinette zu protestieren nicht unterließen, haben sie
+ jede rechtliche Gültigkeit für jedes Mitglied der europäischen
+ Staatenfamilie verloren.” („Der Ital. Krieg usw.” Ges. Schriften
+ Bd. I S. 43.)
+
+Hören wir nun Marx gegen Vogt:
+
+„Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des
+Königreich Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus
+‚Achtung’ vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder
+die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit
+moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder
+besetzt von Russen, Österreichern und Preußen, wurde völlig als
+erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter
+Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und
+Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen,
+Österreicher und Preußen abermals Krakau, um es Österreich
+einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen
+Mächte, und die österreichische Konfiskation von 1846 war nur das
+letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr Vogt”, S.
+73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet
+„Palmerston and Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston seit
+1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes
+das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert,
+wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, daß Vogt
+auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von
+bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb.
+In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen
+bonapartistischen Pamphlete, „La vraie question, France, -- Italie --
+Autriche”, hatte es wörtlich geheißen:
+
+„Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische Regierung die
+Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben
+verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit
+diese Verträge garantierten?”
+
+Vogt hatte in seiner Manier überall noch einen Extratrumpf
+aufgesetzt. Phrasen wie „die einzige Regierung”, „in frecher
+Weise”, „frevelnde Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am
+Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die „politische Nemesis”
+gegen Österreich anruft.
+
+Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, das Vogtsche Machwerk
+noch nicht zu Gesicht bekommen, aber daß seine Schrift durch die von
+Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle in die Presse des In-
+und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt
+nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe ähnlicher an die Seite
+gesetzt werden können, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen
+Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß die Politik ihres Heros
+sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so übersahen sie dabei nur
+die eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen Regierung
+vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in
+den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener
+Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen ließ, um sie für seine damalige
+Politik zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in dieser Schrift,
+die später von bürgerlichen Schriftstellern als ungewöhnliche
+Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts
+„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten
+Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor
+der preußischen Heeresreform, daß, wenn Preußen einen deutschen
+Bürgerkrieg für die Herstellung einer einheitlichen deutschen
+Zentralgewalt ins Werk setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen
+kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” („Studien”
+S. 155.) Des weiteren wußte Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich
+im Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” klar
+geworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und
+der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur
+Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Österreichs zum Schwerte
+greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder
+für Österreich verhindern wird, um ... seinen Lohn für diese
+Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. („Studien” S.
+19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht
+verlangen.
+
+Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausführung gekommen.
+Bismarck, der dazu bereit gewesen wäre, war dem Prinzregenten von
+Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als Minister des Auswärtigen genehm
+zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurück,
+Österreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine
+Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine
+Truppen zurück. So „drauf und dran” Österreich zu helfen, wie
+Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht.
+
+„Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und die Aufgabe
+Preußens’” -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und
+Engels -- „wird Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr dort
+hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese
+annähernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein.
+Absolute Franzosenfresserei, Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, die
+revolutionäre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund),
+das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die
+Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der
+untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gießen
+suchen, und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen den Willen
+des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für
+unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müßte ein
+von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsre
+demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner
+Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen kommt dazu, daß man
+schon jetzt den Riß, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und
+gar zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand ich für Pflicht,
+mich entgegenzuwerfen ... Natürlich gebe ich mich keinen Augenblick
+der Täuschung hin, als könnte und würde die Regierung den sub III
+eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr
+fühlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er
+sofort in einen Vorwurf umschlägt. Er kann wie ein Eisblock wirken,
+an dem sich die Wogen dieser falschen Popularität zu brechen
+anfangen.”
+
+Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die
+revolutionäre als die nationale Bewegung zu fördern, die letztere der
+ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage
+war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale
+Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle
+einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine
+Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. Marx
+und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunächst darauf
+an, den gegen Deutschland als Ganzes geführten Streich durch eine
+gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, und nicht in dem
+Moment, wo ein solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst nur
+scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung Deutschlands führen mußte.
+Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage
+beruht im wesentlichen darauf, daß sie sie mehr in ihrem weiteren
+historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, während
+Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf die augenblicklichen
+Verhältnisse in der inneren Politik leiten ließ. Daher beging er auch
+die Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich streng zwischen
+Volk und Regierung unterschied, Österreich und das Haus Habsburg ohne
+weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung Österreichs” zu
+proklamieren, wo es sich zunächst doch nur um die Zertrümmerung des
+habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe
+an Rodbertus knüpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:
+
+ „Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die türkische
+ Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten
+ oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen”
+
+und sagt:
+
+„Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich in Ihrem letzten
+Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese
+Ansicht meinen besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten und
+mich dafür von ihnen einen Träumer nennen lassen müssen! Die ganze
+Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen
+orientalischen Frage hat für mich immer nur den vernünftigen Sinn und
+Zusammenhang gehabt, daß die Frage so lange hinausgeschoben werden
+muß, bis der naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, sie löst!
+Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrüder zur Welt
+gekommen zu sein.” (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl
+Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. Mai
+1863.)
+
+Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten sollte, nachdem
+vorher Österreich „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn
+und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich losgerissen
+worden, ist schwer verständlich.
+
+Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehört hierher:
+
+„Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, ist es die kleindeutsche
+Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem
+‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor
+1½ Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner
+Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir müssen alle wollen:
+Großdeutschland moins les dynasties.”
+
+„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen
+Partei zugute käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen Furcht vor:
+Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stück
+Nationalverrat.” (Brief vom 2. Mai 1863.)
+
+Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er
+es in „Der Italienische Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen wäre,
+er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben können, denn jenes ist
+ganz gewiß kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für
+seine viel weitergehenden politischen Zwecke, für die Herbeiführung
+der Revolution, die die nationale Frage im großdeutschen Sinne lösen
+sollte, zweckmäßig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai
+1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer
+bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen
+Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so
+können wir uns hier auf einige Auszüge und kurze Zusammenfassungen
+beschränken.
+
+Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne
+Datum, so daß dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt
+Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege gegen Frankreich ...
+sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein
+immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so,
+daß unsere Regierungen den Krieg machen müssen (und sie werden dies tun)
+und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre
+fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig
+entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit
+Leidwesen gesehen ... Käme nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung
+beigebracht wird[6], die Regierung führe diesen Krieg als einen
+nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet
+Ihr sehen, wie vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade bei
+Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen Treue’ das Volk an seine
+Regierungen binden würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist
+offenbar etwa folgendes:
+
+„1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere
+Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter
+Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf und dran sei, für
+Österreich einzutreten.”
+
+Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend.
+
+„2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden unsere Regierungen
+gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das
+Volksinteresse für den Sieg sie unterstützt.)
+
+„3. daß das Volk der Überzeugung sei, der Krieg werde im
+volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionären Sinne, also
+gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein können wir besorgen,
+und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.”
+
+Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben könne,
+„einen populären Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”.
+Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, die er als
+maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung auf die Aussichten der
+revolutionären Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung auf
+die Beziehungen der deutschen Demokratie zur französischen und
+italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als
+Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, daß er dieselbe Politik
+empfehle wie Vogt, der im französischen Solde schreibe, antwortet er:
+„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad
+absurdum führen? Dann könnte ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß
+Du das Unglück hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu
+sein.” Alsdann rühmt er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt
+habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” hätten zum Rückzug
+geblasen, die letztere „in einer Serie von sechs Leitartikeln eine
+vollständige Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht darauf kam,
+sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich
+so schnell bekehren ließen!
+
+In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heißt
+es: „Es ist ganz selbstredend, daß zwischen uns nicht das Prinzip,
+sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffaßte, die
+‚passendste Politik’ ... streitig war.” Und um wieder keinen Zweifel
+darüber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h.
+also doch die zur revolutionären Entwicklung passendste Politik.”
+
+Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen
+muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich
+meine Broschüre schrieb, sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg
+gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung,
+daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulär und
+verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück
+gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, nicht für diesen Krieg
+schreiben und propagieren ... Für die gegenwärtige Lage sind wir
+wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr für die
+zukünftige.”
+
+In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade
+eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich
+später zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen
+Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preußische Regierung
+überzeugt, wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch war und daß
+durchgreifende Änderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu
+setzen, sei es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit einiger
+Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. Wer es also mit „Preußens
+deutschem Beruf” ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation
+einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was
+ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: „Das
+Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- völlige, nur verkappte -- der
+Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung
+eines immensen Machtmittels für Absolutismus und Junkertum ist in zwei
+Worten der evidente Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt haben,
+so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es durchgesetzt. Wer jetzt in
+Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger
+sterben!”
+
+Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus
+Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem
+Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in
+der ausgeführt worden war, daß, wenn Preußen Österreich gegen Frankreich
+zu Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich intervenieren, d. h.
+Preußen _und_ Österreich den Krieg erklären würde. Diese Note sei,
+hatte Marx ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um einen Anschlag
+gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die
+Schwächung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei
+zweitens eine unverschämte Einmischung Rußlands in deutsche
+Angelegenheiten, die nicht geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun
+Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber
+selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur
+„die deutschen Regierungen”. „Denn, diable! was geht Dich und mich
+die Machtstellung des Prinzen von Preußen an? Da alle seine Tendenzen
+und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes
+gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen
+Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen so gering wie
+möglich ist.” Man müsse sich also eher solcher Demütigungen freuen und
+sie höchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die
+Franzosen unter Louis Philipp getan hätten.
+
+Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” ausdrücken, als es hier
+überall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster
+eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der
+Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, haben nach
+Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach
+einpacken müssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des
+„Italienischen Krieges” leiteten, sind alles andere, nur nicht eine
+Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, daß
+hier, wie es in den meisten bürgerlichen Biographien heißt, bei Lassalle
+der Parteimann hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im Gegenteil
+eher sagen, daß der Parteimann, der republikanische Revolutionär, den
+Patrioten zurückdrängt.
+
+Man könnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage
+aufwerfen: „Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an
+Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der
+Broschüre vertritt, wer garantiert dann, daß der erstere der wirklich
+von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle
+nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx
+gegenüber getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen aber so viele
+Gründe, daß es kaum der Mühe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der
+wichtigste ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre und Briefen
+schließlich doch nur ein scheinbarer ist. Wo Lassalle in der Broschüre
+etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen
+deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem großen „Wenn”,
+und diesem Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber nicht, dann”
+gegenüber, und formuliert dieses „Dann” so: „So wird damit nur aber
+und aber bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland einer
+nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die positiven Behauptungen in
+der Broschüre hält er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint
+es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschüre
+ausmachenden Darlegung, daß die Demokratie -- worunter er die
+Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg
+gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, weil sie sich dadurch mit den
+Unterdrückern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus
+ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. Bis soweit ist
+denn auch die Broschüre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt
+für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung
+vollkommen berechtigt.
+
+Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die
+gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich
+bekämpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem
+Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht
+an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er für eine Politik
+eintritt, von der er nicht auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch
+tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mußte glauben, er
+wünsche nichts sehnlicher, als daß die preußische Regierung die darin
+von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen,
+daß er sicher war, die preußische Regierung werde diese Politik nicht
+befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht
+gerechtfertigt. Das Advokatenstück, eine Sache nur deshalb zu
+empfehlen, weil man zu wissen glaubt, daß sie doch nicht geschieht, ist
+ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen
+Anhänger irrezuführen, was ja später auch in diesem Falle eingetreten
+ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist
+das denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition
+in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom „National”,
+auswärtige Politik machten, ebnete später dem Mörder der Republik, dem
+Bonapartismus, die Bahn. Wie die „reinen Republikaner” die
+napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die
+friderizianische Legende gegen die damalige preußische Regierung
+ausspielen zu können. Aber die friderizianische Tradition, wenigstens
+soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preußischen
+Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der
+Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda für sie.
+
+Wie diese später, sobald Preußen sich dazu militärisch stark genug
+fühlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg
+zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie Österreich glücklich aus
+dem deutschen Bund herausgedrängt und die „Einigung”
+Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, aber
+diese Realisierung des im „Italienischen Krieg” entwickelten Programms
+verhält sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte, wie in der
+Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7].
+
+[Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen Frage gebracht?
+Österreichs Verdrängung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische
+Propaganda im höchsten Grade gefördert, die österreichische Regierung
+muß heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese
+traten infolgedessen mit immer größeren Ansprüchen auf. Wo sie früher
+mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen wären,
+wollen sie heute herrschen und unterdrücken; in Prag, heute eine
+tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und französische
+Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die
+Angliederung der deutschen Landesteile Österreichs an Deutschland wird
+früher oder später freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach
+ungünstigeren Verhältnissen als vor der glorreichen Herauswerfung
+Österreichs aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das Deutsche Reich
+ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter
+um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat
+Rußland so stark gemacht, daß die deutsche Politik wieder das größte
+Interesse an der Erhaltung selbst dieses Österreichs hatte. Etwas ist
+immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Rußland der
+Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange
+mag das heutige Österreich als Staat noch eine Berechtigung haben.]
+
+Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes als die bloße
+Herausdrängung Österreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung,
+die Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder einen integrierenden
+Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber
+um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen,
+dessen unmittelbare Folge der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein
+Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, dessen Bevölkerung 1859
+ganz entschieden auf seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke
+Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle außer ihm liegenden
+Rücksichten zu opfern, erklärt dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie,
+die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs schärfste verurteilt
+hatte.
+
+Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der leidenschaftliche Drang, in
+die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer
+wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung
+an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen
+Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem
+Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die
+revolutionäre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die
+Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. März 1859 an Fr. Engels
+geschrieben:
+
+„Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen und
+geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von
+sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht,
+was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche Beginn praktischer
+Bewegungen alle größere theoretische Tätigkeit sistiert.”
+
+„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa weiß, wenn es
+dafür gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.”
+
+Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins
+monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine
+Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die
+Revolution für die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist
+gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt:
+Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Götter --
+die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” --
+das Volk -- in Bewegung setzen.
+
+ * * * * *
+
+Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen Krieg usw.”
+folgen ließ, war ein Beitrag für eine Zeitschrift in Buchform, die der
+demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel
+„Demokratische Studien” im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der
+später als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes politisches
+Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” Man könnte ihn als ein
+Nachwort zu „Der italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem
+Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen für gut
+befunden. Das „politische Vermächtnis” Fichtes ist, wie Lassalle unter
+Vorführung eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs zu
+einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit
+Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung
+der Einheit Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei einer Eroberung
+Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten würde
+„nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stämme durch
+die gewaltsame Aufdrängung des spezifischen Hausgeistes unter die
+Besonderheit desselben gebracht, preußifiziert, verbayert,
+verösterreichert!” ... „Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung
+fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen
+Besonderheiten liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das deutsche
+Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.”
+
+„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern
+mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke,
+wäre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealität dieser Entschließung
+ist es geradezu töricht von Männern zu verlangen” -- es ist von den
+deutschen Fürsten, speziell vom König von Preußen, die Rede -- „deren
+geistige Persönlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes
+Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte
+ist und die dies daher ebensowenig leisten können, als es einer von uns
+anderen leisten würde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschließlich
+durch dieselben Faktoren bestimmt worden wäre.”
+
+Dies sind die letzten eigenen Ausführungen Lassalles in dem Aufsatze. Es
+folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die Einheit
+Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage der „ausgebildeten
+persönlichen Freiheit”, und daß gerade deshalb die Deutschen „im
+ewigen Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes Reich des Rechts”
+darzustellen, ein Reich der „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles
+dessen, was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es von uns, die
+unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufügungen
+abschwächen zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger
+gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche” -- einen
+Artikel über eine „brennende Tagesfrage” zu schreiben -- „nicht
+buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfüllt --
+wie der meinige.”
+
+Welches aber war Lassalles Zweck bei der Veröffentlichung des Aufsatzes,
+der das Datum: Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief an Marx
+uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum
+er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen Werkes in
+Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens
+habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und
+tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschüre „Politische
+Totenschau” zeige, wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. Dann aber
+heißt es weiter:
+
+„Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht einigen entwickelnden
+Einfluß auf unsere deutschen Philister ausüben, und schlug ich aus, so
+kam der Auftrag jedenfalls an einen weit weniger entschiedenen, ja ganz
+unbedingt an einen mit monarchischem oder ähnlichem Demokratismus oder
+klein-deutschen Ideen Liebäugelnden, während mir der Auftrag die
+Möglichkeit bot, wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf
+ertönen zu lassen und so im Namen unserer Partei von einem Buche Besitz
+zu ergreifen, welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen
+Inhalt, obgleich ich weder über diesen noch seine Mitarbeiter Näheres
+weiß, schwerlich zur Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses
+unserer Partei beigetragen hätte.
+
+„So schreiben-wollend und nicht wollend entstand ein Artikel, von dem
+ich mir, speziell um ihn Dir zu überschicken, einen besonderen Abzug
+kommen ließ. (Das Buch erscheint erst zur Oktobermesse.) Ich schicke ihn
+gleichzeitig mit diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann an
+Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, ob er Dir gefallen.
+
+„Ich glaube, daß er mitten in diesem widrigen gothaischen Gesumme doch
+immerhin den erfrischenden Eindruck macht, daß hinter den Bergen auch
+noch Leute, daß eine republikanische Partei noch lebt, den Eindruck
+eines Trompetenstoßes.”
+
+Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle damals arbeitete, war das
+„System der erworbenen Rechte”. Drollig und doch wieder für jeden, der
+sich mit größeren Arbeiten beschäftigt, ungemein verständlich klingt die
+Klage Lassalles, die Arbeit ziehe sich so lange hin, daß er „bereits
+einen intensiven Haß gegen sie bekommen habe”. Aber das „verm--
+Werk”, wie er es an einer anderen Stelle in demselben Briefe nennt,
+sollte auch in den drei Monaten, die er sich nun als Termin stellt,
+noch nicht fertig werden.
+
+Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfällen jener chronischen
+Krankheit, von der er bereits in der Düsseldorfer Assisenrede spricht,
+und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. „Ich war und bin noch
+recht krank”, fängt ein Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein
+muß, „ich war von neuem krank und schlimmer als früher”, beginnt der
+obenzitierte Brief. „Habe ich mich in der letzten Zeit überarbeitet oder
+rächt sich nun zu lange Vernachlässigung”, heißt es weiter, „kurz,
+es scheint als ob meine Gesundheit aufgehört habe, der unverwüstliche
+Fels zu sein, auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.” Um
+sich gründlich zu heilen, ging Lassalle im Sommer desselben Jahres
+nach Aachen. Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin,
+Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedürftig
+war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so für
+sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den
+aber Fräulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.
+
+Es sind über diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die
+Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Fräulein von Sontzew,
+später die Gattin eines Gutsbesitzers in Südrußland, im Jahre 1877 in
+der Petersburger Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, und
+von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von
+F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffäre ist
+nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie
+von Sontzew schreibt, daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf sie
+gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt habe, ihn lieben zu können,
+es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie
+sich schließlich darüber klar geworden sei, daß eine Liebe, die
+zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie
+unter Hinweis auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen
+werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht gerade auf diese Kämpfe die
+junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgeständnisse und
+Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite
+scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein von Sontzew
+beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu
+sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame
+hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch
+wußte Lassalle sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über den
+Mißerfolg bald zu trösten.
+
+Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre sind die aus Anlaß
+dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor
+allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” bezeichnete,
+mehr als 35 Druckseiten ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines
+der interessantesten Dokumente für die Charakteristik Lassalles. Sehen
+wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jüngling heranreifenden Knaben,
+so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling sein Ich
+bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen
+Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge
+Lassalles ist seine -- man könnte fast sagen, unbewußte
+Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine beständige Neigung,
+ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte
+Natur. Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr
+Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die
+Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu
+verbergen. Aber es war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch anders
+zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften
+waren viel zu stark, als daß sie sich nicht überall verraten hätten,
+seine Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch jedes Gewand,
+in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem
+Bilde, das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl
+es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mädchen erscheinen wollte,
+der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern.
+
+Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und
+seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, wie er in
+diesem Manuskript sich im Glanze seines zukünftigen Ruhmes sonnt, sich
+als der Führer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar
+nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn fürchten und
+hassen läßt, wo zur Furcht und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso
+übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. „Nichts, Sophie,”
+schreibt er über den Erfolg der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur
+annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den
+ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz
+schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen,
+die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag
+verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen
+und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen
+diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte
+mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren
+Hauptführer an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, daß er aus
+diesem „mit nicht weniger Glanz” hervorging. „Ich werde Ihnen meine
+Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie
+wird Sie amüsieren.” Daß er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt
+er nicht.
+
+Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit
+fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen,
+statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief
+hindurch klingt der Ton einer echten Überzeugung. Selbst wenn Lassalle
+von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt „gewisser Ereignisse”
+-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zukünftigen Frau
+ausstatten würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht wahr, Sophie,
+mit so großen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen
+Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloße Spekulation auf
+individuelles Glück machen?” -- und bemerkt weiter: „Deshalb darf man
+in keiner Weise darauf rechnen.”
+
+Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte” Lassalles von
+Interesse. Er spricht sich darin sehr ausführlich über sein Verhältnis
+zur Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine
+früheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel
+sicher, daß Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um das er gerade
+warb und das als Gattin heimzuführen er so große Anstrengungen machte,
+seine derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit sie über die der
+Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, stärker zu schildern, als sie
+wirklich waren. Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in
+Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit für die Gräfin. Er
+liebe sie „mit der zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert
+hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte Mutter”. Er
+verlangt von Sophie, daß sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin
+„mit der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und hofft, obwohl
+die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” sei und, ehe sie nicht
+wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar
+werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu können, -- um „alle
+drei glücklich und vereint zu leben”[9].
+
+Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die Sache so hinstellen, als
+habe sich die Gräfin Hatzfeldt damals in Berlin und später Lassalle
+einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos übertrieben haben.
+Die Hatzfeldt hatte ihre großen Fehler und ihre Freundschaft ist
+Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst
+verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten
+wir es für unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem
+entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen
+Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene
+Behauptung, Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre gestürzt,
+um die Hatzfeldt loszuwerden.
+
+Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den Eindruck, den die Gräfin
+Hatzfeldt persönlich auf sie gemacht habe, nur günstig aus.
+
+Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen
+Aufenthalts in Aachen. Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit
+der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe über
+die Verhältnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle
+schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des
+Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders
+bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er
+in Berlin noch mit den Führern der liberalen Opposition auf bestem Fuße
+stand, über die damalige liberale Presse und über den von den Liberalen
+in den Himmel gehobenen preußischen Richterstand dachte. Da sie ebenso
+kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.
+
+Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn,
+unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der
+infamierendsten Handlungen verdächtigt hatte, wegen Verleumdung zur
+Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum
+Prozeß kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht,
+am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nämlich, daß wenn
+Zabel alle diese Verleumdungen Vogts über Marx wiederholt und sie dabei
+noch übertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben
+konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx
+selbst in Preußen für unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an
+Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Prozeß abgeraten
+hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:
+
+„Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei
+uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann!
+Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in
+einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz
+reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische
+Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte
+betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
+diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise für diesen
+Satz, und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und
+zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in
+reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich muß die Erinnerung daran gewaltsam
+unterdrücken. Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen
+Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie
+Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom
+ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewältigt und
+niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu
+werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer
+Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen höre.
+Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu
+unsern Richtern zu sein.
+
+„Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du. ‚Jedenfalls,’
+sagst Du, ‚liefern mir die Preußen so ein Material in die Hand, dessen
+angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!’ Nein,
+lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht,
+daß Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst.
+Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als
+wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest
+man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen
+wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein
+armseliges Wörtchen davon bringen. Sie werden sich hüten! Und unsere
+liberalen Blätter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein
+Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen
+Richterstand’ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken
+schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei
+vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde
+schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis
+zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die deutsche Zunge reicht’,
+ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen?
+O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel
+liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel!
+ich weiß wirklich keinen anderen Ausdruck für sie -- es ist die
+reine ......”
+
+Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck
+wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen.
+
+Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im zweiten Band der
+Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz über Lessing, den er
+bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: „Lessings Leben und
+Werke” geschrieben, und ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches
+Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen.
+
+Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig unbedeutend. Er ist noch
+vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich
+sehr stark an die Ausführungen an, die Heine in „Über Deutschland”
+mit Bezug auf Lessings Bedeutung für die Literatur und das öffentliche
+Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing
+als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des
+Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit der Situation des
+derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche
+Situationen erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm da wohl Heines
+Ausspruch vorgeschwebt haben: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann,
+der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und
+dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!”
+War es doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu
+werden. Wie im Hutten des „Franz von Sickingen”, so spiegelt sich auch
+im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es
+fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. „Allein wenn wir den
+Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte
+durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” fragt Lassalle, und
+um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten
+Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu
+lösen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum „Spartakus” eine
+Stelle, wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: „Ich höre,
+du philosophierst, Spartakus”, zurückgibt:
+
+ „Wo du nicht willst, daß ich philosophieren soll -- Philosophieren,
+ es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!”
+
+Zwei Dezennien darauf sei in der französischen Revolution diese
+Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr
+„wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus
+und dem Konsul der Zukunft”.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [4] Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der ursprünglich Vogt in
+ Schutz genommen, schon früher zugegeben.
+
+ [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre von Engels „Savoyen,
+ Nizza und der Rhein”. Lassalle hatte in seiner Broschüre die Annexion
+ Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn
+ Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende Kompensation
+ erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. Engels weist nun
+ nach, welche außerordentlich starke militärische Position der Besitz
+ Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe,
+ was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen
+ preis, weil es im Moment mehr dafür eintauschte, die Schweizer waren
+ aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner,
+ Stämpfli, Frey-Herosé u. a., taten ihr möglichstes, die Überlieferung
+ des bisher neutralen Savoyer Gebiets in französische Hände zu
+ verhindern. Im „Herr Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver
+ die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen
+ hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher Blick auf die
+ Landkarte.
+
+ [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: „Nur daß zum
+ Glück auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum
+ erscheint mir der revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.”
+ Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre?
+
+ [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in
+ griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die
+ russische Revolution mit der Auflösung des russischen Imperiums den
+ größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die
+ auch Wendungen enthält, zu denen ich mich grundsätzlich nicht mehr
+ bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen,
+ weil sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo sie
+ geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866
+ geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte.
+
+ In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle
+ Abänderung erfahren, die mir deshalb der Erwähnung wert erscheint,
+ weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der,
+ wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins
+ Deutsche zurückübersetzt lautet die Einleitung dort:
+
+ „Wohin hat die preußische Lösung der nationalen Frage Deutschland
+ gebracht? Lassen wir die Frage Elsaß-Lothringen beiseite -- die
+ Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und
+ betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenüber Rußland
+ und dem Panslawismus. Österreichs Verdrängung aus dem Deutschen Bund”
+ (weiter, wie im Original).
+
+ Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens mit keiner Silbe
+ erwähnt war und sie für Engländer damals noch kein spezielles
+ Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr,
+ ihrer zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu
+ bezeichnen -- „an additional blunder” heißt es im Englischen. Ein
+ Beweis, wie wenig Engels diese Annexion für endgültig ansah.
+
+ Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt wird: „Deutschland
+ gebracht”, war durch die Rücksicht auf das andre Lesepublikum von
+ selbst geboten. Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen
+ diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen.
+
+ [8] Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand
+ Lassalles”. Die Verfasserin ist nun auch längst aus dem Leben
+ geschieden.
+
+ [9] Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches Verhältnis
+ zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine
+ ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil die
+ Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, neben sich
+ noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine
+ ganze Abhandlung über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand
+ Lassalles, Nachtrag.)
+
+
+
+
+Das System der erworbenen Rechte.
+
+
+Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles wissenschaftliches
+Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur für den Rechtstheoretiker
+geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den
+praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich näher als die Materie des
+„Heraklit”, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die
+Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht
+gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein „Riesenwerk
+menschlichen Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen so
+ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der erworbenen Rechte”
+zugleich von der außerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem
+großen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus
+allen diesen Gründen wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei
+diesem Buche etwas länger aufhalten.
+
+Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers dieser Abhandlung,
+ein Urteil darüber zu fällen, welche positive Bereicherung die
+Rechtswissenschaft dem „System der erworbenen Rechte” verdankt. Das
+vermag nur der Kenner der gesamten einschlägigen Literatur, der
+theoretisch gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, die
+Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die
+Art, wie er sie löst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner
+Lösung zugrunde liegt.
+
+Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile
+zerfallende Gesamtwerk trägt. „Eine Versöhnung des positiven Rechts und
+der Rechtsphilosophie.” Lassalle führt in der Vorrede aus, daß trotz
+Hegels Versuch, eine Versöhnung zwischen dem positiven Recht und dem
+Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen
+und Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst vor Hegel
+gewesen. Die Schuld daran trügen aber weniger die ersteren als die
+letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials
+einzudringen, hätten sie sich begnügt, „im Himmel ihrer allgemeinen
+Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich
+zu bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche
+ein wahrer „horror pleni”, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran
+indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich hervorgehoben
+habe, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in
+die Erfahrungswissenschaften. Hegels „Rechtsphilosophie” konnte, führt
+Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe
+erschien, „als der erste Versuch, das Recht als einen vernünftigen, sich
+aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
+Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, als etwa die
+allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst”.
+Hätten nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, bei den
+„dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben -- „Eigentum, Familie,
+Vertrag usw.” -- stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, eine
+Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen
+Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu
+schreiben, so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen
+positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß mit den
+abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag,
+Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der römische Eigentumsbegriff
+ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der römische
+Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der
+römische Familienbegriff ein anderer als der germanische
+Familienbegriff usw., d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das
+Reich des historischen Geistes gehörend, es nicht mit logisch-ewigen
+Kategorien zu tun hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur
+Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des
+geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und
+Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind.” Eingehend
+und erschöpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des
+vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem
+Beispiel desselben der Beweis geliefert, daß „jene Hegelsche
+Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben werden muß und
+nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre
+Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu
+erzeugen ...” Das gelte aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen
+Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und wenn die Zeit
+theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte, -- „man
+kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas
+(ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle mit berechtigter
+Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies
+in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von
+ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im
+Grunde nur „dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, die „nur
+auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden soll. Es sind immer
+die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die
+nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. Hegel habe, wegen
+unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht
+häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin.
+„Wenn er die römischen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten
+Verstandes auffaßte, so werden wir auf das Positivste im ganzen
+Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von
+unseren Juristen, von den römischen aber das strikte Gegenteil gilt.
+Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die
+des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht
+durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit des
+religiösen und künstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit
+wird dann immer nur erwiesen sein, daß die Hegelsche Philosophie noch
+weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, und daß der spekulative
+Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
+Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System der erworbenen
+Rechte.)
+
+Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem
+Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits
+viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, aber er hält doch
+nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der
+Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen
+Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form
+der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der
+Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung
+und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen
+Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem
+Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich bei den
+Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische
+Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die
+„Realisationen historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen die Frage
+nach den Umständen, unter denen diese Geistesbegriffe sich
+entwickelten, nach den materiellen Verhältnissen, deren Ausdruck sie
+sind, ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar um und will
+„im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich
+rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß des
+jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. So muß er
+naturgemäß, auch bei dem größten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen
+Folgerungen gelangen.
+
+Als das „großartigste Beispiel”, an welchem diese ursächliche
+Abhängigkeit des „angeblich rein Positiven und Historischen” von den
+historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet
+Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des
+Werkes, der den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und germanischen
+Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung.” Die Stärke dieser
+Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchführung
+des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glänzenden Darstellung.
+Durch alle hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den
+Gedanken zu verfolgen, dem römischen Erbrecht liege der Gedanke der
+Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde,
+während im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne
+Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade
+das sei, was vom römischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres
+Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt
+die Schwäche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie
+ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt diese zwar wieder und
+immer wieder, läßt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter
+liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt es, daß das römische Erbrecht
+die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrückt? Von der römischen
+Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt
+es, daß das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der „Idee der
+germanischen Familie”. Welches ist die römische Unsterblichkeitsidee?
+Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der
+germanischen Familie? Die „sittliche Identität der Personen, die zu
+ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes
+oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns
+im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, warum
+diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen
+konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die
+Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Römer und Germanen aus
+deren wirklichen Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die letzte
+Quelle des Rechts erscheint überall der „Volksgeist”. Dabei verfällt
+denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit
+Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er
+unterscheidet zwar zwischen römischem und germanischem Volksgeist, aber
+er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße des römischen Volkes
+und konstruiert einen, ein für allemal -- das ganze Jahrtausend von der
+Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des römischen Weltreichs
+-- maßgebenden „römischen Volksgeist”, der sich zum -- ebenso
+konstruierten -- „germanischen Volksgeiste” etwa verhalte, wie „Wille
+zu Liebe”.
+
+Allerdings darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit, wo Lassalle sein
+„System der erworbenen Rechte” schrieb, die eigentliche
+Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der
+römischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen
+lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen
+Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß
+er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er sie nicht
+einmal richtig stellte.
+
+Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich
+durch Morgans epochemachende Untersuchungen über die Gens (Sippe) ist
+genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der
+verschiedenen Völker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die
+Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als
+die germanischen Stämme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit
+eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der
+Barbarei durchzumachen; der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von
+der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten
+noch in Gentilverbänden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden
+Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor:
+ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein
+Ding der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat
+die „Liebe” -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem
+altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Römern war dagegen schon vor
+Abschaffung des sogenannten Königtums die alte, auf persönlichen
+Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf
+Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche
+Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an
+Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Verbände als
+wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das römische Testament
+erwächst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen
+römischen „Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben
+Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist schuf, der das
+Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung[12] erfüllte. Wenn die
+Römer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt
+das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem
+die symbolische Handlung -- die Willensübertragung -- die Hauptsache,
+der substantielle Inhalt derselben -- die Vermögensübertragung --
+reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch
+weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Völker überhaupt alle
+wichtigen ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; es sei nur an die
+Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der
+Grenzmarken usw. erinnert. Was würde man von einem Historiker sagen,
+der den römischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausfluß der
+besonderen Natur des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer
+speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten
+Äcker Nebensache, der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache gewesen
+sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des
+Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes
+Terminus zurückführen wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den
+Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der
+Testamente bei den Römern bezeichnet, in der römischen Mythologie den
+letzten Grund dieser Rechtsschöpfung erblickt.[13]
+
+Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie
+unlogischen Behauptung, daß, wenn das römische Zwölftafelgesetz für den
+Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem
+nächsten Agnaten (Verwandte männlicher Linie) und, falls kein Agnat
+vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, daß das Testament
+auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das
+Intestaterbe aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden sei.
+Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz, obwohl es die
+Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung
+an. Es konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz der
+Testierfreiheit, daß derjenige erben soll, dem der Erblasser
+testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein
+Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder in Kraft, die
+urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nächste Agnat und dann die
+Gens, der ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut
+erscheint auf den zwölf Tafeln als letztes, weil es als das älteste das
+umfassendste ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz bildet.
+Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus
+hervor, daß er sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff des
+Willens” aufgebauten römischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal
+gezwungen sieht, zu behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee der
+Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde
+liegt” und die Agnaten als „die durch das Band der Gewalt vermittelte
+Personengemeinschaft” bezeichnet. Als gläubige Althegelianer haben die
+alten Römer „mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” den „tiefen
+Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, daß der nicht ausgedrückte
+Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat
+„den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen
+Organisation derselbe verwirklicht ist”. Das Testament, die
+Testierfreiheit, ist danach älter als der römische Staat, aber das
+Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat hat eines schönen
+Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidiärerben eingesetzt,
+und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, sondern in ihrer
+Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der
+Willensidentität.
+
+Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben,
+daß es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat,
+die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr vielmehr eines der
+Rechte, eines der Ämter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen,
+ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, daß erst mit der Lockerung
+des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich
+wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.
+
+Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte er, wie alle
+Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm über das Wesen des
+ursprünglichen römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu
+falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit näherzukommen,
+als seine Vorgänger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese.
+Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren,
+schneidet er sich jede Möglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu
+erkennen. Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beiläufig ebenfalls
+Hegelianer -- hatte römisches Intestaterbe und Testamentserbe als
+miteinander kämpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei
+Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine
+historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu
+erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, so richtig ist der ihr
+zugrunde liegende Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen
+Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen Rechtsbegriffe auf
+verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt
+gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler der historischen Schule”,
+das „aus dem Gedanken Abzuleitende” als ein „äußerlich und
+historisch Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern Seite erklärt
+er es als einen „Grundirrtum”, wenn andere Rechtsphilosophen von der
+Auffassung ausgehen, daß „das römische Intestaterbrecht seinem
+Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich ist es wirklich
+nichts anderes. Nur daß die hier in Betracht kommende Familie sich
+nicht mit der römischen Familie deckt, sondern den weiteren
+Geschlechtsverband umfaßt[14].
+
+Wir können auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber
+aus dem Bisherigen schon, daß der so kunstvoll ausgeführte Bau
+Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. So geschlossen und
+streng folgerichtig daher die Beweisführung, und so geistreich auch die
+Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er
+mit dem ganzen Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, hat er
+nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee ist nicht die
+Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des römischen Testaments,
+sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt
+bestehen, auch wenn der religiöse Hintergrund verschwindet. Und gerade
+in den vielen Formen und Formalitäten, von denen die Römer die
+Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig machten, liegt unseres
+Erachtens ein weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie Lassalle
+meint, die frühere, sondern umgekehrt die spätere Einrichtung gewesen
+ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das
+römische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme
+bildete, während das Intestaterbe noch die Regel war.
+
+Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie
+zieht, daß das Testament nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee --
+der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem Tode -- zu begreifen
+sei, daß es mit dieser „begrifflich” stehe und falle? Daß das moderne
+Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit der
+christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des
+nicht mehr auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in sich
+zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, nichts als ein großes
+Mißverständnis, eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies
+führt uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite,
+trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist.
+
+Der erste Teil des „Systems der erworbenen Rechte” führt den
+Untertitel „Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der
+Gesetze”. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen
+Grundsatz zu ermitteln, der ein für allemal die Grenze anzeigen soll,
+unter welchen Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende Kraft haben
+dürfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoßen. Mit anderen
+Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder
+Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das erstere und wann das
+letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als „erworbenes” zu
+respektieren, wann es ohne weiteres der Rückwirkung unterworfen sein
+soll.
+
+Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gerügte Fehler der
+Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, während alle ihre
+Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen Denkens, das Verständnis --
+innerhalb der bezeichneten Grenzen -- für das geschichtliche Moment,
+verbunden mit revolutionärer Kühnheit in der Verfolgung eines Gedankens
+bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung
+gelangen. So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als
+bei der Untersuchung über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie hoch
+oder gering man immer die Erörterung solcher rechtsphilosophischen
+Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß
+Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise löst, daß sowohl der
+Jurist wie der Revolutionär dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist
+gewiß eine respektable Leistung.
+
+Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als Normen auf:
+
+a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die
+Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.”
+
+b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne
+Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das
+Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein
+menschlichen oder natürlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen
+Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft
+selbst in ihren organischen Institutionen ändert.”
+
+Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbürgerlichen
+Befugnisse der Angehörigen des Landes ändert, tritt sofort in Kraft,
+läßt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher
+ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberührt, auch wenn diese
+Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das
+zur Volljährigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht,
+so verlieren alle Personen über 21 und unter 25 Jahren sofort die an die
+Volljährigkeit geknüpfte Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen,
+denn sie besaßen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die
+Rechtsgeschäfte, die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die ihnen
+bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue
+Gesetz nicht zurück. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch
+individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein
+erworbenes Recht.
+
+Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist
+nicht unter allen Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das Individuum
+kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern,
+insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen
+Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” Jedem Vertrage sei „von
+Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das
+in demselben für sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange
+Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht
+überhaupt als zulässig betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des
+Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame Bewußtsein des
+ganzen Volks, der allgemeine Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts
+könne sich daher das Individuum „niemals der Einwirkung des
+allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen. Nur ein solches
+Individuum würde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten können,
+welches, wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein Recht weder
+erwerben noch ausüben und haben wollte.” „Es läßt sich vom
+Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst
+desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftigen
+zwingenden und prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres als
+„diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” liege in der
+Forderung, daß „ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern
+soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen”. Wenn
+also „der öffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt
+ist, den Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft,
+Hörigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und
+Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit,
+fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschließen”, so
+könne dabei „von irgendwelcher Kränkung erworbener Rechte ... gar
+nicht die Rede sein”. So seien denn auch die Dekrete der berühmten
+Nacht vom 4. August 1789, durch welche die französische
+konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft
+herfließenden Rechte aufhob, von „jeder Rechtsverletzung und
+Rückwirkung” frei gewesen. Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein
+Recht der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, auch da noch
+anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom öffentlichen
+Bewußtsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist,
+heiße „vermöge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als
+Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem öffentlichen
+Geiste einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”.
+Von einer Entschädigung könne nur da die Rede sein, wo nicht das
+Rechtsverhältnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung
+aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von
+Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre
+des Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt werden.
+Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die französischen Versammlungen
+nach 1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des Begriffs”
+innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preußische Gesetz vom
+2. März 1850 über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen
+und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts
+als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewußtsein
+verordnete Vermögensverletzung der ärmsten Klassen zugunsten der
+adeligen Grundbesitzer, d. h. „logisch-konsequent” nichts als „ein
+Raub”[15].
+
+Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte,
+keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die
+aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil über die
+Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle,
+der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. Was
+aus dem ersteren folge, sei vielmehr, daß jede Zeit autonom sei, keine
+Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine
+„rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst noch fortwirken zu
+lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von
+jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut
+würde”. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er
+weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen,
+in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrückt
+habe. „Denn zum Begriff des Rechts gehört nur, daß der Volksgeist einen
+geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre,
+d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umständen
+nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatsächliche
+Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.”
+Diesen Grundsatz finde man schon bei den römischen Juristen, und die
+französische Gesetzgebung während und nach der französischen Revolution
+habe ihn von neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent
+recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionäre, es
+ratifizieren müssen, wenn er die französische Revolution in ihren
+rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms,
+datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgänge in
+Preußen und weist nach, wie im Gegensatz zur französischen Jurisprudenz
+das preußische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen über das
+durch die Märzrevolution von 1848 geschaffene und in der preußischen
+Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrücklich anerkannte neue
+Rechtsbewußtsein, daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind und
+Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch Wortkünste hinweggesetzt,
+Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer
+„Reaktionskonvent” betätigt habe. Vier Jahre, nachdem das „System”
+erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation
+des Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den „liberalen
+Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel
+Anspruch hatte.
+
+Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen erstens durch individuelle
+Willensaktion vermittelt und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem
+erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die
+Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der französische Konvent im
+Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, daß die
+Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw.
+Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die
+seit dem 14. Juli 1789 eröffnet worden, so verstieß er damit nach
+Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im
+Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. Ventose desselben Jahres in
+Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das Gesetz
+„nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem großen
+Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien
+entwickelt” habe, aber das Prinzip der Nichtrückwirkung nicht einmal
+„auch nur in Frage stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann
+eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. das Gesetz auch auf
+die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften ausdehnte.
+
+Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts
+zurückzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen über römisches
+und germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, auf Testamente und
+Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der „Reihen, in welche die
+Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende Erbrecht war danach in Rom
+„erworbenes Recht”, denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der
+„Substanz” des römischen Volkes, nämlich der Idee der Unsterblichkeit
+des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht --
+Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer
+Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität
+der Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen
+Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe
+hat”. Die Familie erbt, weil das Eigentum überhaupt nur
+Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber,
+nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, „nicht mehr
+auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der
+Familie als durch den präsumierten Willen des Toten berufen, sondern
+auf der Familie als Staatsinstitution”, auf dem „die
+Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des
+Staates”. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht,
+von dem wir jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine kompakte
+theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder Intestaterbfolge noch
+Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern „Regelung der
+Hinterlassenschaft von Sozietäts wegen”. Und Lassalle schließt sein
+Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das Testament nicht
+in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen
+habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima
+esset immortalis” -- „Testamente aber wären mit vollem Recht durchaus
+null und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.”
+
+Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklärung, was Lassalle meint,
+wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den
+Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht bald zeigen, daß sich aus
+unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere
+Folgerungen über das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben?” Was
+auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, können
+der Staat oder die Sozietät auch jederzeit ändern, einschränken oder
+ganz aufheben, wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint.
+Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der
+erworbenen Rechte „nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf eine
+Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so
+kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das
+ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrücken würde -- nach
+dieser Umsetzung schreit.
+
+Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den
+Worten beginnt, daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft
+gelöst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein
+könne und dürfe, als „die rechtswissenschaftliche Herausringung des
+unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen
+Gedankens”?
+
+Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst?
+
+Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr
+zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu
+sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die
+Darlegung, daß im allgemeinen „der kulturhistorische Gang aller
+Rechtsgeschichte” darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre des
+Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des
+Privateigentums zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in
+sehr feiner Entwicklung ausführt, mit Recht den größten Wert. Sie ist
+ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk
+begriffsscharfer Logik.
+
+Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn
+sein Beispiel vom Wesen des römischen und germanischen Erbrechts
+maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwäche dieses
+Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu
+rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen
+Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen
+Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser
+Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem
+und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben
+tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in
+letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen
+Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ändern
+sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den
+materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich wird.
+Dann entdeckt der „Volksgeist”, daß dieses Erbrecht seinem
+Rechtsbewußtsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen
+Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint nur als die letzte
+Instanz, die über ihren Bestand entscheidet, tatsächlich ist er so
+etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind
+die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die
+Verhältnisse, unter denen es die Gegenstände seines Bedarfs
+produziert[16].
+
+Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtümer der
+alten Juristen und Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? Der
+Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto
+größeren Schaden für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der
+Sphäre des juristischen und philosophischen „Begriffs” bleibt. Aus der
+„begrifflichen” Ableitung sollen sich die Dinge erklären, die
+„begriffliche” Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung bloßlegen. Die
+Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre
+eigenen Entwicklungsgesetze.
+
+Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger Jurist. Er brachte von
+Hause aus außergewöhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf
+mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte diese Eigenschaft noch
+stärker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen
+Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu
+verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft
+Glänzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche.
+Die juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die
+sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt
+sich schon hier im „System der erworbenen Rechte”, es bildet die
+Schwäche dieses Werkes, es sollte sich aber auch später in seiner
+sozialistischen Agitation zeigen.
+
+Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in
+Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt dagegen
+in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. Das ist
+um so merkwürdiger, als der Schritt, der geschehen mußte, um die
+Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, längst
+angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte.
+1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen Jahrbüchern in einem
+Aufsatz, der obendrein den Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen
+Rechtsphilosophie”, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift „La
+misère de la philosophie” ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx
+und Engels im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner Anwendung
+geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859
+erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” unter
+ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten Aufsatz, geschrieben:
+„Meine Untersuchung” -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung
+bildete -- „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie
+Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der
+sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern
+vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Es ist
+nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
+gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” Und obgleich
+Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am „System” arbeitete,
+obwohl er sich Marx gegenüber in den begeistertesten Ausdrücken über
+es äußerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die
+im Sinne des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein Vorwurf
+gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wäre im höchsten Grade
+abgeschmackt. Wir führen es an zur Kritik seines Standpunktes,
+seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die
+ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen
+Auseinandersetzung mit Marx über die im „System der erworbenen Rechte”
+aufgestellten Theorien des Erbrechts.
+
+Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß sich Marx sofort gegen diese
+auflehnen mußte, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im
+direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen
+Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor,
+daß die, übrigens nicht lange, brieflich geführte Debatte sich im
+wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament
+nur aus der römischen Mythologie, der römischen Unsterblichkeitsidee, zu
+begreifen sei, und daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals für
+sich allein das Testament habe entwickeln können, wenn sie es nicht
+schon im römischen Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz
+charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die
+ökonomische Entwicklung beziehen, Lassalle schließlich immer wieder mit
+juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. Die grundsätzliche
+Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in
+dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, zum
+sprechendsten Ausdruck.
+
+Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen
+geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das „System der erworbenen
+Rechte” eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen,
+der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, höchst anregende und
+genußreiche Lektüre.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit
+ derjenigen Rechtsgrundsätze, die durch die philosophische
+ Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der
+ Rechtsverhältnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen
+ angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es werden daher
+ vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende
+ Begriffe gebraucht.
+
+ [11] Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums
+ und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen”. 1.
+ Aufl. S. 93.
+
+ [12] Um das Jahr 450 v. Chr.
+
+ [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß das Aufkommen des
+ Ahnenkultus bei allen Völkern mit dem Übergang vom Mutterrecht zum
+ Vaterrecht zusammentrifft.
+
+ [14] Übrigens brauchen auch die Römer das Wort familia nicht bloß
+ zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden
+ Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls für den mehr oder
+ minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des römischen
+ Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrücklich zwischen
+ der „familia” im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im
+ weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle
+ diejenigen gehören „... die aus demselben Haus und derselben gens
+ hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die betreffende Stelle ein
+ weiterer Beweis, daß das römische Intestaterbe -- kein Familienerbe
+ gewesen sei. „Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht
+ der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben wollen!”
+
+ [15] Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung von
+ Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen von der Volksvertretung
+ erpreßt wurden, sagt Lassalle manches kräftige Wort. „Wenn eine
+ Staatsregierung”, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der
+ preußischen Regierung eingebrachten und solche Entschädigungen
+ stipulierenden Entwurf -- „die unbegreifliche Schwäche hat, einen
+ solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich
+ auf das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer
+ pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese
+ Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie
+ wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit
+ des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” Was
+ hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert hätte, noch nach
+ dreißig Jahren werden in Preußen solche „Schwächen” und solche
+ „Pflichtvergessenheit” berechtigte nationale Institutionen sein!
+ Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß,
+ als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die Tories nicht die
+ „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich aus ihren jetzt unspekulativ
+ gewordenen Güterankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen
+ Geist zu drehen!” Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er
+ erfahren haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war,
+ als das richtige „praktische Christentum”.
+
+ Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, die Neuauflage
+ des „Systems der erworbenen Rechte” zu besorgen, gerade Lothar
+ Bucher zufallen mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten
+ Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, den
+ Nachweis zu versuchen, wie das „System in den Gesetzberatungen der
+ letztverflossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden
+ können”. Tatsächlich schlagen die meisten der dafür in Betracht
+ kommenden Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins
+ Gesicht.
+
+ [16] Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar zu mechanisch
+ vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen können die
+ religiösen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem
+ Begriff des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum einen
+ großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse
+ ausüben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung
+ hindern oder verlangsamen. Schließlich sind es doch immer die
+ Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich
+ hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung
+ zugrunde liegen.
+
+ [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es „ein
+ Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung hingerissen” habe.
+
+
+
+
+Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das
+Arbeiterprogramm.
+
+
+Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee,
+in Berlin ein demokratisches Blatt im großen Stil zu gründen. Wie er
+über die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie
+er danach dürstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in
+Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV.
+eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle
+daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt
+wären, nach Deutschland zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches
+Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten Brief”, schreibt er unterm
+11. März an Marx, „fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König stürbe
+und Amnestie einträte, zurückkommen würdet, hier ein Blatt
+herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nämlich für
+diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden
+Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein großes Blatt
+herauszugeben. Würdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein,
+herzukommen? Und wieviel Kapital wäre zu einem großen Blatte
+erforderlich? Würde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu
+aufbringen könnte? Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir
+darüber schriebst, denn ich denke gern an dies château en Espagne!”
+In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und
+am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen in der Tat eine
+Amnestie herbeigeführt hatte, schreibt er dringender: „Noch einmal
+stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um hier ein
+Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der „Neuen
+Rheinischen Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher
+zurückkehren?”
+
+Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frühjahr 1861 in
+Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die
+ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben
+und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja „stets
+in der Minorität”! Dann aber legte die preußische Regierung die
+Amnestie so aus, daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch
+mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehörigkeit zum
+preußischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs
+ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Anträge
+genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von
+Ausländern überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten
+Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben der Regierung abhängen
+sollte, jeden davon wieder „abschieben” zu können, dessen Rückkehr
+ihr „unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx eingereichtes
+Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen
+abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. November 1861 datierten
+Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hieß,
+„zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Gründe vorhanden sind,
+welche für die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen
+könnten”. Damit war natürlich jeder Gedanke an eine Übersiedelung von
+Marx nach Berlin ausgeschlossen.
+
+Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Gräfin Hatzfeldt
+eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr
+instruktiv” für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf
+Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er „fast alle
+leitenden Persönlichkeiten” in den verschiedenen Städten, die er
+besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift
+„Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles”
+zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr.
+Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, hat Lassalle bei jenem
+Besuch Garibaldi zu einem militärischen Unternehmen in großem Stil
+gegen Österreich zu überreden gesucht und den Plan dann in London
+auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum
+Diktator aufwerfen, eine große Armee bilden und mit dieser über
+Padua noch weiter vordringen, während zugleich ein an die adriatische
+Küste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken und die
+Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb
+interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener
+Zeit die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, die
+unter anderm die erstrebte Lösung der deutschen Frage bringen sollte.
+Zu erwähnen ist noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach Italien
+einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischärler
+Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne
+auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über Becker Lassalle
+jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn
+gar nicht” -- schreibt er über Becker an Marx zu seiner
+„Information” -- „die, die ihn kennen, halten ihn für einen Blagueur
+und Bummelfritz, für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, der
+eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche
+liegt.” Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx'
+Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. „Du weißt, wie oft wir in
+die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hüten als vor
+unseren Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp war doch
+jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Großsprecher, sondern
+hatte wiederholt für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,
+auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es Lassalle also schon ankommen
+lassen können. Als er später den „Allgemeinen deutschen
+Arbeiter-Verein” ins Leben rief, wußte er auch Beckers Adresse zu
+finden[18] und stellte diesem gegenüber, der auf irgendeine Weise
+erfahren hatte, welche Redereien über ihn im Umlauf seien, die Sache
+so dar, als habe Marx aus einer Mücke einen Elefanten gemacht und
+einer harmlosen gelegentlichen Äußerung über Beckers Verkehr mit Türr
+eine so schlimme Deutung gegeben.
+
+Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin zurück. Er fand die
+politische Situation wesentlich verändert vor. Der Gegensatz zwischen
+dem König von Preußen und dem liberalen Bürgertum hatte sich zum
+offenen Konflikt verschärft; bei den Neuwahlen zur Kammer Anfang
+Dezember 1861 war die schwachmütige konstitutionelle Partei durch die,
+eine etwas schärfere Tonart anschlagende Fortschrittspartei verdrängt
+worden. Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres aus der bis dahin
+eine kleine Minderheit in der Kammer ausmachenden Fraktion
+„Jung-Litauen” entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber die
+Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene Partei. Sie bestand
+aus den verschiedenartigsten Elementen, liberalisierende
+Großbourgeois saßen in ihr neben kleinbürgerlichen Demokraten,
+ehemalige Republikaner mit verschwommenen sozialistischen Tendenzen
+neben Männern, die beinahe noch königlicher waren als der König
+selbst. In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es Wilhelm I. eben
+mit allen verdorben; nur die Partei der Junker und Mucker und die
+eigentliche Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. Die
+Fortschrittspartei verfügte über die große Mehrheit der Kammer und
+über fast die ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die
+das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten
+hegten, um sich ihr anschließen zu können, hielten es für gut, ihr
+zunächst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren
+Kampf mit der preußischen Regierung zu Ende führen werde.
+
+Lassalle war mit denjenigen Männern, die den Mittelpunkt der
+Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit
+zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem
+Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische Berliner
+„Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das,
+„wenn auch häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit
+viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Preßfesseln zur
+Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im
+allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter
+verteidigt”, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der
+„Neuen Rheinischen Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären”
+Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso theoretisch falsch wie
+praktisch verderblich” erklärt. „Wir müssen”, schrieb er, „in
+bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen
+Nüancen ebensosehr die Identität, als den Unterschied unsres
+sozial-revolutionären Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den
+Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.”
+Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt
+haben, alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien den
+reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre ich entschieden, daß ich
+diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr überall à outrance
+bekämpfen werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx
+mit, daß er die Weigerung der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung
+von ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als Anlaß benutzt
+habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. „Umgang
+meine ich, denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze den
+Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte Gelegenheit noch
+mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß
+ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen
+Gesindel gar kein Verhältnis möglich, und so werde ich denn dies
+benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natürliche
+Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.” In der vom 27. März
+1861 datierten Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” finden wir
+denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten
+Angriff auf die „Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den
+Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung und
+Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” fassen, die sie zwingt,
+„sich an bloße Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und
+für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle doch mit andern
+Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin
+selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß
+politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten.
+Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewöhnliche
+Salonlöwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder
+radikaltuende Künstler, wie Hans von Bülow usw., sich der intimen
+Freundschaft Lassalles rühmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der
+Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar
+unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum
+Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich
+Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862).
+Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft
+zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen „reizende
+blondlockige Frau” jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde
+ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate
+darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: „Beiläufig, mit dem ganz
+gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und fügt
+recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, daß seine Frau die
+Veranlassung davon bildet.”
+
+Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher,
+der nach Erlaß der Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war und sich
+in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern
+gehörte einer zahmeren zoologischen Gruppe an.
+
+Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit bestätigen, daß
+dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war,
+die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknüpften.
+Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19.
+Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den
+Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rüstow schrieb, „in
+langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen”
+für seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf
+eine am Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle Bezug und führt aus,
+daß er es zwar für möglich halte, die bestehende Ordnung -- „oder
+Unordnung” -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht,
+sie niederzuhalten; mit andern Worten, daß die Zeit für eine
+sozialistische Revolution noch nicht reif sei. „Bedenken Sie dazu noch
+eins: daß jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit
+hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns
+eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine ähnliche Bewegung
+wachrufen würde.” Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er
+nur „die lahme Antwort Machiavellis”: Politik ist die Wahl unter
+Übeln. „Ein Sieg des Militärs” -- d. h. der preußischen Regierung!!
+-- wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen Österreich wäre
+kein Sieg des reaktionären Prinzips”. Dafür stelle er Lassalle als
+Zeugen die „Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand gegen
+Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schluß zu, daß
+Lassalle eine Revolution erzwingen zu können glaubte und im Hinblick
+hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen hatte. Damit war der
+obenerwähnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu
+gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der
+für gewöhnlich in politischen Dingen ein sehr nüchterner Rechner war,
+zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von
+französischen, ungarischen oder italienischen Revolutionären angeregt
+worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien
+kennengelernt, muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rüstow um ihn
+wußte und, wie Lassalle Marx erzählte, ihn gebilligt habe, mag er
+auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militärs
+zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, daß er Lassalles
+eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles
+übereinstimmte.
+
+Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß zu einer Revolution in
+Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes
+war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rückkehr zum
+Studiertisch nötige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an
+die große national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen,
+verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen,
+was bei dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen Leben übrigens
+nur durchaus erklärlich war.
+
+Die erste Leistung, mit der er zunächst an die Öffentlichkeit trat, war
+das gemeinsam mit Bucher verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der
+Literarhistoriker”. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt
+zusammengeschriebenen „Geschichte der deutschen Literatur” ist, zeigt
+das Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt getroffen werden
+sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm
+mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte „Julian der
+Grabowite” füglich der Ausdruck werden können, „welcher den geistigen
+Höhepunkt dieser Partei kennzeichnet”. Eine etwas übertriebene Logik,
+wie es überhaupt in der Schrift an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war
+der Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da gerade in jenen
+Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelöst und Wilhelm I. ein
+Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War
+nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der
+Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese
+zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage
+gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie in einem Augenblick traf,
+wo sie zufällig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die
+Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe
+Geißelung der bei ihm oft in „gespreizter Bildungssprache” sich
+wichtig machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt.
+Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe die größten
+Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft fälschende und
+tendenziös-gehässige Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das
+Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, während Lothar Bucher
+als „das Setzerweib” vorgeführt wird.
+
+Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, in einem Berliner
+liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte
+Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht möglich war --, den Führern
+der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mündlich
+gegenüberzutreten. Als Thema wählte er die Frage des Tages: den
+ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung
+hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen”
+betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er
+entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm
+ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind
+Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten
+Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist; ein Volk
+besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkür der
+Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch
+ohne die Verfassung sich gegen sie zu schützen. Es sei daher der größte
+Fehler gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu
+ändern und vor allen Dingen das Heer aus einem königlichen in ein
+Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung
+so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschöpft
+hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder
+einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, möge man diese
+Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten
+Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen --
+d. h. als dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen Verhältnisse
+weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. „Das Fürstentum, meine
+Herren,” heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht
+Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen
+wären.”
+
+Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar
+richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie
+trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die
+Übersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hieß, die
+Partei aber -- ein Teil der Führer überhaupt nur, der andere jedenfalls
+zunächst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte.
+Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der
+Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im großen
+und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den
+Zeitpunkt für eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch
+Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen
+Gründe, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen,
+dieser Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion,
+daß man für die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese
+verletzte, für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine viel
+günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene
+Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen
+Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich
+wenigstens alle moralischen sichern.
+
+Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder
+Fortschrittler -- ja, jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben
+konnte, war er daher doch den Führern der Fortschrittspartei höchst
+unangenehm, während die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände
+rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, das Organ der
+Junker und Mucker. Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, wenn
+der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch
+deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage
+zwischen Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil
+dadurch ihre Position als einzig zuverlässige Stütze des Thrones eine
+um so befestigtere wurde. Man muß nicht vergessen, daß die
+„Neue Ära” Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron
+der Hohenzollern von der allzu lästig gewordenen Vormundschaft der
+ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenüber
+dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mußte diese dagegen dem
+König als das unbedingt kleinere Übel erscheinen.
+
+Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei weiteren
+fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, daß die
+fortschrittliche Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- „auf
+mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die
+Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über
+die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich
+unter diesen Verhältnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter
+entwickeln werde.
+
+Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im
+Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel
+Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: „Über den
+besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der
+gegenwärtigen Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte er vorher
+sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht
+einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus --
+unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen
+Reden. Eine ebenso klare wie schöne Sprache, gedrungene, flüssige,
+nirgends überladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz
+fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre
+formellen Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit
+einigen Einschränkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die
+Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte
+nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umständen, unter denen
+sie gehalten wurde, angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen
+Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache an der Hand konkreter
+Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in großen Zügen
+bereits vorgezeichnet ist.
+
+Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische
+Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch
+auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen gleichfalls
+geschieht, die Betonung der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der
+Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter vermöge ihrer
+Klassenlage in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche
+revolutionäre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die
+Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des
+kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des
+„Arbeiterprogramms”, unter welchem Namen der Vortrag später in Druck
+erschienen ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort wieder in
+juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen
+verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage
+selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte man darin eine bloße
+Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie
+Anstoß nehmen möchte. Indes es muß Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt
+werden, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig
+zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen nach einer populären
+Redewendung, die ihn vom „Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand”
+sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen
+Vorstellungen. Es ist derselbe Rückfall, der ihn den Begriff des
+Bourgeois nicht etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten
+läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge seiner ökonomischen Wirkungen
+und Kräfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen
+Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes genießt oder
+beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen
+Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen,
+verwischt er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer nur dann
+einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung
+eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des „Arbeiterprogramm”.)
+Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als
+bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal
+der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin.
+Das preußische Dreiklassenwahlsystem, eingeführt von der
+feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die bürgerliche
+Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des
+modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man
+den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten
+beschränkt, aber was wird dann aus dem „vierten Stand”?
+
+Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet
+Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel
+der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Daß
+jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern
+möglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den
+Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhängig
+macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache
+umgestoßen, daß gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte
+Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem
+am stärksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von den 97
+Millionen Talern, die der preußische Staat im Jahre 1855 aus Steuern
+einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist
+übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die 10 Millionen Taler
+Grundsteuer einfach für eine indirekte Steuer, da sie nicht von den
+Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis
+abgewälzt werde. Das Abwälzen war aber keineswegs eine so leichte Sache,
+solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die Zufuhr von
+außen abgesperrt waren. Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als
+eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche
+von den Grundbesitzern empfunden und bei Veräußerungen behandelt worden.
+9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als eine indirekte
+Steuer bezeichnet werden, da aber die ärmste Klasse keineswegs die
+meisten Prozesse führt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur
+Entlastung des großen Kapitals sprechen, wie immer man sonst über die
+Justizgebühren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des großen
+Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft.
+Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, daß
+sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden
+ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht.
+
+Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von
+Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafür
+anführt, daß „die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen
+Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer
+Konsequenz durchführe, als dies der Adel im Mittelalter mit dem
+Grundbesitz getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in
+Preußen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der
+halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte bloß den
+Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten
+Entfaltung gediehen war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die
+kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems die Presse, und
+obendrein in noch viel höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des
+großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig es natürlich war, gegen
+diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es
+wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, daß, wo er die
+Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen
+will, er hier ausschließlich formal-rechtliche Einrichtungen anführt,
+den Einfluß der ökonomischen Faktoren dagegen gänzlich ignoriert.
+
+Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der
+„Staatsidee”, einen Dithyrambus anzustimmen. Der „vierte Stand” hat
+„eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck
+des Staates als die Bourgeoisie”.
+
+Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der
+liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates
+einzig darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein
+Eigentum zu schützen.
+
+Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die Geschichte sei „ein Kampf
+mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der
+Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns
+befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte
+auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das
+ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt”.
+Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu
+vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei
+„die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen”, sein Zweck
+sei, „durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen,
+solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie
+als einzelne niemals erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe
+von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als
+einzelnen schlechthin unersteiglich wäre”. Und weiter sei sein Zweck,
+„das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
+Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche
+Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig
+ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei „die Erziehung und
+Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit”. So sehr sei dies
+„die wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie deshalb seit
+allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch
+ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner
+Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde”.
+
+Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft überhaupt
+haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als
+einzelne befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben dies die Bestimmung
+des Staates sei und sein müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des
+Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich diese „sittliche
+Natur” des Staates „mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein”
+zu seiner Aufgabe machen und „einen Aufschwung des Geistes, die
+Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit
+herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”.
+
+So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an
+einem großen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen
+Veränderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem
+Begriff und Wesen nach als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes,
+als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner „Idee”
+zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft
+erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen
+Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff ist sozusagen
+ein ewiger. In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer
+Festrede von Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen die
+Staatsidee des Liberalismus” an die „antike Bildung” appelliert,
+welche „nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes
+geworden” sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff
+des Staates sei dahin zu erweitern, daß „der Staat die Einrichtung
+sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen
+solle”. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus
+berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie
+des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so
+weit schießt Lassalle hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten
+beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden von denen der
+Gegenwart, daß die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für die
+Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa die Ideen der Alten über
+die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike
+Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs
+eine auf die Neuzeit übertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die
+Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” in
+sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige
+Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt
+es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates
+sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene
+gewesen. Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein
+Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den
+jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat
+unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit
+gefördert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.
+
+Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff
+der Alten unverändert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag
+ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten
+Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der
+Kultus des Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, und
+wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein
+direktes Eintreten für den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so
+verhinderte diese doch nicht, daß jener Kultus später von den
+Anwälten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten
+ausgebeutet wurde. Das ist überhaupt die Achillesferse aller auf
+abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär
+sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in Gefahr ist, in eine
+Verklärung bestehender oder vergangener Zustände umzuschlagen.
+Lassalles Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner Lassalle
+eines Tages mit den Streitern für das absolute Königtum und den
+Revolutionär Lassalle mit den eingefleischten Reaktionären
+zusammenführte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten
+eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte.
+
+So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen
+Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der späteren
+Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind.
+
+Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an
+die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus
+ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. „Es ziemen
+Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen
+Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn
+der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der
+Gegenwart gebaut werden soll!”
+
+Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so
+vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare
+politische Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei,
+zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch
+sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei einem
+Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen
+und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die
+Broschüre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862
+reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen
+Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der
+Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen „Aufreizung der besitzlosen
+Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden”. Am 17. November
+beschloß das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am
+16. Januar 1863 kam der Prozeß in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz
+einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem
+Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten gleich überlegen zeigte, und
+namentlich den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde Lassalle doch zu
+vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens
+den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine
+verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme
+der Broschüre blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ Lassalle den
+Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zürich in Neuauflage erscheinen.
+
+Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschüren über den
+Prozeß in der ersten Instanz -- von denen die erste die
+Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die Wissenschaft
+und die Arbeiter”), die zweite den stenographischen Bericht über die
+mündlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des
+erstinstanzlichen Urteils enthält -- und schließlich auch unter dem
+Titel: „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die
+eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende
+Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste
+Verteidigungsrede eine außerordentlich geschickte und wirkungsvolle
+Beweisführung dafür, daß der Satz in der preußischen Verfassung „die
+Wissenschaft und ihre Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das
+Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien
+den breiten Volkskreisen vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse
+infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche Verbündete der für
+ihre Freiheit kämpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede über die
+indirekte Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung mit sehr vielem
+geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit
+Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das
+System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch
+kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem
+bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, während in der ersten
+Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte
+betont wurde. Eine eingehendere Würdigung dieser Reden findet man in den
+Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier müssen wir vorerst wieder auf
+die Zeit zurückgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war,
+das Frühjahr 1862.
+
+Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher zunächst kein
+besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von
+der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den
+Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der äußeren, politischen Tendenz
+nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf
+eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte
+Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen
+Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen
+die Regierung spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel radikaler an
+als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der
+Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Großspurigkeit der
+Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hörer, ob Arbeiter
+oder Bürger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von
+außergewöhnlichem Radikalismus.
+
+So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der „Philosophischen
+Gesellschaft” in Berlin war, noch in demselben Frühjahr von dieser dazu
+ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum
+hundertjährigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu
+halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen
+Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen
+die leitenden Persönlichkeiten damals Anstoß. Da das Bürgertum in seiner
+großen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch
+Ideologie treiben.
+
+Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den „Demokratischen Studien”
+Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm
+jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu
+halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes
+Aufsatzes. Und Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht
+entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen.
+
+Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des
+deutschen Volksgeistes.” Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes Stellung
+in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt.
+Weiterhin aber verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche
+Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und
+seine Bedeutung besteht darin, daß die Deutschen die hohe
+weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem „reinen Geist” heraus diesem
+„nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, sondern sogar „die bloße
+Stätte seines Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. „Indem
+hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts
+Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen,
+kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trägt
+hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und
+vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” Und
+was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt
+habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen
+bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” und durchbebe „unter
+dem populären und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes
+edlere deutsche Herz”.
+
+Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des „reinen, mit
+nichts Geschichtlichem verwachsenen” Geistes hinstellen -- das ging noch
+über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit
+großer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte
+Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie
+einige Blätter schadenfroh berichteten, verließen die Hörer zum großen
+Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der Festrede, „um sich nach dem
+Zimmer des leckeren Mahles zu verfügen”. Sie vergaßen aber
+hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der
+philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gästen
+zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen
+lediglich des guten Tons halber besuchen.
+
+Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie,
+zusammen mit dem „Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über
+Verfassungswesen” durch Lothar Bucher an Marx. Er habe „etwas
+politisch-praktische Agitation beginnen” wollen, schreibt er unter dem
+9. Juni an letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag in vier
+Vereinen gehalten. Außerdem einen weit längeren Vortrag über den
+Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.”
+Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe mich jetzt auch
+entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn drucken zu lassen; er ist bereits
+unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im
+weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurück, daß
+durch die intensivere Beschäftigung mit anderen Dingen in den letzten
+drei Jahren die nationalökonomische Materie in seinem Kopf „gleichsam
+fossil” geworden sei. Erst wenn „alles wieder flüssig geworden”,
+werde er an die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur Kritik der
+politischen Ökonomie” gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen
+Besprechung und die Ausführung seines eigenen ökonomischen Werkes --
+„welch letztere freilich sehr lange dauern wird”. Dieses Programm
+werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im
+Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der
+Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz
+gehen.
+
+Er entschied sich für das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal
+an Marx, und zwar:
+
+„Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit
+Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rüstow
+gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt.
+C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er
+von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort
+Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine
+braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wünschenswert dies
+wäre. Habe also die Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von
+denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem
+Ziel führenden Vorschub zu tun. Tue Dein Möglichstes.
+
+„Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London komme, nimmt zu.
+
+ Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.”
+
+Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” standen im Lager des
+„Nationalvereins”, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte
+sie offenbar für Aktionen verwendbar machen, die zeitgemäß werden
+konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme
+d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre
+sind eine weitere Bestätigung für das weiter oben von den
+Revolutionsplänen Lassalles Gesagte.
+
+Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und
+einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die mir
+vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wäre aber falsch, daraus
+den Schluß zu ziehen, daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den
+beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber
+wissen wir von Marx, daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen
+ihm und Lassalle er dem letzteren die grundsätzliche Verschiedenheit der
+beiderseitigen Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen
+dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach
+Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein. Um so
+enger schloß sich Lassalle an Bucher an, der ihn später auch mit
+Rodbertus in Verbindung brachte.
+
+Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preußische
+Regierung der Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere Haltung
+einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis plötzlich der
+König in schroffer Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich auf keine
+Konzessionen in bezug auf die Verkürzung der Militärdienstpflicht
+einlasse und auch keine Neigung verspüre, um Indemnität für die
+verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation einzukommen. Die
+Kammer antwortete damit, daß sie die Forderung der Regierung, die Kosten
+der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben
+aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der
+Mehrheit zu brechen, berief der König an Stelle des Herrn v. d. Heydt
+den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am französischen
+Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe
+Betonung der königlichen Vorrechte war bereits im Einverständnis mit
+Bismarck erfolgt.
+
+Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” und 1849 in der
+Preußischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heißsporn
+aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann”
+entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien über Bord geworfen,
+um desto wirksamer die Interessen des „befestigten Grundbesitzes”
+wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus aufgegeben, um
+dem Königtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern,
+daß die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die
+Verantwortung für die Bedürfnisse und die Politik der Monarchie
+übernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus
+bekannten Regierungssystems übernommen, das, wenn es von Demokratie
+spricht, Regierungsgewalt meint, und von Fürsorge für das Wohl der
+Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der
+Arbeiter im Schilde führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er
+gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit
+Revolutionären Geschäfte machen kann, von der bonapartistischen, wie
+man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpönten Handlung
+beschuldigen muß, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im
+Begriff ist. Als Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit aller
+geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende Aufrichtigkeit an
+den Tag zu legen, um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr
+Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um die Wahrheit nicht zu
+sagen.
+
+Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem
+wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung
+in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch „Blut und
+Eisen” gelöst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das
+Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß bestehen, der Regierung
+nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von ihr
+anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklärung, die
+Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.
+
+Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die
+Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, während
+die Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” auf ihrer
+Seite hatte. Indes, er wußte ganz gut, daß er sich auf die preußischen
+Bajonette nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der
+auswärtigen Politik, geeignet, die ehemaligen „Gothaer”, d. h. die
+schwachliberalen Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, war
+vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte also anderwärts Verbündete gegen
+die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen.
+
+Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß man in Berlin in
+Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen
+Arbeiterkongresses zur Erörterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls
+ernsthaft zu betreiben, und daß in Zusammenkünften, die dieser Frage
+galten, ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer
+Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die
+Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts nützten.
+Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen soviel Geschrei machten,
+sei es nichts, nur der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, der
+behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden
+Äußerungen über die Schulzesche Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand
+die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein
+„Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen
+Arbeiterkongresses und die Gründung einer selbständigen
+Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das
+Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des Kongresses nach
+Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn
+fühlte, rückte er schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der
+Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die preußische Regierung
+den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der
+Gründung von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, daß Herr
+von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Gründung einer
+Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die
+Maschinenbauer waren damals, und noch lange später, in Berlin die
+Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natürlich müßten sich die Arbeiter
+dazu entschließen, der Fortschrittspartei den Rücken zu kehren, die
+eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei.
+
+Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig
+den Arbeiterkongreß betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so
+geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen Regierung zuliebe in den
+Rücken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch
+in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner
+auffällig flotten Lebensweise, die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar
+nicht paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse Anspielungen auf
+eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da
+er ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders
+Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildfläche und
+tauchte später als -- preußischer Polizeibeamter auf.
+
+Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878,
+August Bebel die Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum Fürsten
+avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von
+sich abzuschütteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung
+für sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die
+Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen
+auf die Wirkung dieses Kunstgriffs ließ er sich zu dem Geständnis
+verleiten, Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt für
+Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, und daß ihm „bei der
+Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, daß Herr Eichler im Dienste der
+Polizei gewesen ist und daß er Berichte geliefert hat”. (Vgl. die unter
+dem Titel „Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage”
+veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die Beratung des
+Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche
+vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” seinerzeit
+einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische Vettel” entpuppte
+sich als -- das Berliner Polizeipräsidium.
+
+Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag
+vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: „Was
+nun?” Er beruft sich dort darauf, daß die Ereignisse den Ausführungen
+in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, der
+Kriegsminister von Roon und der gegenwärtige Ministerpräsident von
+Bismarck hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind,
+bestätigt. Gestützt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich
+über die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun
+weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer
+Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar
+kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht
+der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur
+Wahrheit zu machen sei, da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden
+wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. Soll man zu dem Mittel
+der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als
+solche ein wirksames Mittel nur in den Händen eines Volkes, das, wie das
+englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner
+Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte,
+einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen „werde
+unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken”. Das
+einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, sobald sie
+wieder zusammentrete, „aussprechen das, was ist”. Das sei „das
+gewaltigste politische Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung
+unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren.
+Sobald sie wieder zusammentrete, müsse sie unverzüglich einen Beschluß
+fassen, daß sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze,
+es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung behilflich
+zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten,
+und daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so
+lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die
+verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. Sobald die
+Kammer diesen Beschluß gefaßt habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung
+nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten würden mit derselben
+Parole wiedergewählt werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht
+regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach außen würden
+so gewaltig darunter leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen sein
+werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gäbe es
+aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller
+Ausgaben der Regierung würden nur Volk und Regierung an die süße
+Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. Noch
+schlimmer würde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromiß
+einlassen, etwa für den Preis der Bewilligung der zweijährigen
+Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um
+die es sich jetzt handle. Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um
+so größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn sie sich gezwungen
+sehen werde, nachzugeben. „Um so mehr erkennt sie dann die
+gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an,
+wenn sie erst später umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen muß.”
+Dann aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. Keinen neuen
+Kompromiß mit dem alten Absolutismus, sondern „den Daumen aufs Auge und
+das Knie auf die Brust”.
+
+Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine versöhnliche Haltung
+gegenüber der Fortschrittspartei ein. Er will „der Einigkeit zuliebe”
+alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe,
+unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” und ihre Hintermänner, deren
+Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese
+„Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, die Regierung in eine
+konstitutionelle „umzulügen”, einen sehr großen Teil der
+Verantwortung für den jetzigen Stand der Dinge. Aber „Friede, meine
+Herren, der Vergangenheit”!
+
+Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und
+wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf seinen
+Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit nur oratorische
+Floskel war, um ihm später eine desto schärfere Position gegen die
+Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. Es mag beides
+zutreffen. Daß er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den
+Fortschrittlern grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher
+gesehen, viele persönliche Beziehungen ließen ihm das sogar als
+wünschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt ließ sich bei
+der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen
+Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler
+sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einfluß auf ihre Taktik
+einräumen würden, auf den er Anspruch zu haben glaubte.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [18] Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht
+ aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die
+ Veröffentlichungen R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im
+ Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf.
+
+ [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind Mitte der achtziger
+ Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.)
+ So dünn das Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im
+ Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über Lassalle dem
+ Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht
+ einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten
+ Lassalles den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten aus dem
+ Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen war. In einem der
+ Briefe ist von „Salingers genialer Komposition” die Rede. Der
+ Herausgeber, der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, macht
+ dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. Daß der Name Salinger
+ bzw. Solinger Pseudonym für Hans von Bülow war, wird dagegen nicht
+ einmal angedeutet. Bülow hatte die Komposition des Herweghschen
+ Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht.
+
+
+
+
+Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene
+Antwortschreiben, politischer Teil.
+
+
+Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle
+vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem
+Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut,
+wenn man es so schnell als möglich zum Äußersten treiben wollte, wenn
+man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn
+weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig -- mit einer
+Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch
+nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne
+Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf
+die Tribüne in der Kammer auf den famosen „passiven Widerstand”
+hinaus, über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. Durch
+beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und
+drastisch „aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung ebenso
+wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der
+Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein
+von Recht für die Außerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war
+ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung
+vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber dem Recht
+hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” sagt B. Becker sehr gut,
+„waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an
+juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewöhnt und den Streit
+der Kammermajorität mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit
+zu betrachten geneigt.”
+
+Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, daß er,
+gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach
+der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei Becker heißt, schrieb
+Lassalle den Aufsatz „Macht und Recht”, in welchem er der
+Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm
+ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar
+Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den
+Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin, dessen Erklärung, daß in
+Preußen „Recht vor Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem
+ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen
+hatte. „Es hat kein Mensch im preußischen Staat das Recht, vom
+‚Recht’ zu sprechen” -- ruft er aus -- „als die Demokratie, die
+alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht
+festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt
+hat.” Und: „Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr
+allein wird die Macht sein!”
+
+Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung an die radikale
+Berliner „Reform” eingesandt, verschloß letztere -- für die Lassalle
+noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre
+Spalten, desgleichen die „Vossische Zeitung”. Die letztere lehnte auch
+die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn
+als „Offenes Sendschreiben” in Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl
+dieses Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” der „Vossischen
+Zeitung” eigentlich rechtfertigte, kümmerte ihn nicht weiter.
+
+ * * * * *
+
+Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages „Was nun?” (Dezember 1862)
+und der Abfassung des „Sendschreibens” (Februar 1863) liegen wiederum
+zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei
+Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter
+F. W. Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin
+gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern des
+Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen
+Fortschrittsführern am 2. November einer großen Arbeiterversammlung
+beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das
+Mandat für die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu
+übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die selbst schon Sozialisten
+waren, daß die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen,
+dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei von einer
+selbständigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Spätere
+Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des
+Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwähnte klassische
+Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” des
+Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren
+die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch
+außerdem für keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so
+vortreffliche Kammer zusammengebracht, man könne es also schon noch eine
+Weile mitansehen. Daß die vortreffliche, d. h. die oppositionelle
+Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse war, kam
+den guten Leuten nicht zum Bewußtsein.
+
+Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem späteren
+Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand
+Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” aufmerksam gemacht
+und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht
+denken, wie sehr dies dessen Entschluß bestärken mußte, nunmehr das
+„Friede der Vergangenheit, meine Herren” zurückzunehmen. Als er das
+Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, war bereits zwischen ihm und
+dem Leipziger Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem offiziellen
+Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten über die Aufgaben der
+Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend
+erscheinenden Form darzulegen, und daß diese Form eben die einer
+Flugschrift sein sollte. Die äußerst interessanten damaligen Briefe
+Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in
+Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht
+worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß Lassalle, so froh
+er über die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem
+doch in keiner Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden
+Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr gut, worauf sie
+hinauswollten; worüber man noch unentschlossen war, das war weniger
+das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es
+war durchaus nicht „das Bewußtsein seiner eigenen Unklarheit”, wie
+Bernh. Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” stellenden
+Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das
+Komitee veranlaßte, in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an die
+deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, aber gegen
+Übereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen.
+Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, aber nicht so bald,
+daß nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan
+haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten Aufruf
+erließ, beschloß das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu
+schicken, der auch tags darauf abging:
+
+„Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.
+
+ Sehr geehrter Herr!
+
+Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen
+Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall von
+den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das
+Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung
+ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche
+Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen
+Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt,
+genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der
+Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig
+erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6)
+hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das
+Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug
+leisten könne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von
+Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die
+gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch
+wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch
+vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung:
+Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und
+geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner
+Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen:
+
+ Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form
+ Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren
+ dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert
+ der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse,
+ auszusprechen.
+
+ Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der
+ angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch
+ Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir
+ ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung
+ unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der
+ Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gruß und Handschlag!
+
+ Leipzig, 11. Februar 63.
+
+ Für das Zentralkomitee zur Berufung eines
+ Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses
+
+ Otto Dammer.”
+
+Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. März 1863 datierte
+„Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines
+allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand
+Lassalle”.
+
+Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger
+Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation
+Lassalles und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins”.
+
+ * * * * *
+
+Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt zunächst der Ansicht
+entgegen, daß die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekümmern
+hätten. Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der Politik zu
+beteiligen, bloß dürften sie dies nicht in der Weise tun, daß sie sich
+als den „selbstlosen Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei
+betrachteten. Der Nachweis dafür, daß die Fortschrittspartei den
+Anspruch darauf verwirkt habe, stützt sich im wesentlichen auf das von
+dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern
+nicht überall von gleichmäßiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf
+Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, daß sie „nur ....
+das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes
+habe”, so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage „Was nun?”
+als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des
+Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei
+auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Sünde
+anrechnete, daß sie
+
+ „sich durch ihr Dogma von der preußischen Spitze zwingt, in der
+ preußischen Regierung den berufenen Messias für die deutsche
+ Wiedergeburt zu sehen, während es, mit Einschluß Hessens, nicht
+ eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preußischen
+ in politischer Beziehung zurückstände, während es, und zwar mit
+ Einschluß Österreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung
+ gibt, welche der preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.”
+
+Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich recht. Die
+Organisation der Arbeiter als selbständige politische Partei mit eigenem
+Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung
+der politischen Zustände Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen
+konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom
+Heerbann der gegen den Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei
+abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser
+Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hieß die selbständige
+Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung der
+Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Daß sie diese in der Tat zur
+Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei
+selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenüber der neuen
+Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches
+Lassalle dieser Bewegung gab.
+
+Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” gesehen, welch
+abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff
+„Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß er einen
+wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. „Das uralte Vestafeuer
+aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene
+modernen Barbaren” -- nämlich die Manchesterpartei -- ruft er in der
+Rede „Die indirekte Steuer” den Richtern des Berliner Kammergerichts
+zu, und ähnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor.
+Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin,
+die Ursache von allerhand verhängnisvollen Fehlgriffen. Die
+althegelisch-ideologische Vorstellung vom „Staat” veranlaßte
+Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische
+Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für sie zunächst noch
+darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst
+loszuwerden. Es hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen
+Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, Sie wollten über
+Freizügigkeit debattieren? Ich weiß Ihnen hierauf nur mit dem
+Distichon Schillers zu antworten:
+
+ „Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,
+ Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” --
+
+Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem
+gesetzgebenden Körper „stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr
+debattiert”. Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die
+Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, während die Arbeiter sie
+unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und
+Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Rang auf einem
+Arbeiterkongreß einzunehmen hatten, war der, daß sie zugleich in hohem
+Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus waren; aber überflüssig
+war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in
+Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit über ihre Bedeutung herrschte.
+
+Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die
+Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen,
+zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig
+wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse für die politische Aktion
+aufzurütteln, sie zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen
+Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung der demokratischen
+Forderungen zu erwärmen. Und kein Zweifel, daß ihm zu jener Zeit diese
+zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge
+selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er
+diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren.
+
+Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu überzeugen,
+wie sie von bürgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf
+das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den
+Klassikern der politischen Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von
+Ricardo formuliert worden war, das „eherne und grausame Gesetz, wonach
+unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche
+Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt,
+der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur
+Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er zeitweilig über diesen Satz,
+so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung
+der Arbeiterbevölkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen
+der Lohn wieder auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er aber
+unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, größere Sterblichkeit
+unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine
+Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Löhne wieder
+stiegen. So tanzten „Arbeiter und Arbeitslohn immer um den äußersten
+Rand dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem
+notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, und dies „ändert sich nie”.
+
+Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen
+Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise
+zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der
+Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese
+vereinzelt blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile
+verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein würden, würden
+die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie
+als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage
+der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes
+ökonomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des
+Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr
+eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Gründung
+selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die
+erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal
+verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die
+Mitglieder in die „widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln
+und Unternehmergesinnungen” verwandelte. Die großen Fragen ließen sich
+nur mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die Assoziationen in
+großartigem Maßstabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmäßige
+Großindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das nötige
+Kapital, bzw. der nötige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei
+durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. „Nichts ist weiter entfernt
+von dem sogenannten Kommunismus oder Sozialismus als diese Forderung,
+bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle
+Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergütung
+beibehalten und zu dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, als daß
+ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, resp. der erforderliche
+Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird.” Der Beruf des Staates sei
+es aber gerade, die großen Kulturfortschritte der Menschheit zu
+erleichtern und zu vermitteln. „Dazu existiert er, hat immer dazu
+gedient und dienen müssen.” Was aber „ist denn der Staat”? Und
+Lassalle führt die Zahlen der preußischen Einkommensstatistik von
+1851 an, wonach in jenem Jahre 89 Prozent der Bevölkerung ein
+Einkommen unter 200 Talern gehabt hatten, dazu 7¼ Prozent der
+Bevölkerung ein solches von 200 bis 400 Talern, so daß also 96¼
+Prozent der Bevölkerung in elender, gedrückter Lage sich befänden.
+„Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehört der
+Staat, nicht uns, den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er! Was
+ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen,
+handgreiflicher als aus dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der
+ärmeren Klassen, große Assoziation -- das ist der Staat.” Und wie
+den Staat zu der geforderten Intervention vermögen? Dies werde nur
+durch das allgemeine und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn die
+gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten
+Wahlrecht hervorgehen -- „dann und nur dann werden Sie den Staat
+bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen”. Das
+allgemeine und direkte Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches,
+es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller
+sozialen Hilfe”. Darum mögen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen
+deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die
+Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen
+Ländern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der
+Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der
+Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet, so
+werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen würde.
+„Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder
+Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren
+und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach
+rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines
+und direktes Wahlrecht heißt oder damit in Zusammenhang steht und
+dazu führen kann.”
+
+Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt des „Offenen
+Antwortschreibens” und zugleich der Lassalleschen Agitation überhaupt.
+Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen
+Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest,
+die Bewegung auf diesen einen Punkt: „Allgemeines Wahlrecht behufs
+Erlangung von Staatshilfe für Produktionsgenossenschaften” zu
+beschränken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, daß die
+Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf
+einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu
+behalten, wenn man an die agitatorische Tätigkeit Lassalles den
+richtigen Maßstab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn,
+auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen.
+Ausdrücklich verweist Lassalle im „Offenen Antwortschreiben” auf die
+Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso
+scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu
+haben, wie der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an die Erklärung
+des Chartistenpredigers Stephens erinnert: „Der Chartismus, meine
+Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und
+Gabelfrage.”
+
+Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer
+praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage der
+damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube ich die Frage unbedingt
+bejahen zu müssen. Daß später Bismarck, wenn auch freilich nur zum
+Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einführte,
+ist für mich dabei nicht maßgebend. Allerhand Umstände hätten das
+verhindern können, ohne daß dadurch die Tatsache umgestoßen worden wäre,
+daß Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt,
+obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen Landtag beibehalten
+wurde, bleibt der Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach
+durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wußte ganz genau,
+daß, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele
+Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafür in den Kreisen der
+Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer scheeleren
+Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Blätter sprachen sich
+bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte es,
+wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch
+die er genau über die Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen
+unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht
+nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg -- der
+ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte -- schließlich kaum etwas
+anderes übrig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen und
+ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem
+Schritt mußte sie sich um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke,
+von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung bestand, die die
+Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte.
+Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg mußte ihr dies als der
+beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig
+gegen sich im Rücken zu haben[21].
+
+Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also
+Lassalle unzweifelhaft recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht
+auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen
+Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht
+nachgeben zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts
+mindestens noch weiter hinausgeschoben. „Seien Sie taub für alles, was
+nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder damit im
+Zusammenhang steht und dazu führen kann”, heißt es im „Offenen
+Antwortschreiben”. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, würde
+dieses, das muß man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrücklich
+ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage
+lösen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie
+überhaupt die Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache selbst
+gerechtfertigt?
+
+Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur
+Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus
+nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar während der
+Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung
+gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt worden durch
+die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das
+allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig
+verhindert, daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen können als
+„Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die
+Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat
+proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine
+Epoche sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, so daß
+nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafür gegeben waren, daß sie
+im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik hätte
+werden können. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch
+das Kaiserreich gestürzt werden?
+
+Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” sagt, was am
+2. Dezember 1851 gestürzt worden, das sei „nicht die Republik”
+gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz
+vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten
+Zensus zur Ausschließung der Arbeiter eingeführt hatte; die Republik
+des allgemeinen Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen
+Arbeiter einen unübersteiglichen Wall gefunden haben”, so wiederholt
+er damit ein Schlagwort der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la
+Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur
+verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche Wall”, als die auf Grund
+des allgemeinen Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? Warum
+hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich der Bourgeoisie”
+nicht verhindert?
+
+Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so würde er auf die Tatsache
+gestoßen sein, daß die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht
+halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche hätte
+stützen müssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht
+entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne
+industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, für einen
+Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen,
+aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem
+Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf
+die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgänge einzugehen sucht,
+hält ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite
+wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das Ökonomische packt er
+gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf,
+juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, daß er, um den
+Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevölkerung des
+Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung,
+und zwar ausschließlich an sie hält. Der Streit, der sich damals an
+diese Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, ist ein
+verhältnismäßig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentsätze
+nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde
+wenig an, die Tatsache, daß die große Masse der Bevölkerung in dürftigen
+Verhältnissen lebt, während nur eine kleine Minderheit im Überfluß
+schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle
+damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht
+aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht
+berücksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89
+Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, als deren „große
+Assoziation” er den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil davon
+Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter
+bildeten, die noch großenteils völlig unter der geistigen
+Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz unerörtert.
+Über die Hälfte der Bevölkerung Preußens entfiel damals auf den
+Ackerbau, die größeren Städte spielten bei weitem nicht die Rolle,
+die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung
+betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit
+vereinzelten Oasen[22].
+
+Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine Wahlrecht an der
+Zusammensetzung der Kammer ändern? War von ihm ein besseres Resultat zu
+erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848
+und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von
+Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich
+gewiß sehr zu wünschen. Aber im übrigen mußte es, gerade je mehr es die
+Wirkung erfüllte, die Lassalle von ihm versprach -- nämlich einen
+Volksvertretungskörper zusammenbringen, der „das genaue, treue Ebenbild
+ist des Volkes, das ihn gewählt hat” („Arbeiterprogramm”) -- die
+Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern.
+Denn so jämmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch
+wenigstens bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen
+Klassen zwar unter Umständen sämtlich revolutionäre Truppen stellen,
+aber keineswegs samt und sonders revolutionäre Klassen sind, er vergaß,
+daß die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern
+bestanden.
+
+Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen möglich war, so ist doch
+damit noch keineswegs gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder als
+Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigeführt haben würde.
+Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse der
+Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst das Gegenteil bewirken,
+statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in größerer
+Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren
+aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen
+Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil Ideologen, welche
+gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen
+Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur
+an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger
+Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafür, daß
+das allgemeine Stimmrecht „nicht notwendig dem Arbeiterstande die
+Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt worden, das allgemeine
+Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu
+verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar”.
+„Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, daß hier das Mittel mit
+zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen
+muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus
+geht auch hervor, daß, beinahe mehr noch als Rodbertus'
+gegensätzliches Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften,
+sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, daß er
+trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen
+Arbeiterverein nicht beitrat[23].
+
+Und wie man sonst auch über Rodbertus denken mag, seine Motive werden
+auf das Unzweifelhafteste durch den Schlußsatz seines Briefes
+charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl Lassalle recht habe,
+daß man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und
+freie Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in ihr Programm
+aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, der Ihnen schaden könnte, höchst
+wirksam zurückzuscheuchen”.
+
+Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus übertrieben, so
+nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die
+er später tatsächlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach
+von vornherein in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine Stelle aus
+dem teilweise schon früher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20.
+Juni 1859 über die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es:
+
+ „Im Anfang, als mit solcher Wut überall das nationale Geschrei
+ eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’
+ (Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr Redakteur) in einem
+ Leitartikel triumphierend aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei
+ aller Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine
+ welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von
+ der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.’ --
+ Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt dieses
+ Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewiß nicht! Ein
+ populärer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbürgerlichen
+ Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller
+ Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs
+ auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution
+ hinein würde die Wirkung dieser Strömung sich bemerklich machen.
+ Wir haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten Feind, den
+ wir haben, dem deutschen Spießbürgerindividualismus, durch einen
+ blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner
+ klassischen Form, in Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen.”
+
+So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der „Volkszeitung” verdiente in
+gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt,
+aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische
+Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus,
+während die Partei der „Volkszeitung” auf England, als ihr politisches
+Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht
+reaktionär, oder doch reaktionär nur insoweit, als es eben einseitig
+war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus
+Frankreichs ein Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, ihn mit
+dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine
+reaktionäre Seite ganz unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder
+einseitig.
+
+So weit über die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu
+seiner ökonomischen.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [20] Wohl ein Druckfehler. D. H.
+
+ [21] Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen Krieges”
+ gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht in die Schablone des „guten
+ Patrioten” passenden Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger
+ Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend
+ dafür ist auch eine Stelle in der Schrift „Was nun?”, die schon
+ deshalb hierher gehört, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag
+ tatsächlich nur zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder
+ Revolution. Anknüpfend daran, wie unmöglich und unhaltbar die
+ auswärtige diplomatische Stellung der preußischen Regierung wäre,
+ wenn sein Vorschlag befolgt würde, fährt Lassalle fort:
+
+ „Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein
+ unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der
+ Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden
+ Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter
+ einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den
+ diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und,
+ gleichviel ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt
+ in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft
+ habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei
+ historischen Studien mir die große Wahrheit auf das Genaueste zu
+ vergegenwärtigen, daß fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe
+ der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen würden,
+ wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen
+ unter einander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu
+ Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist
+ die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen
+ eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die
+ Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die
+ Geschichte genau und mit innerem Verständniß betrachten, so werden
+ Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so
+ riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa
+ vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit und Unverwüstlichkeit
+ unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten
+ wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl
+ unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische
+ zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche
+ derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen
+ kann -- das deutsche Volk!”
+
+ Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man
+ zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß, ein so wichtiger Faktor
+ des Fortschritts der Völker die Rivalität der Regierenden sein kann
+ und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein
+ Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des
+ Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des
+ heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg zwar
+ ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslöschen, es
+ aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schädigen kann,
+ daß er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber
+ auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwähnten Beispiel tut
+ Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlußsatz und seine Briefe
+ zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine übrigens
+ weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekämpfende Tendenz.
+
+ [22] Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft
+ kamen damals in Preußen erst 766180 selbsttätige Personen in der
+ Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter und Beamten eingeschlossen.
+
+ [23] Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem Brief” geheißen:
+ „Und ich wiederhole, daß ich mir auch von den Produktivassoziationen
+ nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die
+ Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch Lassalles wurden aber
+ diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine
+ Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen
+ Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn sie so schroffen
+ Widerstreit zwischen ihren Führern sehen, entmutigen müsse”.
+ (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.)
+
+
+
+
+Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben.
+
+Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit.
+
+
+Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das
+Beiwort „ehern” gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24]
+nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode --
+der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden
+Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen
+Großindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten
+Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperität, der rasch sich
+vollziehenden Steigerung der Produktivität der Arbeit usw. zum
+mindesten überlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von
+Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört
+ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert
+gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung
+des Arbeitsverhältnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle
+entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so
+hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die
+guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als
+Lassalle.
+
+Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn
+bestimmenden Gesetze, weil er den stärksten Schlag gegen die moderne
+Gesellschaft damit zu führen meinte, daß er nachwies, der Arbeiter
+erhalte unter keinen Umständen seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen
+Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen
+rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch höchst wirksam
+erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der
+Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den
+früheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein „ehernes”
+Gesetz es verhindert, daß der Lohn dauernd unter ein bestimmtes
+Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle
+ausdrücklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam
+hebt, aber doch hebt, so war der Beweis für die Notwendigkeit der von
+ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen.
+
+Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst später, und nur
+beiläufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit
+einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese
+Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen
+Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den in wechselnden
+Zeiträumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von
+beständigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse -- der
+schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden
+Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die
+wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten
+Abhängigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfällen des industriellen
+Zyklus sich zu befreien, die beständige Bedrohung mit dem
+Hinausgeworfenwerden aus einer Sphäre der Industrie in eine andre,
+tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die
+Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich
+macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum
+Schlechteren unterscheidet. Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit der
+scheinbaren Freiheit nur größer geworden. Sie ist es, die mit eherner
+Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der
+wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhöhe dagegen wechselt
+heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen
+Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die tatsächlich einen gewissen
+Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den
+verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils höher, teils aber
+auch geringer als in früheren Produktionsepochen. Beide hängen von sehr
+veränderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu
+Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den größten
+Veränderungen unterworfen, und beständig ist nur die Tendenz des
+Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die
+eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.
+
+Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der
+Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte,
+die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen
+Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat
+der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines
+Abhilfemittels von vornherein angezeigt. Es ignoriert, oder, um Lassalle
+auch nicht Unrecht zu tun, es unterschätzt die Stärke und den Umfang der
+Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale
+Rückwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir müssen hier
+wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel.
+Sein Ziel war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel
+aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich
+organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die
+sich von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, daß sie mit
+Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles
+weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der
+freiwilligen Entschließung jener überlassen -- es wird von ihnen erwartet,
+aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern,
+die sich zu assoziieren wünschten, die erforderlichen Mittel dazu auf
+dem Wege der Kreditgewährung vorstrecken.
+
+Die Assoziationen einer bestimmten Industrie würden also, solange sie
+nicht diese ganze Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen
+ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen
+dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche
+Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der Assoziationen
+Sonderinteressen herausentwickeln mußten, daß jede Assoziation danach
+streben mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu steigern, sei es auch
+auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit
+Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen
+von mehr oder minder großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle
+Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glückschancen mußten
+daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn
+und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie für andre
+Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gestützt darauf,
+daß 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr
+stark war --, daß sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter
+Industrien an den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation
+zusammentun würden, und sprach sich zweitens im „Bastiat-Schulze”
+später sogar dahin aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur einer
+Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil
+werden” lassen würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in
+dieselbe offen haltend”, aber selbst solche örtlich einheitlich
+organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz.
+Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch große Assekuranz- und
+Kreditverbände der Assoziationen untereinander in ihren ökonomischen
+Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, daß diese
+Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war
+für nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie.
+Sonst mußte die Überproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft
+sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie
+es oben heißt, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die
+Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte sich da, von seinem
+sozialistischen Gewissen getrieben, in einen großen Widerspruch. „Den
+Eintritt offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme jedes sich
+meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem „Offenen Antwortschreiben”
+sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber vollkommen unabhängig
+sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle
+der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit
+obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhängigen in ein
+öffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhältnissen staatliches
+Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt
+hätte scheitern müssen.
+
+Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist
+folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen
+eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, unterstanden sie den
+Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja
+gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion im Auge hatte, die
+zugleich die großen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz
+besteht, besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den
+Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder
+eine Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, daß sein Produkt
+jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht
+gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird.
+Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und
+Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine
+Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur möglich
+nach Maßgabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar
+durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz in der heutigen
+Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor
+Übervorteilung zu schützen und die Produktionskosten beständig zu
+senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten
+der Monopolinhaber zu überteuern und den Fortschritt der Technik, wenn
+nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn
+die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die
+Aufhebung des geschäftlichen Risikos für die Assoziationen würde also im
+Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn überhaupt zu
+verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich
+gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenüber die große
+Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wäre ein
+unlösbarer Antagonismus.
+
+In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das natürlich leicht zu
+verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der
+subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der
+Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der
+Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf
+gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische
+Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen
+so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die
+Lassalleschen Produktivgenossenschaften würden sich von den
+Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe,
+nicht dem Wesen nach unterschieden haben.
+
+Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu
+durchgebildeter Ökonom war, als daß ihm diese schwache Seite der
+Lassalleschen Assoziationen hätte entgehen können. Wir haben bereits aus
+dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus
+sich in seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern wollen, und die
+auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich
+deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war.
+Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an
+Rudolph Meyer hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, einige
+der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen.
+
+Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:
+
+„... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, daß
+dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen,
+das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel
+schlechteres, zu weit größeren Ungerechtigkeiten führendes Grund- und
+Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen
+hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich überführt, zu welchen
+Absurditäten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen müsse
+und (was ihm besonders unangenehm war) daß er gar nicht der Schöpfer
+dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la Révolution
+entlehnt habe.”[25]
+
+Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe
+ich gegen diese Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am
+Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie
+Settegast mit Recht sagt -- und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale
+Frage nicht gelöst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem
+Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich zu einem
+Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum
+liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis würde
+mich zu weit führen, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon
+in unserer Korrespondenz getrieben, daß er mir in einem seiner
+letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen denn, daß ich will, daß
+der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehören_ soll!’
+(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter
+an den einzelnen Betrieben wäre ein weit übleres Eigentum, als das
+individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer
+Kapitalistenassoziation.” ...
+
+Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur
+Veröffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber
+kaum anzunehmen, daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt haben
+würde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er
+gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht
+nämlich dagegen, daß Lassalle sich nicht in der Tat einmal so
+ausgedrückt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von
+den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat für das
+vorgeschossene Kapital zu zahlen hätten. Es liegt also in dem Satz noch
+nicht einmal ein Zugeständnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein
+solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich in eine --
+unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlägt,
+findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai
+1863. Dort heißt es:
+
+„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, wenn dem Arbeiter Boden,
+Kapital und Arbeitsprodukt gehört[26], von einer Lösung der sozialen
+Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch
+annähernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung
+geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. Bei der ländlichen
+Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein
+Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der
+Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich
+genau und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk schreibe, sehr
+explizit nachweisen.”
+
+Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der
+vorstehenden Sätze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die
+Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier
+gleichgültigen Zwischensatz lasse ich fort):
+
+„Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation wird dann der
+Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’,
+ist jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu verstehen. Ich
+verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz
+stattfinden könnte.
+
+Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw.
+Äckern würden doch zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die
+Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen
+Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben.
+
+Allein schon daraus allein, daß einer in der Gesellschaft mehr hat als
+sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, daß ein andrer weniger haben muß,
+als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns
+dieselbe übereinstimmend (vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen
+Briefes) denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen würde.
+
+Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgültigen
+Lösung der sozialen Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier
+immer als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem ‚mehr oder weniger’
+unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich ländlich oder industriell
+unter beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen kann,
+während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen mit derselben
+Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungünstigeren mit derselben
+Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wäre
+der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivität, der
+bestimmt wird durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum
+zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht.
+
+Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes können Sie das unmöglich
+bestreiten.
+
+Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation
+Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall
+sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes
+Arbeitsprodukt.”
+
+Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier gar nicht mehr möglich. Die
+„Idee”, welche Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt,
+ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der
+Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen
+oder der Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich durchaus dessen
+bewußt, daß, solange der letztere den Verteilungsmaßstab bildet, ein
+Bruchteil der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise
+weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten
+Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter
+Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen zunächst
+eine neue Ungleichheit schaffen würden. Gerade mit Rücksicht darauf
+habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines
+Vorschlages das Wort „Lösung der sozialen Frage” sorgfältig vermieden
+-- „nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern
+aus jenen theoretischen Gründen”.
+
+Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, daß die
+Ungleichheit bei den ländlichen Assoziationen durch eine
+differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden könne, welche „die
+ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hände des Staats bringen, den
+Arbeitern nur den wirklich gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll --
+die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer würde die
+Bezahlung bilden für die Überlassung der Bodenfläche an die
+assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heißt -- „schon aus
+Gerechtigkeit und Neid” von den ländlichen Assoziationen
+„leidenschaftlich begünstigt werden”. Der Staat aber hätte an dieser
+Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, öffentliche
+Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen
+solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, daß sobald die
+Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer großen
+Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhören
+und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden
+würde. „Würde hiermit nicht zugleich getötet werden, was man heut
+Überproduktion und Handelskrise nennt?”
+
+Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der
+Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthält keinen
+Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr
+wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung
+irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der
+Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfüllung gehen
+kann, aber nicht notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht,
+solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt
+wird. Und selbst wenn sie in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus
+nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder der einzelnen
+Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine größere oder
+unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
+erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. Es
+stände immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse.
+
+Hören wir noch einmal Rodbertus.
+
+Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel
+des „Neuen Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß Lassalle der
+„weitgehendsten Richtung des Sozialismus” angehört habe, und meint,
+das sei wohl richtig, es sei
+
+ „aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und der (Neue)
+ ‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine Produktivassoziation angestrebt
+ haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher der
+ Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören sollte, nur daß
+ Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu
+ sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es
+ ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar).
+ Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt,
+ setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ voraus. Wie soll also
+ jene ‚weitgehendste Richtung’ mit einer solchen Assoziation
+ vermittelt werden können?”
+
+Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation
+als „provisorische Institution” gedacht werden könne, und
+fährt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die
+Produktivassoziation, die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ in der
+Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als Übergangszustand zu jenem
+‚weitgehendsten’ Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gemäß,
+würde er nicht zu allgemeiner Brüderlichkeit, sondern zu dem
+schärfsten Korporationseigentum zurückführen, in welchem nur die
+Personen der Besitzenden gewechselt hätten, und das sich tausendmal
+verhaßter machen würde, als das heutige individuale Eigentum. Der
+Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben
+niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt
+ziemlich über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale
+Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum.
+Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die
+Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei
+Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die
+Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum
+zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen
+gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem
+Führer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ Ziel
+anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” (Briefe usw. von
+Rodbertus-Jagetzow.)
+
+Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen lassen, weil er Lassalle
+vielleicht am objektivsten gegenüberstand und in seiner Auffassung vom
+Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl
+niemand so eingehend mit Lassalle über die Produktivgenossenschaften
+diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch
+nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der „Lösung der
+sozialen Frage” hatte, nämlich den Normalwerksarbeitstag und den
+verhältnismäßigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der
+Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet,
+wenn er sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle
+wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel,
+und weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem „Mob” -- worunter er
+den ganzen Troß der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits
+zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte,
+stellte er das ihm ungefährlicher scheinende Postulat der
+Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf.
+
+Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz über Franz
+von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er
+„listete” mit der „Idee”, wie es in jenem Aufsatz heißt, und
+täuschte die Freunde mehr, als die Feinde. Aber er tat es, wie
+Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenüber
+Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu
+verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel
+zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schluß ziehen,
+daß Lassalle nicht von der Güte seines Mittels durchaus überzeugt
+war. Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so
+eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie
+sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung in bezug
+auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: „Kurz, ich begreife nicht,
+wie man nicht sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat ausgehend,
+der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren führt.” --
+Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser
+Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen
+Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel
+schwerwiegender wäre, als der eines theoretischen Irrtums.
+
+Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit
+der Zweck, dem diese dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der
+sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzügen bereits
+enthalten, daß hier in der Tat -- worauf er so großes Gewicht legte --
+„das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen”
+sei. Nun ist ja auch tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück
+Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit,
+und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die
+Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen Befreiung der
+Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den
+Zusammenhang mit dem großen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation
+verlorenging, möglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht
+nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr die Einheitlichkeit des
+Gedankens bei ihm im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen,
+welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser für ihn nicht der
+jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände
+war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch
+jeweilige historische Einflüsse zwar beeinträchtigt, dessen ewige
+„wahre Natur” aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher
+Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der
+Staatshilfe mehr als eine bloße praktische Maßregel zu erblicken
+und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des
+Sozialismus, eine selbständige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29].
+Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in
+engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen
+Lohngesetzes. Sie fußt auf denselben ökonomischen Voraussetzungen.
+Kurz, es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß.
+
+Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an die Richtigkeit seines
+Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so
+unbestimmt wie nur möglich äußerte. Er, der in dem schon zitierten
+Aufsatz über den „Franz von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte,
+welche Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten Zwecke der Bewegung
+andern (‚und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim
+zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen
+„sittliche Schuld” erblickt hatte, die seinen Untergang herbeiführen
+mußte, den Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm
+vertretenen Idee, ein „Abweichen von seinem Prinzip”, ein „halbes
+Gebrochensein” -- er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen
+dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck
+zuzuspitzen. Die Entschuldigung, daß man diesen Zweck dem „Mob” noch
+nicht sagen durfte, oder daß die Massen für ihn noch nicht zu
+gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen für das wirkliche
+Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese
+überhaupt verfrüht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn
+erlangt, nicht zum Ziele führen. In den Händen einer Arbeiterschaft,
+die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag,
+konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als nützen und mußten
+die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden
+Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer liefern. War aber die
+Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen,
+dann mußte dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit
+noch nicht als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes Ziel
+hingestellt zu werden, aber nicht nur der Führer, sondern auch jeder
+der Geführten mußte wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß es
+nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wäre dadurch nicht
+mehr vor den Kopf gestoßen worden, als es durch den Kampf um das
+Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der
+Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz
+handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung mit Recht, „sind
+zu täuschen, Klassen niemals.”
+
+Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär erscheint, der sei auf die
+Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit
+will ich zum Schluß auf dieses Thema übergehen.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [24] „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des ehernen
+ Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung ist von mir später
+ gesondert in das Buch „Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes”
+ (erster Teil der Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des
+ Sozialismus”, Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden.
+
+ [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc
+ „entlehnt” -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner
+ Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung
+ zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit dem ersteren
+ hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbständigkeit der
+ Assoziation gemein.
+
+ [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen
+ Briefe heißt es „nicht gehört”. Das „nicht” beruht aber, wie
+ sich im folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem
+ Abdruck des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463).
+
+ [27] D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über einen gewissen
+ Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt nicht bewirtschaftet wird,
+ weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte
+ Arbeit abwirft.
+
+ [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen von Henry George,
+ Flürscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der
+ Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir früher gesehen haben,
+ jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern
+ müßte.
+
+ [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle
+ z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur Arbeiterfrage” den sogenannten
+ Manchestermännern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß
+ sie, wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden in der
+ Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, daß
+ die Manchestermänner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft
+ untergehen lassen wollen.
+
+
+
+
+Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.
+
+
+Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation können hier nicht
+dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen
+Werkes annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, vorderhand
+nur die allgemeinen Züge der Bewegung hervorzuheben.
+
+Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst nur zum Teil die Wirkung,
+die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in
+Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze liest sich mit solcher
+Leichtigkeit, daß es dem Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon
+jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk,
+sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu
+verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben.
+Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden
+bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft
+ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen
+in Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und Industrieorten am
+Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge
+eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie
+namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus
+der Zeit vor und während der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das
+Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf
+längere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt und
+betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Führer der
+Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion.
+
+Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen und außerhalb Preußens
+anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen
+wahren Sturm erregt -- nämlich einen wahren Sturm der Entrüstung, der
+leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so groß vorgekommen, so
+erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und
+nun wurde ihnen plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen
+Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, das ihnen das
+Volk bisher entgegengebracht, unwürdig erwiesen hätten und daß daher
+jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder
+Arbeiter, ihnen den Rücken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung
+verträgt keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in
+einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die
+Feindseligkeiten zwischen ihr und der preußischen Regierung hatten
+allmählich einen Höhegrad erreicht, daß eine gewaltsame Lösung des
+Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mußte man sich auf das
+Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, daß
+die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe,
+hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten können, das Volk, das
+politisch denke, stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht
+hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. Denn wenn die
+Fortschrittler auch keine große Lust hatten, Revolution zu machen, an
+Drohungen mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen[30].
+
+Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne,
+der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen,
+man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser
+Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte?
+Das hieß ihnen Unmenschliches zumuten.
+
+Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr
+Möglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu
+lassen, und die nachträgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser
+Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist,
+um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. Die Art der Gegenwehr
+nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. Daß
+die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion
+hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf
+gemacht werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal nicht bestreiten,
+daß Lassalles „Antwortschreiben” zunächst Wasser auf die Mühle der
+preußischen Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu beschränken,
+Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine
+starke Position, oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken
+Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner
+Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und
+entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit
+hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht zugleich mit einer so
+riesigen Dosis von Selbstüberhebung gepaart gewesen wäre. Lassalles
+einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte
+getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des
+Staats gegenüber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil
+unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die
+platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen
+Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaßen sie so sehr
+alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst früher in bezug auf die
+nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben
+hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die
+Übertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen
+Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen
+über Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten
+Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszüge aus der 1858
+erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausführungen Schulzes in
+seinem „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” -- eine
+Zusammenstellung von sechs Vorträgen, die letzten davon bestimmt,
+Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Während
+dort es als eine der schönsten Wirkungen der selbsthilflerischen
+Assoziationen bezeichnet wurde, daß sie den Unternehmergewinn
+herunterdrücken hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft ein
+solches Ding wie Unternehmergewinn” gar nicht kenne und also
+auch natürlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und
+Unternehmergewinn. Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und b)
+Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenüber
+solcher „Wissenschaft” brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu
+sein, um mit ihr fertig zu werden.
+
+Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz seiner packenden
+Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenüber nicht den
+Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des „Offenen
+Antwortschreibens” gleich der der von Luther an die Wittenberger
+Schloßkirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits
+erwähnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunächst
+auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in
+Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen
+„Arbeitertag des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, in einer
+zum Abschluß derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer
+Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, für
+das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne
+Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in
+Anwesenheit von Delegierten aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln,
+Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und
+Frankfurt a. M.), der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet,
+auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten
+demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte.
+Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische,
+was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den
+Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an die Gründung eines allgemeinen
+Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen
+gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der
+Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich
+die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten für
+die Person des Präsidenten, der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar
+sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten
+konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche
+Präsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenüber Lassalles
+ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte Annahme der Statuten nicht
+durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde
+Lassalle zum Präsidenten erwählt, und nachdem man ihm noch die Befugnis
+zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen
+Vizepräsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an.
+Er war somit anerkannter Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber
+blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhängerschaft
+beschränkt. Drei Monate nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des
+Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wäre das ein gar
+nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz
+andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer
+Propagandagesellschaft, sondern der Führer einer Massenbewegung sein.
+Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern.
+
+Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine
+wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war
+das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht
+sechs Wochen alt, da trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige
+Erholungsreise an -- zunächst in die Schweiz, dann an die Nordsee.
+Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine
+rege Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für den Verein zu
+gewinnen, wobei er übrigens nicht sehr wählerisch vorging, aber gerade
+das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ er ruhen.
+Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafür, daß der Verein
+wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, obwohl es
+ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begnügte sich mit
+gelegentlichen Subventionen an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten
+Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” und den in Leipzig von
+einem Eigenbrödler, Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”,
+womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten wurden, ohne
+jedoch deshalb aufzuhören beständig zwischen Leben und Sterben zu
+schweben.
+
+Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der
+vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den bürgerlichen
+Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem
+Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute war, wie bereits erwähnt,
+stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium,
+andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches Mißtrauen gegen
+Lassalle davon abgehalten, sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder
+andere hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei
+von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein
+beitraten, ließen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und
+verhielten sich im übrigen durchaus passiv. Dafür agitierten zwar andere
+Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse
+hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretär des Vereins, Jul.
+Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für
+den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den
+Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit der
+unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des
+Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem
+Verfassungskampf in Preußen als ein fast unübersteigbares Hindernis, so
+daß an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft
+die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel
+unpolitischer Natur, Gründung von Unterstützungskassen usw., das
+Werbegeschäft fördern solle.
+
+Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser
+Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den
+Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation
+usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, daß der
+Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ändern mußte. Er würde
+aufgehört haben, eine jederzeit disponible politische Maschine
+abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert.
+
+Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit
+der er bei seiner Rückkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und
+zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm am günstigsten erwiesen
+hatte. Es ist dies die Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter
+Abgeordnetentag”.
+
+Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in
+Barmen, Solingen und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in
+seiner Agitation. Welche Einflüsse während der Sommermonate auf ihn
+eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden können, indes wird
+man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin Hatzfeldt und ihre
+Verbindungen schließt. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein
+noch größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als
+dieser selbst; für sie ging das Interesse am Sozialismus vollständig auf
+im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie überhaupt erst
+zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre
+große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet,
+die wohl versprachen, seinem persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu
+verschaffen, die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade
+kompromittieren konnten. Für sie war eben die Bewegung Lassalle und
+Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille
+der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigennützigen Freunde
+sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber
+obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen
+Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbständigen
+Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie
+bestärken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und
+Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf
+jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als
+der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache für dieses
+Unrecht, sie hetzen und schüren und intrigieren -- alles in bester
+Absicht, aber zum größten Schaden dessen, für den es vermeintlich
+geschieht.
+
+Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so
+sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf
+Erfahrung überlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab
+er viel auf ihren Rat; er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen
+Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schluß seiner Laufbahn
+geschriebenen Briefe an die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die
+Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des
+Präsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe.
+Das ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle hätte wohl auch
+ohne die Gräfin das Präsidium angenommen. Aber in solchen Situationen
+läßt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was
+man selbst möchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint.
+Die Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es
+liegt der Schluß mehr als nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge
+getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preußens damals
+vorbereiteten. Es sei nur an die Erklärung Lassalles in seiner
+Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon vom ersten
+Tage, wo er seine Agitation begann, gewußt habe, daß Bismarck das
+allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklärung,
+daß, als er das „Offene Antwortschreiben” erließ, ihm „klar” war,
+daß „große auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es
+unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. Er stellt es zwar dort so
+hin, als ob dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse mit
+sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber
+gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die
+„Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus „diplomatischen
+Quellen” über die Vorgänge in Regierungskreisen zugingen.
+
+Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als Lassalle
+selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und
+stillen Diplomatie abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf verfallen,
+hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich
+als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an
+Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um
+jeden Preis zu erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament und
+seinem hochgradigen Selbstgefühl nur zu bereitwillige Unterstützung.
+Inwieweit damals schon die Fäden angeknüpft waren, die später Lassalle
+ins Palais des Herrn von Bismarck führten, läßt sich heute nicht mehr
+feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede
+„Die Feste, die Presse usw.” für den Druck niederschrieb, an seinen
+Freund Levy richtete: „Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein
+paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst
+beweisen, daß an diesen Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die
+Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die
+teilweise sehr übertrieben sind, während dagegen dem Minister Bismarck
+unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und
+der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so
+meistert hier der Demagoge die ersteren.
+
+Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, nachdem sie den Landtag
+nach Hause geschickt, die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche
+die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger zweimaliger
+Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inländischen Zeitung oder
+Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche Wohlfahrt
+gefährdender Haltung zeitweise oder dauernd” zu verbieten. Die
+liberale Presse, ausschließlich in den Händen von Privatunternehmern,
+hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der Dauer der
+Preßordonnanzen überhaupt nichts mehr über die innere Politik zu
+schreiben. Das war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es war auch
+nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es
+hinstellt. Lassalle übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht
+beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaßten
+Blätter der Opposition geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene
+oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der
+Begründung der Preßordonnanz hatte es ausdrücklich geheißen:
+
+ „Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse derselben (d. h. der
+ liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon
+ deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die
+ meisten der oppositionellen Organe durch eine langjährige Gewöhnung
+ des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden
+ Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu
+ bekämpfen ist.”
+
+Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf ankommen ließen,
+verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Möglichkeit,
+andere Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen
+abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maßregel wurde also gerade
+durch dies zeitweilige Schweigen über die innere Politik vereitelt.
+Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. Lassalle
+meint in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich hätte verbieten
+lassen, wenn der Spießbürger nicht mehr beim Frühstück seine gewohnte
+Zeitung bekommen hätte, dann würde die Erbitterung über die
+Preßordonnanzen im Volke aufs höchste gesteigert worden sein und die
+Regierung sich gezwungen gesehen haben, nachzugeben. Indes, die
+Erbitterung war nicht minder groß, wenn der Spießer zwar seine gewohnte
+Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben
+vordemonstriert wurde, daß seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er
+zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.
+
+Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, die nicht aufrechtzuerhalten
+war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein
+Provisorium, und die liberalen Blätter hatten gar keine Ursache, während
+desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrückt -- „mit Ehren
+zu sterben”.
+
+Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe
+spiegelten diese Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle drückt das
+so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die reaktionären Blätter wußten
+damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren kaum
+hinreichenden Ausdruck zu geben.” Und er zitiert als Beweis die
+„Berliner Revue”, das Organ des reaktionärsten Muckertums.
+
+Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, ihren Angriffen auf die
+liberale Presse ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, sich zu
+gebärden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen.
+Statt jedoch gegen diese Fälschung des sozialistischen Gedankens zu
+protestieren und jede Solidarität mit ihren Urhebern zurückzuweisen,
+leistete Lassalle dem Spiel der Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre
+Blechmünzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab.
+
+Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute ein Geldgeschäft ist, ein
+großer Übelstand, ein mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen
+Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das kapitalistische
+Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten
+durch beschränkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten
+Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die
+Freiheit der Presse ermöglicht. Davon aber wollte die preußische
+Regierung nichts wissen, und Lassalle unterstützte ihren Widerstand
+noch, indem er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber zugleich
+erklärte, daß diese ohnmächtig sein würde, das Wesen der Presse
+umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen würde,
+Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde die Presse nämlich aufhören,
+eine lukrative Geldspekulation zu sein, und würden wieder nur solche
+Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl und das geistige
+Interesse des Volkes kämpfen.
+
+Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos
+dieses Mittel wäre? Lassalle hätte nur seine Blicke über den
+Grenzbereich des preußischen Staates hinaus nach England und Frankreich
+zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu
+überzeugen. In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen
+eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, während in Frankreich
+den Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber
+durch eine hohe Steuer fast unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert
+war. War deshalb die französische Presse besser als die englische?
+Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit
+nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem
+Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse für seine Zwecke
+zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse
+Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel höherem Grade
+dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war.
+
+Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine
+Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen
+Lebens bezeichnet werden muß. War der Zeitpunkt auch schlecht gewählt,
+war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und für sich bleibt
+die Tatsache, daß die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein
+kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die
+Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden muß, soll sie sich vom
+Einfluß der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber
+war, was Lassalle über die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863
+Bismarck zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß die Feste weiter
+nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die
+Regierung, wie sie in Frankreich und England unter ähnlichen
+Verhältnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren,
+so mußte er hervorheben, daß mit den Festen allein noch nichts getan
+war, daß, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die
+Regierung um keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte er
+sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse über die Feste zu
+wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen suchte,
+noch zu überbieten. Niemand, der die Geschichte der preußischen
+Verfassungskämpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der
+Lassalleschen Rede lesen können, ohne sie zu mißbilligen.
+
+Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu
+Frankfurt a. M. zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wäre
+berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo
+er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den
+deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen --
+wir haben gesehen, wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” das
+„Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen und Preußen als den
+reaktionärsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn
+Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel
+getrieben hätte, wie die Fortschrittler, nur daß er nach der andern
+Seite hin liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe gegen
+Bismarck und die preußische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe
+direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie
+„mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” über die
+Beschlüsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis
+aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler alte Weiber seien.
+Noch ein Passus der Rede zeugt von der veränderten Frontrichtung
+Lassalles.
+
+Der Führer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den
+Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut,
+wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft der Volkspartei und
+die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionären
+Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk sei nicht bloß einmütig,
+sondern auch so gemäßigt bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche
+nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann,
+keine Verantwortung dafür habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte,
+welche, weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung greife.”
+
+Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung eine zwar recht
+lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. „Wir
+wollen keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen unsere Hände in
+Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und
+dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, wenn man wirklich die
+ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider
+zugleich auch sehr gebräuchliche Art zu drohen -- so gebräuchlich, daß,
+wie gesagt, über den Sinn der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich
+war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht
+verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die
+Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern
+um ihnen zu drohen für den Fall, daß es zu einer Revolution oder einem
+Staatsstreich kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn
+von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen:
+„Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals
+dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege käme, es den
+Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis
+zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution!
+Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor.”
+
+Und „die ganze Versammlung erhebt in großer Aufregung ihre Hände”,
+heißt es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht über die
+Rede.
+
+Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” bedeuten? Es war kaum eine
+andre Auslegung möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn nicht
+direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es „auf diesem
+oder jenem Wege” zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. Eine solche
+Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die
+Fortschrittler, statt sie vorwärtszutreiben, erst recht kopfscheu zu
+machen.
+
+In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten.
+Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu
+unterbrechen, wurden von exaltierten Anhängern desselben mit
+Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse löste der
+Bürgermeister eine halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf
+Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das andere ausbringenden
+Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck
+aufgab, das mit den Worten beginnt: „Fortschrittlicher Bürgermeister hat
+soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen
+und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene
+Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst”, und mit
+der „Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß.
+
+Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung
+angeführt werden kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten der
+Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttäuschung über die
+verhältnismäßig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen
+Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige,
+aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre
+-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt,
+so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend
+geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- daß Lassalle, als er
+nach Deutschland zurückkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich
+so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches
+Telegramm hätte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn
+einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, und der
+seiner inneren Überzeugung nach sicherlich sich noch für einen solchen
+hielt. Wenn nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste Taktgefühl
+Lassalle verbieten müssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt
+herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann.
+
+Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflösung
+der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, so
+folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung unternommene Schritte,
+die ebenfalls den politischen Grundsätzen, als deren Vertreter Lassalle
+auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem
+in enger Verbindung mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht.
+
+Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch
+gemacht haben sollten, waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen
+Gefängnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen
+Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten,
+unterstützt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an
+den König von Preußen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige
+Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu
+seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, „wie wenig entmonarchisiert”
+das Volk in Preußen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen
+hatte: „Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als
+zu Demokraten”, er, der als Führer der neuen Bewegung doch vor allem die
+Pflicht hatte, seinen Anhängern das Beispiel demokratischen Stolzes zu
+geben, ermuntert sie, vom König von Preußen Begnadigung zu erbetteln.
+Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am 20.
+April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte Klings, daß gegen
+Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Sämtliche
+Hauptmitglieder des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. „Die
+beiden von hier Verurteilten gehören zu der entschiedensten
+Arbeiterpartei und würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht zu
+bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen
+widerstreitet, Sr. Majestät verpflichtet zu sein.”
+
+Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er
+schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem Stolz.
+Aber den Gedanken der Adresse an den König gab er noch immer nicht auf,
+sondern suchte nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch der
+Verurteilten von großem Nutzen sein könne. Es kann, heißt es wörtlich,
+„vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn die Adresse
+von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte
+oben eine -- für uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche
+man sich um so mehr ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an die
+Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein
+Schritt, den man, wie Ihnen der beigefügte Leitartikel der
+ministeriellen Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) zeigt,
+oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. Indes auch diese
+Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des
+empfohlenen Schrittes zu überzeugen, und so blieb der Bewegung diese
+Bloßstellung erspart.
+
+Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurückkehrte, ging er
+zunächst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt für seine Sache zu
+erobern. Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter Berlins”, ließ ihn
+in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter
+den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam
+geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte
+der Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” und „Reform”)
+über die rheinischen Versammlungen anknüpft, war der Erfolg doch
+zunächst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in
+Berlin fanden in kleineren Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött
+Anlaß, und als in der ersten größeren Versammlung Lassalle auf
+Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde,
+klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der
+Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der
+Vorträge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen
+bald wieder ab, so daß der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis
+auf über 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864
+kaum noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein ein großer
+Teil Nichtarbeiter waren.
+
+Neben der Agitation beschäftigten Lassalle auch sehr stark seine
+Prozesse und sonstigen Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm dem
+Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen
+die Fortschrittspartei kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in
+Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges Werkzeug
+gebrauchen ließ. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren
+Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu überschütten.
+Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen
+Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch „mürbe” zu bekommen.
+Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede
+„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und erhob gegen Lassalle
+Anklage auf Verletzung der §§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches
+(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung
+von Anordnungen der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle
+unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster
+Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war,
+mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefängnis.
+Wegen der Flugschrift „An die Arbeiter Berlins” erhob die
+Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle
+und ließ auch, wie bereits erwähnt, Lassalle in Untersuchungshaft
+nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides,
+Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persönlichen Rachsucht des
+Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr
+vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bös zerzaust
+hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. März 1864 vor dem
+Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht
+weniger als drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen
+Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat
+lautete, auf Freisprechung und überwies die Behandlung der
+untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verstöße gegen
+das Strafgesetz der zuständigen Gerichtsabteilung.
+
+Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist ein wichtiges Dokument für
+die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie
+eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen Arbeit Lassalles
+zu erwähnen, die Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein
+propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden muß. Es ist dies die
+Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische
+Julian, oder Kapital und Arbeit”.
+
+Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, die
+Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und
+unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” als
+Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation veröffentlichte. Diese,
+aus den plattesten Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie
+zusammengesetzten Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe,
+den auf der Höhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei,
+die in ihm ihren ökonomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu
+vernichten. Berücksichtigt man, daß Lassalle zu systematischen
+ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment,
+wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk machen wollte,
+durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man
+außerdem in Betracht, daß Lassalle, während er den „Bastiat-Schulze”
+schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten für die Leitung des
+Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin,
+in diesem Buch einen neuen Beweis für das außergewöhnliche Talent, die
+staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des Lassalleschen Geistes
+zu erblicken. Freilich trägt der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs
+deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik
+der Popularität der Schrift zugute kommt, sind die Umstände, unter denen
+diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so
+größer war, als Lassalle wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine
+falsche Position geriet -- die Enttäuschung einerseits, und das
+Bestreben, sich über diese Enttäuschung selbst hinwegzutäuschen,
+andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. Aber auch
+inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Höhe des Gegenstandes,
+sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein
+nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche
+und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht
+frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen hat der „Bastiat-Schulze”
+jedoch das große Verdienst, den historischen Sinn und das Verständnis
+für die tieferen Probleme der Ökonomie unter den deutschen Arbeitern in
+hohem Grade gefördert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung
+auf die Höhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen
+Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war,
+ noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen
+ Eindrücke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- überall wurde
+ in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir Knaben nur
+ in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer
+ Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschüler gehörten den
+ bürgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber
+ die einen wie die andern waren gleich fest davon überzeugt, daß eine
+ Revolution „kommen muß”, denn „mein Vater hat es auch gesagt”.
+ Jede Äußerung der Wortführer der Fortschrittspartei, die als
+ ein Hinweis auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde
+ triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse
+ auf den König und seine Minister.
+
+ [31] So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles gegen
+ Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach Befriedigung”
+ seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen für dieselbe Sache”
+ falsch. Beides fällt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs
+ dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber lustig,
+ daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und
+ tierischer Arbeit darin erblicke, daß die erstere Arbeit für künftige
+ Bedürfnisse sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren
+ Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, daß der Mensch mit
+ Bewußtsein, das Tier ohne solches tätig sei. Und ähnlich an anderen
+ Stellen.
+
+
+
+
+Lassalle und Bismarck.
+
+
+Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen und geschrieben
+hat, trägt immer deutlicher die Züge der inneren Ermattung, der
+geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprüngliche,
+das natürliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die
+Stärke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man
+vergleiche das „Arbeiterprogramm” mit der Ronsdorfer Rede, die
+Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter” mit der
+Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, und man wird das hier Gesagte
+verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke treten an
+ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische
+Beweisführung, und statt zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer
+mehr auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern
+vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten
+Erfolgen.
+
+Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die
+Behauptung der Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation die
+schließliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit großem Geschick
+das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt
+zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von
+„Wallensteins Tod”:
+
+ „Wär's möglich? -- könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?
+ Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?”
+
+Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation
+um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser
+jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, wie der Friedländer -- um
+sein eigenes Bild zu brauchen -- „Dinge getan, welche er à deux mains
+verwenden konnte”. Er hatte sich nicht damit begnügt, die Vorgänge in
+der inneren und äußeren Politik objektiv zu studieren, um den günstigen
+Moment zur Aktion für seine Pläne auszunützen, er war bereits dazu
+übergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen die er
+kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte
+Unterhandlung getreten. Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein
+sagen:
+
+ „Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam
+ Nicht über diese Schwelle noch!”
+
+Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch
+innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu
+treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht die Versuchung von
+sich wies”?
+
+Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende
+Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck
+hatte, ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die langjährige
+Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer
+1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche
+Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern
+derselben unter Hinzufügung der näheren Umstände mitgeteilt, und als
+August Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom 16. September 1878 die
+Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags
+darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte
+nur in Abrede zu stellen, daß es sich dabei um politische
+Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen
+der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es drehte sich bei diesen
+Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um
+Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die
+Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Fürst
+Bismarck war für diesen Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er
+weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung
+des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der
+schleswig-holsteinische Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei.
+Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen
+zwischen Lassalle und dem Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der
+letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich
+ausdrücklich konstatieren muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte
+und erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu
+können.” Darauf antwortete nun Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten
+sich gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umständen
+aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so
+ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung
+einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht gekommen.” Er habe es „mit
+einem gewissen Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert.
+Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er „von deren
+Unzweckmäßigkeit noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die damals
+eingetretenen politischen Ereignisse die Fortführung der in dieser
+Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht er,
+sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, ihn brieflich darum
+gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu
+herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren. „Was hätte mir
+Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In
+allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du
+gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man
+anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, was
+kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als
+Minister hätte geben können.”
+
+Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der „offiziell noch nie gelogen”
+hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloßen
+Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und
+würde dieser nicht den „revolutionären Juden” wiederholt -- er selbst
+gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, während Sophie Hatzfeldt
+behauptet hatte, daß es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche
+gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert
+haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in
+der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche
+nachzulesen, um sich zu überzeugen, wie stark sich das Ministerium
+Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht
+einzuführen, und dazu gab es unter den obwaltenden Umständen kaum
+einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert
+in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige
+Äußerungen und knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten
+Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte mit Bismarck
+bekannt geworden, richtig gewürdigt werden können:
+
+„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte
+Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen!
+
+Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich
+Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es
+vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt!
+
+Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust
+zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr
+mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine
+und direkte Wahlrecht oktroyiert.
+
+Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf
+dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen
+mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene
+Notwendigkeit gegründet sind.
+
+Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird
+vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die
+Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht
+ist oktroyiert!”
+
+Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewußt, „schon
+an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erlaß meines
+Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand
+entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffaßte”. Aber wenn es
+auch zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter 1862/63 in
+Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es möglich sei, durch
+eine Änderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu
+sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32],
+so würde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer
+bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben
+und immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn er nicht aus seinen
+Unterhaltungen mit Bismarck die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun
+vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, diese Oktroyierung
+beschlossene Sache sei.
+
+Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, daß es
+zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen
+schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen überzeugt hatte,
+daß Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt
+unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer
+möglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die
+Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, geht schon daraus
+hervor, daß Lassalle fortfuhr, von allen seinen Veröffentlichungen usw.
+durch das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” ein
+Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift
+„persönlich” an Bismarck übersenden zu lassen.
+
+Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß seine Verhandlungen mit
+Lassalle wegen des „do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen führen
+konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachträglich
+protzenhaft mit der Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel geben? Er
+hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Bismarck
+hatte es zu jener Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe
+brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache
+war nur die, daß es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles
+Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, daß
+Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: „Sie
+können unsre Bevollmächtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. Sie
+können sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen,
+während wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen über diesen
+Punkt, aber lügen schickt sich für uns nicht” -- nach seiner Rückkehr
+nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge übertrieb. Er
+wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit
+wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre
+Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie es
+in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.
+
+Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst seine eigne Bewandtnis.
+Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren
+darüber, daß er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen
+politischen Verbündeten haben würde, solange dieses Bündnis im
+Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern
+Worten, daß Lassalle genau so mit ihm verfahren würde, wie er mit
+ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald er das
+von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mußte ihn die erste
+Unterredung mit Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie
+Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein Fisch ohne Gräten”
+war, sondern ganz gehörige Gräten und Stacheln hatte. Mit der
+Aussicht auf ein Pöstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da
+nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle
+leicht sehr unbequem werden, also warum sich übereilen? Die Agitation
+Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger
+gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck
+brauchte.
+
+In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter”,
+gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklärt:
+
+„Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die Einführung des
+Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, daß sie dem deutschen
+Bürgertum zur Last falle?... Die preußische Regierung ist es, nicht die
+besitzenden Klassen in Preußen, welche für alle Zeiten und vor allem
+Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten
+Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: „Bourgeoisie und Arbeiter
+sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre
+Unterdrücker” -- d. h. also gegen die Regierung.
+
+Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. März 1864 -- ist ihm der
+Verfassungskonflikt in Preußen nur noch der Kampf zwischen dem
+Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” könne das Königtum
+nicht weichen, „vollkommen wohl” aber könne es „das Volk auf die
+Bühne rufen und sich auf es stützen. Es brauche sich hierzu nur
+seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich
+Volkskönigtum gewesen.”
+
+„Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der
+Bourgeoisie könnte dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch aus
+seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des
+Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen
+ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.”
+
+Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im weiteren Verlaufe seiner
+Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung
+als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt.
+Niemand lasse aber „gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband
+drehen, an welchem er erwürgt wird, und das ist niemand zu verdenken,
+und daher auch dem Königtum nicht”. Beständig auf das angebliche
+„Recht” hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, daß es mehr
+in seiner Stellung läge, sich auf das wirkliche Recht zurückzuziehen
+und das Volk auf die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen und
+von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband
+winden zu lassen, an dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle,
+sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung gestürzt und das
+allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der
+intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte.
+
+Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur durch die Tatsache seiner
+Agitation -- was unter Umständen nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion
+vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die
+Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch immer mit
+Wallenstein ausrufen:
+
+ „Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht
+ Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!”
+
+Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar
+machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck
+abschütteln zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal der
+Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck seinen „Bevollmächtigten”. Aber
+er vergaß, daß es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker ist als
+selbst der stärkste individuelle Wille, und daß, indem er überhaupt
+um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu
+vertrauen und ausschließlich ihr seine Energie zu widmen, er nach
+seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab.
+
+In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles
+über die Grundidee seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: mit
+der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen Schwenkung war
+Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz
+als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es
+ist merkwürdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal
+vorgezeichnet hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende
+Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke durch diplomatische
+Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen
+Gegner -- die preußische Regierung -- zu täuschen, aber er täuschte
+tatsächlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er
+nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp
+persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie Lassalle von Sickingen
+schreibt, daß „dieser große Diplomat und Realist, der alles sorgsam
+vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen will, gerade dadurch
+zuletzt gezwungen ist, dem zufälligsten Zufall alles anheim zu
+geben”, und, „während die Rechnung auf jene Täuschung durch den
+Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen an der bewußten Natur des
+Bestehenden zugrunde gehen muß, die Entscheidung, statt wie er
+wollte, aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus denen des
+ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen muß”[33] -- so sieht
+auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit dem Zufall
+zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen in der inneren und
+äußeren Politik abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine
+realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, daß beim
+Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler
+lahmzulegen, der die meisten Trümpfe in der Hand -- beim politischen
+Spiel, der über die meisten tatsächlichen Machtfaktoren zu gebieten
+hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war,
+konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich mehr Bismarcks, als
+dieser sein „Bevollmächtigter” wurde.
+
+Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, „die
+Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen
+des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine
+schwächste Agitationsrede, ausschließlich auf den äußeren Effekt
+berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede bewußt war,
+zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den überall
+eingestreuten Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze -- Krücken,
+deren ein Vortrag, der an Hand und Fuß gesund ist, durchaus entbehren
+kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar
+beeinträchtigen würden. Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der
+Vorzüge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen
+deren Fehler.
+
+Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz
+nach tadelnswerter als alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen.
+
+Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die
+Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin
+geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe gegen die Übelstände,
+unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da
+es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte,
+auf Veranlassung Bismarcks vom König empfangen worden und hatten auf
+ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König habe seine Minister
+angewiesen, „eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig
+und mit allem Ernst vorzubereiten”.
+
+Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang
+der Deputation von Seiten des Königs als einen Erfolg seiner
+Agitation hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich war,
+niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere Übertreibungen in
+der Ansprache, erklärte sich auch diese aus der Situation Lassalles.
+Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der
+Deputation durch den König und den Worten des letzteren eine
+Auslegung, die zunächst nur als eine Reklame für jenen und dessen
+Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der
+offiziösen „Zeidlerschen Korrespondenz” über den Empfang der
+Deputation beim König und liest gerade die dem Königtum günstigste
+Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrücklich
+verzeichnet, „mit dem höchsten Nachdruck der Stimme und begleitet
+sie mit der eindringlichsten Handbewegung”[34].
+
+In den Worten des Königs liege, erklärt er, „die Anerkennung des
+Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” --
+nämlich, daß eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung
+notwendig sei -- ferner, „das Versprechen des Königs, daß diese
+Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die
+Gesetzgebung erfolgen soll”, und drittens, da „eine
+Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz
+erwählte Kammer, dem Könige niemals die zu diesem Zwecke
+erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn die
+Sache ohne Geld zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu einem
+solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in dem königlichen
+Versprechen, „innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen”
+auch „das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden”.
+
+Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, welche diesem
+ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ...
+zugehört” habe, in einen „nicht zu beschreibenden Jubel” ausbrechen,
+der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu
+sprechen versuchte.
+
+War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, daß die Arbeiter Lassalles
+Auslegung des königlichen Versprechens für bare Münze nahmen, das
+schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte.
+
+Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in
+Betracht kamen, diese nur durch möglichst glänzende Ausmalung der
+bisher erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit für den
+Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere
+Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine
+in der „Kreuzzeitung” erschienene Rezension des „Bastiat-Schulze”,
+die nach Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, als daß die in
+ihr an Lassalle gerichteten Fragen hätten unbeantwortet bleiben
+dürfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes
+ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und läßt die Erwiderung und zwei
+Exemplare der Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck senden.
+Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck
+zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche
+Jubel” sollte Köder für Bismarck und den König sein. Aber niemand
+kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu
+gestalten, daß sie den gewünschten Effekt nach oben mache, bewirkte,
+daß sie tatsächlich einen durch und durch cäsaristischen Charakter
+erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus:
+Cäsarismus in den Reihen der Partei, und Cäsarismus in der Politik
+der Partei.
+
+„Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres,
+nichts Unintelligenteres,” heißt es in der Einsendung an die
+„Kreuzzeitung”, „als der unruhige, nörgelnde liberale
+Individualismus, diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser
+unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit,
+sondern wurzelt notwendig und naturgemäß nur in den Viertels- und
+Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie.
+
+Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage
+angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die
+Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner würden hier in
+diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehört zu werden. Der
+oligarchische Boden allein ist der homogene, mütterliche Boden für den
+negativen, ätzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und
+ihre subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.”
+
+Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen:
+
+„Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe
+ich zu erwähnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit
+und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser
+Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein
+epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte,
+da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen
+Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines
+Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt
+oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis
+zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein ‚Nein’
+gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut
+habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit
+beruhende!... Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den
+Arbeitern Worte gehört, die sich in den Satz zusammenfassen:
+Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer
+zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen,
+zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige
+Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit dem Hammer!
+
+Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar
+betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten,
+Freiheit und Autorität, -- die höchsten Gegensätze, sie sind auf das
+innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im
+kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen darstellt. Nicht
+eine Spur ist in uns von jenem nörgelnden Geiste des Liberalismus, von
+jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von
+welchem der Körper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...”
+
+Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der
+nämlich, daß in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen
+Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf
+die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und daß in der Tat schon die
+Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist
+der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, während umgekehrt der
+Bourgeois nur unter anormalen Verhältnissen, nicht aber durch die bloße
+Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion
+sich veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt aber durch die
+obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion
+heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; wo die Masse ihren
+Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus
+einem revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden. Die persönliche
+Diktatur ist in den Kämpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der
+Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionären
+Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den „negativen, ätzenden
+Individualismus” aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein
+Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefährdet erscheint. In
+solchen Momenten wird das Schlagwort von der „einen reaktionären
+Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung sich
+verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich
+unfähig fühlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern
+unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persönlichkeit
+ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser
+Persönlichkeit entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden
+Individualismus”. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den
+letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die
+Partei, die tatsächlich am konsequentesten deren Klassenforderungen
+vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren
+Interessen, weil sie durch ihre „Nörgelei” die staatserhaltende
+Tätigkeit der Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre 1851
+die französische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter
+jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum
+Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten
+usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der
+Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloßen Hüters
+der Ruhe und Ordnung für die Bourgeoisie zu begnügen.
+
+Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat absolut keinen Anlaß,
+ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das
+„Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber zu verzichten. Und wir
+haben bei der Solinger Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle
+den Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz pochte, er
+gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und
+kräftiges „Nein” hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum
+Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten
+Anlaß ein ebensolches „Nein” gehört -- er sprach, wenn er sich
+rühmte, in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und Freiheit” in
+der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen
+Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus.
+
+Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß er von Anfang an die
+persönliche Spitze für unerläßlich gehalten hatte. Zu diesem bloßen
+Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis hinzu. Die Politik, die
+er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder
+und Anhänger der Bewegung kritiklos dem Führer folgten und ohne Murren
+taten, was er von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen
+des Königs von Preußen gegenüber den schlesischen Webern in einer Weise
+behandelte, daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt den
+Demokraten -- man möchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das
+übrige aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so mußten auch sie
+bereit sein, auf Kommando das Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn
+eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag,
+so ist es die Tatsache, daß sie für Lassalle unter den gegebenen
+Verhältnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die
+Arbeiter je nach Bedürfnis für seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu
+haben, und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, um nach oben hin
+als eine bündnisfähige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige
+Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr
+möglich.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert.
+ Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schlußwort einer
+ Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck
+ und tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer Sitzung des
+ konservativen preußischen Volksvereins vom 2. November 1862: „Meine
+ Herren, täuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn
+ sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu
+ lösen, so ist all Euer Laufen und Mühen umsonst. Ich schließe deshalb
+ mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und
+ Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch
+ mehr Energie, treiben wir es nicht bloß für die Zeit der Wahlen.”
+
+ [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen
+ Schriften dem für das große Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum
+ Franz von Sickingen angefügt (vgl. Bd. I).
+
+ [34] Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst baldigen
+ gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhülfe ihrer Not
+ entließen Seine Majestät die Deputation. Das königliche Versprechen
+ wird erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges
+ widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue
+ Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.”
+
+
+
+
+Lassalles letzte Schritte und Tod.
+
+
+Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere
+Vereinsleitung als auch was die geplante nächste äußere Aktion des
+Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. Im
+Verein drang er auf die Ausstoßung Vahlteichs, der in bezug auf die
+Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei
+nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so daß den Vereinsmitgliedern
+kaum etwas anderes übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn
+Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit
+höchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich
+gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise
+zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens
+erst kennenlernen mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder bereits
+gegen ihn beeinflußt waren.
+
+Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge zur Abänderung der
+Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken
+an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache
+hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst
+bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein
+letzter Versuch, „einen Druck auf die Ereignisse auszuüben”,
+mißglücken sollte.
+
+Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in
+Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben
+von Dänemark eroberten Herzogtümer Schleswig-Holstein.
+
+Als im Winter 1863 der Tod des Königs von Dänemark die
+schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrängt hatte, hatte
+Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung
+stand und deshalb ein großes Interesse daran hatte, je nach derjenigen
+Politik, für die die preußische Regierung sich entschloß, den Verein
+Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den
+„Schleswig-Holstein-Dusel” Stimmung gemacht[35] und eine Resolution
+ausgearbeitet und überall annehmen lassen, in der erklärt wurde:
+
+ „Die einheitliche Gestaltung Deutschlands würde die
+ schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser
+ großen Aufgabe gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in
+ Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben ein ausländischer
+ Fürst ist, von verhältnismäßig sehr untergeordnetem Interesse.”
+
+Im übrigen enthält die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine
+Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die
+Einverleibung der Herzogtümer in Deutschland „nötigenfalls mit
+Waffengewalt” durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der
+Hut zu sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen
+Aufgaben abziehen”. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird
+der Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit
+benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage
+abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen
+sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember
+1863.
+
+Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es handelte sich um die Frage,
+was mit ihnen geschehen solle. Ein großer Teil der Fortschrittler trat
+für die legitimen Ansprüche des Herzogs von Augustenburg ein, während
+man in maßgebenden Kreisen Preußens auf die Annexion der Herzogtümer in
+Preußen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien
+hatten, zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in Deutschland noch
+einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache,
+der zur Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs
+zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches
+Taktgefühl verloren, daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine
+große Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution
+beschließen zu lassen, des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die
+Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und der übrigen deutschen
+Staaten an Preußen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte
+bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu
+welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs
+gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung
+entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausführung des Vorhabens
+gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer
+demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren
+Führer glücklicherweise erspart.
+
+Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch einen Prozeß ausgefochten,
+in die Schweiz gegangen. Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad,
+und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Fräulein Helene von
+Dönniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht
+und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen
+hatte. Es entwickelte sich im Anschluß an den Besuch jene Liebesaffäre,
+deren Schlußresultat der frühzeitige Tod Lassalles war.
+
+Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre sind heute so bekannt und
+die für Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affäre so
+über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine Wiedererzählung des
+ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte
+sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er
+entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen
+gelernt haben -- man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre im kleinen und
+auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen
+Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dönniges
+das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist,
+das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den
+mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner Persönlichkeit gelingen
+muß, diese Schwierigkeit zu überwinden. Selbstbewußt, und zugleich mit
+umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er
+seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern
+und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie
+mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines,
+unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der
+jungen Dame erfahren die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung
+und erklären, Lassalle unter keinen Umständen als Schwiegersohn annehmen
+zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph
+wird nur um so größer sein, je größer der Widerstand der Eltern. Von
+diesem Selbstbewußtsein getragen, begeht er einen Schritt, der die
+Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum
+Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen selbst
+an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein
+anderer. Und ohne Rücksicht darauf, was er sich und seiner politischen
+Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es für ihn
+nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das
+Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges
+beobachten und über jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch die
+Vermittlung Hans von Bülows wird Richard Wagner ersucht, den König von
+Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dönniges zu
+intervenieren, während dem Bischof Ketteler von Mainz der Übertritt
+Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen
+Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht
+die geringsten Gedanken darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen
+Mission war, die er übernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu
+antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch
+kümmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten würdig
+erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur
+Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er hätte stolz sein
+dürfen, wo er stolz sein mußte, war er es nicht.
+
+Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts
+tun, weil Helene von Dönniges protestantisch war, und der
+Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswärtigen an
+den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm,
+führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, daß er durch die Art
+seines Vorgehens sich und das Weib, für das er kämpfte, in eine total
+falsche Position gebracht hatte. Obwohl er gewußt hatte, daß Helene
+jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug für sein
+zukünftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- „erhalten Sie mir
+Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist”, hatte
+er am 2. August an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr
+jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste Willensstärke erforderte,
+und war empört darüber, daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen
+suchte. Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, die Dinge
+ausschließlich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen
+zu betrachten, hatte er ganz außer Erwägung gelassen, daß gerade die
+unterwürfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ändern,
+und sah den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste Spiel” einer
+„verworfenen Dirne”, wo weiter nichts vorlag, als die Unbeständigkeit
+eines verwöhnten Weltkindes.
+
+Indes, er war nervös total heruntergekommen und besaß längst nicht mehr
+die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu
+Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und
+Hölle in Bewegung zu setzen, die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen
+oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft,
+sondern eines hochgradigen Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel
+von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach den übereinstimmenden
+Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich
+auf ein stark zerrüttetes Nervensystem.
+
+In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die erlittene Niederlage
+ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu
+verschaffen für die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So töricht
+das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden
+Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affäre spielte,
+ist das Duell das reinigende Bad für allen Schmutz und allen Schimpf,
+und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besaß, sich im Kampf um
+irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschränken, welche sich für den
+Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft
+schicken, so war es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich
+erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu
+verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell
+gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der
+verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der
+erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit
+die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte.
+
+
+Fußnoten:
+
+ [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten Dr. Dammer,
+ an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus
+ widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wörtlich geheißen:
+ „Die erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der ganze
+ Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht höchst unangenehm ist.”
+ Der Widerspruch in den Telegrammen erklärt sich jetzt durch die
+ widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war,
+ ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.
+
+
+
+
+Schlußbetrachtung.
+
+
+So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles,
+seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so,
+vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein
+Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt,
+war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit
+hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr
+problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der
+er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben.
+
+Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl
+getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen
+wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert
+worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt.
+
+Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt
+hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich
+seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst
+anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl
+hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent
+weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf
+diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen
+lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß
+genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz
+hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte,
+ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten
+Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu
+Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel,
+geben?”
+
+Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen
+ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland
+niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen,
+bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”,
+selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution
+beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts
+geändert haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht
+war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges
+genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt
+des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen
+an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „... Ich muß noch vorher in
+Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich
+wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage
+und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel”
+von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses
+Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige
+Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck
+kommen. Sie lautet:
+
+„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich
+nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur
+genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben.
+
+Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher,
+als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft
+und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde
+ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste
+Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel
+sähe, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich für mich schickt;
+denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber
+bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium
+übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig.
+Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre,
+mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!)
+
+Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam
+entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und
+chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane
+Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus
+besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse
+auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht
+versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon!
+
+Ach könnte ich mich zurückziehen!” --
+
+In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig
+und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte
+Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die
+jene resignierten Sätze diktierten.
+
+Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am
+3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorläufigen
+Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph.
+Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung für „Mr. Ferdinand
+Lassalle professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte
+Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk
+von der Hand des alten Freiheitsveteranen:
+
+„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhängnisvollen Jahre
+1864 hier mitteilte, er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt
+machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische Bewegung in
+etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß
+es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht
+hinreichend fühle, namentlich werde er die bevorstehenden
+Gefängnisstrafen nicht überdauern können. Hierauf gab ich ihm den Rat,
+sich unter bewandten Umständen irgendwo einen festen Wohnsitz zu
+gründen, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er
+dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das
+Bürgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden hätte.
+In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige Reisen machen.
+Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11.
+August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.”
+
+Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate.
+
+Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an
+ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um
+Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend
+des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und
+setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente
+von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von
+jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen
+Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten
+Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den
+Arbeiterstand zum Siege führen”.
+
+Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles
+Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken
+zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre
+gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den
+Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu
+räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen
+politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich
+zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die
+Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen,
+sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei,
+wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So
+liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch
+sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in
+seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit
+stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich
+in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür
+gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht
+darüber im „Nordstern” erschien.
+
+In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten
+-- so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte,
+er stets das Ich hatte vorangehen lassen.
+
+Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte
+es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber
+ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit
+wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus.
+
+Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser
+Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im
+hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten
+Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so
+mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind,
+gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht
+ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob
+Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein
+anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß
+zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer
+Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über
+diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener
+hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers
+in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte
+anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen
+Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und
+konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen,
+aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur
+großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende
+entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte,
+während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung,
+die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit.
+
+Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr
+begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für
+den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent
+geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte
+hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große
+agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene
+Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende
+für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen
+Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der
+Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie
+in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verständiger
+Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der
+aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in
+ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon
+Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in
+seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen
+hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche
+Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten
+zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des
+Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das
+äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen
+aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine
+Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare
+Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die
+Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug
+auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben.
+
+Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre
+Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen
+doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug,
+zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer
+Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst
+aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch.
+Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die
+er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in
+dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die
+Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche
+anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik
+fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen
+irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der
+Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent
+im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft;
+kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines
+Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß
+von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner
+sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die
+bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war
+unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an
+Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner
+bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit
+den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch
+konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus
+Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle
+nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die
+verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter
+denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden,
+einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie
+getan.
+
+Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat
+langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden
+wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich
+oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie
+heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen
+sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der
+Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften
+von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne
+Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der
+Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das
+Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb.
+
+Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende
+Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl
+Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und
+Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da
+sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten,
+ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und
+dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so
+bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der
+Arbeiterbewegung.
+
+Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne
+Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung
+darunter litt, und darum sei es hier erwähnt.
+
+Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher
+von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute
+hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht
+in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu
+untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des
+einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht,
+und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat
+keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre
+Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher
+auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt
+darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in
+Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich
+gefördert haben.
+
+Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße,
+als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders
+gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für
+die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben
+Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit
+andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht
+wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein.
+
+Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der
+Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele
+Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab
+sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die
+Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung
+und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft.
+
+Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig
+wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es
+bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und
+brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber
+wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so
+gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat,
+-- so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur
+erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er
+hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen
+Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen
+politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den
+Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein
+eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein
+vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung
+des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der
+Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
+für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun
+gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der
+Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als
+nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen
+Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime
+Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes
+und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war
+freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da.
+Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen.
+Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich
+gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land
+geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen
+zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen
+ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine
+politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten
+auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet.
+Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es
+im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen
+deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen _organischen_ Weg
+gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden
+Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das große, das unvergängliche
+Verdienst Ferdinand Lassalles.
+
+
+
+
+ +--------------------------------------------------------------------+
+ | Anmerkungen zur Transkription |
+ | |
+ | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide |
+ | Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: |
+ | |
+ | anderm -- anderem |
+ | andern -- anderen |
+ | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein |
+ | eigne -- eigene |
+ | garnicht -- gar nicht |
+ | heut -- heute |
+ | Testamentrecht -- Testamentsrecht |
+ | Vermittelung -- Vermittlung |
+ | Verständniß -- Verständnis |
+ | |
+ | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: |
+ | |
+ | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. |
+ | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. |
+ | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert. |
+ | S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert. |
+ | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert. |
+ | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert. |
+ | S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert. |
+ | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert |
+ | (Fußnote). |
+ | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert. |
+ | S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt. |
+ | S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt. |
+ | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert. |
+ | S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt. |
+ | S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote). |
+ | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert. |
+ | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert. |
+ | S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14). |
+ | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert. |
+ | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert. |
+ | S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt. |
+ | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert. |
+ | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert. |
+ | S. 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt. |
+ | S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert. |
+ | S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht. |
+ | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert. |
+ | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert. |
+ | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert. |
+ | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert. |
+ | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert. |
+ | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert. |
+ +--------------------------------------------------------------------+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***
+
+***** This file should be named 44722-0.txt or 44722-0.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
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+Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the
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+works. See paragraph 1.E below.
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+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
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+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
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+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
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+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
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+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
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+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
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+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit www.gutenberg.org/donate
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+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
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+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
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+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
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+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
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+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
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+ www.gutenberg.org
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+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+The Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Ferdinand Lassalle
+ Eine Wrdigung des Lehrers und Kmpfers
+
+Author: Eduard Bernstein
+
+Release Date: January 20, 2014 [EBook #44722]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***
+
+
+
+
+Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the
+Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+(This book was produced from scanned images of public
+domain material from the Google Print project.)
+
+
+
+
+
+ +--------------------------------------------------------------------+
+ | Anmerkungen zur Transkription |
+ | |
+ | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ markiert. |
+ | Informationen zu Korrekturen befinden sich am Ende des Texts. |
+ +--------------------------------------------------------------------+
+
+
+
+
+ FERDINAND LASSALLE
+
+ EINE WRDIGUNG
+ DES LEHRERS UND
+ KMPFERS
+
+ VON
+
+ EDUARD BERNSTEIN
+
+
+ VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN
+ 1919
+
+
+ ALLE RECHTE VORBEHALTEN
+ COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN
+
+
+ _DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_
+
+
+
+
+Inhalt.
+
+
+ Seite
+
+ Vorwort 5
+
+ Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7
+
+ Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, die Assisenrede
+ und der Franz von Sickingen 27
+
+ Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66
+
+ Das System der erworbenen Rechte 114
+
+ Der preuische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden
+ und das Arbeiterprogramm 145
+
+ Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das
+ Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186
+
+ Der konomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens.
+ Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften
+ mit Staatskredit 213
+
+ Grndung und Fhrung des Allgemeinen Deutschen
+ Arbeitervereins 235
+
+ Lassalle und Bismarck 263
+
+ Lassalles letzte Schritte und Tod 285
+
+ Schlubetrachtung 293
+
+
+
+
+Vorwort.
+
+
+Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre
+1891 verfat, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung
+Vorwrts veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften
+Lassalles. Der Umstand, da ich zu jener Zeit noch in London lebte,
+dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und da
+aus buchhndlerischen Grnden die Ausarbeitung der Schrift in einer
+ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mute, hatte verschiedene
+Mngel zur Folge, die ich spter oft bedauert habe.
+
+Da nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte
+Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen
+berzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik
+vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der
+Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an
+und ber Lassalle bercksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das
+Bild des groen Lehrers und Kmpfers ganz wesentlich einheitlicher zu
+gestalten, als es frher vor uns stand.
+
+Lassalle als Vorkmpfer zu wrdigen war die besondere Aufgabe der
+Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer
+Begrnder verehrt, _fr_ die Partei, also namentlich auch fr
+bildungsdrstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf
+zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Fhrer der von ihm 1863
+neu ins Leben gerufenen Partei in mglichster Klarheit zur Anschauung zu
+bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschrnkung zur Folge, als das
+literarhistorische Moment ziemlich zurcktreten mute. Die Schrift
+beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der
+Warte des auenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen
+behandeln. Aber dafr glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur
+Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des
+Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen
+und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer
+Fhrer der sozialistischen Demokratie.
+
+_Berlin-Schneberg_, im September 1919.
+
+ _Ed. Bernstein._
+
+
+
+
+FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE
+
+
+
+
+Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung.
+
+
+Seit es herrschende und unterdrckte, ausbeutende und ausgebeutete
+Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren
+gegeben, haben sich Staatsmnner und Philosophen, Ehrgeizige und
+Schwrmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder
+Beseitigung des Ausbeutungsverhltnisses in Vorschlag brachten. Will man
+alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so
+ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hlt man sich jedoch an
+bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloe Verlangen nach einem
+Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so
+hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner
+frheren Epoche nur soviel gemein, da er wie jener der geistige
+Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen gefhrten Klassenkmpfe
+seiner Zeit ist. berall drckt die Struktur der Gesellschaft, auf deren
+Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf.
+
+Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der
+kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz
+zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der
+schon verhltnismig frh in der Geschichte in wirklichen Kmpfen zum
+Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kmpfenden selbst
+in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen
+die privilegierten Stnde der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem
+Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Brgertum
+zunchst veranlat, sich als den Anwalt der Interessen aller
+Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die
+Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Krfte notwendiger Einrichtungen
+jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange
+Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit
+diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgeme,
+vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das
+aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den
+zunftbrgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheiungen der
+brgerlichen Wortfhrer so lange fr bare Mnze, als das Brgertum
+ausschlielich Opposition gegen die Vertreter der stndischen
+Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch
+soweit zurckgedrngt, um an die Verwirklichung seiner eigenen
+Bestrebungen gehen zu knnen, so stellt sich bald heraus, da die
+hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen
+Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und
+Beschtzer, und es kommt zu Zusammensten, die um so heftiger
+ausfallen, je grer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist
+jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es
+wird mit rcksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf
+lange Zeit wieder vom Schauplatz zurck.
+
+Dies war der Fall in allen brgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18.
+und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche
+Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhltnisse in
+diesem Jahrhundert nahm, nderte jedoch auch das Verhalten des
+Proletariats gegenber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr
+auergewhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und
+Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den
+vorgeschrittenen Lndern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen
+an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die
+brgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom
+proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine
+antibrgerliche sozialistische Literatur. Verhltnismig unbedeutende
+Reibereien im Schoe der Bourgeoisie, ein bloer Konflikt eines ihrer
+Flgel gegen einen andern aber gengten, um die tatkrftigeren Elemente
+des Proletariats als selbstndige Partei mit eigenen Forderungen in die
+Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Brgertums in
+England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in
+Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber
+sozialistische und proletarisch-revolutionre Bewegungen ein, die
+zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation
+zurckbleiben.
+
+Literarisch und propagandistisch schlgt die Bewegung in den vierziger
+Jahren nach Deutschland hinber. Schriftsteller und Politiker, die
+entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat fr eine
+Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des
+Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche
+Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet,
+bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurck und kolportieren
+sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionre
+Propagandagesellschaften gegrndet und schlielich, am Vorabend des
+Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem
+Programm, das mit unbertroffener revolutionrer Schrfe und
+Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie
+kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, da die besonderen
+Verhltnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunchst noch die
+Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute
+Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionre Kleinbrgerei
+zu kmpfen.
+
+Die Februarrevolution in Frankreich und die Mrzrevolution in
+Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch
+unterwhlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ groen
+Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort
+lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhltnis, bereits
+die tatkrftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhltnisse waren
+in Frankreich, trotz seiner politischen und konomischen berlegenheit,
+der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel gnstiger als in
+Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbuerliche Grundsatz vor,
+whrend in den Stdten und Industriebezirken zwar die groe Industrie
+bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die
+Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in
+Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere
+Handwerk, wenn es auch aufgehrt hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon
+meist fr den Groindustriellen arbeitete, noch eine verhltnismig
+groe Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk.
+Dementsprechend hatte der franzsische Sozialismus selbst dort, wo er
+sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen
+einen stark kleinbrgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und
+die furchtbare Lehre der Junischlacht nderten daran nichts. Sie gaben
+dem utopistischen Sozialismus bei den franzsischen Arbeitern den
+Todessto, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der
+Proudhonismus.
+
+In dieser relativen Unreife der konomischen Verhltnisse liegt die
+Erklrung fr die sonst unbegreifliche Tatsache, da, whrend es damals
+in Frankreich von Sozialisten wimmelte, whrend ber 200 Mitglieder der
+Deputiertenkammer sich Sozialdemokraten nannten, die bonapartistische
+Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte.
+
+In Deutschland war die Unreife natrlich noch grer. Die groe Masse
+der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbrgerlichen, sondern
+teilweise sogar in direkt zunftbrgerlichen Anschauungen. Auf
+verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief,
+wurden die reaktionrsten Vorschlge diskutiert. Nur eine
+verhltnismig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits
+die revolutionre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese
+berall in den vordersten Reihen der Volksparteien kmpfte, wenn sie, wo
+immer sie konnte, die brgerliche Demokratie vorwrtszutreiben suchte,
+so zahlte sie die Kosten dafr an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten
+des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in
+Baden, sie fllten die Gefngnisse, oder muten, als die Reaktion auf
+der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein groer Teil von
+ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das
+Frhjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen
+unterschiedlos aufgelst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten
+noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung gnstigerer Zeiten
+ganz von der ffentlichkeit zurck, oder verphilisterte und schlo sich
+an die ihm adquate Fraktion des brgerlichen Liberalismus an. Letzteres
+gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schngeistigen,
+halb sansculottischen wahren Sozialismus, der mit so vielem Lrm
+aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger
+eingeschchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse
+mit selbstndigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der
+radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender
+Bourgeoisphilantropen.
+
+Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten
+mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umstnden vor
+sich gegangenen Wandlungen bereinstimmt. Der Fehlschlag der
+erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England
+die Wirkung, da der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley,
+Ludlow sich in den Vordergrund drngte und einen Teil der Arbeiter
+veranlate, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu
+suchen -- nicht nur ihre konomische, sondern auch ihre
+moralische, ihre Befreiung vom Egoismus, vom Klassenha߫
+usw. Wenn nun diese >christlichen Sozialisten< auch mit ihren
+Bestrebungen weder selbstschtige, persnliche Zwecke verbanden, noch
+die Geschfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen
+besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern,
+soweit ihr Einflu reichte, doch zunchst die der Ablenkung derselben
+von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische
+Entmannung. Soweit es gelang, den Klassenegoismus zu vertreiben,
+trat in den meisten Fllen an seine Stelle ein philistrser
+Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes
+Bildungs-Pharisertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits
+verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernchstliegenden
+Interessen, whrend die Reste der Oweniten sich meist auf die
+sogenannte freidenkerische Propaganda werfen.
+
+In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen,
+welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionren Bhne
+drngte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische
+Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderla
+nicht sofort erttet werden. Es versucht sich, wie Marx im 18.
+Brumaire schreibt, jedesmal wieder vorzudrngen, sobald die Bewegung
+einen neuen Anlauf zu nehmen scheint. Indes seine Kraft war gebrochen,
+es konnte selbst nicht einmal mehr vorbergehend siegen. Sobald eine
+der hher ber ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionre
+Grung gert, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle
+Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber
+diese nachtrglichen Schlge schwchen sich immer mehr ab, je mehr sie
+sich auf die ganze Oberflche der Gesellschaft verteilen. Seine
+bedeutenderen Fhrer in der Versammlung und in der Presse fallen der
+Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren
+treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinre
+Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine
+Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen
+groen Gesamtmitteln umzuwlzen, vielmehr hinter dem Rcken der
+Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschrnkten
+Existenzbedingungen, seine Erlsung zu vollbringen sucht, also notwendig
+scheitert. (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)
+
+In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der
+Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer greren
+Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben
+ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in
+nennenswerter Weise selbstndig zu bettigen. Whrend die brgerliche
+Philanthropie in Vereinen fr das Wohl der arbeitenden Klasse sich
+mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen
+harmlosen Dingen beschftigte, nahm sich ein kleinbrgerlicher
+Demokrat, der preuische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der
+selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur
+Lsung der sozialen Frage zu gelangen, bei welchem lblichen
+Unternehmen ihm gerade die konomische Rckstndigkeit Deutschlands
+in ermunterndster Weise zustatten kam.
+
+Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften
+weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt;
+diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt
+werden, mit der Groindustrie zu konkurrieren. Da nun die Groindustrie
+in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafr aber eine groe
+Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister
+der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die groe Industrie
+angepat hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr
+ausschauten, so mute bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden
+fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die
+Groindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemchtigt
+hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproten denn die Kredit- und
+Rohstoffvereine frhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von
+Kleinbrgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone
+des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern
+als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom
+Kapital.
+
+Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband
+Schulze-Delitzsch ursprnglich mit der Propaganda fr die
+selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische
+Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem
+Klasseninstinkt vertrglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der
+Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehrte, die
+Linke der preuischen Nationalversammlung, von der ffentlichen Bhne
+zurckgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten
+Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte
+sie, als die preuische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte,
+bis auf weiteres das Feld gerumt. Sie ballte die Faust in der Tasche
+und lie die Reaktion sich selbst abwirtschaften.
+
+Kleinbrger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbrger mit liberalen
+Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch,
+als er von der Reaktion gemaregelt worden war, eine Idee aufgegriffen,
+die damals allgemein in der Luft lag. Assoziation hatte der Ruf der
+Sozialisten in den dreiiger und vierziger Jahren gelautet,
+Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegrndet, Assoziation
+dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der
+liberale Kreisrichter Schulze nicht auch fr Assoziationen sich
+erwrmen?
+
+Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben
+werden, so seien hier nur aus einer 1858 verffentlichten Schrift
+Schulze-Delitzschs einige Stze zitiert ber die Wirkungen, die er von
+den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der
+Arbeiter erwartete:
+
+Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die
+Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschfte ihrer bisherigen Genossen
+den Unternehmern machen, auch fr sie von den gnstigsten Folgen. Denn
+mu nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer
+zum Vorteil der Arbeiter rcksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen?
+Sind nicht die Inhaber der groen Etablissements dadurch gentigt, ihren
+Arbeitern mglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst
+riskieren, da dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen
+bertreten, oder gar selbst eine dergleichen grnden, wozu natrlich die
+geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden?
+-- Gewi, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den
+Arbeitgebern Konkurrenz bieten, lt sich ein dauernder Einflu auf die
+Lohnerhhung, auf eine gnstigere Stellung der Arbeiter im ganzen
+ausben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir frher
+gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanitt niemals
+allgemein und mit Sicherheit erreicht ...
+
+Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den
+Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Grounternehmer
+hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, da sich die enormen
+Gewinne derselben, welche sie frher ausschlielich zogen, vermindern,
+weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen mssen. Whrend
+also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen
+annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und
+mehr, und die Zustnde beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen
+Wohlstandes zu nhern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem
+Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswchsen unserer
+Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mchte wahrer Kultur
+erblicken ...
+
+Nur darauf kommen wir immer wieder zurck: da ehe nicht die Arbeiter
+sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen
+Unternehmungen wagen und tatschlich die Mglichkeit dartun, da sie es
+allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der brigen Klassen,
+durchzusetzen vermgen, man sich von seiten dieser wohl hten wird,
+ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert
+ist, sie in der bisherigen Abhngigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser
+Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fhlbaren Grade von ihnen
+geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als
+Unternehmer entgegengetreten sind, drfen sie auf Beachtung ihrer
+Wnsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der
+Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten
+anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzhlen, whrend sie ihnen bis
+dahin fr bloe Nullen galten, die beim Exempel selbstndig fr sich gar
+nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das
+Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprche und
+Strebungen, mgen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann
+erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, da sie in
+tatschlichen, lebenskrftigen Gestaltungen sich unabweisbar
+hervordrngen. ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und
+das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.)
+
+Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongre, der im Sommer 1862
+tagte, mute Schulze eingestehen, da noch fast gar keine
+Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen
+bestnden. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschftsleuten
+zusammengesetzten Kredit- und Vorschuvereine gediehen, neben ihnen,
+aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften.
+
+Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848
+bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und
+nehmen jetzt deren Faden wieder auf.
+
+Bereits der Krimkrieg hatte der europischen Reaktion einen
+empfindlichen Sto versetzt, indem er die Solidaritt der
+Regierungen, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte.
+Die Rivalitt zwischen Preuen und sterreich trat in dem verschiedenen
+Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Ruland von neuem zutage,
+whrend der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am
+Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres strksten
+Hortes beraubte. Ruland hatte vorlufig so viel mit seinen inneren
+Angelegenheiten zu tun, da es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war,
+sich fr die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des
+Prinzips halber zu interessieren, es kam fr die innere Politik der
+Nachbarstaaten vor der Hand auer Betracht. Zunchst jedoch beschrnkte
+sich die Rivalitt zwischen Preuen und sterreich auf kleinliche
+Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenber blieben beide
+Regierungen vorderhand noch solidarisch.
+
+Einen zweiten Sto gab der Reaktion die allgemeine Geschftsstockung,
+die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperitt 1850
+die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die
+Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgngerinnen an Ausdehnung und
+Intensitt bertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. berall
+grte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, berall
+schpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue
+Kraft, berall erhoben die Mchte des Umsturzes von neuem ihr
+Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am
+wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit
+drakonischen Gewaltmaregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den
+Vorwand lieferte; aber als er merkte, da er dadurch seine Position
+eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern
+Mittel. Er versuchte durch einen populren auswrtigen Krieg sein
+Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen
+der Carbonari zu beschtzen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer
+Verschwrung durch Orsini wissen lassen, da, wenn er sein ihnen
+gegebenes Wort nicht einlse, sich immer neue Rcher gegen ihn erheben
+wrden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um
+dieselbe Zeit nimmt in Preuen mit der Regentschaft Wilhelms I. die
+Neue ra ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen
+Wunsch beherrscht, sterreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen,
+sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Brgertum zu
+gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging
+auch alles gut. Gerhrt, da er so ganz ohne sein Zutun wieder
+Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, berbot sich der brgerliche
+Liberalismus in allen mglichen Loyalittsbeteuerungen. Der
+Nationalverein wurde gegrndet mit dem Programm: Deutschlands
+Einigung unter Preuens Spitze. Preuen wurde die ehrenvolle Rolle
+zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen
+Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Vlkerfrhling schien
+angebrochen und ein viel schnerer als der von 1848, denn er versprach
+die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionren Erhebung ist man
+nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem
+Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte
+Masse aufzurufen, alles versprach sich hbsch parlamentarisch
+abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem uersten kommen
+sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und
+Konsumvereine, der Vorschu- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter
+von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis
+geliefert, welche groe Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten
+htten, sie berzeugt, da sie nichts, aber auch gar nichts als die
+liberalen Freiheiten brauchten?
+
+Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus
+jener Tage wieder nachliest, dem fllt nichts so sehr auf als die
+kolossale Naivett, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die
+ber den engen Horizont des aufgeklrten Gewrzkrmers hinausgehen. Man
+war sehr gebildet, sehr belesen, man wute sehr viel von altathenischer
+Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzhlen, aber die
+Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, da der aufgeklrte
+deutsche Gewrzkrmer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und
+da, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, da es zugrunde gehe.
+Mit dieser selbstgeflligen Naivett trieb man es im preuischen
+Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den
+Sattel gesetzt, und mit dieser Naivett entfremdete man sich die
+Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu
+Veranlassung gab. Man wute erschrecklich viel Geschichte, aber man
+hatte auch wirklich nichts aus ihr gelernt.
+
+Auf die Ursachen und den Gegenstand des preuischen Verfassungskonflikts
+braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der
+Liberalismus sah sich pltzlich, er wute selbst nicht wie, im
+heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schne Rolle der
+Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in
+Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorlufig nur Pech, aber
+kein Unglck. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden,
+da sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten
+Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die
+nationale Strmung hatte alle Klassen der Bevlkerung erfat; von der
+kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrder abgesehen,
+berlieen sie namentlich der inzwischen konstituierten
+Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preuischen
+Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch
+immer ihre Elemente, wie unzulnglich auch ihr Programm, in jenem
+Zeitpunkt vertrat sie, gegenber der aufs neue ihr Haupt erhebenden
+Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr
+Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das
+Budgetrecht der Volksvertretung.
+
+Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heit
+noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenber auf
+jede Selbstndigkeit verzichten. Das fhlten auch die entwickelteren
+Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der
+Statisten, die ihnen die liberalen Wortfhrer zumuteten, die Kost, die
+ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen
+dargeboten wurde, unmglich auf die Dauer gengen. Noch waren die alten
+kommunistischen und revolutionren Traditionen nicht vllig
+ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst
+Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von
+Mitgliedern ber deren Grundstze aufgeklrt, von ihnen mit
+kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch
+sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die
+Frage zu errtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine
+eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch
+wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als
+eine bloe Kreatur der liberalen Partei.
+
+Htten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig
+aus der Geschichte anderer Lnder gelernt gehabt, es wre ihnen ein
+Leichtes gewesen, zu verhindern, da diese Bewegung sich ihnen
+feindselig gegenberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der
+preuischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem
+Gefhl durchdrungen, da sie, da sie ja die Volkssache vertraten,
+_das_ Volk, und als Volk der Denker ber die Einseitigkeiten
+-- nmlich die Klassenkmpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so
+begriffen sie denn auch nicht, da es sich hier um eine Strmung
+handelte, die frher oder spter eintreten mute, und da es
+nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verstndige Weise
+auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, da sie gar nicht
+zu fassen vermochten, da die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten,
+als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das
+Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein
+zu erleichtern: Die Arbeiter sollen sich als die geborenen
+Ehrenmitglieder des Vereins betrachten -- d. h. hbsch drauen
+bleiben -- war in der Tat typisch fr das Unvermgen der
+Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als
+den denkenden Spiebrger -- ihr Ebenbild, ihren Gott.
+
+So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger
+Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur
+Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge
+die Anknpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war.
+
+
+
+
+Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, die Assisenrede und der Franz
+von Sickingen.
+
+
+Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in
+seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner krperlichen und
+geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich,
+sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunchst
+innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt
+Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst,
+verfgte ber ansehnliche Geldmittel und einflureiche Freunde -- kurz,
+nach landlufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher
+vllig unbekannten Persnlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im
+Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon
+hatte. Trotzdem ging er mit der grten Bereitwilligkeit auf dessen
+Wnsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige
+Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach.
+Von anderen Rcksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders
+zu ihr hin, da die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte,
+da sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse
+darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem
+Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden
+Plnen, das war berhaupt eine Aufgabe, die seinen natrlichen Neigungen
+ungemein sympathisch sein mute. Die Einladung traf ihn nicht nur bei
+seiner sozialistischen berzeugung, sondern auch bei seinen Schwchen.
+Und so ging er denn mit groer Bereitwilligkeit auf sie ein.
+
+Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie
+Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der
+Lebensbeschreibungen des Grnders des Allgemeinen Deutschen
+Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der fr sie zur
+Verfgung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer
+Biographie gehrte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die
+Persnlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit
+seine politisch-literarische und agitatorische Ttigkeit in Betracht
+kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rckblick auf den Lebenslauf Lassalles
+unerllich, da er erst den Schlssel zum Verstndnis seines politischen
+Handelns liefert.
+
+Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine groe,
+man kann sogar sagen verhngnisvolle Wirkung ausgebt zu haben. Wir
+sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder
+Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, da das
+Bewutsein, von jdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaen
+noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und da es ihm trotz seines
+eifrigen Bemhens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemhens nie
+gelang, sich tatschlich ber seine Abstammung hinwegzusetzen, eine
+innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, da
+Lassalles Wiege im stlichen Teil der preuischen Monarchie gestanden
+hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum
+Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell vllig emanzipiert waren. Die
+Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwrtigkeiten,
+unter denen die rmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schtzte
+ihn nicht vor den allerhand kleinen Krnkungen, denen die Angehrigen
+jeder fr untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter
+Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so
+selbstbewuten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunchst einen
+trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann spter oft in
+das Gegenteil umschlgt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen
+Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Verffentlichung
+gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am
+1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein
+Tagebuch:
+
+... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer
+der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu
+achten. Ich knnte, wie jener Jude in Bulwers >Leila< mein Leben
+wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drckenden Lage zu reien. Ich
+wrde selbst das Schafott nicht scheuen, knnte ich sie wieder zu
+einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Trumen
+nachhnge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der
+Juden mit den Waffen in der Hand sie selbstndig zu machen. Die
+Mihandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den
+Ausruf: Ein Volk, das dies ertrgt, ist schrecklich, es rche oder
+dulde die Behandlung. Und an den Satz eines Berichterstatters: Die
+Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen
+Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden knnen,
+knpft er die von Brne bernommene Betrachtung an: Also sogar die
+Christen wundern sich ber unser trges Blut, da wir uns nicht
+erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur
+sterben wollen. Waren die Bedrckungen, um deren willen sich die
+Schweizer einst erhoben, grer?... Feiges Volk, du verdienst kein
+besseres Los. Noch leidenschaftlicher uert er sich einige Monate
+spter (30. Juli): Wieder die abgeschmackten Geschichten, da die
+Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus,
+auch in Rhodos und Lemberg. Da aber aus allen Winkeln der Erde man
+mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, da
+die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns
+helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Wrfel liegen, es
+kommt auf den Spieler an.
+
+Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert,
+aber die Wirkung, die solche Jugendeindrcke auf die geistigen
+Dispositionen ausben, bleibt. Zunchst wurde der frhreife Lassalle
+durch den Stachel der Torturen, von denen er schreibt, um so mehr
+angetrieben, sich fr seine Person um jeden Preis Anerkennung und
+Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die
+Unterdrckung der Juden durch die Christen bald politischer
+Revolutionr. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen,
+folgende, von merkwrdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: Ich
+wei nicht, trotzdem ich jetzt revolutionr-demokratisch-republikanische
+Gesinnungen habe wie einer, so fhle ich doch, da ich an der Stelle des
+Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begngt htte,
+Genuas erster Brger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand
+ausgestreckt htte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte
+betrachte, da ich blo Egoist bin. Wre ich als Prinz oder Frst
+geboren, ich wrde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich
+blo ein schlichter Brgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat
+sein.
+
+Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den
+sechzehnjhrigen Lassalle veranlat, den vorbergehend gefaten
+Entschlu, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und
+von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universittsstudium
+vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle
+von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig
+geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen,
+Lassalle hat selbst seine bersiedelung vom Gymnasium auf die
+Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorbergehender Vorliebe fr
+den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen
+Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater
+nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu mssen, welche er -- nach seiner
+Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der
+Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer
+Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem
+mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je
+radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der
+Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule
+bezogen, und schon am 3. August hofft er, da der Zufall ihn
+eines Tages aus dem Kontor herausreien und auf einen Schauplatz
+werfen werde, auf dem er ffentlich wirken knne. Ich traue auf den
+Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den
+Haupt- und Strazzabchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als
+mit Indigo und Runkelrben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als
+mit Krmern und ihren Kommis zu beschftigen, mich mehr um die
+Freiheit, als um die Warenpreise zu bekmmern, heftiger die Hunde von
+Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, hchstes Gut wegnehmen,
+als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwnschen.
+Aber beim Verwnschen soll's nicht bleiben, setzt er noch hinzu. Zu
+dem Radikalismus kommt der immer strkere Drang, den Juden in sich
+abzuschtteln, und dieser Drang ist schlielich so energisch, da,
+als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen unwiderruflichen
+Entschlu mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin
+oder Jura zu studieren, weil der Arzt wie der Advokat Kaufleute
+sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben. Er aber wolle studieren
+des Wirkens wegen. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht
+einverstanden, er willigte aber ein, da Lassalle sich zum Studium
+vorbereite.
+
+Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so
+weit, sein Maturittsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie,
+geht aber dann zur Philosophie ber und entwirft den Plan zu einer
+greren philologisch-philosophischen Arbeit ber den Philosophen
+Herakleitos von Ephesus. Da er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand
+der Untersuchung auswhlte, von dem selbst die grten Philosophen
+Griechenlands bekannt hatten, da sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz
+richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen der Dunkle erhielt,
+ist wiederum in hohem Grade bezeichnend fr Lassalle. Mehr noch als die
+Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorlufer anerkannt hatte,
+reizte ihn das Bewutsein, da hier nur durch glnzende Leistungen
+Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwhnten Trieb, jedermann
+durch auergewhnliche Leistungen zu verblffen, hatte Lassalle zugleich
+das Bewutsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lsen zu knnen.
+Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat
+ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende fhren lassen, vor denen
+tausend andere zurckgeschreckt wren, selbst wenn sie ber die
+intellektuellen Fhigkeiten Lassalles verfgt htten, es ist aber auf
+der andern Seite zum Anla verhngnisvoller Fehlgriffe und schlielich
+zur Ursache seines jhen Endes geworden.
+
+Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und spter
+nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um
+die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche,
+kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen
+Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843
+schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit
+Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt
+wurde -- Karl Marx war, nachdem die Deutsch-franzsischen
+Jahrbcher eingegangen und der Vorwrts sistiert worden war, im
+Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brssel bersiedelt
+--, darber fehlen zuverlssige Angaben. Wir wissen nur, da er viel
+mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in
+milichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) groe Dienste
+leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjhrigen
+Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt.
+Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles
+Selbstbewutsein auf Heine gemacht hat.
+
+Nach Deutschland zurckgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die
+Bekanntschaft der Grfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren
+vergeblich bemhte, von ihrem Manne, einem der einflureichsten
+Aristokraten, der sie allen Arten von Demtigungen und Krnkungen
+ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermgens
+zu erlangen. Man hat ber die Motive, welche Lassalle veranlaten, die
+Fhrung der Sache der Grfin zu bernehmen, vielerlei Vermutungen
+aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhltnis mit der zwar nicht
+mehr jugendlichen, aber noch immer schnen Frau zurckfhren wollen,
+whrend Lassalle selbst sich im Kassettenproze mit groer
+Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen
+Beweggrund dazu veranlat worden zu sein, als den des Mitleids mit
+einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem
+Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines
+bermtigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser
+Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den
+folgenden Jahren vorbergehend in ein intimeres Verhltnis als das der
+Freundschaft zur Grfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist
+aber schon aus psychologischen Grnden unwahrscheinlich, da ein solches
+Verhltnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Proze
+bernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, da neben der
+vielleicht etwas romantisch bertriebenen, aber doch durchaus
+anerkennenswerten Parteinahme fr eine verfolgte Frau und dem Ha gegen
+den hochgestellten Adligen gerade das Bewutsein, da es sich hier um
+eine Sache handelte, die nur mit Anwendung auergewhnlicher Mittel und
+Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen groen Reiz auf Lassalle ausgebt
+hat. Was andere abgeschreckt htte, zog ihn unbedingt an.
+
+Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, da der
+hochmtige Aristokrat vor ihm, dem dummen Judenjungen kapitulieren
+mute. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf
+hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich auergewhnliche
+Mittel aufwenden mssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur
+die Mittel auergewhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen,
+auergewhnlicher Schlagfertigkeit und Schrfe in der Widerlegung der
+gegnerischen Finten; es waren auch die auergewhnlichen Mittel des
+unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Whlen im
+ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewhnlicher
+Genumensch, scheute vor keinem Mittel zurck, seine Ziele zu erreichen,
+und um seine schmutzigen Manver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu
+Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die
+Aktenstcke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen
+von dem Schmutz, der dabei aufgewhlt und immer wieder herangeschleppt
+wurde, von der Qualitt der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen.
+
+Und von den Rckwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im
+Hatzfeldt-Proze hat sich Lassalle nie ganz freimachen knnen. Wir
+meinen das nicht im spiebrgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine
+spteren Liebesaffren, sondern mit Bezug auf seine von nun an
+wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheien und zu
+benutzen, das ihm fr seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir
+meinen den Verlust jenes Taktgefhls, das dem Mann von berzeugung
+selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm
+vertretenen Grundstzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an
+wiederholt und am strksten in der tragischen Schluepisode seines
+Lebens sich offenbarende Einbue an gutem Geschmack und moralischem
+Unterscheidungsvermgen. Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich
+in den Hatzfeldtschen Proze gestrzt, -- er selbst gebraucht in der
+Kassettenrede das Bild des Schwimmers: Welcher Mensch, der ein starker
+Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes
+fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, fr einen guten
+Schwimmer hielt ich mich, unabhngig war ich, so sprang ich in den
+Strom -- gewi, aber leider war es ein recht trber Strom, in den er
+sich gestrzt, ein Strom, der sich in eine groe Pftze verlief, und als
+Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft,
+mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprnglichen
+besseren Instinkte kmpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes,
+drngten sie auch wiederholt siegreich zurck, aber schlielich ist er
+ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen,
+aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, da es nur
+gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben,
+sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis
+einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklren[1].
+
+Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunchst noch der Rolle zu
+gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat.
+
+Beim Ausbruch der Mrz-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen
+des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, da er sich ursprnglich fast
+zur politischen Unttigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der
+Proze wegen Verleitung zum Kassettendiebstahl gegen ihn statt und
+er hatte alle Hnde voll zu tun, sich auf diesen zu rsten. Erst als
+er nach siebentgiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann
+er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit
+direkten Anteil zu nehmen.
+
+Lassalle, der damals in Dsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte,
+stand natrlich als Republikaner und Sozialist auf der uersten Linken
+der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx
+redigierte Neue Rheinische Zeitung. Karl Marx gehrte ferner eine
+Zeitlang dem Kreisausschu der rheinischen Demokraten an, der in Kln
+seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in
+nhere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mndlich und
+schriftlich mit dem erwhnten Kreisausschu, sandte wiederholt
+Mitteilungen und Korrespondenzen an die Neue Rheinische Zeitung und
+erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. So
+bildete sich allmhlich ein freundschaftlicher persnlicher Verkehr
+zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch spter noch, als Marx im
+Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde.
+Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf
+einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes
+herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhltnis zwischen
+den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt.
+Was sonst noch einer ber die politische Kampfgenossenschaft
+hinausgehenden Intimitt im Wege stand, soll spter errtert werden.
+
+Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenber nahm
+Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der Neuen
+Rheinischen Zeitung und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich
+ihr forderte er, als die preuische Regierung im November 1848 den
+Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Brgerwehr aufgelst
+und den Belagerungszustand ber Berlin verhngt hatte, und die
+Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums
+in Anklagezustand, sowie mit der Erklrung geantwortet hatte, da
+dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur
+Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung
+auf. Gleich dem Ausschu der rheinischen Demokraten ward auch
+Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die knigliche
+Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen
+freigesprochen, aber die immer rcksichtsloser auftretende Reaktion
+stellte auerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur
+Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben,
+um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat
+verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre
+Berufsrichter -- Lassalle schlielich auch zu sechs Monaten
+Gefngnis.
+
+Lassalles Antwort auf die ersterwhnte Anklage ist unter dem Titel
+Assisen-Rede im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich
+gehalten worden, und alles, was in verschiedenen lteren Biographien
+ber den tiefen Eindruck erzhlt wird, den sie auf die Geschworenen
+und das Publikum gemacht habe, gehrt daher in das Bereich der Fabel.
+Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben,
+und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt
+worden waren, beschlo der Gerichtshof, die ffentlichkeit
+auszuschlieen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklrung, die
+Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja
+hchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der
+Bestechung veranlat worden, der Gerichtshof den Beschlu aufrecht
+erhielt, verzichtete Lassalle berhaupt darauf, sich zu verteidigen,
+wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen.
+
+Ob aber gehalten oder nicht, die Assisen-Rede bleibt jedenfalls ein
+interessantes Dokument fr das Studium der politischen Entwicklung
+Lassalles. Er steht in ihr fast durchgngig auf dem von Karl Marx drei
+Monate vorher in dessen Rede vor den Klner Geschworenen vertretenen
+Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste,
+ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und
+Lassalle. Marx enthlt sich aller oratorischen Ausschmckung, er geht
+direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrngter
+Sprache, Satz fr Satz, scharf und mit rcksichtsloser Logik seinen
+Standpunkt und schliet ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik
+der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe
+ganz auer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen
+politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von
+Anfang bis zu Ende, er erschpft sich in -- oft sehr schnen -- Bildern
+und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen
+Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den
+Geschworenen, sondern zu den Tribnen, zu einer imaginren
+Volksversammlung, und schliet, nach Verkndigung einer Rache, die so
+vollstndig sein wird wie die Schmach, die man dem Volke antut,
+mit einer Rezitation aus Tell.
+
+Noch im Gefngnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnckigkeit
+Vergnstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden
+pflegten -- so erhielt er, was er spter selbst fr ungesetzlich
+erklrte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Grfin Hatzfeldt zu
+pldieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Ttigkeit
+wieder fast vollstndig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in
+Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus fr
+politische Freunde und versammelte lngere Zeit einen Kreis
+vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vortrge hielt.
+Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Proze der
+Friedensschlu. Die Grfin erhielt ein bedeutendes Vermgen ausbezahlt
+und Lassalle eine Rente von jhrlich siebentausend Talern
+sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen
+Wnschen einzurichten.
+
+Zunchst behielt er seinen Wohnsitz in Dsseldorf bei und arbeitete hier
+an seinem Heraklit weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen,
+u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese
+Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der
+das politische Leben erloschen war, ausshnen. Es verlangte ihn nach
+einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder
+erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persnlichkeiten, nach einem
+greren Wirkungskreis. So erwirkt er sich denn 1857 durch die
+Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preuen von der
+Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu
+drfen.
+
+Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle
+hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die schmachvolle und
+unertrgliche Gewaltherrschaft gebrandmarkt, die ber Preuen
+hereingebrochen; er hatte ausgerufen: Warum zu soviel Gewalt noch
+soviel Heuchelei? Doch das ist preuisch und vergessen wir nichts,
+nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfltig
+auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der
+Racheschwur, der sich an diese Knochen knpft. (Assisenrede.) Wie kam
+er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der
+Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim
+zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr
+rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt,
+da Wilhelm Liebknecht fr die grodeutsch-konservative Augsburger
+Allgemeine Zeitung schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die
+wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschftigten, fr sein gutes
+Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewutsein der
+Festigkeit seines politischen Wollens fr reine Formsache, da er seine
+betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich
+da um verschiedene Antrge, der erste 1855 an den Berliner
+Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den
+damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darber Dokumente des
+Sozialismus, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten
+machte er Karl Marx gegenber kein Geheimnis.
+
+Es ist zudem nicht unmglich, da Lassalle durch Verbindungen der Grfin
+Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, da sich
+in den oberen Regionen Preuens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit
+diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle
+bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach
+London gelangen lie. So teilt er Marx unterm 10. Februar 1854 den
+Wortlaut einer Erklrung mit, die einige Tage vorher vom Berliner
+Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustnde im
+Berliner Kabinett -- der Knig und fast alle Minister fr Ruland, nur
+Manteuffel und der Prinz von Preuen fr England -- und die fr gewisse
+Eventualitten vom Kabinett beschlossenen Maregeln, worauf es heit:
+Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als
+wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde httest! Vier
+Wochen spter machte er wieder allerhand Mitteilungen ber beabsichtigte
+Schritte des Kabinetts, gesttzt auf Mitteilungen zwar nicht aus meiner
+>offiziellen<, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle. Am 20. Mai
+1854 klagt er, da seine diplomatische Quelle eine weite Reise
+angetreten habe. Eine so vorzgliche Quelle, durch die man
+kabinettsmig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit
+wieder verlieren, ist beraus rgerlich. Aber er hat immer noch
+Nebenquellen, die ihn ber Interna des Berliner Kabinetts unterrichten,
+und ist u. a. zeitig vorher von Bonins Entlassung usw. benachrichtigt
+worden.
+
+Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre
+Berichte mgen auch Lassalles Schritt veranlat haben. Die geistige
+Zerrttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit
+vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hter der
+monarchischen Idee sie noch nicht fr gengend erachteten, des Knigs
+Regierungsunfhigkeit auszusprechen, so wute man doch in allen
+unterrichteten Kreisen, da der Regierungsantritt des Prinzen von
+Preuen nur noch eine Frage von Monaten sei.
+
+In Berlin vollendete Lassalle zunchst den Heraklit, der Ende 1857 im
+Verlage von Franz Duncker erschien.
+
+ber dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk
+gehen die Meinungen der Sachverstndigen auseinander. Die einen stellen
+es als epochemachend hin, die andern behaupten, da es in der Hauptsache
+nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, da
+Lassalle hier fast durchgngig auf althegelschem Standpunkt steht -- die
+Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens
+als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die
+Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende
+Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, da sie eine
+sehr tchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der
+wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen.
+
+Fr die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges
+ist sein Werk ber Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht blo
+darin von Bedeutung, da es Lassalle als eben entschiedenen Anhnger
+Hegels zeigt. Man kann auch dem bekannten dnischen Literarhistoriker G.
+Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer
+Ausschmckung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie ber
+Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit ber Heraklit als
+Schlssel zum Verstndnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es
+gilt dies namentlich von Lassalles groem Kultus des Staatsgedankens --
+auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf
+Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer
+Hinsicht:
+
+Heraklits Ethik, sagt Lassalle, fat sich in den einen Gedanken
+zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist:
+>Hingabe an das Allgemeine.< Das ist zugleich griechisch und modern;
+aber Lassalle kann sich das Vergngen nicht versagen, in der speziellen
+Ausfhrung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die bereinstimmung
+mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: >Wie in der Hegelschen
+Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefat werden als die Realisation
+des allgemeinen substantiellen Willens, ohne da bei dieser Bestimmung
+im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zhlung
+gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der
+Kategorie der empirischen Allheit entfernt.< (Vgl. a. a. O. S. 40.)
+
+Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei
+Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie
+und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des formellen
+Willens der Subjekte darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man
+nicht ungestraft in seinem Gemte hegt, und der in der Welt der
+Prinzipien das Gegenstck zu dem Kontrast darstelle, der rein
+uerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten
+Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wsche und seinen Lackstiefeln in
+und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit ruiger Haut und
+schwieligen Hnden sprach.
+
+Das ist belletristisch ausgedrckt. Tatschlich hat Lassalles
+althegelsche Staatsidee ihn spter im Kampf gegen den Liberalismus weit
+ber das Ziel hinausschieen lassen.
+
+ber Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes:
+
+Noch eine bereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und
+Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefhls und des Stolzes so
+leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und
+dem Lobe anderer. Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: >Die
+greren Schicksale erlangen das grere Los.< Und er hat gesagt, was
+das rechte Licht auf diesen Satz wirft: >Da die Menge und die sich
+weise Dnkenden den Sngern der Vlker folgen und die Gesetze um Rat
+fragen, nicht wissend, da die Menge schlecht, wenige nur gut, die
+Besten aber dem Ruhme nachfolgen. >Denn,< fgt er hinzu, >es whlen
+die Besten eins statt allem, den immerwhrenden Ruhm der
+Sterblichen.< Ruhm war fr Heraklit also gerade jenes grere Los,
+welches das grere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre
+war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein
+durch Reflexion und Philosophie begrndetes. >Der Ruhm<, sagt
+Lassalle, >ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das
+Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins
+berhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in
+ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz
+selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit
+des Menschen<, und mit Wrme fgt er hinzu: >Wie dies der Grund ist,
+weshalb der Ruhm seit je die groen Seelen so mchtig ergriffen und
+ber alle kleinen und beschrnkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das
+der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, da er erst annahen kann
+>Hand in Hand mit dem prfenden Todesengel<, so ist es auch der
+Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines
+spekulativen Prinzips erblickte.<
+
+Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst
+Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begngen. Im Gegensatz zu der
+Heraklitischen Verachtung der Menge war er fr den Beifall durchaus
+nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr
+Hflichkeitsform war, unter Umstnden mit fast naiver Genugtuung fr die
+Sache selbst auf. Die Vorliebe fr das Pathos, die sich bei Lassalle in
+so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur
+Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz
+freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, da er aus
+dem, was Brandes seine unselige Vorliebe fr den Lrm und
+Trommelschall der Ehre, fr ihre Pauken und Trompeten nennt, je
+einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt
+sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivett etwas
+Vershnendes hat. Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift
+erzhlt, da Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als
+volkserwhlter Prsident der Republik von sechs Schimmeln gezogen
+seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder
+an eine bertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, da
+Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so
+fester in dem Herzen seiner Erwhlten festzusetzen hoffte. Indes, die
+bekannte schriftliche Seelenbeichte an Sophie von Sontzew beweist,
+da es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei
+einer migen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte,
+sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte,
+dessen Zauber einen mchtigen Reiz auf ihn ausbte. Er nennt sich --
+im Jahre 1860 -- das Haupt einer Partei, in bezug auf das sich
+fast unsere ganze Gesellschaft in zwei Parteien teile, deren eine
+-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle achtet, liebt,
+sogar nicht selten verehrt, fr die er ein Mann von grtem Genie
+und von einem fast bermenschlichen Charakter ist, von dem sie die
+grten Taten erwarten. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie
+und der grte Teil der Bourgeoisie -- frchtet ihn mehr als irgend
+jemand anders und hat ihn daher unbeschreiblich. Werde die
+Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew
+nicht verzeihen, da sie einen solchen Menschen heiratete, so werden
+auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, da ein
+solcher Mensch sie heiratete, sie eines Glckes halber beneiden, das
+ihre Verdienste bersteige. Und freilich, ich verhehle es Ihnen
+nicht, es knnte wohl sein, da, wenn gewisse Ereignisse eintreten,
+eine Flut von Bewegung, Gerusch und Glanz auf Ihr Leben fallen
+wrde, wenn Sie mein Weib werden.
+
+So bertrieben alle diese uerungen erscheinen, so wenig sie
+der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer
+sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle
+vielmehr gesellschaftlich mit den brgerlichen Liberalen und Demokraten
+auf bestem Fue stand und soeben eine Broschre verffentlicht hatte,
+deren Inhalt mit Aspirationen bereinstimmte, die in Regierungskreisen
+gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine groe subjektive Wahrheit inne
+-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die
+in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorlufig blo aus ihm bestand
+und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein fhrte. Die
+Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Plne. Jedes Wort der
+Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafr hielt, war
+fr ihn Besttigung seiner Mission, und nicht selten nahm er
+Schmeichelei fr aufrichtige Huldigung. Es ist merkwrdig, welcher
+Widersprche die menschliche Natur fhig ist. Lassalle war, wie aus den
+Berichten seiner nheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht,
+mit schmeichelhaften Adjektiven uerst freigebig, aber sie waren
+allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn
+selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht fr echtes Gold.
+
+So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst
+verwachsen, da, als er spter wirklich an der Spitze einer Partei
+stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen
+Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten
+vermochte und danach behandelte. Man miverstehe uns nicht. Es wre
+absurd, etwa zu sagen, da Lassalle den Allgemeinen deutschen
+Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frnen, da der
+Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war
+berzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wre
+nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr
+seine Persnlichkeit -- ich sage ausdrcklich nicht sein Leben,
+aufzuopfern.
+
+Soviel an dieser Stelle hierber.
+
+Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem
+der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Dsseldorf
+entworfenes historisches Drama und lie es, nachdem eine anonym
+eingereichte Bhnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele
+abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen.
+
+Da der Franz von Sickingen als Bhnenwerk verfehlt war, hat
+Lassalle spter selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafr
+den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht
+das Drama, trotz einzelner hchst wirkungsvoller Szenen und der
+gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die
+Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es
+werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft
+von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzhlt, da ein
+Freund Lassalles, den dieser, whrend er am Franz von Sickingen
+arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewhrter metrischer
+Knstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das
+Stck lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, da
+ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. Denn die
+Lassallesche Prosa hat wirklich eine Reihe groer Vorzge, und selbst
+die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische zu verfallen,
+htte in einem Drama wie der Sickingen nichts verschlagen. Aber
+Lassalle lie sich nicht von seiner Idee abbringen, da die Versform
+fr das Drama unentbehrlich sei, und so stolpern nicht nur seine
+Ritter und Helden auf oft recht geschraubten fnffigen Jamben
+einher, selbst die aufstndischen Bauern bedienen sich der Stelzen
+des Blankverses. Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten
+Losungsworten:
+
+ Loset, sagt an: Was ist das fr ein Wesen?
+ Wir knnen vor Pfaffen und Adel nicht genesen,
+
+die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.
+
+Indes diese technischen Fragen treten fr uns zurck vor der Frage nach
+Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem Franz von
+Sickingen ber das historische Drama, wie es Schiller und Goethe
+geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen
+Kmpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden
+liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, whrend die
+eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen
+und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse
+der Zeiten und Vlker zum eigentlichen Subjekt der Tragdie werden, so
+da sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die
+vielmehr nur die Trger und Verkrperungen der kmpfenden Gegenstze
+sind, sondern um jene grten und gewaltigsten Geschicke der Nationen
+selbst -- Schicksale, welche ber das Wohl und Wehe des gesamten
+allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit
+der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu
+ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es
+mglich, meint Lassalle, den Individuen aus der Bestimmtheit der
+Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus
+markige und feste, selbst derbe und realistische Individualitt zu
+geben. (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit
+Lassalle die so gestellte Aufgabe gelst hat und inwieweit sie
+berhaupt lsbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die groen
+Kmpfe der Menschheit und der Vlker so in Individuen verkrpern
+lassen, da nicht das eine oder das andere, die Gre und umfassende
+Bedeutung jener Kmpfe oder die lebendige Persnlichkeit der
+Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir
+hier unerrtert lassen knnen. Es gengt, da Lassalle bei der
+Durchfhrung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun
+zum Stoff des Dramas selbst.
+
+Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens
+gegen die deutschen Frsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund
+und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist
+eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in
+Anspruch nimmt, der militrische und staatsmnnische oder der
+theoretische Reprsentant des niederen deutschen Adels.
+Merkwrdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem
+letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. Lesen Sie mein
+Trauerspiel, schreibt er an Sophie von Sontzew. Alles, was ich Ihnen
+hier sagen knnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte
+alle Verleumdungen, alle Arten von Ha, jede Feindseligkeit zu ertragen.
+Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies,
+da sein Schicksal und das meinige einander vollstndig gleich und von
+berraschender hnlichkeit sind. Es wrde selbst Lassalle schwer
+geworden sein, diese berraschende hnlichkeit zu beweisen, namentlich
+um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er fhrte in Berlin ein
+luxurises Leben, verkehrte mit Angehrigen aller Kreise der besser
+situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt
+eines hnlichen Hasses wie der frnkische Ritter, der Urheber der
+leidenschaftlichen Streitschriften wider die rmische Pfaffenherrschaft.
+Nur in einigen uerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle
+und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen,
+was tatschlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei
+seinem Werke geistig leiten lie. Menschen mit so ausgeprgtem
+Selbstgefhl sind in der Regel leicht Tuschungen ber sich selbst
+ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns,
+wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund
+legt, erhalten dadurch fr das Verstndnis des Lassalleschen
+Ideenkreises eine besondere Bedeutung.
+
+Hierher gehrt namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des
+kolampadius gegen den geplanten Aufstand:
+
+ Ehrwrd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.
+ Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,
+
+ein echt Hegelscher Satz,
+
+ Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!
+
+Und dann, als kolampadius von der Entweihung der Liebeslehre durch das
+Schwert gesprochen:
+
+ Ehrwrd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!
+ Ein Schwert, geschwungen fr die Freiheit, ist
+ Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,
+ Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.
+ Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,
+ Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,
+ Den wir noch heut den Groen staunend nennen.
+ Es ward durchs Schwert das Heidentum gestrzt,
+ Durchs Schwert befreit des Welterlsers Grab!
+ Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
+ Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht
+ Und Wissenschaft und Knste uns geboren.
+ Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!
+ So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet
+ Das Herrliche, das die Geschichte sah,
+ Und alles Groe, was sich jemals wird vollbringen,
+ Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!
+
+Es liegt in den Stzen doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt
+ewig die Gewalt, und da alles Groe, was sich jemals wird
+vollbringen, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde,
+unzweifelhaft viel bertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, da das
+fr die Freiheit geschwungene Schwert das fleischgewordene Wort
+sei, da, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein mu, fr sie
+mit dem Schwert zu kmpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche,
+wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr
+darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr
+zeitgem, und nicht nur fr die damalige Epoche, sind auch die
+Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slr Sickingen im letzten Akt
+zurufen lt:
+
+ O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht
+ Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten
+ In groen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_
+ Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,
+ Wo im Gewhl die Vlker dich nur an
+ Der Rstung und dem Abzeichen erkennen;
+ Drum hlle stets vom Scheitel bis zur Sohle
+ Dich khn in deines eig'nen Banners Farbe.
+ Dann probst du aus im ungeheuren Streit
+ Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,
+ Und stehst und fllst mit deinem ganzen Knnen!
+
+Auch der Ausspruch Sickingens:
+
+ Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.
+ Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,
+ Da eines sich stets ndert mit dem andern,
+ Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt.
+
+ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider
+hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen
+Laufbahn unbeachtet gelassen.
+
+Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das
+Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz.
+
+Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind
+beide Vertreter des sptmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit
+der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist
+diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das
+notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur
+beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz
+ihre Klasse weit berragen, so ist hier in der Tat das Material zu
+einer echten Tragdie gegeben, der vergebliche Kampf markiger
+Persnlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit.
+Merkwrdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen
+Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so
+bedeutungsvoll sie doch gerade fr die -- wir wollen nicht einmal sagen,
+sozialistische, sondern berhaupt die moderne wissenschaftliche
+Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche
+Unternehmen an tausend Zuflligkeiten -- Unberlegtheit, Migriffe in
+den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schliet mit
+den Worten: Knft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache, was
+unwillkrlich an den recht unhistorischen Schlu in Gtz von
+Berlichingen erinnert: Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stie!
+Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt! Begreift man aber, warum
+der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des
+untergehenden Rittertums zum Helden whlen konnte, so ist es schon
+schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre spter, zu einer Zeit,
+wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur
+Beurteilung der Kmpfe des Reformationszeitalters erffnet hatte, ein
+Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin
+als die Reprsentanten eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt,
+auf dessen Resultaten, wie er sich in der Vorrede ausdrckt, unsere
+ganze Wirklichkeit lebt. Ich wollte, sagt er an der betreffenden
+Stelle weiter, wenn mglich, diesen kulturhistorischen Proze noch
+einmal in bewuter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch
+die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu
+erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschlo ich mich zu
+diesem Drama.
+
+Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache
+des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und fr die
+Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des
+untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der
+aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung
+der Verhltnisse in Deutschland nach berwindung der unmittelbaren
+Wirkungen des Dreiigjhrigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrngt
+und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen
+Brgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der
+Grndung des neudeutschen Reiches daran erinnert, da er einmal eine so
+anstndige Persnlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat --
+den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fnfziger Jahren
+und noch spter feierte der Gartenlauben-Liberalismus Hutten und
+Sickingen als Vorkmpfer der nationalen und Aufklrungsbewegung und
+ignorierte ihre Klassenbestrebungen.
+
+Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten
+und Franz von Sickingen kmpfen lediglich um der geistigen Freiheit
+willen gegen den rmischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen
+Sache gegen die Einzelfrsten. Was wir wollen, sagt Sickingen im
+Zwiegesprch mit Hutten, --
+
+ das ist ein ein'ges groes, mcht'ges Deutschland,
+ Zertrmmerung alles Pfaffenregiments,
+ Vollstnd'ger Bruch mit allem rm'schen Wesen,
+ Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,
+ Wiedergeburt, zeitmige der alten,
+ Der urgermanischen gemeinen Freiheit,
+ Vernichtung unsrer Frstenzwergherrschaft
+ Und usurpierten Zwischenregiments,
+ Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang
+ Gesttzt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,
+ Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze
+ Des groen Reichs.
+
+Und Hutten antwortet: Treu ist das Bild.
+
+Da Lassalle ausdrcklich den Franz von Sickingen als ein
+Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg fr die
+Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorlufig ideale --
+Stellungnahme zu den politischen Strmungen der Zeit vollzogen. Es
+sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine
+Annherung an die Auffassungsweise der norddeutschen brgerlichen
+Demokratie, auch gegenber einer konkreten Frage des Tages offenbaren
+sollte[3].
+
+Der Franz von Sickingen war im Winter 1857/58 vollendet worden.
+Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und
+begonnen, whrend er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein
+Bedrfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in
+die er sich bei jener Arbeit einspintisieren mute, mit einem
+Gegenstand zu beschftigen, der in direkterer Beziehung zu den groen
+Kmpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und
+Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich
+von Huttens berauscht, als ihn die Lektre eines gerade erschienenen
+elenden modernen Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf
+Huttens -- wre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne
+ursprnglich an sich als ausfhrenden Dichter zu denken, den Plan des
+Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, da er es auch selbst
+fertig machen msse. Es sei wie eine Eingebung ber ihn gekommen.
+Man sprt es dem Drama auch an, da es mit warmem Herzblut
+geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich,
+dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch ber die ganze
+Dramenliteratur jener Zeit. Es htte es keiner der deutschen Dichter
+damals besser gemacht als Lassalle.
+
+
+Funoten:
+
+ [1] Auf Vorgnge, die mit Fhrung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses
+ in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im
+ Jahre 1855 eine von Dsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach
+ London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und
+ Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx
+ an Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten.
+
+ [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild.
+ Berlin 1877.
+
+ [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich
+ durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachla von
+ Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die
+ seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W.
+ Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels
+ adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschlielich vom
+ Franz von Sickingen. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im
+ Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels
+ geschickt, worauf ihm diese, die damals noch rtlich getrennt lebten,
+ eingehend ihre Urteile ber es mitteilten, und der erwhnte Brief
+ Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in
+ einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrckt, Eure
+ beiderseitigen Einwrfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der
+ Hauptsache dieselben Punkte berhren.
+
+ Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, da die Kritik von
+ Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen
+ kritisieren zu mssen glaubte. Ihr stimmt beide darin berein,
+ schreibt Lassalle an einer Stelle, da auch Sickingen noch zu
+ abstrakt gezeichnet ist. In diesem Satze ist in nuce dasselbe
+ gesagt, was ich oben ausgefhrt habe. Der Lassallesche Sickingen ist
+ nicht der streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten
+ Jahrhunderts, er ist der in des letzteren Rstung gesteckte Liberale
+ des neunzehnten Jahrhunderts, das heit der liberale Ideologe. Seine
+ Reden fallen gewhnlich vollstndig aus der Epoche, in der sie
+ gehalten sein sollen, heraus. Ihr begegnet Euch Beide, schreibt
+ Lassalle an einer andern Stelle, da ich die Bauernbewegung >zu
+ sehr zurckgesetzt<, >nicht genug hervorgehoben habe<. Du (Marx)
+ begrndest dies so: Ich htte Sickingen und Hutten daran untergehen
+ lassen mssen, da sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer
+ Einbildung revolutionr waren, in der Tat aber ein reaktionres
+ Interesse vertraten. >Die adligen Reprsentanten der Revolution<,
+ sagst Du, >hinter deren Stichwrtern von Einheit und Freiheit immer
+ noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert
+ -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es
+ bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser,
+ und der revolutionren Elemente in den Stdten muten einen ganz
+ bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du httest dann auch in
+ viel hherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten
+ Form sprechen lassen knnen, whrend jetzt in der That, auer der
+ religisen Freiheit, die brgerliche Einheit die Hauptidee bleibt<.
+ >Bist Du nicht selbst<, rufst Du aus, >gewissermaen wie Dein
+ Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die
+ lutherisch-ritterliche Opposition ber die plebejisch-brgerliche zu
+ stellen?<
+
+ Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen
+ fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende
+ Ausfhrungen beziehen, hier also unverstndlich wren. Im
+ wesentlichen verteidigt sich Lassalle damit, da er nachzuweisen
+ sucht, die ritterliche Beschrnktheit, soweit sie berhaupt im
+ historischen Sickingen vorhanden, damit gengend zum Ausdruck
+ gebracht zu haben, da Sickingen, statt sich an die ganze Nation
+ zu wenden, statt alle revolutionren Krfte im Reich zum Aufstand
+ aufzurufen und sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand
+ als einen ritterlichen beginnt und fortfhrt, bis er an der
+ Beschrnktheit seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht. Gerade
+ darin, da Sickingen unterliegt, weil er nicht weit genug gegangen,
+ liege die tragische und zugleich die revolutionre Idee des Dramas.
+ Der Bauernbewegung aber habe er in der einen Szene des Stckes,
+ in der er die Bauern selbst auf die Bhne bringe, und in den
+ verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars usw., vollauf
+ die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt
+ habe und noch darber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung
+ ebenso reaktionr gewesen, wie die des Adels.
+
+ Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in
+ verschiedenen seiner spteren Schritten verfochten, so u. a. im
+ Arbeiterprogramm. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Da
+ die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit
+ zurckgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionren,
+ die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs,
+ wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionre in ihren
+ Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das bersieht
+ Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfllt,
+ die Geschichte aus den Ideen abzuleiten, so vollstndig, da er
+ zu der Marxschen Bemerkung: Du httest dann auch in viel hherem
+ Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen
+ lassen knnen, ein doppeltes Fragezeichen, verstrkt durch ein
+ Ausrufungszeichen, macht.
+
+ Der andere Teil seiner Verteidigung htte dann seine Berechtigung,
+ wenn im Stck auch nur die leiseste Andeutung gegeben wre, da
+ Sickingens Beschrnkung auf seine ritterlichen Mittel seiner
+ ritterlichen Beschrnktheit geschuldet war. Das ist aber nicht
+ der Fall. Im Stck wird sie lediglich als ein taktischer Fehler
+ behandelt. Das reicht aus fr die tragische Idee des Dramas, aber
+ nicht fr die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an
+ dem das Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen
+ ist.
+
+
+
+
+Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg.
+
+
+Anfang 1859 erschien der Franz von Sickingen als Buchdrama. Gerade
+als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die
+Entwicklung der Dinge in Deutschland eine groe Rckwirkung ausben
+sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und
+Cavour in Plombires verabredete franzsisch-sardinische Feldzug
+behufs Losreiung der Lombardei von sterreich und der Beseitigung
+der sterreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien.
+
+sterreich gehrte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich
+natrlich die Frage, welche Haltung die brigen Bundesstaaten in diesem
+Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des brigen Deutschland, sich
+gegenber Frankreich mit sterreich zu identifizieren oder nicht?
+
+Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, da der Krieg einen
+zwieschlchtigen Charakter trug. Fr die ihn betreibenden Italiener war
+er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und
+Befreiung Italiens einen Schritt vorwrts bringen sollte. Von seiten
+Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die
+Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu strken und
+die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhhen. Soviel stand auf
+jeden Fall fest. Auerdem pfiffen es die Spatzen von den Dchern, da
+Napoleon sich von seinem Verbndeten, dem Knig von Sardinien, fr seine
+Bundesgenossenschaft einen hbschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen
+(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und da die Einigung Italiens
+in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den
+Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem
+Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer
+Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombires zwischen
+Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloe
+dynastische Intrige. Soviel war sicher, da, wer diesen Krieg
+untersttzte, zunchst Napoleon III. und dessen Plne untersttzte.
+
+Napoleon III. brauchte aber Untersttzung. Gegen sterreich allein
+konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die
+brigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preuen sterreich
+zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So lie er denn
+durch seine Agenten und Geschftstrger bei den deutschen Regierungen,
+in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteifhrern mit allen
+Mitteln dagegen agitieren, da der Krieg als eine Sache behandelt werde,
+die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk fr ein
+Interesse, die Gewaltherrschaft, die sterreich in Italien ausbe,
+aufrechtzuerhalten, berhaupt einem so urreaktionren Staat wie
+sterreich Hilfe zu leisten? sterreich sei der geschworene Feind der
+Freiheit der Vlker; werde sterreich zertrmmert, so wrde auch fr
+Deutschland ein schnerer Morgen anbrechen.
+
+Auf der anderen Seite entwickelten die sterreichischen Federn, da,
+wenn die Napoleonischen Plne im Sden sich verwirklichten, der Rhein in
+direkte Gefahr geriete. Ihm wrde der nchste Angriff gelten. Wer das
+linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Hnden sicherstellen wolle,
+msse dazu beitragen, da sterreich seine militrischen Positionen in
+Oberitalien unbeeintrchtigt erhalte, der Rhein msse am Po verteidigt
+werden.
+
+Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen
+wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei
+(Einigung Deutschlands unter Preuens Spitze, unter Hinauswerfung
+sterreichs aus dem deutschen Bund) berein, war direkt auf es
+zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine groe Anzahl kleindeutscher
+Politiker nicht dazu entschlieen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache
+sterreichs von der des brigen Deutschland zu trennen. Dies erschien
+ihnen um so weniger zulssig, als es weiterhin bekannt war, da Napoleon
+den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg
+fhrte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im
+Sdosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin,
+jetzt kme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons
+abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, knne man weiter reden. Bis
+es geschehen, mten sich aber die Italiener gefallen lassen, da man
+sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kmpften, einfach
+als dessen Verbndete behandelte.
+
+Es lt sich nun nicht leugnen, da man vom kleindeutschen Standpunkt
+aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der
+vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. Wenn
+sterreich, und namentlich dessen auerdeutsche Besitzungen, um so eher
+je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum
+nicht mit Vergngen ein Ereignis begren, das sich als ein Schritt zur
+Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon
+erklrt, da er nur sterreich und nicht Deutschland bekriege? Warum
+also sterreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen
+werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch fr die gerechteste
+Sache von der Welt kmpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er
+angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, da ein Angriff auf
+ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit sterreichs
+und die Beschftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der
+Einigung Deutschlands unter Preuens Fhrung auch durch positive
+Manahmen einen weiteren Schritt zu frdern?
+
+Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus
+konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859
+erschienenen Schrift Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preuens
+das Wort. Mit groer Energie bekmpft er die in den beiden Berliner
+Organen des norddeutschen Liberalismus, der National-Zeitung und der
+Volks-Zeitung, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles
+nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von
+Bonaparte ausgehenden Angriff gegenber msse Preuen sterreich als
+Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, da Preuen den
+Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenber seine
+deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte
+Europas im Sden nach dem Prinzip der Nationalitten revidiere, dasselbe
+im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie,
+seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen,
+whrend die Demolierung sterreichs sich schon von selbst vollzieht,
+fr die Erhhung Preuens in der Deutschen Achtung zu sorgen.
+Und, fgt Lassalle schlielich hinzu, mge die Regierung dessen
+gewi sein. In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des
+deutschen Volks als Preuens ist, wrde die deutsche Demokratie
+selbst Preuens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden
+werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende
+Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fhig ist, welche seit fnfzig
+Jahren komprimiert in dem Herzen eines groen Volkes zuckt und
+zittert.
+
+Man hat Lassalle spter auf Grund dieser Broschre zu einem Advokaten
+der deutschen Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es lt
+sich nicht bestreiten, da das in ihr entwickelte nationale Programm
+als solches eine groe hnlichkeit mit dem des im Sommer 1859
+gegrndeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der
+Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen
+Einheit unter preuischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all
+seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark
+im Preuentum stecken geblieben. Nicht da er bornierter preuischer
+Partikularist gewesen wre -- wir werden gleich sehen, wie weit er
+davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf
+die auswrtige Politik bezglichen Angelegenheiten im wesentlichen
+durch die Brille des preuischen Demokraten an, sein Ha gegen
+sterreich war in dieser Hinsicht ebenso bertrieben, wie der
+Preuenha vieler sddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten.
+sterreich ist ihm der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa
+aufzuweisen hat, er mchte den Neger kennen lernen, der, neben
+sterreich gestellt, nicht ins Weiliche schimmerte; sterreich ist
+ein reaktionres Prinzip, der gefhrlichste Feind aller
+Freiheitsideen; der Staatsbegriff sterreich mu zerfetzt,
+zerstckt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut
+werden, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen
+knne, habe sterreich auch auf dem Gewissen, und wenn die Rechnung
+sonst ziemlich gleichstehen mchte -- das rmische Konkordat hat
+Louis Napoleon trotz seiner Begnstigung des Klerus nicht
+geschlossen. Selbst Ruland kommt noch besser weg, als sterreich.
+Ruland ist ein naturwchsig-barbarisches Reich, welches von seiner
+despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit
+ihren despotischen Interessen vertrglich ist. Die Barbarei hat hier
+die Entschuldigung, da sie nationales Element ist. Ganz anders aber
+mit sterreich. Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Vlkern, die
+Regierung das barbarische Prinzip, knstlich und gewaltsam seine
+Kulturvlker unter dasselbe beugend.
+
+In dieser einseitigen und relativ -- d. h. wenn man die brigen Staaten
+in Vergleich zieht -- damals auch bertriebenen Schwarzmalerei
+sterreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die
+Lassallesche Broschre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor
+ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu
+ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie
+Hand zu lassen und der Zertrmmerung sterreichs zu applaudieren. Es war
+dies die Schrift Karl Vogts Studien zur gegenwrtigen Lage Europas,
+ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder
+indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich
+wrde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange
+mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus ber
+jeden Verdacht der Komplizitt mit Vogt oder dessen Einblsern erhaben,
+da die Mglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der
+mir aus sachlichen Grnden notwendig erscheint, ein falsches Licht auf
+Lassalle zu werfen. Zum berflu will ich aber noch einen Passus aus der
+Vorrede zum Herr Vogt von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die
+den Beweis lieferte, da Vogt damals im bonapartistischen Interesse
+schrieb und agitierte, und deren Beweisfhrung neun Jahre spter durch
+die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente besttigt wurde -- ein
+Passus, der schon deshalb hierher gehrt, weil er zweifelsohne gerade
+auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt:
+
+ Von Mnnern, die schon vor 1848 miteinander darin bereinstimmten,
+ die Unabhngigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein
+ Recht dieser Lnder, sondern als das Interesse Deutschlands und
+ Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten
+ aufgestellt ber die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des
+ italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenber
+ auszufhren habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegenstzlichen
+ Urteilen ber tatschliche Voraussetzungen, ber die zu entscheiden
+ einer spteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich fr meinen Teil habe es
+ in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu
+ tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der
+ Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fllt in der Tat
+ auerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten,
+ die er wirklich vertrat. (K. Marx Herr Vogt. Vorwort V, VI.)
+
+Trotzdem war es natrlich nicht zu vermeiden, da dort, wo Vogt mit
+Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der
+Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was brigens Lassalle nicht
+verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. Januar 1861 zu
+erklren, da er nach der Lektre des Herr Vogt Marx'
+berzeugung, da Vogt von Bonaparte bestochen sei, ganz
+gerechtfertigt und in der Ordnung finde, der innere Beweis dafr[4]
+sei mit einer immensen Evidenz gefhrt. Das Buch sei in jeder
+Hinsicht ein meisterhaftes Ding.
+
+Jedenfalls ist der Herr Vogt ein uerst instruktives Buch zum
+Verstndnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet
+enthlt eine Flle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen
+Dutzend Abhandlungen ausreichen wrde.
+
+Fr unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse.
+
+Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so
+lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein groer Teil davon
+handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenber
+einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierber an Lassalle noch
+erhalten sind und wenn, in welchen Hnden sie sich befinden, ist bis
+jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu verffentlichen
+bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die
+Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre
+Begrndung, da sich Lassalle, wie brigens ganz natrlich, meist darauf
+beschrnkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwnde gegen
+dieselbe mglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des
+weiteren dargelegt zu werden, warum in einer fr Sozialisten
+geschriebenen Abhandlung ber Lassalle nicht nur dessen persnliche
+Beziehung zu den Begrndern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus,
+sondern auch sein Verhltnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer
+Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse
+ist.
+
+Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhltnis lange Zeit seine
+fertige Schablone. Fr die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete
+sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht
+international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren
+vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die
+Revolution gekmmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgltig.
+
+Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene
+Gegenberstellung aufgegeben werden mssen.
+
+Noch ehe Lassalles Italienischer Krieg erschien, war in demselben
+Verlage, wie spter diese, eine Broschre erschienen, die dasselbe Thema
+behandelte. Sie war betitelt: Po und Rhein. Der Verfasser, der sich
+ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift,
+suchte militrwissenschaftlich nachzuweisen, da die von den Organen der
+sterreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedrfe zu
+seiner Verteidigung im Sdwesten der italienischen Provinzen, falsch
+sei, da auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition
+in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhngiges
+Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund,
+mit Deutschland zu hadern, wohl aber hufig genug Anla haben werde,
+Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen.
+Oberitalien sei ein Anhngsel, das Deutschland hchstens im Kriege
+nutzen, im Frieden immer nur schaden knne. Und auch der militrische
+Vorteil im Kriege wrde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25
+Millionen Italienern. Aber, fhrte der Verfasser alsdann aus, die Frage
+um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und
+Italien, und nicht eine zwischen sterreich und Louis Napoleon.
+Gegenber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in
+anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte,
+handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur
+gezwungen abtritt, einer militrischen Position, die man nur rumt, wenn
+man sie nicht mehr halten kann ... Werden wir angegriffen, so wehren
+wir uns. Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhngigkeit
+auftreten wolle, so mge er erst bei sich anfangen und den Italienern
+Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber
+die Karte von Europa revidiert werden, so haben wir Deutsche das
+Recht, zu fordern, da es grndlich und unparteiisch geschehe, und da
+man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle
+Opfer bringen. Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber
+ist, heit es schlielich, da wir Deutsche einen ganz
+ausgezeichneten Handel machen wrden, wenn wir den Po, den Mincio,
+die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen knnten
+gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und auen stark
+machen kann.
+
+Der Verfasser dieser Broschre war kein anderer als -- Friedrich Engels.
+Unntz zu sagen, da Engels sie im Einverstndnis mit Karl Marx
+verffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle
+hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung
+ihres Inhalts an die -- damals noch unabhngige -- Wiener Presse
+geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. Er kannte also ihren
+Inhalt ganz genau, als er seinen Italienischen Krieg schrieb,
+polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekmpft, da, da
+der Krieg durch Napoleons Fhrung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen
+Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit
+einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als
+solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwhnt,
+Lassalles Schrift im Herr Vogt mitkritisiert, und zwar in dem
+Abschnitt VIII D-d-Vogt und seine Studien[5].
+
+Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen
+bereinstimmten, dafr nur ein Beispiel. sterreichischerseits war auf
+die Vertrge von 1815 hingewiesen worden, durch welche sterreich der
+Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun:
+
+ Vogt:
+
+ Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen
+ Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in
+ frecher Weise die Vertrge gebrochen hat. Von allen andern sind sie
+ bis jetzt respektiert worden, nur sterreich hat sie gebrochen,
+ indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand
+ gegen die durch diese Vertrge garantirte Republik Krakau
+ ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres
+ einverleibte. (Studien, S. 58.)
+
+ Lassalle:
+
+ Die Vertrge von 1815 knnen nicht einmal mehr diplomatisch
+ ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung
+ Belgiens, mit Fen getreten und zerrissen gerade von sterreich
+ durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die
+ europischen Kabinette zu protestieren nicht unterlieen, haben sie
+ jede rechtliche Gltigkeit fr jedes Mitglied der europischen
+ Staatenfamilie verloren. (Der Ital. Krieg usw. Ges. Schriften
+ Bd. I S. 43.)
+
+Hren wir nun Marx gegen Vogt:
+
+Nikolaus natrlich vernichtete Konstitution und Selbstndigkeit des
+Knigreich Polen, durch die Vertrge von 1815 garantiert, aus
+>Achtung< vor den Vertrgen von 1815. Ruland achtete nicht minder
+die Integritt Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit
+moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder
+besetzt von Russen, sterreichern und Preuen, wurde vllig als
+erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter
+Berufung auf die Vertrge von 1815, vergebens an England und
+Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen,
+sterreicher und Preuen abermals Krakau, um es sterreich
+einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen
+Mchte, und die sterreichische Konfiskation von 1846 war nur das
+letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831. (Herr Vogt, S.
+73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet
+Palmerston and Poland hin, wo nachgewiesen sei, da Palmerston seit
+1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes
+das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert,
+wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, da Vogt
+auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von
+bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb.
+In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen
+bonapartistischen Pamphlete, La vraie question, France, -- Italie --
+Autriche, hatte es wrtlich geheien:
+
+Mit welchem Rechte brigens wrde die sterreichische Regierung die
+Unverletzbarkeit der Vertrge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben
+verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhngigkeit
+diese Vertrge garantierten?
+
+Vogt hatte in seiner Manier berall noch einen Extratrumpf
+aufgesetzt. Phrasen wie die einzige Regierung, in frecher
+Weise, frevelnde Hand sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am
+Schlu des obenzitierten Satzes pathetisch die politische Nemesis
+gegen sterreich anruft.
+
+Lassalle hatte, als er seine Broschre schrieb, das Vogtsche Machwerk
+noch nicht zu Gesicht bekommen, aber da seine Schrift durch die von
+Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanle in die Presse des In-
+und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflut war, das unterliegt
+nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe hnlicher an die Seite
+gesetzt werden knnen, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen
+Bismarckanbeter sich spter darauf beriefen, da die Politik ihres Heros
+sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so bersahen sie dabei nur
+die eine Tatsache, da das von Lassalle der preuischen Regierung
+vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in
+den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener
+Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen lie, um sie fr seine damalige
+Politik zu gewinnen. Alle die Ausfhrungen Lassalles in dieser Schrift,
+die spter von brgerlichen Schriftstellern als ungewhnliche
+Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts
+Studien und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten
+Pamphleten. Gerade Vogt wute z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor
+der preuischen Heeresreform, da, wenn Preuen einen deutschen
+Brgerkrieg fr die Herstellung einer einheitlichen deutschen
+Zentralgewalt ins Werk setzen wrde, dieser Krieg nicht so viel Wochen
+kosten wrde, als der italienische Feldzug Monate. (Studien
+S. 155.) Des weiteren wute Vogt, da das Berliner Kabinett sterreich
+im Stich lassen werde, es mute nach ihm dem Kurzsichtigsten klar
+geworden sein, da ein Einverstndnis zwischen Preuens Regierung und
+der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; da Preuen nicht zur
+Verteidigung der auerdeutschen Provinzen sterreichs zum Schwerte
+greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder
+fr sterreich verhindern wird, um ... seinen Lohn fr diese
+Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. (Studien S.
+19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht
+verlangen.
+
+Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausfhrung gekommen.
+Bismarck, der dazu bereit gewesen wre, war dem Prinzregenten von
+Preuen noch zu sehr Strmer, um ihm als Minister des Auswrtigen genehm
+zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurck,
+sterreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine
+Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine
+Truppen zurck. So drauf und dran sterreich zu helfen, wie
+Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht.
+
+Meine Broschre >Der italienische Krieg und die Aufgabe
+Preuens< -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und
+Engels -- wird Euch zugekommen sein. Ich wei nicht, ob Ihr dort
+hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese
+annhernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein.
+Absolute Franzosenfresserei, Franzosenha (Napoleon nur Vorwand, die
+revolutionre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund),
+das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die
+Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der
+untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gieen
+suchen, und leider mit Erfolg genug. So ntzlich ein gegen den Willen
+des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich fr
+unsere revolutionre Entwicklung sein wrde, so schdlich mte ein
+von verblendeter Volkspopularitt getragener Krieg auf unsre
+demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner
+Broschre in dieser Hinsicht exponierten Grnden kommt dazu, da man
+schon jetzt den Ri, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und
+gar zuwachsen lt. Solchem drohenden Unheil fand ich fr Pflicht,
+mich entgegenzuwerfen ... Natrlich gebe ich mich keinen Augenblick
+der Tuschung hin, als knnte und wrde die Regierung den sub III
+eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr
+fhlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er
+sofort in einen Vorwurf umschlgt. Er kann wie ein Eisblock wirken,
+an dem sich die Wogen dieser falschen Popularitt zu brechen
+anfangen.
+
+Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die
+revolutionre als die nationale Bewegung zu frdern, die letztere der
+ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage
+war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale
+Bewegung, ber deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle
+einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine
+Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mute. Marx
+und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunchst darauf
+an, den gegen Deutschland als Ganzes gefhrten Streich durch eine
+gemeinsame Aktion aller Deutschen zurckzuschlagen, und nicht in dem
+Moment, wo ein solcher Schlag gefhrt wurde, eine Politik selbst nur
+scheinbar zu untersttzen, die zur Zerreiung Deutschlands fhren mute.
+Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage
+beruht im wesentlichen darauf, da sie sie mehr in ihrem weiteren
+historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, whrend
+Lassalle sich mehr durch die Rcksicht auf die augenblicklichen
+Verhltnisse in der inneren Politik leiten lie. Daher beging er auch
+die Inkonsequenz, whrend er in bezug auf Frankreich streng zwischen
+Volk und Regierung unterschied, sterreich und das Haus Habsburg ohne
+weiteres zu identifizieren und die Zertrmmerung sterreichs zu
+proklamieren, wo es sich zunchst doch nur um die Zertrmmerung des
+habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe
+an Rodbertus knpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:
+
+ Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die trkische
+ Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten
+ oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen
+
+und sagt:
+
+Es hat mich zu eigentmlich berhrt, als ich in Ihrem letzten
+Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese
+Ansicht meinen besten Freunden gegenber vergeblich vertreten und
+mich dafr von ihnen einen Trumer nennen lassen mssen! Die ganze
+Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen
+orientalischen Frage hat fr mich immer nur den vernnftigen Sinn und
+Zusammenhang gehabt, da die Frage so lange hinausgeschoben werden
+mu, bis der naturgeme Anwrter, die deutsche Revolution, sie lst!
+Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrder zur Welt
+gekommen zu sein. (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl
+Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. Mai
+1863.)
+
+Wie Deutschland die trkische Erbschaft antreten sollte, nachdem
+vorher sterreich zerfetzt, zerstckt, vernichtet, zermalmt, Ungarn
+und die slawischen Landesteile von Deutsch-sterreich losgerissen
+worden, ist schwer verstndlich.
+
+Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehrt hierher:
+
+Wenn ich etwas in meinem Leben gehat habe, ist es die kleindeutsche
+Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem
+>Staatsmann< der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor
+1 Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner
+Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir mssen alle wollen:
+Grodeutschland moins les dynasties.
+
+Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen
+Partei zugute kme, betrachte sie als das Produkt der bloen Furcht vor:
+Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stck
+Nationalverrat. (Brief vom 2. Mai 1863.)
+
+Es ist klar, da, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er
+es in Der Italienische Krieg usw. entwickelte, ernst gewesen wre,
+er unmglich die obigen Stze htte schreiben knnen, denn jenes ist
+ganz gewi kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm fr
+seine viel weitergehenden politischen Zwecke, fr die Herbeifhrung
+der Revolution, die die nationale Frage im grodeutschen Sinne lsen
+sollte, zweckmig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai
+1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer
+bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausfhrlichen
+Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so
+knnen wir uns hier auf einige Auszge und kurze Zusammenfassungen
+beschrnken.
+
+Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne
+Datum, so da dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mute) schreibt
+Lassalle an Marx: Nur in dem populren Kriege gegen Frankreich ...
+sehe ich ein Unglck. In dem bei der Nation unpopulren Kriege aber ein
+immenses Glck fr die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so,
+da unsere Regierungen den Krieg machen mssen (und sie werden dies tun)
+und wir ihn unpopularisieren mssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre
+fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig
+entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit
+Leidwesen gesehen ... Kme nun noch hinzu, da dem Volk die berzeugung
+beigebracht wird[6], die Regierung fhre diesen Krieg als einen
+nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet
+Ihr sehen, wie vollstndig die Vershnung wrde und wie, gerade bei
+Unglcksfllen, das Band der >deutschen Treue< das Volk an seine
+Regierungen binden wrde ... Was in unserm Interesse liegt, ist
+offenbar etwa folgendes:
+
+1. da der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere
+Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter
+Quelle zukommen, besagen, da der Prinz drauf und dran sei, fr
+sterreich einzutreten.
+
+Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend.
+
+2. da er schlecht gefhrt wird. (Dies werden unsere Regierungen
+gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das
+Volksinteresse fr den Sieg sie untersttzt.)
+
+3. da das Volk der berzeugung sei, der Krieg werde im
+volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionren Sinne, also
+gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein knnen wir besorgen,
+und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.
+
+Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben knne,
+einen populren Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen.
+Auch hier aber sind es lediglich zwei Rcksichten, die er als
+magebend anerkennt: 1. die Rckwirkung auf die Aussichten der
+revolutionren Parteien hben und drben, und 2. die Rckwirkung auf
+die Beziehungen der deutschen Demokratie zur franzsischen und
+italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als
+Nation berhrt er gar nicht. Auf den Vorhalt, da er dieselbe Politik
+empfehle wie Vogt, der im franzsischen Solde schreibe, antwortet er:
+Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad
+absurdum fhren? Dann knnte ich Dir das Kompliment zurckgeben, da
+Du das Unglck hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu
+sein. Alsdann rhmt er sich, da seine Broschre immens gewirkt
+habe, Volks-Zeitung und National-Zeitung htten zum Rckzug
+geblasen, die letztere in einer Serie von sechs Leitartikeln eine
+vollstndige Schwenkung gemacht. Da Lassalle gar nicht darauf kam,
+sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich
+so schnell bekehren lieen!
+
+In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heit
+es: Es ist ganz selbstredend, da zwischen uns nicht das Prinzip,
+sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffate, die
+>passendste Politik< ... streitig war. Und um wieder keinen Zweifel
+darber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: d. h.
+also doch die zur revolutionren Entwicklung passendste Politik.
+
+Anfang 1860 an Fr. Engels: Nur zur Vermeidung von Miverstndnissen
+mu ich bemerken, da ich brigens auch im vorigen Jahre, als ich
+meine Broschre schrieb, sehnlichst wnschte, da Preuen den Krieg
+gegen Napoleon mache. Aber ich wnschte ihn nur unter der Bedingung,
+da die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulr und
+verhat wie mglich sei. Dann freilich wre er ein groes Glck
+gewesen. Aber dann mute die Demokratie gegen, nicht fr diesen Krieg
+schreiben und propagieren ... Fr die gegenwrtige Lage sind wir
+wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr fr die
+zuknftige.
+
+In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade
+eingebrachte Militrreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich
+spter zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen
+Bourgeoisie fhrte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preuische Regierung
+berzeugt, wie wenig schlagfertig die preuische Armee noch war und da
+durchgreifende nderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu
+setzen, sei es nun gegen Frankreich oder sterreich, mit einiger
+Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rcken. Wer es also mit Preuens
+deutschem Beruf ernst nahm, der mute auch in die Heeresreorganisation
+einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was
+ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hren wir nun Lassalle: Das
+Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- vllige, nur verkappte -- der
+Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schpfung
+eines immensen Machtmittels fr Absolutismus und Junkertum ist in zwei
+Worten der evidente Zweck desselben. Nie wrde Manteuffel gewagt haben,
+so etwas vorzuschlagen! Nie htte er es durchgesetzt. Wer jetzt in
+Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am rger
+sterben!
+
+Schlielich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus
+Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem
+Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in
+der ausgefhrt worden war, da, wenn Preuen sterreich gegen Frankreich
+zu Hilfe kme, Ruland seinerseits fr Frankreich intervenieren, d. h.
+Preuen _und_ sterreich den Krieg erklren wrde. Diese Note sei,
+hatte Marx ausgefhrt, erstens ein Beweis, da es sich um einen Anschlag
+gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die
+Schwchung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei
+zweitens eine unverschmte Einmischung Rulands in deutsche
+Angelegenheiten, die nicht geduldet werden drfe. Darauf erwidert nun
+Lassalle, er knne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber
+selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur
+die deutschen Regierungen. Denn, diable! was geht Dich und mich
+die Machtstellung des Prinzen von Preuen an? Da alle seine Tendenzen
+und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes
+gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen
+Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach auen so gering wie
+mglich ist. Man msse sich also eher solcher Demtigungen freuen und
+sie hchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die
+Franzosen unter Louis Philipp getan htten.
+
+Man kann sich wohl nicht hochverrterischer ausdrcken, als es hier
+berall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster
+eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der
+Sozialdemokratie von heute gegenberstellten, haben nach
+Verffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach
+einpacken mssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des
+Italienischen Krieges leiteten, sind alles andere, nur nicht eine
+Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, da
+hier, wie es in den meisten brgerlichen Biographien heit, bei Lassalle
+der Parteimann hinter den Patrioten zurcktritt, kann man im Gegenteil
+eher sagen, da der Parteimann, der republikanische Revolutionr, den
+Patrioten zurckdrngt.
+
+Man knnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage
+aufwerfen: Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an
+Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der
+Broschre vertritt, wer garantiert dann, da der erstere der wirklich
+von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle
+nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhllt, dies Marx
+gegenber getan haben? Gegen diese Annahme sprechen aber so viele
+Grnde, da es kaum der Mhe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der
+wichtigste ist der, da der Widerspruch zwischen Broschre und Briefen
+schlielich doch nur ein scheinbarer ist. Wo Lassalle in der Broschre
+etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen
+deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem groen Wenn,
+und diesem Wenn stellt er am Schlu ein Wenn aber nicht, dann
+gegenber, und formuliert dieses Dann so: So wird damit nur aber
+und aber bewiesen sein, da die Monarchie in Deutschland einer
+nationalen Tat nicht mehr fhig ist. Die positiven Behauptungen in
+der Broschre hlt er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint
+es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschre
+ausmachenden Darlegung, da die Demokratie -- worunter er die
+Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg
+gegen Frankreich nicht gutheien drfe, weil sie sich dadurch mit den
+Unterdrckern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus
+ernst mit dem Wunsche der Zertrmmerung sterreichs. Bis soweit ist
+denn auch die Broschre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt
+fr richtig hlt oder nicht, als subjektive Meinungsuerung
+vollkommen berechtigt.
+
+Anders mit dem Schlukapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die
+gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich
+bekmpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem
+Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht
+an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er fr eine Politik
+eintritt, von der er nicht auch will, da sie befolgt werde. Das jedoch
+tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mute glauben, er
+wnsche nichts sehnlicher, als da die preuische Regierung die darin
+von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen,
+da er sicher war, die preuische Regierung werde diese Politik nicht
+befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht
+gerechtfertigt. Das Advokatenstck, eine Sache nur deshalb zu
+empfehlen, weil man zu wissen glaubt, da sie doch nicht geschieht, ist
+ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen
+Anhnger irrezufhren, was ja spter auch in diesem Falle eingetreten
+ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich fr seine Taktik beruft, ist
+das denkbar unglcklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition
+in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom National,
+auswrtige Politik machten, ebnete spter dem Mrder der Republik, dem
+Bonapartismus, die Bahn. Wie die reinen Republikaner die
+napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die
+friderizianische Legende gegen die damalige preuische Regierung
+ausspielen zu knnen. Aber die friderizianische Tradition, wenigstens
+soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preuischen
+Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der
+Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda fr sie.
+
+Wie diese spter, sobald Preuen sich dazu militrisch stark genug
+fhlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunchst zum Brgerkrieg
+zwischen Nord- und Sddeutschland fhrte, wie sterreich glcklich
+aus dem deutschen Bund herausgedrngt und die Einigung
+Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen,
+aber diese Realisierung des im Italienischen Krieg entwickelten
+Programms verhlt sich zu der Lsung, die Lassalle vorschwebte, wie
+in der Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7].
+
+[Wohin hat uns die preuische Lsung der deutschen Frage gebracht?
+sterreichs Verdrngung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische
+Propaganda im hchsten Grade gefrdert, die sterreichische Regierung
+mu heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese
+traten infolgedessen mit immer greren Ansprchen auf. Wo sie frher
+mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalitt zufrieden gewesen wren,
+wollen sie heute herrschen und unterdrcken; in Prag, heute eine
+tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und franzsische
+Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die
+Angliederung der deutschen Landesteile sterreichs an Deutschland wird
+frher oder spter freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach
+ungnstigeren Verhltnissen als vor der glorreichen Herauswerfung
+sterreichs aus dem deutschen Bunde. Vorlufig mu das Deutsche Reich
+ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter
+um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat
+Ruland so stark gemacht, da die deutsche Politik wieder das grte
+Interesse an der Erhaltung selbst dieses sterreichs hatte. Etwas ist
+immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Ruland der
+Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange
+mag das heutige sterreich als Staat noch eine Berechtigung haben.]
+
+Lassalle wollte natrlich ganz etwas anderes als die bloe
+Herausdrngung sterreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrmmerung,
+die Vernichtung sterreichs, dessen deutsche Lnder einen integrierenden
+Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber
+um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen,
+dessen unmittelbare Folge der Brgerkrieg in Deutschland sein mute, ein
+Krieg von Norddeutschland gegen Sddeutschland, dessen Bevlkerung 1859
+ganz entschieden auf seiten sterreichs stand. Nur Lassalles starke
+Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle auer ihm liegenden
+Rcksichten zu opfern, erklrt dieses Zurckgreifen auf eine Diplomatie,
+die er noch soeben im Franz von Sickingen aufs schrfste verurteilt
+hatte.
+
+Hinzu kam bei Abfassung der Broschre der leidenschaftliche Drang, in
+die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer
+wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung
+an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen
+Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem
+Vorbehalt: Aber wenn sich eine Mglichkeit bietet, unmittelbar auf die
+revolutionre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die
+Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. Mrz 1859 an Fr. Engels
+geschrieben:
+
+Vielmehr werde ich beim nationalkonomischen und
+geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von
+sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht,
+was freilich sehr zu hoffen wre, der endliche Beginn praktischer
+Bewegungen alle grere theoretische Ttigkeit sistiert.
+
+Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa wei, wenn es
+dafr gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) knnen.
+
+Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins
+monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine
+Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die
+Revolution fr die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist
+gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt:
+Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Gtter --
+die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den Acheron --
+das Volk -- in Bewegung setzen.
+
+ * * * * *
+
+Die nchste Publikation, die Lassalle dem Italienischen Krieg usw.
+folgen lie, war ein Beitrag fr eine Zeitschrift in Buchform, die der
+demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel
+Demokratische Studien im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der
+spter als Broschre herausgegebene Aufsatz: Fichtes politisches
+Vermchtnis und die neueste Gegenwart. Man knnte ihn als ein
+Nachwort zu Der italienische Krieg usw. bezeichnen, in welchem
+Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhllen fr gut
+befunden. Das politische Vermchtnis Fichtes ist, wie Lassalle unter
+Vorfhrung eines im Fichteschen Nachla vorgefundenen Entwurfs zu
+einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit
+Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung
+der Einheit Deutschlands berhaupt nicht mglich. Bei einer Eroberung
+Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten wrde
+nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stmme durch
+die gewaltsame Aufdrngung des spezifischen Hausgeistes unter die
+Besonderheit desselben gebracht, preuifiziert, verbayert,
+versterreichert! ... Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung
+fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen
+Besonderheiten liegt, schreibt er, wrde gerade dadurch das deutsche
+Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.
+
+Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern
+mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke,
+wre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealitt dieser Entschlieung
+ist es geradezu tricht von Mnnern zu verlangen -- es ist von den
+deutschen Frsten, speziell vom Knig von Preuen, die Rede -- deren
+geistige Persnlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes
+Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte
+ist und die dies daher ebensowenig leisten knnen, als es einer von uns
+anderen leisten wrde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschlielich
+durch dieselben Faktoren bestimmt worden wre.
+
+Dies sind die letzten eigenen Ausfhrungen Lassalles in dem Aufsatze. Es
+folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, da und warum die Einheit
+Deutschlands nur mglich sei auf Grundlage der ausgebildeten
+persnlichen Freiheit, und da gerade deshalb die Deutschen im
+ewigen Weltenplane berufen seien, ein wahrhaftes Reich des Rechts
+darzustellen, ein Reich der Freiheit, gegrndet auf Gleichheit alles
+dessen, was Menschenantlitz trgt. Und ferne sei es von uns, die
+unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufgungen
+abschwchen zu wollen, schliet Lassalle. Dann, zum Verleger
+gewendet: Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche -- einen
+Artikel ber eine brennende Tagesfrage zu schreiben -- nicht
+buchstblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfllt --
+wie der meinige.
+
+Welches aber war Lassalles Zweck bei der Verffentlichung des Aufsatzes,
+der das Datum: Januar 1860, trgt? Auch darber gibt ein Brief an Marx
+uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum
+er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines groen Werkes in
+Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens
+habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und
+tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschre Politische
+Totenschau zeige, wohl verdiene, da man etwas fr ihn tue. Dann aber
+heit es weiter:
+
+Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht einigen entwickelnden
+Einflu auf unsere deutschen Philister ausben, und schlug ich aus, so
+kam der Auftrag jedenfalls an einen weit weniger entschiedenen, ja ganz
+unbedingt an einen mit monarchischem oder hnlichem Demokratismus oder
+klein-deutschen Ideen Liebugelnden, whrend mir der Auftrag die
+Mglichkeit bot, wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf
+ertnen zu lassen und so im Namen unserer Partei von einem Buche Besitz
+zu ergreifen, welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen
+Inhalt, obgleich ich weder ber diesen noch seine Mitarbeiter Nheres
+wei, schwerlich zur Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses
+unserer Partei beigetragen htte.
+
+So schreiben-wollend und nicht wollend entstand ein Artikel, von dem
+ich mir, speziell um ihn Dir zu berschicken, einen besonderen Abzug
+kommen lie. (Das Buch erscheint erst zur Oktobermesse.) Ich schicke ihn
+gleichzeitig mit diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann an
+Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, ob er Dir gefallen.
+
+Ich glaube, da er mitten in diesem widrigen gothaischen Gesumme doch
+immerhin den erfrischenden Eindruck macht, da hinter den Bergen auch
+noch Leute, da eine republikanische Partei noch lebt, den Eindruck
+eines Trompetenstoes.
+
+Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle damals arbeitete, war das
+System der erworbenen Rechte. Drollig und doch wieder fr jeden, der
+sich mit greren Arbeiten beschftigt, ungemein verstndlich klingt die
+Klage Lassalles, die Arbeit ziehe sich so lange hin, da er bereits
+einen intensiven Ha gegen sie bekommen habe. Aber das verm--
+Werk, wie er es an einer anderen Stelle in demselben Briefe nennt,
+sollte auch in den drei Monaten, die er sich nun als Termin stellt,
+noch nicht fertig werden.
+
+Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfllen jener chronischen
+Krankheit, von der er bereits in der Dsseldorfer Assisenrede spricht,
+und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. Ich war und bin noch
+recht krank, fngt ein Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein
+mu, ich war von neuem krank und schlimmer als frher, beginnt der
+obenzitierte Brief. Habe ich mich in der letzten Zeit berarbeitet oder
+rcht sich nun zu lange Vernachlssigung, heit es weiter, kurz,
+es scheint als ob meine Gesundheit aufgehrt habe, der unverwstliche
+Fels zu sein, auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte. Um
+sich grndlich zu heilen, ging Lassalle im Sommer desselben Jahres
+nach Aachen. Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin,
+Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedrftig
+war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so fr
+sich ein, da er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den
+aber Frulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.
+
+Es sind ber diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die
+Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Frulein von Sontzew,
+spter die Gattin eines Gutsbesitzers in Sdruland, im Jahre 1877 in
+der Petersburger Revue Der Europische Bote verffentlicht hat, und
+von denen eine bersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von
+F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffre ist
+nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie
+von Sontzew schreibt, da Lassalle zwar einen groen Eindruck auf sie
+gemacht, da sie auch vorbergehend geglaubt habe, ihn lieben zu knnen,
+es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie
+sich schlielich darber klar geworden sei, da eine Liebe, die
+zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie
+unter Hinweis auf die Kmpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen
+werde. Vielleicht, da auch die Aussicht gerade auf diese Kmpfe die
+junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgestndnisse und
+Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite
+scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Frulein von Sontzew
+beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu
+sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame
+hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch
+wute Lassalle sich, so strmisch seine Werbungen gewesen, ber den
+Mierfolg bald zu trsten.
+
+Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffre sind die aus Anla
+dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor
+allem der schon frher erwhnte, als Seelenbeichte bezeichnete,
+mehr als 35 Druckseiten ausfllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines
+der interessantesten Dokumente fr die Charakteristik Lassalles. Sehen
+wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jngling heranreifenden Knaben,
+so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jngling sein Ich
+blolegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen
+Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzge
+Lassalles ist seine -- man knnte fast sagen, unbewute
+Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine bestndige Neigung,
+ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte
+Natur. Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr
+Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die
+Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu
+verbergen. Aber es war ihm doch nicht mglich, sich als Mensch anders
+zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften
+waren viel zu stark, als da sie sich nicht berall verraten htten,
+seine Persnlichkeit viel zu ausgeprgt, um nicht durch jedes Gewand,
+in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem
+Bilde, das Lassalle fr Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl
+es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mdchen erscheinen wollte,
+der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzgen und seinen Fehlern.
+
+Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und
+seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzhlt, wie er in
+diesem Manuskript sich im Glanze seines zuknftigen Ruhmes sonnt, sich
+als der Fhrer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar
+nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn frchten und
+hassen lt, wo zur Furcht und zum Ha damals jeder Anla fehlte. Ebenso
+bertreibt er seine schon erzielten Triumphe. Nichts, Sophie,
+schreibt er ber den Erfolg der Kassettenrede, kann Ihnen auch nur
+annhernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den
+ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevlkerung der ganzen Provinz
+schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen,
+die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag
+verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen
+und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen
+diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte
+mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren
+Hauptfhrer an. Dann schreibt er vom Dsseldorfer Proze, da er aus
+diesem mit nicht weniger Glanz hervorging. Ich werde Ihnen meine
+Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie
+wird Sie amsieren. Da er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt
+er nicht.
+
+Neben diesen Zgen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit
+fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundstzen,
+statt auf ueren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief
+hindurch klingt der Ton einer echten berzeugung. Selbst wenn Lassalle
+von dem Glanz spricht, mit dem der Eintritt gewisser Ereignisse
+-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zuknftigen Frau
+ausstatten wrde, setzt er sofort hinzu: Aber, nicht wahr, Sophie,
+mit so groen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen
+Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloe Spekulation auf
+individuelles Glck machen? -- und bemerkt weiter: Deshalb darf man
+in keiner Weise darauf rechnen.
+
+Noch in einer anderen Hinsicht ist die Seelenbeichte Lassalles von
+Interesse. Er spricht sich darin sehr ausfhrlich ber sein Verhltnis
+zur Grfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine
+frheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel
+sicher, da Lassalle keinen Grund hatte, einem Mdchen, um das er gerade
+warb und das als Gattin heimzufhren er so groe Anstrengungen machte,
+seine derzeitigen Empfindungen fr die Grfin, soweit sie ber die der
+Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, strker zu schildern, als sie
+wirklich waren. Tatschlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in
+Ausdrcken geradezu leidenschaftlicher Zrtlichkeit fr die Grfin. Er
+liebe sie mit der zrtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert
+hat, noch dreimal mehr wie seine zrtlich geliebte Mutter. Er
+verlangt von Sophie, da sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Grfin
+mit der wahren Zrtlichkeit einer Tochter liebe, und hofft, obwohl
+die Grfin auerordentlich zartfhlend sei und, ehe sie nicht
+wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar
+werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu knnen, -- um alle
+drei glcklich und vereint zu leben[9].
+
+Daraus geht hervor, da diejenigen, die die Sache so hinstellen, als
+habe sich die Grfin Hatzfeldt damals in Berlin und spter Lassalle
+einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls malos bertrieben haben.
+Die Hatzfeldt hatte ihre groen Fehler und ihre Freundschaft ist
+Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin uerst
+verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten
+wir es fr unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem
+entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen
+Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene
+Behauptung, Lassalle habe sich spter in die Dnniges-Affre gestrzt,
+um die Hatzfeldt loszuwerden.
+
+Sophie Sontzew spricht sich brigens ber den Eindruck, den die Grfin
+Hatzfeldt persnlich auf sie gemacht habe, nur gnstig aus.
+
+Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen
+Aufenthalts in Aachen. Natrlich ist in keinem von der Liebesaffre mit
+der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe ber
+die Verhltnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle
+schlieen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des
+Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders
+bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er
+in Berlin noch mit den Fhrern der liberalen Opposition auf bestem Fue
+stand, ber die damalige liberale Presse und ber den von den Liberalen
+in den Himmel gehobenen preuischen Richterstand dachte. Da sie ebenso
+kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.
+
+Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn,
+unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der
+infamierendsten Handlungen verdchtigt hatte, wegen Verleumdung zur
+Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum
+Proze kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht,
+am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nmlich, da wenn
+Zabel alle diese Verleumdungen Vogts ber Marx wiederholt und sie dabei
+noch bertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben
+konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx
+selbst in Preuen fr unmglich gehalten, und er schrieb das auch an
+Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Proze abgeraten
+hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:
+
+Du schreibst, nun wtest Du, da es von den Richtern abhngt bei
+uns, ob es ein Individuum berhaupt nur bis zum Proze bringen kann!
+Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in
+einem meiner Briefe sagte, da Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz
+reuig an meine Brust und nehme das gnzlich zurck. Die preuische
+Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte
+betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
+diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise fr diesen
+Satz, und noch ganz anders starke Flle berhaupt an ihnen erlebt, und
+zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in
+reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich mu die Erinnerung daran gewaltsam
+unterdrcken. Denn wenn ich an diesen zehnjhrigen tglichen
+Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie
+Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom
+ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewltigt und
+niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darber zu
+werden, aber nie wlbt sich meine Lippe zu einem Lcheln tieferer
+Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen hre.
+Galeerenstrflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhltnis zu
+unsern Richtern zu sein.
+
+Nun aber, Du wirst sie fassen dafr, schreibst Du. >Jedenfalls,<
+sagst Du, >liefern mir die Preuen so ein Material in die Hand, dessen
+angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!< Nein,
+lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht,
+da Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst.
+Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als
+wenn Du gar nicht geschrieben httest. Denn englische Bltter liest
+man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen
+wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein
+armseliges Wrtchen davon bringen. Sie werden sich hten! Und unsere
+liberalen Bltter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbskpfe ein
+Wrtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den >preuischen
+Richterstand< bringen, bei dessen bloer Erwhnung sie vor Entzcken
+schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei
+vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde
+schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis
+zum Rhein und soweit sonst nur immer >die deutsche Zunge reicht<,
+ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preverschwrung zu machen?
+O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel
+liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel!
+ich wei wirklich keinen anderen Ausdruck fr sie -- es ist die
+reine ......
+
+Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck
+wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergnzen.
+
+Im Jahre 1861 verffentlichte Lassalle im zweiten Band der
+Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz ber Lessing, den er
+bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: Lessings Leben und
+Werke geschrieben, und lie endlich sein groes rechtsphilosophisches
+Werk Das System der erworbenen Rechte erscheinen.
+
+Der Aufsatz ber Lessing ist verhltnismig unbedeutend. Er ist noch
+vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich
+sehr stark an die Ausfhrungen an, die Heine in ber Deutschland
+mit Bezug auf Lessings Bedeutung fr die Literatur und das ffentliche
+Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing
+als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schlu des
+Aufsatzes unter Hinweis auf die groe hnlichkeit der Situation des
+derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: hnliche
+Situationen erzeugen hnliche Charaktere, so mag ihm da wohl Heines
+Ausspruch vorgeschwebt haben: Ja, kommen wird auch der dritte Mann,
+der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und
+dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!
+War es doch sein hchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu
+werden. Wie im Hutten des Franz von Sickingen, so spiegelt sich auch
+im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es
+fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. Allein wenn wir den
+Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte
+durchgefhrt haben, wie ist es mit der Politik? fragt Lassalle, und
+um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwhnten
+Gebieten darber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu
+lsen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum Spartakus eine
+Stelle, wo Spartakus auf die hhnende Frage des Konsuls: Ich hre,
+du philosophierst, Spartakus, zurckgibt:
+
+ Wo du nicht willst, da ich philosophieren soll -- Philosophieren,
+ es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!
+
+Zwei Dezennien darauf sei in der franzsischen Revolution diese
+Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr
+wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus
+und dem Konsul der Zukunft.
+
+
+Funoten:
+
+ [4] Da Vogt verdchtig war, hatte Lassalle, der ursprnglich Vogt in
+ Schutz genommen, schon frher zugegeben.
+
+ [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschre von Engels Savoyen,
+ Nizza und der Rhein. Lassalle hatte in seiner Broschre die Annexion
+ Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverstndliche und, wenn
+ Deutschland eine dieser Vergrerung aufwiegende Kompensation
+ erhielte, ganz unanstige Sache hingestellt. Engels weist nun
+ nach, welche auerordentlich starke militrische Position der Besitz
+ Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenber verschaffe,
+ was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen
+ preis, weil es im Moment mehr dafr eintauschte, die Schweizer waren
+ aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmnner,
+ Stmpfli, Frey-Heros u. a., taten ihr mglichstes, die berlieferung
+ des bisher neutralen Savoyer Gebiets in franzsische Hnde zu
+ verhindern. Im Herr Vogt kann man nachlesen, durch welche Manver
+ die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemhungen
+ hintertrieben. Alles brige sagt ein einfacher Blick auf die
+ Landkarte.
+
+ [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: Nur da zum
+ Glck auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum
+ erscheint mir der revolutionre Nutzen allerdings als gesichert.
+ Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschre?
+
+ [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in
+ griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die
+ russische Revolution mit der Auflsung des russischen Imperiums den
+ grten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die
+ auch Wendungen enthlt, zu denen ich mich grundstzlich nicht mehr
+ bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen,
+ weil sie immerhin erkennen lt, wie sich zur Zeit, wo sie
+ geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866
+ geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte.
+
+ In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle
+ Abnderung erfahren, die mir deshalb der Erwhnung wert erscheint,
+ weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurckzufhren ist, der,
+ wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins
+ Deutsche zurckbersetzt lautet die Einleitung dort:
+
+ Wohin hat die preuische Lsung der nationalen Frage Deutschland
+ gebracht? Lassen wir die Frage Elsa-Lothringen beiseite -- die
+ Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und
+ betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenber Ruland
+ und dem Panslawismus. sterreichs Verdrngung aus dem Deutschen Bund
+ (weiter, wie im Original).
+
+ Obwohl bei mir die Annexion Elsa-Lothringens mit keiner Silbe
+ erwhnt war und sie fr Englnder damals noch kein spezielles
+ Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr,
+ ihrer zu erwhnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu
+ bezeichnen -- an additional blunder heit es im Englischen. Ein
+ Beweis, wie wenig Engels diese Annexion fr endgltig ansah.
+
+ Da im Englischen statt uns gebracht gesagt wird: Deutschland
+ gebracht, war durch die Rcksicht auf das andre Lesepublikum von
+ selbst geboten. Ich wrde aber heute auch aus stilistischen Grnden
+ diese przisere Ausdrucksweise vorziehen.
+
+ [8] Unter dem Titel Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand
+ Lassalles. Die Verfasserin ist nun auch lngst aus dem Leben
+ geschieden.
+
+ [9] Noch hinreiender schildert Lassalle sein seelisches Verhltnis
+ zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine
+ ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkndigt, weil die
+ Dame ihm erklrt hatte, sie knne es nicht vertragen, neben sich
+ noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine
+ ganze Abhandlung ber seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand
+ Lassalles, Nachtrag.)
+
+
+
+
+Das System der erworbenen Rechte.
+
+
+Das System der erworbenen Rechte, Lassalles wissenschaftliches
+Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur fr den Rechtstheoretiker
+geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den
+praktischen Kmpfen der Gegenwart wesentlich nher als die Materie des
+Heraklit, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die
+Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht
+gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein Riesenwerk
+menschlichen Fleies. Darber herrscht bei Sachverstndigen so
+ziemlich Einstimmigkeit, da das System der erworbenen Rechte
+zugleich von der auerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem
+groen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus
+allen diesen Grnden wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei
+diesem Buche etwas lnger aufhalten.
+
+Es liegt auerhalb der Zustndigkeit des Schreibers dieser Abhandlung,
+ein Urteil darber zu fllen, welche positive Bereicherung die
+Rechtswissenschaft dem System der erworbenen Rechte verdankt. Das
+vermag nur der Kenner der gesamten einschlgigen Literatur, der
+theoretisch gebildete Jurist. Wir beschrnken uns hier darauf, die
+Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die
+Art, wie er sie lst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner
+Lsung zugrunde liegt.
+
+Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile
+zerfallende Gesamtwerk trgt. Eine Vershnung des positiven Rechts und
+der Rechtsphilosophie. Lassalle fhrt in der Vorrede aus, da trotz
+Hegels Versuch, eine Vershnung zwischen dem positiven Recht und dem
+Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen
+und Rechtsphilosophen zurzeit grer sei, als sie selbst vor Hegel
+gewesen. Die Schuld daran trgen aber weniger die ersteren als die
+letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials
+einzudringen, htten sie sich begngt, im Himmel ihrer allgemeinen
+Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie mglich
+zu bleiben. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche
+ein wahrer horror pleni, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran
+indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermdlich hervorgehoben
+habe, da die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in
+die Erfahrungswissenschaften. Hegels Rechtsphilosophie konnte, fhrt
+Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe
+erschien, als der erste Versuch, das Recht als einen vernnftigen, sich
+aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
+Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhltnis einnehmen, als etwa die
+allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst.
+Htten nun die Philosophen sich nicht darauf beschrnkt, bei den
+dnnen, allgemeinen Grundlinien derselben -- Eigentum, Familie,
+Vertrag usw. -- stehenzubleiben, wren sie dazu bergegangen, eine
+Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen
+Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu
+schreiben, so wrde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen
+positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, da mit den
+abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag,
+Familie usw. berhaupt nichts getan ist, da der rmische Eigentumsbegriff
+ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der rmische
+Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der
+rmische Familienbegriff ein anderer als der germanische
+Familienbegriff usw., d. h. da die Rechtsphilosophie, als in das
+Reich des historischen Geistes gehrend, es nicht mit logisch-ewigen
+Kategorien zu tun hat, sondern da die Rechtsinstitute nur
+Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des
+geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und
+Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind. Eingehend
+und erschpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des
+vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem
+Beispiel desselben der Beweis geliefert, da jene Hegelsche
+Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie vollstndig aufgegeben werden mu und
+nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre
+Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu
+erzeugen ... Das gelte aber auch von dem Verhltnis des Hegelschen
+Systems zur Geistesphilosophie berhaupt, und wenn die Zeit
+theoretischer Mue fr die Deutschen niemals aufhren sollte, -- man
+kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas
+(ein seltenes Glck) nennen, fgt Lassalle mit berechtigter
+Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies
+in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von
+ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im
+Grunde nur dieselbe von Hegel getragene Fahne darstellen, die nur
+auf einem anderen Wege zum Siege gefhrt werden soll. Es sind immer
+die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die
+nur gegen Hegel selbst Recht behalten. Hegel habe, wegen
+unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht
+hufig greres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin.
+Wenn er die rmischen Juristen als die Ttigkeit des abstrakten
+Verstandes auffate, so werden wir auf das Positivste im ganzen
+Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von
+unseren Juristen, von den rmischen aber das strikte Gegenteil gilt.
+Wir werden sehen, wie ihre Ttigkeit vielmehr schlechterdings nur die
+des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht
+durchsichtige und bewute, wie dies ganz ebenso bei der Ttigkeit des
+religisen und knstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit
+wird dann immer nur erwiesen sein, da die Hegelsche Philosophie noch
+weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wute, und da der spekulative
+Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
+Hegel selbst erkannt hatte. (Vorwort zum System der erworbenen
+Rechte.)
+
+Aus diesen Ausfhrungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem
+Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fut. Er steht Hegel bereits
+viel unabhngiger gegenber als im Heraklit, aber er hlt doch
+nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der
+Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen
+Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form
+der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der
+Zurckfhrung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung
+und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen
+Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem
+Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, da es sich bei den
+Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische
+Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die
+Realisationen historischer Geistesbegriffe, lt dagegen die Frage
+nach den Umstnden, unter denen diese Geistesbegriffe sich
+entwickelten, nach den materiellen Verhltnissen, deren Ausdruck sie
+sind, ganz unberhrt. Ja, er dreht das Verhltnis sogar um und will
+im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich
+rein Positive und Historische nur notwendiger Ausflu des
+jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist. So mu er
+naturgem, auch bei dem grten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen
+Folgerungen gelangen.
+
+Als das groartigste Beispiel, an welchem diese urschliche
+Abhngigkeit des angeblich rein Positiven und Historischen von den
+historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet
+Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des
+Werkes, der den Titel trgt: Das Wesen des rmischen und germanischen
+Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung. Die Strke dieser
+Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchfhrung
+des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glnzenden Darstellung.
+Durch alle hierhergehrigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den
+Gedanken zu verfolgen, dem rmischen Erbrecht liege der Gedanke der
+Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde,
+whrend im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne
+Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade
+das sei, was vom rmischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: wahres
+Familienrecht. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt
+die Schwche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie
+ist, bleibt an der Oberflche haften, durchwhlt diese zwar wieder und
+immer wieder, lt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter
+liegt, bleibt total unberhrt. Woher kommt es, da das rmische Erbrecht
+die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrckt? Von der rmischen
+Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt
+es, da das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der Idee der
+germanischen Familie. Welches ist die rmische Unsterblichkeitsidee?
+Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der
+germanischen Familie? Die sittliche Identitt der Personen, die zu
+ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes
+oder die Liebe hat. Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns
+im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklrung, warum
+diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen
+konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die
+Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Rmer und Germanen aus
+deren wirklichen Lebensverhltnissen selbst zu erklren, als die letzte
+Quelle des Rechts erscheint berall der Volksgeist. Dabei verfllt
+denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit
+Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er
+unterscheidet zwar zwischen rmischem und germanischem Volksgeist, aber
+er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoe des rmischen Volkes
+und konstruiert einen, ein fr allemal -- das ganze Jahrtausend von der
+Grndung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des rmischen Weltreichs
+-- magebenden rmischen Volksgeist, der sich zum -- ebenso
+konstruierten -- germanischen Volksgeiste etwa verhalte, wie Wille
+zu Liebe.
+
+Allerdings darf nicht bersehen werden, da zur Zeit, wo Lassalle sein
+System der erworbenen Rechte schrieb, die eigentliche
+Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der
+rmischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen
+lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen
+Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, da
+er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, da er sie nicht
+einmal richtig stellte.
+
+Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich
+durch Morgans epochemachende Untersuchungen ber die Gens (Sippe) ist
+gengend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der
+verschiedenen Vlker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die
+Rmer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als
+die germanischen Stmme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit
+eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der
+Barbarei durchzumachen; der bergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von
+der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten
+noch in Gentilverbnden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden
+Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor:
+ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein
+Ding der Unmglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat
+die Liebe -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem
+altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Rmern war dagegen schon vor
+Abschaffung des sogenannten Knigtums die alte, auf persnlichen
+Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf
+Gebietseinteilung und Vermgensunterschied begrndete, wirkliche
+Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an
+Boden und Auflsung der blutsverwandtschaftlichen Verbnde als
+wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das rmische Testament
+erwchst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen
+rmischen Volksgeists, sondern als ein Produkt derselben
+Entwicklung, die den besonderen rmischen Volksgeist schuf, der das
+Rmertum zur Zeit der Zwlftafelgesetzgebung[12] erfllte. Wenn die
+Rmer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt
+das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem
+die symbolische Handlung -- die Willensbertragung -- die Hauptsache,
+der substantielle Inhalt derselben -- die Vermgensbertragung --
+reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch
+weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Vlker berhaupt alle
+wichtigen konomischen Handlungen in religise Akte; es sei nur an die
+Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der
+Grenzmarken usw. erinnert. Was wrde man von einem Historiker sagen,
+der den rmischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausflu der
+besonderen Natur des rmischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer
+speziell rmischen Idee hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten
+cker Nebensache, der Begriff der Endlichkeit die Hauptsache gewesen
+sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des
+Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes
+Terminus zurckfhren wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den
+Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der
+Testamente bei den Rmern bezeichnet, in der rmischen Mythologie den
+letzten Grund dieser Rechtsschpfung erblickt.[13]
+
+Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie
+unlogischen Behauptung, da, wenn das rmische Zwlftafelgesetz fr den
+Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem
+nchsten Agnaten (Verwandte mnnlicher Linie) und, falls kein Agnat
+vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, da das Testament
+auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das
+Intestaterbe aber erst nachtrglich, subsidir, eingefhrt worden sei.
+Tatschlich zeigt gerade das Zwlftafelgesetz, obwohl es die
+Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung
+an. Es konstatiert zuerst den neueingefhrten Rechtsgrundsatz der
+Testierfreiheit, da derjenige erben soll, dem der Erblasser
+testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein
+Testament da, so tritt das frhere Erbrecht wieder in Kraft, die
+urwchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nchste Agnat und dann die
+Gens, der ursprngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut
+erscheint auf den zwlf Tafeln als letztes, weil es als das lteste das
+umfassendste ist, und als solches naturgem die letzte Instanz bildet.
+Wie erknstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus
+hervor, da er sich, um seine Theorie von dem, auf den Begriff des
+Willens aufgebauten rmischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal
+gezwungen sieht, zu behaupten, da den Agnaten nicht die Idee der
+Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde
+liegt und die Agnaten als die durch das Band der Gewalt vermittelte
+Personengemeinschaft bezeichnet. Als glubige Althegelianer haben die
+alten Rmer mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz den tiefen
+Satz der spekulativen Logik verwirklicht, da der nicht ausgedrckte
+Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat
+den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen
+Organisation derselbe verwirklicht ist. Das Testament, die
+Testierfreiheit, ist danach lter als der rmische Staat, aber das
+Intestaterbe ist vom Staat eingefhrt, der Staat hat eines schnen
+Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidirerben eingesetzt,
+und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentitt, sondern in ihrer
+Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der
+Willensidentitt.
+
+Wir wissen heute, da sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben,
+da es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat,
+die sie vorher nicht besa, sondern da er ihr vielmehr eines der
+Rechte, eines der mter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen,
+ihre Funktionen immer mehr eingeschrnkt hat, da erst mit der Lockerung
+des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat mglich
+wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.
+
+Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mute er, wie alle
+Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm ber das Wesen des
+ursprnglichen rmischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu
+falschen Schlssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit nherzukommen,
+als seine Vorgnger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese.
+Bemht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren,
+schneidet er sich jede Mglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu
+erkennen. Der berhmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beilufig ebenfalls
+Hegelianer -- hatte rmisches Intestaterbe und Testamentserbe als
+miteinander kmpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei
+Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine
+historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu
+erklren versucht. So fehlerhaft diese Erklrung, so richtig ist der ihr
+zugrunde liegende Gedanke, da es sich hier um einen grundstzlichen
+Gegensatz handelt und da die gegenstzlichen Rechtsbegriffe auf
+verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt
+gerade in ihm einen Rckfall in den Fehler der historischen Schule,
+das aus dem Gedanken Abzuleitende als ein uerlich und
+historisch Gegebenes vorauszusetzen. Und auf der andern Seite erklrt
+er es als einen Grundirrtum, wenn andere Rechtsphilosophen von der
+Auffassung ausgehen, da das rmische Intestaterbrecht seinem
+Gedanken nach wahres Familienrecht sei. Tatschlich ist es wirklich
+nichts anderes. Nur da die hier in Betracht kommende Familie sich
+nicht mit der rmischen Familie deckt, sondern den weiteren
+Geschlechtsverband umfat[14].
+
+Wir knnen auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber
+aus dem Bisherigen schon, da der so kunstvoll ausgefhrte Bau
+Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. So geschlossen und
+streng folgerichtig daher die Beweisfhrung, und so geistreich auch die
+Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er
+mit dem ganzen Buch ber das rmische Erbrecht beweisen wollte, hat er
+nicht bewiesen. Die rmische Unsterblichkeitsidee ist nicht die
+Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des rmischen Testaments,
+sie erklrt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt
+bestehen, auch wenn der religise Hintergrund verschwindet. Und gerade
+in den vielen Formen und Formalitten, von denen die Rmer die
+Rechtsgltigkeit der Testamente abhngig machten, liegt unseres
+Erachtens ein weiterer Beweis, da das Testament nicht, wie Lassalle
+meint, die frhere, sondern umgekehrt die sptere Einrichtung gewesen
+ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das
+rmische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme
+bildete, whrend das Intestaterbe noch die Regel war.
+
+Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie
+zieht, da das Testament nur aus der rmischen Unsterblichkeitsidee --
+der Fortdauer der Willenssubjektivitt nach dem Tode -- zu begreifen
+sei, da es mit dieser begrifflich stehe und falle? Da das moderne
+Testamentsrecht, nachdem die rmische Willensunsterblichkeit der
+christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des
+nicht mehr auf die Auenwelt bezogenen, sondern des in sich
+zurckgezogenen Geistes gewichen sei, nichts als ein groes
+Miverstndnis, eine kompakte theoretische Unmglichkeit sei? Dies
+fhrt uns zurck auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite,
+trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist.
+
+Der erste Teil des Systems der erworbenen Rechte fhrt den
+Untertitel Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der
+Gesetze. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen
+Grundsatz zu ermitteln, der ein fr allemal die Grenze anzeigen soll,
+unter welchen Umstnden und wie weit Gesetze rckwirkende Kraft haben
+drfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoen. Mit anderen
+Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder
+Recht aufeinanderstoen (kollidieren), das erstere und wann das
+letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als erworbenes zu
+respektieren, wann es ohne weiteres der Rckwirkung unterworfen sein
+soll.
+
+Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gergte Fehler der
+Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, whrend alle ihre
+Vorzge: die Schrfe des begrifflichen Denkens, das Verstndnis --
+innerhalb der bezeichneten Grenzen -- fr das geschichtliche Moment,
+verbunden mit revolutionrer Khnheit in der Verfolgung eines Gedankens
+bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung
+gelangen. So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als
+bei der Untersuchung ber das Wesen des rmischen Erbrechts. Wie hoch
+oder gering man immer die Errterung solcher rechtsphilosophischen
+Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, da
+Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise lst, da sowohl der
+Jurist wie der Revolutionr dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist
+gewi eine respektable Leistung.
+
+Lassalle stellt zunchst folgende zwei Stze als Normen auf:
+
+a) Kein Gesetz darf rckwirken, welches ein Individuum nur durch die
+Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.
+
+b) Jedes Gesetz darf rckwirken, welches das Individuum ohne
+Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das
+Individuum also unmittelbar in seinen unwillkrlichen, allgemein
+menschlichen oder natrlichen oder von der Gesellschaft ihm bertragenen
+Qualitten trifft, oder es nur dadurch trifft, da es die Gesellschaft
+selbst in ihren organischen Institutionen ndert.
+
+Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbrgerlichen
+Befugnisse der Angehrigen des Landes ndert, tritt sofort in Kraft,
+lt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher
+ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberhrt, auch wenn diese
+Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das
+zur Volljhrigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhht,
+so verlieren alle Personen ber 21 und unter 25 Jahren sofort die an die
+Volljhrigkeit geknpfte Handlungsfhigkeit, die sie bisher besaen,
+denn sie besaen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die
+Rechtsgeschfte, die sie vor Erla des Gesetzes, gesttzt auf die ihnen
+bisher zuerkannte Volljhrigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue
+Gesetz nicht zurck. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch
+individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein
+erworbenes Recht.
+
+Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist
+nicht unter allen Umstnden der Rckwirkung entzogen. Das Individuum
+kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern,
+insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen
+Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen. Jedem Vertrage sei von
+Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das
+in demselben fr sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange
+Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht
+berhaupt als zulssig betrachten wird. Die alleinige Quelle des
+Rechts, fhrt Lassalle aus, ist das gemeinsame Bewutsein des
+ganzen Volks, der allgemeine Geist. Durch Erwerbung eines Rechts
+knne sich daher das Individuum niemals der Einwirkung des
+allgemeinen Rechtsbewutseins entziehen wollen. Nur ein solches
+Individuum wrde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten knnen,
+welches, wenn dies denkbar wre, nun und niemals ein Recht weder
+erwerben noch ausben und haben wollte. Es lt sich vom
+Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst
+desselben fr selbstherrlich fr alle Zeiten und gegen alle knftigen
+zwingenden und prohibitiven Gesetze erklren. Nichts andres als
+diese verlangte Selbstsouvernitt des Individuums liege in der
+Forderung, da ein erworbenes Recht auch fr solche Zeiten fortdauern
+soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulssigkeit ausschlieen. Wenn
+also der ffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt
+ist, den Fortbestand eines frheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft,
+Hrigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und
+Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit,
+fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschlieen, so
+knne dabei von irgendwelcher Krnkung erworbener Rechte ... gar
+nicht die Rede sein. So seien denn auch die Dekrete der berhmten
+Nacht vom 4. August 1789, durch welche die franzsische
+konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft
+herflieenden Rechte aufhob, von jeder Rechtsverletzung und
+Rckwirkung frei gewesen. Es gab da nichts zu entschdigen. Ein
+Recht der Entschdigung, fhrt Lassalle treffend aus, auch da noch
+anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom ffentlichen
+Bewutsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist,
+heie vermge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als
+Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem ffentlichen
+Geiste einen Tribut fr seine Fortentwicklung aufzuerlegen.
+Von einer Entschdigung knne nur da die Rede sein, wo nicht das
+Rechtsverhltnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung
+aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von
+Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphre
+des Privatrechts in die des ffentlichen Rechts bergefhrt werden.
+Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die franzsischen Versammlungen
+nach 1789 durchgngig mit der wahrhaften Logik des Begriffs
+innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preuische Gesetz vom
+2. Mrz 1850 ber die Regulierung und Ablsung der gutsherrlichen
+und buerlichen Verhltnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts
+als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewutsein
+verordnete Vermgensverletzung der rmsten Klassen zugunsten der
+adeligen Grundbesitzer, d. h. logisch-konsequent nichts als ein
+Raub[15].
+
+Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte,
+keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten ber die Vergangenheit und die
+aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil ber die
+Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle,
+der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. Was
+aus dem ersteren folge, sei vielmehr, da jede Zeit autonom sei, keine
+Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine
+rechtlich verpflichtet sein knne, in ihr selbst noch fortwirken zu
+lassen, was ihrem Rechtsbewutsein widerspricht, und von ihr also von
+jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut
+wrde. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, fhrt er
+weiterhin aus, da ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen,
+in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrckt
+habe. Denn zum Begriff des Rechts gehrt nur, da der Volksgeist einen
+geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphre,
+d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umstnden
+nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatschliche
+Zertrmmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.
+Diesen Grundsatz finde man schon bei den rmischen Juristen, und die
+franzsische Gesetzgebung whrend und nach der franzsischen Revolution
+habe ihn von neuem besttigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent
+recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionre, es
+ratifizieren mssen, wenn er die franzsische Revolution in ihren
+rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms,
+datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgnge in
+Preuen und weist nach, wie im Gegensatz zur franzsischen Jurisprudenz
+das preuische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen ber das
+durch die Mrzrevolution von 1848 geschaffene und in der preuischen
+Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrcklich anerkannte neue
+Rechtsbewutsein, da alle Preuen vor dem Gesetze gleich sind und
+Standesvorrechte nicht stattfinden, durch Wortknste hinweggesetzt,
+Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer
+Reaktionskonvent bettigt habe. Vier Jahre, nachdem das System
+erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation
+des Artikel 84 der preuischen Verfassung auch den liberalen
+Kalbskpfen, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel
+Anspruch hatte.
+
+Wir haben gesehen, erworbene Rechte mssen erstens durch individuelle
+Willensaktion vermittelt und zweitens in bereinstimmung sein mit dem
+erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die
+Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der franzsische Konvent im
+Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, da die
+Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw.
+Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die
+seit dem 14. Juli 1789 erffnet worden, so verstie er damit nach
+Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im
+Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. Ventose desselben Jahres in
+Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, da das Gesetz
+nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem groen
+Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien
+entwickelt habe, aber das Prinzip der Nichtrckwirkung nicht einmal
+auch nur in Frage stelle, da unstatthafte Rckwirkung jedoch dann
+eintrete, wenn man diese Grenze berschritte, d. h. das Gesetz auch auf
+die vor dem 14. Juli 1789 erffneten Erbschaften ausdehnte.
+
+Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts
+zurckzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen ber rmisches
+und germanisches Erbrecht hinaus will. Das rmische, auf Testamente und
+Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der Reihen, in welche die
+Willensgemeinschaft sich gliedert, beruhende Erbrecht war danach in Rom
+erworbenes Recht, denn es entsprach dem rmischen Volksgeist, der
+Substanz des rmischen Volkes, nmlich der Idee der Unsterblichkeit
+des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht --
+Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer
+Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der sittlichen Identitt
+der Personen beruhenden Familie, die zu ihrer substantiellen
+Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe
+hat. Die Familie erbt, weil das Eigentum berhaupt nur
+Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber,
+nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, nicht mehr
+auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der
+Familie als durch den prsumierten Willen des Toten berufen,
+sondern auf der Familie als Staatsinstitution, auf dem die
+Vermgenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des
+Staates. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht,
+von dem wir jetzt gesehen haben, da es heutzutage eine kompakte
+theoretische Unmglichkeit sei. Weder Intestaterbfolge noch
+Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern Regelung der
+Hinterlassenschaft von Sozietts wegen. Und Lassalle schliet
+sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das
+Testament nicht in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen
+Satz ausgesprochen habe: Testamenta vero mero jure nullius essent
+momenti, nisi anima esset immortalis -- Testamente aber wren
+mit vollem Recht durchaus null und nichtig, wenn die Seele nicht
+unsterblich wre.
+
+Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklrung, was Lassalle meint,
+wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den
+Satz ausbricht: Und es wird sich vielleicht bald zeigen, da sich aus
+unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere
+Folgerungen ber das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben? Was
+auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, knnen
+der Staat oder die Soziett auch jederzeit ndern, einschrnken oder
+ganz aufheben, wie es dem Bedrfnis der Soziett angemessen erscheint.
+Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der
+erworbenen Rechte nicht eine Zeile gefunden haben, welche auf eine
+Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so
+kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das
+ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrcken wrde -- nach
+dieser Umsetzung schreit.
+
+Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den
+Worten beginnt, da, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft
+gelst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein
+knne und drfe, als die rechtswissenschaftliche Herausringung des
+unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen
+Gedankens?
+
+Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelst?
+
+Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr
+zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu
+sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die
+Darlegung, da im allgemeinen der kulturhistorische Gang aller
+Rechtsgeschichte darin bestehe, immer mehr die Eigentumssphre des
+Privatindividuums zu beschrnken, immer mehr Objekte auerhalb des
+Privateigentums zu setzen. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in
+sehr feiner Entwicklung ausfhrt, mit Recht den grten Wert. Sie ist
+ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk
+begriffsscharfer Logik.
+
+Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn
+sein Beispiel vom Wesen des rmischen und germanischen Erbrechts
+magebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwche dieses
+Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu
+rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen
+Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen
+Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser
+Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem
+und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben
+tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in
+letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen
+Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ndern
+sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird gendert, sobald es mit den
+materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unvertrglich wird.
+Dann entdeckt der Volksgeist, da dieses Erbrecht seinem
+Rechtsbewutsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen brigen
+Rechtseinrichtungen. Der Volksgeist erscheint nur als die letzte
+Instanz, die ber ihren Bestand entscheidet, tatschlich ist er so
+etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind
+die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die
+Verhltnisse, unter denen es die Gegenstnde seines Bedarfs
+produziert[16].
+
+Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtmer der
+alten Juristen und Rechtsphilosophen noch berbietenden Theorie? Der
+Fehler liegt daran, da er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto
+greren Schaden fr seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der
+Sphre des juristischen und philosophischen Begriffs bleibt. Aus der
+begrifflichen Ableitung sollen sich die Dinge erklren, die
+begriffliche Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung blolegen. Die
+Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre
+eigenen Entwicklungsgesetze.
+
+Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tchtiger Jurist. Er brachte von
+Hause aus auergewhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf
+mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affre hatte diese Eigenschaft noch
+strker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen
+Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu
+verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft
+Glnzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwche.
+Die juristische Seite berwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die
+sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt
+sich schon hier im System der erworbenen Rechte, es bildet die
+Schwche dieses Werkes, es sollte sich aber auch spter in seiner
+sozialistischen Agitation zeigen.
+
+Das System usw. sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in
+Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwrts, bleibt dagegen
+in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. Das ist
+um so merkwrdiger, als der Schritt, der geschehen mute, um die
+Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, lngst
+angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle smtlich kannte.
+1844 hatte Karl Marx in den deutsch-franzsischen Jahrbchern in einem
+Aufsatz, der obendrein den Titel fhrt: Zur Kritik der Hegelschen
+Rechtsphilosophie, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift La
+misre de la philosophie ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx
+und Engels im Kommunistischen Manifest das Beispiel seiner Anwendung
+geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859
+erschienenen Schrift Zur Kritik der politischen konomie unter
+ausdrcklichem Hinweis auf den ersterwhnten Aufsatz, geschrieben:
+Meine Untersuchung -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung
+bildete -- mndete in dem Ergebnis, da Rechtsverhltnisse wie
+Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der
+sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern
+vielmehr in den materiellen Lebensverhltnissen wurzeln ... Es ist
+nicht das Bewutsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
+gesellschaftliches Sein, das ihr Bewutsein bestimmt. Und obgleich
+Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am System arbeitete,
+obwohl er sich Marx gegenber in den begeistertesten Ausdrcken ber
+es uerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die
+im Sinne des Vorstehenden zu deuten wre. Soll damit ein Vorwurf
+gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wre im hchsten Grade
+abgeschmackt. Wir fhren es an zur Kritik seines Standpunktes,
+seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die
+ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen
+Auseinandersetzung mit Marx ber die im System der erworbenen Rechte
+aufgestellten Theorien des Erbrechts.
+
+Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, da sich Marx sofort gegen diese
+auflehnen mute, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im
+direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen
+Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor,
+da die, brigens nicht lange, brieflich gefhrte Debatte sich im
+wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, da das Testament
+nur aus der rmischen Mythologie, der rmischen Unsterblichkeitsidee, zu
+begreifen sei, und da die konomische Bourgeoisentwicklung niemals fr
+sich allein das Testament habe entwickeln knnen, wenn sie es nicht
+schon im rmischen Recht vorgefunden htte. Und es ist ganz
+charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die
+konomische Entwicklung beziehen, Lassalle schlielich immer wieder mit
+juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. Die grundstzliche
+Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in
+dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen knnen, zum
+sprechendsten Ausdruck.
+
+Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen
+geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das System der erworbenen
+Rechte eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst fr denjenigen,
+der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, hchst anregende und
+genureiche Lektre.
+
+
+Funoten:
+
+ [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit
+ derjenigen Rechtsgrundstze, die durch die philosophische
+ Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der
+ Rechtsverhltnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen
+ angeborenes, ihr natrliches Recht gelten sollen. Es werden daher
+ vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende
+ Begriffe gebraucht.
+
+ [11] Vgl. Fr. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums
+ und des Staats. Im Anschlu an Lewis H. Morgans Forschungen. 1.
+ Aufl. S. 93.
+
+ [12] Um das Jahr 450 v. Chr.
+
+ [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, da das Aufkommen des
+ Ahnenkultus bei allen Vlkern mit dem bergang vom Mutterrecht zum
+ Vaterrecht zusammentrifft.
+
+ [14] brigens brauchen auch die Rmer das Wort familia nicht blo
+ zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden
+ Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls fr den mehr oder
+ minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des rmischen
+ Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrcklich zwischen
+ der familia im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im
+ weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle
+ diejenigen gehren ... die aus demselben Haus und derselben gens
+ hervorgegangen sind. Fr Lassalle ist die betreffende Stelle ein
+ weiterer Beweis, da das rmische Intestaterbe -- kein Familienerbe
+ gewesen sei. Denn, sagt er u. a., man wird doch ... das Erbrecht
+ der Gentilen nicht als ein >Familienrecht< ausgeben wollen!
+
+ [15] Auch gegen die Art, wie in Preuen bei der Aufhebung von
+ Grundsteuerfreiheiten usw. Entschdigungen von der Volksvertretung
+ erpret wurden, sagt Lassalle manches krftige Wort. Wenn eine
+ Staatsregierung, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der
+ preuischen Regierung eingebrachten und solche Entschdigungen
+ stipulierenden Entwurf -- die unbegreifliche Schwche hat, einen
+ solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundstzlich
+ auf das Souvernittsrecht des Staates, und wenn eine Kammer
+ pflichtvergessen genug sein knnte, aus Rcksicht auf diese
+ Schwche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so wrde sie
+ wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hrigkeit
+ des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren. Was
+ htte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert htte, noch nach
+ dreiig Jahren werden in Preuen solche Schwchen und solche
+ Pflichtvergessenheit berechtigte nationale Institutionen sein!
+ Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, da,
+ als in England die Kornzlle aufgehoben wurden, die Tories nicht die
+ Schamlosigkeit gehabt haben, sich aus ihren jetzt unspekulativ
+ gewordenen Gterankufen ein Ersatzrecht gegen den ffentlichen
+ Geist zu drehen! Htte er dreiig Jahre lnger gelebt, so wrde er
+ erfahren haben, da was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war,
+ als das richtige praktische Christentum.
+
+ Aber welche Ironie der Geschichte, da die Aufgabe, die Neuauflage
+ des Systems der erworbenen Rechte zu besorgen, gerade Lothar
+ Bucher zufallen mute. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten
+ Ausgabe, nur seine Berufsttigkeit habe ihn verhindert, den
+ Nachweis zu versuchen, wie das System in den Gesetzberatungen der
+ letztverflossenen zehn Jahre htte benutzt oder erprobt werden
+ knnen. Tatschlich schlagen die meisten der dafr in Betracht
+ kommenden Gesetze der ra Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins
+ Gesicht.
+
+ [16] Man mu sich freilich das Verhltnis nicht gar zu mechanisch
+ vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen knnen die
+ religisen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem
+ Begriff des Volksgeistes zusammenfat, ihrerseits wiederum einen
+ groen Einflu auf die Gestaltung der Produktionsverhltnisse
+ ausben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung
+ hindern oder verlangsamen. Schlielich sind es doch immer die
+ Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich
+ hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung
+ zugrunde liegen.
+
+ [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es ein
+ Meisterwerk, das ihn zur hchsten Bewunderung hingerissen habe.
+
+
+
+
+Der preuische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das
+Arbeiterprogramm.
+
+
+Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee,
+in Berlin ein demokratisches Blatt im groen Stil zu grnden. Wie er
+ber die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie
+er danach drstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in
+Deutschland einwirken zu knnen. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV.
+eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle
+daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt
+wren, nach Deutschland zurckzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches
+Blatt herauszugeben. In meinem vorletzten Brief, schreibt er unterm
+11. Mrz an Marx, fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der Knig strbe
+und Amnestie eintrte, zurckkommen wrdet, hier ein Blatt
+herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nmlich fr
+diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden
+Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein groes Blatt
+herauszugeben. Wrdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein,
+herzukommen? Und wieviel Kapital wre zu einem groen Blatte
+erforderlich? Wrde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu
+aufbringen knnte? Oder wieviel? Es wre mir lieb, wenn Du mir
+darber schriebst, denn ich denke gern an dies chteau en Espagne!
+In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurck, und
+am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preuen in der Tat eine
+Amnestie herbeigefhrt hatte, schreibt er dringender: Noch einmal
+stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist ntig, um hier ein
+Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der Neuen
+Rheinischen Zeitung wrde eventuell zu solchem Zweck hierher
+zurckkehren?
+
+Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frhjahr 1861 in
+Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die
+ganz merkwrdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben
+und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja stets
+in der Minoritt! Dann aber legte die preuische Regierung die
+Amnestie so aus, da diejenigen politischen Flchtlinge, die durch
+mehr als zehnjhrigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehrigkeit zum
+preuischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs
+ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Antrge
+genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von
+Auslndern berhaupt. Das heit, da das erstere fr die meisten
+Flchtlinge zutraf, da es von dem Belieben der Regierung abhngen
+sollte, jeden davon wieder abschieben zu knnen, dessen Rckkehr
+ihr unbequem war. Ein von Lassalle fr Marx eingereichtes
+Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen
+abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. November 1861 datierten
+Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hie,
+zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Grnde vorhanden sind,
+welche fr die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen
+knnten. Damit war natrlich jeder Gedanke an eine bersiedelung von
+Marx nach Berlin ausgeschlossen.
+
+Im Sptsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Grfin Hatzfeldt
+eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, sehr
+instruktiv fr ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf
+Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er fast alle
+leitenden Persnlichkeiten in den verschiedenen Stdten, die er
+besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift
+Enthllungen ber das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles
+zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr.
+Engels vom 30. Juli 1862 besttigt wird, hat Lassalle bei jenem
+Besuch Garibaldi zu einem militrischen Unternehmen in groem Stil
+gegen sterreich zu berreden gesucht und den Plan dann in London
+auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum
+Diktator aufwerfen, eine groe Armee bilden und mit dieser ber
+Padua noch weiter vordringen, whrend zugleich ein an die adriatische
+Kste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrcken und die
+Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb
+interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener
+Zeit die Schaffung einer revolutionren Situation vorstellte, die
+unter anderm die erstrebte Lsung der deutschen Frage bringen sollte.
+Zu erwhnen ist noch, da Marx Lassalle fr diese Reise nach Italien
+einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischrler
+Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungnstige, aber zweifelsohne
+auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener ber Becker Lassalle
+jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. Die meisten kennen ihn
+gar nicht -- schreibt er ber Becker an Marx zu seiner
+Information -- die, die ihn kennen, halten ihn fr einen Blagueur
+und Bummelfritz, fr einen Humbug ... Gut steht er nur mit Trr, der
+eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche
+liegt. Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx'
+Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. Du weit, wie oft wir in
+die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hten als vor
+unseren Landsleuten. Nun, der wackere Jean Philipp war doch
+jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Grosprecher, sondern
+hatte wiederholt fr die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,
+auf eine Zusammenkunft mit ihm htte es Lassalle also schon ankommen
+lassen knnen. Als er spter den Allgemeinen deutschen
+Arbeiter-Verein ins Leben rief, wute er auch Beckers Adresse zu
+finden[18] und stellte diesem gegenber, der auf irgendeine Weise
+erfahren hatte, welche Redereien ber ihn im Umlauf seien, die Sache
+so dar, als habe Marx aus einer Mcke einen Elefanten gemacht und
+einer harmlosen gelegentlichen uerung ber Beckers Verkehr mit Trr
+eine so schlimme Deutung gegeben.
+
+Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin zurck. Er fand die
+politische Situation wesentlich verndert vor. Der Gegensatz zwischen
+dem Knig von Preuen und dem liberalen Brgertum hatte sich zum
+offenen Konflikt verschrft; bei den Neuwahlen zur Kammer Anfang
+Dezember 1861 war die schwachmtige konstitutionelle Partei durch die,
+eine etwas schrfere Tonart anschlagende Fortschrittspartei verdrngt
+worden. Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres aus der bis dahin
+eine kleine Minderheit in der Kammer ausmachenden Fraktion
+Jung-Litauen entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber die
+Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene Partei. Sie bestand
+aus den verschiedenartigsten Elementen, liberalisierende
+Grobourgeois saen in ihr neben kleinbrgerlichen Demokraten,
+ehemalige Republikaner mit verschwommenen sozialistischen Tendenzen
+neben Mnnern, die beinahe noch kniglicher waren als der Knig
+selbst. In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es Wilhelm I. eben
+mit allen verdorben; nur die Partei der Junker und Mucker und die
+eigentliche Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. Die
+Fortschrittspartei verfgte ber die groe Mehrheit der Kammer und
+ber fast die ganze ffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die
+das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten
+hegten, um sich ihr anschlieen zu knnen, hielten es fr gut, ihr
+zunchst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren
+Kampf mit der preuischen Regierung zu Ende fhren werde.
+
+Lassalle war mit denjenigen Mnnern, die den Mittelpunkt der
+Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit
+zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit groer Emphase in einem
+Brief an Marx fr die kleinbrgerlich-demokratische Berliner
+Volkszeitung eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das,
+wenn auch hufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit
+viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Prefesseln zur
+Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im
+allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter
+verteidigt, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der
+Neuen Rheinischen Zeitung gegenber den blau-revolutionren
+Blttern und Parteien eingenommene fr ebenso theoretisch falsch wie
+praktisch verderblich erklrt. Wir mssen, schrieb er, in
+bezug auf die vulgr-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen
+Nancen ebensosehr die Identitt, als den Unterschied unsres
+sozial-revolutionren Standpunktes mit ihnen festhalten. Blo den
+Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.
+Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt
+haben, alle blo blau-revolutionren Bltter und Parteien den
+reaktionren gleichzustellen, dann erklre ich entschieden, da ich
+diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr berall outrance
+bekmpfen werde. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx
+mit, da er die Weigerung der Volkszeitung, eine lngere Einsendung
+von ihm gegen die Nationalzeitung abzudrucken, als Anla benutzt
+habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. Umgang
+meine ich, denn andres bestand berhaupt nicht. Ich benutze den
+Anla, sage ich. Denn es ist mir eine erwnschte Gelegenheit noch
+mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, da
+ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen
+Gesindel gar kein Verhltnis mglich, und so werde ich denn dies
+benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natrliche
+Gutmtigkeit schon lange getan, aufzuheben. In der vom 27. Mrz
+1861 datierten Vorrede zum System der erworbenen Rechte finden wir
+denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten
+Angriff auf die Wortfhrer der liberalen Bourgeoisie, die den
+Begriff des Politischen in einer geistlosen Verflachung und
+Oberflchlichkeit, in einer Isoliertheit fassen, die sie zwingt,
+sich an bloe Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und
+fr Worte zu kmpfen. Indes blieb Lassalle doch mit andern
+Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin
+selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, da
+politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten.
+Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewhnliche
+Salonlwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder
+radikaltuende Knstler, wie Hans von Blow usw., sich der intimen
+Freundschaft Lassalles rhmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der
+Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar
+unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum
+Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich
+Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862).
+Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft
+zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen reizende
+blondlockige Frau jener Lassalle als einen der intimsten Freunde
+ihres Mannes bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate
+darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: Beilufig, mit dem ganz
+gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen und fgt
+recht bezeichnend hinzu: Glaube etwa nicht, da seine Frau die
+Veranlassung davon bildet.
+
+Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher,
+der nach Erla der Amnestie nach Deutschland zurckgekehrt war und sich
+in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern
+gehrte einer zahmeren zoologischen Gruppe an.
+
+Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit besttigen, da
+dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plnen heimgekehrt war,
+die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknpften.
+Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19.
+Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den
+Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rstow schrieb, in
+langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen
+fr seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf
+eine am Abend vorher gefhrte Debatte mit Lassalle Bezug und fhrt aus,
+da er es zwar fr mglich halte, die bestehende Ordnung -- oder
+Unordnung -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht,
+sie niederzuhalten; mit andern Worten, da die Zeit fr eine
+sozialistische Revolution noch nicht reif sei. Bedenken Sie dazu noch
+eins: da jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit
+hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns
+eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine hnliche Bewegung
+wachrufen wrde. Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er
+nur die lahme Antwort Machiavellis: Politik ist die Wahl unter
+beln. Ein Sieg des Militrs -- d. h. der preuischen Regierung!!
+-- wre ein bel, aber ein Sieg des heutigen sterreich wre
+kein Sieg des reaktionren Prinzips. Dafr stelle er Lassalle als
+Zeugen die Berliner Revue usw. usw. Diese als Einwand gegen
+Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schlu zu, da
+Lassalle eine Revolution erzwingen zu knnen glaubte und im Hinblick
+hierauf sterreich fr den Vorsto ausersehen hatte. Damit war der
+obenerwhnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu
+gewinnen, hinlnglich erklrt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der
+fr gewhnlich in politischen Dingen ein sehr nchterner Rechner war,
+zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von
+franzsischen, ungarischen oder italienischen Revolutionren angeregt
+worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien
+kennengelernt, mu dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rstow um ihn
+wute und, wie Lassalle Marx erzhlte, ihn gebilligt habe, mag er
+auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militrs
+zurckzufhren sein. Es ist schwer zu glauben, da er Lassalles
+eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles
+bereinstimmte.
+
+Jedenfalls berzeugte sich Lassalle daheim, da zu einer Revolution in
+Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionre fehlten. Indes
+war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rckkehr zum
+Studiertisch ntige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an
+die groe national-konomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen,
+verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen,
+was bei dem tglich lebhafter pulsierenden ffentlichen Leben brigens
+nur durchaus erklrlich war.
+
+Die erste Leistung, mit der er zunchst an die ffentlichkeit trat, war
+das gemeinsam mit Bucher verfate Pamphlet Julian Schmidt, der
+Literarhistoriker. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt
+zusammengeschriebenen Geschichte der deutschen Literatur ist, zeigt
+das Vorwort, da mit ihr die liberale Presse berhaupt getroffen werden
+sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm
+mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte Julian der
+Grabowite fglich der Ausdruck werden knnen, welcher den geistigen
+Hhepunkt dieser Partei kennzeichnet. Eine etwas bertriebene Logik,
+wie es berhaupt in der Schrift an bertreibungen nicht fehlt. Auch war
+der Zeitpunkt fr sie nicht sehr gnstig gewhlt, da gerade in jenen
+Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelst und Wilhelm I. ein
+Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War
+nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der
+Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese
+zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage
+gemeinsame Sache mit ihr, so da der Hieb sie in einem Augenblick traf,
+wo sie zufllig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die
+Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe
+Geielung der bei ihm oft in gespreizter Bildungssprache sich
+wichtig machenden Oberflchlichkeit durchaus berechtigt.
+Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schrfe die grten
+Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft flschende und
+tendenzis-gehssige Schmidtsche berkritik. Wo der Setzer das
+Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, whrend Lothar Bucher
+als das Setzerweib vorgefhrt wird.
+
+Eine Einladung, die er im Frhjahr 1862 erhielt, in einem Berliner
+liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwnschte
+Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht mglich war --, den Fhrern
+der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mndlich
+gegenberzutreten. Als Thema whlte er die Frage des Tages: den
+ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung
+hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er ber Verfassungswesen
+betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er
+entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm
+ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind
+Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten
+Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhltnisse ist; ein Volk
+besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkr der
+Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch
+ohne die Verfassung sich gegen sie zu schtzen. Es sei daher der grte
+Fehler gewesen, da man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu
+ndern und vor allen Dingen das Heer aus einem kniglichen in ein
+Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung
+so lange vertrdelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschpft
+hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder
+einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, mge man diese
+Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten
+Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen --
+d. h. als dem Bestreben entsprungen, die tatschlichen Verhltnisse
+weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. Das Frstentum, meine
+Herren, heit es am Schlu, hat praktische Diener, nicht
+Schnredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wnschen
+wren.
+
+Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar
+richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie
+trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die
+bersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hie, die
+Partei aber -- ein Teil der Fhrer berhaupt nur, der andere jedenfalls
+zunchst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu fhren wnschte.
+Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der
+Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im groen
+und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den
+Zeitpunkt fr eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch
+Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen
+Grnde, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen,
+dieser Ansicht. Fr den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion,
+da man fr die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese
+verletzte, fr das Recht gegen die Macht kmpfte, eine viel
+gnstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene
+Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen
+Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich
+wenigstens alle moralischen sichern.
+
+Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder
+Fortschrittler -- ja, jeder vernnftige Mensch berhaupt unterschreiben
+konnte, war er daher doch den Fhrern der Fortschrittspartei hchst
+unangenehm, whrend die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hnde
+rieb. Ganz offen bejubelte ihn die Kreuz-Zeitung, das Organ der
+Junker und Mucker. Nicht nur, da es ihr berhaupt angenehm war, wenn
+der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch
+deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage
+zwischen Knigtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil
+dadurch ihre Position als einzig zuverlssige Sttze des Thrones eine
+um so befestigtere wurde. Man mu nicht vergessen, da die
+Neue ra Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron
+der Hohenzollern von der allzu lstig gewordenen Vormundschaft der
+ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenber
+dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mute diese dagegen dem
+Knig als das unbedingt kleinere bel erscheinen.
+
+Lassalle lie den Vortrag, den er noch in drei weiteren
+fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, da die
+fortschrittliche Whlerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- auf
+mehrfaches Andringen in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die
+Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei ber
+die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich
+unter diesen Verhltnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter
+entwickeln werde.
+
+Ebenfalls im Frhjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im
+Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel
+Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: ber den
+besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der
+gegenwrtigen Geschichtsperiode. Auch diesen Vortrag hatte er vorher
+sorgfltig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht
+einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus --
+unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen
+Reden. Eine ebenso klare wie schne Sprache, gedrungene, flssige,
+nirgends berladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz
+fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre
+formellen Vorzge, whrend sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit
+einigen Einschrnkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die
+Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte
+nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umstnden, unter denen
+sie gehalten wurde, angepate Umschreibung des Kommunistischen
+Manifestes bezeichne; sie fhrt in der Hauptsache an der Hand konkreter
+Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in groen Zgen
+bereits vorgezeichnet ist.
+
+Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische
+Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch
+auch, wie das brigens im Vortrag ber Verfassungswesen gleichfalls
+geschieht, die Betonung der konomischen Grundlagen der Bewegung der
+Geschichte in den Vordergrund. Da die Arbeiter vermge ihrer
+Klassenlage in der modernen brgerlichen Gesellschaft die eigentliche
+revolutionre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die
+Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des
+kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des
+Arbeiterprogramms, unter welchem Namen der Vortrag spter in Druck
+erschienen ist. Nur da sich fr Lassalle die Sache sofort wieder in
+juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen
+verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgngig im Vortrage
+selbst vom Arbeiterstand spricht, so knnte man darin eine bloe
+Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie
+Ansto nehmen mchte. Indes es mu Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt
+werden, da er in der Wahl seiner Ausdrcke durchaus nicht leichtfertig
+zu Werke ging; es ist kein bloes Zugreifen nach einer populren
+Redewendung, die ihn vom Arbeiterstand, von einem vierten Stand
+sprechen lt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen
+Vorstellungen. Es ist derselbe Rckfall, der ihn den Begriff des
+Bourgeois nicht etwa von der tatschlichen Machtstellung herleiten
+lt, die der Kapitalbesitz rein vermge seiner konomischen Wirkungen
+und Krfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen
+Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes geniet oder
+beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen
+Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen,
+verwischt er ihn auf solche Weise und lt den Kapitalbesitzer nur dann
+einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung
+eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des Arbeiterprogramm.)
+Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als
+bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal
+der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin.
+Das preuische Dreiklassenwahlsystem, eingefhrt von der
+feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die brgerliche
+Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des
+modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man
+den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Grokapitalisten
+beschrnkt, aber was wird dann aus dem vierten Stand?
+
+Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet
+Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel
+der Abwlzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Da
+jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern
+mglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den
+Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhngig
+macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache
+umgestoen, da gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte
+Wahlrecht am lngsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem
+am strksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, da von den 97
+Millionen Talern, die der preuische Staat im Jahre 1855 aus Steuern
+einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist
+brigens gleichfalls anfechtbar. Er erklrt die 10 Millionen Taler
+Grundsteuer einfach fr eine indirekte Steuer, da sie nicht von den
+Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis
+abgewlzt werde. Das Abwlzen war aber keineswegs eine so leichte Sache,
+solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzlle gegen die Zufuhr von
+auen abgesperrt waren. Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als
+eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche
+von den Grundbesitzern empfunden und bei Veruerungen behandelt worden.
+9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mgen als eine indirekte
+Steuer bezeichnet werden, da aber die rmste Klasse keineswegs die
+meisten Prozesse fhrt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur
+Entlastung des groen Kapitals sprechen, wie immer man sonst ber die
+Justizgebhren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des groen
+Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft.
+Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, da
+sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden
+ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht.
+
+Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von
+Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafr
+anfhrt, da die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen
+Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer
+Konsequenz durchfhre, als dies der Adel im Mittelalter mit dem
+Grundbesitz getan hatte. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in
+Preuen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der
+halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte blo den
+Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten
+Entfaltung gediehen war, um sich zu berzeugen, wie auch ohne die
+kleinen Mittel eines rckstndigen Regierungssystems die Presse, und
+obendrein in noch viel hherem Mae als in Preuen, Privilegium des
+groen Kapitalbesitzes werden kann. So richtig es natrlich war, gegen
+diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es
+wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, da, wo er die
+Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Prewesen darstellen
+will, er hier ausschlielich formal-rechtliche Einrichtungen anfhrt,
+den Einflu der konomischen Faktoren dagegen gnzlich ignoriert.
+
+Und schlielich fhrt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der
+Staatsidee, einen Dithyrambus anzustimmen. Der vierte Stand hat
+eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck
+des Staates als die Bourgeoisie.
+
+Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der
+liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates
+einzig darin bestehe, die persnliche Freiheit des einzelnen und sein
+Eigentum zu schtzen.
+
+Das sei aber eine Nachtwchteridee. Die Geschichte sei ein Kampf
+mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der
+Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns
+befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte
+auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das
+ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt.
+Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu
+vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei
+die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, sein Zweck
+sei, durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen,
+solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie
+als einzelne niemals erreichen knnten, sie zu befhigen, eine Summe
+von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen smtlich als
+einzelnen schlechthin unersteiglich wre. Und weiter sei sein Zweck,
+das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
+Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche
+Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fhig
+ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten. Er sei die Erziehung und
+Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit. So sehr sei dies
+die wahre und hhere Aufgabe des Staates, da sie deshalb seit
+allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch
+ohne seinen Willen, auch unbewut, auch gegen den Willen seiner
+Leiter, mehr oder weniger ausgefhrt wurde.
+
+Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft berhaupt
+haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als
+einzelne befnden, den tiefen Instinkt, da eben dies die Bestimmung
+des Staates sei und sein msse. Ein unter die Herrschaft der Idee des
+Arbeiterstandes gesetzter Staat aber wrde sich diese sittliche
+Natur des Staates mit hchster Klarheit und vlligem Bewutsein
+zu seiner Aufgabe machen und einen Aufschwung des Geistes, die
+Entwicklung einer Summe von Glck, Bildung, Wohlsein und Freiheit
+herbeifhren, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte.
+
+So schn das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an
+einem groen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen
+Vernderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem
+Begriff und Wesen nach als ein fr alle Zeit gleicherweise Gegebenes,
+als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner Idee
+zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft
+erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen
+Anerkennung verholfen werden msse. Der Staatsbegriff ist sozusagen
+ein ewiger. In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer
+Festrede von Boeckh, wo der berhmte Altertumskenner gegen die
+Staatsidee des Liberalismus an die antike Bildung appelliert,
+welche nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes
+geworden sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff
+des Staates sei dahin zu erweitern, da der Staat die Einrichtung
+sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen
+solle. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus
+berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie
+des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so
+weit schiet Lassalle hier selbst ber das Ziel. Der Staat der Alten
+beruhte auf Gesellschaftszustnden, so grundverschieden von denen der
+Gegenwart, da die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig fr die
+Gegenwart magebend sein knnen, wie etwa die Ideen der Alten ber
+die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike
+Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs
+eine auf die Neuzeit bertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die
+Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer modernen Barbarei in
+sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige
+Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt
+es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates
+sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene
+gewesen. Groartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein
+Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfllt worden, ohne den
+jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat
+unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit
+gefrdert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.
+
+Natrlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff
+der Alten unverndert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag
+ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten
+Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der
+Kultus des Staates schlechthin heit der Kultus jedes Staates, und
+wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein
+direktes Eintreten fr den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so
+verhinderte diese doch nicht, da jener Kultus spter von den
+Anwlten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten
+ausgebeutet wurde. Das ist berhaupt die Achillesferse aller auf
+abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, da sie, so revolutionr
+sie auch gedacht ist, tatschlich immer in Gefahr ist, in eine
+Verklrung bestehender oder vergangener Zustnde umzuschlagen.
+Lassalles Staatsidee war die Brcke, die den Republikaner Lassalle
+eines Tages mit den Streitern fr das absolute Knigtum und den
+Revolutionr Lassalle mit den eingefleischten Reaktionren
+zusammenfhrte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten
+eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte.
+
+So enthlt dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen
+Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der spteren
+Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind.
+
+Zum Schlu ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an
+die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus
+ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. Es ziemen
+Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrckten, noch die migen
+Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn
+der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der
+Gegenwart gebaut werden soll!
+
+Lassalle lie, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so
+vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare
+politische Schlufolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei,
+zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch
+sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie lie die ganze, bei einem
+Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen
+und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die
+Broschre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862
+reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen
+Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der
+Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen Aufreizung der besitzlosen
+Klassen zu Ha und Verachtung gegen die Besitzenden. Am 17. November
+beschlo das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am
+16. Januar 1863 kam der Proze in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz
+einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem
+Staatsanwalt und dem Gerichtsprsidenten gleich berlegen zeigte, und
+namentlich den ersteren Spieruten laufen lie, wurde Lassalle doch zu
+vier Monaten Gefngnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens
+den Erfolg, da das Kammergericht die Gefngnisstrafe in eine
+verhltnismig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme
+der Broschre blieb allerdings aufrechterhalten, indes lie Lassalle den
+Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zrich in Neuauflage erscheinen.
+
+Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschren ber den
+Proze in der ersten Instanz -- von denen die erste die
+Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: Die Wissenschaft
+und die Arbeiter), die zweite den stenographischen Bericht ber die
+mndlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des
+erstinstanzlichen Urteils enthlt -- und schlielich auch unter dem
+Titel: Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen, die
+eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende
+Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste
+Verteidigungsrede eine auerordentlich geschickte und wirkungsvolle
+Beweisfhrung dafr, da der Satz in der preuischen Verfassung die
+Wissenschaft und ihre Lehre sind frei sinnlos wre, wenn er nicht das
+Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien
+den breiten Volkskreisen vorzutragen, und da gerade die Arbeiterklasse
+infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natrliche Verbndete der fr
+ihre Freiheit kmpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede ber die
+indirekte Steuer eine ganze konomische Abhandlung mit sehr vielem
+geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit
+Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das
+System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch
+kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem
+brgerlichen Liberalismus zu schrfstem Ausdruck, whrend in der ersten
+Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmchte
+betont wurde. Eine eingehendere Wrdigung dieser Reden findet man in den
+Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier mssen wir vorerst wieder auf
+die Zeit zurckgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war,
+das Frhjahr 1862.
+
+Es ist begreiflich, da der Vortrag als solcher zunchst kein
+besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von
+der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den
+Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der ueren, politischen Tendenz
+nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf
+eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte
+Steuer usw. lieen es auch die fortschrittlich-demokratischen
+Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfllen gegen
+die Regierung spickten, hrten sich diese gewhnlich viel radikaler an
+als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der
+Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Grospurigkeit der
+Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hrer, ob Arbeiter
+oder Brger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von
+auergewhnlichem Radikalismus.
+
+So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der Philosophischen
+Gesellschaft in Berlin war, noch in demselben Frhjahr von dieser dazu
+ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum
+hundertjhrigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu
+halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen
+Radikalismus, der natrlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen
+die leitenden Persnlichkeiten damals Ansto. Da das Brgertum in seiner
+groen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch
+Ideologie treiben.
+
+Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den Demokratischen Studien
+Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm
+jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu
+halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes
+Aufsatzes. Und Lassalle lie sich denn auch die Gelegenheit nicht
+entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen.
+
+Die Rede trgt den Titel: Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des
+deutschen Volksgeistes. Sie ist glnzend, soweit sie Fichtes Stellung
+in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt.
+Weiterhin aber verfllt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche
+Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und
+seine Bedeutung besteht darin, da die Deutschen die hohe
+weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem reinen Geist heraus diesem
+nicht blo eine reale Wirklichkeit, sondern sogar die bloe
+Sttte seines Daseins, sein Territorium, erst zu schaffen. Indem
+hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts
+Geschichtlichem, nichts Naturwchsigem und Besonderem verwachsen,
+kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trgt
+hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur hchsten und
+vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt. Und
+was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt
+habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen
+bewahrheitend, bereits zur Religion geworden und durchbebe unter
+dem populren und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes
+edlere deutsche Herz.
+
+Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des reinen, mit
+nichts Geschichtlichem verwachsenen Geistes hinstellen -- das ging noch
+ber die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit
+groer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgefhrte
+Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie
+einige Bltter schadenfroh berichteten, verlieen die Hrer zum groen
+Verdru Lassalles allmhlich das Zimmer der Festrede, um sich nach dem
+Zimmer des leckeren Mahles zu verfgen. Sie vergaen aber
+hinzuzusetzen, da die Hrerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der
+philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gsten
+zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen
+lediglich des guten Tons halber besuchen.
+
+Lassalle lie auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie,
+zusammen mit dem Julian Schmidt, und dem Vortrag ber
+Verfassungswesen durch Lothar Bucher an Marx. Er habe etwas
+politisch-praktische Agitation beginnen wollen, schreibt er unter dem
+9. Juni an letzteren. So habe ich den Verfassungsvortrag in vier
+Vereinen gehalten. Auerdem einen weit lngeren Vortrag ber den
+Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.
+Es ist dies das Arbeiterprogramm. Ich habe mich jetzt auch
+entschlossen, setzt er hinzu, ihn drucken zu lassen; er ist bereits
+unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir. Im
+weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurck, da
+durch die intensivere Beschftigung mit anderen Dingen in den letzten
+drei Jahren die nationalkonomische Materie in seinem Kopf gleichsam
+fossil geworden sei. Erst wenn alles wieder flssig geworden,
+werde er an die zweite Lektre des Marxschen Buches Zur Kritik der
+politischen konomie gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen
+Besprechung und die Ausfhrung seines eigenen konomischen Werkes --
+welch letztere freilich sehr lange dauern wird. Dieses Programm
+werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im
+Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der
+Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz
+gehen.
+
+Er entschied sich fr das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal
+an Marx, und zwar:
+
+Lieber Marx! Der berbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit
+Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rstow
+gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlssigste Kerl von der Welt.
+C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er
+von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort
+Geldmittel fr 3000 Gewehre aufzutreiben, die er fr die Wehrvereine
+braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wnschenswert dies
+wre. Habe also die Gte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von
+denen er Geld fr diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem
+Ziel fhrenden Vorschub zu tun. Tue Dein Mglichstes.
+
+Die Wahrscheinlichkeit, da ich nach London komme, nimmt zu.
+
+ Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.
+
+Die von Coburg aus organisierten Wehrvereine standen im Lager des
+Nationalvereins, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rstow wollte
+sie offenbar fr Aktionen verwendbar machen, die zeitgem werden
+konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des homme
+d'action, und das groe Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre
+sind eine weitere Besttigung fr das weiter oben von den
+Revolutionsplnen Lassalles Gesagte.
+
+Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und
+einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schlieen die mir
+vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wre aber falsch, daraus
+den Schlu zu ziehen, da es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den
+beiden gekommen wre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber
+wissen wir von Marx, da in den mndlichen Auseinandersetzungen zwischen
+ihm und Lassalle er dem letzteren die grundstzliche Verschiedenheit der
+beiderseitigen Standpunkte rckhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen
+dessen Plne erklrt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach
+Berlin zurckgekehrt war, schlief die Korrespondenz gnzlich ein. Um so
+enger schlo sich Lassalle an Bucher an, der ihn spter auch mit
+Rodbertus in Verbindung brachte.
+
+Im Sptsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preuische
+Regierung der Volksvertretung gegenber eine nachgiebigere Haltung
+einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis pltzlich der
+Knig in schroffer Weise der Kammer erklren lie, da er sich auf keine
+Konzessionen in bezug auf die Verkrzung der Militrdienstpflicht
+einlasse und auch keine Neigung verspre, um Indemnitt fr die
+verfassungswidrige Durchfhrung der Armeeorganisation einzukommen. Die
+Kammer antwortete damit, da sie die Forderung der Regierung, die Kosten
+der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben
+aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der
+Mehrheit zu brechen, berief der Knig an Stelle des Herrn v. d. Heydt
+den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preuens am franzsischen
+Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe
+Betonung der kniglichen Vorrechte war bereits im Einverstndnis mit
+Bismarck erfolgt.
+
+Bismarck, der 1847 im Vereinigten Landtag und 1849 in der
+Preuischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heisporn
+aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum modernen Staatsmann
+entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien ber Bord geworfen,
+um desto wirksamer die Interessen des befestigten Grundbesitzes
+wahrzunehmen, er hatte den vormrzlichen Absolutismus aufgegeben, um
+dem Knigtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern,
+da die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die
+Verantwortung fr die Bedrfnisse und die Politik der Monarchie
+bernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus
+bekannten Regierungssystems bernommen, das, wenn es von Demokratie
+spricht, Regierungsgewalt meint, und von Frsorge fr das Wohl der
+Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der
+Arbeiter im Schilde fhrt. Von der zarischen Diplomatie hatte er
+gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit
+Revolutionren Geschfte machen kann, von der bonapartistischen, wie
+man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpnten Handlung
+beschuldigen mu, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im
+Begriff ist. Als Spezialitt bte er auerdem die Gepflogenheit aller
+geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblffende Aufrichtigkeit an
+den Tag zu legen, um bei der nchsten Gelegenheit mit desto mehr
+Erfolg die Sprache gebrauchen zu knnen, um die Wahrheit nicht zu
+sagen.
+
+Mit dieser Aufrichtigkeit trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem
+wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklrung
+in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch Blut und
+Eisen gelst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das
+Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschlu bestehen, der Regierung
+nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmiges Recht von ihr
+anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklrung, die
+Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.
+
+Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die
+Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, whrend
+die Kammer vorlufig nichts als die ffentliche Meinung auf ihrer
+Seite hatte. Indes, er wute ganz gut, da er sich auf die preuischen
+Bajonette nicht setzen konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der
+auswrtigen Politik, geeignet, die ehemaligen Gothaer, d. h. die
+schwachliberalen Kleindeutschen, fr die Regierung zurckzugewinnen, war
+vorderhand nicht zu rechnen. Er mute also anderwrts Verbndete gegen
+die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen.
+
+Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, da man in Berlin in
+Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen
+Arbeiterkongresses zur Errterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls
+ernsthaft zu betreiben, und da in Zusammenknften, die dieser Frage
+galten, ein beschftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer
+Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die
+Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts ntzten.
+Mit der Selbsthilfe, von der die Liberalen soviel Geschrei machten,
+sei es nichts, nur der Staat knne den Arbeitern helfen. Eichler, der
+behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden
+uerungen ber die Schulzesche Selbsthilfe gemaregelt zu sein, fand
+die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein
+Vorwrts gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen
+Arbeiterkongresses und die Grndung einer selbstndigen
+Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das
+Leipziger Zentralkomitee fr die Einberufung des Kongresses nach
+Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn
+fhlte, rckte er schlielich in der Hitze des Gefechtes mit der
+Erklrung heraus, er wisse ganz genau, da die preuische Regierung
+den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der
+Grndung von Produktivgenossenschaften; er knne mitteilen, da Herr
+von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Grndung einer
+Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die
+Maschinenbauer waren damals, und noch lange spter, in Berlin die
+Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natrlich mten sich die Arbeiter
+dazu entschlieen, der Fortschrittspartei den Rcken zu kehren, die
+eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei.
+
+Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig
+den Arbeiterkongre betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so
+geringe Lust hatten sie, ihnen der preuischen Regierung zuliebe in den
+Rcken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch
+in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner
+auffllig flotten Lebensweise, die zu seiner Arbeitslosigkeit so gar
+nicht pate, auf den Pelz rckte, machte er mysterise Anspielungen auf
+eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da
+er ein hbscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders
+Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildflche und
+tauchte spter als -- preuischer Polizeibeamter auf.
+
+Als 16 Jahre spter, in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878,
+August Bebel die Eichlersche Mission dem inzwischen zum Frsten
+avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von
+sich abzuschtteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung
+fr sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die
+Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen
+auf die Wirkung dieses Kunstgriffs lie er sich zu dem Gestndnis
+verleiten, Eichler habe spterhin Forderungen an mich gestellt fr
+Dienste, die er mir nicht geleistet hatte, und da ihm bei der
+Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, da Herr Eichler im Dienste der
+Polizei gewesen ist und da er Berichte geliefert hat. (Vgl. die unter
+dem Titel Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage
+verffentlichten amtlichen Stenogramme ber die Beratung des
+Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche
+vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger Volksstaat seinerzeit
+einmal drastisch ausdrckte, die aristokratische Vettel entpuppte
+sich als -- das Berliner Polizeiprsidium.
+
+Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag
+vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: Was
+nun? Er beruft sich dort darauf, da die Ereignisse den Ausfhrungen
+in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die Kreuzzeitung, der
+Kriegsminister von Roon und der gegenwrtige Ministerprsident von
+Bismarck htten seine Theorie, da Verfassungsfragen Machtfragen sind,
+besttigt. Gesttzt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich
+ber die Beschlsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun
+weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer
+Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar
+kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht
+der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur
+Wahrheit zu machen sei, da in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden
+wahrhaft konstitutionellen Regierung bestehe. Soll man zu dem Mittel
+der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als
+solche ein wirksames Mittel nur in den Hnden eines Volkes, das, wie das
+englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner
+Seite habe. Sie htte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte,
+einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen werde
+unter den jetzigen Umstnden hoffentlich wohl niemand denken. Das
+einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer msse, sobald sie
+wieder zusammentrete, aussprechen das, was ist. Das sei das
+gewaltigste politische Mittel. Die Kammer msse es der Regierung
+unmglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren.
+Sobald sie wieder zusammentrete, msse sie unverzglich einen Beschlu
+fassen, da sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze,
+es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschlieen der Regierung behilflich
+zu sein, den Schein eines verfassungsmigen Zustandes aufrechtzuhalten,
+und da sie daher ihre Sitzungen auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so
+lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, da die
+verweigerten Ausgaben nicht lnger fortgesetzt werden. Sobald die
+Kammer diesen Beschlu gefat habe, sei die Regierung besiegt. Auflsung
+nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten wrden mit derselben
+Parole wiedergewhlt werden. Ohne Kammer knne sie aber auch nicht
+regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach auen wrden
+so gewaltig darunter leiden, da sie ber kurz oder lang gezwungen sein
+werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gbe es
+aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller
+Ausgaben der Regierung wrden nur Volk und Regierung an die se
+Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlssen gewhnt. Noch
+schlimmer wrde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromi
+einlassen, etwa fr den Preis der Bewilligung der zweijhrigen
+Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um
+die es sich jetzt handle. Je hartnckiger sich die Regierung stelle, um
+so grer werde alsdann ihre Demtigung sein, wenn sie sich gezwungen
+sehen werde, nachzugeben. Um so mehr erkennt sie dann die
+gesellschaftliche Macht des Brgertums als die ihr berlegene Macht an,
+wenn sie erst spter umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen mu.
+Dann aber keinen Vershnungsdusel, meine Herren. Keinen neuen
+Kompromi mit dem alten Absolutismus, sondern den Daumen aufs Auge und
+das Knie auf die Brust.
+
+Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine vershnliche Haltung
+gegenber der Fortschrittspartei ein. Er will der Einigkeit zuliebe
+alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe,
+unterdrcken. Nur die Volkszeitung und ihre Hintermnner, deren
+Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese
+Geistesrmsten trgen durch ihre Versuche, die Regierung in eine
+konstitutionelle umzulgen, einen sehr groen Teil der
+Verantwortung fr den jetzigen Stand der Dinge. Aber Friede, meine
+Herren, der Vergangenheit!
+
+Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und
+wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler wrden auf seinen
+Vorschlag eingehen, oder ob diese Vershnlichkeit nur oratorische
+Floskel war, um ihm spter eine desto schrfere Position gegen die
+Fortschrittler zu verleihen, lt sich schwer feststellen. Es mag beides
+zutreffen. Da er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den
+Fortschrittlern grundstzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher
+gesehen, viele persnliche Beziehungen lieen ihm das sogar als
+wnschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt lie sich bei
+der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen
+Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler
+sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einflu auf ihre Taktik
+einrumen wrden, auf den er Anspruch zu haben glaubte.
+
+
+Funoten:
+
+ [18] Da die Fhrer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht
+ aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die
+ Verffentlichungen R. Reggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im
+ Jahrgang 1888 der Neuen Zeit, S. 458 usf.
+
+ [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Blow sind Mitte der achtziger
+ Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.)
+ So dnn das Bndchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im
+ Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines ber Lassalle dem
+ Frsten Pckler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht
+ einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten
+ Lassalles den Vorwand liefern mu, obwohl bei den meisten aus dem
+ Inhalt das ungefhre Datum leicht festzustellen war. In einem der
+ Briefe ist von Salingers genialer Komposition die Rede. Der
+ Herausgeber, der die Briefe von Hans von Blow selbst erhalten, macht
+ dazu die Note Arbeiterhymne von Herwegh. Da der Name Salinger bzw.
+ Solinger Pseudonym fr Hans von Blow war, wird dagegen nicht einmal
+ angedeutet. Blow hatte die Komposition des Herweghschen Gedichts
+ unter dem Namen Solinger verffentlicht.
+
+
+
+
+Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene
+Antwortschreiben, politischer Teil.
+
+
+Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle
+vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem
+Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut,
+wenn man es so schnell als mglich zum uersten treiben wollte, wenn
+man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn
+weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts brig -- mit einer
+Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch
+nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne
+Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf
+die Tribne in der Kammer auf den famosen passiven Widerstand
+hinaus, ber den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. Durch
+beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und
+drastisch aussprechen, was ist, die ffentliche Meinung ebenso
+wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der
+Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein
+von Recht fr die Auerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war
+ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung
+vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenber dem Recht
+hinzustellen. Ihre Hauptwortfhrer, sagt B. Becker sehr gut,
+waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an
+juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewhnt und den Streit
+der Kammermajoritt mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit
+zu betrachten geneigt.
+
+Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, da er,
+gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach
+der ersten Verfassungs-Broschre, wie es bei Becker heit, schrieb
+Lassalle den Aufsatz Macht und Recht, in welchem er der
+Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm
+ein leichtes, die ganze Lcherlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar
+Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den
+Beweis zu liefern, da ihr Abgott Schwerin, dessen Erklrung, da in
+Preuen Recht vor Macht gehe, sie so laut bejubelten, an einem
+ganzen Dutzend Rechtsbrchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen
+hatte. Es hat kein Mensch im preuischen Staat das Recht, vom
+>Recht< zu sprechen -- ruft er aus -- als die Demokratie, die
+alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht
+festgehalten und sich zu keinem Kompromi mit der Macht erniedrigt
+hat. Und: Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr
+allein wird die Macht sein!
+
+Dieser Kriegserklrung, in Form einer Berichtigung an die radikale
+Berliner Reform eingesandt, verschlo letztere -- fr die Lassalle
+noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre
+Spalten, desgleichen die Vossische Zeitung. Die letztere lehnte auch
+die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn
+als Offenes Sendschreiben in Zrich erscheinen lie. Da die Wahl
+dieses Verlagsortes die pregesetzlichen Bedenken der Vossischen
+Zeitung eigentlich rechtfertigte, kmmerte ihn nicht weiter.
+
+ * * * * *
+
+Zwischen der Verffentlichung des Vortrages Was nun? (Dezember 1862)
+und der Abfassung des Sendschreibens (Februar 1863) liegen wiederum
+zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei
+Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter
+F. W. Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin
+gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit fhrenden Mitgliedern des
+Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen
+Fortschrittsfhrern am 2. November einer groen Arbeiterversammlung
+beigewohnt, in der mit berwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das
+Mandat fr die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu
+bertragen. Der Besuch berzeugte sie, die selbst schon Sozialisten
+waren, da die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen,
+dieser aber und die brigen Fhrer der Fortschrittspartei von einer
+selbstndigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Sptere
+Anfragen bestrkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des
+Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwhnte klassische
+Antwort, die Arbeiter sollten sich als Ehrenmitglieder des
+Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren
+die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch
+auerdem fr keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so
+vortreffliche Kammer zusammengebracht, man knne es also schon noch eine
+Weile mitansehen. Da die vortreffliche, d. h. die oppositionelle
+Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhltnisse war, kam
+den guten Leuten nicht zum Bewutsein.
+
+Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem spteren
+Fortschrittsabgeordneten Ludwig Lwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand
+Lassalle und dessen Vortrag Das Arbeiterprogramm aufmerksam gemacht
+und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht
+denken, wie sehr dies dessen Entschlu bestrken mute, nunmehr das
+Friede der Vergangenheit, meine Herren zurckzunehmen. Als er das
+Sendschreiben Macht und Recht erlie, war bereits zwischen ihm und
+dem Leipziger Komitee verabredet, da dieses ihn in einem offiziellen
+Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten ber die Aufgaben der
+Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend
+erscheinenden Form darzulegen, und da diese Form eben die einer
+Flugschrift sein sollte. Die uerst interessanten damaligen Briefe
+Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in
+Grnbergs Archiv fr die Geschichte des Sozialismus verffentlicht
+worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, da Lassalle, so froh
+er ber die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem
+doch in keiner Weise aufdrngte. Die Leipziger, d. h. die treibenden
+Elemente im Arbeiterverein, wuten sehr gut, worauf sie
+hinauswollten; worber man noch unentschlossen war, das war weniger
+das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es
+war durchaus nicht das Bewutsein seiner eigenen Unklarheit, wie
+Bernh. Becker in seiner Die Wahrheit ber alles stellenden
+Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das
+Komitee veranlate, in einem vom 10. Februar datierten Aufruf an die
+deutschen Arbeiter gleichzeitig fr Beschleunigung, aber gegen
+bereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen.
+Der Kongre sollte mglichst bald stattfinden, aber nicht so bald,
+da nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan
+haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwhnten Aufruf
+erlie, beschlo das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu
+schicken, der auch tags darauf abging:
+
+Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.
+
+ Sehr geehrter Herr!
+
+Ihre Broschre: >ber den besonderen Zusammenhang der gegenwrtigen
+Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes< ist hier berall von
+den Arbeitern mit groem Beifall aufgenommen worden und das
+Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung
+ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche
+Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen
+Assoziationen der groen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt,
+gengend helfen knnen, ob namentlich durch dieselben die Stellung der
+Arbeiter im Staat in der Art verndert werden kann, wie es notwendig
+erscheinen mu. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6)
+hierber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der berzeugung, da das
+Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhltnissen nicht genug
+leisten knne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von
+Schulze-Delitzsch als magebend fr den Arbeiterstand, unter dem wir die
+gedrckteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch
+wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch
+vorgeschlagenen, denkbar wren, um die Ziele der Arbeiterbewegung:
+Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und
+geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner
+Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen:
+
+ Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form
+ Ihre Ansichten ber die Arbeiterbewegung und ber die Mittel, deren
+ dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch ber den Wert
+ der Assoziationen fr die ganz unbemittelte Volksklasse,
+ auszusprechen.
+
+ Wir legen den grten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der
+ angefhrten Broschre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch
+ Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu wrdigen wissen. Wir
+ ersuchen Sie schlielich nur noch um mglichst baldige Erfllung
+ unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der
+ Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gru und Handschlag!
+
+ Leipzig, 11. Februar 63.
+
+ Fr das Zentralkomitee zur Berufung eines
+ Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses
+
+ Otto Dammer.
+
+Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. Mrz 1863 datierte
+Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines
+allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand
+Lassalle.
+
+Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger
+Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation
+Lassalles und die Geschichte des Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins.
+
+ * * * * *
+
+Das Offene Antwortschreiben Lassalles tritt zunchst der Ansicht
+entgegen, da die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekmmern
+htten. Im Gegenteil, sie htten sich durchaus an der Politik zu
+beteiligen, blo drften sie dies nicht in der Weise tun, da sie sich
+als den selbstlosen Chor und Resonanzboden der Fortschrittspartei
+betrachteten. Der Nachweis dafr, da die Fortschrittspartei den
+Anspruch darauf verwirkt habe, sttzt sich im wesentlichen auf das von
+dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern
+nicht berall von gleichmiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf
+Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, da sie nur ....
+das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes
+habe, so verga er, da er selbst es noch im Vortrage Was nun?
+als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des
+Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei
+auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Snde
+anrechnete, da sie
+
+ sich durch ihr Dogma von der preuischen Spitze zwingt, in der
+ preuischen Regierung den berufenen Messias fr die deutsche
+ Wiedergeburt zu sehen, whrend es, mit Einschlu Hessens, nicht
+ eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preuischen
+ in politischer Beziehung zurckstnde, whrend es, und zwar mit
+ Einschlu sterreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung
+ gibt, welche der preuischen nicht noch bedeutend voraus wre.
+
+Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natrlich recht. Die
+Organisation der Arbeiter als selbstndige politische Partei mit eigenem
+Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung
+der politischen Zustnde Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen
+konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom
+Heerbann der gegen den Absolutismus kmpfenden Fortschrittspartei
+abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser
+Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hie die selbstndige
+Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeintrchtigung der
+Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Da sie diese in der Tat zur
+Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei
+selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenber der neuen
+Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches
+Lassalle dieser Bewegung gab.
+
+Wir haben bei Besprechung des Arbeiterprogramms gesehen, welch
+abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff
+Staat verband. Es ist keine bertreibung zu sagen, da er einen
+wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. Das uralte Vestafeuer
+aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene
+modernen Barbaren -- nmlich die Manchesterpartei -- ruft er in der
+Rede Die indirekte Steuer den Richtern des Berliner Kammergerichts
+zu, und hnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor.
+Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin,
+die Ursache von allerhand verhngnisvollen Fehlgriffen. Die
+althegelisch-ideologische Vorstellung vom Staat veranlate
+Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische
+Verehrung des Staats einzuprgen, wo es sich fr sie zunchst noch
+darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst
+loszuwerden. Es hrt sich sehr hbsch an, wenn er im Offenen
+Antwortschreiben den Arbeitern zuruft: Wie, Sie wollten ber
+Freizgigkeit debattieren? Ich wei Ihnen hierauf nur mit dem
+Distichon Schillers zu antworten:
+
+ Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,
+ Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht? --
+
+Freizgigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem
+gesetzgebenden Krper stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr
+debattiert. Tatschlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die
+Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, whrend die Arbeiter sie
+unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizgigkeit und
+Gewerbefreiheit einen verhltnismig untergeordneten Rang auf einem
+Arbeiterkongre einzunehmen hatten, war der, da sie zugleich in hohem
+Grade Forderungen des brgerlichen Liberalismus waren; aber berflssig
+war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in
+Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit ber ihre Bedeutung herrschte.
+
+Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die
+Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen,
+zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig
+wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse fr die politische Aktion
+aufzurtteln, sie zugleich von der Vormundschaft der brgerlichen
+Parteien zu emanzipieren und doch fr die Erkmpfung der demokratischen
+Forderungen zu erwrmen. Und kein Zweifel, da ihm zu jener Zeit diese
+zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge
+selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er
+diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren.
+
+Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu berzeugen,
+wie sie von brgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf
+das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den
+Klassikern der politischen konomie, insbesondere und am schrfsten von
+Ricardo formuliert worden war, das eherne und grausame Gesetz, wonach
+unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche
+Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt,
+der in einem Volke gewohnheitsmig zur Fristung der Existenz und zur
+Fortpflanzung erforderlich ist. Steige er zeitweilig ber diesen Satz,
+so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung
+der Arbeiterbevlkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen
+der Lohn wieder auf den frheren Lohnsatz zurckfalle. Falle er aber
+unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, grere Sterblichkeit
+unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine
+Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Lhne wieder
+stiegen. So tanzten Arbeiter und Arbeitslohn immer um den uersten
+Rand dessen herum, was nach dem Bedrfnis jeder Zeit zu dem
+notwendigsten Lebensunterhalt gehrt, und dies ndert sich nie.
+
+Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen
+Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise
+zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der
+Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese
+vereinzelt blieben, knnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile
+verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein wrden, wrden
+die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie
+als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewnnen. Die Lage
+der Arbeiterklasse knne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes
+konomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des
+Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr
+eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Grndung
+selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die
+erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal
+verfielen, da in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die
+Mitglieder in die widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln
+und Unternehmergesinnungen verwandelte. Die groen Fragen lieen sich
+nur mit groen Mitteln lsen, und darum mten die Assoziationen in
+groartigem Mastabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmige
+Groindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das ntige
+Kapital, bzw. der ntige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei
+durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. Nichts ist weiter entfernt
+von dem sogenannten Kommunismus oder Sozialismus als diese Forderung,
+bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle
+Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergtung
+beibehalten und zu dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, als da
+ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, resp. der erforderliche
+Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird. Der Beruf des Staates sei
+es aber gerade, die groen Kulturfortschritte der Menschheit zu
+erleichtern und zu vermitteln. Dazu existiert er, hat immer dazu
+gedient und dienen mssen. Was aber ist denn der Staat? Und
+Lassalle fhrt die Zahlen der preuischen Einkommensstatistik von
+1851 an, wonach in jenem Jahre 89 Prozent der Bevlkerung ein
+Einkommen unter 200 Talern gehabt hatten, dazu 7 Prozent der
+Bevlkerung ein solches von 200 bis 400 Talern, so da also 96
+Prozent der Bevlkerung in elender, gedrckter Lage sich befnden.
+Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehrt der
+Staat, nicht uns, den hheren Stnden, denn aus Ihnen besteht er! Was
+ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen,
+handgreiflicher als aus dicken Bchern, die Antwort: Ihre, der
+rmeren Klassen, groe Assoziation -- das ist der Staat. Und wie
+den Staat zu der geforderten Intervention vermgen? Dies werde nur
+durch das allgemeine und direkte Wahlrecht mglich sein. Nur wenn die
+gesetzgebenden Krper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten
+Wahlrecht hervorgehen -- dann und nur dann werden Sie den Staat
+bestimmen knnen, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen. Das
+allgemeine und direkte Wahlrecht ... ist nicht nur Ihr politisches,
+es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller
+sozialen Hilfe. Darum mgen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen
+deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die
+Einfhrung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen
+Lndern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der
+Bevlkerung als Magenfrage aufgefat und daher auch mit der
+Magenwrme durch den ganzen nationalen Krper hin verbreitet, so
+werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen wrde.
+Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder
+Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren
+und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach
+rechts noch links, seien Sie taub fr alles, was nicht allgemeines
+und direktes Wahlrecht heit oder damit in Zusammenhang steht und
+dazu fhren kann.
+
+Dies in mglichst knapper Form der Gedankeninhalt des Offenen
+Antwortschreibens und zugleich der Lassalleschen Agitation berhaupt.
+Denn wenn natrlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen
+Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest,
+die Bewegung auf diesen einen Punkt: Allgemeines Wahlrecht behufs
+Erlangung von Staatshilfe fr Produktionsgenossenschaften zu
+beschrnken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, da die
+Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf
+einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu
+behalten, wenn man an die agitatorische Ttigkeit Lassalles den
+richtigen Mastab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn,
+auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen.
+Ausdrcklich verweist Lassalle im Offenen Antwortschreiben auf die
+Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso
+scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu
+haben, wie der Satz von der Magenfrage beweist, der an die Erklrung
+des Chartistenpredigers Stephens erinnert: Der Chartismus, meine
+Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und
+Gabelfrage.
+
+Wenn wir uns nun zunchst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer
+praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation berhaupt nach Lage der
+damaligen Verhltnisse mglich war, so glaube ich die Frage unbedingt
+bejahen zu mssen. Da spter Bismarck, wenn auch freilich nur zum
+Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einfhrte,
+ist fr mich dabei nicht magebend. Allerhand Umstnde htten das
+verhindern knnen, ohne da dadurch die Tatsache umgestoen worden wre,
+da Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt,
+obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preuischen Landtag beibehalten
+wurde, bleibt der Lassallesche Kalkl doch richtig; er entsprach
+durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wute ganz genau,
+da, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele
+Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafr in den Kreisen der
+Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmhlich mit immer scheeleren
+Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Bltter sprachen sich
+bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und auerdem fehlte es,
+wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch
+die er genau ber die Strmungen in den Hof- und Regierungskreisen
+unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht
+nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswrtiger Krieg -- der
+ihr aber auch verhngnisvoll werden konnte -- schlielich kaum etwas
+anderes brig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulsen und
+ein anderes, demokratischeres Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem
+Schritt mute sie sich um so mehr veranlat fhlen, je mehr eine starke,
+von der Fortschrittspartei unabhngige Bewegung bestand, die die
+Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte.
+Gerade im Hinblick auf einen mglichen Krieg mute ihr dies als der
+beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig
+gegen sich im Rcken zu haben[21].
+
+Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also
+Lassalle unzweifelhaft recht. Es war mglich, das allgemeine Wahlrecht
+auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen
+Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht
+nachgeben zu mssen, so wurde damit die Lsung des Verfassungskonflikts
+mindestens noch weiter hinausgeschoben. Seien Sie taub fr alles, was
+nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heit oder damit im
+Zusammenhang steht und dazu fhren kann, heit es im Offenen
+Antwortschreiben. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, wrde
+dieses, das mu man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrcklich
+ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage
+lsen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie
+berhaupt die Erwartungen, die er an es knpfte, in der Sache selbst
+gerechtfertigt?
+
+Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur
+Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus
+nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar whrend der
+Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung
+gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrckt worden durch
+die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das
+allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig
+verhindert, da im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen knnen als
+Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts. Und dabei war die
+Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat
+proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine
+Epoche sozialistischer Propaganda von groartigster Ausdehnung, so da
+nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafr gegeben waren, da sie
+im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik htte
+werden knnen. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch
+das Kaiserreich gestrzt werden?
+
+Wenn Lassalle am Schlu des Arbeiterprogramms sagt, was am
+2. Dezember 1851 gestrzt worden, das sei nicht die Republik
+gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz
+vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten
+Zensus zur Ausschlieung der Arbeiter eingefhrt hatte; die Republik
+des allgemeinen Wahlrechts aber wrde an der Brust der franzsischen
+Arbeiter einen unbersteiglichen Wall gefunden haben, so wiederholt
+er damit ein Schlagwort der kleinbrgerlichen Revolutionre la
+Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur
+verschiebt. Wo war dieser unbersteigliche Wall, als die auf Grund
+des allgemeinen Wahlrechts gewhlte Kammer dieses aufhob? Warum
+hatten die Pariser Arbeiter diesen Staatsstreich der Bourgeoisie
+nicht verhindert?
+
+Htte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so wrde er auf die Tatsache
+gestoen sein, da die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht
+halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche htte
+sttzen mssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht
+entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne
+industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, fr einen
+Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge ber den Haufen zu werfen,
+aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem
+Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf
+die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgnge einzugehen sucht,
+hlt ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite
+wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das konomische packt er
+gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrcken darf,
+juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklren, da er, um den
+Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevlkerung des
+Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung,
+und zwar ausschlielich an sie hlt. Der Streit, der sich damals an
+diese Stelle des Offenen Antwortschreibens knpfte, ist ein
+verhltnismig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentstze
+nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde
+wenig an, die Tatsache, da die groe Masse der Bevlkerung in drftigen
+Verhltnissen lebt, whrend nur eine kleine Minderheit im berflu
+schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle
+damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht
+aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, da Lassalle gar nicht
+bercksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89
+Prozent der Bevlkerung zusammensetzten, als deren groe
+Assoziation er den Staat bezeichnete. Welch groen Bruchteil davon
+Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter
+bildeten, die noch groenteils vllig unter der geistigen
+Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, lt er ganz unerrtert.
+ber die Hlfte der Bevlkerung Preuens entfiel damals auf den
+Ackerbau, die greren Stdte spielten bei weitem nicht die Rolle,
+die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung
+betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wste mit
+vereinzelten Oasen[22].
+
+Was konnte unter solchen Umstnden das allgemeine Wahlrecht an der
+Zusammensetzung der Kammer ndern? War von ihm ein besseres Resultat zu
+erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848
+und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von
+Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich
+gewi sehr zu wnschen. Aber im brigen mute es, gerade je mehr es die
+Wirkung erfllte, die Lassalle von ihm versprach -- nmlich einen
+Volksvertretungskrper zusammenbringen, der das genaue, treue Ebenbild
+ist des Volkes, das ihn gewhlt hat (Arbeiterprogramm) -- die
+Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern.
+Denn so jmmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch
+wenigstens brgerlich-liberal. Lassalle verga, da die drftigen
+Klassen zwar unter Umstnden smtlich revolutionre Truppen stellen,
+aber keineswegs samt und sonders revolutionre Klassen sind, er verga,
+da die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern
+bestanden.
+
+Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen mglich war, so ist doch
+damit noch keineswegs gesagt, da es das, wozu es selbst wieder als
+Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigefhrt haben wrde.
+Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der groen Masse der
+Bevlkerung konnte das Wahlrecht auch zunchst das Gegenteil bewirken,
+statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rckschritts in grerer
+Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren
+aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen
+Wahlrechts, es waren unter ihnen ein groer Teil Ideologen, welche
+gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen
+Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur
+an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger
+Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafr, da
+das allgemeine Stimmrecht nicht notwendig dem Arbeiterstande die
+Staatsgewalt in die Hnde spielt. Es sei gesagt worden, das allgemeine
+Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber zu
+verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar.
+Sind Sie, fragt er, dessen gewi, da hier das Mittel mit
+zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele fhren
+mu? Ich glaube das nicht. Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus
+geht auch hervor, da, beinahe mehr noch als Rodbertus'
+gegenstzliches Urteil ber den Wert der Produktivgenossenschaften,
+sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, da er
+trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen
+Arbeiterverein nicht beitrat[23].
+
+Und wie man sonst auch ber Rodbertus denken mag, seine Motive werden
+auf das Unzweifelhafteste durch den Schlusatz seines Briefes
+charakterisiert, wo er den Arbeitern anrt, obwohl Lassalle recht habe,
+da man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizgigkeit und
+freie Wahl der Beschftigung als selbstverstndlich in ihr Programm
+aufzunehmen, um jeden Reaktionr, der Ihnen schaden knnte, hchst
+wirksam zurckzuscheuchen.
+
+Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus bertrieben, so
+nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die
+er spter tatschlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach
+von vornherein in ihm. Hchst charakteristisch ist dafr eine Stelle aus
+dem teilweise schon frher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20.
+Juni 1859 ber die Frage des italienischen Krieges. Dort heit es:
+
+ Im Anfang, als mit solcher Wut berall das nationale Geschrei
+ eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die >Volkszeitung<
+ (Bernstein, fr mich ein Urreaktionr, ist ihr Redakteur) in einem
+ Leitartikel triumphierend aus: >Will man wissen, was dies Geschrei
+ aller Vlker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine
+ welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von
+ der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.< --
+ Habe ich erst ntig, den urreaktionren Inhalt dieses
+ Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewi nicht! Ein
+ populrer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbrgerlichen
+ Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller
+ Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs
+ auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution
+ hinein wrde die Wirkung dieser Strmung sich bemerklich machen.
+ Wir haben wahrhaftig nicht ntig, diesem gefhrlichsten Feind, den
+ wir haben, dem deutschen Spiebrgerindividualismus, durch einen
+ blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner
+ klassischen Form, in Frankreich, noch neue Krfte zuzufhren.
+
+So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der Volkszeitung verdiente in
+gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt,
+aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische
+Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus,
+whrend die Partei der Volkszeitung auf England, als ihr politisches
+Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht
+reaktionr, oder doch reaktionr nur insoweit, als es eben einseitig
+war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus
+Frankreichs ein Produkt des romanisch-sozialen Geistes sah, ihn mit
+dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine
+reaktionre Seite ganz unbeachtet lie, ist jedoch nicht minder
+einseitig.
+
+So weit ber die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu
+seiner konomischen.
+
+
+Funoten:
+
+ [20] Wohl ein Druckfehler. D. H.
+
+ [21] Wir haben oben, bei Besprechung des Italienischen Krieges
+ gesehen, mit welchem khlen, gar nicht in die Schablone des guten
+ Patrioten passenden Blick Lassalle die Rckwirkung auswrtiger
+ Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend
+ dafr ist auch eine Stelle in der Schrift Was nun?, die schon
+ deshalb hierher gehrt, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag
+ tatschlich nur zwei Lsungen zulie: Entweder Staatsstreich oder
+ Revolution. Anknpfend daran, wie unmglich und unhaltbar die
+ auswrtige diplomatische Stellung der preuischen Regierung wre,
+ wenn sein Vorschlag befolgt wrde, fhrt Lassalle fort:
+
+ Da Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein
+ unpatriotisches Rsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der
+ Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden
+ Krfte in Erwgung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter
+ einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den
+ diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und,
+ gleichviel ob gut oder schlimm, mte sie hiernach schon unbedingt
+ in Rechnung gezogen werden. berdies aber, meine Herren, wie oft
+ habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei
+ historischen Studien mir die groe Wahrheit auf das Genaueste zu
+ vergegenwrtigen, da fast garnicht abzusehen wre, auf welcher Stufe
+ der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen wrden,
+ wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen
+ unter einander ein wirksames Mittel gewesen wre, die Regierung zu
+ Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist
+ die Existenz der Deutschen nicht von so prekrer Natur, da bei ihnen
+ eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr fr die
+ Existenz der Nation in sich schlsse. Wenn Sie, meine Herren, die
+ Geschichte genau und mit innerem Verstndni betrachten, so werden
+ Sie sehen, da die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so
+ riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem brigen Europa
+ vorleuchtende sind, da an der Nothwendigkeit und Unverwstlichkeit
+ unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten
+ wir also in einen groen ueren Krieg, so knnen in demselben wohl
+ unsere einzelnen Regierungen, die schsische, preuische, bayerische
+ zusammenbrechen, aber wie ein Phnix wrde sich aus der Asche
+ derselben unzerstrbar erheben das, worauf es uns allein ankommen
+ kann -- das deutsche Volk!
+
+ Es ist in diesen Stzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man
+ zweierlei nicht vergessen. Erstens, da, ein so wichtiger Faktor
+ des Fortschritts der Vlker die Rivalitt der Regierenden sein kann
+ und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein
+ Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des
+ Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des
+ heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, da ein uerer Krieg zwar
+ ein groes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslschen, es
+ aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schdigen kann,
+ da er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber
+ auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwhnten Beispiel tut
+ Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlusatz und seine Briefe
+ zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine brigens
+ weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekmpfende Tendenz.
+
+ [22] Auf 3428457 selbstttige Personen in der Landwirtschaft
+ kamen damals in Preuen erst 766180 selbstttige Personen in der
+ Fabrikindustrie, die Geschftsleiter und Beamten eingeschlossen.
+
+ [23] Ursprnglich hatte es in Rodbertus' Offenem Brief geheien:
+ Und ich wiederhole, da ich mir auch von den Produktivassoziationen
+ nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die
+ Lsung der sozialen Frage nennt. Auf Wunsch Lassalles wurden aber
+ diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine
+ Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen
+ Form aber notwendigerweise die Arbeiter, wenn sie so schroffen
+ Widerstreit zwischen ihren Fhrern sehen, entmutigen msse.
+ (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.)
+
+
+
+
+Der konomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben.
+
+Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit.
+
+
+Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das
+Beiwort ehern gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24]
+nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode --
+der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden
+Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen
+Groindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten
+Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperitt, der rasch sich
+vollziehenden Steigerung der Produktivitt der Arbeit usw. zum
+mindesten berlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von
+Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestrt
+ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert
+gegenbertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung
+des Arbeitsverhltnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle
+entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so
+hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die
+guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als
+Lassalle.
+
+Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn
+bestimmenden Gesetze, weil er den strksten Schlag gegen die moderne
+Gesellschaft damit zu fhren meinte, da er nachwies, der Arbeiter
+erhalte unter keinen Umstnden seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen
+Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen
+rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch hchst wirksam
+erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der
+Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den
+frheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein ehernes
+Gesetz es verhindert, da der Lohn dauernd unter ein bestimmtes
+Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle
+ausdrcklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam
+hebt, aber doch hebt, so war der Beweis fr die Notwendigkeit der von
+ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen.
+
+Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst spter, und nur
+beilufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit
+einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese
+Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen
+Existenz, die Abhngigkeit des Arbeiters von den in wechselnden
+Zeitrumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von
+bestndigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhltnisse -- der
+schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden
+Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die
+wachsende Unmglichkeit fr den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten
+Abhngigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfllen des industriellen
+Zyklus sich zu befreien, die bestndige Bedrohung mit dem
+Hinausgeworfenwerden aus einer Sphre der Industrie in eine andre,
+tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die
+Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unertrglich
+macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum
+Schlechteren unterscheidet. Die Abhngigkeit des Arbeiters ist mit der
+scheinbaren Freiheit nur grer geworden. Sie ist es, die mit eherner
+Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der
+wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhhe dagegen wechselt
+heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstblichen
+Verhungerungslhnen bis zu Lhnen, die tatschlich einen gewissen
+Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den
+verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils hher, teils aber
+auch geringer als in frheren Produktionsepochen. Beide hngen von sehr
+vernderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu
+Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den grten
+Vernderungen unterworfen, und bestndig ist nur die Tendenz des
+Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhhen, zustzliche Mehrarbeit auf die
+eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.
+
+Dadurch, da Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der
+Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte,
+die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen
+Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat
+der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines
+Abhilfemittels von vornherein angezeigt. Es ignoriert, oder, um Lassalle
+auch nicht Unrecht zu tun, es unterschtzt die Strke und den Umfang der
+Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale
+Rckwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir mssen hier
+wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel.
+Sein Ziel war natrlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel
+aber lie sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich
+organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die
+sich von der Schulzeschen zunchst nur dadurch unterschied, da sie mit
+Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles
+weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der
+freiwilligen Entschlieung jener berlassen -- es wird von ihnen erwartet,
+aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern,
+die sich zu assoziieren wnschten, die erforderlichen Mittel dazu auf
+dem Wege der Kreditgewhrung vorstrecken.
+
+Die Assoziationen einer bestimmten Industrie wrden also, solange sie
+nicht diese ganze Industrie umfaten, mit den bestehenden Unternehmungen
+ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen
+dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche
+Folge auch gegeben, da sich im Schoe der Assoziationen
+Sonderinteressen herausentwickeln muten, da jede Assoziation danach
+streben mute, ihren Gewinn so hoch als mglich zu steigern, sei es auch
+auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit
+Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen
+von mehr oder minder groen Gruppen von Arbeitern. Individuelle
+Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glckschancen muten
+daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn
+und Verlust fr sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie fr andre
+Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gesttzt darauf,
+da 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr
+stark war --, da sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter
+Industrien an den einzelnen Orten zu je einer groen Assoziation
+zusammentun wrden, und sprach sich zweitens im Bastiat-Schulze
+spter sogar dahin aus, da der Staat in jeder Stadt immer nur einer
+Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil
+werden lassen wrde, allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in
+dieselbe offen haltend, aber selbst solche rtlich einheitlich
+organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz.
+Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch groe Assekuranz- und
+Kreditverbnde der Assoziationen untereinander in ihren konomischen
+Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, da diese
+Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war
+fr nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie.
+Sonst mute die berproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft
+sprengen. Und die berproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie
+es oben heit, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die
+Assoziationen offen hielt. Lassalle verwickelte sich da, von seinem
+sozialistischen Gewissen getrieben, in einen groen Widerspruch. Den
+Eintritt offen halten heit die Assoziation zur Aufnahme jedes sich
+meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem Offenen Antwortschreiben
+sollte aber die Assoziation dem Staat gegenber vollkommen unabhngig
+sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle
+der Geschftsfhrung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit
+obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhngigen in ein
+ffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhltnissen staatliches
+Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt
+htte scheitern mssen.
+
+Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist
+folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehrigen
+eines bestimmten Industriezweiges umfaten, unterstanden sie den
+Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja
+gerade die Betriebe fabrikmiger Groproduktion im Auge hatte, die
+zugleich die groen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz
+besteht, besteht auch geschftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den
+Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder
+eine Assoziation, sich der Mglichkeit auszusetzen, da sein Produkt
+jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht
+gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird.
+Konkurrenz und berproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und
+Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine
+Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur mglich
+nach Magabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar
+durch das Monopol. Whrend aber die Konkurrenz in der heutigen
+Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor
+bervorteilung zu schtzen und die Produktionskosten bestndig zu
+senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten
+der Monopolinhaber zu berteuern und den Fortschritt der Technik, wenn
+nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn
+die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die
+Aufhebung des geschftlichen Risikos fr die Assoziationen wrde also im
+Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn berhaupt zu
+verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich
+gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenber die groe
+Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wre ein
+unlsbarer Antagonismus.
+
+In einem sozialistischen Gemeinwesen wre das natrlich leicht zu
+verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der
+subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der
+Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der
+Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf
+gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische
+Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen
+so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die
+Lassalleschen Produktivgenossenschaften wrden sich von den
+Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Gre,
+nicht dem Wesen nach unterschieden haben.
+
+Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu
+durchgebildeter konom war, als da ihm diese schwache Seite der
+Lassalleschen Assoziationen htte entgehen knnen. Wir haben bereits aus
+dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus
+sich in seinem Offenen Brief ber sie hatte uern wollen, und die
+auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich
+deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war.
+Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an
+Rudolph Meyer hervor, und es drfte nicht uninteressant sein, einige
+der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen.
+
+Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:
+
+... Hieran lt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, da
+dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen,
+das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel
+schlechteres, zu weit greren Ungerechtigkeiten fhrendes Grund- und
+Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen
+hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich berfhrt, zu welchen
+Absurditten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen msse
+und (was ihm besonders unangenehm war) da er gar nicht der Schpfer
+dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Ide gnrale de la Rvolution
+entlehnt habe.[25]
+
+Brief vom 24. Mai 1872: Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe
+ich gegen diese Lhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am
+Geschftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie
+Settegast mit Recht sagt -- und mit >Biergeldern< wird die soziale
+Frage nicht gelst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem
+Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schlielich zu einem
+Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum
+liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis wrde
+mich zu weit fhren, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon
+in unserer Korrespondenz getrieben, da er mir in einem seiner
+letzten Briefe schrieb: >Aber, wer sagt Ihnen denn, da ich will, da
+der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehren_ soll!<
+(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter
+an den einzelnen Betrieben wre ein weit bleres Eigentum, als das
+individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer
+Kapitalistenassoziation. ...
+
+Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur
+Verffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber
+kaum anzunehmen, da Rodbertus sich so bestimmt ausgedrckt haben
+wrde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt htte. Mglich, da er
+gerade diesen Brief spter verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht
+nmlich dagegen, da Lassalle sich nicht in der Tat einmal so
+ausgedrckt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von
+den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat fr das
+vorgeschossene Kapital zu zahlen htten. Es liegt also in dem Satz noch
+nicht einmal ein Zugestndnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein
+solches, und zwar ein so starkes, da es zugleich in eine --
+unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlgt,
+findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai
+1863. Dort heit es:
+
+Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, da, wenn dem Arbeiter Boden,
+Kapital und Arbeitsprodukt gehrt[26], von einer Lsung der sozialen
+Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch
+annhernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung
+geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehrt. Bei der lndlichen
+Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein
+Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der
+Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses wei ich
+genau und wrde es, wenn ich mein konomisches Werk schreibe, sehr
+explizit nachweisen.
+
+Im nchsten Brief erklrt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der
+vorstehenden Stze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die
+Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier
+gleichgltigen Zwischensatz lasse ich fort):
+
+Meine uerung: >bei der lndlichen Assoziation wird dann der
+Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben<,
+ist jedenfalls in bezug auf das >mehr< doch leicht zu verstehen. Ich
+verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz
+stattfinden knnte.
+
+Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw.
+ckern wrden doch zunchst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die
+Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen
+Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben.
+
+Allein schon daraus allein, da einer in der Gesellschaft mehr hat als
+sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, da ein andrer weniger haben mu,
+als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns
+dieselbe bereinstimmend (vgl. den Schlu Ihres dritten sozialen
+Briefes) denken, auf die Vergtung seiner Arbeit kommen wrde.
+
+Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgltigen
+Lsung der sozialen Frage, also im Sinne der >Idee<, die ich hier
+immer als Norm und Vergleichungsmastab bei dem >mehr oder weniger<
+unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich lndlich oder industriell
+unter beliebigen Verhltnissen individuell hervorbringen kann,
+whrend ein anderer unter gnstigeren Verhltnissen mit derselben
+Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungnstigeren mit derselben
+Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wre
+der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivitt, der
+bestimmt wird durch das Verhltnis, in welchem mein Arbeitsquantum
+zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht.
+
+Nach dem Schlu Ihres dritten sozialen Briefes knnen Sie das unmglich
+bestreiten.
+
+Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation
+Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall
+sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes
+Arbeitsprodukt.
+
+Soweit Lassalle. Ein Miverstndnis ist hier gar nicht mehr mglich. Die
+Idee, welche Lassalle bei dem mehr oder weniger unterstellt,
+ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der
+Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen
+oder der Gruppe ins Auge fat, und Lassalle war sich durchaus dessen
+bewut, da, solange der letztere den Verteilungsmastab bildet, ein
+Bruchteil der Bevlkerung mehr, der andere aber notwendigerweise
+weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten
+Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter
+Verteilung, zukommen sollte, d. h. da die Assoziationen zunchst
+eine neue Ungleichheit schaffen wrden. Gerade mit Rcksicht darauf
+habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines
+Vorschlages das Wort Lsung der sozialen Frage sorgfltig vermieden
+-- nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern
+aus jenen theoretischen Grnden.
+
+Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, da die
+Ungleichheit bei den lndlichen Assoziationen durch eine
+differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden knne, welche die
+ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hnde des Staats bringen, den
+Arbeitern nur den wirklich gleichmigen Arbeitsertrag lassen soll --
+die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer wrde die
+Bezahlung bilden fr die berlassung der Bodenflche an die
+assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heit -- schon aus
+Gerechtigkeit und Neid von den lndlichen Assoziationen
+leidenschaftlich begnstigt werden. Der Staat aber htte an dieser
+Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, ffentliche
+Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen
+solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, da sobald die
+Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer groen
+Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhren
+und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden
+wrde. Wrde hiermit nicht zugleich gettet werden, was man heut
+berproduktion und Handelskrise nennt?
+
+Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der
+Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthlt keinen
+Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr
+wahrscheinlich, da er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung
+irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der
+Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfllung gehen
+kann, aber nicht notwendigerweise in Erfllung zu gehen braucht,
+solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt
+wird. Und selbst wenn sie in Erfllung ginge, wrde damit noch durchaus
+nicht schlechthin verhindert sein, da die Mitglieder der einzelnen
+Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine grere oder
+unter Umstnden geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
+erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukme. Es
+stnde immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse.
+
+Hren wir noch einmal Rodbertus.
+
+Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel
+des Neuen Sozialdemokrat Bezug, wo ausgefhrt war, da Lassalle der
+weitgehendsten Richtung des Sozialismus angehrt habe, und meint,
+das sei wohl richtig, es sei
+
+ aber auch ebenso richtig, da Lassalle und der (Neue)
+ >Sozialdemokrat< ursprnglich eine Produktivassoziation angestrebt
+ haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nmlich in welcher der
+ Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehren sollte, nur da
+ Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu
+ sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es
+ ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar).
+ Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt,
+ setzt ja das Kapitaleigentum, das >Gehren< voraus. Wie soll also
+ jene >weitgehendste Richtung< mit einer solchen Assoziation
+ vermittelt werden knnen?
+
+Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation
+als provisorische Institution gedacht werden knne, und
+fhrt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: Genug, die
+Produktivassoziation, die Lassalle und der >Sozialdemokrat< in der
+Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als bergangszustand zu jenem
+>weitgehendsten< Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gem,
+wrde er nicht zu allgemeiner Brderlichkeit, sondern zu dem
+schrfsten Korporationseigentum zurckfhren, in welchem nur die
+Personen der Besitzenden gewechselt htten, und das sich tausendmal
+verhater machen wrde, als das heutige individuale Eigentum. Der
+Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben
+niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt
+ziemlich ber eins heraus); weit eher ist gerade das individuale
+Eigentum der bergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum.
+Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die
+Lassalles), nmlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei
+Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die
+Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum
+zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen
+gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem
+Fhrer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes >weitgehendste< Ziel
+anstrebte) und das wei Marx sehr gut. (Briefe usw. von
+Rodbertus-Jagetzow.)
+
+Ich habe Rodbertus so ausfhrlich sprechen lassen, weil er Lassalle
+vielleicht am objektivsten gegenberstand und in seiner Auffassung vom
+Staat usw. sehr viel Berhrungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl
+niemand so eingehend mit Lassalle ber die Produktivgenossenschaften
+diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch
+nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der Lsung der
+sozialen Frage hatte, nmlich den Normalwerksarbeitstag und den
+verhltnismigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der
+Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet,
+wenn er sagt, da diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle
+wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel,
+und weil er es fr unzeitgem hielt, das dem Mob -- worunter er
+den ganzen Tro der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits
+zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte,
+stellte er das ihm ungefhrlicher scheinende Postulat der
+Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf.
+
+Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz ber Franz
+von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er
+listete mit der Idee, wie es in jenem Aufsatz heit, und
+tuschte die Freunde mehr, als die Feinde. Aber er tat es, wie
+Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenber
+Rodbertus erklrt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu
+verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel
+zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schlu ziehen,
+da Lassalle nicht von der Gte seines Mittels durchaus berzeugt
+war. Solche Erklrungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so
+eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie
+sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte uerung in bezug
+auf die Assoziationen Rodbertus gegenber: Kurz, ich begreife nicht,
+wie man nicht sehen knnte, da die Assoziation, vom Staat ausgehend,
+der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren fhrt. --
+Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser
+Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen
+Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel
+schwerwiegender wre, als der eines theoretischen Irrtums.
+
+Lassalle glaubte, da in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit
+der Zweck, dem diese dienen sollten, nmlich die Verwirklichung der
+sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzgen bereits
+enthalten, da hier in der Tat -- worauf er so groes Gewicht legte --
+das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen
+sei. Nun ist ja auch tatschlich die Assoziation im kleinen ein Stck
+Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit,
+und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die
+Staatsmaschinerie als Mittel der konomischen Befreiung der
+Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den
+Zusammenhang mit dem groen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation
+verlorenging, mglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht
+nur keinen Vorwurf machen, sondern mu vielmehr die Einheitlichkeit des
+Gedankens bei ihm im hchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen,
+welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser fr ihn nicht der
+jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustnde
+war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch
+jeweilige historische Einflsse zwar beeintrchtigt, dessen ewige
+wahre Natur aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher
+Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der
+Staatshilfe mehr als eine bloe praktische Maregel zu erblicken
+und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des
+Sozialismus, eine selbstndige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29].
+Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in
+engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen
+Lohngesetzes. Sie fut auf denselben konomischen Voraussetzungen.
+Kurz, es ist hier alles, mchte ich sagen, aus einem Gu.
+
+Aber es gengt noch nicht, da Lassalle an die Richtigkeit seines
+Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, da er ber sein Ziel sich so
+unbestimmt wie nur mglich uerte. Er, der in dem schon zitierten
+Aufsatz ber den Franz von Sickingen so trefflich dargelegt hatte,
+welche Gefahr darin liegt, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung
+andern (>und beilufig eben dadurch hufig sogar sich selbst<) geheim
+zu halten, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen
+sittliche Schuld erblickt hatte, die seinen Untergang herbeifhren
+mute, den Ausflu eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm
+vertretenen Idee, ein Abweichen von seinem Prinzip, ein halbes
+Gebrochensein -- er gerade zuletzt htte sich darauf verlegen
+drfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck
+zuzuspitzen. Die Entschuldigung, da man diesen Zweck dem Mob noch
+nicht sagen durfte, oder da die Massen fr ihn noch nicht zu
+gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen fr das wirkliche
+Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese
+berhaupt verfrht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn
+erlangt, nicht zum Ziele fhren. In den Hnden einer Arbeiterschaft,
+die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag,
+konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als ntzen und muten
+die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden
+Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prtorianer liefern. War aber die
+Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen,
+dann mute dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit
+noch nicht als unmittelbares, ber Nacht zu verwirklichendes Ziel
+hingestellt zu werden, aber nicht nur der Fhrer, sondern auch jeder
+der Gefhrten mute wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und da es
+nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wre dadurch nicht
+mehr vor den Kopf gestoen worden, als es durch den Kampf um das
+Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der
+Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz
+handelt. Individuen, sagt er in dieser Beziehung mit Recht, sind
+zu tuschen, Klassen niemals.
+
+Wem das im Vorstehenden Ausgefhrte doktrinr erscheint, der sei auf die
+Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit
+will ich zum Schlu auf dieses Thema bergehen.
+
+
+Funoten:
+
+ [24] Neue Zeit, Jahrgang 1890/91: Zur Frage des ehernen
+ Lohngesetzes. Die so betitelte Abhandlung ist von mir spter
+ gesondert in das Buch Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes
+ (erster Teil der Sammelschrift Zur Theorie und Geschichte des
+ Sozialismus, Berlin, Ferd. Dmmler) bernommen worden.
+
+ [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc
+ entlehnt -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner
+ Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung
+ zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlgen ein; mit dem ersteren
+ hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbstndigkeit der
+ Assoziation gemein.
+
+ [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen
+ Briefe heit es nicht gehrt. Das nicht beruht aber, wie sich im
+ folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck
+ des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463).
+
+ [27] D. h. als der berschu des Bodenertrags ber einen gewissen
+ Mindestsatz, unter dem Boden berhaupt nicht bewirtschaftet wird,
+ weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung fr die in ihn gesteckte
+ Arbeit abwirft.
+
+ [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlgen von Henry George,
+ Flrscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der
+ Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir frher gesehen haben,
+ jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern
+ mte.
+
+ [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle
+ z. B. in seiner Leipziger Rede Zur Arbeiterfrage den sogenannten
+ Manchestermnnern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, da
+ sie, wenn sie knnten, den Staat untergehen lassen wrden in der
+ Gesellschaft. Tatschlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, da
+ die Manchestermnner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft
+ untergehen lassen wollen.
+
+
+
+
+Grndung und Fhrung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.
+
+
+Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation knnen hier nicht
+dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen
+Werkes annehmen; ich mu mich vielmehr darauf beschrnken, vorderhand
+nur die allgemeinen Zge der Bewegung hervorzuheben.
+
+Das Offene Antwortschreiben hatte zunchst nur zum Teil die Wirkung,
+die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in
+Dsseldorf und andere schreiben: Das Ganze liest sich mit solcher
+Leichtigkeit, da es dem Arbeiter sofort sein mu, als wte er es schon
+jahrelang! Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk,
+sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu
+verfallen, voller Wrme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben.
+Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst berhaupt nicht; nur wo der Boden
+bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft
+ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen
+in Frankfurt a. M., in einigen greren Stdten und Industrieorten am
+Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurckgekehrte politische Flchtlinge
+eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie
+namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus
+der Zeit vor und whrend der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das
+Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf
+lngere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberhrt und
+betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Fhrer der
+Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion.
+
+Was nmlich die Fortschrittspartei in Preuen und auerhalb Preuens
+anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das Antwortschreiben einen
+wahren Sturm erregt -- nmlich einen wahren Sturm der Entrstung, der
+leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so gro vorgekommen, so
+erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und
+nun wurde ihnen pltzlich von links her zugerufen, da sie keinen
+Anspruch auf diesen Titel, da sie sich des Vertrauens, das ihnen das
+Volk bisher entgegengebracht, unwrdig erwiesen htten und da daher
+jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder
+Arbeiter, ihnen den Rcken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung
+vertrgt keine kmpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in
+einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die
+Feindseligkeiten zwischen ihr und der preuischen Regierung hatten
+allmhlich einen Hhegrad erreicht, da eine gewaltsame Lsung des
+Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mute man sich auf das
+uerste gefat machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, da
+die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe,
+hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten knnen, das Volk, das
+politisch denke, stehe einmtig hinter ihr, und in dieser Zuversicht
+hatte sie eine immer drohendere Sprache gefhrt. Denn wenn die
+Fortschrittler auch keine groe Lust hatten, Revolution zu machen, an
+Drohungen mit ihr lieen sie es darum doch nicht fehlen[30].
+
+Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne,
+der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen,
+man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser
+Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte?
+Das hie ihnen Unmenschliches zumuten.
+
+Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr
+Mglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu
+lassen, und die nachtrgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser
+Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist,
+um zu irgendwelcher Betrachtung Anla zu bieten. Die Art der Gegenwehr
+nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: klglich. Da
+die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion
+hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf
+gemacht werden knnte. Denn es lt sich nun einmal nicht bestreiten,
+da Lassalles Antwortschreiben zunchst Wasser auf die Mhle der
+preuischen Regierung sein mute. Statt sich aber darauf zu beschrnken,
+Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine
+starke Position, oder, wie die Englnder es nennen, einen starken
+Fall ihm gegenber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner
+Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und
+entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit
+htte Mitleid erregen knnen, wenn sie nicht zugleich mit einer so
+riesigen Dosis von Selbstberhebung gepaart gewesen wre. Lassalles
+einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte
+getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des
+Staats gegenber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil
+unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die
+platteste Verherrlichung der brgerlich-kapitalistischen
+Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaen sie so sehr
+alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst frher in bezug auf die
+nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben
+hatten, da sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die
+bertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbrgerlichen
+Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen
+ber Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten
+Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszge aus der 1858
+erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausfhrungen Schulzes in
+seinem Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus -- eine
+Zusammenstellung von sechs Vortrgen, die letzten davon bestimmt,
+Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Whrend
+dort es als eine der schnsten Wirkungen der selbsthilflerischen
+Assoziationen bezeichnet wurde, da sie den Unternehmergewinn
+herunterdrcken hlfen, heit es hier, da die Wissenschaft ein
+solches Ding wie Unternehmergewinn gar nicht kenne und also
+auch natrlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und
+Unternehmergewinn. Sie kenne nur a) Unternehmerlohn und b)
+Kapitalgewinn (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenber
+solcher Wissenschaft brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu
+sein, um mit ihr fertig zu werden.
+
+Aber trotz seiner geistigen berlegenheit, trotz seiner packenden
+Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenber nicht den
+Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des Offenen
+Antwortschreibens gleich der der von Luther an die Wittenberger
+Schlokirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits
+erwhnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunchst
+auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in
+Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen
+Arbeitertag des Maingaues eine vierstndige Rede gehalten, in einer
+zum Abschlu derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer
+Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, fr
+das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne
+Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in
+Anwesenheit von Delegierten aus 11 Stdten (Hamburg, Harburg, Kln,
+Dsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und
+Frankfurt a. M.), der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegrndet,
+auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten
+demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte.
+Gem diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische,
+was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den
+Umstand erklrt, da ursprnglich auch an die Grndung eines allgemeinen
+Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen
+gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der
+Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich
+die persnlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten fr
+die Person des Prsidenten, der obendrein auf fnf Jahre unabsetzbar
+sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten
+konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche
+Prsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenber Lassalles
+ausgesprochenem Wunsch auf unvernderte Annahme der Statuten nicht
+durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde
+Lassalle zum Prsidenten erwhlt, und nachdem man ihm noch die Befugnis
+zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen
+Vizeprsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an.
+Er war somit anerkannter Fhrer der neuen Bewegung; diese selbst aber
+blieb auf lngere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhngerschaft
+beschrnkt. Drei Monate nach der Grndung betrug die Mitgliederzahl des
+Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wre das ein gar
+nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz
+andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer
+Propagandagesellschaft, sondern der Fhrer einer Massenbewegung sein.
+Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern.
+
+Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine
+wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war
+das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht
+sechs Wochen alt, da trat der neue Prsident bereits eine mehrmonatige
+Erholungsreise an -- zunchst in die Schweiz, dann an die Nordsee.
+Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht unttig. Er unterhielt eine
+rege Korrespondenz, suchte alle mglichen Gren fr den Verein zu
+gewinnen, wobei er brigens nicht sehr whlerisch vorging, aber gerade
+das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, lie er ruhen.
+Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafr, da der Verein
+wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfgung hatte, obwohl es
+ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begngte sich mit
+gelegentlichen Subventionen an Bltter, wie den in Hamburg von dem alten
+Freischrler Bruhn herausgegebene Nordstern und den in Leipzig von
+einem Eigenbrdler, Dr. Ed. Lwenthal, herausgegebene Zeitgeist,
+womit diese Bltter zeitweise ber Wasser gehalten wurden, ohne
+jedoch deshalb aufzuhren bestndig zwischen Leben und Sterben zu
+schweben.
+
+Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der
+vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den brgerlichen
+Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem
+Verein fern. Ein groer Teil dieser Leute war, wie bereits erwhnt,
+stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium,
+andere wurden durch ein unbestimmtes persnliches Mitrauen gegen
+Lassalle davon abgehalten, sich ffentlich fr ihn zu erklren, wieder
+andere hielten den Zeitpunkt fr sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei
+von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein
+beitraten, lieen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und
+verhielten sich im brigen durchaus passiv. Dafr agitierten zwar andere
+Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse
+hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretr des Vereins, Jul.
+Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Ttigkeit Anhnger fr
+den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den
+Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgltigkeit der
+unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des
+Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem
+Verfassungskampf in Preuen als ein fast unbersteigbares Hindernis, so
+da an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft
+die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel
+unpolitischer Natur, Grndung von Untersttzungskassen usw., das
+Werbegeschft frdern solle.
+
+Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser
+Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den
+Vereinssekretr (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation
+usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, da der
+Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ndern mute. Er wrde
+aufgehrt haben, eine jederzeit disponible politische Maschine
+abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert.
+
+Noch in den Bdern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit
+der er bei seiner Rckkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und
+zwar zunchst am Rhein, wo der Boden sich ihm am gnstigsten erwiesen
+hatte. Es ist dies die Rede Die Feste, die Presse und der Frankfurter
+Abgeordnetentag.
+
+Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in
+Barmen, Solingen und Dsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in
+seiner Agitation. Welche Einflsse whrend der Sommermonate auf ihn
+eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden knnen, indes wird
+man nicht fehlgehen, wenn man auf die Grfin Hatzfeldt und ihre
+Verbindungen schliet. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein
+noch greres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als
+dieser selbst; fr sie ging das Interesse am Sozialismus vollstndig auf
+im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie berhaupt erst
+zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre
+groe Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet,
+die wohl versprachen, seinem persnlichen Ehrgeiz Befriedigung zu
+verschaffen, die aber die Bewegung selbst im hchsten Grade
+kompromittieren konnten. Fr sie war eben die Bewegung Lassalle und
+Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille
+der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigenntzigen Freunde
+sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber
+obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen
+Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbstndigen
+Wirkungskreis, so wirkt ihre Frsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie
+bestrken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und
+Schwchen, sie reizen bestndig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf
+jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als
+der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache fr dieses
+Unrecht, sie hetzen und schren und intrigieren -- alles in bester
+Absicht, aber zum grten Schaden dessen, fr den es vermeintlich
+geschieht.
+
+Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so
+sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf
+Erfahrung berlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab
+er viel auf ihren Rat; er mute doppelt auf ihn wirken, wo er seinen
+Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schlu seiner Laufbahn
+geschriebenen Briefe an die Grfin macht Lassalle dieser gegenber die
+Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des
+Prsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlat habe.
+Das ist sicherlich nicht wrtlich zu nehmen. Lassalle htte wohl auch
+ohne die Grfin das Prsidium angenommen. Aber in solchen Situationen
+lt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was
+man selbst mchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint.
+Die Grfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es
+liegt der Schlu mehr als nahe, da sie es mit Verweisung auf die Dinge
+getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preuens damals
+vorbereiteten. Es sei nur an die Erklrung Lassalles in seiner
+Verteidigungsrede im Hochverratsproze erinnert, da er schon vom ersten
+Tage, wo er seine Agitation begann, gewut habe, da Bismarck das
+allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklrung,
+da, als er das Offene Antwortschreiben erlie, ihm klar war,
+da groe auswrtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es
+unmglich machen, das Volk zu ignorieren. Er stellt es zwar dort so
+hin, als ob dies jeder htte wissen mssen, der die Ereignisse mit
+sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber
+gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die
+Informationen beeinflussen lie, die ihm aus diplomatischen
+Quellen ber die Vorgnge in Regierungskreisen zugingen.
+
+Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttuscht worden, als Lassalle
+selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und
+stillen Diplomatie abgerichtet, mute sie auch jetzt darauf verfallen,
+hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich
+als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an
+Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um
+jeden Preis zu erzwingen, an seinem rcksichtslosen Temperament und
+seinem hochgradigen Selbstgefhl nur zu bereitwillige Untersttzung.
+Inwieweit damals schon die Fden angeknpft waren, die spter Lassalle
+ins Palais des Herrn von Bismarck fhrten, lt sich heute nicht mehr
+feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede
+Die Feste, die Presse usw. fr den Druck niederschrieb, an seinen
+Freund Levy richtete: Was ich da schreibe, schreibe ich blo fr ein
+paar Leute in Berlin, als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst
+beweisen, da an diesen Fden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die
+Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die
+teilweise sehr bertrieben sind, whrend dagegen dem Minister Bismarck
+unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und
+der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so
+meistert hier der Demagoge die ersteren.
+
+Im Juni 1863 hatte die preuische Regierung, nachdem sie den Landtag
+nach Hause geschickt, die berchtigten Preordonnanzen erlassen, welche
+die Verwaltungsbehrden ermchtigten, nach vorheriger zweimaliger
+Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inlndischen Zeitung oder
+Zeitschrift wegen fortdauernder, die ffentliche Wohlfahrt
+gefhrdender Haltung zeitweise oder dauernd zu verbieten. Die
+liberale Presse, ausschlielich in den Hnden von Privatunternehmern,
+hatte daraufhin meist es vorgezogen, whrend der Dauer der
+Preordonnanzen berhaupt nichts mehr ber die innere Politik zu
+schreiben. Das war gewi nichts weniger als tapfer, aber es war auch
+nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es
+hinstellt. Lassalle bersah geflissentlich, da Bismarcks Absicht
+beim Erla der Preordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaten
+Bltter der Opposition geschftlich zu ruinieren, um seine eigene
+oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der
+Begrndung der Preordonnanz hatte es ausdrcklich geheien:
+
+ Die positive Gegenwirkung gegen die Einflsse derselben (d. h. der
+ liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon
+ deshalb den wnschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die
+ meisten der oppositionellen Organe durch eine langjhrige Gewhnung
+ des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden
+ Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu
+ bekmpfen ist.
+
+Wenn also die liberalen Bltter es nicht darauf ankommen lieen,
+verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Mglichkeit,
+andere Bltter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen
+abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maregel wurde also gerade
+durch dies zeitweilige Schweigen ber die innere Politik vereitelt.
+Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. Lassalle
+meint in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich htte verbieten
+lassen, wenn der Spiebrger nicht mehr beim Frhstck seine gewohnte
+Zeitung bekommen htte, dann wrde die Erbitterung ber die
+Preordonnanzen im Volke aufs hchste gesteigert worden sein und die
+Regierung sich gezwungen gesehen haben, nachzugeben. Indes, die
+Erbitterung war nicht minder gro, wenn der Spieer zwar seine gewohnte
+Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag fr Tag am Inhalt derselben
+vordemonstriert wurde, da seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er
+zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.
+
+Zudem war die Preordonnanz eine Maregel, die nicht aufrechtzuerhalten
+war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein
+Provisorium, und die liberalen Bltter hatten gar keine Ursache, whrend
+desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrckt -- mit Ehren
+zu sterben.
+
+Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe
+spiegelten diese Wut natrlich entsprechend wieder. Lassalle drckt das
+so aus, da er sagt: Selbst (!) die reaktionren Bltter wuten
+damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrstung ber dieses Gebaren kaum
+hinreichenden Ausdruck zu geben. Und er zitiert als Beweis die
+Berliner Revue, das Organ des reaktionrsten Muckertums.
+
+Natrlich benutzten die Reaktionre die Finte, ihren Angriffen auf die
+liberale Presse ein sozialistisches Mntelchen umzuhngen, sich zu
+gebrden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen.
+Statt jedoch gegen diese Flschung des sozialistischen Gedankens zu
+protestieren und jede Solidaritt mit ihren Urhebern zurckzuweisen,
+leistete Lassalle dem Spiel der Bismrcker noch Vorschub, indem er ihre
+Blechmnzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab.
+
+Gewi ist die Tatsache, da die Presse heute ein Geldgeschft ist, ein
+groer belstand, ein mchtiger Faktor der Korruption des ffentlichen
+Lebens. Dem ist aber, solange berhaupt das kapitalistische
+Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten
+durch beschrnkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten
+Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die
+Freiheit der Presse ermglicht. Davon aber wollte die preuische
+Regierung nichts wissen, und Lassalle untersttzte ihren Widerstand
+noch, indem er zwar fr volle Prefreiheit eintrat, aber zugleich
+erklrte, da diese ohnmchtig sein wrde, das Wesen der Presse
+umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen wrde,
+Annoncen zu bringen. Mit letzterem wrde die Presse nmlich aufhren,
+eine lukrative Geldspekulation zu sein, und wrden wieder nur solche
+Mnner Zeitungen schreiben, welche fr das Wohl und das geistige
+Interesse des Volkes kmpfen.
+
+Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos
+dieses Mittel wre? Lassalle htte nur seine Blicke ber den
+Grenzbereich des preuischen Staates hinaus nach England und Frankreich
+zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu
+berzeugen. In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen
+eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, whrend in Frankreich
+den Blttern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber
+durch eine hohe Steuer fast unmglich gemacht, auf ein Minimum reduziert
+war. War deshalb die franzsische Presse besser als die englische?
+Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit
+nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem
+Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse fr seine Zwecke
+zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse
+Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel hherem Grade
+dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war.
+
+Immerhin berhrte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine
+Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen ffentlichen
+Lebens bezeichnet werden mu. War der Zeitpunkt auch schlecht gewhlt,
+war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und fr sich bleibt
+die Tatsache, da die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein
+kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die
+Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden mu, soll sie sich vom
+Einflu der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber
+war, was Lassalle ber die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863
+Bismarck zum Trotz abhielten. Er wute doch wohl, da die Feste weiter
+nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die
+Regierung, wie sie in Frankreich und England unter hnlichen
+Verhltnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren,
+so mute er hervorheben, da mit den Festen allein noch nichts getan
+war, da, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die
+Regierung um keinen Schritt gefrdert wurde. Statt dessen beschrnkte er
+sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse ber die Feste zu
+wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren rger zu verbergen suchte,
+noch zu berbieten. Niemand, der die Geschichte der preuischen
+Verfassungskmpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der
+Lassalleschen Rede lesen knnen, ohne sie zu mibilligen.
+
+Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu
+Frankfurt a. M. zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wre
+berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo
+er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, da sie mit den
+deutschen Frsten liebugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen --
+wir haben gesehen, wie er ihnen im Offenen Antwortschreiben das
+Dogma von der preuischen Spitze vorgeworfen und Preuen als den
+reaktionrsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn
+Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel
+getrieben htte, wie die Fortschrittler, nur da er nach der andern
+Seite hin liebugelte. Seine ganze Rede enthlt keine Silbe gegen
+Bismarck und die preuische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe
+direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er lt sie
+mit dem ruhigen Lcheln tatschlicher Verachtung ber die
+Beschlsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis
+aus, er sei ein Mann, whrend die Fortschrittler alte Weiber seien.
+Noch ein Passus der Rede zeugt von der vernderten Frontrichtung
+Lassalles.
+
+Der Fhrer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den
+Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut,
+wieder einmal daran zu erinnern: Die Leidenschaft der Volkspartei und
+die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionren
+Umwlzungen gefhrt. Aber das deutsche Volk sei nicht blo einmtig,
+sondern auch so gemigt bei seinen Ansprchen, da die deutsche
+nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann,
+keine Verantwortung dafr habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte,
+welche, weil keine Reform mehr mglich, zu der Umwlzung greife.
+
+Fr jeden, der lesen kann, ist diese Erklrung eine zwar recht
+lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. Wir
+wollen keine Revolution, o Gott behte, wir waschen unsere Hnde in
+Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und
+dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben. Eine, wenn man wirklich die
+ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider
+zugleich auch sehr gebruchliche Art zu drohen -- so gebruchlich, da,
+wie gesagt, ber den Sinn der Erklrung gar kein Miverstndnis mglich
+war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht
+verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die
+Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern
+um ihnen zu drohen fr den Fall, da es zu einer Revolution oder einem
+Staatsstreich kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn
+von Bennigsen und lt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen:
+Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals
+dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege kme, es den
+Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, da sie bis
+zum letzten Augenblicke erklrt haben: sie wollen keine Revolution!
+Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hnde empor.
+
+Und die ganze Versammlung erhebt in groer Aufregung ihre Hnde,
+heit es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht ber die
+Rede.
+
+Was sollte diese Drohung, dieses Gedenken bedeuten? Es war kaum eine
+andre Auslegung mglich, ab da man die Fortschrittler, wenn nicht
+direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es auf diesem
+oder jenem Wege zum gewaltsamen Zusammensto kommen sollte. Eine solche
+Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die
+Fortschrittler, statt sie vorwrtszutreiben, erst recht kopfscheu zu
+machen.
+
+In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten.
+Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu
+unterbrechen, wurden von exaltierten Anhngern desselben mit
+Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse lste der
+Brgermeister eine halbe Stunde spter die Versammlung auf, worauf
+Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch ber das andere ausbringenden
+Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck
+aufgab, das mit den Worten beginnt: Fortschrittlicher Brgermeister hat
+soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen
+und mehreren Polizisten mit gezogenem Sbel von mir einberufene
+Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelst, und mit
+der Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung schlo.
+
+Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung
+angefhrt werden kann: seine Erbitterung ber die ihm von seiten der
+Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttuschung ber die
+verhltnismig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen
+Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige,
+aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre
+-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt,
+so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend
+geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- da Lassalle, als er
+nach Deutschland zurckkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich
+so ausdrcken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches
+Telegramm htte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn
+einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionr genannt, und der
+seiner inneren berzeugung nach sicherlich sich noch fr einen solchen
+hielt. Wenn nicht andre Erwgungen, so htte das einfachste Taktgefhl
+Lassalle verbieten mssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt
+herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann.
+
+Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflsung
+der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen knnte, so
+folgten ihm bald andre, bei kltester berlegung unternommene Schritte,
+die ebenfalls den politischen Grundstzen, als deren Vertreter Lassalle
+auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem
+in enger Verbindung mit den vorerwhnten Vorkommnissen steht.
+
+Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch
+gemacht haben sollten, waren im Frhjahr 1864 zu mehrmonatigen
+Gefngnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen
+Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten,
+untersttzt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an
+den Knig von Preuen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige
+Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu
+seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, wie wenig entmonarchisiert
+das Volk in Preuen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen
+hatte: Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als
+zu Demokraten, er, der als Fhrer der neuen Bewegung doch vor allem die
+Pflicht hatte, seinen Anhngern das Beispiel demokratischen Stolzes zu
+geben, ermuntert sie, vom Knig von Preuen Begnadigung zu erbetteln.
+Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Fhrer. Am 20.
+April 1864 meldet der Solinger Bevollmchtigte Klings, da gegen
+Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Smtliche
+Hauptmitglieder des Vereins htten sich dagegen ausgesprochen. Die
+beiden von hier Verurteilten gehren zu der entschiedensten
+Arbeiterpartei und wrden, selbst wenn es vier Jahre wren, nicht zu
+bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen
+widerstreitet, Sr. Majestt verpflichtet zu sein.
+
+Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er
+schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erflle ihn mit groem Stolz.
+Aber den Gedanken der Adresse an den Knig gab er noch immer nicht auf,
+sondern suchte nachzuweisen, da diese auch ohne das Gnadengesuch der
+Verurteilten von groem Nutzen sein knne. Es kann, heit es wrtlich,
+vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, da, wenn die Adresse
+von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte
+oben eine -- fr uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche
+man sich um so mehr ermutigt fhlt, bei kommender Gelegenheit an die
+Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein
+Schritt, den man, wie Ihnen der beigefgte Leitartikel der
+ministeriellen Zeitung (die damals verffentlichte Sternzeitung) zeigt,
+oben jetzt gerade wieder hin und her berlegt. Indes auch diese
+Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des
+empfohlenen Schrittes zu berzeugen, und so blieb der Bewegung diese
+Blostellung erspart.
+
+Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurckkehrte, ging er
+zunchst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt fr seine Sache zu
+erobern. Er verfate einen Aufruf An die Arbeiter Berlins, lie ihn
+in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter
+den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam
+geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte
+der Berliner fortschrittlichen Presse (Volkszeitung und Reform)
+ber die rheinischen Versammlungen anknpft, war der Erfolg doch
+zunchst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in
+Berlin fanden in kleineren Slen statt und gaben zu allerhand Gesptt
+Anla, und als in der ersten greren Versammlung Lassalle auf
+Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde,
+klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der
+Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der
+Vortrge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen
+bald wieder ab, so da der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis
+auf ber 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864
+kaum noch drei Dutzend Mitglieder zhlte, wovon obendrein ein groer
+Teil Nichtarbeiter waren.
+
+Neben der Agitation beschftigten Lassalle auch sehr stark seine
+Prozesse und sonstigen Kmpfe mit den Behrden. Denn so angenehm dem
+Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen
+die Fortschrittspartei kehrte, so wute es doch sehr gut, da es in
+Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfhriges Werkzeug
+gebrauchen lie. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren
+Behrden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu berschtten.
+Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen
+Drnger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch mrbe zu bekommen.
+Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Dsseldorf lie die Rede
+Die Feste, die Presse usw. konfiszieren und erhob gegen Lassalle
+Anklage auf Verletzung der 100, 101 des Preuischen Strafgesetzbuches
+(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung
+von Anordnungen der Obrigkeit). Der Proze verursachte Lassalle
+unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster
+Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefngnis verurteilt worden war,
+mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefngnis.
+Wegen der Flugschrift An die Arbeiter Berlins erhob die
+Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle
+und lie auch, wie bereits erwhnt, Lassalle in Untersuchungshaft
+nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides,
+Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persnlichen Rachsucht des
+Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr
+vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bs zerzaust
+hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. Mrz 1864 vor dem
+Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht
+weniger als drei Jahre Zuchthaus und fnf Jahre Polizeiaufsicht gegen
+Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat
+lautete, auf Freisprechung und berwies die Behandlung der
+untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verste gegen
+das Strafgesetz der zustndigen Gerichtsabteilung.
+
+Die Verteidigungsrede in diesem Proze ist ein wichtiges Dokument fr
+die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie
+eingehen, haben wir noch der groen sozialpolitischen Arbeit Lassalles
+zu erwhnen, die Ende Januar 1864 die Presse verlie und als sein
+propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden mu. Es ist dies die
+Streitschrift Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der konomische
+Julian, oder Kapital und Arbeit.
+
+Es wurde gelegentlich bereits der Vortrge erwhnt, die
+Schulze-Delitzsch im Frhjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und
+unter dem Titel Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus als
+Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation verffentlichte. Diese,
+aus den plattesten Gemeinpltzen der liberalen konomie
+zusammengesetzten Vortrge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe,
+den auf der Hhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei,
+die in ihm ihren konomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu
+vernichten. Bercksichtigt man, da Lassalle zu systematischen
+konomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment,
+wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem konomischen Werk machen wollte,
+durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man
+auerdem in Betracht, da Lassalle, whrend er den Bastiat-Schulze
+schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten fr die Leitung des
+Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin,
+in diesem Buch einen neuen Beweis fr das auergewhnliche Talent, die
+staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizitt des Lassalleschen Geistes
+zu erblicken. Freilich trgt der Bastiat-Schulze daneben auch aufs
+deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik
+der Popularitt der Schrift zugute kommt, sind die Umstnde, unter denen
+diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so
+grer war, als Lassalle wohl selbst fhlte, da er immer mehr in eine
+falsche Position geriet -- die Enttuschung einerseits, und das
+Bestreben, sich ber diese Enttuschung selbst hinwegzutuschen,
+andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhngnisvoll gewesen. Aber auch
+inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Hhe des Gegenstandes,
+sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein
+nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche
+und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht
+frei von Widersprchen. Als Ganzes genommen hat der Bastiat-Schulze
+jedoch das groe Verdienst, den historischen Sinn und das Verstndnis
+fr die tieferen Probleme der konomie unter den deutschen Arbeitern in
+hohem Grade gefrdert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung
+auf die Hhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen
+Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.
+
+
+Funoten:
+
+ [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war,
+ noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen
+ Eindrcke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- berall wurde
+ in jenen Tagen politisiert, und natrlich gaben wir Knaben nur
+ in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer
+ Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschler gehrten den
+ brgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber
+ die einen wie die andern waren gleich fest davon berzeugt, da eine
+ Revolution kommen mu߫, denn mein Vater hat es auch gesagt. Jede
+ uerung der Wortfhrer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis
+ auf die Revolution gedeutet werden knnte, wurde triumphierend von
+ Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse auf den Knig und
+ seine Minister.
+
+ [31] So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles gegen
+ Schulze-Delitzsch, Bedrfnis und Trieb nach Befriedigung seien
+ nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen fr dieselbe Sache
+ falsch. Beides fllt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs
+ dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darber lustig,
+ da Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und
+ tierischer Arbeit darin erblicke, da die erstere Arbeit fr knftige
+ Bedrfnisse sei, verfllt aber seinerseits in den noch greren
+ Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, da der Mensch mit
+ Bewutsein, das Tier ohne solches ttig sei. Und hnlich an anderen
+ Stellen.
+
+
+
+
+Lassalle und Bismarck.
+
+
+Was Lassalle nach dem Bastiat-Schulze gesprochen und geschrieben
+hat, trgt immer deutlicher die Zge der inneren Ermattung, der
+geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprngliche,
+das natrliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die
+Strke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man
+vergleiche das Arbeiterprogramm mit der Ronsdorfer Rede, die
+Verteidigungsrede Die Wissenschaft und die Arbeiter mit der
+Verteidigungsrede im Hochverratsproze, und man wird das hier Gesagte
+verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrcke treten an
+ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische
+Beweisfhrung, und statt zu berzeugen, verlegt sich Lassalle immer
+mehr auf das berschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern
+vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten
+Erfolgen.
+
+Im Hochverratsproze braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die
+Behauptung der Anklage, da der Hintergedanke seiner Agitation die
+schlieliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit groem Geschick
+das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen bertritt
+zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von
+Wallensteins Tod:
+
+ Wr's mglich? -- knnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?
+ Nicht mehr zurck, wie mir's beliebt?
+
+Es ist merkwrdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation
+um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser
+jene Worte sprach, hnlich war. Auch er hatte, wie der Friedlnder -- um
+sein eigenes Bild zu brauchen -- Dinge getan, welche er deux mains
+verwenden konnte. Er hatte sich nicht damit begngt, die Vorgnge in
+der inneren und ueren Politik objektiv zu studieren, um den gnstigen
+Moment zur Aktion fr seine Plne auszuntzen, er war bereits dazu
+bergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mchte, gegen die er
+kmpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte
+Unterhandlung getreten. Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein
+sagen:
+
+ Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam
+ Nicht ber diese Schwelle noch!
+
+Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch
+innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu
+treiben, die Tat zu vollbringen, weil er nicht die Versuchung von
+sich wies?
+
+Da Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende
+Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck
+hatte, ist heute ber jeden Zweifel sichergestellt. Die langjhrige
+Vertraute Lassalles, die Grfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer
+1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche
+Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern
+derselben unter Hinzufgung der nheren Umstnde mitgeteilt, und als
+August Bebel in der schon erwhnten Sitzung vom 16. September 1878 die
+Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags
+darauf zu, Zusammenknfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte
+nur in Abrede zu stellen, da es sich dabei um politische
+Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gesttzt auf die Mitteilungen
+der Grfin Hatzfeldt, gesagt: Es drehte sich bei diesen
+Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um
+Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die
+Gewhrung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Frst
+Bismarck war fr diesen Plan von Lassalle vollstndig gewonnen, er
+weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung
+des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der
+schleswig-holsteinische Krieg glcklich zu Ende gefhrt worden sei.
+Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen
+zwischen Lassalle und dem Frsten Bismarck, und es war nicht etwa der
+letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich
+ausdrcklich konstatieren mu, Lassalle, der den Bruch herbeifhrte
+und erklrte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu
+knnen. Darauf antwortete nun Bismarck: Unsre Unterhaltungen drehten
+sich gewi auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umstnden
+aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so
+ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung
+einzufhren, bin ich in meinem Leben nicht gekommen. Er habe es mit
+einem gewissen Widerstreben, als Frankfurter Tradition akzeptiert.
+Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er von deren
+Unzweckmigkeit noch heute nicht berzeugt. Nur htten die damals
+eingetretenen politischen Ereignisse die Fortfhrung der in dieser
+Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. brigens habe nicht er,
+sondern Lassalle diese Zusammenknfte gewnscht, ihn brieflich darum
+gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu
+herbeigelassen, Lassalles Wnschen zu willfahren. Was htte mir
+Lassalle bieten und geben knnen? Er hatte nichts hinter sich. In
+allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du
+gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man
+anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen mu, was
+kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als
+Minister htte geben knnen.
+
+Es liegt auf der Hand, da der Mann, der offiziell noch nie gelogen
+hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloen
+Unterhaltung willen wre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und
+wrde dieser nicht den revolutionren Juden wiederholt -- er selbst
+gesteht, da es viermal gewesen sein knne, whrend Sophie Hatzfeldt
+behauptet hatte, da es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche
+gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert
+haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in
+der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche
+nachzulesen, um sich zu berzeugen, wie stark sich das Ministerium
+Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht
+einzufhren, und dazu gab es unter den obwaltenden Umstnden kaum
+einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert
+in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige
+uerungen und knpft daran im weiteren Verlauf die bekannten
+Erklrungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenknfte mit Bismarck
+bekannt geworden, richtig gewrdigt werden knnen:
+
+Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte
+Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung strzen zu wollen!
+
+Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich
+Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung strzen, sondern es
+vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestrzt!
+
+Aber wie? Ohne da ein Tropfen Blutes geflossen, ohne da eine Faust
+zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr
+mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine
+und direkte Wahlrecht oktroyiert.
+
+Die starken Spiele, meine Herren, knnen gespielt werden, Karten auf
+dem Tisch! Es ist die strkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen
+mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene
+Notwendigkeit gegrndet sind.
+
+Und so verkndige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird
+vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die
+Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht
+ist oktroyiert!
+
+Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewut, schon
+an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erla meines
+Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand
+entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffate. Aber wenn es
+auch zweifelsohne richtig ist, da man schon im Winter 1862/63 in
+Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es mglich sei, durch
+eine nderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu
+sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32],
+so wrde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer
+bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben
+und immer wieder darauf zurckgekommen sein, wenn er nicht aus seinen
+Unterhaltungen mit Bismarck die berzeugung gewonnen htte, da, ob nun
+vor oder nach Beendigung des dnischen Feldzuges, diese Oktroyierung
+beschlossene Sache sei.
+
+Mehr glaubwrdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, da es
+zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen
+schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drngen berzeugt hatte,
+da Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt
+unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer
+mglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber da die
+Verbindung noch nicht endgltig abgebrochen war, geht schon daraus
+hervor, da Lassalle fortfuhr, von allen seinen Verffentlichungen usw.
+durch das Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins ein
+Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift
+persnlich an Bismarck bersenden zu lassen.
+
+Ebenso kann man Bismarck auch glauben, da seine Verhandlungen mit
+Lassalle wegen des do ut des zu keinen bestimmten Abmachungen fhren
+konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachtrglich
+protzenhaft mit der Phrase abtut: Was kannst du armer Teufel geben? Er
+hatte nichts, was er mir als Minister htte geben knnen. Bismarck
+hatte es zu jener Zeit gar nicht so ppig, da er nicht jede Hilfe
+brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache
+war nur die, da es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles
+Drngen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Grnde, da
+Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: Sie
+knnen unsre Bevollmchtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. Sie
+knnen sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen,
+whrend wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen ber diesen
+Punkt, aber lgen schickt sich fr uns nicht -- nach seiner Rckkehr
+nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge bertrieb. Er
+wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit
+wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre
+Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darber informiert, wie es
+in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.
+
+Und dann hatte es mit dem Geben auch sonst seine eigne Bewandtnis.
+Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren
+darber, da er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen
+politischen Verbndeten haben wrde, solange dieses Bndnis im
+Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern
+Worten, da Lassalle genau so mit ihm verfahren wrde, wie er mit
+ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden wrde, sobald er das
+von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mute ihn die erste
+Unterredung mit Lassalle berzeugt haben, da dieser nicht, wie
+Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, ein Fisch ohne Grten
+war, sondern ganz gehrige Grten und Stacheln hatte. Mit der
+Aussicht auf ein Pstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da
+nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle
+leicht sehr unbequem werden, also warum sich bereilen? Die Agitation
+Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger
+gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck
+brauchte.
+
+In seiner Verteidigungsrede Die Wissenschaft und die Arbeiter,
+gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklrt:
+
+Kann man bei uns selbst nur sagen, da die Einfhrung des
+Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, da sie dem deutschen
+Brgertum zur Last falle?... Die preuische Regierung ist es, nicht die
+besitzenden Klassen in Preuen, welche fr alle Zeiten und vor allem
+Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten
+Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird. Und: Bourgeoisie und Arbeiter
+sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre
+Unterdrcker -- d. h. also gegen die Regierung.
+
+Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. Mrz 1864 -- ist ihm der
+Verfassungskonflikt in Preuen nur noch der Kampf zwischen dem
+Knigtum und einer Clique. Dieser Clique knne das Knigtum
+nicht weichen, vollkommen wohl aber knne es das Volk auf die
+Bhne rufen und sich auf es sttzen. Es brauche sich hierzu nur
+seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Knigtum ist ursprnglich
+Volksknigtum gewesen.
+
+Ein Louis-Philippsches Knigtum, ein Knigtum von der Schpfung der
+Bourgeoisie knnte dies freilich nicht; aber ein Knigtum, das noch aus
+seinem ursprnglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des
+Schwertes gesttzt, knnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen
+ist, wahrhaft groe, nationale und volksgeme Ziele zu verfolgen.
+
+Das ist die Sprache des Csarismus, und im weiteren Verlaufe seiner
+Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung
+als eine vom Knigtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt.
+Niemand lasse aber gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband
+drehen, an welchem er erwrgt wird, und das ist niemand zu verdenken,
+und daher auch dem Knigtum nicht. Bestndig auf das angebliche
+Recht hingedrngt, habe sich das Knigtum erinnert, da es mehr
+in seiner Stellung lge, sich auf das wirkliche Recht zurckzuziehen
+und das Volk auf die Bhne zu fhren, als einer Clique zu weichen und
+von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband
+winden zu lassen, an dem es erwrgt wird. So wrde er, Lassalle,
+sprechen an dem Tage, wo das Knigtum die Verfassung gestrzt und das
+allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der
+intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte.
+
+Lassalle war bereits so weit, da er nicht nur durch die Tatsache seiner
+Agitation -- was unter Umstnden nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion
+vorbergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die
+Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewi konnte er noch immer mit
+Wallenstein ausrufen:
+
+ Beim groen Gott des Himmels! Es war nicht
+ Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!
+
+Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar
+machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck
+abschtteln zu knnen. In diesem Sinne nannte er auch einmal der
+Grfin Hatzfeldt gegenber Bismarck seinen Bevollmchtigten. Aber
+er verga, da es eine Logik der Tatsachen gibt, die strker ist als
+selbst der strkste individuelle Wille, und da, indem er berhaupt
+um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu
+vertrauen und ausschlielich ihr seine Energie zu widmen, er nach
+seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab.
+
+In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles
+ber die Grundidee seines Franz von Sickingen zurckzugreifen: mit
+der seit seiner Rckkehr aus den Bdern vollzogenen Schwenkung war
+Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz
+als die sittliche Schuld Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es
+ist merkwrdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal
+vorgezeichnet hat. Auch er war auf die sich realistisch dnkende
+Verstndigkeit verfallen, revolutionre Zwecke durch diplomatische
+Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen
+Gegner -- die preuische Regierung -- zu tuschen, aber er tuschte
+tatschlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er
+nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp
+persnlicher Anhnger beschrnkt. Und wie Lassalle von Sickingen
+schreibt, da dieser groe Diplomat und Realist, der alles sorgsam
+vorherberechnet und den Zufall ganz ausschlieen will, gerade dadurch
+zuletzt gezwungen ist, dem zuflligsten Zufall alles anheim zu
+geben, und, whrend die Rechnung auf jene Tuschung durch den
+Anschein des Zuflligen und Unwesentlichen an der bewuten Natur des
+Bestehenden zugrunde gehen mu, die Entscheidung, statt wie er
+wollte, aus den Hnden des vorbereiteten, vielmehr aus denen des
+ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen mu߫[33] -- so sieht
+auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr blo noch mit dem Zufall
+zu rechnen, alles von zuflligen Konstellationen in der inneren und
+ueren Politik abhngig zu machen. Im Vertrauen auf seine
+realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, da beim
+Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler
+lahmzulegen, der die meisten Trmpfe in der Hand -- beim politischen
+Spiel, der ber die meisten tatschlichen Machtfaktoren zu gebieten
+hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war,
+konnte es nicht ausbleiben, da er schlielich mehr Bismarcks, als
+dieser sein Bevollmchtigter wurde.
+
+Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, die
+Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen
+des Knigs von Preuen hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine
+schwchste Agitationsrede, ausschlielich auf den ueren Effekt
+berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwche dieser Rede bewut war,
+zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den berall
+eingestreuten Vermerken ber den Effekt der einzelnen Stze -- Krcken,
+deren ein Vortrag, der an Hand und Fu gesund ist, durchaus entbehren
+kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar
+beeintrchtigen wrden. Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der
+Vorzge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen
+deren Fehler.
+
+Die Rede ist nicht blo inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz
+nach tadelnswerter als alle Migriffe, die Lassalle bis dahin begangen.
+
+Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die
+Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin
+geschickt, um beim Knig von Preuen um Abhilfe gegen die belstnde,
+unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schlielich, da
+es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte,
+auf Veranlassung Bismarcks vom Knig empfangen worden und hatten auf
+ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der Knig habe seine Minister
+angewiesen, eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie mglich ist, schleunig
+und mit allem Ernst vorzubereiten.
+
+Da Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang
+der Deputation von Seiten des Knigs als einen Erfolg seiner
+Agitation hinstellt, wird ihm, so bertrieben es tatschlich war,
+niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere bertreibungen in
+der Ansprache, erklrte sich auch diese aus der Situation Lassalles.
+Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der
+Deputation durch den Knig und den Worten des letzteren eine
+Auslegung, die zunchst nur als eine Reklame fr jenen und dessen
+Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der
+offizisen Zeidlerschen Korrespondenz ber den Empfang der
+Deputation beim Knig und liest gerade die dem Knigtum gnstigste
+Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrcklich
+verzeichnet, mit dem hchsten Nachdruck der Stimme und begleitet
+sie mit der eindringlichsten Handbewegung[34].
+
+In den Worten des Knigs liege, erklrt er, die Anerkennung des
+Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen --
+nmlich, da eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung
+notwendig sei -- ferner, das Versprechen des Knigs, da diese
+Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch
+die Gesetzgebung erfolgen soll, und drittens, da eine
+Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz
+erwhlte Kammer, dem Knige niemals die zu diesem Zwecke
+erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn
+die Sache ohne Geld zu machen wre, auch nur ihre Zustimmung zu
+einem solchen Gesetz erteilen wrde, so sei in dem kniglichen
+Versprechen, innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen
+auch das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden.
+
+Bei diesen Worten lt der Bericht die Versammlung, welche diesem
+ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ...
+zugehrt habe, in einen nicht zu beschreibenden Jubel ausbrechen,
+der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu
+sprechen versuchte.
+
+War der Jubel wirklich so gro, so bewies er, da die Arbeiter Lassalles
+Auslegung des kniglichen Versprechens fr bare Mnze nahmen, das
+schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte.
+
+Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in
+Betracht kamen, diese nur durch mglichst glnzende Ausmalung der
+bisher erzielten Erfolge zur hchsten, begeisterten Ttigkeit fr den
+Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere
+Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine
+in der Kreuzzeitung erschienene Rezension des Bastiat-Schulze,
+die nach Lassalle von zu beachtenswerter Seite kam, als da die in
+ihr an Lassalle gerichteten Fragen htten unbeantwortet bleiben
+drfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes
+ausdrcklich auf die Ronsdorfer Rede und lt die Erwiderung und zwei
+Exemplare der Rede unter Kuvert persnlich an Bismarck senden.
+Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck
+zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der unbeschreibliche
+Jubel sollte Kder fr Bismarck und den Knig sein. Aber niemand
+kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu
+gestalten, da sie den gewnschten Effekt nach oben mache, bewirkte,
+da sie tatschlich einen durch und durch csaristischen Charakter
+erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Csarismus:
+Csarismus in den Reihen der Partei, und Csarismus in der Politik
+der Partei.
+
+Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfhigeres,
+nichts Unintelligenteres, heit es in der Einsendung an
+die Kreuzzeitung, als der unruhige, nrgelnde liberale
+Individualismus, diese groe Krankheit unserer Zeit! Aber dieser
+unruhige, nrgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit,
+sondern wurzelt notwendig und naturgem nur in den Viertels- und
+Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie.
+
+Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage
+angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die
+Stimmen unruhiger, persnlichkeitsschtiger Einzelner wrden hier in
+diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehrt zu werden. Der
+oligarchische Boden allein ist der homogene, mtterliche Boden fr den
+negativen, tzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und
+ihre subjektive, eigenwillige Persnlichkeitssucht.
+
+hnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheien:
+
+Noch ein anderes hchst merkwrdiges Element unseres Erfolges habe
+ich zu erwhnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit
+und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser
+Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein
+epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte,
+da! Dieser groe Verein, sich erstreckend ber fast alle deutschen
+Lnder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines
+Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persnlich bekannt
+oder jemals persnlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis
+zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein >Nein<
+gehrt, und gleichwohl ist die Autoritt, die ihr mir anvertraut
+habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten hchsten Freiwilligkeit
+beruhende!... Wohin ich gekommen bin, berall habe ich von den
+Arbeitern Worte gehrt, die sich in den Satz zusammenfassen:
+Wir mssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer
+zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hnde eines Mannes legen,
+zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das ntige
+Zutrauen haben, damit er aufschlagen knne mit dem Hammer!
+
+Die beiden Gegenstze, die unsere Staatsmnner bisher fr unvereinbar
+betrachteten, deren Vereinigung sie fr den Stein der Weisen hielten,
+Freiheit und Autoritt, -- die hchsten Gegenstze, sie sind auf das
+innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im
+kleinen unserer nchsten Gesellschaftsform im groen darstellt. Nicht
+eine Spur ist in uns von jenem nrgelnden Geiste des Liberalismus, von
+jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von
+welchem der Krper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...
+
+Es liegt diesen Stzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der
+nmlich, da in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen
+Verhltnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf
+die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und da in der Tat schon die
+Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist
+der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, whrend umgekehrt der
+Bourgeois nur unter anormalen Verhltnissen, nicht aber durch die bloe
+Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion
+sich veranlat sieht. Dieser richtige Gedanke empfngt aber durch die
+obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion
+heit noch lange nicht die persnliche Diktatur; wo die Masse ihren
+Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus
+einem revolutionren ein reaktionrer Faktor zu werden. Die persnliche
+Diktatur ist in den Kmpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der
+Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionren
+Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den negativen, tzenden
+Individualismus aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein
+Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefhrdet erscheint. In
+solchen Momenten wird das Schlagwort von der einen reaktionren
+Masse zur Wahrheit und blht, sobald die Strmung sich
+verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich
+unfhig fhlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern
+unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persnlichkeit
+ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser
+Persnlichkeit entgegenzutreten, als unruhigen, nrgelnden
+Individualismus. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den
+letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die
+Partei, die tatschlich am konsequentesten deren Klassenforderungen
+vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren
+Interessen, weil sie durch ihre Nrgelei die staatserhaltende
+Ttigkeit der Regierung beeintrchtige, und so griff im Jahre 1851
+die franzsische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter
+jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum
+Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten
+usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der
+Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloen Hters
+der Ruhe und Ordnung fr die Bourgeoisie zu begngen.
+
+Eine aufsteigende, revolutionre Klasse hat absolut keinen Anla,
+ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das
+Besserwissen-Wollen ihren Fhrern gegenber zu verzichten. Und wir
+haben bei der Solinger Affre gesehen, da, wie sehr auch Lassalle
+den Arbeitern gegenber auf seine hhere Intelligenz pochte, er
+gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und
+krftiges Nein hatte hren mssen, und sicherlich nicht zum
+Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten
+Anla ein ebensolches Nein gehrt -- er sprach, wenn er sich
+rhmte, in dem von ihm geleiteten Verein Autoritt und Freiheit in
+der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen
+Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus.
+
+Zur Ehre Lassalles mu gesagt werden, da er von Anfang an die
+persnliche Spitze fr unerllich gehalten hatte. Zu diesem bloen
+Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedrfnis hinzu. Die Politik, die
+er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzufhren, wenn die Mitglieder
+und Anhnger der Bewegung kritiklos dem Fhrer folgten und ohne Murren
+taten, was er von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen
+des Knigs von Preuen gegenber den schlesischen Webern in einer Weise
+behandelte, da nur noch ein kleiner, ganz beilufiger Vorbehalt den
+Demokraten -- man mchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das
+brige aber auf den reinen Csarismus hinauslief, so muten auch sie
+bereit sein, auf Kommando das Loyalittsmntelchen umzuhngen. Wenn
+eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag,
+so ist es die Tatsache, da sie fr Lassalle unter den gegebenen
+Verhltnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die
+Arbeiter je nach Bedrfnis fr seine jeweiligen Zwecke zur Verfgung zu
+haben, und er brauchte die Besttigung der Diktatur, um nach oben hin
+als eine bndnisfhige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige
+Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr
+mglich.
+
+
+Funoten:
+
+ [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert.
+ Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schluwort einer
+ Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck
+ und tonangebenden Leiter der Kreuz-Zeitung, in einer Sitzung des
+ konservativen preuischen Volksvereins vom 2. November 1862: Meine
+ Herren, tuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn
+ sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu
+ lsen, so ist all Euer Laufen und Mhen umsonst. Ich schliee deshalb
+ mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und
+ Bedrfnisse der nchsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch
+ mehr Energie, treiben wir es nicht blo fr die Zeit der Wahlen.
+
+ [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen
+ Schriften dem fr das groe Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum
+ Franz von Sickingen angefgt (vgl. Bd. I).
+
+ [34] Die Stelle lautet: Mit dem Trost einer mglichst baldigen
+ gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhlfe ihrer Not
+ entlieen Seine Majestt die Deputation. Das knigliche Versprechen
+ wird erhebend und ermuthigend in allen Thlern des Riesengebirges
+ widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue
+ Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.
+
+
+
+
+Lassalles letzte Schritte und Tod.
+
+
+Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere
+Vereinsleitung als auch was die geplante nchste uere Aktion des
+Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. Im
+Verein drang er auf die Ausstoung Vahlteichs, der in bezug auf die
+Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei
+nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so da den Vereinsmitgliedern
+kaum etwas anderes brig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn
+Prsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit
+hchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich
+gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise
+zirkulieren zu lassen, da Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens
+erst kennenlernen mute, nachdem die brigen Vorstandsmitglieder bereits
+gegen ihn beeinflut waren.
+
+Wie man nun auch ber Vahlteichs Vorschlge zur Abnderung der
+Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken
+an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache
+hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst
+bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein
+letzter Versuch, einen Druck auf die Ereignisse auszuben,
+miglcken sollte.
+
+Dieser Versuch oder Coup, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in
+Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben
+von Dnemark eroberten Herzogtmer Schleswig-Holstein.
+
+Als im Winter 1863 der Tod des Knigs von Dnemark die
+schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrngt hatte, hatte
+Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung
+stand und deshalb ein groes Interesse daran hatte, je nach derjenigen
+Politik, fr die die preuische Regierung sich entschlo, den Verein
+Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den
+Schleswig-Holstein-Dusel Stimmung gemacht[35] und eine Resolution
+ausgearbeitet und berall annehmen lassen, in der erklrt wurde:
+
+ Die einheitliche Gestaltung Deutschlands wrde die
+ schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser
+ groen Aufgabe gegenber erscheint die Frage, ob, solange in
+ Deutschland 33 Frsten bestehen, einer derselben ein auslndischer
+ Frst ist, von verhltnismig sehr untergeordnetem Interesse.
+
+Im brigen enthlt die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine
+Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die
+Einverleibung der Herzogtmer in Deutschland ntigenfalls mit
+Waffengewalt durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der
+Hut zu sein; es lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen
+Aufgaben abziehen. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird
+der Vorwurf erhoben, da sie Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit
+benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage
+abzulenken und der Lsung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen
+sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen. Dies im Dezember
+1863.
+
+Jetzt waren die Herzogtmer erobert, und es handelte sich um die Frage,
+was mit ihnen geschehen solle. Ein groer Teil der Fortschrittler trat
+fr die legitimen Ansprche des Herzogs von Augustenburg ein, whrend
+man in magebenden Kreisen Preuens auf die Annexion der Herzogtmer in
+Preuen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien
+hatten, zu den vorhandenen 33 souvernen Frsten in Deutschland noch
+einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache,
+der zur Zeit reaktionrsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs
+zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches
+Taktgefhl verloren, da er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine
+groe Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution
+beschlieen zu lassen, des Inhalts, da Bismarck verpflichtet sei, die
+Herzogtmer gegen den Willen sterreichs und der brigen deutschen
+Staaten an Preuen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte
+bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu
+welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs
+gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung
+entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausfhrung des Vorhabens
+gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer
+demokratischen berzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren
+Fhrer glcklicherweise erspart.
+
+Lassalle war, nachdem er in Dsseldorf noch einen Proze ausgefochten,
+in die Schweiz gegangen. Er nahm zunchst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad,
+und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Frulein Helene von
+Dnniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht
+und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen
+hatte. Es entwickelte sich im Anschlu an den Besuch jene Liebesaffre,
+deren Schluresultat der frhzeitige Tod Lassalles war.
+
+Die Einzelheiten der Lassalle-Dnniges-Affre sind heute so bekannt und
+die fr Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affre so
+ber alle Zweifel sichergestellt, da auf eine Wiedererzhlung des
+ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte
+sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er
+entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen
+gelernt haben -- man kann sagen, da die Dnniges-Affre im kleinen und
+auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen
+Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dnniges
+das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist,
+das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den
+mindesten Zweifel, da es dem Einflu seiner Persnlichkeit gelingen
+mu, diese Schwierigkeit zu berwinden. Selbstbewut, und zugleich mit
+umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er
+seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern
+und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie
+mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich pltzlich ein kleines,
+unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der
+jungen Dame erfahren die Eltern frher als sie sollen von der Verlobung
+und erklren, Lassalle unter keinen Umstnden als Schwiegersohn annehmen
+zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph
+wird nur um so grer sein, je grer der Widerstand der Eltern. Von
+diesem Selbstbewutsein getragen, begeht er einen Schritt, der die
+Situation so gestaltet, da jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum
+Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mdchen selbst
+an ihm irre werden lt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein
+anderer. Und ohne Rcksicht darauf, was er sich und seiner politischen
+Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es fr ihn
+nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das
+Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dnniges
+beobachten und ber jeden ihrer Schritte rapportieren mssen. Durch die
+Vermittlung Hans von Blows wird Richard Wagner ersucht, den Knig von
+Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dnniges zu
+intervenieren, whrend dem Bischof Ketteler von Mainz der bertritt
+Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen
+Einflu zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht
+die geringsten Gedanken darber, wie wenig wrdig es der geschichtlichen
+Mission war, die er bernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu
+antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch
+kmmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten wrdig
+erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur
+Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er htte stolz sein
+drfen, wo er stolz sein mute, war er es nicht.
+
+Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts
+tun, weil Helene von Dnniges protestantisch war, und der
+Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswrtigen an
+den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm,
+fhrte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, da er durch die Art
+seines Vorgehens sich und das Weib, fr das er kmpfte, in eine total
+falsche Position gebracht hatte. Obwohl er gewut hatte, da Helene
+jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug fr sein
+zuknftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- erhalten Sie mir
+Helene in den unterwrfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist, hatte
+er am 2. August an die Grfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr
+jetzt eine Rolle zugemutet, welche die hchste Willensstrke erforderte,
+und war emprt darber, da das junge Mdchen sich ihr zu entziehen
+suchte. Getragen von seinem Selbstgefhl und gewohnt, die Dinge
+ausschlielich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen
+zu betrachten, hatte er ganz auer Erwgung gelassen, da gerade die
+unterwrfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ndern,
+und sah den bodenlosen Verrat und das unerhrteste Spiel einer
+verworfenen Dirne, wo weiter nichts vorlag, als die Unbestndigkeit
+eines verwhnten Weltkindes.
+
+Indes, er war nervs total heruntergekommen und besa lngst nicht mehr
+die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu
+Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und
+Hlle in Bewegung zu setzen, die Unfhigkeit, Widerspruch zu ertragen
+oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft,
+sondern eines hochgradigen Schwchezustandes. Auch der schnelle Wechsel
+von Zornesausbrchen und Trnen, der sich nach den bereinstimmenden
+Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrglich
+auf ein stark zerrttetes Nervensystem.
+
+In dieser Verfassung war es ihm unmglich, die erlittene Niederlage
+ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu
+verschaffen fr die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So tricht
+das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden
+Verhltnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affre spielte,
+ist das Duell das reinigende Bad fr allen Schmutz und allen Schimpf,
+und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besa, sich im Kampf um
+irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschrnken, welche sich fr den
+Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft
+schicken, so war es auch nur konsequent, da er fr den vermeintlich
+erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu
+verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell
+gegenberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der
+verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der
+erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so shnte er damit
+die Schuld, da er jenem die Macht ber sich eingerumt hatte.
+
+
+Funoten:
+
+ [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Prsidenten Dr. Dammer,
+ an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus
+ widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wrtlich geheien:
+ Die erste Depesche ... erlie ich sofort, weil mir der ganze
+ Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht hchst unangenehm ist.
+ Der Widerspruch in den Telegrammen erklrt sich jetzt durch die
+ widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war,
+ ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.
+
+
+
+
+Schlubetrachtung.
+
+
+So machte ein frhzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles,
+seinen Plnen und Hoffnungen ein jhes Ende. Vielleicht war es gut so,
+vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein
+Unglck empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu knnen geglaubt,
+war wieder in die Ferne gerckt, und fr die ruhige Organisationsarbeit
+hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nchste Zukunft sehr
+problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der
+er sich in die Dnniges-Affre gestrzt hatte, viel beigetragen haben.
+
+Es ist eigentlich mig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl
+getan htte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen
+wre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise errtert
+worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt.
+
+Gewhnlich wird nmlich gesagt, es wrde Lassalle, wenn er weiter gelebt
+htte, nach Lage der Dinge nichts brig geblieben sein, als gleich
+seinem Freunde Bucher eine Stelle im preuischen Staatsdienst
+anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl
+htte die von ihm schlielich eingeschlagene Politik, wenn konsequent
+weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager fhren mssen, aber auf
+diesen letzten Schritt htte es Lassalle eben fr sich nicht ankommen
+lassen. Er htte nie den preuischen Beamtenrock angezogen. Er besa
+genug, um nach seinen Bedrfnissen leben zu knnen, und seinem Ehrgeiz
+htte eine Stelle, wie die preuische Regierung sie ihm bieten konnte,
+ebensowenig gengt, wie sie seiner im Innersten stets unvernderten
+Gesinnung entsprochen htte. In dieser Hinsicht htte eher er zu
+Bismarck, als dieser zu ihm sagen knnen: Was kannst du, armer Teufel,
+geben?
+
+Das Wahrscheinliche ist vielmehr, da Lassalle sich, sobald die gegen
+ihn erkannten Strafen rechtskrftig geworden, dauernd im Ausland
+niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhltnisse in Preuen,
+bzw. Deutschland abgewartet htte. Denn da der Hamburger Coup,
+selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution
+beschlossen wurde, an den tatschlichen Verhltnissen zunchst nichts
+gendert haben wrde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht
+war, geht daraus hervor, da das bloe Jawort Helenes von Dnniges
+gengt hatte, um Lassalles Ansicht ber den voraussichtlichen Effekt
+des Coup erheblich zu erschttern. Am 27. Juli hatte er ber diesen
+an die Grfin Hatzfeldt geschrieben: ... Ich mu noch vorher in
+Hamburg sein, wo ich einen groen, sehr groen, vielleicht tatschlich
+wichtigen Coup schlagen will. Tags darauf erhlt er Helenes Zusage
+und schreibt nun an die Grfin, da er sich selbst nicht zu viel
+von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses
+Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber fr Lassalles damalige
+Stimmung uerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck
+kommen. Sie lautet:
+
+Wie Sie mich doch miverstehen, wenn Sie schreiben: >Knnen Sie sich
+nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schner Natur
+gengen?< Sie meinen, ich msse Politik haben.
+
+Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wnsche nichts sehnlicher,
+als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft
+und Natur zurckzuziehen. Ich bin der Politik mde und satt. Zwar wrde
+ich so leidenschaftlich wie je fr dieselbe entflammen, wenn ernste
+Ereignisse da wren, oder wenn ich die Macht htte, oder ein Mittel
+she, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich fr mich schickt;
+denn ohne hchste Macht lt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber
+bin ich zu alt und zu gro. Darum habe ich hchst ungern das Prsidium
+bernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drckt es mich jetzt gewaltig.
+Wenn ich es los wre, jetzt wre der Moment, wo ich entschlossen wre,
+mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!)
+
+Denn die Ereignisse werden sich, frcht' ich, langsam, langsam
+entwickeln, und meine glhende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und
+chronischen Prozessen keinen Spa. Politik heit aktuelle momentane
+Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus
+besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse
+auszuben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht
+versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon!
+
+Ach knnte ich mich zurckziehen! --
+
+In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei lustig
+und voller Lebenskraft und nun, die alte Kraft ist noch da, das alte
+Glck auch noch. Es waren also lediglich politische Erwgungen, die
+jene resignierten Stze diktierten.
+
+Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dnniges in Bern am
+3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorlufigen
+Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph.
+Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung fr Mr. Ferdinand
+Lassalle professeur, wohnhaft chez Mr. Becker, ausgestellte
+Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk
+von der Hand des alten Freiheitsveteranen:
+
+Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhngnisvollen Jahre
+1864 hier mitteilte, er fhle seine Kraft aufgerieben, msse Einhalt
+machen; er habe geglaubt, er vermge die sozialistische Bewegung in
+etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, da
+es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht
+hinreichend fhle, namentlich werde er die bevorstehenden
+Gefngnisstrafen nicht berdauern knnen. Hierauf gab ich ihm den Rat,
+sich unter bewandten Umstnden irgendwo einen festen Wohnsitz zu
+grnden, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er
+dem Gesetz gem einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das
+Brgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden htte.
+In der Zwischenzeit knnte er natrlich beliebige Reisen machen.
+Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11.
+August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.
+
+Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorlufig sechs Monate.
+
+Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an
+ihn gelangten, hat Lassalle whrend der vier Wochen seines Kampfes um
+Helene von Dnniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend
+des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und
+setzte dem Sekretr desselben, Willms, auf fnf Jahre hinaus eine Rente
+von jhrlich 500 Talern fr Agitationszwecke aus und eine ebensolche von
+jhrlich 150 Talern fr seinen persnlichen Bedarf. Als seinen
+Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmchtigten
+Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, sie wird den
+Arbeiterstand zum Siege fhren.
+
+Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles
+Tod nicht geringe Bestrzung. Es war ihnen lange unmglich den Gedanken
+zu fassen, da Lassalle wirklich nur in einer gewhnlichen Liebesaffre
+gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den
+Gegnern angezettelt sei, um den gefhrlichen Agitator aus dem Wege zu
+rumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswrdigen
+politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich
+zunchst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die
+Grfin Hatzfeldt, aus brigens menschlich durchaus erklrlichen Grnden,
+sich angelegen sein lie. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei,
+wie Lassalle den Arbeitern persnlich gegenbergetreten war. So
+liebenswrdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch
+sorgfltig darauf geachtet, in seiner ueren Erscheinung sowohl wie in
+seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige berlegenheit
+stets vor Augen zu halten. Mit grtem Wohlbehagen hatte er ferner sich
+in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafr
+gesorgt, da ein die wirklichen Vorgnge noch bertreibender Bericht
+darber im Nordstern erschien.
+
+In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten
+-- so stark, da, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte,
+er stets das Ich hatte vorangehen lassen.
+
+Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoen, auf die Masse hatte
+es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen groen Zauber
+ausgebt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persnlichkeit
+wob, um so strkere Wirkung bte der Zauber nachtrglich aus.
+
+Es wre brigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, da dieser
+Kultus der Persnlichkeit Lassalles sich fr die Agitation lange Zeit im
+hohen Grade frdernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten
+Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so
+mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind,
+gern in einer Person verkrpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht
+ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob
+Charlatane oder Illusionre, und sie ist in England und Amerika ein
+anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, da
+zuweilen die bloe Tatsache, da eine Persnlichkeit aus einer
+Krperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, gengt, sie ber
+diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener
+hartnckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers
+in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte
+anderer Lnder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der franzsischen
+Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter berlegen und
+konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen,
+aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenber herab, whrend er zur
+groen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende
+entflammte. Warum? Weil sich pltzlich in ihm eine Idee verkrperte,
+whrend die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung,
+die sie reprsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit.
+
+Der Name Lassalle wurde zum Banner, fr das sich die Massen immer mehr
+begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Fr
+den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem auergewhnlichen Talent
+geschrieben, populr und doch die theoretischen Gesichtspunkte
+hervorhebend, bten sie und ben sie zum Teil noch heute eine groe
+agitatorische Wirkung aus. Das Arbeiterprogramm, das Offene
+Antwortschreiben, das Arbeiterlesebuch usw. haben Hunderttausende
+fr den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der berzeugung, die in diesen
+Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf fr die Rechte der
+Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie
+in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verstndiger
+Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der
+aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in
+ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon
+Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in
+seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Ma dessen
+hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche
+Sozialdemokratie den Wert einer krftigen Organisation zu allen Zeiten
+zu schtzen gewut hat, wenn sie von der Notwendigkeit des
+Zusammenfassens der Krfte so durchdrungen ist, da sie auch ohne das
+uere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen
+aufrechtzuerhalten gewut hat, so ist das zum groen Teil eine
+Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare
+Tatsache, da diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die
+Traditionen der Lassalleschen Agitation am strksten waren, in bezug
+auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben.
+
+Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre
+Nachteile in den Kauf nehmen zu mssen. Wir haben gesehen, welchen
+doppelt zwieschlchtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug,
+zwieschlchtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlchtig in ihrer
+Praxis. Das blieb natrlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst
+aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch.
+Festhalten an Lassalles Taktik hie Festhalten an der Schwenkung, die
+er whrend der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in
+dem Bewutsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die
+Maske abwerfen zu knnen. Aber, um einen seiner eignen Aussprche
+anzuwenden: Individuen knnen sich verstellen, Massen nie. Seine Politik
+fortfhren hie, wenn es buchstblich genommen wurde, die Massen
+irrefhren. Und die Massen wurden irregefhrt. Es kam die Zeit der
+Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent
+im buchstblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft;
+kein Zweifel aber kann bestehen, da seine Politik zeitweise der eines
+Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, da
+von Agitatoren des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins Republikaner
+sein fr gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklrt wurde, weil die
+bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war
+unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an
+Talent nahezu erreichte, so bertraf er ihn zugleich in einigen seiner
+bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit
+den preuischen Hof-Sozialdemagogen geliebugelt. Da er dies jedoch
+konnte, ohne je um einen, seine Politik untersttzenden Satz aus
+Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle
+nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die
+verfassungsmigen Rechte der Volksvertretung kmpfenden Parteien, unter
+denen sich Mnner wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden,
+einfach als eine Clique zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie
+getan.
+
+Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat
+langwierige und schwere Kmpfe gekostet, bis sie vllig berwunden
+wurden. Was die theoretischen Irrtmer Lassalles anbetrifft, die ich
+oben ausfhrlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie
+heftige Kmpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen
+sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschtzung der
+Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften
+von einem groen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das eherne
+Lohngesetz bekmpft wurden. Die persnliche Frbung, die Lassalle der
+Bewegung gab, hatte zur Folge, da diese nach seinem Tode in das
+Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb.
+
+Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende
+Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine groe Anzahl
+Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und
+Achtels-Lassalle sproten nach seinem Tode frhlich aus dem Boden. Da
+sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschrnken muten,
+ihm nachzuahmen wie er sich geruspert und wie er gespuckt, und
+dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so
+bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der
+Arbeiterbewegung.
+
+Heute ist das alles berwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne
+Bitterkeit darber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung
+darunter litt, und darum sei es hier erwhnt.
+
+Damit indes genug. Es mchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher
+von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute
+hinterlassen, wiederum abgeschwcht werden, und das liegt durchaus nicht
+in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu
+untersuchen hatte, mute ich scharf sein; denn hher als der Ruhm des
+einzelnen steht das Interesse der groen Sache, fr die der Kampf geht,
+und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat
+keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre
+Vorkmpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher
+auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie wrdigt
+darum nicht weniger ihre Verdienste und hlt das Andenken derer in
+Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich
+gefrdert haben.
+
+Und das hat Lassalle in hohem Mae getan. Vielleicht in hherem Mae,
+als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders
+gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, fr
+die er im Frhjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben
+Ziele, fr die sie heute kmpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit
+andern Forderungen kmpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht
+wieder in andrer Weise kmpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein.
+
+Kein Mensch, und sei er der grte Denker, kann den Weg der
+Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand wei, wie viele
+Kmpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kmpfer noch werden ins Grab
+sinken mssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die
+Leichensteine ihrer Toten erzhlen von den Fortschritten der Bewegung
+und erfllen ihre Kmpfer mit Siegesgewiheit fr die Zukunft.
+
+Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig
+wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es
+bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands grte und
+brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber
+wenn er auch nicht als Schpfer der Partei bezeichnet werden darf, so
+gebhrt Lassalle doch der Ruhm, da er Groes fr sie ausgerichtet hat,
+-- so Groes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur
+erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewutes Streben verbreitet, er
+hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen
+Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbstndigen
+politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den
+Entwicklungsproze der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein
+eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf fr es war kein
+vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne fr die Erkmpfung
+des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der
+Agitation des von ihm gegrndeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
+fr diese Forderung wurden die Fortschrittler gentigt, sich nun
+gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der
+Tagesordnung und mute die Berliner Regierung in sie einwilligen, als
+nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen
+Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime
+Wahlrecht wurde wenigstens fr den Reichstag des Norddeutschen Bundes
+und spter des Deutschen Reiches verfassungsmiges Volksrecht. Noch war
+freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da.
+Aber um siegen zu knnen, mute die Arbeiterschaft erst kmpfen lernen.
+Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich
+gehuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land
+geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen
+zu allen Gesetzgebungskrpern und den Selbstverwaltungsvertretungen
+ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine
+politische Machtstellung erlangt, die ihr die glnzendsten Aussichten
+auf Durchsetzung tiefgreifender Manahmen sozialer Befreiung erffnet.
+Sie zum Kampf einexerziert, ihr fr ihn und ihre weiteren Ziele, wie es
+im Liede heit, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen
+deutscher Arbeiter Sinn und Verstndnis fr diesen _organischen_ Weg
+gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden
+Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das groe, das unvergngliche
+Verdienst Ferdinand Lassalles.
+
+
+
+
+ +--------------------------------------------------------------------+
+ | Anmerkungen zur Transkription |
+ | |
+ | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide |
+ | Schreibweisen blich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: |
+ | |
+ | anderm -- anderem |
+ | andern -- anderen |
+ | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein |
+ | eigne -- eigene |
+ | garnicht -- gar nicht |
+ | heut -- heute |
+ | Testamentrecht -- Testamentsrecht |
+ | Vermittelung -- Vermittlung |
+ | Verstndni -- Verstndnis |
+ | |
+ | Im Text wurden folgende nderungen vorgenommen: |
+ | |
+ | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. |
+ | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. |
+ | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" gendert. |
+ | S. 19 "Kulter" in "Kultur" gendert. |
+ | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" gendert. |
+ | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" gendert. |
+ | S. 37 "Hatzfeldtproze" in "Hatzfeldt-Proze" gendert. |
+ | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" gendert |
+ | (Funote). |
+ | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" gendert. |
+ | S. 49 > vor "Denn" eingefgt. |
+ | S. 55 vor "Bei alledem" entfernt. |
+ | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" gendert. |
+ | S. 72 vor "zerfetzt" eingesetzt. |
+ | S. 80 "Frei-Herros" in "Frey-Heros" gendert (Funote). |
+ | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" gendert. |
+ | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" gendert. |
+ | S. 128 vor "..." eingesetzt (Funote 14). |
+ | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" gendert. |
+ | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" gendert. |
+ | S. 138 am Beginn von Leibniz Zitat eingefgt. |
+ | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" gendert. |
+ | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" gendert. |
+ | S. 206 hinter "Bourgeoisie" eingefgt. |
+ | S. 209 "sonderns" in "sonders" gendert. |
+ | S. 217 "mute" und "muten" vertauscht. |
+ | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" gendert. |
+ | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" gendert. |
+ | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" gendert. |
+ | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" gendert. |
+ | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" gendert. |
+ | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" gendert. |
+ +--------------------------------------------------------------------+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***
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+The Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
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+Title: Ferdinand Lassalle
+ Eine Wrdigung des Lehrers und Kmpfers
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***
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+Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the
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+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[S. 1]</a></span></p>
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+
+
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+<h1>FERDINAND LASSALLE</h1>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[S. 2]</a></span></p>
+<p>&nbsp;</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[S. 3]</a></span></p>
+
+
+<p class="center pagebreak"><big><big><big><br /><br />FERDINAND LASSALLE</big></big></big></p>
+
+<p class="center"><br /><big><big>EINE WRDIGUNG<br />
+DES LEHRERS UND<br />
+KMPFERS<br /><br /><br /></big></big></p>
+
+<p class="center">VON</p>
+
+<p class="center"><big>EDUARD BERNSTEIN<br /><br /><br /><br /><br /><br /></big></p>
+
+
+<hr class="full" />
+<p class="center">VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN<br />
+1 9 1 9
+</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[S. 4]</a></span></p>
+
+
+<p class="center pagebreak"><br /><br />
+<br /><br /><br /><br /><br /><br />
+ALLE RECHTE VORBEHALTEN<br />
+COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN
+<br /><br />
+<br /><br /><br /><br /><br /><br /></p>
+
+
+<p class="center"><em class="gesperrt">DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG</em>
+</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span></p>
+<h2><a name="Inhalt" id="Inhalt">Inhalt.</a></h2>
+
+
+
+<div class="center" style="margin-left: 1em;">
+<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary="Inhalt">
+<tr><td align="left"></td><td align="right">Seite</td></tr>
+<tr><td class="tdl">Vorwort</td><td align="right"><a href="#Seite_5">5</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung</td><td align="right"><a href="#Seite_7">7</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, die Assisenrede und der Franz von Sickingen</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">27</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Ferdinand_Lassalle">66</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Das System der erworbenen Rechte</td><td align="right"><a href="#Das_System_der_erworbenen_Rechte">114</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Der preuische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Der_preussische_Verfassungskonflikt">145</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalle">186</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Der konomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_213">213</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Grndung und Fhrung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_235">235</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalle und Bismarck</td><td align="right"><a href="#Lassalle_und_Bismarck">263</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Lassalles letzte Schritte und Tod</td><td align="right"><a href="#Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">285</a></td></tr>
+<tr><td class="tdl">Schlubetrachtung</td><td align="right"><a href="#Schlussbetrachtung">293</a></td></tr>
+</table></div>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Vorwort" id="Vorwort">Vorwort.</a></h2>
+
+
+<p>Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer
+ersten Gestalt im Jahre 1891 verfat, als eine
+Einleitung zu der damals von der Buchhandlung
+&#8222;Vorwrts&#8221; veranstalteten Sammelausgabe von
+Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand,
+da ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen
+Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten,
+und da aus buchhndlerischen Grnden
+die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich
+kurz bemessenen Frist geschehen mute, hatte
+verschiedene Mngel zur Folge, die ich spter oft
+bedauert habe.</p>
+
+<p>Da nun eine Neuausgabe notwendig geworden
+ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier
+zu bessern, was nach meiner eigenen berzeugung
+und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten
+Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere
+aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen,
+teilweise recht bedeutsamen Briefe
+von, an und ber Lassalle bercksichtigt worden,
+die dazu beigetragen haben, das Bild des groen
+Lehrers und Kmpfers ganz wesentlich einheitlicher
+zu gestalten, als es frher vor uns stand.</p>
+
+<p>Lassalle als Vorkmpfer zu wrdigen war die
+besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mit<span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span>glied
+der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begrnder
+verehrt, <em class="gesperrt">fr</em> die Partei, also namentlich
+auch fr bildungsdrstige Arbeiter geschrieben,
+hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die
+Bedeutung Lassalles als Lehrer und Fhrer der
+von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in
+mglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen.
+Das hatte insofern eine gewisse Beschrnkung zur
+Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich
+zurcktreten mute. Die Schrift beansprucht
+nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die
+Lassalle von der Warte des auenstehenden Geschichtsschreibers
+oder Literaturpsychologen behandeln.
+Aber dafr glaubt sie dasjenige Moment
+um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade
+in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses
+steht und an dem Lassalle am meisten gelegen
+war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender
+Lehrer des Sozialismus und als politischer
+Fhrer der sozialistischen Demokratie.</p>
+
+<p>
+<span>&nbsp; &nbsp; <em class="gesperrt">Berlin-Schneberg</em>, im September 1919.</span><br />
+</p>
+<p class="right"><em class="gesperrt">Ed. Bernstein</em>. &nbsp;
+</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p>
+
+
+
+
+<p class="center pagebreak"><big><big>FERDINAND LASSALLE UND DIE<br />
+DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE<br /><br /></big></big></p>
+
+
+<h2 class="nopagebreak"><a name="Deutschland_am" id="Deutschland_am">Deutschland am
+Vorabend der Lassalleschen Bewegung.</a></h2>
+
+
+<p>Seit es herrschende und unterdrckte, ausbeutende
+und ausgebeutete Klassen gibt, hat es
+auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren
+gegeben, haben sich Staatsmnner und Philosophen,
+Ehrgeizige und Schwrmer gefunden,
+welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung
+oder Beseitigung des Ausbeutungsverhltnisses in
+Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen
+unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen,
+so ist der Sozialismus so alt wie die
+Zivilisation. Hlt man sich jedoch an bestimmtere
+Erkennungsmerkmale als das bloe Verlangen
+nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie
+und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der
+Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit
+dem irgendeiner frheren Epoche nur soviel gemein,
+da er wie jener der geistige Niederschlag
+der besonderen, von den Besitzlosen gefhrten
+Klassenkmpfe seiner Zeit ist. berall drckt
+die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden
+er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche
+ihren Stempel auf.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span></p>
+
+<p>Der moderne Sozialismus ist das Produkt des
+Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft,
+er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen
+Bourgeoisie und modernem Proletariat,
+einem Gegensatz, der schon verhltnismig frh
+in der Geschichte in wirklichen Kmpfen zum
+Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang
+von den Kmpfenden selbst in seiner vollen
+Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf
+gegen die privilegierten Stnde der feudalen
+Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem
+absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Brgertum
+zunchst veranlat, sich als den Anwalt der
+Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen,
+die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung
+ihm behufs Entfaltung seiner Krfte notwendiger
+Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen
+Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit
+im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die
+es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint
+ihm als deren vernunftgeme, vor dem
+gesunden Menschenverstand Bestand habende
+Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber,
+soweit es sich selbst bereits von den zunftbrgerlichen
+Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheiungen
+der brgerlichen Wortfhrer so lange
+fr bare Mnze, als das Brgertum ausschlielich
+Opposition gegen die Vertreter der stndischen
+Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die
+letzteren besiegt oder doch soweit zurckgedrngt,
+um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen<span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span>
+gehen zu knnen, so stellt sich bald
+heraus, da die hinter ihm stehenden Plebejer
+ganz andere Begriffe von dem versprochenen
+Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen
+Freunde und Beschtzer, und es kommt zu Zusammensten,
+die um so heftiger ausfallen, je
+grer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat
+ist jedoch noch nicht stark genug, seinen
+Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit
+rcksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht
+und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz
+zurck.</p>
+
+<p>Dies war der Fall in allen brgerlichen Erhebungen
+des 16., 17. und 18. und selbst noch
+der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die
+rasche Entwicklung, welche die Revolution der
+Produktionsverhltnisse in diesem Jahrhundert
+nahm, nderte jedoch auch das Verhalten des
+Proletariats gegenber der Bourgeoisie. Es bedurfte
+nicht mehr auergewhnlicher Veranlassungen,
+um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen
+der beiden an den Tag treten zu lassen,
+er kam in den vorgeschrittenen Lndern auch
+ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an,
+sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren,
+die brgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung
+wurde vom proletarischen Standpunkt
+aus der Kritik unterworfen, es entstand eine
+antibrgerliche sozialistische Literatur. Verhltnismig
+unbedeutende Reibereien im Schoe
+der Bourgeoisie, ein bloer Konflikt eines ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span>
+Flgel gegen einen andern aber gengten, um
+die tatkrftigeren Elemente des Proletariats als
+selbstndige Partei mit eigenen Forderungen in
+die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung
+des liberalen Brgertums in England wurde das
+Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution
+in Frankreich leitete erst eine rein republikanische
+Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionre
+Bewegungen ein, die zusammen
+an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation
+zurckbleiben.</p>
+
+<p>Literarisch und propagandistisch schlgt die
+Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland
+hinber. Schriftsteller und Politiker, die
+entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch
+in der Heimat fr eine Zeitlang zu entgehen, sich
+ins Ausland begeben, werden Proselyten des
+Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland
+zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer
+Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet,
+bringen die sozialistische Lehre in die Heimat
+zurck und kolportieren sie auf den Herbergen.
+Es werden geheime sozialistisch-revolutionre
+Propagandagesellschaften gegrndet und schlielich,
+am Vorabend des Revolutionsjahres 1848,
+tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem
+Programm, das mit unbertroffener revolutionrer
+Schrfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen
+Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet,
+aber zugleich auch ausspricht, da die besonderen
+Verhltnisse in Deutschland dort dem Proletariat<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span>
+zunchst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam
+mit der Bourgeoisie gegen die absolute
+Monarchie, das feudale Grundeigentum und die
+reaktionre Kleinbrgerei zu kmpfen.</p>
+
+<p>Die Februarrevolution in Frankreich und die
+Mrzrevolution in Deutschland fanden das erstere
+in seinen Zentren stark sozialistisch unterwhlt,
+das letztere gleichfalls schon mit einer relativ
+groen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter
+durchsetzt. Hier wie dort lieferten die Arbeiter,
+wenn auch nicht in gleichem Verhltnis, bereits
+die tatkrftigsten Elemente der Revolution. Aber
+die Verhltnisse waren in Frankreich, trotz seiner
+politischen und konomischen berlegenheit, der
+Verwirklichung des Sozialismus nicht viel gnstiger
+als in Deutschland. Auf dem Lande herrschte
+der kleinbuerliche Grundsatz vor, whrend in
+den Stdten und Industriebezirken zwar die groe
+Industrie bereits um sich gegriffen, aber doch
+noch lange nicht die Alleinherrschaft erobert
+hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in
+Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das
+kleinere und mittlere Handwerk, wenn es auch
+aufgehrt hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon
+meist fr den Groindustriellen arbeitete, noch
+eine verhltnismig groe Rolle, ganz besonders
+auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend
+hatte der franzsische Sozialismus
+selbst dort, wo er sich vom eigentlichen Utopismus
+freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen
+einen stark kleinbrgerlichen Zug. Und auch<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span>
+die Februarrevolution und die furchtbare Lehre
+der Junischlacht nderten daran nichts. Sie gaben
+dem utopistischen Sozialismus bei den franzsischen
+Arbeitern den Todessto, aber an seine
+Stelle trat auf Jahre hinaus &mdash; der Proudhonismus.</p>
+
+<p>In dieser relativen Unreife der konomischen
+Verhltnisse liegt die Erklrung fr die sonst unbegreifliche
+Tatsache, da, whrend es damals in
+Frankreich von Sozialisten wimmelte, whrend
+ber 200 Mitglieder der Deputiertenkammer sich
+&#8222;Sozialdemokraten&#8221; nannten, die bonapartistische
+Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten
+abzuspeisen vermochte.</p>
+
+<p>In Deutschland war die Unreife natrlich noch
+grer. Die groe Masse der Arbeiter steckte
+nicht nur noch tief in kleinbrgerlichen, sondern
+teilweise sogar in direkt zunftbrgerlichen Anschauungen.
+Auf verschiedenen der Arbeiterkongresse,
+die das Jahr 1848 ins Leben rief,
+wurden die reaktionrsten Vorschlge diskutiert.
+Nur eine verhltnismig kleine Minderheit der
+deutschen Arbeiter hatte bereits die revolutionre
+Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese
+berall in den vordersten Reihen der Volksparteien
+kmpfte, wenn sie, wo immer sie konnte, die
+brgerliche Demokratie vorwrtszutreiben suchte,
+so zahlte sie die Kosten dafr an ihrem eigenen
+Leibe. Die Kommunisten des Jahres 1848 fielen
+auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in
+Baden, sie fllten die Gefngnisse, oder muten,
+als die Reaktion auf der ganzen Linie gesiegt,<span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span>
+das Exil aufsuchen, wo ein groer Teil von ihnen
+im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen,
+die das Frhjahr 1848 ins Leben
+gerufen, wurden von den Regierungen unterschiedlos
+aufgelst oder zu Tode drangsaliert. Was
+an Sozialisten noch im Lande blieb, zog sich entweder
+in Erwartung gnstigerer Zeiten ganz von
+der ffentlichkeit zurck, oder verphilisterte und
+schlo sich an die ihm adquate Fraktion des
+brgerlichen Liberalismus an. Letzteres gilt
+namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des
+halb schngeistigen, halb sansculottischen &#8222;wahren&#8221;
+Sozialismus, der mit so vielem Lrm aufgetreten
+war. Die Arbeiter selbst aber, mehr
+oder weniger eingeschchtert, lassen von dem Gedanken
+ihrer Organisation als Klasse mit selbstndigen
+Zielen ab und verfallen der Vormundschaft
+der radikalen Bourgeoisparteien oder
+der Protektion wohlmeinender Bourgeoisphilantropen.</p>
+
+<p>Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen
+wesentlichen Punkten mit den in England und
+Frankreich unter den gleichen Umstnden vor
+sich gegangenen Wandlungen bereinstimmt. Der
+Fehlschlag der erneuerten Agitation der Chartisten
+im Jahre 1848 hatte in England die Wirkung,
+da der christliche Sozialismus der Maurice,
+Kingsley, Ludlow sich in den Vordergrund drngte
+und einen Teil der Arbeiter veranlate, in selbsthilflerischen
+Genossenschaften ihre Befreiung zu
+suchen &mdash; nicht nur ihre konomische, sondern<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span>
+auch ihre &#8222;moralische&#8221;, ihre Befreiung vom
+&#8222;Egoismus&#8221;, vom &#8222;Klassenha&#8221; usw. Wenn nun
+diese &#8218;christlichen Sozialisten&#8217; auch mit ihren
+Bestrebungen weder selbstschtige, persnliche
+Zwecke verbanden, noch die Geschfte irgendeiner
+besonderen Partei der besitzenden Klassen
+besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda
+unter den Arbeitern, soweit ihr Einflu reichte,
+doch zunchst die der Ablenkung derselben von
+den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d.&nbsp;h.
+politische Entmannung. Soweit es gelang, den
+&#8222;Klassenegoismus&#8221; zu vertreiben, trat in den
+meisten Fllen an seine Stelle ein philistrser
+Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder
+philisterhaftes &#8222;Bildungs&#8221;-Pharisertum. Die
+Gewerkvereinsbewegung ihrerseits verliert sich
+fast ganz in der Verfolgung der allernchstliegenden
+Interessen, whrend die Reste der Oweniten
+sich meist auf die sogenannte freidenkerische
+Propaganda werfen.</p>
+
+<p>In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion
+gewesen, welche die Arbeiterklasse
+in den Hintergrund der revolutionren Bhne
+drngte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund.
+Der rege politische Geist des Pariser Proletariats
+konnte selbst durch diesen Riesenaderla nicht
+sofort erttet werden. &#8222;Es versucht sich&#8221;, wie
+Marx im 18. Brumaire schreibt, &#8222;jedesmal wieder
+vorzudrngen, sobald die Bewegung einen neuen
+Anlauf zu nehmen scheint.&#8221; Indes seine Kraft
+war gebrochen, es konnte selbst nicht einmal mehr<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span>
+vorbergehend siegen. &#8222;Sobald eine der hher
+ber ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionre
+Grung gert, geht es eine Verbindung
+mit ihr ein und teilt so alle Niederlagen, die die
+verschiedenen Parteien nacheinander erleiden.
+Aber diese nachtrglichen Schlge schwchen sich
+immer mehr ab, je mehr sie sich auf die ganze
+Oberflche der Gesellschaft verteilen. Seine bedeutenderen
+Fhrer in der Versammlung und in
+der Presse fallen der Reihe nach den Gerichten
+zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren
+treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich
+auf doktrinre Experimente, Tauschbanken und
+Arbeiter-Assoziationen, also in eine Bewegung,
+worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren
+eigenen groen Gesamtmitteln umzuwlzen, vielmehr
+hinter dem Rcken der Gesellschaft, auf
+Privatweise, innerhalb seiner beschrnkten Existenzbedingungen,
+seine Erlsung zu vollbringen
+sucht, also notwendig scheitert.&#8221; (Der achtzehnte
+Brumaire, 3.&nbsp;Aufl., S.&nbsp;14 und 15.)</p>
+
+<p>In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen
+Niederlage der Arbeiter keine Rede sein
+konnte, weil diese sich zu einer greren Aktion
+als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten,
+unterblieben ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche
+von Arbeitern, sich in nennenswerter Weise
+selbstndig zu bettigen. Whrend die brgerliche
+Philanthropie in Vereinen &#8222;fr das Wohl der
+arbeitenden Klasse&#8221; sich mit der Frage der
+Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span>
+harmlosen Dingen beschftigte, nahm sich ein
+kleinbrgerlicher Demokrat, der preuische Abgeordnete
+Schulze-Delitzsch, der selbsthilflerischen
+Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur
+&#8222;Lsung der sozialen Frage&#8221; zu gelangen, bei
+welchem lblichen Unternehmen ihm gerade die
+konomische Rckstndigkeit Deutschlands in ermunterndster
+Weise zustatten kam.</p>
+
+<p>Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei
+seinen Genossenschaften weniger die Arbeiter, als
+die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt;
+diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine
+in den Stand gesetzt werden, mit der Groindustrie
+zu konkurrieren. Da nun die Groindustrie
+in Deutschland noch wenig entwickelt
+war, es dafr aber eine groe Anzahl von Handwerksmeistern
+gab, die sich noch nicht, wie die
+Meister der kleinen Industrie in Frankreich und
+England, an die groe Industrie angepat hatten,
+sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr
+ausschauten, so mute bei diesen seine Idee auf
+einen fruchtbaren Boden fallen, die geschilderten
+Genossenschaften ihnen auch, solange sich die
+Groindustrie ihres besonderen Produktionszweiges
+noch nicht bemchtigt hatte, wirklich von
+Nutzen sein. So sproten denn die Kredit- und
+Rohstoffvereine frhlich auf, neben ihnen auch
+Konsumvereine von Kleinbrgern und Arbeitern,
+und im Hintergrunde winkten &mdash; als die Krone
+des Ganzen erscheinend &mdash; die Produktivgenossenschaften
+von Arbeitern als die Verwirklichung<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span>
+des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom
+Kapital.</p>
+
+<p>Ebensowenig wie die englischen christlichen
+Sozialisten verband Schulze-Delitzsch ursprnglich
+mit der Propaganda fr die selbsthilflerischen
+Genossenschaften spezifische politische Parteizwecke,
+sondern folgte, gleich jenen, nur einer
+mit seinem Klasseninstinkt vertrglichen Philanthropie.
+Zur Zeit, als er sich der Bewegung zuwandte,
+war die politische Partei, zu der er gehrte,
+die Linke der preuischen Nationalversammlung,
+von der ffentlichen Bhne zurckgetreten.
+Nachdem sie sich von der Krone und deren
+geliebten Krautjunkern nach allen Regeln der
+Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte sie, als die
+preuische Regierung das Dreiklassenwahlsystem
+oktroyierte, bis auf weiteres das Feld gerumt.
+Sie ballte die Faust in der Tasche und lie die
+Reaktion sich selbst abwirtschaften.</p>
+
+<p>Kleinbrger vom Scheitel bis zur Sohle, aber
+Kleinbrger mit liberalen Anschauungen, dabei in
+seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch,
+als er von der Reaktion gemaregelt worden war,
+eine Idee aufgegriffen, die damals allgemein in
+der Luft lag. &#8222;Assoziation&#8221; hatte der Ruf der
+Sozialisten in den dreiiger und vierziger Jahren
+gelautet, Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr
+gegrndet, Assoziation dozierte der
+konservative Schriftsteller V.&nbsp;A.&nbsp;Huber, warum
+sollte der liberale Kreisrichter Schulze nicht auch
+fr &#8222;Assoziationen&#8221; sich erwrmen?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span></p>
+
+<p>Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer
+Stelle einzugehen haben werden, so seien hier nur
+aus einer 1858 verffentlichten Schrift Schulze-Delitzschs
+einige Stze zitiert ber die Wirkungen,
+die er von den selbsthilflerischen Genossenschaften
+in bezug auf die Lage der Arbeiter
+erwartete:</p>
+
+<p>&#8222;Und was die im Lohndienst verbleibenden
+Arbeiter anbelangt, so ist die Konkurrenz, welche
+die Assoziationsgeschfte ihrer bisherigen Genossen
+den Unternehmern machen, auch fr sie
+von den gnstigsten Folgen. Denn mu nicht die
+solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der
+Unternehmer zum Vorteil der Arbeiter rcksichtlich
+der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht
+die Inhaber der groen Etablissements dadurch
+gentigt, ihren Arbeitern mglichst gute Bedingungen
+zu bieten, weil sie sonst riskieren, da
+dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen
+bertreten, oder gar selbst eine dergleichen grnden,
+wozu natrlich die geschicktesten und strebsamsten
+Arbeiter am ersten geneigt sein werden?
+&mdash; Gewi, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter
+selbst den Arbeitgebern Konkurrenz bieten,
+lt sich ein dauernder Einflu auf die Lohnerhhung,
+auf eine gnstigere Stellung der Arbeiter
+im ganzen ausben, den man mittelst gesetzlicher
+Zwangsmittel, wie wir frher gesehen
+haben, oder durch die Appellation an die Humanitt
+niemals allgemein und mit Sicherheit erreicht ...</p>
+
+<p>&#8222;Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements<span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span>
+von den Arbeitern errichtet und
+das bisherige Monopol der Grounternehmer hierbei
+durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben,
+da sich die enormen Gewinne derselben, welche
+sie frher ausschlielich zogen, vermindern, weil
+sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen
+mssen. Whrend also der Reichtum von der
+einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen
+wird, schwindet auf der andern Seite der
+Notstand mehr und mehr, und die Zustnde beginnen
+sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes
+zu nhern. Damit ist sowohl dem Mammonismus
+wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen,
+diesen unseligen Auswchsen unserer Industrie,
+in denen wir zwei gleich feindliche Mchte
+wahrer Kultur erblicken ...</p>
+
+<p>&#8222;Nur darauf kommen wir immer wieder zurck:
+da ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft
+und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen
+wagen und tatschlich die Mglichkeit
+dartun, da sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung
+der brigen Klassen, durchzusetzen vermgen,
+man sich von seiten dieser wohl hten
+wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man
+viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen
+Abhngigkeit zu erhalten. Erst wenn
+dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz
+fhlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem
+sie den Unternehmern einmal selbst als
+Unternehmer entgegengetreten sind, drfen sie
+auf Beachtung ihrer Wnsche, auf das Entgegenkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span>
+des Publikums, insbesondere der Kapitalisten
+rechnen, welche sie erst dann als Leute
+zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr
+auch mitzhlen, whrend sie ihnen bis dahin
+fr bloe Nullen galten, die beim Exempel selbstndig
+fr sich gar nicht in Ansatz kamen. Auf
+dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse
+die unbestrittene Herrschaft, und Ansprche
+und Strebungen, mgen sie noch so gerecht
+und billig sein, finden nur dann erst Geltung,
+wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind,
+da sie in tatschlichen, lebenskrftigen Gestaltungen
+sich unabweisbar hervordrngen.&#8221; ...
+(Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen
+und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig
+1858, S.&nbsp;58, 61 und 63.)</p>
+
+<p>Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongre,
+der im Sommer 1862 tagte, mute Schulze eingestehen,
+da noch fast gar keine Produktivgenossenschaften
+und nur eine winzige Anzahl
+von Konsumvereinen bestnden. Nur die aus
+Handwerksmeistern und kleinen Geschftsleuten
+zusammengesetzten Kredit- und Vorschuvereine
+gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl,
+die Rohstoffgenossenschaften.</p>
+
+<p>Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges
+der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der
+Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und
+nehmen jetzt deren Faden wieder auf.</p>
+
+<p>Bereits der Krimkrieg hatte der europischen
+Reaktion einen empfindlichen Sto versetzt, indem<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span>
+er die &#8222;Solidaritt der Regierungen&#8221;, die
+eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken
+brachte. Die Rivalitt zwischen Preuen und
+sterreich trat in dem verschiedenen Verhalten
+des Wiener und Berliner Kabinetts zu Ruland
+von neuem zutage, whrend der Tod Nikolaus&nbsp;I.
+und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende
+des Krieges befand, die Reaktionsparteien in
+Europa ihres strksten Hortes beraubte. Ruland
+hatte vorlufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten
+zu tun, da es auf Jahre hinaus
+nicht in der Lage war, sich fr die Sache der
+Ordnung in irgendeinem andern Lande des &#8222;Prinzips&#8221;
+halber zu interessieren, es kam fr die
+innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand
+auer Betracht. Zunchst jedoch beschrnkte sich
+die Rivalitt zwischen Preuen und sterreich
+auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern
+gegenber blieben beide Regierungen
+vorderhand noch &#8222;solidarisch&#8221;.</p>
+
+<p>Einen zweiten Sto gab der Reaktion die allgemeine
+Geschftsstockung, die 1857 und 1858
+sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperitt
+1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht
+hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die
+alle ihre Vorgngerinnen an Ausdehnung und
+Intensitt bertraf, die stehenden Throne wieder
+ins Wanken. berall grte es in den unter der
+Krisis leidenden Volkskreisen, berall schpfte
+die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der
+Massen neue Kraft, berall erhoben die &#8222;Mchte<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span>
+des Umsturzes&#8221; von neuem ihr Haupt. Am
+drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich
+am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte
+es Napoleon III. mit drakonischen Gewaltmaregeln,
+zu denen das Attentat Orsinis ihm den
+Vorwand lieferte; aber als er merkte, da er
+dadurch seine Position eher verschlimmerte als
+sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel.
+Er versuchte durch einen populren auswrtigen
+Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen
+und sein Leben vor den Dolchen der
+Carbonari zu beschtzen. Diese hatten das einstige
+Mitglied ihrer Verschwrung durch Orsini wissen
+lassen, da, wenn er sein ihnen gegebenes Wort
+nicht einlse, sich immer neue Rcher gegen ihn
+erheben wrden. Der italienische Feldzug wurde
+also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in
+Preuen mit der Regentschaft Wilhelms&nbsp;I. die
+&#8222;Neue ra&#8221; ihren Anfang. Von dem vorderhand
+noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, sterreichs
+Hegemonie in Deutschland zu brechen,
+sucht Wilhelm&nbsp;I., damals noch Prinzregent, das
+liberale Brgertum zu gewinnen und ernennt ein
+diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch
+alles gut. Gerhrt, da er so ganz ohne sein Zutun
+wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden,
+berbot sich der brgerliche Liberalismus in allen
+mglichen Loyalittsbeteuerungen. Der &#8222;Nationalverein&#8221;
+wurde gegrndet mit dem Programm:
+Deutschlands Einigung unter Preuens Spitze.
+Preuen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span>
+politischen und nationalen Aspirationen der liberalen
+Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer
+Vlkerfrhling schien angebrochen und ein viel
+schnerer als der von 1848, denn er versprach
+die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionren
+Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt
+macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe
+entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht
+die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach
+sich hbsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn
+es jedoch wider Erwarten zu jenem uersten
+kommen sollte &mdash; hatte nicht das Beispiel der
+Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine,
+der Vorschu- und Rohstoffgenossenschaften die
+Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt
+und ihnen den Beweis geliefert, welche groe
+Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten htten,
+sie berzeugt, da sie nichts, aber auch gar nichts
+als die liberalen &#8222;Freiheiten&#8221; brauchten?</p>
+
+<p>Wer heute die sozialpolitische Literatur des
+deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest,
+dem fllt nichts so sehr auf als die kolossale
+Naivett, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht,
+die ber den engen Horizont des aufgeklrten
+Gewrzkrmers hinausgehen. Man war
+sehr gebildet, sehr belesen, man wute sehr viel
+von altathenischer Verfassung und englischem
+Parlamentarismus zu erzhlen, aber die Nutzanwendung,
+die man aus allem zog, war immer
+die, da der aufgeklrte deutsche Gewrzkrmer
+oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und<span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span>
+da, was diesem nicht in den Kram passe, wert
+sei, da es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgeflligen
+Naivett trieb man es im preuischen
+Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch
+ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit
+dieser Naivett entfremdete man sich die Arbeiterklasse,
+lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz
+dazu Veranlassung gab. Man wute
+erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte
+&#8222;auch wirklich nichts&#8221; aus ihr gelernt.</p>
+
+<p>Auf die Ursachen und den Gegenstand des
+preuischen Verfassungskonflikts braucht hier
+nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach
+aus, und der Liberalismus sah sich pltzlich, er
+wute selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit
+eben der Regierung, die er die schne Rolle der
+Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht,
+die Hegemonie in Deutschland zugesprochen
+hatte. Indes das war vorlufig nur
+Pech, aber kein Unglck. Die liberale Partei war
+mittlerweile so stark geworden, da sie den Streit
+eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem
+bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast
+das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strmung
+hatte alle Klassen der Bevlkerung erfat;
+von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen
+Feudalen und Betbrder abgesehen, berlieen
+sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei
+die Ausfechtung des Kampfes mit
+der preuischen Regierung. Welche Fehler diese
+Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span>
+Elemente, wie unzulnglich auch ihr Programm,
+in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenber der aufs
+neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum
+und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der
+ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente
+lag: das Budgetrecht der Volksvertretung.</p>
+
+<p>Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe
+zuerkennen, heit noch nicht, sich ihr mit
+Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenber auf
+jede Selbstndigkeit verzichten. Das fhlten auch
+die entwickelteren Elemente unter den deutschen
+Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten,
+die ihnen die liberalen Wortfhrer zumuteten, die
+Kost, die ihnen in den von diesen patronisierten
+Bildungs- usw. Vereinen dargeboten wurde, unmglich
+auf die Dauer gengen. Noch waren die
+alten kommunistischen und revolutionren Traditionen
+nicht vllig ausgestorben, noch gab es gar
+manchen Arbeiter, der entweder selbst Mitglied
+irgendeiner der kommunistischen Verbindungen
+gewesen oder von Mitgliedern ber deren Grundstze
+aufgeklrt, von ihnen mit kommunistischen
+Schriften versehen worden war. Unter diesen,
+und durch sie angeregt, fing man an, in immer
+weiteren Kreisen der Arbeiter die Frage zu errtern,
+ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht
+sofort eine eigne Arbeiterpartei mit einem eignen
+Arbeiterprogramm, so doch wenigstens einen
+Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei
+als eine bloe Kreatur der liberalen Partei.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span></p>
+
+<p>Htten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler
+nur ein wenig aus der Geschichte anderer
+Lnder gelernt gehabt, es wre ihnen ein
+Leichtes gewesen, zu verhindern, da diese Bewegung
+sich ihnen feindselig gegenberstellte, solange
+sie selbst im Kampf mit der preuischen
+Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel
+von dem Gefhl durchdrungen, da sie, da sie
+ja die Volkssache vertraten, <em class="gesperrt">das</em> &#8222;Volk&#8221;, und
+als &#8222;Volk der Denker&#8221; ber die Einseitigkeiten &mdash;
+nmlich die Klassenkmpfe &mdash; des Auslandes
+erhaben seien; und so begriffen sie denn auch
+nicht, da es sich hier um eine Strmung handelte,
+die frher oder spter eintreten mute, und da
+es nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verstndige
+Weise auseinanderzusetzen. So verliebt
+waren sie in sich, da sie gar nicht zu fassen
+vermochten, da die Arbeiter noch nach mehr
+geizen konnten, als nach der Ehre, durch sie vertreten
+zu sein. Die Antwort auf das Gesuch, den
+Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein
+zu erleichtern: &#8222;Die Arbeiter sollen sich
+als die geborenen Ehrenmitglieder des Vereins betrachten&#8221;
+&mdash; d.&nbsp;h. hbsch drauen bleiben &mdash; war
+in der Tat typisch fr das Unvermgen der Parteigenossen
+des braven Schulze, etwas anderes zu
+begreifen, als den denkenden Spiebrger &mdash; ihr
+Ebenbild, ihren Gott.</p>
+
+<p>So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen
+in Leipziger Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis
+die Bildung eines Komitees zur Einberufung<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span>
+eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer
+Folge die Anknpfung von Verhandlungen
+mit Ferdinand Lassalle war.</p>
+
+
+
+<hr class="chap" />
+<h2><a name="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess" id="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze,
+die Assisenrede und der
+Franz von Sickingen.</a></h2>
+
+
+<p>Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle
+wandte, stand dieser in seinem 37. Lebensjahre,
+in der Vollkraft seiner krperlichen und geistigen
+Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben
+hinter sich, sich politisch und wissenschaftlich &mdash;
+beides allerdings zunchst innerhalb bestimmter
+Kreise &mdash; einen Namen gemacht, er unterhielt
+Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der
+Literatur und Kunst, verfgte ber ansehnliche
+Geldmittel und einflureiche Freunde &mdash; kurz,
+nach landlufigen Begriffen konnte ihm das
+Komitee, eine aus bisher vllig unbekannten Persnlichkeiten
+zusammengesetzte Vertretung einer
+im Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts
+bieten, was er nicht schon hatte. Trotzdem ging
+er mit der grten Bereitwilligkeit auf dessen
+Wnsche ein und traf die einleitenden Schritte,
+der Bewegung diejenige Richtung zu geben, die
+seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach.
+Von anderen Rcksichten abgesehen, zog
+ihn gerade der Umstand besonders zu ihr hin,
+da die Bewegung noch keine bestimmte Form
+angenommen hatte, da sie sich ihm als eine ohne<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span>
+Schwierigkeit zu modelnde Masse darstellte. Ihr
+erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in
+seinem Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur
+seinen hochfliegenden Plnen, das war berhaupt
+eine Aufgabe, die seinen natrlichen Neigungen ungemein
+sympathisch sein mute. Die Einladung traf
+ihn nicht nur bei seiner sozialistischen berzeugung,
+sondern auch bei seinen Schwchen. Und
+so ging er denn mit groer Bereitwilligkeit auf
+sie ein.</p>
+
+<p>Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine
+eigentliche Biographie Ferdinand Lassalles zu
+geben, die sehr ansehnliche Zahl der Lebensbeschreibungen
+des Grnders des Allgemeinen
+Deutschen Arbeitervereins noch um eine weitere
+zu vermehren. Der fr sie zur Verfgung stehende
+Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer
+Biographie gehrte. Was sie in erster Reihe will,
+ist vielmehr die Persnlichkeit und Bedeutung
+Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit seine
+politisch-literarische und agitatorische Ttigkeit
+in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist ein
+Rckblick auf den Lebenslauf Lassalles unerllich,
+da er erst den Schlssel zum Verstndnis
+seines politischen Handelns liefert.</p>
+
+<p>Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung
+Lassalles eine groe, man kann sogar
+sagen verhngnisvolle Wirkung ausgebt zu haben.
+Wir sprechen hier nicht schlechthin von vererbten
+Eigenschaften oder Dispositionen, sondern von
+der bedeutungsvollen Tatsache, da das Bewut<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span>sein,
+von jdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaen
+noch in vorgeschrittenen Jahren
+peinlich war, und da es ihm trotz seines eifrigen
+Bemhens oder vielleicht gerade wegen dieses
+Bemhens nie gelang, sich tatschlich ber seine
+Abstammung hinwegzusetzen, eine innerliche Befangenheit
+loszuwerden. Aber man darf nicht
+vergessen, da Lassalles Wiege im stlichen Teil
+der preuischen Monarchie gestanden hatte &mdash; er
+wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren &mdash;,
+wo bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal
+formell vllig emanzipiert waren. Die Wohlhabenheit
+seiner Eltern ersparte Lassalle viele
+Widerwrtigkeiten, unter denen die rmeren Juden
+damals zu leiden hatten, aber sie schtzte ihn nicht
+vor den allerhand kleinen Krnkungen, denen die
+Angehrigen jeder fr untergeordnet gehaltenen
+Rasse, auch wenn sie sich in guter Lebensstellung
+befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so
+selbstbewuten Natur, wie Lassalle von Jugend
+auf war, zunchst einen trotzigen Fanatismus des
+Widerstandes erzeugen, der dann spter oft in
+das Gegenteil umschlgt. Wie stark dieser Fanatismus
+bei dem jungen Lassalle war, geht aus
+seinem durch Paul Lindau zur Verffentlichung
+gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und
+1841 hervor. Am 1.&nbsp;Februar&nbsp;1840 schreibt der
+noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein Tagebuch:</p>
+
+<p>&#8222;... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich
+glaube, ich bin einer der besten Juden, die es<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span>
+gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten.
+Ich knnte, wie jener Jude in Bulwers &#8218;Leila&#8217;
+mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen
+drckenden Lage zu reien. Ich wrde selbst das
+Schafott nicht scheuen, knnte ich sie wieder zu
+einem geachteten Volke machen. O, wenn ich
+meinen kindischen Trumen nachhnge, so ist es
+immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der
+Juden mit den Waffen in der Hand sie selbstndig
+zu machen.&#8221; Die Mihandlungen der Juden in
+Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den Ausruf:
+&#8222;Ein Volk, das dies ertrgt, ist schrecklich,
+es rche oder dulde die Behandlung.&#8221; Und an
+den Satz eines Berichterstatters: &#8222;Die Juden
+dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur
+von diesen Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion
+ertragen werden knnen&#8221;, knpft er die
+von Brne bernommene Betrachtung an: &#8222;Also
+sogar die Christen wundern sich ber unser trges
+Blut, da wir uns nicht erheben, nicht lieber auf
+dem Schlachtfeld, als auf der Tortur sterben
+wollen. Waren die Bedrckungen, um deren willen
+sich die Schweizer einst erhoben, grer?...
+Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los.&#8221;
+Noch leidenschaftlicher uert er sich einige Monate
+spter (30. Juli): &#8222;Wieder die abgeschmackten
+Geschichten, da die Juden Christenblut
+brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus,
+auch in Rhodos und Lemberg. Da aber
+aus allen Winkeln der Erde man mit diesen Beschuldigungen
+hervortritt, scheint mir anzudeuten,<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span>
+da die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat
+durch Christenblut uns helfen werden. Aide-toi
+et le ciel t'aidera. Die Wrfel liegen, es kommt
+auf den Spieler an.&#8221;</p>
+
+<p>Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich
+der Blick erweitert, aber die Wirkung, die solche
+Jugendeindrcke auf die geistigen Dispositionen
+ausben, bleibt. Zunchst wurde der frhreife
+Lassalle durch den Stachel der &#8222;Torturen&#8221;, von
+denen er schreibt, um so mehr angetrieben, sich
+fr seine Person um jeden Preis Anerkennung
+und Geltung zu verschaffen. Auf der anderen
+Seite wird der Rebell gegen die Unterdrckung
+der Juden durch die Christen bald politischer
+Revolutionr. Dabei macht er einmal, als er
+Schillers Fiesko gesehen, folgende, von merkwrdig
+scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung:
+&#8222;Ich wei nicht, trotzdem ich jetzt revolutionr-demokratisch-republikanische
+Gesinnungen habe
+wie einer, so fhle ich doch, da ich an der Stelle
+des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich
+nicht damit begngt htte, Genuas erster Brger
+zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand
+ausgestreckt htte. Daraus ergibt sich, wenn ich
+die Sache bei Lichte betrachte, da ich blo
+Egoist bin. Wre ich als Prinz oder Frst geboren,
+ich wrde mit Leib und Leben Aristokrat
+sein. So aber, da ich blo ein schlichter Brgerssohn
+bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat
+sein.&#8221;</p>
+
+<p>Sein politischer Radikalismus ist es auch, der<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span>
+1841 den sechzehnjhrigen Lassalle veranlat,
+den vorbergehend gefaten Entschlu, sich zum
+Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben
+und von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken,
+sich zum Universittsstudium vorzubereiten. Die
+lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle
+von seinem Vater wider seinen Willen auf die
+Handelsschule nach Leipzig geschickt worden, ist
+durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen,
+Lassalle hat selbst seine bersiedelung vom Gymnasium
+auf die Handelsschule betrieben. Freilich
+nicht aus vorbergehender Vorliebe fr den
+Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer
+Reihe von leichtsinnigen Streichen zu entgehen,
+die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem
+Vater nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu
+mssen, welche er &mdash; nach seiner Ansicht unverdient
+&mdash; zu erhalten pflegte. Als es ihm aber
+auf der Leipziger Handelsschule nicht besser erging
+als auf dem Breslauer Gymnasium, als er
+auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor
+allem mit dem Direktor in Konflikte geriet, die
+sich immer mehr zuspitzten, je radikaler Lassalles
+Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der
+Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat
+er die Handelsschule bezogen, und schon am
+3. August &#8222;hofft&#8221; er, da der &#8222;Zufall&#8221; ihn eines
+Tages aus dem Kontor herausreien und auf einen
+Schauplatz werfen werde, auf dem er ffentlich
+wirken knne. &#8222;Ich traue auf den Zufall und
+auf meinen festen Willen, mich mehr mit den<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span>
+Musen als den Haupt- und Strazzabchern, mich
+mehr mit Hellas und dem Orient, als mit Indigo
+und Runkelrben, mehr mit Thalien und ihren
+Priestern, als mit Krmern und ihren Kommis
+zu beschftigen, mich mehr um die Freiheit, als
+um die Warenpreise zu bekmmern, heftiger die
+Hunde von Aristokraten, die dem Menschen sein
+erstes, hchstes Gut wegnehmen, als die Konkurrenten,
+die den Preis verschlechtern, zu verwnschen.&#8221;
+&#8222;Aber beim Verwnschen soll's nicht
+bleiben,&#8221; setzt er noch hinzu. Zu dem Radikalismus
+kommt der immer strkere Drang, den Juden
+in sich abzuschtteln, und dieser Drang ist schlielich
+so energisch, da, als Lassalle im Mai 1841
+dem Vater seinen &#8222;unwiderruflichen&#8221; Entschlu
+mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt,
+Medizin oder Jura zu studieren, weil &#8222;der Arzt
+wie der Advokat Kaufleute sind, die mit ihrem
+Wissen Handel treiben&#8221;. Er aber wolle studieren
+&#8222;des Wirkens wegen&#8221;. Mit dem letzteren war der
+Vater zwar nicht einverstanden, er willigte aber
+ein, da Lassalle sich zum Studium vorbereite.</p>
+
+<p>Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war
+im Jahre 1842 schon so weit, sein Maturittsexamen
+abzulegen. Er studiert zuerst Philologie,
+geht aber dann zur Philosophie ber und entwirft
+den Plan zu einer greren philologisch-philosophischen
+Arbeit ber den Philosophen Herakleitos
+von Ephesus. Da er sich gerade diesen
+Denker zum Gegenstand der Untersuchung auswhlte,
+von dem selbst die grten Philosophen<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span>
+Griechenlands bekannt hatten, da sie nie sicher
+seien, ob sie ihn ganz richtig verstanden, und
+der deshalb den Beinamen &#8222;der Dunkle&#8221; erhielt,
+ist wiederum in hohem Grade bezeichnend fr
+Lassalle. Mehr noch als die Lehre Heraklits,
+den Hegel selbst als seinen Vorlufer anerkannt
+hatte, reizte ihn das Bewutsein, da hier nur
+durch glnzende Leistungen Lorbeeren zu erlangen
+waren. Neben dem schon erwhnten Trieb,
+jedermann durch auergewhnliche Leistungen zu
+verblffen, hatte Lassalle zugleich das Bewutsein,
+jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lsen
+zu knnen. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen
+war das Fatum seines Lebens. Es hat ihn in
+der Tat Dinge unternehmen und zu Ende fhren
+lassen, vor denen tausend andere zurckgeschreckt
+wren, selbst wenn sie ber die intellektuellen
+Fhigkeiten Lassalles verfgt htten, es ist aber
+auf der andern Seite zum Anla verhngnisvoller
+Fehlgriffe und schlielich zur Ursache seines
+jhen Endes geworden.</p>
+
+<p>Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845
+an den Rhein und spter nach Paris, teils um
+dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um
+die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens
+der Epoche, kennenzulernen. In Paris gingen damals
+die Wogen der sozialistischen Bewegung
+sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin,
+der 1843 schon sein sozialistisches Damaskus gefunden
+hatte. Ob und inwieweit Lassalle mit
+den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span>
+wurde &mdash; Karl Marx war, nachdem die
+&#8222;Deutsch-franzsischen Jahrbcher&#8221; eingegangen
+und der &#8222;Vorwrts&#8221; sistiert worden war, im
+Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und
+nach Brssel bersiedelt &mdash;, darber fehlen zuverlssige
+Angaben. Wir wissen nur, da er
+viel mit Heinrich Heine verkehrte, an den er
+empfohlen war, und dem er in milichen Geldangelegenheiten
+(einem Erbschaftsstreit) groe
+Dienste leistete. Die Briefe, in denen der kranke
+Dichter dem zwanzigjhrigen Lassalle seine Dankbarkeit
+und Bewunderung aussprach, sind bekannt.
+Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken
+Eindruck Lassalles Selbstbewutsein auf Heine
+gemacht hat.</p>
+
+<p>Nach Deutschland zurckgekehrt, machte Lassalle
+im Jahre 1846 die Bekanntschaft der Grfin
+Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren vergeblich
+bemhte, von ihrem Manne, einem der einflureichsten
+Aristokraten, der sie allen Arten von
+Demtigungen und Krnkungen ausgesetzt hatte,
+gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermgens
+zu erlangen. Man hat ber die Motive,
+welche Lassalle veranlaten, die Fhrung der
+Sache der Grfin zu bernehmen, vielerlei Vermutungen
+aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhltnis
+mit der zwar nicht mehr jugendlichen,
+aber noch immer schnen Frau zurckfhren
+wollen, whrend Lassalle selbst sich im Kassettenproze
+mit groer Leidenschaftlichkeit dagegen
+verwahrt hat, durch irgendeinen anderen Beweggrund<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span>
+dazu veranlat worden zu sein, als den des
+Mitleids mit einer verfolgten, von allen helfenden
+Freunden verlassenen Frau, dem Opfer ihres
+Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen
+eines bermtigen Aristokraten. Es liegt
+absolut kein Grund vor, dieser Lassalleschen Beteuerung
+nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in
+den folgenden Jahren vorbergehend in ein intimeres
+Verhltnis als das der Freundschaft zur
+Grfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es
+ist aber schon aus psychologischen Grnden unwahrscheinlich,
+da ein solches Verhltnis gleich
+am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den
+Proze bernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher
+ist es, da neben der vielleicht etwas
+romantisch bertriebenen, aber doch durchaus anerkennenswerten
+Parteinahme fr eine verfolgte
+Frau und dem Ha gegen den hochgestellten
+Adligen gerade das Bewutsein, da es sich hier
+um eine Sache handelte, die nur mit Anwendung
+auergewhnlicher Mittel und Kraftentfaltung zu
+gewinnen war, einen groen Reiz auf Lassalle
+ausgebt hat. Was andere abgeschreckt htte, zog
+ihn unbedingt an.</p>
+
+<p>Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph
+gehabt, da der hochmtige Aristokrat vor ihm,
+dem &#8222;dummen Judenjungen&#8221; kapitulieren mute.
+Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem
+Kampf hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte
+er freilich auergewhnliche Mittel aufwenden
+mssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span>
+nur die Mittel auergewhnlicher Vertiefung in
+die rechtlichen Streitfragen, auergewhnlicher
+Schlagfertigkeit und Schrfe in der Widerlegung
+der gegnerischen Finten; es waren auch die auergewhnlichen
+Mittel des unterirdischen Krieges:
+die Spionage, die Bestechung, das Whlen im
+ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf
+Hatzfeldt, ein gewhnlicher Genumensch, scheute
+vor keinem Mittel zurck, seine Ziele zu erreichen,
+und um seine schmutzigen Manver zu durchkreuzen,
+nahm die Gegenseite zu Mitteln ihre
+Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren.
+Wer die Aktenstcke des Prozesses nicht gelesen,
+kann sich keine Ahnung machen von dem
+Schmutz, der dabei aufgewhlt und immer wieder
+herangeschleppt wurde, von der Qualitt der
+beiderseitigen Anklagen und &mdash; Zeugen.</p>
+
+<p>Und von den Rckwirkungen der umgekehrten
+Augiasarbeit im Hatzfeldt-Proze hat sich Lassalle
+nie ganz freimachen knnen. Wir meinen das
+nicht im spiebrgerlichen Sinne, etwa im Hinblick
+auf seine spteren Liebesaffren, sondern
+mit Bezug auf seine von nun an wiederholt bewiesene
+Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheien
+und zu benutzen, das ihm fr seine jeweiligen
+Zwecke dienlich erschien; wir meinen den Verlust
+jenes Taktgefhls, das dem Mann von berzeugung
+selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt
+verbietet, der mit den von ihm vertretenen Grundstzen
+in Widerspruch steht, wir meinen die
+von da an wiederholt und am strksten in der<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span>
+tragischen Schluepisode seines Lebens sich offenbarende
+Einbue an gutem Geschmack und moralischem
+Unterscheidungsvermgen. Als jugendlicher
+Enthusiast hatte Lassalle sich in den Hatzfeldtschen
+Proze gestrzt, &mdash; er selbst gebraucht
+in der Kassettenrede das Bild des Schwimmers:
+&#8222;Welcher Mensch, der ein starker Schwimmer
+ist, sieht einen andern von den Wellen eines
+Stromes fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen?
+Nun wohl, fr einen guten Schwimmer hielt ich
+mich, unabhngig war ich, so sprang ich in den
+Strom&#8221; &mdash; gewi, aber leider war es ein recht
+trber Strom, in den er sich gestrzt, ein Strom,
+der sich in eine groe Pftze verlief, und als
+Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen
+Moral der Gesellschaft, mit der er sich zu befassen
+gehabt, angesteckt. Seine ursprnglichen
+besseren Instinkte kmpften lange gegen die Wirkungen
+dieses Giftes, drngten sie auch wiederholt
+siegreich zurck, aber schlielich ist er ihnen
+doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu
+scharf erscheinen, aber wir werden im weiteren
+Verlauf unserer Skizze sehen, da es nur gerecht
+gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine
+Apologie zu schreiben, sondern eine kritische Darstellung
+zu geben, und das erste Erfordernis einer
+solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu
+erklren<a name="FNAnker_1_1" id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a>.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p>
+
+<p>Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunchst
+noch der Rolle zu gedenken, die Lassalle
+im Jahre 1848 gespielt hat.</p>
+
+<p>Beim Ausbruch der Mrz-Revolution war
+Lassalle so tief in den Maschen des Hatzfeldtschen
+Prozesses verwickelt, da er sich ursprnglich
+fast zur politischen Unttigkeit verurteilt
+sah. Im August 1848 fand der Proze
+wegen &#8222;Verleitung zum Kassettendiebstahl&#8221; gegen
+ihn statt und er hatte alle Hnde voll zu tun, sich
+auf diesen zu rsten. Erst als er nach siebentgiger
+Verhandlung freigesprochen worden war, gewann
+er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen
+jener bewegten Zeit direkten Anteil zu nehmen.</p>
+
+<p>Lassalle, der damals in Dsseldorf, der Geburtsstadt
+Heines, lebte, stand natrlich als Republikaner
+und Sozialist auf der uersten Linken
+der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war
+die von Karl Marx redigierte &#8222;Neue Rheinische
+Zeitung&#8221;. Karl Marx gehrte ferner eine Zeitlang
+dem Kreisausschu der rheinischen Demokraten
+an, der in Kln seinen Sitz hatte. So war
+eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in
+nhere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte
+mndlich und schriftlich mit dem erwhnten
+Kreisausschu, sandte wiederholt Mitteilungen und
+<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span>
+Korrespondenzen an die &#8222;Neue Rheinische Zeitung&#8221;
+und erschien auch gelegentlich selbst auf
+der Redaktion dieses Blattes. So bildete sich
+allmhlich ein freundschaftlicher persnlicher Verkehr
+zwischen Lassalle und Marx heraus, der
+auch spter noch, als Marx im Exil lebte, in
+Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt
+wurde. Lassalle besuchte Marx 1862 in
+London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf einer
+Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht
+hatte. Indes herrschte zu keiner Zeit ein tieferes
+Freundschaftsverhltnis zwischen den beiden, dazu
+waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt.
+Was sonst noch einer ber die politische
+Kampfgenossenschaft hinausgehenden Intimitt im
+Wege stand, soll spter errtert werden.</p>
+
+<p>Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848
+gegenber nahm Lassalle genau dieselbe Haltung
+ein, wie die Redaktion der &#8222;Neuen Rheinischen
+Zeitung&#8221; und die Partei, die hinter dieser stand.
+Gleich ihr forderte er, als die preuische Regierung
+im November 1848 den Sitz der Nationalversammlung
+verlegt, die Brgerwehr aufgelst und
+den Belagerungszustand ber Berlin verhngt hatte,
+und die Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung
+des Ministeriums in Anklagezustand, sowie
+mit der Erklrung geantwortet hatte, da dieses
+Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben,
+zur Organisierung des bewaffneten Widerstandes
+gegen die Steuererhebung auf. Gleich dem
+Ausschu der rheinischen Demokraten ward auch<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span>
+Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen
+die knigliche Gewalt unter Anklage gestellt, gleich
+ihm von den Geschworenen freigesprochen, aber
+die immer rcksichtsloser auftretende Reaktion
+stellte auerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage,
+zur Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte
+aufgefordert zu haben, um ihn vor das
+Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat
+verurteilte dieses &mdash; die Regierung kannte unzweifelhaft
+ihre Berufsrichter &mdash; Lassalle schlielich
+auch zu sechs Monaten Gefngnis.</p>
+
+<p>Lassalles Antwort auf die ersterwhnte Anklage
+ist unter dem Titel &#8222;Assisen-Rede&#8221; im Druck
+erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich gehalten
+worden, und alles, was in verschiedenen lteren
+Biographien ber den &#8222;tiefen&#8221; Eindruck erzhlt
+wird, den sie auf die Geschworenen und das Publikum
+gemacht habe, gehrt daher in das Bereich
+der Fabel. Lassalle hatte die Rede noch vor der
+Verhandlung in Druck gegeben, und da einzelne
+der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf
+gesetzt worden waren, beschlo der Gerichtshof,
+die ffentlichkeit auszuschlieen. Als trotz
+Lassalles Protest und der Erklrung, die Verbreitung
+der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen
+erfolgt, ja hchstwahrscheinlich von seinen Feinden
+durch das Mittel der Bestechung veranlat
+worden, der Gerichtshof den Beschlu aufrecht
+erhielt, verzichtete Lassalle berhaupt darauf, sich
+zu verteidigen, wurde aber nichtsdestoweniger
+freigesprochen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span></p>
+
+<p>Ob aber gehalten oder nicht, die &#8222;Assisen-Rede&#8221;
+bleibt jedenfalls ein interessantes Dokument
+fr das Studium der politischen Entwicklung Lassalles.
+Er steht in ihr fast durchgngig auf dem
+von Karl Marx drei Monate vorher in dessen
+Rede vor den Klner Geschworenen vertretenen
+Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden
+zeigt dies aufs deutlichste, ebenso aber auch die
+Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und
+Lassalle. Marx enthlt sich aller oratorischen
+Ausschmckung, er geht direkt auf die Sache ein,
+entwickelt in einfacher und gedrngter Sprache,
+Satz fr Satz, scharf und mit rcksichtsloser Logik
+seinen Standpunkt und schliet ohne jede Apostrophe
+mit einer Charakteristik der politischen
+Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person
+stehe ganz auer Frage, und er habe nur die Aufgabe,
+den Geschworenen einen politischen Vortrag
+zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast
+von Anfang bis zu Ende, er erschpft sich in &mdash;
+oft sehr schnen &mdash; Bildern und in Superlativen.
+Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen
+Sache oder von seiner Person die Rede ist, er
+spricht nicht zu den Geschworenen, sondern zu
+den Tribnen, zu einer imaginren Volksversammlung,
+und schliet, nach Verkndigung einer
+Rache, die &#8222;so vollstndig&#8221; sein wird wie &#8222;die
+Schmach, die man dem Volke antut&#8221;, mit einer
+Rezitation aus Tell.</p>
+
+<p>Noch im Gefngnis, wo er sich durch seine
+Energie und Hartnckigkeit Vergnstigungen ertrotzte,<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span>
+die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden
+pflegten &mdash; so erhielt er, was er spter selbst
+fr ungesetzlich erklrte, wiederholt Urlaub, um
+in den Prozessen der Grfin Hatzfeldt zu pldieren
+&mdash; und in den darauffolgenden Jahren wurde
+Lassalles Ttigkeit wieder fast vollstndig durch
+die Hatzfeldtsche Angelegenheit in Anspruch genommen.
+Daneben hielt Lassalle ein gastliches
+Haus fr politische Freunde und versammelte
+lngere Zeit einen Kreis vorgeschrittener Arbeiter
+um sich, denen er politische Vortrge hielt. Endlich
+erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen
+Proze der Friedensschlu. Die Grfin erhielt
+ein bedeutendes Vermgen ausbezahlt und Lassalle
+eine Rente von jhrlich siebentausend Talern
+sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise
+ganz nach seinen Wnschen einzurichten.</p>
+
+<p>Zunchst behielt er seinen Wohnsitz in
+Dsseldorf bei und arbeitete hier an seinem
+&#8222;Heraklit&#8221; weiter. Daneben unternahm er allerhand
+Reisen, u.&nbsp;a. auch eine in den Orient. Auf
+die Dauer aber konnten ihn diese Unterbrechungen
+nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt,
+in der das politische Leben erloschen war, ausshnen.
+Es verlangte ihn nach einem freieren, anregenderen
+Leben, als es die rheinische Stadt bot
+oder erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden
+Persnlichkeiten, nach einem greren Wirkungskreis.
+So erwirkt er sich denn 1857 durch die Vermittlung
+Alexander von Humboldts beim Prinzen
+von Preuen von der Berliner Polizei die Erlaubnis,<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span>
+seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu
+drfen.</p>
+
+<p>Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen
+Beachtung. Lassalle hatte im Mai 1849
+in flammenden Worten die &#8222;schmachvolle und unertrgliche
+Gewaltherrschaft&#8221; gebrandmarkt, die
+&#8222;ber Preuen hereingebrochen&#8221;; er hatte ausgerufen:
+&#8222;Warum zu soviel Gewalt noch soviel
+Heuchelei? Doch das ist preuisch&#8221; und &#8222;vergessen
+wir nichts, nie, niemals... Bewahren wir
+sie auf, diese Erinnerungen, sorgfltig auf, wie
+die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges
+Erbe ist der Racheschwur, der sich an diese
+Knochen knpft.&#8221; (Assisenrede.) Wie kam er
+nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es
+dem guten Willen der Regierung, die in der angegebenen
+Weise angegriffen worden war, anheim
+zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in
+politischen Dingen sehr rigoros sein und hat es
+1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt,
+da Wilhelm Liebknecht fr die grodeutsch-konservative
+&#8222;Augsburger Allgemeine Zeitung&#8221;
+schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die
+wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschftigten,
+fr sein gutes Recht, die Aufenthaltsbewilligung
+zu verlangen, und im Bewutsein der Festigkeit
+seines politischen Wollens fr reine Formsache,
+da er seine betreffenden Eingaben als Gesuche
+abzufassen hatte. Denn es handelt sich da um verschiedene
+Antrge, der erste 1855 an den Berliner
+Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span>
+1856, direkt an den damaligen Prinzregenten gerichtet
+(Vgl. darber &#8222;Dokumente des Sozialismus&#8221;,
+Jahrgang 1903, S.&nbsp;130 und 407&nbsp;ff.) Aus
+diesen Schritten machte er Karl Marx gegenber
+kein Geheimnis.</p>
+
+<p>Es ist zudem nicht unmglich, da Lassalle
+durch Verbindungen der Grfin Hatzfeldt, die
+ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war,
+da sich in den oberen Regionen Preuens ein
+neuer Wind vorbereite. Wie weit diese Verbindungen
+reichten, geht aus Informationen hervor,
+die Lassalle bereits im Jahre 1854, beim
+Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach London
+gelangen lie. So teilt er Marx unterm 10. Februar
+1854 den Wortlaut einer Erklrung mit,
+die einige Tage vorher vom Berliner Kabinett nach
+Paris und London abgegangen sei, schildert die
+Zustnde im Berliner Kabinett &mdash; der Knig
+und fast alle Minister fr Ruland, nur Manteuffel
+und der Prinz von Preuen fr England &mdash; und
+die fr gewisse Eventualitten vom Kabinett beschlossenen
+Maregeln, worauf es heit: &#8222;Alle
+die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so
+betrachten, als wenn Du sie aus Manteuffels und
+Aberdeens eigenem Munde httest!&#8221; Vier Wochen
+spter machte er wieder allerhand Mitteilungen
+ber beabsichtigte Schritte des Kabinetts, gesttzt
+auf Mitteilungen &#8222;zwar nicht aus meiner &#8218;offiziellen&#8217;,
+aber doch aus ziemlich glaubhafter
+Quelle&#8221;. Am 20. Mai 1854 klagt er, da seine
+&#8222;diplomatische Quelle&#8221; eine weite Reise angetreten<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span>
+habe. &#8222;Eine so vorzgliche Quelle, durch die man
+kabinettsmig informiert war, zu haben und dann
+auf so lange Zeit wieder verlieren, ist beraus
+rgerlich.&#8221; Aber er hat immer noch Nebenquellen,
+die ihn ber Interna des Berliner Kabinetts
+unterrichten, und ist u.&nbsp;a. &#8222;zeitig vorher von
+Bonins Entlassung usw.&#8221; benachrichtigt worden.</p>
+
+<p>Einige dieser Quellen standen dem Berliner
+Hof sehr nahe, und ihre Berichte mgen auch
+Lassalles Schritt veranlat haben. Die geistige
+Zerrttung Friedrich Wilhelm IV. war um das
+Jahr 1857 bereits sehr weit vorgeschritten, und
+wenn auch die getreuen Minister und Hter der
+monarchischen Idee sie noch nicht fr gengend
+erachteten, des Knigs Regierungsunfhigkeit auszusprechen,
+so wute man doch in allen unterrichteten
+Kreisen, da der Regierungsantritt des
+Prinzen von Preuen nur noch eine Frage von
+Monaten sei.</p>
+
+<p>In Berlin vollendete Lassalle zunchst den
+Heraklit, der Ende 1857 im Verlage von Franz
+Duncker erschien.</p>
+
+<p>ber dieses beinahe mehr noch philologische
+als philosophische Werk gehen die Meinungen der
+Sachverstndigen auseinander. Die einen stellen
+es als epochemachend hin, die andern behaupten,
+da es in der Hauptsache nichts sage, was nicht
+schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, da
+Lassalle hier fast durchgngig auf althegelschem
+Standpunkt steht &mdash; die Dinge werden aus den
+Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span>
+als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt,
+deren Bewegung die Geschichte erzeugt.
+Aber auch diejenigen, welche die epochemachende
+Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten,
+geben zu, da sie eine sehr tchtige Leistung ist.
+Sie verschaffte Lassalle in der wissenschaftlichen
+Welt einen geachteten Namen.</p>
+
+<p>Fr die Charakteristik Lassalles und seines
+geistigen Entwicklungsganges ist sein Werk ber
+Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht
+blo darin von Bedeutung, da es Lassalle als
+eben entschiedenen Anhnger Hegels zeigt. Man
+kann auch dem bekannten dnischen Literarhistoriker
+G. Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft
+zugunsten belletristischer Ausschmckung mit den
+Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie ber
+Lassalle<a name="FNAnker_2_2" id="FNAnker_2_2"></a><a href="#Fussnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> auf verschiedene Stellen in der Arbeit
+ber Heraklit als Schlssel zum Verstndnis von
+Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es gilt
+dies namentlich von Lassalles groem Kultus
+des Staatsgedankens &mdash; auch in dieser Hinsicht
+war Lassalle Althegelianer &mdash; und in bezug
+auf Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm.
+Brandes schreibt in ersterer Hinsicht:</p>
+
+<p>&#8222;Heraklits Ethik, sagt Lassalle, fat sich in
+den einen Gedanken zusammen, der zugleich der
+ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist:
+&#8218;Hingabe an das Allgemeine.&#8217; Das ist zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span>
+griechisch und modern; aber Lassalle kann sich
+das Vergngen nicht versagen, in der speziellen
+Ausfhrung dieses Gedankens bei dem alten
+Griechen die bereinstimmung mit Hegels Staatsphilosophie
+nachzuweisen: &#8218;Wie in der Hegelschen
+Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefat
+werden als die Realisation des allgemeinen
+substantiellen Willens, ohne da bei dieser Bestimmung
+im geringsten an den formellen Willen
+der Subjekte und deren Zhlung gedacht wird,
+so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr
+von der Kategorie der empirischen Allheit entfernt.&#8217;&#8221;
+(Vgl.&nbsp;a.&nbsp;a.&nbsp;O.&nbsp;S.&nbsp;40.)</p>
+
+<p>Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen
+dieser Staatsidee, die bei Lassalle immer wiederkehrt,
+und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie
+und zum allgemeinen Stimmrecht &mdash; die
+doch die Herrschaft des &#8222;formellen Willens
+der Subjekte&#8221; darstellen &mdash; einen Gegensatz erblickt,
+den man &#8222;nicht ungestraft in seinem Gemte
+hegt&#8221;, und der in der Welt der Prinzipien
+das Gegenstck zu dem Kontrast darstelle, der
+&#8222;rein uerlich zutage trat, wenn Lassalle mit
+seiner ausgesucht eleganten Kleidung, seiner ausgesucht
+feinen Wsche und seinen Lackstiefeln
+in und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit
+ruiger Haut und schwieligen Hnden sprach&#8221;.</p>
+
+<p>Das ist belletristisch ausgedrckt. Tatschlich
+hat Lassalles althegelsche Staatsidee ihn spter
+im Kampf gegen den Liberalismus weit ber das
+Ziel hinausschieen lassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span></p>
+
+<p>ber Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm
+schreibt Brandes:</p>
+
+<p>&#8222;Noch eine bereinstimmung, die letzte zwischen
+&mdash; Heraklit und Lassalle, bildet der trotz
+des Selbstgefhls und des Stolzes so leidenschaftliche
+Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung
+und dem Lobe anderer. Heraklit hat
+das oft zitierte Wort gesprochen: &#8218;Die greren
+Schicksale erlangen das grere Los.&#8217;
+Und er hat gesagt, was das rechte Licht auf
+diesen Satz wirft: &#8218;Da die Menge und die
+sich weise Dnkenden den Sngern der Vlker
+folgen und die Gesetze um Rat fragen,
+nicht wissend, da die Menge schlecht, wenige
+nur gut, die Besten aber dem Ruhme nachfolgen.
+&#8218;Denn,&#8217; fgt er hinzu, &#8218;es whlen die Besten eins
+statt allem, den immerwhrenden Ruhm der Sterblichen.&#8217;
+Ruhm war fr Heraklit also gerade jenes
+grere Los, welches das grere Schicksal erlangen
+kann; sein Trachten nach Ehre war nicht
+nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern
+ein durch Reflexion und Philosophie begrndetes.
+&#8218;Der Ruhm&#8217;, sagt Lassalle, &#8218;ist in der
+Tat das Entgegengesetzte von allem, das Entgegengesetzte
+gegen die Kategorie des unmittelbaren
+realen Seins berhaupt und seiner einzelnen
+Zwecke. Er ist Sein der Menschen in ihrem
+Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen
+Existenz selbst, er ist darum erreichte und
+wirklich gewordene Unendlichkeit des Menschen&#8221;,
+und mit Wrme fgt er hinzu: &#8218;Wie dies der<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span>
+Grund ist, weshalb der Ruhm seit je die groen
+Seelen so mchtig ergriffen und ber alle kleinen
+und beschrnkten Ziele hinausgehoben hatte, wie
+das der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt,
+da er erst annahen kann &#8218;Hand in Hand mit dem
+prfenden Todesengel&#8217;, so ist es auch der Grund,
+weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung
+seines spekulativen Prinzips erblickte.&#8217;&#8221;</p>
+
+<p>Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich
+mit dem Ruhm, der erst Hand in Hand mit dem
+Todesengel annaht, zu begngen. Im Gegensatz
+zu der Heraklitischen Verachtung der Menge war
+er fr den Beifall durchaus nicht unempfindlich
+und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr Hflichkeitsform
+war, unter Umstnden mit fast naiver
+Genugtuung fr die Sache selbst auf. Die Vorliebe
+fr das Pathos, die sich bei Lassalle in so
+hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine
+Neigung zur Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch
+von einer Dosis davon nicht ganz freizusprechen,
+so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, da
+er aus dem, was Brandes &#8222;seine unselige Vorliebe
+fr den Lrm und Trommelschall der Ehre,
+fr ihre Pauken und Trompeten&#8221; nennt, je einen
+Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen
+Briefen tritt sie mit einer Offenheit zutage, die
+in ihrer Naivett etwas Vershnendes hat. Wenn
+Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift
+erzhlt, da Lassalle ihr in Bern ausgemalt
+habe, wie er einst als volkserwhlter Prsident
+der Republik &#8222;von sechs Schimmeln gezogen&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span>
+seinen Einzug in Berlin halten werde, so
+ist man versucht, entweder an eine bertreibung
+der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, da
+Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden
+Zukunft um so fester in dem Herzen seiner
+Erwhlten festzusetzen hoffte. Indes, die bekannte
+schriftliche &#8222;Seelenbeichte&#8221; an Sophie
+von Sontzew beweist, da es sich bei diesem Zukunftsbild
+keineswegs nur um die Spielerei einer
+migen Stunde, um den Einfall eines Verliebten
+handelte, sondern um einen Gedanken,
+in dem Lassalle selbst sich berauschte, dessen
+Zauber einen mchtigen Reiz auf ihn ausbte. Er
+nennt sich &mdash; im Jahre 1860 &mdash; &#8222;das Haupt
+einer Partei&#8221;, in bezug auf das sich &#8222;fast unsere
+ganze Gesellschaft&#8221; in zwei Parteien teile, deren
+eine &mdash; ein Teil der Bourgeoisie und das Volk &mdash;
+Lassalle &#8222;achtet, liebt, sogar nicht selten verehrt&#8221;,
+fr die er &#8222;ein Mann von grtem Genie
+und von einem fast bermenschlichen Charakter
+ist, von dem sie die grten Taten erwarten&#8221;.
+Die andere Partei &mdash; die ganze Aristokratie und
+der grte Teil der Bourgeoisie &mdash; frchtet ihn
+&#8222;mehr als irgend jemand anders&#8221; und hat ihn
+daher &#8222;unbeschreiblich&#8221;. Werde die Frauenwelt
+dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von
+Sontzew nicht verzeihen, da sie einen solchen
+Menschen heiratete, so werden auf der andern
+Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, da
+ein solcher Mensch sie heiratete, &#8222;sie eines
+Glckes halber beneiden, das ihre Verdienste<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span>
+bersteige&#8221;. Und &#8222;freilich, ich verhehle es Ihnen
+nicht, es knnte wohl sein, da, wenn gewisse
+Ereignisse eintreten, eine Flut von Bewegung,
+Gerusch und Glanz auf Ihr Leben fallen wrde,
+wenn Sie mein Weib werden.&#8221;</p>
+
+<p>So bertrieben alle diese uerungen erscheinen,
+so wenig sie der Wirklichkeit entsprachen
+zu einer Zeit, wo von einer sozialistisch-demokratischen
+Partei gar keine Rede war, Lassalle
+vielmehr gesellschaftlich mit den brgerlichen
+Liberalen und Demokraten auf bestem Fue
+stand und soeben eine Broschre verffentlicht
+hatte, deren Inhalt mit Aspirationen bereinstimmte,
+die in Regierungskreisen gehegt wurden, so wohnt
+ihnen doch eine groe subjektive Wahrheit inne
+&mdash; Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte
+an die Partei, die in ihm ihr Haupt erblickte,
+wenn sie auch vorlufig blo aus ihm bestand
+und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes
+Dasein fhrte. Die Partei, das war
+er &mdash; seine Bestrebungen und seine Plne. Jedes
+Wort der Anerkennung von seiten seiner Freunde
+oder aber, was er dafr hielt, war fr ihn Besttigung
+seiner Mission, und nicht selten nahm
+er Schmeichelei fr aufrichtige Huldigung. Es
+ist merkwrdig, welcher Widersprche die menschliche
+Natur fhig ist. Lassalle war, wie aus den
+Berichten seiner nheren Bekannten und aus
+seinen Briefen hervorgeht, mit schmeichelhaften
+Adjektiven uerst freigebig, aber sie waren allenfalls
+Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span>
+anderen auf ihn selbst angewendet, nahm er sie
+dagegen leicht fr echtes Gold.</p>
+
+<p>So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung
+mit ihm selbst verwachsen, da, als er spter
+wirklich an der Spitze einer Partei stand, oder
+wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen
+Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel
+seiner Person zu betrachten vermochte
+und danach behandelte. Man miverstehe uns
+nicht. Es wre absurd, etwa zu sagen, da Lassalle
+den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein nur ins
+Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frnen, da
+der Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck
+war. Lassalle war berzeugter Sozialist, das
+unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wre nicht
+imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung
+aufzugehen, ihr seine Persnlichkeit &mdash; ich sage
+ausdrcklich nicht sein Leben, aufzuopfern.</p>
+
+<p>Soviel an dieser Stelle hierber.</p>
+
+<p>Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher
+Ritter. Kurz nachdem der Heraklit erschienen,
+vollendete Lassalle ein bereits in Dsseldorf
+entworfenes historisches Drama und lie
+es, nachdem eine anonym eingereichte Bhnenbearbeitung
+von der Intendantur der Kgl. Schauspiele
+abgelehnt worden war, 1859 unter seinem
+Namen im Druck erscheinen.</p>
+
+<p>Da der &#8222;Franz von Sickingen&#8221; als Bhnenwerk
+verfehlt war, hat Lassalle spter selbst eingesehen,
+und er hat als Hauptursache dafr den
+Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span>
+der Tat macht das Drama, trotz einzelner hchst
+wirkungsvoller Szenen und der gedankenreichen
+Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck,
+die Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel
+Reflexion da, und es werden vor allem viel zuviel
+Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft von
+einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzhlt,
+da ein Freund Lassalles, den dieser, whrend
+er am &#8222;Franz von Sickingen&#8221; arbeitete, um
+seinen Rat ersuchte, und der ein bewhrter
+metrischer Knstler gewesen, Lassalle den Vorschlag
+gemacht habe, er solle das Stck lieber in
+Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen,
+da ein besserer Rat gar nicht gegeben
+werden konnte. Denn die Lassallesche Prosa hat
+wirklich eine Reihe groer Vorzge, und selbst
+die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische
+zu verfallen, htte in einem Drama wie der
+Sickingen nichts verschlagen. Aber Lassalle lie
+sich nicht von seiner Idee abbringen, da die
+Versform fr das Drama unentbehrlich sei, und
+so stolpern nicht nur seine Ritter und Helden auf
+oft recht geschraubten fnffigen Jamben einher,
+selbst die aufstndischen Bauern bedienen
+sich der Stelzen des Blankverses. Eine Ausnahme
+machen sie nur bei den bekannten Losungsworten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Loset, sagt an: Was ist das fr ein Wesen?&#8221;<br /></span>
+<span class="i0">&#8222;Wir knnen vor Pfaffen und Adel nicht genesen,&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.</p>
+
+<p>Indes diese technischen Fragen treten fr uns
+zurck vor der Frage nach Inhalt und Tendenz<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span>
+des Dramas. Lassalle wollte mit dem &#8222;Franz von
+Sickingen&#8221; ber das historische Drama, wie es
+Schiller und Goethe geschaffen, einen weiteren
+Schritt hinaus machen. Die historischen Kmpfe
+sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst
+den Boden liefern, auf welchem sich der tragische
+Konflikt bewegt, whrend die eigentliche dramatische
+Handlung sich um rein individuelle Interessen
+und Geschicke dreht, vielmehr sollten die
+kulturhistorischen Prozesse der Zeiten und Vlker
+zum eigentlichen Subjekt der Tragdie werden,
+so da sich diese nicht mehr um die Individuen
+als solche dreht, die vielmehr nur die Trger und
+Verkrperungen der kmpfenden Gegenstze sind,
+sondern um jene grten und gewaltigsten Geschicke
+der Nationen selbst &mdash; &#8222;Schicksale, welche
+ber das Wohl und Wehe des gesamten allgemeinen
+Geistes entscheiden und von den dramatischen
+Personen mit der verzehrenden Leidenschaft,
+welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer
+eigenen Lebensfrage gemacht werden. &#8222;Bei alledem
+sei es mglich,&#8221; meint Lassalle, &#8222;den Individuen
+aus der Bestimmtheit der Gedanken und
+Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus
+markige und feste, selbst derbe und realistische
+Individualitt zu geben.&#8221; (Vgl. das Vorwort zum
+Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit Lassalle
+die so gestellte Aufgabe gelst hat und inwieweit
+sie berhaupt lsbar ist, unter welchen Voraussetzungen
+sich die groen Kmpfe der Menschheit
+und der Vlker so in Individuen verkrpern<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span>
+lassen, da nicht das eine oder das andere, die
+Gre und umfassende Bedeutung jener Kmpfe
+oder die lebendige Persnlichkeit der Individuen
+dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage,
+die wir hier unerrtert lassen knnen. Es gengt,
+da Lassalle bei der Durchfhrung des Dramas
+von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun
+zum Stoff des Dramas selbst.</p>
+
+<p>Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen
+Franz von Sickingens gegen die deutschen
+Frsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein
+Freund und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die
+Helden des Dramas, und es ist eigentlich schwer
+zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in
+Anspruch nimmt, der militrische und staatsmnnische
+oder der theoretische Reprsentant des
+niederen deutschen Adels. Merkwrdigerweise
+hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in
+dem letzteren sich selbst zu zeichnen versucht.
+&#8222;Lesen Sie mein Trauerspiel,&#8221; schreibt er an
+Sophie von Sontzew. &#8222;Alles, was ich Ihnen hier
+sagen knnte, habe ich Hutten aussprechen lassen.
+Auch er hatte alle Verleumdungen, alle Arten
+von Ha, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich
+habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht,
+und ich konnte dies, da sein Schicksal und das
+meinige einander vollstndig gleich und von berraschender
+hnlichkeit sind.&#8221; Es wrde selbst
+Lassalle schwer geworden sein, diese berraschende
+hnlichkeit zu beweisen, namentlich um
+die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er fhrte<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span>
+in Berlin ein luxurises Leben, verkehrte mit Angehrigen
+aller Kreise der besser situierten Gesellschaft
+und erfreute sich als Politiker nicht
+entfernt eines hnlichen Hasses wie der frnkische
+Ritter, der Urheber der leidenschaftlichen Streitschriften
+wider die rmische Pfaffenherrschaft.
+Nur in einigen uerlichkeiten lassen sich Analogien
+zwischen Lassalle und Hutten ziehen, aber
+in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen,
+was tatschlich war, sondern was Lassalle
+glaubte und wovon er sich bei seinem Werke
+geistig leiten lie. Menschen mit so ausgeprgtem
+Selbstgefhl sind in der Regel leicht Tuschungen
+ber sich selbst ausgesetzt. Genug, wir
+haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor
+uns, wie er um jene Zeit dachte, und die Reden,
+die er Hutten in den Mund legt, erhalten dadurch
+fr das Verstndnis des Lassalleschen Ideenkreises
+eine besondere Bedeutung.</p>
+
+<p>Hierher gehrt namentlich die Antwort Huttens
+auf die Bedenken des kolampadius gegen den
+geplanten Aufstand:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Ehrwrd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.<br /></span>
+<span class="i0">Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>ein echt Hegelscher Satz,</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Doch ihre Form bleibt ewig &mdash; die Gewalt!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und dann, als kolampadius von der &#8222;Entweihung
+der Liebeslehre durch das Schwert&#8221; gesprochen:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span></p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Ehrwrd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!<br /></span>
+<span class="i0">Ein Schwert, geschwungen fr die Freiheit, ist<br /></span>
+<span class="i0">Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,<br /></span>
+<span class="i0">Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.<br /></span>
+<span class="i0">Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,<br /></span>
+<span class="i0">Den wir noch heut den Groen staunend nennen.<br /></span>
+<span class="i0">Es ward durchs Schwert das Heidentum gestrzt,<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert befreit des Welterlsers Grab!<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht<br /></span>
+<span class="i0">Und Wissenschaft und Knste uns geboren.<br /></span>
+<span class="i0">Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!<br /></span>
+<span class="i0">So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet<br /></span>
+<span class="i0">Das Herrliche, das die Geschichte sah,<br /></span>
+<span class="i0">Und alles Groe, was sich jemals wird vollbringen,<br /></span>
+<span class="i0">Dem <em class="gesperrt">Schwert</em> zuletzt verdankt es sein Gelingen!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Es liegt in den Stzen &#8222;doch ihre &mdash; der Geschichte
+&mdash; Form bleibt ewig die Gewalt&#8221;, und
+&#8222;da alles Groe, was sich jemals wird vollbringen&#8221;,
+dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken
+werde, unzweifelhaft viel bertreibung.
+Trotzdem hatte der Hinweis, da das fr die
+Freiheit geschwungene Schwert das &#8222;fleischgewordene
+Wort&#8221; sei, da, wer die Freiheit erwerben
+will, bereit sein mu, fr sie mit dem
+Schwert zu kmpfen, seine volle Berechtigung in
+einer Epoche, wo man in weiten Kreisen der ehemaligen
+Demokratie sich immer mehr darauf verlegte,
+alles von der Macht des Wortes zu erwarten.
+Sehr zeitgem, und nicht nur fr die
+damalige Epoche, sind auch die Worte, die
+Lassalle den alten Balthasar Slr Sickingen
+im letzten Akt zurufen lt:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span></p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht<br /></span>
+<span class="i0">Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten<br /></span>
+<span class="i0">In groen Dingen schlau zu sein. <em class="gesperrt">Verkleidung</em><br /></span>
+<span class="i0">Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,<br /></span>
+<span class="i0">Wo im Gewhl die Vlker dich nur an<br /></span>
+<span class="i0">Der Rstung und dem Abzeichen erkennen;<br /></span>
+<span class="i0">Drum hlle stets vom Scheitel bis zur Sohle<br /></span>
+<span class="i0">Dich khn in deines eig'nen Banners Farbe.<br /></span>
+<span class="i0">Dann probst du aus im ungeheuren Streit<br /></span>
+<span class="i0">Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,<br /></span>
+<span class="i0">Und stehst und fllst mit deinem ganzen Knnen!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Auch der Ausspruch Sickingens:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.<br /></span>
+<span class="i0">Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,<br /></span>
+<span class="i0">Da eines sich stets ndert mit dem andern,<br /></span>
+<span class="i0">Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt&#8221;.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis
+Lassalles. Leider hat er ihn jedoch gerade
+in der kritischsten Periode seiner politischen Laufbahn
+unbeachtet gelassen.</p>
+
+<p>Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten
+auf, sondern nehmen wir das Ganze des Dramas,
+ziehen wir seine Quintessenz.</p>
+
+<p>Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte
+ist bekannt. Sie sind beide Vertreter
+des sptmittelalterlichen Rittertums, einer um die
+Zeit der Reformation im Untergehen begriffenen
+Klasse. Was sie wollen, ist diesen Untergang
+aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das notwendigerweise
+scheitert und dasjenige, was es
+verhindern will, nur beschleunigt. Da Hutten wie
+Sickingen durch Charakter wie Intelligenz ihre
+Klasse weit berragen, so ist hier in der Tat das<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span>
+Material zu einer echten Tragdie gegeben,
+der vergebliche Kampf markiger Persnlichkeiten
+gegen die geschichtliche Notwendigkeit. Merkwrdigerweise
+wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen
+Bewegung im Lassalleschen Drama
+am wenigsten behandelt, so bedeutungsvoll sie
+doch gerade fr die &mdash; wir wollen nicht einmal
+sagen, sozialistische, sondern berhaupt die moderne
+wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ist.
+Im Drama geht das Hutten-Sickingensche Unternehmen
+an tausend Zuflligkeiten &mdash; Unberlegtheit,
+Migriffe in den Mitteln, Verrat usw. &mdash;
+zugrunde, und Hutten-Lassalle schliet mit den
+Worten: &#8222;Knft'gen Jahrhunderten vermach' ich
+unsere Rache&#8221;, was unwillkrlich an den recht
+unhistorischen Schlu in Gtz von Berlichingen
+erinnert: &#8222;Wehe dem Jahrhundert, das dich von
+sich stie! Wehe der Nachkommenschaft, die
+dich verkennt!&#8221; Begreift man aber, warum der
+junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich
+einen Vertreter des untergehenden Rittertums zum
+Helden whlen konnte, so ist es schon schwerer
+zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre spter,
+zu einer Zeit, wo die Geschichtsforschung bereits
+ganz andere Gesichtspunkte zur Beurteilung der
+Kmpfe des Reformationszeitalters erffnet hatte,
+ein Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben
+dieses Rittertums schlechthin als die Reprsentanten
+&#8222;eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt,
+auf dessen Resultaten&#8221;, wie er sich in der
+Vorrede ausdrckt, &#8222;unsere ganze Wirklichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span>
+lebt&#8221;. &#8222;Ich wollte,&#8221; sagt er an der betreffenden
+Stelle weiter, &#8222;wenn mglich, diesen kulturhistorischen
+Proze noch einmal in bewuter Erkenntnis
+und leidenschaftlicher Ergreifung durch
+die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen
+solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie
+gegeben &mdash; und darum entschlo ich mich zu
+diesem Drama.&#8221;</p>
+
+<p>Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen
+neben und mit der Sache des Rittertums noch
+den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und
+fr die Einheit des Reiches, zwei Forderungen,
+welche ideologisch die des untergehenden Rittertums
+waren, geschichtlich aber im Interesse der
+aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn
+auch durch die Entwicklung der Verhltnisse in
+Deutschland nach berwindung der unmittelbaren
+Wirkungen des Dreiigjhrigen Krieges wieder in
+den Vordergrund gedrngt und im neunzehnten
+Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen
+Brgertum verfochten wurden. Der deutsche
+Adel hat sich erst nach der Grndung des neudeutschen
+Reiches daran erinnert, da er einmal
+eine so anstndige Persnlichkeit wie Franz von
+Sickingen hervorgebracht hat &mdash; den Hutten kann
+er noch immer nicht verdauen; in den fnfziger
+Jahren und noch spter feierte der &#8222;Gartenlauben&#8221;-Liberalismus
+Hutten und Sickingen als
+Vorkmpfer der nationalen und Aufklrungsbewegung
+und ignorierte ihre Klassenbestrebungen.</p>
+
+<p>Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span>
+der Fall. Ulrich von Hutten und Franz von
+Sickingen kmpfen lediglich um der geistigen
+Freiheit willen gegen den rmischen Antichrist,
+nur im Interesse der nationalen Sache gegen die
+Einzelfrsten. &#8222;Was wir wollen,&#8221; sagt Sickingen
+im Zwiegesprch mit Hutten, &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;das ist ein ein'ges groes, mcht'ges Deutschland,<br /></span>
+<span class="i0">Zertrmmerung alles Pfaffenregiments,<br /></span>
+<span class="i0">Vollstnd'ger Bruch mit allem rm'schen Wesen,<br /></span>
+<span class="i0">Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,<br /></span>
+<span class="i0">Wiedergeburt, zeitmige der alten,<br /></span>
+<span class="i0">Der urgermanischen gemeinen Freiheit,<br /></span>
+<span class="i0">Vernichtung unsrer Frstenzwergherrschaft<br /></span>
+<span class="i0">Und usurpierten Zwischenregiments,<br /></span>
+<span class="i0">Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang<br /></span>
+<span class="i0">Gesttzt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,<br /></span>
+<span class="i0">Ein &mdash; evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze<br /></span>
+<span class="i0">Des groen Reichs.&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und Hutten antwortet: &#8222;Treu ist das Bild.&#8221;</p>
+
+<p>Da Lassalle ausdrcklich den &#8222;Franz von
+Sickingen&#8221; als ein Tendenzdrama bezeichnet, so
+haben wir in ihm einen Beleg fr die Wandlung,
+die sich in ihm in bezug auf seine &mdash; vorlufig
+ideale &mdash; Stellungnahme zu den politischen Strmungen
+der Zeit vollzogen. Es sollte indes gar
+nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine
+Annherung an die Auffassungsweise der norddeutschen
+brgerlichen Demokratie, auch gegenber
+einer konkreten Frage des Tages offenbaren
+sollte<a name="FNAnker_3_3" id="FNAnker_3_3"></a><a href="#Fussnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a>.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span></p>
+
+<p>Der &#8222;Franz von Sickingen&#8221; war im Winter
+1857/58 vollendet worden. Lassalle hatte ihn,
+wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span>
+begonnen, whrend er noch am Heraklit arbeitete.
+Es sei ihm ein Bedrfnis gewesen, sich zeitweilig
+aus der abstrakten Gedankenwelt, in die er sich bei<span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span>
+jener Arbeit &#8222;einspintisieren&#8221; mute, mit einem
+Gegenstand zu beschftigen, der in direkterer Beziehung
+zu den groen Kmpfen der Menschheit
+stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und
+Reformationszeit studiert und sich an den Werken
+und dem Leben Ulrich von Huttens &#8222;berauscht&#8221;,
+als ihn die Lektre eines gerade erschienenen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span>
+elenden &#8222;modernen&#8221; Dramas auf den Gedanken
+brachte: Das &mdash; der Kampf Huttens &mdash; wre
+ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne
+ursprnglich an sich als ausfhrenden Dichter zu
+denken, den Plan des Dramas entworfen, wurde
+sich aber alsbald klar, da er es auch selbst
+fertig machen msse. Es sei &#8222;wie eine Eingebung&#8221;
+ber ihn gekommen. Man sprt es dem
+Drama auch an, da es mit warmem Herzblut
+geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten
+Fehler erhebt es sich, dank seines geistigen Gehalts,
+immer noch himmelhoch ber die ganze
+Dramenliteratur jener Zeit. Es htte es keiner
+der deutschen Dichter damals besser gemacht als
+Lassalle.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+<h2><a name="Ferdinand_Lassalle" id="Ferdinand_Lassalle">Ferdinand Lassalle
+und der italienische Krieg.</a></h2>
+
+
+<p>Anfang 1859 erschien der &#8222;Franz von Sickingen&#8221;
+als Buchdrama. Gerade als er herauskam,
+stand Europa am Vorabend eines Krieges, der
+auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland
+eine groe Rckwirkung ausben sollte. Es war
+der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis
+Napoleon und Cavour in Plombires verabredete
+franzsisch-sardinische Feldzug behufs Losreiung
+der Lombardei von sterreich und der
+Beseitigung der sterreichischen Oberherrschaft
+in Mittelitalien.</p>
+
+<p>sterreich gehrte damals zum deutschen Bund,<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span>
+und so erhob sich natrlich die Frage, welche
+Haltung die brigen Bundesstaaten in diesem
+Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des
+brigen Deutschland, sich gegenber Frankreich
+mit sterreich zu identifizieren oder nicht?</p>
+
+<p>Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert,
+da der Krieg einen zwieschlchtigen
+Charakter trug. Fr die ihn betreibenden Italiener
+war er ein nationaler Befreiungskampf, der die
+Sache der Einigung und Befreiung Italiens einen
+Schritt vorwrts bringen sollte. Von seiten Frankreichs
+dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen,
+um die Herrschaft des bonapartistischen
+Regimes in Frankreich zu strken und die Machtstellung
+Frankreichs in Europa zu erhhen. Soviel
+stand auf jeden Fall fest. Auerdem pfiffen
+es die Spatzen von den Dchern, da Napoleon
+sich von seinem Verbndeten, dem Knig von
+Sardinien, fr seine Bundesgenossenschaft einen
+hbschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen (Nizza
+und Savoyen) ausbedungen hatte und da die
+&#8222;Einigung&#8221; Italiens in jenem Moment nur soweit
+stattfinden sollte, als sich mit den Interessen des
+bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem
+Grunde denunzierte z.&nbsp;B. ein so leidenschaftlicher
+italienischer Patriot wie Mazzini bereits
+Ende 1858 den in Plombires zwischen Napoleon
+und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als
+eine bloe dynastische Intrige. Soviel war sicher,
+da, wer diesen Krieg untersttzte, zunchst
+Napoleon III. und dessen Plne untersttzte.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span></p>
+
+<p>Napoleon III. brauchte aber Untersttzung.
+Gegen sterreich allein konnte er im Bunde mit
+Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber
+die brigen Staaten des Deutschen Bundes und
+namentlich Preuen sterreich zu Hilfe, so stand
+die Sache wesentlich bedenklicher. So lie er
+denn durch seine Agenten und Geschftstrger
+bei den deutschen Regierungen, in der deutschen
+Presse und unter den deutschen Parteifhrern
+mit allen Mitteln dagegen agitieren, da der Krieg
+als eine Sache behandelt werde, die Deutschland
+etwas angehe. Was habe das deutsche Volk fr
+ein Interesse, die Gewaltherrschaft, die sterreich
+in Italien ausbe, aufrechtzuerhalten, berhaupt
+einem so urreaktionren Staat wie sterreich
+Hilfe zu leisten? sterreich sei der geschworene
+Feind der Freiheit der Vlker; werde
+sterreich zertrmmert, so wrde auch fr
+Deutschland ein schnerer Morgen anbrechen.</p>
+
+<p>Auf der anderen Seite entwickelten die sterreichischen
+Federn, da, wenn die Napoleonischen
+Plne im Sden sich verwirklichten, der
+Rhein in direkte Gefahr geriete. Ihm wrde der
+nchste Angriff gelten. Wer das linke Rheinufer
+vor Frankreichs gierigen Hnden sicherstellen
+wolle, msse dazu beitragen, da sterreich seine
+militrischen Positionen in Oberitalien unbeeintrchtigt
+erhalte, der Rhein msse am Po verteidigt
+werden.</p>
+
+<p>Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene
+Parole stimmte in vielen wesentlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span>
+Punkten mit dem Programm der kleindeutschen
+Partei (Einigung Deutschlands unter Preuens
+Spitze, unter Hinauswerfung sterreichs aus dem
+deutschen Bund) berein, war direkt auf es zugeschnitten.
+Trotzdem konnten sich eine groe
+Anzahl kleindeutscher Politiker nicht dazu entschlieen,
+gerade in diesem Zeitpunkt die Sache
+sterreichs von der des brigen Deutschland zu
+trennen. Dies erschien ihnen um so weniger zulssig,
+als es weiterhin bekannt war, da Napoleon
+den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen
+Regierung in Petersburg fhrte, dieser also den
+weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen
+im Sdosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr
+ging ihre Meinung dahin, jetzt kme es vor
+allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons
+abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, knne
+man weiter reden. Bis es geschehen, mten sich
+aber die Italiener gefallen lassen, da man sie,
+solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes
+kmpften, einfach als dessen Verbndete behandelte.</p>
+
+<p>Es lt sich nun nicht leugnen, da man vom
+kleindeutschen Standpunkt aus auch zu einer andern
+Auffassung der Situation gelangen, in der vorentwickelten
+Gedankenreihe eine Inkonsequenz
+erblicken konnte. Wenn sterreich, und namentlich
+dessen auerdeutsche Besitzungen, um so
+eher je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen
+werden sollten, warum nicht mit Vergngen
+ein Ereignis begren, das sich als ein<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span>
+Schritt zur Verwirklichung dieses Programms darstellte?
+Hatte nicht Napoleon erklrt, da er
+nur sterreich und nicht Deutschland bekriege?
+Warum also sterreich gegen Frankreich beistehen,
+zumal man dadurch gezwungen werde,
+auch die Italiener zu bekriegen, die doch fr
+die gerechteste Sache von der Welt kmpften?
+Warum den Rhein verteidigen, ehe er angegriffen,
+ehe auch nur eine Andeutung gefallen, da ein
+Angriff auf ihn beabsichtigt sei? Warum nicht
+lieber die Verlegenheit sterreichs und die Beschftigung
+Napoleons in Italien benutzen, um die
+Sache der Einigung Deutschlands unter Preuens
+Fhrung auch durch positive Manahmen einen
+weiteren Schritt zu frdern?</p>
+
+<p>Dieser &mdash; es sei wiederholt &mdash; vom kleindeutschen
+Standpunkt aus konsequenteren Politik
+spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 erschienenen
+Schrift &#8222;Der Italienische Krieg und
+die Aufgabe Preuens&#8221; das Wort. Mit groer
+Energie bekmpft er die in den beiden Berliner
+Organen des norddeutschen Liberalismus, der
+&#8222;National-Zeitung&#8221; und der &#8222;Volks-Zeitung&#8221;, &mdash;
+in der ersteren unter anderm auch von Lassalles
+nachmaligem Freunde, Lothar Bucher &mdash; verfochtene
+Ansicht, einem von Bonaparte ausgehenden
+Angriff gegenber msse Preuen sterreich
+als Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert
+er dagegen, da Preuen den Moment benutzen
+solle, den deutschen Kleinstaaten gegenber seine
+deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span>
+Napoleon die Karte Europas im Sden nach dem
+Prinzip der Nationalitten revidiere, dasselbe im
+Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn
+jener Italien befreie, seinerseits Schleswig-Holstein
+zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen,
+&#8222;whrend die Demolierung sterreichs sich schon
+von selbst vollzieht, fr die Erhhung Preuens
+in der Deutschen Achtung zu sorgen&#8221;. Und, fgt
+Lassalle schlielich hinzu, &#8222;mge die Regierung
+dessen gewi sein. In diesem Kriege, der ebensosehr
+ein Lebensinteresse des deutschen Volks
+als Preuens ist, wrde die deutsche Demokratie
+selbst Preuens Banner tragen und alle Hindernisse
+vor ihm zu Boden werfen mit einer Expansivkraft,
+wie ihrer nur der berauschende Ausbruch
+einer nationalen Leidenschaft fhig ist, welche
+seit fnfzig Jahren komprimiert in dem Herzen
+eines groen Volkes zuckt und zittert.&#8221;</p>
+
+<p>Man hat Lassalle spter auf Grund dieser Broschre
+zu einem Advokaten der &#8222;deutschen&#8221; Politik
+Bismarcks zu stempeln gesucht, und es lt
+sich nicht bestreiten, da das in ihr entwickelte
+nationale Programm als solches eine groe hnlichkeit
+mit dem des im Sommer 1859 gegrndeten
+Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit
+der Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung
+der deutschen Einheit unter preuischer
+Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all seinem
+theoretischen Radikalismus in der Praxis noch
+ziemlich stark im Preuentum stecken geblieben.
+Nicht da er bornierter preuischer Partikularist<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span>
+gewesen wre &mdash; wir werden gleich sehen,
+wie weit er davon entfernt war &mdash;, aber er sah
+die nationale Bewegung und die auf die auswrtige
+Politik bezglichen Angelegenheiten im wesentlichen
+durch die Brille des preuischen Demokraten
+an, sein Ha gegen sterreich war in dieser
+Hinsicht ebenso bertrieben, wie der Preuenha
+vieler sddeutscher Demokraten und selbst
+Sozialisten. sterreich ist ihm &#8222;der kulturfeindlichste
+Staatsbegriff, den Europa aufzuweisen
+hat&#8221;, er mchte &#8222;den Neger kennen lernen, der,
+neben sterreich gestellt, nicht ins Weiliche
+schimmerte&#8221;; sterreich ist &#8222;ein reaktionres
+Prinzip&#8221;, der &#8222;gefhrlichste Feind aller Freiheitsideen&#8221;;
+&#8222;der Staatsbegriff sterreich&#8221; mu &#8222;zerfetzt,
+zerstckt, vernichtet, zermalmt &mdash; in alle
+vier Winde zerstreut werden&#8221;, jede politische
+Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen
+knne, habe sterreich auch auf dem Gewissen,
+und &#8222;wenn die Rechnung sonst ziemlich gleichstehen
+mchte &mdash; das rmische Konkordat hat
+Louis Napoleon trotz seiner Begnstigung des
+Klerus nicht geschlossen&#8221;. Selbst Ruland kommt
+noch besser weg, als sterreich. &#8222;Ruland ist
+ein naturwchsig-barbarisches Reich, welches von
+seiner despotischen Regierung soweit zu zivilisieren
+gesucht wird, als mit ihren despotischen
+Interessen vertrglich ist. Die Barbarei hat hier
+die Entschuldigung, da sie nationales Element
+ist.&#8221; Ganz anders aber mit sterreich. &#8222;Hier
+vertritt, im Gegensatz zu seinen Vlkern, die Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span>
+das barbarische Prinzip, knstlich und
+gewaltsam seine Kulturvlker unter dasselbe beugend.&#8221;</p>
+
+<p>In dieser einseitigen und relativ &mdash; d.&nbsp;h. wenn
+man die brigen Staaten in Vergleich zieht &mdash;
+damals auch bertriebenen Schwarzmalerei sterreichs
+und auch sonst in verschiedenen Punkten,
+begegnet sich die Lassallesche Broschre mit einer
+Schrift, die schon einige Wochen vor ihr erschienen
+war und ebenfalls die Tendenz hatte, die
+Deutschen zu ermahnen, Napoleon in Italien, solange
+er den Befreier spiele, freie Hand zu lassen
+und der Zertrmmerung sterreichs zu applaudieren.
+Es war dies die Schrift Karl Vogts
+&#8222;Studien zur gegenwrtigen Lage Europas&#8221;, ein die
+bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und
+direkt oder indirekt auch auf bonapartistischen
+Antrieb geschriebenes Buch. Ich wrde Anstand
+genommen haben, diese Schrift in irgendeinem
+Zusammenhange mit der Lassalleschen zu zitieren,
+indes Lassalle ist so durchaus ber jeden Verdacht
+der Komplizitt mit Vogt oder dessen Einblsern
+erhaben, da die Mglichkeit absolut
+ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der mir
+aus sachlichen Grnden notwendig erscheint, ein
+falsches Licht auf Lassalle zu werfen. Zum
+berflu will ich aber noch einen Passus aus
+der Vorrede zum &#8222;Herr Vogt&#8221; von Karl Marx
+hierhersetzen, jener Schrift, die den Beweis lieferte,
+da Vogt damals im bonapartistischen Interesse
+schrieb und agitierte, und deren Beweisfhrung<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span>
+neun Jahre spter durch die in den Tuilerien
+vorgefundenen Dokumente besttigt wurde &mdash;
+ein Passus, der schon deshalb hierher gehrt, weil
+er zweifelsohne gerade auch auf Lassalle sich bezieht.
+Marx schreibt:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Von Mnnern, die schon vor 1848 miteinander
+darin bereinstimmten, die Unabhngigkeit
+Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als
+ein Recht dieser Lnder, sondern als das Interesse
+Deutschlands und Europas zu vertreten,
+wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt
+ber die Taktik, die Deutschland bei
+Gelegenheit des italienischen Krieges von 1859
+Louis Bonaparte gegenber auszufhren habe.
+Dieser Gegensatz entsprang aus gegenstzlichen
+Urteilen ber tatschliche Voraussetzungen,
+ber die zu entscheiden einer spteren Zeit
+vorbehalten bleibt. Ich fr meinen Teil habe
+es in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts
+und seiner Klique zu tun. Selbst die Ansicht,
+die er zu vertreten vorgab, und in der Einbildung
+eines urteilslosen Haufens vertrat, fllt
+in der Tat auerhalb der Grenzen meiner Kritik.
+Ich behandle die Ansichten, die er wirklich vertrat.&#8221;
+(K. Marx &#8222;Herr Vogt&#8221;. Vorwort V, VI.)</p></blockquote>
+
+<p>Trotzdem war es natrlich nicht zu vermeiden,
+da dort, wo Vogt mit Argumenten operiert, die
+sich auch bei Lassalle finden, dieser in der Marxschen
+Schrift mitkritisiert wird, was brigens
+Lassalle nicht verhindert hat, in einem Briefe an<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span>
+Marx vom 19. Januar 1861 zu erklren, da er
+nach der Lektre des &#8222;Herr Vogt&#8221; Marx' berzeugung,
+da Vogt von Bonaparte bestochen sei,
+&#8222;ganz gerechtfertigt und in der Ordnung&#8221; finde,
+der innere Beweis dafr<a name="FNAnker_4_4" id="FNAnker_4_4"></a><a href="#Fussnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> sei &#8222;mit einer immensen
+Evidenz gefhrt&#8221;. Das Buch sei &#8222;in jeder Hinsicht
+ein meisterhaftes Ding&#8221;.</p>
+
+<p>Jedenfalls ist der &#8222;Herr Vogt&#8221; ein uerst
+instruktives Buch zum Verstndnis der Geschichte
+des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet
+enthlt eine Flle von geschichtlichem Material,
+das zu einem ganzen Dutzend Abhandlungen ausreichen
+wrde.</p>
+
+<p>Fr unsere Betrachtung hat es aber noch ein
+besonderes Interesse.</p>
+
+<p>Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle
+war zu keiner Zeit so lebhaft, als in den Jahren
+1859 und 1860, und ein groer Teil davon handelt
+eben von dem italienischen Krieg und der
+ihm gegenber einzunehmenden Haltung. Ob die
+Briefe Marx' hierber an Lassalle noch erhalten
+sind und wenn, in welchen Hnden sie sich befinden,
+ist bis jetzt nicht bekannt, noch ob der
+jetzige Besitzer sie zu verffentlichen bereit ist.
+Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung,
+die Marx damals einnahm, nur unvollkommen
+zu ersehen, und noch weniger ihre Begrndung,
+da sich Lassalle, wie brigens ganz natrlich,<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span>
+meist darauf beschrnkt, seine Stellungnahme zu
+motivieren und die Einwnde gegen dieselbe mglichst
+zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht
+des weiteren dargelegt zu werden, warum in einer
+fr Sozialisten geschriebenen Abhandlung ber
+Lassalle nicht nur dessen persnliche Beziehung
+zu den Begrndern des modernen wissenschaftlichen
+Sozialismus, sondern auch sein Verhltnis
+zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer Behandlung
+der politischen und sozialen Fragen von
+besonderem Interesse ist.</p>
+
+<p>Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhltnis
+lange Zeit seine fertige Schablone. Fr
+die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete
+sie: Lassalle war national, Marx und Engels
+waren in jeder Hinsicht international, Lassalle
+war deutscher Patriot, Marx und Engels waren
+vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die
+Weltrepublik und die Revolution gekmmert, was
+aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgltig.</p>
+
+<p>Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser
+Schrift hat jene Gegenberstellung aufgegeben
+werden mssen.</p>
+
+<p>Noch ehe Lassalles &#8222;Italienischer Krieg&#8221; erschien,
+war in demselben Verlage, wie spter
+diese, eine Broschre erschienen, die dasselbe
+Thema behandelte. Sie war betitelt: &#8222;Po und
+Rhein.&#8221; Der Verfasser, der sich ebensowenig
+nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner
+Schrift, suchte militrwissenschaftlich nachzuweisen,
+da die von den Organen der sterreichischen<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span>
+Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedrfe
+zu seiner Verteidigung im Sdwesten der
+italienischen Provinzen, falsch sei, da auch ohne
+diese Deutschland noch eine starke Defensivposition
+in den Alpen habe, namentlich sobald ein
+einheitliches und unabhngiges Italien geschaffen
+sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund,
+mit Deutschland zu hadern, wohl aber hufig
+genug Anla haben werde, Deutschlands Bundesgenossenschaft
+gegen Frankreich zu suchen. Oberitalien
+sei ein Anhngsel, das Deutschland hchstens
+im Kriege nutzen, im Frieden immer nur
+schaden knne. Und auch der militrische Vorteil
+im Kriege wrde erkauft durch die geschworene
+Feindschaft von 25 Millionen Italienern. Aber,
+fhrte der Verfasser alsdann aus, die Frage um
+den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen
+Deutschland und Italien, und nicht eine zwischen
+sterreich und Louis Napoleon. Gegenber
+einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner
+eigenen, in anderer Beziehung anti-deutschen Interessen
+willen sich einmischte, handle es sich um
+die einfache Behauptung einer Provinz, die man
+nur gezwungen abtritt, einer militrischen Position,
+die man nur rumt, wenn man sie nicht mehr
+halten kann ... &#8222;Werden wir angegriffen, so
+wehren wir uns.&#8221; Wenn Napoleon als Paladin
+der italienischen Unabhngigkeit auftreten wolle,
+so mge er erst bei sich anfangen und den Italienern
+Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie
+ernst es ihm ist. Solle aber die Karte von Europa<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span>
+revidiert werden, &#8222;so haben wir Deutsche das
+Recht, zu fordern, da es grndlich und unparteiisch
+geschehe, und da man nicht, wie es
+beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein
+solle Opfer bringen.&#8221; &#8222;Das Endresultat dieser
+ganzen Untersuchung aber ist,&#8221; heit es schlielich,
+&#8222;da wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten
+Handel machen wrden, wenn wir den Po,
+den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen
+Plunder vertauschen knnten gegen die Einheit ...
+die allein uns nach innen und auen stark machen
+kann.&#8221;</p>
+
+<p>Der Verfasser dieser Broschre war kein anderer
+als &mdash; Friedrich Engels. Unntz zu sagen,
+da Engels sie im Einverstndnis mit Karl Marx
+verffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle
+besorgt. Lassalle hatte auch, wie aus einem seiner
+Briefe hervorgeht, eine Besprechung ihres Inhalts
+an die &mdash; damals noch unabhngige &mdash;
+Wiener &#8222;Presse&#8221; geschickt, deren Redakteur mit
+ihm verwandt war. Er kannte also ihren Inhalt
+ganz genau, als er seinen &#8222;Italienischen Krieg&#8221;
+schrieb, polemisiert somit auch gegen sie, wenn er
+die Ansicht bekmpft, da, da der Krieg durch
+Napoleons Fhrung aus einem Befreiungskrieg in
+ein gegen Deutschland gerichtetes Unternehmen
+verwandelt sei, das notgedrungen mit einem
+Angriff auf den Rhein enden werde, er auch
+deutscherseits nur als solches zu behandeln sei.
+Auf der andern Seite wird, wie schon erwhnt,
+Lassalles Schrift im &#8222;Herr Vogt&#8221; mitkritisiert,<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span>
+und zwar in dem Abschnitt VIII &#8222;D-d-Vogt
+und seine Studien&#8221;<a name="FNAnker_5_5" id="FNAnker_5_5"></a><a href="#Fussnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a>.</p>
+
+<p>Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit
+den Vogtschen bereinstimmten, dafr nur ein
+Beispiel. sterreichischerseits war auf die Vertrge
+von 1815 hingewiesen worden, durch welche
+sterreich der Besitz der Lombardei garantiert
+worden war. Darauf antworten nun:</p>
+
+
+<div class="center" style="font-size: 90%;">
+<table border="0" cellpadding="8" cellspacing="0" summary="Antworten Vogt - Lassalle">
+<col width="50%" />
+<col width="50%" />
+<tr><td>Vogt:</td><td>Lassalle:</td></tr>
+<tr><td align="justify" valign="top">
+&#8222;Es ist sonderbar, eine
+solche Sprache in dem
+Munde der einzigen Regierung
+(bei Vogt unterstrichen)
+zu vernehmen,
+die bis jetzt in frecher
+Weise die Vertrge gebrochen
+hat. Von allen andern
+sind sie bis jetzt respektiert
+worden, nur sterreich
+hat sie gebrochen, indem
+es mitten im Frieden,
+ohne Ursache, seine frevelnde
+Hand gegen die
+durch diese Vertrge garantirte
+Republik Krakau
+ausstreckte und dieselbe
+dem Kaiserstaat ohne weiteres
+einverleibte.&#8221; (&#8222;Studien&#8221;,
+S. 58.)
+</td><td align="justify" valign="top">
+&#8222;Die Vertrge von 1815
+knnen nicht einmal mehr
+diplomatisch ernstlich aufgerufen
+werden. Verletzt
+durch die Konstituirung
+Belgiens, mit Fen getreten
+und zerrissen gerade
+von sterreich durch die
+gewaltsame Okkupation
+Krakaus, gegen welche die
+europischen Kabinette zu
+protestieren nicht unterlieen,
+haben sie jede rechtliche
+Gltigkeit fr jedes
+Mitglied der europischen
+Staatenfamilie verloren.&#8221;
+(&#8222;Der Ital. Krieg usw.&#8221;
+Ges. Schriften Bd. I S.&nbsp;43.)
+</td></tr>
+</table>
+</div>
+
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p>
+
+<p>Hren wir nun Marx gegen Vogt:</p>
+
+<p>&#8222;Nikolaus natrlich vernichtete Konstitution
+und Selbstndigkeit des Knigreich Polen, durch
+die Vertrge von 1815 garantiert, aus &#8218;Achtung&#8217;
+vor den Vertrgen von 1815. Ruland achtete
+nicht minder die Integritt Krakaus, als es die
+freie Stadt im Jahre 1831 mit moskowitischen
+Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau
+wieder besetzt von Russen, sterreichern und
+Preuen, wurde vllig als erobertes Land behandelt
+und appellierte noch im Jahre 1840, unter
+Berufung auf die Vertrge von 1815, vergebens
+an England und Frankreich. Endlich am 22. Februar
+1846 besetzten Russen, sterreicher und
+Preuen abermals Krakau, um es sterreich einzuverleiben.
+Der Vertragsbruch geschah durch
+die drei nordischen Mchte, und die sterreichische
+Konfiskation von 1846 war nur das letzte Wort
+des russischen Einmarsches von 1831.&#8221; (&#8222;Herr
+Vogt&#8221;, S.&nbsp;73/74.) In einer Note weist dann<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span>
+Marx noch auf sein Pamphlet &#8222;Palmerston and
+Poland&#8221; hin, wo nachgewiesen sei, da Palmerston
+seit 1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau
+mitgearbeitet habe. Indes das letztere ist eine
+Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, wohl
+aber interessiert uns der andere Nachweis bei
+Marx, da Vogt auch mit der Verweisung auf
+das Beispiel Krakaus nur eine von bonapartistischer
+Seite ausgehende Argumentation ab- und
+umschrieb. In einem der Anfang 1859 bei Dentu
+in Paris herausgekommenen bonapartistischen
+Pamphlete, &#8222;La vraie question, France, &mdash; Italie
+&mdash; Autriche&#8221;, hatte es wrtlich geheien:</p>
+
+<p>&#8222;Mit welchem Rechte brigens wrde die sterreichische
+Regierung die Unverletzbarkeit der
+Vertrge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben
+verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau,
+dessen Unabhngigkeit diese Vertrge garantierten?&#8221;</p>
+
+<p>Vogt hatte in seiner Manier berall noch
+einen Extratrumpf aufgesetzt. Phrasen wie &#8222;die
+einzige Regierung&#8221;, &#8222;in frecher Weise&#8221;, &#8222;frevelnde
+Hand&#8221; sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am
+Schlu des obenzitierten Satzes pathetisch die
+&#8222;politische Nemesis&#8221; gegen sterreich anruft.</p>
+
+<p>Lassalle hatte, als er seine Broschre schrieb,
+das Vogtsche Machwerk noch nicht zu Gesicht
+bekommen, aber da seine Schrift durch die von
+Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanle
+in die Presse des In- und Auslandes lancierten
+Schlagworte beeinflut war, das unterliegt nach<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span>
+diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe
+hnlicher an die Seite gesetzt werden knnen,
+gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen
+Bismarckanbeter sich spter darauf beriefen, da
+die Politik ihres Heros sogar die Sanktion Lassalles
+erhalten habe, so bersahen sie dabei nur die
+eine Tatsache, da das von Lassalle der preuischen
+Regierung vorgehaltene Programm, wie
+immer es von Lassalle selbst gemeint war, in den
+entscheidenden Punkten dem Programm glich, das
+Bonaparte zu jener Zeit den deutschen Patrioten
+vorsetzen lie, um sie fr seine damalige Politik
+zu gewinnen. Alle die Ausfhrungen Lassalles in
+dieser Schrift, die spter von brgerlichen Schriftstellern
+als ungewhnliche Vorhersagungen bezeichnet
+worden sind, finden sich auch in Vogts
+&#8222;Studien&#8221; und andern aus bonapartistischen Quellen
+gespeisten Pamphleten. Gerade Vogt wute z.&nbsp;B.
+schon im Jahre 1859, also noch vor der preuischen
+Heeresreform, da, wenn Preuen einen
+deutschen Brgerkrieg fr die Herstellung einer
+einheitlichen deutschen Zentralgewalt ins Werk
+setzen wrde, dieser Krieg &#8222;nicht so viel Wochen
+kosten wrde, als der italienische Feldzug Monate.&#8221;
+(&#8222;Studien&#8221; S.&nbsp;155.) Des weiteren wute
+Vogt, da das Berliner Kabinett sterreich im
+Stich lassen werde, es mute nach ihm &#8222;dem Kurzsichtigsten&#8221;
+klar geworden sein, da ein Einverstndnis
+zwischen Preuens Regierung und der
+kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; da
+Preuen nicht zur Verteidigung der auerdeutschen<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span>
+Provinzen sterreichs zum Schwerte
+greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner
+Bundesglieder fr sterreich verhindern
+wird, um ... seinen Lohn fr diese Anstrengungen
+in norddeutschen Flachlanden zu erhalten.
+(&#8222;Studien&#8221; S.&nbsp;19.) Mehr Vorhersagungen kann
+man wirklich von einem Propheten nicht verlangen.</p>
+
+<p>Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur
+Ausfhrung gekommen. Bismarck, der dazu bereit
+gewesen wre, war dem Prinzregenten von
+Preuen noch zu sehr Strmer, um ihm als
+Minister des Auswrtigen genehm zu sein. Der
+nachmalige Wilhelm&nbsp;I. schreckte vor dem Gedanken
+zurck, sterreich rundheraus die Bundeshilfe
+zu versagen. Er stellte seine Bedingungen,
+und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt
+er seine Truppen zurck. So &#8222;drauf und dran&#8221;
+sterreich zu helfen, wie Lassalle eine Zeitlang
+annahm, war auch er nicht.</p>
+
+<p>&#8222;Meine Broschre &#8218;Der italienische Krieg und
+die Aufgabe Preuens&#8217;&#8221; &mdash; schreibt Lassalle
+unterm 27. Mai 1859 an Marx und Engels &mdash; &#8222;wird
+Euch zugekommen sein. Ich wei nicht, ob Ihr
+dort hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens
+durch diese annhernd von der Stimmung
+hier unterrichtet gewesen zu sein. Absolute Franzosenfresserei,
+Franzosenha (Napoleon nur Vorwand,
+die revolutionre Entwicklung Frankreichs
+der wirkliche geheime Grund), das ist das Horn,
+in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die
+Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend,<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span>
+ins Herz der untersten Volksklassen
+und der demokratischen Kreise zu gieen suchen,
+und leider mit Erfolg genug. So ntzlich ein gegen
+den Willen des Volkes von der Regierung unternommener
+Krieg gegen Frankreich fr unsere
+revolutionre Entwicklung sein wrde, so schdlich
+mte ein von verblendeter Volkspopularitt
+getragener Krieg auf unsre demokratische Entwicklung
+einwirken. Zu den im 6.&nbsp;Kapitel meiner
+Broschre in dieser Hinsicht exponierten Grnden
+kommt dazu, da man schon jetzt den Ri, der
+uns von unsern Regierungen trennt, ganz und gar
+zuwachsen lt. Solchem drohenden Unheil fand
+ich fr Pflicht, mich entgegenzuwerfen ... Natrlich
+gebe ich mich keinen Augenblick der Tuschung
+hin, als knnte und wrde die Regierung den
+sub III eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!...
+Aber eben um so mehr fhlte ich mich
+gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade
+weil er sofort in einen Vorwurf umschlgt. Er
+kann wie ein Eisblock wirken, an dem sich die
+Wogen dieser falschen Popularitt zu brechen
+anfangen.&#8221;</p>
+
+<p>Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner
+Schrift mehr darauf an, die revolutionre als die
+nationale Bewegung zu frdern, die letztere der
+ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich
+war berechtigt, die Frage war eben nur, ob das
+Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale
+Bewegung, ber deren zeitweilige Berechtigung
+zwischen Lassalle einerseits und Marx und Engels<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span>
+andererseits durchaus keine Meinungsverschiedenheit
+bestand, in falsche Bahnen lenken mute.
+Marx und Engels behaupteten das. Nach ihrer
+Ansicht kam es zunchst darauf an, den gegen
+Deutschland als Ganzes gefhrten Streich durch
+eine gemeinsame Aktion aller Deutschen zurckzuschlagen,
+und nicht in dem Moment, wo ein
+solcher Schlag gefhrt wurde, eine Politik selbst
+nur scheinbar zu untersttzen, die zur Zerreiung
+Deutschlands fhren mute. Die Meinungsverschiedenheit
+zwischen ihnen und Lassalle in
+dieser Frage beruht im wesentlichen darauf, da
+sie sie mehr in ihrem weiteren historischen und
+internationalen Zusammenhang betrachteten, whrend
+Lassalle sich mehr durch die Rcksicht auf
+die augenblicklichen Verhltnisse in der inneren
+Politik leiten lie. Daher beging er auch die
+Inkonsequenz, whrend er in bezug auf Frankreich
+streng zwischen Volk und Regierung unterschied,
+sterreich und das Haus Habsburg ohne
+weiteres zu identifizieren und die &#8222;Zertrmmerung
+sterreichs&#8221; zu proklamieren, wo es sich
+zunchst doch nur um die Zertrmmerung des
+habsburgischen Regierungssystems handeln konnte.
+In einem seiner Briefe an Rodbertus knpft er
+an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben,
+wo &mdash; die trkische Erbschaft an Deutschland
+gefallen sein wird und deutsche Soldaten oder
+Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>und sagt:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span></p>
+
+<p>&#8222;Es hat mich zu eigentmlich berhrt, als ich
+in Ihrem letzten Schreiben diese Worte las! Denn
+wie oft habe ich nicht gerade diese Ansicht meinen
+besten Freunden gegenber vergeblich vertreten
+und mich dafr von ihnen einen Trumer nennen
+lassen mssen! Die ganze Verschiebung der seit
+1839 so oft in Angriff genommenen orientalischen
+Frage hat fr mich immer nur den vernnftigen
+Sinn und Zusammenhang gehabt, da die Frage
+so lange hinausgeschoben werden mu, bis der
+naturgeme Anwrter, die deutsche Revolution,
+sie lst! Wir scheinen im Geist als siamesische
+Zwillingsbrder zur Welt gekommen zu sein.&#8221;
+(Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus-Jagetzow,
+herausgegeben von Ad. Wagner, Brief
+vom 8.&nbsp;Mai&nbsp;1863.)</p>
+
+<p>Wie Deutschland die trkische Erbschaft antreten
+sollte, nachdem vorher sterreich &#8222;zerfetzt,
+zerstckt, vernichtet, zermalmt&#8221;, Ungarn
+und die slawischen Landesteile von Deutsch-sterreich
+losgerissen worden, ist schwer verstndlich.</p>
+
+<p>Noch eine andere Stelle aus den Briefen an
+Rodbertus gehrt hierher:</p>
+
+<p>&#8222;Wenn ich etwas in meinem Leben gehat habe,
+ist es die kleindeutsche Partei. Alles Kleindeutsche
+ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem
+&#8218;Staatsmann&#8217; der Kleindeutschen, abgeleitet) und
+reine Feigheit. Vor 1&frac12; Jahren hielt ich hier einmal
+bei mir eine Versammlung meiner Freunde<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span>
+ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir
+mssen alle wollen: Grodeutschland moins les
+dynasties.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben,
+das der kleindeutschen Partei zugute
+kme, betrachte sie als das Produkt der bloen
+Furcht vor: Ernst, Krieg, Revolution, Republik
+und als ein gutes Stck Nationalverrat.&#8221; (Brief
+vom 2.&nbsp;Mai&nbsp;1863.)</p>
+
+<p>Es ist klar, da, wenn es Lassalle mit dem
+nationalen Programm, wie er es in &#8222;Der Italienische
+Krieg usw.&#8221; entwickelte, ernst gewesen
+wre, er unmglich die obigen Stze htte schreiben
+knnen, denn jenes ist ganz gewi kleindeutsch.
+Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm fr seine
+viel weitergehenden politischen Zwecke, fr die
+Herbeifhrung der Revolution, die die nationale
+Frage im grodeutschen Sinne lsen sollte, zweckmig
+erschien. In den, auf sein Schreiben vom
+27. Mai 1859 folgenden Briefen an Marx und
+Engels spricht er sich immer bestimmter in diesem
+Sinne aus. Da die meist sehr ausfhrlichen Briefe
+nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen
+sind, so knnen wir uns hier auf einige
+Auszge und kurze Zusammenfassungen beschrnken.</p>
+
+<p>Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen
+Briefe sind sehr oft ohne Datum, so da dieses
+aus dem Inhalt kombiniert werden mute) schreibt
+Lassalle an Marx: &#8222;Nur in dem populren Kriege<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span>
+gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglck. In
+dem bei der Nation unpopulren Kriege aber ein
+immenses Glck fr die Revolution ... Die Aufgabe
+verteilt sich also so, da unsere Regierungen
+den Krieg machen mssen (und sie werden dies
+tun) und wir ihn unpopularisieren mssen ... Ihr
+scheint dort, zehn Jahre fern von hier, wirklich
+noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig entmonarchisiert
+unser Volk ist. Ich habe es auch
+erst in Berlin mit Leidwesen gesehen ... Kme
+nun noch hinzu, da dem Volk die berzeugung
+beigebracht wird<a name="FNAnker_6_6" id="FNAnker_6_6"></a><a href="#Fussnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a>, die Regierung fhre diesen
+Krieg als einen nationalen, sie habe sich zu einer
+nationalen Tat erhoben, so solltet Ihr sehen, wie
+vollstndig die Vershnung wrde und wie, gerade
+bei Unglcksfllen, das Band der &#8218;deutschen
+Treue&#8217; das Volk an seine Regierungen binden
+wrde ...&#8221; Was in unserm Interesse liegt, ist
+offenbar etwa folgendes:</p>
+
+<p>&#8222;1. da der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen,
+wie gesagt, unsere Regierungen schon von
+selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter
+Quelle zukommen, besagen, da der Prinz drauf
+und dran sei, fr sterreich einzutreten.&#8221;</p>
+
+<p>Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt
+zutreffend.</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span></p>
+<p>&#8222;2. da er schlecht gefhrt wird. (Dies werden
+unsere Regierungen gleichfalls von selbst besorgen,
+und um so mehr, je weniger das Volksinteresse
+fr den Sieg sie untersttzt.)</p>
+
+<p>&#8222;3. da das Volk der berzeugung sei, der
+Krieg werde im volksfeindlichen, im dynastischen,
+im kontrerevolutionren Sinne, also gegen seine
+Interessen, unternommen. &mdash; Dies allein knnen
+wir besorgen, und dies zu besorgen ist daher
+unsere Pflicht.&#8221;</p>
+
+<p>Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen
+Zweck es haben knne, &#8222;einen populren Krieg
+gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen&#8221;.
+Auch hier aber sind es lediglich zwei Rcksichten,
+die er als magebend anerkennt: 1. die Rckwirkung
+auf die Aussichten der revolutionren
+Parteien hben und drben, und 2. die Rckwirkung
+auf die Beziehungen der deutschen Demokratie
+zur franzsischen und italienischen Demokratie.
+Die Frage der Interessen Deutschlands
+als Nation berhrt er gar nicht. Auf den Vorhalt,
+da er dieselbe Politik empfehle wie Vogt, der
+im franzsischen Solde schreibe, antwortet er:
+&#8222;Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft,
+die ich habe, ad absurdum fhren? Dann knnte
+ich Dir das Kompliment zurckgeben, da Du
+das Unglck hast, diesmal mit Venedey und
+Waldeck einer Meinung zu sein.&#8221; Alsdann rhmt
+er sich, da seine Broschre &#8222;immens&#8221; gewirkt
+habe, &#8222;Volks-Zeitung&#8221; und &#8222;National-Zeitung&#8221;
+htten zum Rckzug geblasen, die letztere &#8222;in<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span>
+einer Serie von sechs Leitartikeln eine vollstndige
+Schwenkung gemacht&#8221;. Da Lassalle gar nicht
+darauf kam, sich zu fragen, warum denn diese
+Organe kleindeutscher Richtung sich so schnell
+bekehren lieen!</p>
+
+<p>In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 &mdash;
+nach Villafranca &mdash; heit es: &#8222;Es ist ganz selbstredend,
+da zwischen uns nicht das Prinzip, sondern,
+wie Du sagst und wie ich es nie anders
+auffate, die &#8218;passendste Politik&#8217; ... streitig war.&#8221;
+Und um wieder keinen Zweifel darber zu lassen,
+wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: &#8222;d.&nbsp;h.
+also doch die zur revolutionren Entwicklung
+passendste Politik.&#8221;</p>
+
+<p>Anfang 1860 an Fr. Engels: &#8222;Nur zur Vermeidung
+von Miverstndnissen mu ich bemerken,
+da ich brigens auch im vorigen Jahre,
+als ich meine Broschre schrieb, sehnlichst
+wnschte, da Preuen den Krieg gegen Napoleon
+mache. Aber ich wnschte ihn nur unter der Bedingung,
+da die Regierung ihn mache, er aber
+beim Volke so unpopulr und verhat wie mglich
+sei. Dann freilich wre er ein groes Glck
+gewesen. Aber dann mute die Demokratie gegen,
+nicht fr diesen Krieg schreiben und propagieren
+... Fr die gegenwrtige Lage sind wir
+wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl
+ebensosehr fr die zuknftige.&#8221;</p>
+
+<p>In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf
+die damals gerade eingebrachte Militrreorganisations-Vorlage
+zu sprechen, die bekanntlich spter<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span>
+zum Konflikt zwischen der Regierung und der
+liberalen Bourgeoisie fhrte. Die Mobilmachung
+1859 hatte die preuische Regierung berzeugt,
+wie wenig schlagfertig die preuische Armee noch
+war und da durchgreifende nderungen notwendig
+waren, um sie in den Stand zu setzen, sei
+es nun gegen Frankreich oder sterreich, mit
+einiger Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rcken.
+Wer es also mit &#8222;Preuens deutschem Beruf&#8221;
+ernst nahm, der mute auch in die Heeresreorganisation
+einwilligen oder mindestens objektiv ihre
+Berechtigung anerkennen, was ja auch die Fortschrittler
+anfangs taten. Hren wir nun Lassalle:
+&#8222;Das Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung &mdash;
+vllige, nur verkappte &mdash; der Landwehr als letzten
+demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schpfung
+eines immensen Machtmittels fr Absolutismus
+und Junkertum ist in zwei Worten der evidente
+Zweck desselben. Nie wrde Manteuffel gewagt
+haben, so etwas vorzuschlagen! Nie htte er es
+durchgesetzt. Wer jetzt in Berlin lebt und nicht
+am Liberalismus stirbt, der wird nie am rger
+sterben!&#8221;</p>
+
+<p>Schlielich sei noch eine Stelle aus einem Briefe
+Lassalles an Marx aus Aachen vom 11. September
+1860 zitiert. Marx hatte u.&nbsp;a. auch in einem Briefe
+an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs
+hingewiesen, in der ausgefhrt worden war, da,
+wenn Preuen sterreich gegen Frankreich zu
+Hilfe kme, Ruland seinerseits fr Frankreich
+<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span>
+intervenieren, d.&nbsp;h. Preuen <em class="gesperrt">und</em> sterreich den
+Krieg erklren wrde. Diese Note sei, hatte Marx
+ausgefhrt, erstens ein Beweis, da es sich um
+einen Anschlag gehandelt habe, bei dem die Befreiung
+Italiens nur Vorwand, die Schwchung
+Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und
+sie sei zweitens eine unverschmte Einmischung
+Rulands in deutsche Angelegenheiten, die nicht
+geduldet werden drfe. Darauf erwidert nun
+Lassalle, er knne in der Note eine Beleidigung
+nicht erblicken, aber selbst wenn eine solche darin
+enthalten sei, so treffe sie ja doch nur &#8222;die deutschen
+Regierungen&#8221;. &#8222;Denn, diable! was geht
+Dich und mich die Machtstellung des Prinzen von
+Preuen an? Da alle seine Tendenzen und Interessen
+gegen die Tendenzen und Interessen des
+deutschen Volkes gerichtet sind, so liegt es vielmehr
+gerade im Interesse des deutschen Volkes,
+wenn die Machtstellung des Prinzen nach auen
+so gering wie mglich ist.&#8221; Man msse sich also
+eher solcher Demtigungen freuen und sie hchstens
+in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen,
+wie es die Franzosen unter Louis Philipp getan
+htten.</p>
+
+<p>Man kann sich wohl nicht &#8222;hochverrterischer&#8221;
+ausdrcken, als es hier berall geschieht, und diejenigen,
+die ehedem Lassalle als das Muster eines
+guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses
+Wortes der Sozialdemokratie von heute gegenberstellten,
+haben nach Verffentlichung der Lassalleschen
+Briefe an Marx und Engels einfach einpacken
+mssen. Die Motive, die Lassalle bei der<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span>
+Abfassung des &#8222;Italienischen Krieges&#8221; leiteten,
+sind alles andere, nur nicht eine Anerkennung der
+nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt,
+da hier, wie es in den meisten brgerlichen
+Biographien heit, bei Lassalle der Parteimann
+hinter den Patrioten zurcktritt, kann man im
+Gegenteil eher sagen, da der Parteimann, der
+republikanische Revolutionr, den Patrioten zurckdrngt.</p>
+
+<p>Man knnte freilich mit einem gewissen Schein
+von Recht die Frage aufwerfen: &#8222;Ja, wenn der
+Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an
+Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem,
+den er in der Broschre vertritt, wer garantiert
+dann, da der erstere der wirklich von Lassalle
+im Innersten seines Herzens eingenommene ist?
+Kann Lassalle nicht, da er doch das eine Mal
+sein wahres Gesicht verhllt, dies Marx gegenber
+getan haben?&#8221; Gegen diese Annahme sprechen
+aber so viele Grnde, da es kaum der Mhe
+lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der wichtigste
+ist der, da der Widerspruch zwischen Broschre
+und Briefen schlielich doch nur ein scheinbarer
+ist. Wo Lassalle in der Broschre etwas sagt,
+was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten
+Ideen deckt, da spricht er immer nur
+hypothetisch mit einem groen &#8222;Wenn&#8221;, und diesem
+Wenn stellt er am Schlu ein &#8222;Wenn aber
+nicht, dann&#8221; gegenber, und formuliert dieses
+&#8222;Dann&#8221; so: &#8222;So wird damit nur aber und aber
+bewiesen sein, da die Monarchie in Deutschland<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span>
+einer nationalen Tat nicht mehr fhig ist.&#8221; Die
+positiven Behauptungen in der Broschre hlt er
+aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint
+es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt
+der Broschre ausmachenden Darlegung, da die
+Demokratie &mdash; worunter er die Gesamtheit der
+entschiedenen Oppositionsparteien verstand &mdash;
+den Krieg gegen Frankreich nicht gutheien drfe,
+weil sie sich dadurch mit den Unterdrckern Italiens
+identifiziere, und es war ihm ferner durchaus
+ernst mit dem Wunsche der Zertrmmerung sterreichs.
+Bis soweit ist denn auch die Broschre,
+ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt
+fr richtig hlt oder nicht, als subjektive Meinungsuerung
+vollkommen berechtigt.</p>
+
+<p>Anders mit dem Schlukapitel. Dort treibt
+Lassalle eine Diplomatie, die gerade er in seinem
+Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich
+bekmpft hatte. Auch der demokratische
+Politiker braucht nicht in jedem Zeitpunkt seine
+letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht
+ihm nicht an und bringt ihn in eine falsche Lage,
+wenn er fr eine Politik eintritt, von der er nicht
+auch will, da sie befolgt werde. Das jedoch tut
+Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift
+mute glauben, er wnsche nichts sehnlicher, als
+da die preuische Regierung die darin von ihm
+entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich
+darauf berufen, da er sicher war, die preuische
+Regierung werde diese Politik nicht befolgen. Damit
+war aber das Doppelspiel sicherlich nicht gerechtfertigt.<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span>
+Das Advokatenstck, eine Sache nur
+deshalb zu empfehlen, weil man zu wissen glaubt,
+da sie doch nicht geschieht, ist ein durchaus
+falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen
+Anhnger irrezufhren, was ja spter auch
+in diesem Falle eingetreten ist. Das Beispiel, auf
+das Lassalle sich fr seine Taktik beruft, ist das
+denkbar unglcklichste. Die Art, wie die republikanische
+Opposition in Frankreich unter Louis
+Philipp, die Herren vom &#8222;National&#8221;, auswrtige
+Politik machten, ebnete spter dem Mrder der
+Republik, dem Bonapartismus, die Bahn. Wie die
+&#8222;reinen Republikaner&#8221; die napoleonische Legende
+gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die
+friderizianische Legende gegen die damalige
+preuische Regierung ausspielen zu knnen. Aber
+die friderizianische Tradition, wenigstens soweit
+sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der
+preuischen Regierung aufgegeben, und statt gegen
+die Hauspolitik der Hohenzollern, machte Lassalle
+Propaganda fr sie.</p>
+
+<p>Wie diese spter, sobald Preuen sich dazu
+militrisch stark genug fhlte, energisch aufgenommen
+wurde, wie sie zunchst zum Brgerkrieg
+zwischen Nord- und Sddeutschland fhrte, wie
+sterreich glcklich aus dem deutschen Bund herausgedrngt
+und die &#8222;Einigung&#8221; Rumpf-Deutschlands
+alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen,
+aber diese Realisierung des im &#8222;Italienischen
+Krieg&#8221; entwickelten Programms verhlt
+sich zu der Lsung, die Lassalle vorschwebte,<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span>
+wie in der Lessingschen Fabel das Kamel zum
+Pferd<a name="FNAnker_7_7" id="FNAnker_7_7"></a><a href="#Fussnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a>.</p>
+
+<p>[Wohin hat uns die preuische Lsung der deutschen
+Frage gebracht? sterreichs Verdrngung
+aus dem deutschen Bund hat die panslawistische
+Propaganda im hchsten Grade gefrdert, die
+sterreichische Regierung mu heute den Slawen
+eine Konzession nach der andern machen, und
+diese traten infolgedessen mit immer greren
+Ansprchen auf. Wo sie frher mit Anerkennung
+ihrer Sprache und Nationalitt zufrieden gewesen
+wren, wollen sie heute herrschen und unterdrcken;
+in Prag, heute eine tschechische Stadt,
+fraternisierten Tschechen und franzsische Chauvinisten<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span>
+und toastierten auf den Kampf wider das
+Deutschtum. Die Angliederung der deutschen
+Landesteile sterreichs an Deutschland wird
+frher oder spter freilich doch erfolgen, aber
+unter zehnfach ungnstigeren Verhltnissen als
+vor der glorreichen Herauswerfung sterreichs
+aus dem deutschen Bunde. Vorlufig mu das
+Deutsche Reich ruhig zusehen, wie in jenen
+Landesteilen die Slawisierung immer weiter um
+sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung
+Deutschlands hat Ruland so stark gemacht,
+da die deutsche Politik wieder das grte Interesse
+an der Erhaltung selbst dieses sterreichs
+hatte. Etwas ist immer noch besser als gar nichts.
+Und freilich, solange in Ruland der Zarismus
+mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht,<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span>
+so lange mag das heutige sterreich als Staat
+noch eine Berechtigung haben.]</p>
+
+<p>Lassalle wollte natrlich ganz etwas anderes
+als die bloe Herausdrngung sterreichs aus
+dem Reiche. Er wollte die Zertrmmerung, die
+Vernichtung sterreichs, dessen deutsche Lnder
+einen integrierenden Teil der einen und unteilbaren
+deutschen Republik bilden sollten. Aber um
+so weniger durfte er auch nur zum Schein ein
+Programm aufstellen, dessen unmittelbare Folge
+der Brgerkrieg in Deutschland sein mute, ein
+Krieg von Norddeutschland gegen Sddeutschland,
+dessen Bevlkerung 1859 ganz entschieden auf
+seiten sterreichs stand. Nur Lassalles starke
+Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle
+auer ihm liegenden Rcksichten zu opfern, erklrt
+dieses Zurckgreifen auf eine Diplomatie,
+die er noch soeben im &#8222;Franz von Sickingen&#8221; aufs
+schrfste verurteilt hatte.</p>
+
+<p>Hinzu kam bei Abfassung der Broschre der
+leidenschaftliche Drang, in die aktuelle Politik
+einzugreifen. Er spricht sich immer und immer
+wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um
+jene Zeit die Beteiligung an irgendeiner Sache mit
+dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen Arbeiten,
+die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht
+es mit dem Vorbehalt: Aber wenn sich eine Mglichkeit
+bietet, unmittelbar auf die revolutionre
+Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch
+die Wissenschaft liegen. So hatte er auch am
+21. Mrz 1859 an Fr. Engels geschrieben:</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p>
+
+<p>&#8222;Vielmehr werde ich beim nationalkonomischen
+und geschichtsphilosophischen Fache &mdash; ich meine
+Geschichte im Sinne von sozialer Kulturentwicklung
+&mdash; von nun an wohl verbleiben, wenn nicht,
+was freilich sehr zu hoffen wre, der endliche
+Beginn praktischer Bewegungen alle grere
+theoretische Ttigkeit sistiert.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was
+ich etwa wei, wenn es dafr gelingt, einiges von
+dem zu tun, was wir (Partei-Plural) knnen.&#8221;</p>
+
+<p>Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben,
+sollte Lassalle ins monarchistisch-kleindeutsche
+Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine Diplomatie
+war falsch, aber seine Absicht war die alte
+geblieben: die Revolution fr die eine und unteilbare
+deutsche Republik. Sie ist gemeint, wenn
+er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt:
+Flectere si nequeo superos acheronta movebo
+&mdash; wenn ich die Gtter &mdash; die Regierung &mdash;
+nicht beeinflussen kann, werde ich den &#8222;Acheron&#8221;
+&mdash; das Volk &mdash; in Bewegung setzen.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Die nchste Publikation, die Lassalle dem &#8222;Italienischen
+Krieg usw.&#8221; folgen lie, war ein Beitrag
+fr eine Zeitschrift in Buchform, die der
+demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode
+unter dem Titel &#8222;Demokratische Studien&#8221; im
+Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der spter
+als Broschre herausgegebene Aufsatz: &#8222;Fichtes<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span>
+politisches Vermchtnis und die neueste Gegenwart.&#8221;
+Man knnte ihn als ein Nachwort zu &#8222;Der
+italienische Krieg usw.&#8221; bezeichnen, in welchem
+Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhllen
+fr gut befunden. Das &#8222;politische Vermchtnis&#8221;
+Fichtes ist, wie Lassalle unter Vorfhrung
+eines im Fichteschen Nachla vorgefundenen Entwurfs
+zu einer politischen Abhandlung darlegt, der
+Gedanke der Einheit Deutschlands als unitarische
+Republik. Anders sei die Verwirklichung der Einheit
+Deutschlands berhaupt nicht mglich. Bei
+einer Eroberung Deutschlands durch irgendeinen
+der bestehenden deutschen Staaten wrde &#8222;nicht
+Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen
+Stmme durch die gewaltsame Aufdrngung des
+spezifischen Hausgeistes unter die Besonderheit
+desselben gebracht, preuifiziert, verbayert, versterreichert!&#8221;
+... &#8222;Und indem so auch noch diejenige
+Ausgleichung fortfiele, welche jetzt noch
+in dem Dasein der verschiedenen Besonderheiten
+liegt,&#8221; schreibt er, &#8222;wrde gerade dadurch das
+deutsche Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel
+aufgehoben.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen
+Hausgeiste, sondern mit freiem Aufgehen
+desselben in den nationalen Geist und seine
+Zwecke, wre freilich ein ganz anderes! Aber
+die Idealitt dieser Entschlieung ist es geradezu
+tricht von Mnnern zu verlangen&#8221; &mdash; es ist von
+den deutschen Frsten, speziell vom Knig von
+Preuen, die Rede &mdash; &#8222;deren geistige Persnlichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span>
+doch wie die aller anderen ein bestimmtes
+Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition,
+Neigung und Geschichte ist und die dies daher
+ebensowenig leisten knnen, als es einer von uns
+anderen leisten wrde, wenn seine Bildung und
+Erziehung ausschlielich durch dieselben Faktoren
+bestimmt worden wre.&#8221;</p>
+
+<p>Dies sind die letzten eigenen Ausfhrungen
+Lassalles in dem Aufsatze. Es folgen dann nur
+noch Darlegungen Fichtes, da und warum die
+Einheit Deutschlands nur mglich sei auf Grundlage
+der &#8222;ausgebildeten persnlichen Freiheit&#8221;,
+und da gerade deshalb die Deutschen &#8222;im ewigen
+Weltenplane&#8221; berufen seien, ein &#8222;wahrhaftes
+Reich des Rechts&#8221; darzustellen, ein Reich der
+&#8222;Freiheit, gegrndet auf Gleichheit alles dessen,
+was Menschenantlitz trgt&#8221;. Und &#8222;ferne sei es
+von uns, die unerreichbare Gewalt dieser Worte
+durch irgendwelche Hinzufgungen abschwchen
+zu wollen,&#8221; schliet Lassalle. Dann, zum Verleger
+gewendet: &#8222;Habe ich nun, geehrter Herr,
+auch Ihrem Wunsche&#8221; &mdash; einen Artikel ber eine
+&#8222;brennende Tagesfrage&#8221; zu schreiben &mdash; &#8222;nicht
+buchstblich entsprochen, so ist doch, denke ich,
+Ihr Zweck erfllt &mdash; wie der meinige.&#8221;</p>
+
+<p>Welches aber war Lassalles Zweck bei der
+Verffentlichung des Aufsatzes, der das Datum:
+Januar 1860, trgt? Auch darber gibt ein Brief
+an Marx uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860
+legt Lassalle diesem dar, warum er, obwohl
+seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines groen<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span>
+Werkes in Anspruch genommen sei, Walesrodes
+Einladung angenommen habe. Erstens habe er
+in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden,
+der mutvoll und tapfer, wie auch seine verdienstliche
+Broschre &#8222;Politische Totenschau&#8221; zeige,
+wohl verdiene, da man etwas fr ihn tue. Dann
+aber heit es weiter:</p>
+
+<p>&#8222;Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht
+einigen entwickelnden Einflu auf unsere
+deutschen Philister ausben, und schlug ich aus,
+so kam der Auftrag jedenfalls an einen weit
+weniger entschiedenen, ja ganz unbedingt an einen
+mit monarchischem oder hnlichem Demokratismus
+oder klein-deutschen Ideen Liebugelnden,
+whrend mir der Auftrag die Mglichkeit bot,
+wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf
+ertnen zu lassen und so im Namen unserer
+Partei von einem Buche Besitz zu ergreifen,
+welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen
+Inhalt, obgleich ich weder ber diesen noch
+seine Mitarbeiter Nheres wei, schwerlich zur
+Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses
+unserer Partei beigetragen htte.</p>
+
+<p>&#8222;So schreiben-wollend und nicht wollend entstand
+ein Artikel, von dem ich mir, speziell um
+ihn Dir zu berschicken, einen besonderen Abzug
+kommen lie. (Das Buch erscheint erst zur
+Oktobermesse.) Ich schicke ihn gleichzeitig mit
+diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann
+an Engels zu senden und endlich mir zu schreiben,
+ob er Dir gefallen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p>
+
+<p>&#8222;Ich glaube, da er mitten in diesem widrigen
+gothaischen Gesumme doch immerhin den erfrischenden
+Eindruck macht, da hinter den Bergen
+auch noch Leute, da eine republikanische Partei
+noch lebt, den Eindruck eines Trompetenstoes.&#8221;</p>
+
+<p>Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle
+damals arbeitete, war das &#8222;System der erworbenen
+Rechte&#8221;. Drollig und doch wieder fr jeden,
+der sich mit greren Arbeiten beschftigt, ungemein
+verstndlich klingt die Klage Lassalles,
+die Arbeit ziehe sich so lange hin, da er &#8222;bereits
+einen intensiven Ha gegen sie bekommen habe&#8221;.
+Aber das &#8222;verm&mdash; Werk&#8221;, wie er es an einer
+anderen Stelle in demselben Briefe nennt, sollte
+auch in den drei Monaten, die er sich nun als
+Termin stellt, noch nicht fertig werden.</p>
+
+<p>Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfllen
+jener chronischen Krankheit, von der er
+bereits in der Dsseldorfer Assisenrede spricht,
+und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte.
+&#8222;Ich war und bin noch recht krank&#8221;, fngt ein
+Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein
+mu, &#8222;ich war von neuem krank und schlimmer
+als frher&#8221;, beginnt der obenzitierte Brief. &#8222;Habe
+ich mich in der letzten Zeit berarbeitet oder rcht
+sich nun zu lange Vernachlssigung&#8221;, heit es
+weiter, &#8222;kurz, es scheint als ob meine Gesundheit
+aufgehrt habe, der unverwstliche Fels zu sein,
+auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.&#8221;
+Um sich grndlich zu heilen, ging Lassalle im
+Sommer desselben Jahres nach Aachen. Dort<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span>
+machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin,
+Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls
+einer Kur bedrftig war, nach Aachen begleitet
+hatte, und diese Dame nahm Lassalle so
+fr sich ein, da er ihr noch in Aachen einen
+Heiratsantrag machte, den aber Frulein von
+Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.</p>
+
+<p>Es sind ber diese Episode aus dem bewegten
+Leben Lassalles fast nur die Aufzeichnungen bekannt
+geworden, die das damalige Frulein von
+Sontzew, spter die Gattin eines Gutsbesitzers in
+Sdruland, im Jahre 1877 in der Petersburger
+Revue &#8222;Der Europische Bote&#8221; verffentlicht hat,
+und von denen eine bersetzung ins Deutsche ein
+Jahr darauf im Verlage von F.&nbsp;A.&nbsp;Brockhaus in
+Leipzig erschien<a name="FNAnker_8_8" id="FNAnker_8_8"></a><a href="#Fussnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a>. Die eigentliche Liebesaffre
+ist nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein
+korrekt zu. Sophie von Sontzew schreibt,
+da Lassalle zwar einen groen Eindruck auf
+sie gemacht, da sie auch vorbergehend geglaubt
+habe, ihn lieben zu knnen, es seien aber stets
+sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie
+sich schlielich darber klar geworden sei, da
+eine Liebe, die zweifelt, keine Liebe sei &mdash; vor
+allem keine Liebe, wie Lassalle sie unter Hinweis
+auf die Kmpfe beanspruchte, die die Zukunft
+ihm bringen werde. Vielleicht, da auch die Aussicht<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span>
+gerade auf diese Kmpfe die junge Dame
+mehr schreckte, als sie zugesteht &mdash; Tagebuchgestndnisse
+und Memoiren sagen bekanntlich nie
+die volle Wahrheit. Auf der andern Seite scheint
+uns die Auffassung, die es dem damaligen Frulein
+von Sontzew beinahe als ein Verbrechen anrechnet,
+von Lassalle geliebt worden zu sein, ohne
+seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental.
+Die Dame hatte ein unbestrittenes Recht, ihr
+Herz nicht zu verschenken, auch wute Lassalle
+sich, so strmisch seine Werbungen gewesen, ber
+den Mierfolg bald zu trsten.</p>
+
+<p>Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffre
+sind die aus Anla dieser geschriebenen
+Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor
+allem der schon frher erwhnte, als &#8222;Seelenbeichte&#8221;
+bezeichnete, mehr als 35 Druckseiten
+ausfllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines der
+interessantesten Dokumente fr die Charakteristik
+Lassalles. Sehen wir in dessen erstem Tagebuch
+den zum Jngling heranreifenden Knaben, so
+sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jngling
+sein Ich blolegen. Freilich gilt auch in diesem
+Falle das oben von solchen Bekenntnissen
+Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzge
+Lassalles ist seine &mdash; man knnte fast
+sagen, unbewute Wahrhaftigkeit. Lassalle war,
+wie schon seine bestndige Neigung, ins Pathetische
+zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte
+Natur. Er schauspielerte gern ein wenig
+und war viel zu sehr Gesellschaftsmensch, um<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span>
+darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die
+Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete,
+seine Gedanken zu verbergen. Aber es
+war ihm doch nicht mglich, sich als Mensch
+anders zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen
+und Leidenschaften waren viel zu stark,
+als da sie sich nicht berall verraten htten, seine
+Persnlichkeit viel zu ausgeprgt, um nicht durch
+jedes Gewand, in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken.
+So schaut auch aus dem Bilde,
+das Lassalle fr Sophie von Sontzew von sich
+entwirft, obwohl es eine Schilderung gibt, wie er
+dem jungen Mdchen erscheinen wollte, der richtige
+Lassalle heraus, mit seinen Vorzgen und
+seinen Fehlern.</p>
+
+<p>Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges
+Selbstvertrauen und seine Einbildungskraft
+zum Ausdruck. Es wurde schon erzhlt,
+wie er in diesem Manuskript sich im Glanze seines
+zuknftigen Ruhmes sonnt, sich als der Fhrer
+einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch
+gar nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie
+ihn frchten und hassen lt, wo zur Furcht
+und zum Ha damals jeder Anla fehlte. Ebenso
+bertreibt er seine schon erzielten Triumphe.
+&#8222;Nichts, Sophie,&#8221; schreibt er ber den Erfolg
+der Kassettenrede, &#8222;kann Ihnen auch nur annhernd
+eine Vorstellung von dem elektrischen
+Eindruck geben, den ich hervorbrachte. Die ganze
+Stadt, die Bevlkerung der ganzen Provinz
+schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span>
+... alle Klassen, die ganze Bourgeoisie
+war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag verschafft
+mir in der Rheinprovinz den Ruf eines
+Redners ohnegleichen und eines Mannes von unbegrenzter
+Energie, und die Zeitungen trugen
+diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit
+diesem Tage erkannte mich die demokratische
+Partei in der Rheinprovinz als ihren Hauptfhrer
+an.&#8221; Dann schreibt er vom Dsseldorfer Proze,
+da er aus diesem &#8222;mit nicht weniger Glanz&#8221;
+hervorging. &#8222;Ich werde Ihnen meine Rede aus
+diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt
+ist; sie wird Sie amsieren.&#8221; Da er die
+Rede gar nicht gehalten hat, schreibt er nicht.</p>
+
+<p>Neben diesen Zgen einer wahrhaft kindlichen
+oder kindischen Eitelkeit fehlen aber auch nicht
+solche eines berechtigten, weil auf Grundstzen,
+statt auf ueren Ehren, beruhenden Stolzes, und
+durch den ganzen Brief hindurch klingt der Ton
+einer echten berzeugung. Selbst wenn Lassalle
+von dem &#8222;Glanz&#8221; spricht, mit dem der Eintritt
+&#8222;gewisser Ereignisse&#8221; &mdash; der erwarteten Revolution
+&mdash; das Leben seiner zuknftigen Frau ausstatten
+wrde, setzt er sofort hinzu: &#8222;Aber, nicht
+wahr, Sophie, mit so groen Dingen, die das
+Ziel der Anstrengungen des ganzen Menschengeschlechts
+bilden, darf man nicht eine bloe
+Spekulation auf individuelles Glck machen?&#8221; &mdash;
+und bemerkt weiter: &#8222;Deshalb darf man in keiner
+Weise darauf rechnen.&#8221;</p>
+
+<p>Noch in einer anderen Hinsicht ist die &#8222;Seelenbeichte&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span>
+Lassalles von Interesse. Er spricht sich
+darin sehr ausfhrlich ber sein Verhltnis zur
+Grfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches
+in bezug auf seine frheren Beziehungen zu dieser
+Frau idealisiert sein, so ist doch soviel sicher, da
+Lassalle keinen Grund hatte, einem Mdchen, um
+das er gerade warb und das als Gattin heimzufhren
+er so groe Anstrengungen machte, seine
+derzeitigen Empfindungen fr die Grfin, soweit
+sie ber die der Achtung und Dankbarkeit hinausgingen,
+strker zu schildern, als sie wirklich waren.
+Tatschlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief
+in Ausdrcken geradezu leidenschaftlicher Zrtlichkeit
+fr die Grfin. Er liebe sie &#8222;mit der
+zrtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert
+hat&#8221;, noch &#8222;dreimal mehr wie seine zrtlich geliebte
+Mutter&#8221;. Er verlangt von Sophie, da sie,
+wenn sie ihn zum Mann nehme, die Grfin &#8222;mit
+der wahren Zrtlichkeit einer Tochter&#8221; liebe, und
+hofft, obwohl die Grfin &#8222;auerordentlich zartfhlend&#8221;
+sei und, ehe sie nicht wisse, ob Sophie
+Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar
+werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen
+zu knnen, &mdash; um &#8222;alle drei glcklich und vereint
+zu leben&#8221;<a name="FNAnker_9_9" id="FNAnker_9_9"></a><a href="#Fussnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a>.</p>
+
+<p>Daraus geht hervor, da diejenigen, die die
+Sache so hinstellen, als habe sich die Grfin Hatzfeldt<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span>
+damals in Berlin und spter Lassalle einer
+Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls malos
+bertrieben haben. Die Hatzfeldt hatte ihre groen
+Fehler und ihre Freundschaft ist Lassalle unseres
+Erachtens nach mehreren Richtungen hin uerst
+verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser
+Ansicht sind, halten wir es fr unsere Pflicht, da,
+wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem entgegenzutreten.
+Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen
+Schriftstellern dem bekannten Beckerschen
+Pamphlet nachgeschriebene Behauptung,
+Lassalle habe sich spter in die Dnniges-Affre
+gestrzt, um die Hatzfeldt loszuwerden.</p>
+
+<p>Sophie Sontzew spricht sich brigens ber den
+Eindruck, den die Grfin Hatzfeldt persnlich auf
+sie gemacht habe, nur gnstig aus.</p>
+
+<p>Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus
+der Zeit seines damaligen Aufenthalts in Aachen.
+Natrlich ist in keinem von der Liebesaffre mit
+der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen
+in einem der Briefe ber die Verhltnisse am
+russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle
+schlieen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich
+viel des Interessanten, und eine Stelle in
+einem davon ist ganz besonders bemerkenswert,
+weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit,
+wo er in Berlin noch mit den Fhrern der liberalen<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span>
+Opposition auf bestem Fue stand, ber die damalige
+liberale Presse und ber den von den
+Liberalen in den Himmel gehobenen preuischen
+Richterstand dachte. Da sie ebenso kurz wie
+drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.</p>
+
+<p>Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung,
+Zabel, der ihn, unter Benutzung des
+gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der infamierendsten
+Handlungen verdchtigt hatte, wegen
+Verleumdung zur Rechenschaft ziehen wollen, war
+aber in drei Instanzen, noch ehe es zum Proze
+kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter
+am Stadtgericht, am Kammergericht und am Obertribunal
+in Berlin fanden nmlich, da wenn Zabel
+alle diese Verleumdungen Vogts ber Marx
+wiederholt und sie dabei noch bertrumpft hatte,
+er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben
+konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren
+nun hatte Marx selbst in Preuen fr
+unmglich gehalten, und er schrieb das auch an
+Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang
+an vom Proze abgeraten hatte, weil doch
+auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:</p>
+
+<p>&#8222;Du schreibst, nun wtest Du, da es von
+den Richtern abhngt bei uns, ob es ein Individuum
+berhaupt nur bis zum Proze bringen
+kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal
+Unrecht getan, als ich in einem meiner Briefe
+sagte, da Du zu schwarz siehst! Ich schlage
+ganz reuig an meine Brust und nehme das gnzlich<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span>
+zurck. Die preuische Justiz wenigstens
+scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte
+betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz
+andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht,
+noch ganz anders starke Beweise fr diesen Satz,
+und noch ganz anders starke Flle berhaupt an
+ihnen erlebt, und zwar zu dreimal drei Dutzenden
+und in Straf- wie besonders sogar in reinen Zivilprozessen
+... Uff! Ich mu die Erinnerung daran
+gewaltsam unterdrcken. Denn wenn ich an diesen
+zehnjhrigen tglichen Justizmord denke, den ich
+erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor
+den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom
+ersticken wollte! Nun, ich habe das alles
+lange bewltigt und niedergelebt, es ist Zeit genug
+seitdem verflossen, um kalt darber zu werden,
+aber nie wlbt sich meine Lippe zu einem Lcheln
+tieferer Verachtung, als wenn ich von Richtern
+und Recht bei uns sprechen hre. Galeerenstrflinge
+scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhltnis
+zu unsern Richtern zu sein.</p>
+
+<p>&#8222;Nun aber, Du wirst sie fassen dafr, schreibst
+Du. &#8218;Jedenfalls,&#8217; sagst Du, &#8218;liefern mir die
+Preuen so ein Material in die Hand, dessen angenehme
+Folgen in der Londoner Presse sie bald
+merken sollen!&#8217; Nein, lieber Freund, sie werden
+gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, da
+Du sie in der Londoner Presse darstellen und
+vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts
+davon, gar nichts, es wird sein, als wenn Du gar
+nicht geschrieben httest. Denn englische Bltter<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span>
+liest man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren
+deutschen Zeitungen wird auch keine einzige davon
+Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein armseliges
+Wrtchen davon bringen. Sie werden sich
+hten! Und unsere liberalen Bltter am allermeisten!
+Wo werden denn diese Kalbskpfe ein
+Wrtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den
+&#8218;preuischen Richterstand&#8217; bringen, bei dessen
+bloer Erwhnung sie vor Entzcken schnalzen &mdash;
+sie sprechen schon das Wort nie anders als mit
+zwei vollen Pausbacken aus &mdash; und vor Respekt
+mit dem Kopf auf die Erde schlagen! O, gar
+nichts werden sie davon bringen, es von der Donau
+bis zum Rhein und soweit sonst nur immer &#8218;die
+deutsche Zunge reicht&#8217;, ruhig totschweigen! Was
+ist gegen diese Preverschwrung zu machen? O,
+unsere Polizei ist, man sage was man will, noch
+immer ein viel liberaleres Institut als unsere Presse!
+Es ist &mdash; hilf Himmel! ich wei wirklich keinen
+anderen Ausdruck fr sie &mdash; es ist die reine ......&#8221;</p>
+
+<p>Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu
+burschikos, um es im Druck wiederzugeben, der
+Leser mag es nach Belieben selbst ergnzen.</p>
+
+<p>Im Jahre 1861 verffentlichte Lassalle im
+zweiten Band der Demokratischen Studien einen
+kleinen Aufsatz ber Lessing, den er bereits
+1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches:
+&#8222;Lessings Leben und Werke&#8221; geschrieben, und
+lie endlich sein groes rechtsphilosophisches
+Werk &#8222;Das System der erworbenen Rechte&#8221; erscheinen.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span></p>
+
+<p>Der Aufsatz ber Lessing ist verhltnismig
+unbedeutend. Er ist noch vorwiegend in althegelianischer
+Sprache gehalten und lehnt sich
+sachlich sehr stark an die Ausfhrungen an, die
+Heine in &#8222;ber Deutschland&#8221; mit Bezug auf
+Lessings Bedeutung fr die Literatur und das
+ffentliche Leben in Deutschland abgibt. Wie
+Heine feiert auch Lassalle Lessing als den zweiten
+Luther Deutschlands, und wenn er am Schlu des
+Aufsatzes unter Hinweis auf die groe hnlichkeit
+der Situation des derzeitigen Deutschland mit
+der zur Zeit Lessings ausruft: &#8222;hnliche Situationen
+erzeugen hnliche Charaktere&#8221;, so mag ihm
+da wohl Heines Ausspruch vorgeschwebt haben:
+&#8222;Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da
+vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing
+fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland
+so sehr bedarf &mdash; der dritte Befreier!&#8221; War es
+doch sein hchstes Streben, selbst dieser dritte
+Befreier zu werden. Wie im Hutten des &#8222;Franz
+von Sickingen&#8221;, so spiegelt sich auch im Lessing
+dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt
+wider. Es fehlt selbst die Apotheose des Schwertes
+nicht. &#8222;Allein wenn wir den Begriff Lessings
+durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte
+durchgefhrt haben, wie ist es mit der Politik?&#8221;
+fragt Lassalle, und um denjenigen, die nach
+Lessings Stellungnahme auf den vorerwhnten
+Gebieten darber noch nicht im klaren seien, die
+letzten Zweifel zu lsen, zitiert er aus den Lessingschen
+Fragmenten zum &#8222;Spartakus&#8221; eine Stelle,<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span>
+wo Spartakus auf die hhnende Frage des Konsuls:
+&#8222;Ich hre, du philosophierst, Spartakus&#8221;,
+zurckgibt:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Wo du nicht willst, da ich philosophieren
+soll &mdash; Philosophieren, es macht mich lachen! &mdash;
+Nun wohlan! Wir wollen fechten!&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Zwei Dezennien darauf sei in der franzsischen
+Revolution diese Prophezeiung Lessings eingetroffen.
+Und dieser Ausgang werde nach Stahr &#8222;wohl
+auch das Ende vom Liede sein in dem Handel
+zwischen dem Spartakus und dem Konsul der Zukunft&#8221;.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+<h2><a name="Das_System_der_erworbenen_Rechte" id="Das_System_der_erworbenen_Rechte">Das System der erworbenen Rechte.</a></h2>
+
+
+<p>Das &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;, Lassalles
+wissenschaftliches Hauptwerk, ist zwar in erster
+Linie nur fr den Rechtstheoretiker geschrieben,
+doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den
+praktischen Kmpfen der Gegenwart wesentlich
+nher als die Materie des &#8222;Heraklit&#8221;, und wir
+wollen daher versuchen, wenigstens die Hauptgedanken
+dieser Arbeit darzustellen, von der
+Lassalle mit Recht gelegentlich den Ausdruck gebrauchen
+durfte, ein &#8222;Riesenwerk menschlichen
+Fleies&#8221;. Darber herrscht bei Sachverstndigen
+so ziemlich Einstimmigkeit, da das &#8222;System der
+erworbenen Rechte&#8221; zugleich von der auerordentlichen
+geistigen Schaffenskraft, wie dem groen
+juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis
+ablegt. Aus allen diesen Grnden wird man es<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span>
+berechtigt finden, wenn wir uns bei diesem Buche
+etwas lnger aufhalten.</p>
+
+<p>Es liegt auerhalb der Zustndigkeit des Schreibers
+dieser Abhandlung, ein Urteil darber zu
+fllen, welche positive Bereicherung die Rechtswissenschaft
+dem &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;
+verdankt. Das vermag nur der Kenner der gesamten
+einschlgigen Literatur, der theoretisch
+gebildete Jurist. Wir beschrnken uns hier darauf,
+die Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich
+mit seinem Buche stellt, die Art, wie er sie lst,
+und den theoretischen Standpunkt, der seiner
+Lsung zugrunde liegt.</p>
+
+<p>Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben,
+den das in zwei Teile zerfallende Gesamtwerk
+trgt. &#8222;Eine Vershnung des positiven
+Rechts und der Rechtsphilosophie.&#8221; Lassalle
+fhrt in der Vorrede aus, da trotz Hegels Versuch,
+eine Vershnung zwischen dem positiven
+Recht und dem Naturrecht<a name="FNAnker_10_10" id="FNAnker_10_10"></a><a href="#Fussnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> herzustellen, die
+Entfremdung zwischen positiven Juristen und
+Rechtsphilosophen zurzeit grer sei, als sie selbst
+vor Hegel gewesen. Die Schuld daran trgen aber
+weniger die ersteren als die letzteren; statt in<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span>
+den Reichtum des positiven Rechtsmaterials einzudringen,
+htten sie sich begngt, &#8222;im Himmel
+ihrer allgemeinen Redensarten der groben Erde
+des realen Rechtsstoffs so fern wie mglich zu
+bleiben&#8221;. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen
+Richtung herrsche ein wahrer &#8222;horror pleni&#8221;,
+ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran indes
+Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermdlich
+hervorgehoben habe, da die Philosophie nichts
+so sehr erfordere, als die Vertiefung in die Erfahrungswissenschaften.
+Hegels &#8222;Rechtsphilosophie&#8221;
+konnte, fhrt Lassalle aus, nach den gesamten
+Grundbedingungen, unter denen dieselbe
+erschien, &#8222;als der erste Versuch, das Recht als
+einen vernnftigen, sich aus sich selbst entwickelnden
+Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
+Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhltnis einnehmen,
+als etwa die allgemeine logische Disposition
+eines Werkes zu dem Werke selbst&#8221;. Htten
+nun die Philosophen sich nicht darauf beschrnkt,
+bei den &#8222;dnnen, allgemeinen Grundlinien&#8221; derselben
+&mdash; &#8222;Eigentum, Familie, Vertrag usw.&#8221; &mdash;
+stehenzubleiben, &#8222;wren sie dazu bergegangen,
+eine Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne
+einer philosophischen Entwicklung der konkreten
+einzelnen Rechtsinstitute desselben zu schreiben,
+so wrde sich an dem bestimmten Inhalt dieser
+einzelnen positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt
+haben, da mit den abstrakt-allgemeinen
+Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag,
+Familie usw. berhaupt nichts getan ist, da der<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span>
+rmische Eigentumsbegriff ein anderer ist, als
+der germanische Eigentumsbegriff, der rmische
+Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische
+Erbtumsbegriff, der rmische Familienbegriff ein
+anderer als der germanische Familienbegriff usw.,
+d.&nbsp;h. da die Rechtsphilosophie, als in das Reich
+des historischen Geistes gehrend, es nicht mit
+logisch-ewigen Kategorien zu tun hat, sondern da
+die Rechtsinstitute nur Realisationen historischer
+Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des geistigen
+Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister
+und Zeitperioden, und daher nur als solche zu
+begreifen sind.&#8221; Eingehend und erschpfend sei
+dies durch den ganzen zweiten Teil des vorliegenden
+Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen
+und an dem Beispiel desselben der Beweis geliefert,
+da &#8222;jene Hegelsche Disposition selbst,
+wie der gesamte Bau und die Architektonik der
+Hegelschen Rechtsphilosophie vollstndig aufgegeben
+werden mu und nichts von der Hegelschen
+Philosophie bewahrt werden kann, als ihre
+Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre
+Rechtsphilosophie zu erzeugen ...&#8221; Das gelte
+aber auch von dem Verhltnis des Hegelschen
+Systems zur Geistesphilosophie berhaupt, und
+wenn die Zeit theoretischer Mue fr die Deutschen
+niemals aufhren sollte, &mdash; &#8222;man kann sie
+heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum
+felicitas (ein seltenes Glck) nennen&#8221;, fgt Lassalle
+mit berechtigter Bitterkeit hinzu &mdash; so werde
+er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies in einem<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span>
+neuen System der Philosophie nachweisen. Indes
+werde die von ihm verlangte totale Reformation
+der Hegelschen Philosophie doch im Grunde nur
+&#8222;dieselbe von Hegel getragene Fahne&#8221; darstellen,
+die &#8222;nur auf einem anderen Wege zum Siege gefhrt
+werden soll. Es sind immer die Grundprinzipien
+und die Methode der Hegelschen Philosophie,
+die nur gegen Hegel selbst Recht behalten&#8221;.
+Hegel habe, wegen unzureichender Bekanntschaft
+mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht
+hufig greres Unrecht getan, als irgendeiner
+anderen Disziplin. &#8222;Wenn er die rmischen Juristen
+als die Ttigkeit des abstrakten Verstandes auffate,
+so werden wir auf das Positivste im ganzen
+Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis
+bringen, wie dies nur von unseren Juristen, von
+den rmischen aber das strikte Gegenteil gilt.
+Wir werden sehen, wie ihre Ttigkeit vielmehr
+schlechterdings nur die des spekulativen Begriffs
+ist, nur eine sich selbst nicht durchsichtige und
+bewute, wie dies ganz ebenso bei der Ttigkeit
+des religisen und knstlerischen Geistes der Fall
+ist ... Allein hiermit wird dann immer nur erwiesen
+sein, da die Hegelsche Philosophie noch
+weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wute,
+und da der spekulative Begriff noch weitere
+Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
+Hegel selbst erkannt hatte.&#8221; (Vorwort zum System
+der erworbenen Rechte.)</p>
+
+<p>Aus diesen Ausfhrungen geht bereits hervor,
+wie weit Lassalle in dem Werke selbst noch auf<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span>
+Hegelschem Boden fut. Er steht Hegel bereits
+viel unabhngiger gegenber als im &#8222;Heraklit&#8221;,
+aber er hlt doch nicht nur an der Methode, sondern
+auch noch an den Grundprinzipien der Hegelschen
+Philosophie fest, d.&nbsp;h. nicht nur an der dialektischen
+Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes,
+der dialektischen Form der Untersuchung,
+sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus,
+der Zurckfhrung der geschichtlichen Erscheinungen
+auf die Entwicklung und Bewegung
+der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der
+materiellen Grundlage dieser Bewegung. Wie
+Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem Wege
+stehen. Er hebt ganz richtig hervor, da es sich
+bei den Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige,
+sondern um historische Kategorien handelt, aber er
+behandelt diese Kategorien nur als die &#8222;Realisationen
+historischer Geistesbegriffe&#8221;, lt dagegen
+die Frage nach den Umstnden, unter denen diese
+Geistesbegriffe sich entwickelten, nach den materiellen
+Verhltnissen, deren Ausdruck sie sind,
+ganz unberhrt. Ja, er dreht das Verhltnis sogar
+um und will &#8222;im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen
+suchen, wie das angeblich rein Positive
+und Historische nur notwendiger Ausflu des
+jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist&#8221;.
+So mu er naturgem, auch bei dem grten
+Aufwand von Scharfsinn, zu falschen Folgerungen
+gelangen.</p>
+
+<p>Als das &#8222;groartigste Beispiel&#8221;, an welchem
+diese urschliche Abhngigkeit des &#8222;angeblich rein<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span>
+Positiven und Historischen&#8221; von den historischen
+Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei,
+bezeichnet Lassalle die gesamte Darstellung des
+Erbrechts im zweiten Bande des Werkes, der
+den Titel trgt: &#8222;Das Wesen des rmischen und
+germanischen Erbrechts in historisch-philosophischer
+Entwickelung.&#8221; Die Strke dieser Arbeit
+beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten
+Durchfhrung des leitenden Gedankens und der
+oft wahrhaft glnzenden Darstellung. Durch alle
+hierhergehrigen Rechtsformen hindurch sucht
+Lassalle den Gedanken zu verfolgen, dem rmischen
+Erbrecht liege der Gedanke der Fortdauer
+des subjektiven Willens des Erblassers im Erben
+zugrunde, whrend im altgermanischen Erbrecht,
+dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne Testament),
+die Idee der Familie den leitenden Gedanken
+bilde, es gerade das sei, was vom rmischen
+Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: &#8222;wahres
+Familienrecht&#8221;. Das ist soweit im allgemeinen
+richtig. Aber nun beginnt die Schwche der
+Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf
+sie ist, bleibt an der Oberflche haften, durchwhlt
+diese zwar wieder und immer wieder, lt
+keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter
+liegt, bleibt total unberhrt. Woher kommt
+es, da das rmische Erbrecht die Fortpflanzung
+des subjektiven Willens ausdrckt? Von der
+rmischen Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus
+der Laren und Manen. Woher kommt es, da
+das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span>
+der &#8222;Idee der germanischen Familie&#8221;. Welches
+ist die rmische Unsterblichkeitsidee? Die Fortdauer
+des subjektiven Willens. Welches ist die
+Idee der germanischen Familie? Die &#8222;sittliche
+Identitt der Personen, die zu ihrer substantiellen
+Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes
+oder die Liebe hat.&#8221; Damit sind wir so klug
+wie vorher, wir drehen uns im Kreise der Ideen
+und Begriffe, erhalten aber keine Erklrung,
+warum diese Idee hier, jener Begriff dort die
+ihm zugewiesene Rolle spielen konnten. Auch
+mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die
+Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der
+Rmer und Germanen aus deren wirklichen
+Lebensverhltnissen selbst zu erklren, als die
+letzte Quelle des Rechts erscheint berall der
+&#8222;Volksgeist&#8221;. Dabei verfllt denn Lassalle in
+denselben Fehler, den er an einer andern Stelle
+mit Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum
+Vorwurf macht, er unterscheidet zwar zwischen
+rmischem und germanischem Volksgeist, aber er
+ignoriert alle historische Entwicklung im Schoe
+des rmischen Volkes und konstruiert einen, ein
+fr allemal &mdash; das ganze Jahrtausend von der
+Grndung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung
+des rmischen Weltreichs &mdash; magebenden
+&#8222;rmischen Volksgeist&#8221;, der sich zum &mdash;
+ebenso konstruierten &mdash; &#8222;germanischen Volksgeiste&#8221;
+etwa verhalte, wie &#8222;Wille zu Liebe&#8221;.</p>
+
+<p>Allerdings darf nicht bersehen werden, da
+zur Zeit, wo Lassalle sein &#8222;System der erworbenen<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span>
+Rechte&#8221; schrieb, die eigentliche Geschichtsforschung
+in bezug auf die Entstehung und Entwicklung
+der rmischen Gesellschaft und der
+germanischen Vorzeit noch sehr im argen lag,
+selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie
+in wichtigen Punkten im Dunkeln tappten. Es
+trifft ihn also weniger der Vorwurf, da er die
+Frage nicht richtig beantwortete, als der, da er
+sie nicht einmal richtig stellte.</p>
+
+<p>Erst durch die Fortschritte der vergleichenden
+Ethnologie und namentlich durch Morgans epochemachende
+Untersuchungen ber die Gens (Sippe)
+ist gengend Licht in bezug auf die urgeschichtliche
+Entwicklung der verschiedenen Vlker geschaffen
+worden, um erkennen zu lassen, warum
+die Rmer mit einem ganz andern Erbrecht in die
+Geschichte eintraten, als die germanischen Stmme
+zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit
+eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe
+zur Oberstufe der Barbarei durchzumachen; der
+bergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von
+der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht
+ganz vollzogen, sie lebten noch in Gentilverbnden
+&mdash; auf Blutsverwandtschaft beruhenden Genossenschaften
+&mdash; und noch herrschte der Kommunismus
+der Sippe vor: ein auf dem subjektiven Willen
+beruhendes Erbrecht war daher einfach ein Ding
+der Unmglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft,
+so wenig hat die &#8222;Liebe&#8221; &mdash; eine viel
+modernere Erfindung &mdash; etwas mit dem altgermanischen
+Erbrecht zu tun. Bei den Rmern<span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span>
+war dagegen schon vor Abschaffung des sogenannten
+Knigtums die alte, auf persnlichen Blutbanden
+beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt
+und eine neue, auf Gebietseinteilung und Vermgensunterschied
+begrndete, wirkliche Staatsverfassung
+an ihre Stelle gesetzt worden<a name="FNAnker_11_11" id="FNAnker_11_11"></a><a href="#Fussnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a>. Privateigentum
+an Boden und Auflsung der blutsverwandtschaftlichen
+Verbnde als wirtschaftliche
+Einheit sind der Boden, auf dem das rmische
+Testament erwchst, nicht als Produkt eines
+von vornherein gegebenen besonderen rmischen
+&#8222;Volksgeists&#8221;, sondern als ein Produkt derselben
+Entwicklung, die den besonderen rmischen Volksgeist
+schuf, der das Rmertum zur Zeit der Zwlftafelgesetzgebung<a name="FNAnker_12_12" id="FNAnker_12_12"></a><a href="#Fussnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a>
+erfllte. Wenn die Rmer
+dem Testament eine gewisse feierliche Weihe
+gaben, so berechtigt das keineswegs dazu, das
+Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem die
+symbolische Handlung &mdash; die Willensbertragung
+&mdash; die Hauptsache, der substantielle Inhalt derselben
+&mdash; die Vermgensbertragung &mdash; reine
+Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen
+Kulturstufe, und noch weit in die Zivilisation
+hinein, kleiden die Vlker berhaupt alle wichtigen
+konomischen Handlungen in religise Akte;
+es sei nur an die Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen,
+an die Einweihung der Grenzmarken<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span>
+usw. erinnert. Was wrde man von einem Historiker
+sagen, der den rmischen Kultus des Gottes
+Terminus als den Ausflu der besonderen Natur
+des rmischen Volksgeistes, als den Ausdruck
+einer speziell rmischen &#8222;Idee&#8221; hinstellen wollte,
+bei der die eingegrenzten cker Nebensache,
+der Begriff der &#8222;Endlichkeit&#8221; die Hauptsache
+gewesen sei? Was von einem Rechtshistoriker,
+der das Aufkommen des Privateigentums an Grund
+und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes
+Terminus zurckfhren wollte? Und genau dies
+ist es, wenn Lassalle den Kultus der Manen und
+Laren als die Ursache des Aufkommens der
+Testamente bei den Rmern bezeichnet, in der
+rmischen Mythologie den letzten Grund dieser
+Rechtsschpfung erblickt.<a name="FNAnker_13_13" id="FNAnker_13_13"></a><a href="#Fussnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a></p>
+
+<p>Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso
+unhistorischen wie unlogischen Behauptung, da,
+wenn das rmische Zwlftafelgesetz fr den
+Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die
+Hinterlassenschaft dem nchsten Agnaten (Verwandte
+mnnlicher Linie) und, falls kein Agnat
+vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis
+sei, da das Testament auch der geschichtlichen
+Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das Intestaterbe
+aber erst nachtrglich, subsidir, eingefhrt worden
+sei. Tatschlich zeigt gerade das Zwlftafelgesetz,<span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span>
+obwohl es die Reihenfolge umkehrt, den wirklichen
+Gang der historischen Entwicklung an. Es
+konstatiert zuerst den neueingefhrten Rechtsgrundsatz
+der Testierfreiheit, da derjenige erben
+soll, dem der Erblasser testamentarisch die Hinterlassenschaft
+zugeschrieben hat. Ist aber kein
+Testament da, so tritt das frhere Erbrecht wieder
+in Kraft, die urwchsige Intestaterbschaft: zuerst
+erbt der nchste Agnat und dann die Gens, der
+ursprngliche Blutsverband. Das geschichtlich
+erste Institut erscheint auf den zwlf Tafeln als
+letztes, weil es als das lteste das umfassendste
+ist, und als solches naturgem die letzte Instanz
+bildet. Wie erknstelt dagegen Lassalles Konstruktion
+ist, geht schon daraus hervor, da er
+sich, um seine Theorie von dem, auf den &#8222;Begriff
+des Willens&#8221; aufgebauten rmischen Erbrecht
+aufrechtzuerhalten, einmal gezwungen sieht, zu
+behaupten, da &#8222;den Agnaten nicht die Idee
+der Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen
+Auffassung zugrunde liegt&#8221; und die
+Agnaten als &#8222;die durch das Band der Gewalt
+vermittelte Personengemeinschaft&#8221; bezeichnet.
+Als glubige Althegelianer haben die alten Rmer
+&#8222;mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz&#8221;
+den &#8222;tiefen Satz der spekulativen Logik&#8221; verwirklicht,
+da der nicht ausgedrckte Wille des
+Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt
+hat &#8222;den allgemeinen Willen des Volkes oder
+den Staat, in dessen Organisation derselbe verwirklicht
+ist&#8221;. Das Testament, die Testierfreiheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span>
+ist danach lter als der rmische Staat, aber das
+Intestaterbe ist vom Staat eingefhrt, der Staat
+hat eines schnen Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft
+als Subsidirerben eingesetzt, und
+zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentitt,
+sondern in ihrer Eigenschaft als Organe der
+Staatsordnung, als Organe der Willensidentitt.</p>
+
+<p>Wir wissen heute, da sich die Dinge gerade
+umgekehrt zugetragen haben, da es nicht der
+Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet
+hat, die sie vorher nicht besa, sondern da er ihr
+vielmehr eines der Rechte, eines der mter, die
+sie innegehabt, nach dem andern abgenommen,
+ihre Funktionen immer mehr eingeschrnkt hat,
+da erst mit der Lockerung des Gentilverbandes,
+mit seiner inneren Zersetzung der Staat mglich
+wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.</p>
+
+<p>Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mute
+er, wie alle Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit
+ihm und vor ihm ber das Wesen des ursprnglichen
+rmischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise
+zu falschen Schlssen gelangen. Aber anstatt
+der Wahrheit nherzukommen, als seine Vorgnger,
+steht er ihr vielmehr viel ferner als diese.
+Bemht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff
+zu konstruieren, schneidet er sich jede Mglichkeit
+ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu erkennen.
+Der berhmte Rechtslehrer Eduard Gans
+&mdash; beilufig ebenfalls Hegelianer &mdash; hatte rmisches
+Intestaterbe und Testamentserbe als miteinander<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span>
+kmpfende Gedanken hingestellt, die
+keinerlei Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts
+haben und sie als eine historische Stammesverschiedenheit
+zwischen Patriziern und Plebejern
+zu erklren versucht. So fehlerhaft diese Erklrung,
+so richtig ist der ihr zugrunde liegende
+Gedanke, da es sich hier um einen grundstzlichen
+Gegensatz handelt und da die gegenstzlichen
+Rechtsbegriffe auf verschiedenem historischen
+Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt
+gerade in ihm einen Rckfall in den &#8222;Fehler
+der historischen Schule&#8221;, das &#8222;aus dem Gedanken
+Abzuleitende&#8221; als ein &#8222;uerlich und historisch
+Gegebenes vorauszusetzen&#8221;. Und auf der andern
+Seite erklrt er es als einen &#8222;Grundirrtum&#8221;, wenn
+andere Rechtsphilosophen von der Auffassung ausgehen,
+da &#8222;das rmische Intestaterbrecht seinem
+Gedanken nach wahres Familienrecht sei&#8221;. Tatschlich
+ist es wirklich nichts anderes. Nur da
+die hier in Betracht kommende Familie sich nicht
+mit der rmischen Familie deckt, sondern den
+weiteren Geschlechtsverband umfat<a name="FNAnker_14_14" id="FNAnker_14_14"></a><a href="#Fussnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a>.</p>
+
+<p>Wir knnen auf den Gegenstand hier nicht
+weiter eingehen, man sieht aber aus dem Bisherigen<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span>
+schon, da der so kunstvoll ausgefhrte
+Bau Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente
+ruht. So geschlossen und streng folgerichtig
+daher die Beweisfhrung, und so geistreich auch
+die Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare
+&mdash; gerade das, was er mit dem ganzen
+Buch ber das rmische Erbrecht beweisen wollte,
+hat er nicht bewiesen. Die rmische Unsterblichkeitsidee
+ist nicht die Grundlage, sondern die ideologische
+Umkleidung des rmischen Testaments,
+sie erklrt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt.
+Dieser bleibt bestehen, auch wenn der religise
+Hintergrund verschwindet. Und gerade in den
+vielen Formen und Formalitten, von denen die
+Rmer die Rechtsgltigkeit der Testamente abhngig
+machten, liegt unseres Erachtens ein
+weiterer Beweis, da das Testament nicht, wie
+Lassalle meint, die frhere, sondern umgekehrt
+die sptere Einrichtung gewesen ist und wahrscheinlich
+&mdash; wie auch bei den Deutschen, nachdem
+diese das rmische Recht bereits angenommen
+hatten, &mdash; lange Zeit die Ausnahme bildete,
+whrend das Intestaterbe noch die Regel war.</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span></p>
+<p>Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die
+Lassalle aus seiner Theorie zieht, da das Testament
+nur aus der rmischen Unsterblichkeitsidee &mdash;
+der Fortdauer der Willenssubjektivitt nach dem
+Tode &mdash; zu begreifen sei, da es mit dieser &#8222;begrifflich&#8221;
+stehe und falle? Da das moderne
+Testamentsrecht, nachdem die rmische Willensunsterblichkeit
+der christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit,
+der Unsterblichkeit des nicht mehr
+auf die Auenwelt bezogenen, sondern des &#8222;in
+sich zurckgezogenen Geistes&#8221; gewichen sei,
+nichts als ein groes Miverstndnis, eine &#8222;kompakte
+theoretische Unmglichkeit&#8221; sei? Dies fhrt
+uns zurck auf den ersten Teil seines Werkes, zu
+dem der zweite, trotz seiner Abgeschlossenheit,
+eben doch nur eine Art Anhang ist.</p>
+
+<p>Der erste Teil des &#8222;Systems der erworbenen
+Rechte&#8221; fhrt den Untertitel &#8222;Die Theorie der
+erworbenen Rechte und der Kollision der Gesetze&#8221;.
+Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen
+Grundsatz zu ermitteln, der ein fr
+allemal die Grenze anzeigen soll, unter welchen
+Umstnden und wie weit Gesetze rckwirkende
+Kraft haben drfen, ohne gegen die Rechtsidee
+selbst zu verstoen. Mit anderen Worten, wann
+da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz
+oder Recht aufeinanderstoen (kollidieren), das
+erstere und wann das letztere entscheiden, wann
+ein Recht wirklich als &#8222;erworbenes&#8221; zu respektieren,
+wann es ohne weiteres der Rckwirkung
+unterworfen sein soll.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p>
+
+<p>Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich
+der oben gergte Fehler der Lassalleschen Untersuchungsmethode
+weniger geltend, whrend alle
+ihre Vorzge: die Schrfe des begrifflichen
+Denkens, das Verstndnis &mdash; innerhalb der bezeichneten
+Grenzen &mdash; fr das geschichtliche
+Moment, verbunden mit revolutionrer Khnheit
+in der Verfolgung eines Gedankens bis in seine
+letzten Konsequenzen &mdash; zu ihrer vollen Entfaltung
+gelangen. So ist das Resultat denn auch
+ein viel befriedigenderes, als bei der Untersuchung
+ber das Wesen des rmischen Erbrechts. Wie
+hoch oder gering man immer die Errterung
+solcher rechtsphilosophischen Fragen veranschlagen
+mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, da
+Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise
+lst, da sowohl der Jurist wie der Revolutionr
+dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist
+gewi eine respektable Leistung.</p>
+
+<p>Lassalle stellt zunchst folgende zwei Stze als
+Normen auf:</p>
+
+<p>a) &#8222;Kein Gesetz darf rckwirken, welches ein
+Individuum nur durch die Vermittelung seiner
+Willensaktionen trifft.&#8221;</p>
+
+<p>b) &#8222;Jedes Gesetz darf rckwirken, welches
+das Individuum ohne Dazwischenschiebung eines
+solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das Individuum
+also unmittelbar in seinen unwillkrlichen,
+allgemein menschlichen oder natrlichen oder
+von der Gesellschaft ihm bertragenen Qualitten
+trifft, oder es nur dadurch trifft, da es die Gesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span>
+selbst in ihren organischen Institutionen
+ndert.&#8221;</p>
+
+<p>Ein Gesetz z.&nbsp;B., welches die privatrechtlichen
+oder staatsbrgerlichen Befugnisse der Angehrigen
+des Landes ndert, tritt sofort in Kraft, lt
+aber die Handlungen, welche die Individuen auf
+Grund der vorher ihnen zustehenden Befugnisse
+getroffen haben, unberhrt, auch wenn diese Befugnisse
+selbst durch es aufgehoben werden. Wenn
+heute ein Gesetz das zur Volljhrigkeit erforderliche
+Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhht,
+so verlieren alle Personen ber 21 und unter
+25 Jahren sofort die an die Volljhrigkeit geknpfte
+Handlungsfhigkeit, die sie bisher besaen,
+denn sie besaen sie nicht durch individuellen
+Willensakt. Aber auf die Rechtsgeschfte,
+die sie vor Erla des Gesetzes, gesttzt auf die
+ihnen bisher zuerkannte Volljhrigkeit, abgeschlossen
+hatten, wirkt das neue Gesetz nicht zurck.
+Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch
+individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte
+Recht ist ein erworbenes Recht.</p>
+
+<p>Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung
+erworbene Recht ist nicht unter allen
+Umstnden der Rckwirkung entzogen. &#8222;Das
+Individuum kann sich und andern nur insoweit
+und auf so lange Rechte sichern, insoweit und
+solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen
+Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.&#8221;
+Jedem Vertrage sei &#8222;von Anfang an die stillschweigende
+Klausel hinzuzudenken, als solle das<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span>
+in demselben fr sich oder andere stipulierte Recht
+nur auf so lange Zeit Geltung haben, solange die
+Gesetzgebung ein solches Recht berhaupt als zulssig
+betrachten wird&#8221;. &#8222;Die alleinige Quelle des
+Rechts&#8221;, fhrt Lassalle aus, &#8222;ist das gemeinsame
+Bewutsein des ganzen Volks, der allgemeine
+Geist&#8221;. Durch Erwerbung eines Rechts knne sich
+daher das Individuum &#8222;niemals der Einwirkung des
+allgemeinen Rechtsbewutseins entziehen wollen.
+Nur ein solches Individuum wrde diese Einwirkung
+wirklich von sich abhalten knnen, welches,
+wenn dies denkbar wre, nun und niemals ein
+Recht weder erwerben noch ausben und haben
+wollte.&#8221; &#8222;Es lt sich vom Individuum kein
+Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich
+mittelst desselben fr selbstherrlich fr alle
+Zeiten und gegen alle knftigen zwingenden und
+prohibitiven Gesetze erklren.&#8221; Nichts andres
+als &#8222;diese verlangte Selbstsouvernitt des Individuums&#8221;
+liege in der Forderung, da &#8222;ein erworbenes
+Recht auch fr solche Zeiten fortdauern
+soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulssigkeit
+ausschlieen&#8221;. Wenn also &#8222;der ffentliche Geist
+in seiner Fortentwicklung dazu gelangt ist, den
+Fortbestand eines frheren Rechts, z.&nbsp;B. Leibeigenschaft,
+Hrigkeit, Robotten, Bann- und
+Zwanggerechtigkeiten, Dienste und Abgaben bestimmter
+Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit,
+fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab
+auszuschlieen&#8221;, so knne dabei &#8222;von irgendwelcher
+Krnkung erworbener Rechte ... gar<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span>
+nicht die Rede sein&#8221;. So seien denn auch die
+Dekrete der berhmten Nacht vom 4.&nbsp;August&nbsp;1789,
+durch welche die franzsische konstituierende
+Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft
+herflieenden Rechte aufhob, von &#8222;jeder
+Rechtsverletzung und Rckwirkung&#8221; frei gewesen.
+Es gab da &#8222;nichts zu entschdigen&#8221;. Ein Recht
+der Entschdigung, fhrt Lassalle treffend aus,
+auch da noch anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen
+Rechts vom ffentlichen Bewutsein
+bereits prohibiert, d.&nbsp;h. als widerrechtlich bestimmt
+ist, heie &#8222;vermge der Kraft der Logik gar
+nichts Geringeres, als Klassen oder Individuen
+das Recht zusprechen, dem ffentlichen Geiste
+einen Tribut fr seine Fortentwicklung aufzuerlegen&#8221;.
+Von einer Entschdigung knne nur
+da die Rede sein, wo nicht das Rechtsverhltnis
+selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung
+aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte
+Klasse von Rechtsobjekten, sondern nur
+einzelne ihrer Exemplare aus der Sphre des
+Privatrechts in die des ffentlichen Rechts bergefhrt
+werden. Diesen Grundsatz haben, weist
+er nach, die franzsischen Versammlungen nach
+1789 durchgngig mit der &#8222;wahrhaften Logik des
+Begriffs&#8221; innegehalten. Dagegen sei beispielsweise
+das preuische Gesetz vom 2.&nbsp;Mrz&nbsp;1850
+ber die Regulierung und Ablsung der gutsherrlichen
+und buerlichen Verhltnisse in einer Reihe
+von Bestimmungen nichts als eine widerrechtlich
+und wider das eigne Rechtsbewutsein verordnete<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span>
+Vermgensverletzung der rmsten Klassen
+zugunsten der adeligen Grundbesitzer, d.&nbsp;h.
+&#8222;logisch-konsequent&#8221; nichts als &#8222;ein Raub&#8221;<a name="FNAnker_15_15" id="FNAnker_15_15"></a><a href="#Fussnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a>.</p>
+
+<p>Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl,
+der geschrieben hatte, keine Zeit sei berufen,
+Gericht zu halten ber die Vergangenheit und die
+aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem
+Urteil ber die Angemessenheit, anzuerkennen oder
+zu vernichten, &mdash; erwidert Lassalle, der Vordersatz
+sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr
+falsch. Was aus dem ersteren folge, sei vielmehr,
+da jede Zeit autonom sei, keine Zeit unter der
+Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine
+&#8222;rechtlich verpflichtet sein knne, in ihr selbst
+noch fortwirken zu lassen, was ihrem Rechtsbewutsein
+widerspricht, und von ihr also von<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span>
+jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt
+des Rechts, angeschaut wrde&#8221;. Es sei aber
+durchaus nicht unbedingt erforderlich, fhrt er
+weiterhin aus, da ein Volk seine neue Rechtsidee,
+seinen neuen Willen, in Worten &mdash; durch
+den Mund der Volksvertretung etwa &mdash; ausgedrckt
+habe. &#8222;Denn zum Begriff des Rechts
+gehrt nur, da der Volksgeist einen geistigen
+Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphre,
+d.&nbsp;h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies
+kann aber unter Umstnden nicht weniger bestimmt
+und energisch als durch Worte durch tatschliche
+Zertrmmerung eines Rechtszustandes geschehen,
+den ein Volk vornimmt.&#8221; Diesen Grundsatz
+finde man schon bei den rmischen Juristen,
+und die franzsische Gesetzgebung whrend und<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span>
+nach der franzsischen Revolution habe ihn von
+neuem besttigt. Die Geschichte selbst habe dem
+Konvent recht gegeben, die Geschichtsschreibung,
+auch die reaktionre, es ratifizieren mssen, wenn
+er die franzsische Revolution in ihren rechtlichen
+Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des
+Bastillesturms, datierte. Und wieder exemplifiziert
+Lassalle auf analoge Vorgnge in Preuen und
+weist nach, wie im Gegensatz zur franzsischen
+Jurisprudenz das preuische Obertribunal sich in
+mehreren Erkenntnissen ber das durch die Mrzrevolution
+von 1848 geschaffene und in der
+preuischen Verfassung (selbst der oktroyierten)
+ausdrcklich anerkannte neue Rechtsbewutsein,
+da &#8222;alle Preuen vor dem Gesetze gleich sind
+und Standesvorrechte nicht stattfinden&#8221;, durch
+Wortknste hinweggesetzt, Standesvorrechte wiederhergestellt,
+kurz, sich als ein wahrer &#8222;Reaktionskonvent&#8221;
+bettigt habe. Vier Jahre, nachdem
+das &#8222;System&#8221; erschienen, bewies das genannte
+Tribunal in der famosen Interpretation des
+Artikel 84 der preuischen Verfassung auch den
+&#8222;liberalen Kalbskpfen&#8221;, wie sehr es auf diesen,
+ihm von Lassalle verliehenen Titel Anspruch hatte.</p>
+
+<p>Wir haben gesehen, erworbene Rechte mssen
+erstens durch individuelle Willensaktion vermittelt
+und zweitens in bereinstimmung sein mit dem
+erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist.
+Das ist in kurzem die Theorie der erworbenen
+Rechte. Wenn also der franzsische Konvent im
+Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span>
+1794) bestimmte, da die Vorschriften dieses
+Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. Erbschaften
+aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung
+finden sollten, die seit dem 14. Juli 1789 erffnet
+worden, so verstie er damit nach Lassalle durchaus
+nicht gegen den Grundsatz der erworbenen
+Rechte. Im Gegenteil durfte er mit vollem Recht
+am 22. Ventose desselben Jahres in Beantwortung
+mehrerer Petitionen sich darauf berufen, da das
+Gesetz &#8222;nur die seit jenem Tage &mdash; eben dem
+14. Juli 1789 &mdash; von einem groen Volke, das
+seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien
+entwickelt&#8221; habe, aber das Prinzip der
+Nichtrckwirkung nicht einmal &#8222;auch nur in Frage
+stelle&#8221;, da unstatthafte Rckwirkung jedoch dann
+eintrete, wenn man diese Grenze berschritte, d.&nbsp;h.
+das Gesetz auch auf die vor dem 14. Juli 1789 erffneten
+Erbschaften ausdehnte.</p>
+
+<p>Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage
+des Erbrechts zurckzukehren, worauf Lassalle
+mit seinen Untersuchungen ber rmisches und
+germanisches Erbrecht hinaus will. Das rmische,
+auf Testamente und Intestaterbfolge nicht der
+Familie, sondern der &#8222;Reihen, in welche die
+Willensgemeinschaft sich gliedert&#8221;, beruhende
+Erbrecht war danach in Rom &#8222;erworbenes Recht&#8221;,
+denn es entsprach dem rmischen Volksgeist, der
+&#8222;Substanz&#8221; des rmischen Volkes, nmlich der
+Idee der Unsterblichkeit des Willenssubjekts.
+Ebenso war das altgermanische Erbrecht &mdash;
+Intestatrecht der Familie &mdash; erworbenes Recht,<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span>
+denn es entsprach einer Idee des altgermanischen
+Volksgeistes, der auf der &#8222;sittlichen Identitt der
+Personen&#8221; beruhenden Familie, die &#8222;zu ihrer substantiellen
+Grundlage die sich empfindende Einheit
+des Geistes oder die Liebe hat&#8221;. Die Familie
+erbt, weil das Eigentum berhaupt nur Familieneigentum
+ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe
+aber, nachdem das Eigentum rein individuelles
+Eigentum geworden, &#8222;nicht mehr auf der Familie
+als aus eigenem Recht erbender, auch nicht
+auf der Familie als durch den prsumierten
+Willen des Toten berufen, sondern auf der Familie
+als Staatsinstitution&#8221;, auf dem &#8222;die Vermgenshinterlassenschaften
+regelnden allgemeinen
+Willen des Staates&#8221;. Und das letztere sei auch
+der Fall mit dem Testamentrecht, von dem wir
+jetzt gesehen haben, da es heutzutage &#8222;eine
+kompakte theoretische Unmglichkeit&#8221; sei. Weder
+Intestaterbfolge noch Testamentrecht sind heute
+Naturrechte, sondern &#8222;Regelung der Hinterlassenschaft
+von Sozietts wegen&#8221;. Und Lassalle schliet
+sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der,
+trotzdem er das Testament nicht in seinem vollen
+Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen
+habe: &#8222;Testamenta vero mero jure nullius essent
+momenti, nisi anima esset immortalis&#8221; &mdash; &#8222;Testamente
+aber wren mit vollem Recht durchaus null
+und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wre.&#8221;</p>
+
+<p>Braucht es hiernach noch einer besonderen
+Erklrung, was Lassalle meint, wenn er, gegen
+Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend,<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span>
+in den Satz ausbricht: &#8222;Und es wird sich vielleicht
+bald zeigen, da sich aus unseren objektiven
+Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere
+Folgerungen ber das moderne Testamentsrecht
+von selbst ergeben?&#8221; Was auf keinem
+Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution
+ist, knnen der Staat oder die Soziett auch jederzeit
+ndern, einschrnken oder ganz aufheben,
+wie es dem Bedrfnis der Soziett angemessen erscheint.
+Wenn daher G.&nbsp;Brandes und andere nach
+ihm im ganzen System der erworbenen Rechte
+&#8222;nicht eine Zeile&#8221; gefunden haben, welche auf
+eine Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie
+in die Praxis hinweise, so kann man ihnen
+aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein,
+das ganze Werk ist es, das &mdash; wie Lassalle sich
+ausdrcken wrde &mdash; nach dieser Umsetzung
+schreit.</p>
+
+<p>Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben,
+wenn er die Vorrede mit den Worten beginnt,
+da, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe
+wahrhaft gelst haben soll, es in seinem letzten
+Resultate nichts Geringeres sein knne und drfe,
+als &#8222;die rechtswissenschaftliche Herausringung
+des unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden
+politisch-sozialen Gedankens&#8221;?</p>
+
+<p>Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelst?</p>
+
+<p>Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft,
+so scheint die ihr zugrunde liegende Auffassung
+heut so ziemlich allgemein anerkannt zu
+sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span>
+abgesehen, die Darlegung, da im allgemeinen
+&#8222;der kulturhistorische Gang aller Rechtsgeschichte&#8221;
+darin bestehe, &#8222;immer mehr die Eigentumssphre
+des Privatindividuums zu beschrnken,
+immer mehr Objekte auerhalb des Privateigentums
+zu setzen&#8221;. Lassalle legte auf die Stelle, wo
+er dies in sehr feiner Entwicklung ausfhrt, mit
+Recht den grten Wert. Sie ist ein ganzes geschichtsphilosophisches
+Programm, ein Meisterwerk
+begriffsscharfer Logik.</p>
+
+<p>Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung
+der Theorie, wenn sein Beispiel vom
+Wesen des rmischen und germanischen Erbrechts
+magebend sein soll. Wir haben die Ursache der
+Schwche dieses Vergleichs bereits oben gekennzeichnet
+und brauchen daher hier nur zu rekapitulieren.
+Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen
+Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer
+Zusammenhang zwischen Erbsystem und
+Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist
+dieser Zusammenhang doch nicht der von letzter
+Ursache und Wirkung. Erbsystem und Volksgeist
+stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben
+tieferliegenden Ursache oder Gruppe von
+Ursachen an. Beide sind in letzter Instanz das
+Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen
+Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen
+aus diesen heraus und ndern sich mit ihnen, d.&nbsp;h.
+das Erbrecht wird gendert, sobald es mit den
+materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unvertrglich
+wird. Dann entdeckt der &#8222;Volksgeist&#8221;,<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span>
+da dieses Erbrecht seinem Rechtsbewutsein
+nicht mehr entspreche. Und so mit allen brigen
+Rechtseinrichtungen. Der &#8222;Volksgeist&#8221; erscheint
+nur als die letzte Instanz, die ber ihren Bestand
+entscheidet, tatschlich ist er so etwas wie Gerichtsvollzieher,
+die wirklich bestimmende Instanz
+sind die materiellen Lebensbedingungen des
+Volkes, die Art, wie, und die Verhltnisse, unter
+denen es die Gegenstnde seines Bedarfs produziert<a name="FNAnker_16_16" id="FNAnker_16_16"></a><a href="#Fussnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a>.</p>
+
+<p>Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen,
+die Irrtmer der alten Juristen und
+Rechtsphilosophen noch berbietenden Theorie?
+Der Fehler liegt daran, da er zwar mit eiserner
+Konsequenz, aber zum desto greren Schaden
+fr seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende
+in der Sphre des juristischen und philosophischen
+&#8222;Begriffs&#8221; bleibt. Aus der &#8222;begrifflichen&#8221; Ableitung
+sollen sich die Dinge erklren, die &#8222;begriffliche&#8221;
+Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung
+blolegen. Die Dinge aber richten sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span>
+nach den Begriffen, sie haben ihre eigenen Entwicklungsgesetze.</p>
+
+<p>Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tchtiger
+Jurist. Er brachte von Hause aus auergewhnliche
+Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf
+mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affre hatte
+diese Eigenschaft noch strker in ihm entwickelt.
+Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen Rechtsgrundsatz
+bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs
+zu verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser,
+da leistet er wahrhaft Glnzendes. Aber seine
+starke Seite ist zugleich auch seine Schwche. Die
+juristische Seite berwuchert bei ihm. Und so
+sieht er auch die sozialen Probleme vorwiegend
+mit den Augen des Juristen an. Das zeigt sich
+schon hier im &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;,
+es bildet die Schwche dieses Werkes, es sollte
+sich aber auch spter in seiner sozialistischen Agitation
+zeigen.</p>
+
+<p>Das &#8222;System usw.&#8221; sollte laut Vorrede zugleich
+eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie
+sein. Es kritisiert sie aber nur in Nebenpunkten,
+macht nur einen halben Schritt vorwrts, bleibt
+dagegen in der Hauptsache auf demselben Standpunkt
+stehen, wie diese. Das ist um so merkwrdiger,
+als der Schritt, der geschehen mute,
+um die Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt
+treffenden zu gestalten, lngst angegeben war, und
+zwar in Schriften, die Lassalle smtlich kannte.
+1844 hatte Karl Marx in den deutsch-franzsischen
+Jahrbchern in einem Aufsatz, der obendrein den<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span>
+Titel fhrt: &#8222;Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie&#8221;,
+auf ihn hingewiesen, 1846 in der
+Schrift &#8222;La misre de la philosophie&#8221; ihn deutlich
+vorgezeichnet, 1847 hatten Marx und Engels
+im &#8222;Kommunistischen Manifest&#8221; das Beispiel seiner
+Anwendung geliefert, und endlich hatte Karl
+Marx in der Vorrede zu seiner 1859 erschienenen
+Schrift &#8222;Zur Kritik der politischen konomie&#8221;
+unter ausdrcklichem Hinweis auf den ersterwhnten
+Aufsatz, geschrieben: &#8222;Meine Untersuchung&#8221;
+&mdash; zu der jener Aufsatz nur die Einleitung bildete &mdash; &#8222;mndete
+in dem Ergebnis, da Rechtsverhltnisse
+wie Staatsformen weder aus sich selbst
+zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen
+Entwicklung des menschlichen Geistes,
+sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhltnissen
+wurzeln ... Es ist nicht das Bewutsein
+der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt
+ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewutsein bestimmt.&#8221;
+Und obgleich Lassalle dieses Buch schon
+kannte, als er noch am &#8222;System&#8221; arbeitete, obwohl
+er sich Marx gegenber in den begeistertesten
+Ausdrcken ber es uerte<a name="FNAnker_17_17" id="FNAnker_17_17"></a><a href="#Fussnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a>, findet sich in
+seinem Werk auch nicht eine Zeile, die im Sinne
+des Vorstehenden zu deuten wre. Soll damit ein
+Vorwurf gegen Lassalle ausgesprochen werden?
+Das wre im hchsten Grade abgeschmackt. Wir
+fhren es an zur Kritik seines Standpunktes, seiner<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span>
+Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch
+die ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch
+in der brieflichen Auseinandersetzung mit Marx
+ber die im &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221; aufgestellten
+Theorien des Erbrechts.</p>
+
+<p>Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, da
+sich Marx sofort gegen diese auflehnen mute,
+denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt
+im direkten Widerspruch. Was er Lassalle
+entgegenhielt, ist aus dessen Briefen nur unvollkommen
+zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen
+hervor, da die, brigens nicht lange, brieflich
+gefhrte Debatte sich im wesentlichen um die
+Lassallesche Behauptung drehte, da das Testament
+nur aus der rmischen Mythologie, der rmischen
+Unsterblichkeitsidee, zu begreifen sei, und
+da die konomische Bourgeoisentwicklung niemals
+fr sich allein das Testament habe entwickeln
+knnen, wenn sie es nicht schon im rmischen
+Recht vorgefunden htte. Und es ist ganz charakteristisch
+zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die
+sich auf die konomische Entwicklung beziehen,
+Lassalle schlielich immer wieder mit juristisch-ideologischen
+Wendungen antwortet. Die grundstzliche
+Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte
+beider Denker kommt in dieser
+Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen
+knnen, zum sprechendsten Ausdruck.</p>
+
+<p>Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz
+des falschen geschichtstheoretischen Standpunktes
+bleibt das &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221; eine<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span>
+sehr bedeutende Leistung und eine, selbst fr denjenigen,
+der Lassalles theoretischen Standpunkt
+nicht teilt, hchst anregende und genureiche
+Lektre.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Der_preussische_Verfassungskonflikt" id="Der_preussische_Verfassungskonflikt">Der preuische Verfassungskonflikt,
+die Verfassungsreden
+und das Arbeiterprogramm.</a></h2>
+
+
+<p>Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861
+sehr stark mit der Idee, in Berlin ein demokratisches
+Blatt im groen Stil zu grnden. Wie er
+ber die liberale Presse dachte, haben wir oben
+gesehen, und ebenso, wie er danach drstete,
+unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in
+Deutschland einwirken zu knnen. Da beim Ableben
+Friedrich Wilhelms IV. eine allgemeine
+Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle
+daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels
+in diesem Falle geneigt wren, nach Deutschland
+zurckzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches
+Blatt herauszugeben. &#8222;In meinem vorletzten
+Brief&#8221;, schreibt er unterm 11. Mrz an Marx,
+&#8222;fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der Knig
+strbe und Amnestie eintrte, zurckkommen
+wrdet, hier ein Blatt herauszugeben? Antworte
+doch darauf. Ich trage mich nmlich fr diesen
+Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden
+Hoffnung, dann mit Euch (hier in
+Berlin) ein groes Blatt herauszugeben. Wrdet
+Ihr also in solchem Falle geneigt sein, herzukommen?<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span>
+Und wieviel Kapital wre zu einem groen
+Blatte erforderlich? Wrde es hinreichen, wenn
+man etwa 10000 Taler dazu aufbringen knnte?
+Oder wieviel? Es wre mir lieb, wenn Du mir
+darber schriebst, denn ich denke gern an dies
+chteau en Espagne!&#8221; In den folgenden Briefen
+kommt er wiederholt auf die Idee zurck, und am
+19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preuen
+in der Tat eine Amnestie herbeigefhrt hatte,
+schreibt er dringender: &#8222;Noch einmal stelle ich
+Dir die Frage: 1.&nbsp;wieviel Kapital ist ntig, um
+hier ein Blatt zu stiften? 2.&nbsp;Wer von den ehemaligen
+Redakteuren der &#8222;Neuen Rheinischen
+Zeitung&#8221; wrde eventuell zu solchem Zweck hierher
+zurckkehren?&#8221;</p>
+
+<p>Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte
+und ihn im Frhjahr 1861 in Berlin besuchte, zerschlug
+sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die
+ganz merkwrdige Bedingung, er solle in der
+Redaktion eine Stimme haben und Marx und
+Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei
+er ja &#8222;stets in der Minoritt&#8221;! Dann aber legte
+die preuische Regierung die Amnestie so aus,
+da diejenigen politischen Flchtlinge, die durch
+mehr als zehnjhrigen Aufenthalt im Auslande ihrer
+Zugehrigkeit zum preuischen Staatsverband verlustig
+gegangen seien, sie keineswegs ohne weiteres
+wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden
+Antrge genau so behandelt werden sollten,
+wie die Naturalisationsgesuche von Auslndern
+berhaupt. Das heit, da das erstere fr die meisten<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span>
+Flchtlinge zutraf, da es von dem Belieben
+der Regierung abhngen sollte, jeden davon wieder
+&#8222;abschieben&#8221; zu knnen, dessen Rckkehr ihr
+&#8222;unbequem&#8221; war. Ein von Lassalle fr Marx
+eingereichtes Naturalisationsgesuch wurde denn
+auch richtig in allen Instanzen abgelehnt, da, wie
+es in einem vom 11. November 1861 datierten
+Bescheid des &mdash; liberalen &mdash; Ministers Schwerin
+an Lassalle hie, &#8222;zur Zeit wenigstens durchaus
+keine besonderen Grnde vorhanden sind, welche
+fr die Erteilung der Naturalisation an den
+p. Marx sprechen knnten&#8221;. Damit war natrlich
+jeder Gedanke an eine bersiedelung von Marx
+nach Berlin ausgeschlossen.</p>
+
+<p>Im Sptsommer 1861 machte Lassalle zusammen
+mit der Grfin Hatzfeldt eine Reise nach
+Italien, die, wie er an Marx schreibt, &#8222;sehr instruktiv&#8221;
+fr ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei
+Garibaldi auf Caprera sei sehr interessant gewesen,
+auch habe er &#8222;fast alle leitenden Persnlichkeiten&#8221;
+in den verschiedenen Stdten, die er
+besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker
+in seiner Schrift &#8222;Enthllungen ber das tragische
+Lebensende Ferdinand Lassalles&#8221; zuerst bekannt
+gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief
+an Fr. Engels vom 30. Juli 1862 besttigt wird,
+hat Lassalle bei jenem Besuch Garibaldi zu einem
+militrischen Unternehmen in groem Stil gegen
+sterreich zu berreden gesucht und den Plan
+dann in London auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi
+sollte sich danach in Neapel zum Diktator<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span>
+aufwerfen, eine groe Armee bilden und mit
+dieser ber Padua noch weiter vordringen, whrend
+zugleich ein an die adriatische Kste geworfenes
+detachiertes Korps nach Ungarn vorrcken
+und die Ungarn insurgieren sollte. Ein
+Plan, der namentlich deshalb interessant ist, weil
+er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener Zeit
+die Schaffung einer revolutionren Situation vorstellte,
+die unter anderm die erstrebte Lsung der
+deutschen Frage bringen sollte. Zu erwhnen ist
+noch, da Marx Lassalle fr diese Reise nach
+Italien einen Empfehlungsbrief an den deutschen
+Sozialisten und Freischrler Johann Philipp Becker
+gegeben hatte, ungnstige, aber zweifelsohne auf
+Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener ber
+Becker Lassalle jedoch bewogen, jenem aus dem
+Wege zu gehen. &#8222;Die meisten kennen ihn gar
+nicht&#8221; &mdash; schreibt er ber Becker an Marx zu
+seiner &#8222;Information&#8221; &mdash; &#8222;die, die ihn kennen,
+halten ihn fr einen Blagueur und Bummelfritz,
+fr einen Humbug ... Gut steht er nur mit Trr,
+der eine entschieden napoleonische Kreatur ist,
+und dem er auf der Tasche liegt.&#8221; Infolgedessen
+habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' Empfehlungsbrief
+keinen Gebrauch zu machen. &#8222;Du
+weit, wie oft wir in die Lage kommen, im Ausland
+uns vor nichts mehr zu hten als vor unseren
+Landsleuten.&#8221; Nun, der wackere Jean Philipp
+war doch jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene
+Grosprecher, sondern hatte wiederholt
+fr die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span>
+auf eine Zusammenkunft mit ihm htte es
+Lassalle also schon ankommen lassen knnen. Als
+er spter den &#8222;Allgemeinen deutschen Arbeiter-Verein&#8221;
+ins Leben rief, wute er auch Beckers
+Adresse zu finden<a name="FNAnker_18_18" id="FNAnker_18_18"></a><a href="#Fussnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> und stellte diesem gegenber,
+der auf irgendeine Weise erfahren hatte, welche
+Redereien ber ihn im Umlauf seien, die Sache
+so dar, als habe Marx aus einer Mcke einen
+Elefanten gemacht und einer harmlosen gelegentlichen
+uerung ber Beckers Verkehr mit Trr
+eine so schlimme Deutung gegeben.</p>
+
+<p>Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin
+zurck. Er fand die politische Situation wesentlich
+verndert vor. Der Gegensatz zwischen dem
+Knig von Preuen und dem liberalen Brgertum
+hatte sich zum offenen Konflikt verschrft; bei
+den Neuwahlen zur Kammer Anfang Dezember
+1861 war die schwachmtige konstitutionelle Partei
+durch die, eine etwas schrfere Tonart anschlagende
+Fortschrittspartei verdrngt worden.
+Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres
+aus der bis dahin eine kleine Minderheit in der
+Kammer ausmachenden Fraktion &#8222;Jung-Litauen&#8221;
+entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber
+die Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene
+Partei. Sie bestand aus den verschiedenartigsten<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span>
+Elementen, liberalisierende Grobourgeois
+saen in ihr neben kleinbrgerlichen Demokraten,
+ehemalige Republikaner mit verschwommenen
+sozialistischen Tendenzen neben Mnnern, die beinahe
+noch kniglicher waren als der Knig selbst.
+In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es
+Wilhelm&nbsp;I. eben mit allen verdorben; nur die
+Partei der Junker und Mucker und die eigentliche
+Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung.
+Die Fortschrittspartei verfgte ber die
+groe Mehrheit der Kammer und ber fast die
+ganze ffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute,
+die das innere Wesen dieser Partei durchschauten
+und zu radikale Ansichten hegten, um sich ihr
+anschlieen zu knnen, hielten es fr gut, ihr zunchst
+nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten,
+wie sie ihren Kampf mit der preuischen Regierung
+zu Ende fhren werde.</p>
+
+<p>Lassalle war mit denjenigen Mnnern, die den
+Mittelpunkt der Fortschrittspartei in Berlin bildeten,
+schon seit einiger Zeit zerfallen. Anfangs
+1860 hatte er noch mit groer Emphase in einem
+Brief an Marx fr die kleinbrgerlich-demokratische
+Berliner &#8222;Volkszeitung&#8221; eine Lanze eingelegt,
+sie ein Blatt genannt, das, &#8222;wenn auch
+hufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist,
+und mit viel weniger Konsequenz, als es sich trotz
+der Prefesseln zur Pflicht machen sollte, doch
+immerhin den demokratischen Standpunkt im allgemeinen
+durch alle die Jahre hindurch verteidigt
+hat und weiter verteidigt&#8221;, und hatte jede andere<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span>
+Politik, als die 1848 von der &#8222;Neuen Rheinischen
+Zeitung&#8221; gegenber den &#8222;blau-revolutionren&#8221;
+Blttern und Parteien eingenommene fr &#8222;ebenso
+theoretisch falsch wie praktisch verderblich&#8221; erklrt.
+&#8222;Wir mssen&#8221;, schrieb er, &#8222;in bezug auf
+die vulgr-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen
+Nancen ebensosehr die Identitt,
+als den Unterschied unsres sozial-revolutionren
+Standpunktes mit ihnen festhalten. Blo den
+Unterschied herauskehren &mdash; wird Zeit sein, wenn
+sie gesiegt haben.&#8221; Sollte die Partei in London
+dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt haben,
+alle blo blau-revolutionren Bltter und Parteien
+den reaktionren gleichzustellen, dann &#8222;erklre
+ich entschieden, da ich diese Wandlung nicht
+mitmachen, sie vielmehr berall outrance bekmpfen
+werde&#8221;. Im Brief vom 19. Januar 1861
+teilt er jedoch Marx mit, da er die Weigerung
+der &#8222;Volkszeitung&#8221;, eine lngere Einsendung von
+ihm gegen die &#8222;Nationalzeitung&#8221; abzudrucken, als
+Anla benutzt habe, um mit ihrem Herausgeber,
+Franz Duncker, zu brechen. &#8222;Umgang meine ich,
+denn andres bestand berhaupt nicht. Ich benutze
+den Anla, sage ich. Denn es ist mir eine erwnschte
+Gelegenheit noch mehr als ein Grund.
+Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, da
+ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem
+mattherzigen Gesindel gar kein Verhltnis mglich,
+und so werde ich denn dies benutzen, um
+alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine
+natrliche Gutmtigkeit schon lange getan, aufzuheben.&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span>
+In der vom 27. Mrz 1861 datierten
+Vorrede zum &#8222;System der erworbenen Rechte&#8221;
+finden wir denn auch schon einen an jener Stelle
+sogar ziemlich unvermittelten Angriff auf die
+&#8222;Wortfhrer der liberalen Bourgeoisie&#8221;, die den
+Begriff des Politischen in einer &#8222;geistlosen Verflachung
+und Oberflchlichkeit&#8221;, in einer &#8222;Isoliertheit&#8221;
+fassen, die sie zwingt, &#8222;sich an bloe
+Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten
+und fr Worte zu kmpfen&#8221;. Indes blieb Lassalle
+doch mit andern Fortschrittlern und Nationalvereinlern
+in Verkehr, und in Berlin selbst hatte
+der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, da
+politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles
+Umgang bildeten. Abgesehen von einigen wirklichen
+Gelehrten, durften ganz gewhnliche Salonlwen,
+wie der Baron Korff, Meyerbeers
+Schwiegersohn, oder radikaltuende Knstler, wie
+Hans von Blow usw., sich der intimen Freundschaft
+Lassalles rhmen<a name="FNAnker_19_19" id="FNAnker_19_19"></a><a href="#Fussnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a>. In der Rechtfertigungsschrift
+der Frau Helene von Racowitza wird
+von der Schreiberin, zwar unabsichtlich aber desto
+eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum Teil<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span>
+ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in
+der sich Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft
+machte (Anfang 1862). Vom Rechtsanwalt
+Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft
+zwischen Helene und Lassalle stattfand,
+und dessen &#8222;reizende blondlockige Frau&#8221;
+jener Lassalle als &#8222;einen der intimsten Freunde
+ihres Mannes&#8221; bezeichnete, schreibt Lassalle selbst
+wenige Monate darauf &mdash; am 9.&nbsp;Juni&nbsp;1862 &mdash; an
+Marx: &#8222;Beilufig, mit dem ganz gemeinen Hecht
+Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen&#8221; und
+fgt recht bezeichnend hinzu: &#8222;Glaube etwa nicht,
+da seine Frau die Veranlassung davon bildet.&#8221;</p>
+
+<p>Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles
+mit Lothar Bucher, der nach Erla der
+Amnestie nach Deutschland zurckgekehrt war
+und sich in Berlin niedergelassen hatte. Bucher
+war freilich kein Hecht, sondern gehrte einer
+zahmeren zoologischen Gruppe an.</p>
+
+<p>Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus
+jener Zeit besttigen, da dieser aus Italien mit
+ziemlich abenteuerlichen Plnen heimgekehrt war,
+die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span>
+anknpften. Einer der interessantesten
+davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. Januar
+1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht
+ging und den Lassalle, wie er unterm 9.&nbsp;Februar&nbsp;1862
+an W.&nbsp;Rstow schrieb, &#8222;in langen, mit
+rasender geistiger Anstrengung verbundenen
+Unterredungen&#8221; fr seine Ideen zu gewinnen versucht
+hatte, nimmt in jenem Brief auf eine am
+Abend vorher gefhrte Debatte mit Lassalle
+Bezug und fhrt aus, da er es zwar fr mglich
+halte, die bestehende Ordnung &mdash; &#8222;oder Unordnung&#8221;
+&mdash; der Dinge in Deutschland niederzuwerfen,
+aber noch nicht, sie niederzuhalten; mit andern
+Worten, da die Zeit fr eine sozialistische Revolution
+noch nicht reif sei. &#8222;Bedenken Sie dazu
+noch eins: da jede sozialistische Bewegung in
+Frankreich auf lange Zeit hinaus mit dem Kot
+und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei
+uns eine Menge gesunder und reiner Elemente
+gegen eine hnliche Bewegung wachrufen wrde.&#8221;
+Auf die Frage, was denn also geschehen solle,
+habe er nur &#8222;die lahme Antwort Machiavellis&#8221;:
+Politik ist die Wahl unter beln. &#8222;Ein Sieg des
+Militrs&#8221; &mdash; d.&nbsp;h. der preuischen Regierung!! &mdash;
+wre &#8222;ein bel&#8221;, aber &#8222;ein Sieg des heutigen
+sterreich wre kein Sieg des reaktionren Prinzips&#8221;.
+Dafr stelle er Lassalle als Zeugen die
+&#8222;Berliner Revue&#8221; usw. usw. Diese als Einwand
+gegen Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen
+nur den Schlu zu, da Lassalle eine Revolution
+erzwingen zu knnen glaubte und im Hinblick<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span>
+hierauf sterreich fr den Vorsto ausersehen
+hatte. Damit war der obenerwhnte Versuch,
+Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu
+gewinnen, hinlnglich erklrt. Fraglich ist nur,
+wie Lassalle, der fr gewhnlich in politischen
+Dingen ein sehr nchterner Rechner war, zu einem
+so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er
+von franzsischen, ungarischen oder italienischen
+Revolutionren angeregt worden war, die Lassalle
+auf seiner Reise nach und durch Italien kennengelernt,
+mu dahingestellt bleiben. Da Wilhelm
+Rstow um ihn wute und, wie Lassalle Marx
+erzhlte, ihn gebilligt habe, mag er auch auf Anregungen
+dieses etwas phantasiereichen Militrs
+zurckzufhren sein. Es ist schwer zu glauben,
+da er Lassalles eignem Kopf entsprungen war,
+so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles bereinstimmte.</p>
+
+<p>Jedenfalls berzeugte sich Lassalle daheim, da
+zu einer Revolution in Deutschland vor allem noch
+die deutschen Revolutionre fehlten. Indes war
+die Situation doch zu bewegt, um die zu einer
+Rckkehr zum Studiertisch ntige Ruhe in ihm
+aufkommen zu lassen. Statt alsbald an die groe
+national-konomische Arbeit zu gehen, die er sich
+vorgenommen, verschob er sie immer wieder, um
+sich den Fragen des Tages zu widmen, was bei
+dem tglich lebhafter pulsierenden ffentlichen
+Leben brigens nur durchaus erklrlich war.</p>
+
+<p>Die erste Leistung, mit der er zunchst an die
+ffentlichkeit trat, war das gemeinsam mit Bucher<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span>
+verfate Pamphlet &#8222;Julian Schmidt, der Literarhistoriker&#8221;.
+Obwohl die Schrift formell Kritik
+einer von Schmidt zusammengeschriebenen &#8222;Geschichte
+der deutschen Literatur&#8221; ist, zeigt das
+Vorwort, da mit ihr die liberale Presse berhaupt
+getroffen werden sollte. Und auch die
+liberale Partei. Da Schmidt deren Programm mitunterschrieben
+hatte und eifrig verfocht, sollte
+&#8222;Julian der Grabowite&#8221; fglich der Ausdruck
+werden knnen, &#8222;welcher den geistigen Hhepunkt
+dieser Partei kennzeichnet&#8221;. Eine etwas bertriebene
+Logik, wie es berhaupt in der Schrift
+an bertreibungen nicht fehlt. Auch war der
+Zeitpunkt fr sie nicht sehr gnstig gewhlt, da
+gerade in jenen Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus
+aufgelst und Wilhelm&nbsp;I. ein Reskript
+gegen die fortschrittlich-liberale Presse
+erlassen hatte. War nun auch die Fraktion
+Grabow &mdash; die altliberale Partei &mdash; nicht mit der
+Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein
+gutes Teil mehr als diese zu Kompromissen geneigt,
+so machte sie doch in der Verfassungsfrage
+gemeinsame Sache mit ihr, so da der Hieb sie
+in einem Augenblick traf, wo sie zufllig sich
+besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war
+die Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente,
+die scharfe Geielung der bei ihm oft
+in &#8222;gespreizter Bildungssprache&#8221; sich wichtig
+machenden Oberflchlichkeit durchaus berechtigt.
+Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schrfe
+die grten Denker und Dichter Deutschlands<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span>
+gegen die oft flschende und tendenzis-gehssige
+Schmidtsche berkritik. Wo &#8222;der Setzer&#8221; das
+Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht,
+whrend Lothar Bucher als &#8222;das Setzerweib&#8221;
+vorgefhrt wird.</p>
+
+<p>Eine Einladung, die er im Frhjahr 1862 erhielt,
+in einem Berliner liberalen Bezirksverein
+einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwnschte
+Gelegenheit &mdash; da es ihm in der Presse nicht mglich
+war &mdash;, den Fhrern der Fortschrittspartei
+vor ihren eignen Leuten mndlich gegenberzutreten.
+Als Thema whlte er die Frage des
+Tages: den ausgebrochenen Verfassungskonflikt.
+Aber mit geschickter Berechnung hielt er sich
+in dem ersten Vortrag, den er &#8222;ber Verfassungswesen&#8221;
+betitelte, noch absolut auf dem Boden
+akademischer Darlegung. Er entwickelt seinen
+prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm
+ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen
+sind Machtfragen, eine Verfassung
+hat nur dann und so lange gesicherten Bestand,
+als sie der Ausdruck der realen Machtverhltnisse
+ist; ein Volk besitzt nur dann in der Verfassung
+einen Schutz gegen Willkr der Regierenden,
+wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen
+Fall auch ohne die Verfassung sich gegen
+sie zu schtzen. Es sei daher der grte Fehler
+gewesen, da man 1848, anstatt zuerst die realen
+Machtfaktoren zu ndern und vor allen Dingen das
+Heer aus einem kniglichen in ein Volksheer zu
+verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span>
+Verfassung so lange vertrdelte, bis die Gegenrevolution
+Kraft genug geschpft hatte, die Nationalversammlung
+auseinanderzujagen. Wenn das
+Volk wieder einmal in die Lage komme, eine Verfassung
+zu machen, mge man diese Erfahrung
+daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten
+Heeresvorlagen seien ebenfalls aus
+diesem Gesichtspunkt zu beurteilen &mdash; d.&nbsp;h. als
+dem Bestreben entsprungen, die tatschlichen
+Verhltnisse weiter zugunsten der Regierung umzugestalten.
+&#8222;Das Frstentum, meine Herren,&#8221;
+heit es am Schlu, &#8222;hat praktische Diener, nicht
+Schnredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen
+zu wnschen wren.&#8221;</p>
+
+<p>Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht,
+ist unbestreitbar richtig. Auch die meisten
+Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie
+trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so
+taten sie dies, weil die bersetzung des ersteren
+in die Praxis einfach die Revolution hie, die
+Partei aber &mdash; ein Teil der Fhrer berhaupt
+nur, der andere jedenfalls zunchst &mdash; den Kampf
+auf parlamentarischem Boden zu fhren wnschte.
+Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener
+Gegner der Revolution zu sein, als
+wie Lassalle die Fortschrittler &mdash; und im groen
+und ganzen auch durchaus mit Recht &mdash; damals
+hinstellte, um den Zeitpunkt fr eine solche als
+noch nicht gekommen zu erachten. Auch Lassalles
+Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben,
+trotz der vielen Grnde, die er hatte, die bestehende<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span>
+Ordnung der Dinge zu hassen, dieser
+Ansicht. Fr den parlamentarischen Kampf bot
+jedoch die Fiktion, da man fr die bestehende Verfassung
+gegen die Regierung, die diese verletzte,
+fr das &#8222;Recht&#8221; gegen die Macht kmpfte, eine
+viel gnstigere, oder sagen wir lieber, bequemere
+Position, als die offene Proklamierung des Kampfes
+um die Macht selbst. Die materiellen Machtmittel
+hatte die Regierung in der Hand, darum
+wollte man sich wenigstens alle moralischen sichern.</p>
+
+<p>Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt
+hatte, was nicht jeder Fortschrittler &mdash; ja,
+jeder vernnftige Mensch berhaupt unterschreiben
+konnte, war er daher doch den Fhrern der
+Fortschrittspartei hchst unangenehm, whrend die
+Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hnde
+rieb. Ganz offen bejubelte ihn die &#8222;Kreuz-Zeitung&#8221;,
+das Organ der Junker und Mucker.
+Nicht nur, da es ihr berhaupt angenehm war,
+wenn der Konflikt ins Herz des Feindes getragen
+wurde, lag ihr auch deshalb daran, die Verfassungsfrage
+als eine reine Machtfrage zwischen
+Knigtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen,
+weil dadurch ihre Position als einzig zuverlssige
+Sttze des Thrones eine um so befestigtere wurde.
+Man mu nicht vergessen, da die &#8222;Neue ra&#8221;
+Wilhelms&nbsp;I. nebenbei ein Versuch gewesen war,
+den Thron der Hohenzollern von der allzu
+lstig gewordenen Vormundschaft der ostelbischen
+Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren.
+Gegenber dem Programm, wie es Lassalle formulierte,<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span>
+mute diese dagegen dem Knig als das
+unbedingt kleinere bel erscheinen.</p>
+
+<p>Lassalle lie den Vortrag, den er noch in drei
+weiteren fortschrittlichen Versammlungen gehalten
+hat &mdash; ein Beweis, da die fortschrittliche
+Whlerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand &mdash;
+&#8222;auf mehrfaches Andringen&#8221; in Druck erscheinen.
+Inzwischen hatten die Neuwahlen zum Landtage
+einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei ber
+die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten
+Blicks, wie sich unter diesen Verhltnissen
+der Konflikt zwischen den beiden weiter entwickeln
+werde.</p>
+
+<p>Ebenfalls im Frhjahr 1862 hielt Lassalle in
+Berlin &mdash; im Handwerkerverein der Oranienburger
+Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel Berlins &mdash;
+noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel
+gab: &#8222;ber den besonderen Zusammenhang der
+Idee des Arbeiterstandes mit der gegenwrtigen
+Geschichtsperiode&#8221;. Auch diesen Vortrag hatte
+er vorher sorgfltig ausgearbeitet. Und er ist,
+wenngleich in Einzelheiten nicht einwandfrei &mdash;
+schon der Titel fordert zur Kritik heraus &mdash; unzweifelhaft
+eine der besten, wenn nicht die beste
+der Lassalleschen Reden. Eine ebenso klare wie
+schne Sprache, gedrungene, flssige, nirgends
+berladene und doch nie trockene Darstellung, von
+Satz zu Satz fortschreitende systematische Entwicklung
+des Grundgedankens, sind ihre formellen
+Vorzge, whrend sie ihrem Inhalte nach &mdash; wie
+gesagt, mit einigen Einschrnkungen &mdash; eine vortreffliche<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span>
+Einleitung in die Gedankenwelt des
+Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem
+Werte nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und
+den Umstnden, unter denen sie gehalten wurde,
+angepate Umschreibung des &#8222;Kommunistischen
+Manifestes&#8221; bezeichne; sie fhrt in der Hauptsache
+an der Hand konkreter Beispiele aus, was
+im historischen Teil des Manifestes in groen
+Zgen bereits vorgezeichnet ist.</p>
+
+<p>Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie
+und die juristische Auffassungsweise in die
+Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch
+auch, wie das brigens im Vortrag ber Verfassungswesen
+gleichfalls geschieht, die Betonung
+der konomischen Grundlagen der Bewegung der
+Geschichte in den Vordergrund. Da die Arbeiter
+vermge ihrer Klassenlage in der modernen
+brgerlichen Gesellschaft die eigentliche revolutionre
+Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen
+ist, die Gesellschaft auf eine neue Grundlage
+zu stellen &mdash; die Grundidee des kommunistischen
+Manifestes &mdash; ist auch der leitende Gedanke
+des &#8222;Arbeiterprogramms&#8221;, unter welchem
+Namen der Vortrag spter in Druck erschienen
+ist. Nur da sich fr Lassalle die Sache sofort
+wieder in juristische Begriffe kristallisiert und
+mit ideologischen Vorstellungen verquickt wird.
+Wenn Lassalle im Titel und durchgngig im Vortrage
+selbst vom Arbeiterstand spricht, so knnte
+man darin eine bloe Konzession an den Sprachgebrauch
+erblicken, an der nur Pedanterie Ansto<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span>
+nehmen mchte. Indes es mu Lassalle zu
+seinem Lobe nachgesagt werden, da er in der
+Wahl seiner Ausdrcke durchaus nicht leichtfertig
+zu Werke ging; es ist kein bloes Zugreifen
+nach einer populren Redewendung, die ihn vom
+&#8222;Arbeiterstand&#8221;, von einem &#8222;vierten Stand&#8221;
+sprechen lt, sondern eine Folge seiner wesentlich
+juristischen Vorstellungen. Es ist derselbe
+Rckfall, der ihn den Begriff des Bourgeois nicht
+etwa von der tatschlichen Machtstellung herleiten
+lt, die der Kapitalbesitz rein vermge
+seiner konomischen Wirkungen und Krfte verleiht,
+sondern &mdash; von den rechtlichen und staatlichen
+Privilegien, die der Kapitalist auf Grund
+seines Besitzes geniet oder beansprucht. Statt
+den fundamentalen Unterschied zwischen dem
+modernen Bourgeois und dem mittelalterlichen
+Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, verwischt
+er ihn auf solche Weise und lt den Kapitalbesitzer
+nur dann einen Bourgeois sein, wenn
+er staatlich und rechtlich die Stellung eines
+Feudalen beansprucht. (Vgl.&nbsp;S.&nbsp;20-22 des
+&#8222;Arbeiterprogramm&#8221;.) Und, wie immer, konsequent
+selbst in seinem Irrtum, stellt er als bezeichnendes
+Merkmal &mdash; d.&nbsp;h. nicht als ein, sondern
+als <em class="gesperrt">das</em> Merkmal der Bourgeoisie-Gesellschaft
+&mdash; das Klassen- oder Zensuswahlsystem
+hin. Das preuische Dreiklassenwahlsystem,
+eingefhrt von der feudalistisch-absolutistischen
+Reaktion gegen die brgerliche Revolution des
+Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span>
+des modernen Bourgeoisiestaates. Das
+hat allenfalls einen Sinn, wenn man den Begriff
+Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Grokapitalisten
+beschrnkt, aber was wird dann aus
+dem &#8222;vierten Stand&#8221;?</p>
+
+<p>Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten
+Bourgeoisiestaates bezeichnet Lassalle die Ausbildung
+des Systems der indirekten Steuern als
+Mittel der Abwlzung der Steuerlast auf die nicht
+privilegierten Klassen. Da jeder privilegierten
+Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den
+Steuern mglichst zu befreien, kann unbestritten
+bleiben. Aber wenn Lassalle den Begriff des
+Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten
+abhngig macht, dann wird seine Theorie schon
+durch die einfache Tatsache umgestoen, da
+gerade in dem Lande, wo das allgemeine und
+direkte Wahlrecht am lngsten besteht, in Frankreich,
+das indirekte Steuersystem am strksten
+ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, da von
+den 97 Millionen Talern, die der preuische Staat
+im Jahre 1855 aus Steuern einnahm, nur etwa
+13 Millionen aus direkten Steuern herstammen,
+ist brigens gleichfalls anfechtbar. Er erklrt die
+10 Millionen Taler Grundsteuer einfach fr eine
+indirekte Steuer, da sie nicht von den Grundbesitzern
+bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis
+abgewlzt werde. Das Abwlzen war
+aber keineswegs eine so leichte Sache, solange die
+Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzlle gegen die
+Zufuhr von auen abgesperrt waren. Die Grundsteuer<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span>
+hat vielmehr lange Zeit als eine reine Reallast
+auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als
+solche von den Grundbesitzern empfunden und
+bei Veruerungen behandelt worden. 9 Millionen
+Taler Einnahme aus dem Justizdienst mgen als
+eine indirekte Steuer bezeichnet werden, da aber
+die rmste Klasse keineswegs die meisten Prozesse
+fhrt, so kann man hier nicht von einer
+Steuer zur Entlastung des groen Kapitals
+sprechen, wie immer man sonst ber die Justizgebhren
+denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit
+des groen Kapitals ist kein notwendiges
+Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. Diese
+unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft
+dadurch, da sie nicht an gesetzliche
+Statuierung der Klassenunterschiede gebunden ist,
+vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung
+aller fortbesteht.</p>
+
+<p>Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung
+von Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer
+als einen Beleg dafr anfhrt, da
+&#8222;die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen
+Privilegiums und Elementes &mdash; des Kapitals &mdash;
+mit noch strengerer Konsequenz durchfhre, als
+dies der Adel im Mittelalter mit dem Grundbesitz
+getan hatte&#8221;. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel
+waren in Preuen keineswegs Regierungsmittel
+der Bourgeoisie, sondern der halb-feudalen
+und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte
+blo den Blick nach England zu wenden, wo die
+Bourgeoisie zur weitesten Entfaltung gediehen<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span>
+war, um sich zu berzeugen, wie auch ohne die
+kleinen Mittel eines rckstndigen Regierungssystems
+die Presse, und obendrein in noch viel
+hherem Mae als in Preuen, &#8222;Privilegium des
+groen Kapitalbesitzes&#8221; werden kann. So richtig
+es natrlich war, gegen diese Mittel der politischen
+Repression die Stimme zu erheben, so ist es
+wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer
+Denkweise, da, wo er die Wirkung der Herrschaft
+der Bourgeoisie auf das Prewesen darstellen
+will, er hier ausschlielich formal-rechtliche
+Einrichtungen anfhrt, den Einflu der konomischen
+Faktoren dagegen gnzlich ignoriert.</p>
+
+<p>Und schlielich fhrt ihn seine Ideologie dahin,
+dem Staat, der &#8222;Staatsidee&#8221;, einen Dithyrambus
+anzustimmen. Der &#8222;vierte Stand&#8221; hat &#8222;eine ganz
+andere, ganz verschiedene Auffassung von dem
+sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie&#8221;.</p>
+
+<p>Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle
+die Auffassung der liberalen Freihandelsschule
+hin, nach welcher die Aufgabe des Staates einzig
+darin bestehe, die persnliche Freiheit des einzelnen
+und sein Eigentum zu schtzen.</p>
+
+<p>Das sei aber eine &#8222;Nachtwchteridee&#8221;. Die
+Geschichte sei &#8222;ein Kampf mit der Natur, mit
+dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der
+Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller
+Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht
+am Anfang der Geschichte auftrat. Die
+fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit &mdash;
+das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span>
+Geschichte darstellt&#8221;. Diese Entwicklung des
+Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen,
+das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der
+Staat sei &#8222;die Einheit der Individuen in einem
+sittlichen Ganzen&#8221;, sein Zweck sei, &#8222;durch diese
+Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen,
+solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu
+erreichen, die sie als einzelne niemals erreichen
+knnten, sie zu befhigen, eine Summe von Bildung,
+Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen
+smtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich
+wre&#8221;. Und weiter sei sein Zweck, &#8222;das menschliche
+Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
+Entwicklung zu bringen, mit anderen
+Worten, die menschliche Bestimmung &mdash; d.&nbsp;i. die
+Kultur, deren das Menschengeschlecht fhig ist &mdash;
+zum wirklichen Dasein zu gestalten&#8221;. Er sei
+&#8222;die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts
+zur Freiheit&#8221;. So sehr sei dies &#8222;die
+wahre und hhere Aufgabe&#8221; des Staates, da &#8222;sie
+deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der
+Dinge selbst von dem Staate, auch ohne seinen
+Willen, auch unbewut, auch gegen den Willen
+seiner Leiter, mehr oder weniger ausgefhrt
+wurde&#8221;.</p>
+
+<p>Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der
+Gesellschaft berhaupt haben schon durch die
+hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als einzelne
+befnden, den &#8222;tiefen Instinkt, da eben
+dies die Bestimmung des Staates sei und sein
+msse&#8221;. Ein unter die Herrschaft der Idee des<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span>
+Arbeiterstandes gesetzter Staat aber wrde sich
+diese &#8222;sittliche Natur&#8221; des Staates &#8222;mit hchster
+Klarheit und vlligem Bewutsein&#8221; zu seiner Aufgabe
+machen und &#8222;einen Aufschwung des Geistes,
+die Entwicklung einer Summe von Glck, Bildung,
+Wohlsein und Freiheit herbeifhren, wie
+sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte&#8221;.</p>
+
+<p>So schn das Ganze entwickelt ist, so leidet
+diese Darstellung doch an einem groen Fehler:
+Trotz aller Betonung der geschichtlichen Vernderungen
+in Staat und Gesellschaft erscheint
+der Staat hier seinem Begriff und Wesen nach
+als ein fr alle Zeit gleicherweise Gegebenes, als
+habe er von Anfang an einen bestimmten, einen
+seiner &#8222;Idee&#8221; zugrunde liegenden Zweck gehabt,
+der zeitweise verkannt, mangelhaft erkannt oder
+ignoriert worden sei und dem daher zur vollen
+Anerkennung verholfen werden msse. Der Staatsbegriff
+ist sozusagen ein ewiger. In diesem Sinne
+zitiert Lassalle eine Stelle aus einer Festrede von
+Boeckh, wo der berhmte Altertumskenner &#8222;gegen
+die Staatsidee des Liberalismus&#8221; an die &#8222;antike
+Bildung&#8221; appelliert, welche &#8222;nun einmal die unverlierbare
+Grundlage des deutschen Geistes geworden&#8221;
+sei und von der aus sich die Ansicht
+erzeuge, der Begriff des Staates sei dahin zu erweitern,
+da &#8222;der Staat die Einrichtung sei, in
+welcher die ganze Tugend der Menschheit sich
+verwirklichen solle&#8221;. So begreiflich und innerhalb
+gewisser Grenzen auch durchaus berechtigt
+der Protest gegen die sich damals breitmachende<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span>
+Theorie des absoluten sozialpolitischen Gehen-
+und Geschehenlassens war, so weit schiet Lassalle
+hier selbst ber das Ziel. Der Staat der Alten
+beruhte auf Gesellschaftszustnden, so grundverschieden
+von denen der Gegenwart, da die
+Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig fr
+die Gegenwart magebend sein knnen, wie etwa
+die Ideen der Alten ber die Arbeit, das Geld,
+die Familie. Gleich diesen ist die antike Staatsidee
+nur Material der vergleichenden Forschung,
+aber keineswegs eine auf die Neuzeit bertragbare
+Theorie. Wenn nach Boeckh die Staatsidee des
+Liberalismus die Gefahr einer &#8222;modernen Barbarei&#8221;
+in sich trug, so die Aufpfropfung der antiken
+Staatsidee auf die heutige Gesellschaft die Gefahr
+einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt
+es auch durchaus nicht, was Lassalle von den
+Wirkungen des Staates sagt. Diese sind vielmehr
+zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene gewesen.
+Groartige Kulturfortschritte sind vollzogen
+worden, ehe ein Staat bestand, und wichtige
+Kulturaufgaben erfllt worden, ohne den
+jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm;
+der Staat hat unzweifelhaft im wesentlichen den
+Fortschritt der Menschheit gefrdert, aber doch
+auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.</p>
+
+<p>Natrlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch,
+den Staatsbegriff der Alten unverndert wieder
+herstellen zu wollen &mdash; auch Boeckh lag ein
+solcher Gedanke fern &mdash;, aber mit dem schlechtweg
+abgeleiteten Staatsbegriff wurde die Sache<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span>
+nicht besser, sondern schlimmer. Der Kultus des
+Staates schlechthin heit der Kultus jedes Staates,
+und wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer
+Gesinnung ein direktes Eintreten fr
+den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so verhinderte
+diese doch nicht, da jener Kultus spter
+von den Anwlten des bestehenden Staates weidlich
+zu dessen Gunsten ausgebeutet wurde. Das
+ist berhaupt die Achillesferse aller auf abgeleitete
+Begriffe aufgebauten Theorie, da sie, so revolutionr
+sie auch gedacht ist, tatschlich immer in
+Gefahr ist, in eine Verklrung bestehender oder
+vergangener Zustnde umzuschlagen. Lassalles
+Staatsidee war die Brcke, die den Republikaner
+Lassalle eines Tages mit den Streitern fr das
+absolute Knigtum und den Revolutionr Lassalle
+mit den eingefleischten Reaktionren zusammenfhrte.
+Der philosophische Absolutismus hatte zu
+allen Zeiten eine Ader, die ihn dem politischen
+Absolutismus nahe brachte.</p>
+
+<p>So enthlt dieser Vortrag, trotz seiner sonst
+vortrefflichen Eigenschaften, im Keim bereits alle
+Fehler, welche in der spteren Lassalleschen Bewegung
+zutage getreten sind.</p>
+
+<p>Zum Schlu ermahnt Lassalle die Arbeiter,
+sich ganz von dem Gedanken an die hohe geschichtliche
+Mission ihrer Klasse durchdringen
+zu lassen, aus ihm die Pflicht zu einer ganz neuen
+Haltung herzuleiten. &#8222;Es ziemen Ihnen nicht
+mehr die Laster der Unterdrckten, noch die
+migen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span>
+selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden.
+Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der
+Gegenwart gebaut werden soll!&#8221;</p>
+
+<p>Lassalle lie, wie gesagt, auch diesen Vortrag
+drucken. Aber so vorsichtig er auch gehalten
+ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare politische
+Schlufolgerung vermeidet, so witterte die Berliner
+Polizei, zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen
+sehr gut bekannt waren, doch sofort, worauf
+der Vortrag hinauslief. Sie lie die ganze, bei
+einem Berliner Drucker hergestellte Auflage von
+3000 Exemplaren beschlagnahmen und gegen
+Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni
+war die Broschre im Druck vollendet und konfisziert
+worden. Am 4.&nbsp;November&nbsp;1862 reichte
+der Staatsanwalt von Schelling &mdash; ein Sohn des
+Philosophen Schelling &mdash; beim Berliner Stadtgericht
+das Gesuch ein um Einleitung der Strafuntersuchung
+gegen Lassalle wegen &#8222;Aufreizung
+der besitzlosen Klassen zu Ha und Verachtung
+gegen die Besitzenden&#8221;. Am 17.&nbsp;November beschlo
+das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu
+geben, und am 16.&nbsp;Januar&nbsp;1863 kam der Proze
+in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz einer
+wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich
+Lassalle dem Staatsanwalt und dem Gerichtsprsidenten
+gleich berlegen zeigte, und namentlich
+den ersteren Spieruten laufen lie, wurde
+Lassalle doch zu vier Monaten Gefngnis verurteilt.
+Er appellierte und hatte wenigstens den
+Erfolg, da das Kammergericht die Gefngnisstrafe<span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span>
+in eine verhltnismig unerhebliche Geldstrafe
+umwandelte. Die Beschlagnahme der Broschre
+blieb allerdings aufrechterhalten, indes lie
+Lassalle den Vortrag nun bei Meyer &amp; Zeller in
+Zrich in Neuauflage erscheinen.</p>
+
+<p>Ebenfalls bei Meyer &amp; Zeller erschienen die
+drei Broschren ber den Proze in der ersten
+Instanz &mdash; von denen die erste die Verteidigungsrede
+Lassalles (unter dem Sondertitel: &#8222;Die
+Wissenschaft und die Arbeiter&#8221;), die zweite den
+stenographischen Bericht ber die mndlichen
+Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite
+Kritik des erstinstanzlichen Urteils enthlt &mdash; und
+schlielich auch unter dem Titel: &#8222;Die indirekte
+Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen&#8221;, die
+eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten
+Steuer darbietende Verteidigungsrede in der zweiten
+Instanz. War die erste Verteidigungsrede eine
+auerordentlich geschickte und wirkungsvolle Beweisfhrung
+dafr, da der Satz in der preuischen
+Verfassung &#8222;die Wissenschaft und ihre
+Lehre sind frei&#8221; sinnlos wre, wenn er nicht das
+Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft
+und ihre Theorien den breiten Volkskreisen
+vorzutragen, und da gerade die Arbeiterklasse
+infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natrliche
+Verbndete der fr ihre Freiheit kmpfenden
+Wissenschaft sei, so ist die Rede ber die indirekte
+Steuer eine ganze konomische Abhandlung
+mit sehr vielem geschichtlichen und statistischen
+Material, die man noch heute mit Frucht<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span>
+lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften
+gegen das System der indirekten Steuern, die je
+geschrieben wurden. Politisch kommt in dieser
+zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit
+dem brgerlichen Liberalismus zu schrfstem Ausdruck,
+whrend in der ersten Rede noch die Gemeinsamkeit
+des Kampfes beider wider die Reaktionsmchte
+betont wurde. Eine eingehendere
+Wrdigung dieser Reden findet man in den Vorworten
+des Schreibers zu ihnen. Hier mssen
+wir vorerst wieder auf die Zeit zurckgehen, in
+welcher der Vortrag selbst gehalten worden war,
+das Frhjahr 1862.</p>
+
+<p>Es ist begreiflich, da der Vortrag als solcher
+zunchst kein besonderes Aufsehen machte. So
+sehr er sich dem inneren Gehalt nach von der
+Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern
+damals von den Fortschrittsrednern vorgesetzt
+wurde, der ueren, politischen Tendenz nach
+wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen,
+Anspielungen auf eine Neuauflage der
+1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte
+Steuer usw. lieen es auch die fortschrittlich-demokratischen
+Dutzendredner nicht fehlen. Ja,
+da sie ihre Reden mit Ausfllen gegen die Regierung
+spickten, hrten sich diese gewhnlich viel
+radikaler an als der fast ganz akademisch gehaltene
+Vortrag Lassalles. Wenn der Philister oppositionell
+ist, nimmt er es in der Grospurigkeit
+der Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit
+seiner Hrer, ob Arbeiter oder Brger,<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span>
+machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von
+auergewhnlichem Radikalismus.</p>
+
+<p>So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der
+&#8222;Philosophischen Gesellschaft&#8221; in Berlin war,
+noch in demselben Frhjahr von dieser dazu ausersehen,
+bei der auf den 19. Mai veranstalteten
+Gedenkfeier zum hundertjhrigen Geburtstage des
+Philosophen Fichte die Festrede zu halten. Weder
+an seinem sozialen noch an seinem politischen
+Radikalismus, der natrlich in diesen Kreisen wohl
+bekannt war, nahmen die leitenden Persnlichkeiten
+damals Ansto. Da das Brgertum in
+seiner groen Mehrheit oppositionell war, durften
+auch seine Gelehrten noch Ideologie treiben.</p>
+
+<p>Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den
+&#8222;Demokratischen Studien&#8221; Fichte als Apostel der
+deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm jetzt
+den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine
+Festrede zu halten, so war das im Grunde nichts
+als eine Anerkennung jenes Aufsatzes. Und
+Lassalle lie sich denn auch die Gelegenheit nicht
+entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung
+zu wiederholen.</p>
+
+<p>Die Rede trgt den Titel: &#8222;Die Philosophie
+Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes.&#8221;
+Sie ist glnzend, soweit sie Fichtes
+Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie
+zur Anschauung bringt. Weiterhin aber
+verfllt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche
+Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische
+Volksidee, und seine Bedeutung besteht<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span>
+darin, da die Deutschen die hohe weltgeschichtliche
+Aufgabe haben, aus dem &#8222;reinen
+Geist&#8221; heraus diesem &#8222;nicht blo eine reale Wirklichkeit&#8221;,
+sondern sogar &#8222;die bloe Sttte seines
+Daseins, sein Territorium&#8221;, erst zu schaffen.
+&#8222;Indem hier das Sein aus dem reinen Geist selbst
+erzeugt wird, mit nichts Geschichtlichem, nichts
+Naturwchsigem und Besonderem verwachsen,
+kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild
+sein, und trgt hierin die Notwendigkeit
+jener Bestimmung zur hchsten und vollendetsten
+Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.&#8221;
+Und was Fichte philosophisch in der
+Einsamkeit seines Denkens aufgestellt habe, das
+sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen
+bewahrheitend, bereits &#8222;zur Religion geworden&#8221;
+und durchbebe &#8222;unter dem populren und dogmatischen
+Namen der deutschen Einheit jedes edlere
+deutsche Herz&#8221;.</p>
+
+<p>Das Streben nach der deutschen Einheit als
+die Frucht des &#8222;reinen, mit nichts Geschichtlichem
+verwachsenen&#8221; Geistes hinstellen &mdash; das ging noch
+ber die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb
+scheint auch der mit groer Konsequenz
+und Einheitlichkeit des Gedankens durchgefhrte
+Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total
+verfehlt zu haben. Wie einige Bltter schadenfroh
+berichteten, verlieen die Hrer zum groen
+Verdru Lassalles allmhlich das Zimmer der
+Festrede, &#8222;um sich nach dem Zimmer des leckeren
+Mahles zu verfgen&#8221;. Sie vergaen aber<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span>
+hinzuzusetzen, da die Hrerschaft sich nicht nur
+aus Mitgliedern der philosophischen Gesellschaft,
+sondern in der Mehrheit aus deren Gsten zusammensetzte
+&mdash; meist also Leute, die solche
+Festversammlungen lediglich des guten Tons halber
+besuchen.</p>
+
+<p>Lassalle lie auch diese Rede im Separatdruck
+erscheinen und sandte sie, zusammen mit dem
+&#8222;Julian Schmidt&#8221;, und dem Vortrag &#8222;ber Verfassungswesen&#8221;
+durch Lothar Bucher an Marx.
+Er habe &#8222;etwas politisch-praktische Agitation beginnen&#8221;
+wollen, schreibt er unter dem 9.&nbsp;Juni an
+letzteren. &#8222;So habe ich den Verfassungsvortrag
+in vier Vereinen gehalten. Auerdem einen weit
+lngeren Vortrag ber den Arbeiterstand geschrieben
+und in einem Arbeiterverein gehalten.&#8221;
+Es ist dies das &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;. &#8222;Ich habe
+mich jetzt auch entschlossen,&#8221; setzt er hinzu, &#8222;ihn
+drucken zu lassen; er ist bereits unter der Presse.
+Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.&#8221; Im weiteren
+Verlauf seines Briefes kommt er wieder
+darauf zurck, da durch die intensivere Beschftigung
+mit anderen Dingen in den letzten drei
+Jahren die nationalkonomische Materie in seinem
+Kopf &#8222;gleichsam fossil&#8221; geworden sei. Erst wenn
+&#8222;alles wieder flssig geworden&#8221;, werde er an
+die zweite Lektre des Marxschen Buches &#8222;Zur
+Kritik der politischen konomie&#8221; gehen, und dann
+ziemlich gleichzeitig an dessen Besprechung und
+die Ausfhrung seines eigenen konomischen
+Werkes &mdash; &#8222;welch letztere freilich sehr lange<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span>
+dauern wird&#8221;. Dieses Programm werde ohnehin
+durch eine zweimonatige Reise unterbrochen,
+denn im Sommer halte er es in Berlin nicht aus.
+Im Juli werde er nach der Schweiz reisen oder
+erst nach London kommen und dann in die Schweiz
+gehen.</p>
+
+<p>Er entschied sich fr das letztere. Vorher aber
+schrieb er noch einmal an Marx, und zwar:</p>
+
+<p>&#8222;Lieber Marx! Der berbringer ist der Hauptmann
+Schweigert, der mit Auszeichnung unter
+Garibaldi und speziell unter meinem Freund
+Rstow gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlssigste
+Kerl von der Welt. C'est un homme
+d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine,
+die er von Coburg aus organisiert und geht jetzt
+nach London, um dort Geldmittel fr 3000 Gewehre
+aufzutreiben, die er fr die Wehrvereine
+braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen,
+wie wnschenswert dies wre. Habe also die
+Gte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen,
+von denen er Geld fr diesen Zweck erhalten kann
+oder sonstigen zu diesem Ziel fhrenden Vorschub
+zu tun. Tue Dein Mglichstes.</p>
+
+<p>&#8222;Die Wahrscheinlichkeit, da ich nach London
+komme, nimmt zu.</p>
+
+<p>
+Berlin, 19. 6. 62. &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; Dein F. Lassalle.&#8221;<br />
+</p>
+
+<p>Die von Coburg aus organisierten &#8222;Wehrvereine&#8221;
+standen im Lager des &#8222;Nationalvereins&#8221;, der
+seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rstow wollte
+sie offenbar fr Aktionen verwendbar machen,<span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span>
+die zeitgem werden konnten, wenn Garibaldi
+sich von neuem erhob. Die Betonung des &#8222;homme
+d'action&#8221;, und das groe Interesse an der Beschaffung
+der 3000 Gewehre sind eine weitere
+Besttigung fr das weiter oben von den Revolutionsplnen
+Lassalles Gesagte.</p>
+
+<p>Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst,
+die sich auf Besuche und einen zu unternehmenden
+gemeinsamen Ausflug beziehen, schlieen die
+mir vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab.
+Es wre aber falsch, daraus den Schlu zu ziehen,
+da es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen
+den beiden gekommen wre. Ein solcher hat nie
+stattgefunden. Wohl aber wissen wir von Marx,
+da in den mndlichen Auseinandersetzungen zwischen
+ihm und Lassalle er dem letzteren die
+grundstzliche Verschiedenheit der beiderseitigen
+Standpunkte rckhaltlos dargelegt, sich rundweg
+gegen dessen Plne erklrt habe. Bald nachdem
+Lassalle im Herbst 1862 nach Berlin zurckgekehrt
+war, schlief die Korrespondenz gnzlich
+ein. Um so enger schlo sich Lassalle an Bucher
+an, der ihn spter auch mit Rodbertus in Verbindung
+brachte.</p>
+
+<p>Im Sptsommer 1862 schien es einen Augenblick,
+als wolle die preuische Regierung der
+Volksvertretung gegenber eine nachgiebigere
+Haltung einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt,
+bis pltzlich der Knig in schroffer
+Weise der Kammer erklren lie, da er sich
+auf keine Konzessionen in bezug auf die Verkrzung<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span>
+der Militrdienstpflicht einlasse und auch
+keine Neigung verspre, um Indemnitt fr die
+verfassungswidrige Durchfhrung der Armeeorganisation
+einzukommen. Die Kammer antwortete
+damit, da sie die Forderung der Regierung,
+die Kosten der Heeresorganisation in
+den Etat der ordentlichen Ausgaben aufzunehmen,
+mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den
+Widerstand der Mehrheit zu brechen, berief der
+Knig an Stelle des Herrn v.&nbsp;d.&nbsp;Heydt den gerade
+in Berlin befindlichen Gesandten Preuens am
+franzsischen Hofe, Otto&nbsp;v.&nbsp;Bismarck, ins Ministerium.
+Die vorhergegangene schroffe Betonung
+der kniglichen Vorrechte war bereits im
+Einverstndnis mit Bismarck erfolgt.</p>
+
+<p>Bismarck, der 1847 im &#8222;Vereinigten Landtag&#8221;
+und 1849 in der Preuischen Nationalversammlung
+als feudal-junkerlicher Heisporn aufgetreten
+war, hatte sich inzwischen zum &#8222;modernen Staatsmann&#8221;
+entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien
+ber Bord geworfen, um desto wirksamer
+die Interessen des &#8222;befestigten Grundbesitzes&#8221;
+wahrzunehmen, er hatte den vormrzlichen Absolutismus
+aufgegeben, um dem Knigtum dadurch
+eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, da
+die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch
+nichts als die Verantwortung fr die Bedrfnisse
+und die Politik der Monarchie bernehmen sollte.
+Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus
+bekannten Regierungssystems bernommen,
+das, wenn es von Demokratie spricht, Regierungsgewalt<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span>
+meint, und von Frsorge fr das Wohl
+der Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug
+auf die Taschen der Arbeiter im Schilde
+fhrt. Von der zarischen Diplomatie hatte er
+gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter
+der Hand mit Revolutionren Geschfte machen
+kann, von der bonapartistischen, wie man stets in
+dem Augenblick den Gegner einer verpnten
+Handlung beschuldigen mu, wo man selbst eben
+diese Handlung zu begehen im Begriff ist. Als
+Spezialitt bte er auerdem die Gepflogenheit
+aller geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblffende
+Aufrichtigkeit an den Tag zu legen,
+um bei der nchsten Gelegenheit mit desto mehr
+Erfolg die Sprache gebrauchen zu knnen, um
+die Wahrheit nicht zu sagen.</p>
+
+<p>Mit dieser &#8222;Aufrichtigkeit&#8221; trat Bismarck auch
+vor die Kammer, trotzdem wurde ihm jedoch sein
+deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklrung
+in der Budgetkommission, die deutsche
+Frage werde nur durch &#8222;Blut und Eisen&#8221; gelst
+werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand.
+Das Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschlu
+bestehen, der Regierung nichts zu bewilligen,
+bevor nicht sein verfassungsmiges Recht von
+ihr anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus
+vertagte mit der Erklrung, die Regierung werde
+vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.</p>
+
+<p>Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte.
+Wohl hatte er die Regierungsgewalt, d.&nbsp;h.
+die organisierte Macht, hinter sich, whrend die<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span>
+Kammer vorlufig nichts als die &#8222;ffentliche Meinung&#8221;
+auf ihrer Seite hatte. Indes, er wute ganz
+gut, da er sich auf die preuischen Bajonette
+nicht &#8222;setzen&#8221; konnte. Auf durchgreifende Erfolge
+in der auswrtigen Politik, geeignet, die
+ehemaligen &#8222;Gothaer&#8221;, d.&nbsp;h. die schwachliberalen
+Kleindeutschen, fr die Regierung zurckzugewinnen,
+war vorderhand nicht zu rechnen. Er mute
+also anderwrts Verbndete gegen die Fortschrittspartei
+zu gewinnen suchen.</p>
+
+<p>Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, da
+man in Berlin in Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung
+eines Allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses
+zur Errterung von besonderen Fragen
+des Arbeiterwohls ernsthaft zu betreiben, und
+da in Zusammenknften, die dieser Frage galten,
+ein beschftigungsloser Arbeiter namens Eichler
+mit besonderer Heftigkeit die Fortschrittspartei
+der Lahmheit anklagte und gegen die Schulzeschen
+Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts
+ntzten. Mit der &#8222;Selbsthilfe&#8221;, von der die Liberalen
+soviel Geschrei machten, sei es nichts, nur
+der Staat knne den Arbeitern helfen. Eichler,
+der behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner
+absprechenden uerungen ber die Schulzesche
+Selbsthilfe gemaregelt zu sein, fand die Mittel,
+nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein
+&#8222;Vorwrts&#8221; gleichfalls die Idee der Einberufung
+eines allgemeinen Arbeiterkongresses und
+die Grndung einer selbstndigen Arbeiterorganisation
+lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span>
+Leipziger Zentralkomitee fr die Einberufung des
+Kongresses nach Berlin zu gewinnen, und als man
+ihm etwas genauer auf den Zahn fhlte, rckte er
+schlielich in der Hitze des Gefechtes mit der
+Erklrung heraus, er wisse ganz genau, da die
+preuische Regierung den guten Willen habe, den
+Arbeitern zu helfen, namentlich bei der Grndung
+von Produktivgenossenschaften; er knne mitteilen,
+da Herr von Bismarck bereit sei, 30000 Taler
+zur Grndung einer Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft
+zu liefern &mdash; die Maschinenbauer
+waren damals, und noch lange spter, in
+Berlin die Kerntruppe der Fortschrittspartei!
+Natrlich mten sich die Arbeiter dazu entschlieen,
+der Fortschrittspartei den Rcken zu
+kehren, die eine Partei der Bourgeoisie, der
+Hauptfeindin der Arbeiter, sei.</p>
+
+<p>Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die
+Leute, welche in Leipzig den Arbeiterkongre
+betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so
+geringe Lust hatten sie, ihnen der preuischen
+Regierung zuliebe in den Rcken zu fallen. Eichler
+zog unverrichteter Sache heim und scheint auch
+in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man
+ihm wegen seiner auffllig flotten Lebensweise,
+die zu seiner &#8222;Arbeitslosigkeit&#8221; so gar nicht
+pate, auf den Pelz rckte, machte er mysterise
+Anspielungen auf eine reiche vornehme Dame, die
+Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da er
+ein hbscher Bursche war, hatte das auch nichts
+besonders Unwahrscheinliches. Eichler verschwand<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span>
+dann von der Bildflche und tauchte spter
+als &mdash; preuischer Polizeibeamter auf.</p>
+
+<p>Als 16 Jahre spter, in der Reichstagssitzung
+vom 16. September 1878, August Bebel die
+Eichlersche &#8222;Mission&#8221; dem inzwischen zum
+Frsten avancierten Bismarck vorhielt, suchte
+dieser tags darauf den Eichler von sich abzuschtteln,
+indem er ein Versehen Bebels in der
+Zeitbestimmung fr sich ausnutzte &mdash; Bebel hatte
+September statt Oktober 1862 als die Zeit des
+Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben;
+aber im Vertrauen auf die Wirkung dieses Kunstgriffs
+lie er sich zu dem Gestndnis verleiten,
+Eichler habe spterhin &#8222;Forderungen an mich gestellt
+fr Dienste, die er mir nicht geleistet hatte&#8221;,
+und da ihm &#8222;bei der Gelegenheit erst in Erinnerung
+gekommen, da Herr Eichler im Dienste
+der Polizei gewesen ist und da er Berichte
+geliefert hat&#8221;. (Vgl. die unter dem Titel &#8222;Die
+Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage&#8221;
+verffentlichten amtlichen Stenogramme ber die
+Beratung des Sozialistengesetzes, 1878, S.&nbsp;85.)
+Mit andern Worten, die angebliche vornehme
+Dame, oder, wie sich der Leipziger &#8222;Volksstaat&#8221;
+seinerzeit einmal drastisch ausdrckte, die &#8222;aristokratische
+Vettel&#8221; entpuppte sich als &mdash; das
+Berliner Polizeiprsidium.</p>
+
+<p>Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am
+13. Oktober Bismarck den Landtag vertagt hatte,
+hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag:
+&#8222;Was nun?&#8221; Er beruft sich dort darauf, da<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span>
+die Ereignisse den Ausfhrungen in seinem ersten
+Vortrage recht gegeben haben. Die &#8222;Kreuzzeitung&#8221;,
+der Kriegsminister von Roon und der
+gegenwrtige Ministerprsident von Bismarck
+htten seine Theorie, da Verfassungsfragen
+Machtfragen sind, besttigt. Gesttzt auf ihre
+Macht habe die Regierung fortgefahren, sich ber
+die Beschlsse der Kammer hinwegzusetzen. Es
+handle sich nun weniger um die Frage, wie
+der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer
+Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen
+das Volk zum Teil gar kein Interesse habe, sondern
+einfach um die Frage, wie das Budgetrecht
+der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische
+Regime zur Wahrheit zu machen sei,
+da &#8222;in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden
+wahrhaft konstitutionellen Regierung&#8221; bestehe.
+Soll man zu dem Mittel der Steuerverweigerung
+greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei
+als solche ein wirksames Mittel nur in den Hnden
+eines Volkes, das, wie das englische, die vielen
+Machtmittel der organisierten Macht auf seiner
+Seite habe. Sie htte nur dann einen Sinn, wenn
+sie dazu dienen sollte, einen allgemeinen Aufstand
+zu entflammen. Aber an einen solchen
+&#8222;werde unter den jetzigen Umstnden hoffentlich
+wohl niemand denken&#8221;. Das einzige Mittel
+sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer msse,
+sobald sie wieder zusammentrete, &#8222;aussprechen
+das, was ist&#8221;. Das sei &#8222;das gewaltigste politische
+Mittel&#8221;. Die Kammer msse es der Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span>
+unmglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus
+weiter zu regieren. Sobald sie wieder zusammentrete,
+msse sie unverzglich einen Beschlu
+fassen, da sie, solange die Regierung
+ihren Verfassungsbruch fortsetze, es ablehne,
+durch Forttagen und Fortbeschlieen der Regierung
+behilflich zu sein, den Schein eines verfassungsmigen
+Zustandes aufrechtzuhalten, und
+da sie daher ihre Sitzungen &#8222;auf unbestimmte
+Zeit, und zwar auf so lange aussetze, bis die
+Regierung den Nachweis antritt, da die verweigerten
+Ausgaben nicht lnger fortgesetzt werden&#8221;.
+Sobald die Kammer diesen Beschlu gefat
+habe, sei die Regierung besiegt. Auflsung
+nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten
+wrden mit derselben Parole wiedergewhlt
+werden. Ohne Kammer knne sie aber auch nicht
+regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung
+nach auen wrden so gewaltig darunter
+leiden, da sie ber kurz oder lang gezwungen
+sein werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel,
+den Konflikt beizulegen, gbe es aber nicht.
+Durch Forttagen und Verweigern anderer oder
+auch aller Ausgaben der Regierung wrden nur
+Volk und Regierung an die se Gewohnheit der
+Nichtbeachtung von Kammerbeschlssen gewhnt.
+Noch schlimmer wrde es sein, wollte die Kammer
+sich auf einen Kompromi einlassen, etwa fr
+den Preis der Bewilligung der zweijhrigen Dienstzeit.
+Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen
+Grundfrage, um die es sich jetzt handle.<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span>
+Je hartnckiger sich die Regierung stelle, um so
+grer werde alsdann ihre Demtigung sein, wenn
+sie sich gezwungen sehen werde, nachzugeben.
+&#8222;Um so mehr erkennt sie dann die gesellschaftliche
+Macht des Brgertums als die ihr berlegene
+Macht an, wenn sie erst spter umkehrend sich
+vor Volk und Kammer beugen mu.&#8221; Dann
+aber &#8222;keinen Vershnungsdusel, meine Herren&#8221;.
+Keinen neuen Kompromi mit dem alten Absolutismus,
+sondern &#8222;den Daumen aufs Auge und
+das Knie auf die Brust&#8221;.</p>
+
+<p>Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen
+eine vershnliche Haltung gegenber der Fortschrittspartei
+ein. Er will &#8222;der Einigkeit zuliebe&#8221;
+alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf
+dem Herzen habe, unterdrcken. Nur die &#8222;Volkszeitung&#8221;
+und ihre Hintermnner, deren Politik
+das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an.
+Diese &#8222;Geistesrmsten&#8221; trgen durch ihre Versuche,
+die Regierung in eine konstitutionelle &#8222;umzulgen&#8221;,
+einen sehr groen Teil der Verantwortung
+fr den jetzigen Stand der Dinge. Aber
+&#8222;Friede, meine Herren, der Vergangenheit&#8221;!</p>
+
+<p>Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so
+friedlich gesinnt war und wirklich sich dem
+Glauben hingab, die Fortschrittler wrden auf
+seinen Vorschlag eingehen, oder ob diese Vershnlichkeit
+nur oratorische Floskel war, um ihm
+spter eine desto schrfere Position gegen die
+Fortschrittler zu verleihen, lt sich schwer feststellen.
+Es mag beides zutreffen. Da er einem<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span>
+zeitweiligen Zusammengehen mit den Fortschrittlern
+grundstzlich nicht abgeneigt war, haben wir
+vorher gesehen, viele persnliche Beziehungen
+lieen ihm das sogar als wnschenswert erscheinen,
+und vom prinzipiellen Standpunkt lie
+sich bei der damaligen Sachlage auch nichts dagegen
+einwenden. Auf der anderen Seite war es
+aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler
+sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen
+Einflu auf ihre Taktik einrumen wrden,
+auf den er Anspruch zu haben glaubte.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Lassalle" id="Lassalle">Lassalle
+und das Leipziger Arbeiterkomitee. &mdash;
+Das Offene Antwortschreiben,
+politischer Teil.</a></h2>
+
+
+<p>Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung,
+d.&nbsp;h. die von Lassalle vorgeschlagene Kampfesmethode,
+nicht ein. Man kann ihnen auch von
+ihrem Standpunkt aus nicht unrecht geben.
+Lassalles Vorschlag war sehr gut, wenn man es
+so schnell als mglich zum uersten treiben
+wollte, wenn man entschlossen, sowie in der Lage
+war, auf einen Staatsstreich &mdash; denn weiter blieb
+der Regierung bei dieser Taktik nichts brig &mdash; mit
+einer Revolution zu antworten. Soweit waren
+aber die Fortschrittler noch nicht, und darum
+zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne
+Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige
+Verzicht auf die Tribne in der Kammer<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span>
+auf den famosen &#8222;passiven Widerstand&#8221; hinaus,
+ber den Lassalle sich mit Recht selbst lustig
+machte. Durch beharrliche Verweigerung des
+Budgets konnte man ebenso laut und drastisch
+&#8222;aussprechen, was ist&#8221;, die ffentliche Meinung
+ebenso wirksam oder noch mehr in Erregung
+halten, als durch das Mittel der Vertagung ins
+Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen
+Schein von Recht fr die Auerkraftsetzung der
+Verfassung lieferte. Das war ja aber die Hauptidee
+der Taktik der Fortschrittler, die Regierung
+vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenber
+dem Recht hinzustellen. &#8222;Ihre Hauptwortfhrer,&#8221;
+sagt B.&nbsp;Becker sehr gut, &#8222;waren meist Leute
+aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich
+an juristisch-advokatorische <em class="gesperrt">Dehnbarkeit</em><a name="FNAnker_20_20" id="FNAnker_20_20"></a><a href="#Fussnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a>
+gewhnt und den Streit der Kammermajoritt mit
+der Regierung wie einen langen Rechtsstreit zu
+betrachten geneigt.&#8221;</p>
+
+<p>Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle
+den Vorwurf, da er, gleich der Regierung, Macht
+vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach
+der ersten Verfassungs-Broschre, wie es bei
+Becker heit, schrieb Lassalle den Aufsatz &#8222;Macht
+und Recht&#8221;, in welchem er der Fortschrittspartei
+rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es
+war ihm ein leichtes, die ganze Lcherlichkeit
+jenes Vorwurfs mit ein paar Worten schlagend
+nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe
+den Beweis zu liefern, da ihr Abgott Schwerin,<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span>
+dessen Erklrung, da in Preuen &#8222;Recht vor
+Macht gehe&#8221;, sie so laut bejubelten, an einem
+ganzen Dutzend Rechtsbrchen, wo Macht vor
+Recht ging, teilgenommen hatte. &#8222;Es hat kein
+Mensch im preuischen Staat das Recht, vom
+&#8218;Recht&#8217; zu sprechen&#8221; &mdash; ruft er aus &mdash; &#8222;als die
+Demokratie, die alte und wahre Demokratie.
+Denn sie allein ist es, die stets am Recht festgehalten
+und sich zu keinem Kompromi mit der
+Macht erniedrigt hat.&#8221; Und: &#8222;Bei der Demokratie
+allein ist alles Recht &mdash; und bei ihr allein
+wird die Macht sein!&#8221;</p>
+
+<p>Dieser Kriegserklrung, in Form einer Berichtigung
+an die radikale Berliner &#8222;Reform&#8221; eingesandt,
+verschlo letztere &mdash; fr die Lassalle noch
+im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt
+hatte &mdash; ihre Spalten, desgleichen die &#8222;Vossische
+Zeitung&#8221;. Die letztere lehnte auch die Aufnahme
+des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf
+Lassalle ihn als &#8222;Offenes Sendschreiben&#8221; in
+Zrich erscheinen lie. Da die Wahl dieses
+Verlagsortes die &#8222;pregesetzlichen Bedenken&#8221;
+der &#8222;Vossischen Zeitung&#8221; eigentlich rechtfertigte,
+kmmerte ihn nicht weiter.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Zwischen der Verffentlichung des Vortrages
+&#8222;Was nun?&#8221; (Dezember 1862) und der Abfassung
+des &#8222;Sendschreibens&#8221; (Februar 1863)
+liegen wiederum zwei Monate. Noch vor dieser
+Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei Mitglieder<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span>
+des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter
+F.&nbsp;W.&nbsp;Fritzsche und der Schuhmacher
+Julius Vahlteich, nach Berlin gefahren und hatten
+dort, nach Konferenzen mit fhrenden Mitgliedern
+des Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch
+und noch etlichen Fortschrittsfhrern
+am 2.&nbsp;November einer groen Arbeiterversammlung
+beigewohnt, in der mit berwiegender Mehrheit
+beschlossen wurde, das Mandat fr die Einberufung
+des Kongresses dem Leipziger Komitee
+zu bertragen. Der Besuch berzeugte sie, die
+selbst schon Sozialisten waren, da die Arbeiter
+Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen,
+dieser aber und die brigen Fhrer der Fortschrittspartei
+von einer selbstndigen Arbeiterbewegung
+sehr wenig wissen wollten. Sptere
+Anfragen bestrkten diesen Eindruck noch. In
+bezug auf die Frage des Beitritts zum Nationalverein
+erhielt man die bereits erwhnte klassische
+Antwort, die Arbeiter sollten sich als &#8222;Ehrenmitglieder&#8221;
+des Nationalvereins betrachten. In
+bezug auf die Frage des Wahlrechts waren die
+Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten,
+hielten sie auch auerdem fr keine brennende.
+Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so vortreffliche
+Kammer zusammengebracht, man knne
+es also schon noch eine Weile mitansehen. Da
+die vortreffliche, d.&nbsp;h. die oppositionelle Kammer,
+lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhltnisse
+war, kam den guten Leuten nicht zum Bewutsein.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p>
+
+<p>Von dem jugendlichen Berliner Demokraten,
+dem spteren Fortschrittsabgeordneten Ludwig
+Lwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand
+Lassalle und dessen Vortrag &#8222;Das Arbeiterprogramm&#8221;
+aufmerksam gemacht und setzten sich
+nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich
+leicht denken, wie sehr dies dessen Entschlu
+bestrken mute, nunmehr das &#8222;Friede der Vergangenheit,
+meine Herren&#8221; zurckzunehmen. Als
+er das Sendschreiben &#8222;Macht und Recht&#8221; erlie,
+war bereits zwischen ihm und dem Leipziger
+Komitee verabredet, da dieses ihn in einem
+offiziellen Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten
+ber die Aufgaben der Arbeiterbewegung
+und die Frage der Assoziationen in einer ihm
+passend erscheinenden Form darzulegen, und da
+diese Form eben die einer Flugschrift sein sollte.
+Die uerst interessanten damaligen Briefe
+Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von
+Prof.&nbsp;H.&nbsp;Oncken in Grnbergs &#8222;Archiv fr die
+Geschichte des Sozialismus&#8221; verffentlicht worden
+(Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, da
+Lassalle, so froh er ber die Verbindung mit dem
+Leipziger Komitee war, sich diesem doch in keiner
+Weise aufdrngte. Die Leipziger, d.&nbsp;h. die treibenden
+Elemente im Arbeiterverein, wuten sehr
+gut, worauf sie hinauswollten; worber man noch
+unentschlossen war, das war weniger das Wesen
+der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm.
+Es war durchaus nicht &#8222;das Bewutsein
+seiner eigenen Unklarheit&#8221;, wie Bernh.<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span>
+Becker in seiner &#8222;Die Wahrheit ber alles&#8221;
+stellenden Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation
+schreibt, die das Komitee veranlate,
+in einem vom 10. Februar datierten &#8222;Aufruf an
+die deutschen Arbeiter&#8221; gleichzeitig fr Beschleunigung,
+aber gegen bereilung des zu berufenden
+Arbeiterkongresses sich auszusprechen.
+Der Kongre sollte mglichst bald stattfinden,
+aber nicht so bald, da nicht inzwischen die
+Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan haben
+konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwhnten
+Aufruf erlie, beschlo das Komitee,
+folgenden Brief an Lassalle zu schicken, der auch
+tags darauf abging:</p>
+
+<p>
+&nbsp; &#8222;Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.<br />
+<br />
+&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; Sehr geehrter Herr!<br />
+</p>
+
+<p>Ihre Broschre: &#8218;ber den besonderen Zusammenhang
+der gegenwrtigen Geschichtsperiode
+mit der Idee des Arbeiterstandes&#8217; ist hier berall
+von den Arbeitern mit groem Beifall aufgenommen
+worden und das Zentralkomitee hat sich in
+Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung ausgesprochen.
+Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr
+ernstliche Bedenken ausgesprochen worden, ob
+die von Schulze-Delitzsch empfohlenen Assoziationen
+der groen Mehrzahl der Arbeiter, die
+gar nichts besitzt, gengend helfen knnen, ob
+namentlich durch dieselben die Stellung der Arbeiter
+im Staat in der Art verndert werden kann,<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span>
+wie es notwendig erscheinen mu. Das Zentralkomitee
+hat in der Arbeiterzeitung (Nr.&nbsp;6) hierber
+seine Ansichten ausgesprochen; es ist der
+berzeugung, da das Assoziationswesen unter
+unsern jetzigen Verhltnissen nicht genug leisten
+knne. &mdash; Da nun aber aller Orten die Ideen
+von Schulze-Delitzsch als magebend fr den
+Arbeiterstand, unter dem wir die gedrckteste
+Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden,
+und da doch wohl noch andere Mittel und Wege,
+als die von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen,
+denkbar wren, um die Ziele der Arbeiterbewegung:
+Verbesserung der Lage der Arbeiter
+in politischer, materieller und geistiger Beziehung
+zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner
+Sitzung vom 10.&nbsp;Februar&nbsp;cr. einstimmig beschlossen:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend
+erscheinenden Form Ihre Ansichten ber die
+Arbeiterbewegung und ber die Mittel, deren
+dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders
+auch ber den Wert der Assoziationen fr die
+ganz unbemittelte Volksklasse, auszusprechen.</p>
+
+<p>Wir legen den grten Wert auf Ihre Ansichten,
+welche Sie in der angefhrten Broschre
+ausgesprochen haben, und werden deshalb auch
+Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu wrdigen
+wissen. Wir ersuchen Sie schlielich nur
+noch um mglichst baldige Erfllung unserer
+Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span>
+der Arbeiterbewegung zu beschleunigen. &mdash;
+Mit Gru und Handschlag!</p>
+
+<p>Leipzig, 11. Februar 63.</p></blockquote>
+
+<p class="center">
+Fr das Zentralkomitee zur Berufung eines<br />
+Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses<br />
+<br />
+&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; Otto Dammer.&#8221;<br />
+</p>
+
+<p>Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom
+1. Mrz 1863 datierte &#8222;Offene Antwortschreiben
+an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen
+deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig
+von Ferdinand Lassalle&#8221;.</p>
+
+<p>Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee
+und im Leipziger Arbeiterverein selbst beginnt
+die eigentlich sozialistische Agitation Lassalles
+und die Geschichte des &#8222;Allgemeinen deutschen
+Arbeitervereins&#8221;.</p>
+
+<hr class="tb" />
+
+<p>Das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221; Lassalles tritt
+zunchst der Ansicht entgegen, da die Arbeiter
+sich nicht um die Politik zu bekmmern htten.
+Im Gegenteil, sie htten sich durchaus an der
+Politik zu beteiligen, blo drften sie dies nicht
+in der Weise tun, da sie sich als den &#8222;selbstlosen
+Chor und Resonanzboden&#8221; der Fortschrittspartei
+betrachteten. Der Nachweis dafr, da
+die Fortschrittspartei den Anspruch darauf verwirkt
+habe, sttzt sich im wesentlichen auf das
+von dieser im Verfassungskonflikt beobachtete<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span>
+Verhalten und ist insofern nicht berall von gleichmiger
+Beweiskraft. Wenn Lassalle z.&nbsp;B. auf
+Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf,
+da sie &#8222;nur .... das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht
+zum Inhalt ihres Kampfes habe&#8221;,
+so verga er, da er selbst es noch im Vortrage
+&#8222;Was nun?&#8221; als das eigentliche und mit aller
+Energie zu vertretende Objekt des Kampfes bezeichnet
+hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei
+auf ihn selbst berufen, wenn er es
+ihr als eine politische Snde anrechnete, da sie</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;sich durch ihr Dogma von der preuischen
+Spitze zwingt, in der preuischen Regierung
+den berufenen Messias fr die deutsche Wiedergeburt
+zu sehen, whrend es, mit Einschlu
+Hessens, nicht eine einzige deutsche Regierung
+gibt, welche hinter der preuischen in politischer
+Beziehung zurckstnde, whrend es,
+und zwar mit Einschlu sterreichs (!!), fast
+keine einzige deutsche Regierung gibt, welche der
+preuischen nicht noch bedeutend voraus wre.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natrlich
+recht. Die Organisation der Arbeiter als
+selbstndige politische Partei mit eigenem Programm
+war eine geschichtliche Notwendigkeit, und
+wenn die Entwicklung der politischen Zustnde
+Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen
+konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten
+war, die Arbeiter vom Heerbann der gegen den
+Absolutismus kmpfenden Fortschrittspartei abzutrennen,<span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span>
+so lag von seiten der letzteren genug
+vor, was zu dieser Abtrennung geradezu herausforderte.
+Zudem hie die selbstndige Organisierung
+der Arbeiter an sich noch nicht Beeintrchtigung
+der Aggressivkraft der Fortschrittspartei.
+Da sie diese in der Tat zur Folge hatte,
+ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei
+selbst &mdash; ihrer wahrhaft bornierten
+Haltung gegenber der neuen Bewegung. Zum
+Teil allerdings auch Schuld des Programms,
+welches Lassalle dieser Bewegung gab.</p>
+
+<p>Wir haben bei Besprechung des &#8222;Arbeiterprogramms&#8221;
+gesehen, welch abstrakte, rein ideologische
+Vorstellung Lassalle mit dem Begriff
+&#8222;Staat&#8221; verband. Es ist keine bertreibung zu
+sagen, da er einen wahren Kultus mit dem Staatsbegriff
+trieb. &#8222;Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation,
+den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen
+jene modernen Barbaren&#8221; &mdash; nmlich die Manchesterpartei
+&mdash; ruft er in der Rede &#8222;Die
+indirekte Steuer&#8221; den Richtern des Berliner
+Kammergerichts zu, und hnliche Stellen finden
+sich in fast allen seinen Reden vor. Dieser Staatskultus
+ist die Achillesferse der Lassalleschen
+Doktrin, die Ursache von allerhand verhngnisvollen
+Fehlgriffen. Die althegelisch-ideologische
+Vorstellung vom &#8222;Staat&#8221; veranlate Lassalle, in
+einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische
+Verehrung des Staats einzuprgen, wo es sich fr
+sie zunchst noch darum handelte, die Bevormundungen
+des Polizeistaats erst loszuwerden. Es<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span>
+hrt sich sehr hbsch an, wenn er im &#8222;Offenen
+Antwortschreiben&#8221; den Arbeitern zuruft: &#8222;Wie,
+Sie wollten ber Freizgigkeit debattieren? Ich
+wei Ihnen hierauf nur mit dem Distichon Schillers
+zu antworten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,<br /></span>
+<span class="i0">Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?&#8221; &mdash;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Freizgigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge,
+die man in einem gesetzgebenden Krper &#8222;stumm
+und lautlos dekretiert, aber nicht mehr debattiert&#8221;.
+Tatschlich jedoch waren diese Dinge und mit
+ihnen die Koalitionsfreiheit eben noch nicht da,
+whrend die Arbeiter sie unbedingt brauchten.
+Der wirkliche Grund, warum Freizgigkeit und
+Gewerbefreiheit einen verhltnismig untergeordneten
+Rang auf einem Arbeiterkongre einzunehmen
+hatten, war der, da sie zugleich in
+hohem Grade Forderungen des brgerlichen Liberalismus
+waren; aber berflssig war ihre Diskutierung
+schon deshalb nicht, weil selbst in Arbeiterkreisen
+noch sehr viel Unklarheit ber ihre
+Bedeutung herrschte.</p>
+
+<p>Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm
+wichtiger als sie die Forderung der Staatshilfe
+schien. Einmal der Sache selbst wegen, zweitens
+aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe
+das einzig wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse
+fr die politische Aktion aufzurtteln, sie
+zugleich von der Vormundschaft der brgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span>
+Parteien zu emanzipieren und doch fr die Erkmpfung
+der demokratischen Forderungen zu erwrmen.
+Und kein Zweifel, da ihm zu jener
+Zeit diese zweite Seite die wichtigere war. Sie
+war es auch nach Lage der Dinge selbst. Es
+handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel,
+durch die er diesen Zweck zu erreichen suchte,
+richtig waren.</p>
+
+<p>Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der
+Selbsthilfe zu berzeugen, wie sie von brgerlicher
+Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle
+auf das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion,
+wie es von den Klassikern der politischen
+konomie, insbesondere und am schrfsten von
+Ricardo formuliert worden war, das &#8222;eherne und
+grausame Gesetz, wonach unter der Herrschaft
+von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche
+Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt
+reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmig
+zur Fristung der Existenz und
+zur Fortpflanzung erforderlich ist&#8221;. Steige er
+zeitweilig ber diesen Satz, so bewirkten leichtere
+Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung
+der Arbeiterbevlkerung und damit des
+Arbeiterangebots, infolgedessen der Lohn wieder
+auf den frheren Lohnsatz zurckfalle. Falle er
+aber unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung,
+grere Sterblichkeit unter den Arbeitern,
+Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine Verminderung
+des Arbeiterangebots, infolgedessen
+die Lhne wieder stiegen. So tanzten &#8222;Arbeiter<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span>
+und Arbeitslohn immer um den uersten Rand
+dessen herum, was nach dem Bedrfnis jeder
+Zeit zu dem notwendigsten Lebensunterhalt gehrt&#8221;,
+und dies &#8222;ndert sich nie&#8221;.</p>
+
+<p>Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse,
+durch die individuellen Anstrengungen ihrer Mitglieder
+ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise
+zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es
+verfehlt, die Lage der Arbeiter durch Konsumvereine
+verbessern zu wollen. So lange diese vereinzelt
+blieben, knnten sie hier und da den Arbeitern
+Vorteile verschaffen. Von dem Zeitpunkt
+aber an, wo sie allgemein wrden, wrden die
+Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder
+verlieren, was sie als Konsumenten, beim Einkauf
+ihrer Bedarfsartikel, gewnnen. Die Lage
+der Arbeiterklasse knne vielmehr dauernd nur
+von dem Druck jenes konomischen Gesetzes befreit
+werden, wenn an die Stelle des Arbeitslohns
+der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse
+ihr eigener Unternehmer werde. Das sei
+aber nicht durch die Grndung selbsthilflerischer
+Assoziationen zu erreichen, da diesen die erforderlichen
+Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft
+dem Schicksal verfielen, da in ihnen der Unternehmergeist
+seinen Einzug halte und die Mitglieder
+in die &#8222;widrige Karikatur der Arbeiter
+mit Arbeitermitteln und Unternehmergesinnungen&#8221;
+verwandelte. Die groen Fragen lieen sich nur
+mit groen Mitteln lsen, und darum mten die
+Assoziationen in groartigem Mastabe und mit<span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span>
+Ausdehnung auf die fabrikmige Groindustrie
+ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber &mdash; das
+ntige Kapital, bzw. der ntige Kredit &mdash; vom
+Staat dargeboten werden. Das sei durchaus kein
+Kommunismus oder Sozialismus. &#8222;Nichts ist weiter
+entfernt von dem sogenannten Kommunismus oder
+Sozialismus als diese Forderung, bei welcher
+die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle
+Freiheit, individuelle Lebensweise und
+individuelle Arbeitsvergtung beibehalten und zu
+dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen,
+als da ihnen durch ihn das erforderliche Kapital,
+resp. der erforderliche Kredit zu ihrer Assoziation
+vermittelt wird.&#8221; Der Beruf des Staates sei es
+aber gerade, die groen Kulturfortschritte der
+Menschheit zu erleichtern und zu vermitteln.
+&#8222;Dazu existiert er, hat immer dazu gedient und
+dienen mssen.&#8221; Was aber &#8222;ist denn der Staat&#8221;?
+Und Lassalle fhrt die Zahlen der preuischen
+Einkommensstatistik von 1851 an, wonach in
+jenem Jahre 89 Prozent der Bevlkerung ein Einkommen
+unter 200 Talern gehabt hatten, dazu
+7&frac14; Prozent der Bevlkerung ein solches von
+200 bis 400 Talern, so da also 96&frac14; Prozent
+der Bevlkerung in elender, gedrckter Lage sich
+befnden. &#8222;Ihnen also, meine Herren, den notleidenden
+Klassen, gehrt der Staat, nicht uns,
+den hheren Stnden, denn aus Ihnen besteht er!
+Was ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen
+jetzt aus wenigen Zahlen, handgreiflicher als aus
+dicken Bchern, die Antwort: Ihre, der rmeren<span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span>
+Klassen, groe Assoziation &mdash; das ist der Staat.&#8221;
+Und wie den Staat zu der geforderten Intervention
+vermgen? Dies werde nur durch das allgemeine
+und direkte Wahlrecht mglich sein. Nur wenn
+die gesetzgebenden Krper Deutschlands aus
+dem allgemeinen und direkten Wahlrecht hervorgehen
+&mdash; &#8222;dann und nur dann werden Sie den
+Staat bestimmen knnen, sich dieser seiner Pflicht
+zu unterziehen&#8221;. Das allgemeine und direkte
+Wahlrecht ... &#8222;ist nicht nur Ihr politisches, es
+ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung
+aller sozialen Hilfe&#8221;. Darum mgen
+sich die Arbeiter zu einem allgemeinen deutschen
+Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe
+die Einfhrung des allgemeinen und direkten
+Wahlrechts in allen deutschen Lndern. Werde
+diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der
+Bevlkerung als Magenfrage aufgefat und daher
+auch mit der Magenwrme durch den ganzen
+nationalen Krper hin verbreitet, so werde es keine
+Macht geben, die sich dem lange widersetzen
+wrde. &#8222;Alle Kunst praktischer Erfolge besteht
+darin, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt &mdash;
+auf den wichtigsten Punkt &mdash; zu konzentrieren
+und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken
+Sie nicht nach rechts noch links, seien Sie taub
+fr alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht
+heit oder damit in Zusammenhang steht
+und dazu fhren kann.&#8221;</p>
+
+<p>Dies in mglichst knapper Form der Gedankeninhalt
+des &#8222;Offenen Antwortschreibens&#8221; und zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span>
+der Lassalleschen Agitation berhaupt.
+Denn wenn natrlich hiermit nicht das letzte Wort
+der Bestrebungen Lassalles gesagt war, so hielt
+doch Lassalle bis zuletzt daran fest, die Bewegung
+auf diesen einen Punkt: &#8222;Allgemeines
+Wahlrecht behufs Erlangung von Staatshilfe fr
+Produktionsgenossenschaften&#8221; zu beschrnken,
+eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes,
+da die Kunst praktischer Erfolge darin besteht,
+alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt zu
+konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im
+Auge zu behalten, wenn man an die agitatorische
+Ttigkeit Lassalles den richtigen Mastab anlegen
+will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn,
+auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet
+gewesen. Ausdrcklich verweist Lassalle
+im &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221; auf die Agitation
+und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England,
+und ebenso scheint ihm die Agitation der
+englischen Chartisten vorgeschwebt zu haben, wie
+der Satz von der &#8222;Magenfrage&#8221; beweist, der an
+die Erklrung des Chartistenpredigers Stephens
+erinnert: &#8222;Der Chartismus, meine Freunde, ist
+keine politische Frage, sondern eine Messer- und
+Gabelfrage.&#8221;</p>
+
+<p>Wenn wir uns nun zunchst die Frage vorlegen,
+ob denn ein unmittelbarer praktischer Erfolg der
+so abgesteckten Agitation berhaupt nach Lage
+der damaligen Verhltnisse mglich war, so glaube
+ich die Frage unbedingt bejahen zu mssen. Da
+spter Bismarck, wenn auch freilich nur zum<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span>
+Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine
+Wahlrecht einfhrte, ist fr mich dabei nicht
+magebend. Allerhand Umstnde htten das verhindern
+knnen, ohne da dadurch die Tatsache
+umgestoen worden wre, da Lassalles Berechnung
+ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt,
+obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preuischen
+Landtag beibehalten wurde, bleibt der
+Lassallesche Kalkl doch richtig; er entsprach
+durchaus der damaligen politischen Situation.
+Lassalle wute ganz genau, da, wenn im Lager
+der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht
+viele Gegner und im ganzen nur laue Freunde
+hatte, dafr in den Kreisen der Regierung das
+Dreiklassenwahlsystem allmhlich mit immer
+scheeleren Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen
+Bltter sprachen sich bereits ganz unverhohlen
+in diesem Sinne aus, und auerdem fehlte
+es, wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht
+an Verbindungen, durch die er genau ber die
+Strmungen in den Hof- und Regierungskreisen
+unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem
+Verfassungskonflikt nicht nachgeben wollte, so
+blieb ihr, kam nicht ein auswrtiger Krieg &mdash; der
+ihr aber auch verhngnisvoll werden konnte &mdash; schlielich
+kaum etwas anderes brig, als Napoleon
+III. nachzuahmen: den Landtag aufzulsen
+und ein anderes, &#8222;demokratischeres&#8221; Wahlrecht
+zu oktroyieren. Zu diesem Schritt mute sie sich
+um so mehr veranlat fhlen, je mehr eine starke,
+von der Fortschrittspartei unabhngige Bewegung<span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span>
+bestand, die die Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems
+auf ihre Fahne geschrieben hatte.
+Gerade im Hinblick auf einen mglichen Krieg
+mute ihr dies als der beste Ausweg erscheinen,
+gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig
+gegen sich im Rcken zu haben<a name="FNAnker_21_21" id="FNAnker_21_21"></a><a href="#Fussnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a>.</p>
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p>
+<p>Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen
+Erfolgs hatte also Lassalle unzweifelhaft<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span>
+recht. Es war mglich, das allgemeine Wahlrecht
+auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen.
+Allerdings um einen Preis: wenn die Regierung
+es gab, um der Fortschrittspartei nicht nachgeben
+zu mssen, so wurde damit die Lsung des Verfassungskonflikts
+mindestens noch weiter hinausgeschoben.
+&#8222;Seien Sie taub fr alles, was nicht
+allgemeines und direktes Stimmrecht heit oder
+damit im Zusammenhang steht und dazu fhren
+kann&#8221;, heit es im &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221;.
+Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt,
+wrde dieses, das mu man bei Lassalle, wenn
+er es auch nicht ausdrcklich ausspricht, logischerweise
+als Voraussetzung annehmen, auch diese
+Frage lsen. War aber diese Erwartung Lassalles
+vom allgemeinen Wahlrecht, wie berhaupt die
+Erwartungen, die er an es knpfte, in der Sache
+selbst gerechtfertigt?</p>
+
+<p>Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und
+direkte Wahlrecht lagen zur Zeit Lassalles nur
+aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus
+nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte
+zwar whrend der Februarrepublik eine Reihe
+von Sozialisten in die Volksvertretung gebracht,
+aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrckt
+worden durch die der Vertreter der verschiedenen
+Bourgeoisparteien, und das allgemeine Wahlrecht
+hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig verhindert,
+da im Gegenteil Bonaparte ihn hatte
+unternehmen knnen als &#8222;Wiederhersteller des
+allgemeinen Wahlrechts&#8221;. Und dabei war die<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span>
+Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom
+Pariser Proletariat proklamiert worden als soziale
+Republik, ihr war vorhergegangen eine Epoche
+sozialistischer Propaganda von groartigster Ausdehnung,
+so da nach dieser Seite hin die Voraussetzungen
+dafr gegeben waren, da sie im Laufe
+der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik
+htte werden knnen. Warum wurde sie es nicht?
+Warum konnte sie vielmehr durch das Kaiserreich
+gestrzt werden?</p>
+
+<p>Wenn Lassalle am Schlu des &#8222;Arbeiterprogramms&#8221;
+sagt, was am 2.&nbsp;Dezember&nbsp;1851 gestrzt
+worden, das sei &#8222;nicht die Republik&#8221; gewesen,
+sondern die Bourgeoisrepublik, welche
+durch das Wahlgesetz vom Mai 1850 das allgemeine
+Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten
+Zensus zur Ausschlieung der Arbeiter
+eingefhrt hatte; die Republik des allgemeinen
+Wahlrechts aber wrde &#8222;an der Brust der franzsischen
+Arbeiter einen unbersteiglichen Wall
+gefunden haben&#8221;, so wiederholt er damit ein Schlagwort
+der kleinbrgerlichen Revolutionre la
+Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet,
+sondern nur verschiebt. Wo war dieser &#8222;unbersteigliche
+Wall&#8221;, als die auf Grund des allgemeinen
+Wahlrechts gewhlte Kammer dieses aufhob?
+Warum hatten die Pariser Arbeiter diesen &#8222;Staatsstreich
+der Bourgeoisie&#8221; nicht verhindert?</p>
+
+<p>Htte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so
+wrde er auf die Tatsache gestoen sein, da
+die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span>
+halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als
+solche htte sttzen mssen, noch nicht entwickelt
+genug war &mdash; d.&nbsp;h. nicht entwickelt genug im
+sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne
+industrielle Proletariat war da, es war stark genug
+gewesen, fr einen Augenblick die bestehende
+Ordnung der Dinge ber den Haufen zu werfen,
+aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir
+begegnen hier wieder dem Grundfehler der
+Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo
+Lassalle auf die tieferen Ursachen der geschichtlichen
+Vorgnge einzugehen sucht, hlt ihn seine
+mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen
+Seite wirklich auf den Grund zu gehen, und auch
+das konomische packt er gerade da an, wo es
+sich bereits, wenn ich mich so ausdrcken darf,
+juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklren,
+da er, um den Arbeitern zu zeigen, aus
+welchen Elementen sich die Bevlkerung des
+Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der
+Einkommensverteilung, und zwar ausschlielich an
+sie hlt. Der Streit, der sich damals an diese
+Stelle des &#8222;Offenen Antwortschreibens&#8221; knpfte,
+ist ein verhltnismig untergeordneter. Ob
+Lassalle sich um einige Prozentstze nach der
+einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf
+kommt im Grunde wenig an, die Tatsache, da
+die groe Masse der Bevlkerung in drftigen
+Verhltnissen lebt, whrend nur eine kleine
+Minderheit im berflu schwelgt, konnten die
+Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span>
+damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer
+ganzen Rabulistik nicht aus der Welt leugnen.
+Viel wichtiger ist es, da Lassalle gar nicht bercksichtigt,
+aus wie verschiedenartigen Elementen
+sich die 96 oder 89 Prozent der Bevlkerung zusammensetzten,
+als deren &#8222;groe Assoziation&#8221; er
+den Staat bezeichnete. Welch groen Bruchteil
+davon Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie
+vor allem die Landarbeiter bildeten, die noch
+groenteils vllig unter der geistigen Vormundschaft
+ihrer Arbeitsherren standen, lt er ganz
+unerrtert. ber die Hlfte der Bevlkerung
+Preuens entfiel damals auf den Ackerbau, die
+greren Stdte spielten bei weitem nicht die
+Rolle, die sie heute spielen, vom Standpunkt der
+industriellen Entwicklung betrachtet, war der
+ganze Osten der Monarchie nur eine Wste mit
+vereinzelten Oasen<a name="FNAnker_22_22" id="FNAnker_22_22"></a><a href="#Fussnote_22_22" class="fnanchor">[22]</a>.</p>
+
+<p>Was konnte unter solchen Umstnden das allgemeine
+Wahlrecht an der Zusammensetzung der
+Kammer ndern? War von ihm ein besseres
+Resultat zu erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht
+im Frankreich der Jahre 1848 und 1849?
+Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl
+von Arbeitervertretern in die Volksvertretung
+bringen, und das war an sich gewi sehr zu
+wnschen. Aber im brigen mute es, gerade je<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span>
+mehr es die Wirkung erfllte, die Lassalle von
+ihm versprach &mdash; nmlich einen Volksvertretungskrper
+zusammenbringen, der &#8222;das genaue, treue
+Ebenbild ist des Volkes, das ihn gewhlt hat&#8221;
+(&#8222;Arbeiterprogramm&#8221;) &mdash; die Zusammensetzung
+der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern.
+Denn so jmmerlich immer die damalige
+Volksvertretung war, sie war doch wenigstens
+brgerlich-liberal. Lassalle verga, da die drftigen
+Klassen zwar unter Umstnden smtlich
+revolutionre Truppen stellen, aber keineswegs
+samt und sonders revolutionre Klassen sind,
+er verga, da die 89 Prozent nur erst zum Teil
+aus modernen Proletariern bestanden.</p>
+
+<p>Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen
+mglich war, so ist doch damit noch keineswegs
+gesagt, da es das, wozu es selbst wieder
+als Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit
+herbeigefhrt haben wrde. Bei der politischen
+und sonstigen Bildungsstufe der groen Masse
+der Bevlkerung konnte das Wahlrecht auch zunchst
+das Gegenteil bewirken, statt Vertreter
+moderner Prinzipien, solche des Rckschritts in
+grerer Anzahl als bisher in die Kammer bringen.
+Nicht alle Fortschrittler waren aus Klasseninteresse
+Gegner oder laue Freunde des allgemeinen
+Wahlrechts, es waren unter ihnen ein groer Teil
+Ideologen, welche gerade durch die Entwicklung
+der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen Wert
+skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten
+dachten so. Es sei nur an Rodbertus erinnert,<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span>
+der in seinem Offenen Brief an das Leipziger
+Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als
+ein Beispiel dafr, da das allgemeine Stimmrecht
+&#8222;nicht notwendig dem Arbeiterstande die
+Staatsgewalt in die Hnde spielt&#8221;. Es sei gesagt
+worden, das allgemeine Wahlrecht solle nur Mittel
+zum Zweck sein, Mittel seien aber &#8222;zu verschiedenen
+Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten
+brauchbar&#8221;. &#8222;Sind Sie,&#8221; fragt er, &#8222;dessen gewi,
+da hier das Mittel mit zwingender Notwendigkeit
+zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele fhren
+mu? Ich glaube das nicht.&#8221; Aus den Briefen
+Lassalles an Rodbertus geht auch hervor, da,
+beinahe mehr noch als Rodbertus' gegenstzliches
+Urteil ber den Wert der Produktivgenossenschaften,
+sein Gegensatz gegen das allgemeine
+Stimmrecht der Grund war, da er trotz aller
+dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen
+Deutschen Arbeiterverein nicht beitrat<a name="FNAnker_23_23" id="FNAnker_23_23"></a><a href="#Fussnote_23_23" class="fnanchor">[23]</a>.</p>
+
+<p>Und wie man sonst auch ber Rodbertus denken
+mag, seine Motive werden auf das Unzweifelhafteste<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span>
+durch den Schlusatz seines Briefes
+charakterisiert, wo er den Arbeitern anrt, obwohl
+Lassalle recht habe, da man solche Fragen
+nicht mehr debattiere, doch Freizgigkeit und freie
+Wahl der Beschftigung als selbstverstndlich in
+ihr Programm aufzunehmen, um &#8222;jeden Reaktionr,
+der Ihnen schaden knnte, hchst wirksam
+zurckzuscheuchen&#8221;.</p>
+
+<p>Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des
+Bonapartismus bertrieben, so nahm Lassalle sie
+seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung,
+die er spter tatschlich in dieser Richtung
+machte, lag dem Ideengang nach von vornherein
+in ihm. Hchst charakteristisch ist dafr eine
+Stelle aus dem teilweise schon frher zitierten
+Brief Lassalles an Marx vom 20. Juni 1859 ber
+die Frage des italienischen Krieges. Dort heit es:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Im Anfang, als mit solcher Wut berall
+das nationale Geschrei eines Krieges gegen
+Frankreich ausbrach, rief die &#8218;Volkszeitung&#8217;
+(Bernstein, fr mich ein Urreaktionr, ist ihr
+Redakteur) in einem Leitartikel triumphierend
+aus: &#8218;Will man wissen, was dies Geschrei aller
+Vlker gegen Frankreich bedeutet? Will man
+seine welthistorische Bedeutung kennen? Die
+Emanzipation Deutschlands von der politischen
+Entwicklung Frankreichs &mdash; das bedeutet es.&#8217; &mdash;
+Habe ich erst ntig, den urreaktionren Inhalt
+dieses Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen?
+Doch gewi nicht! Ein populrer
+Krieg gegen Frankreich &mdash; und unsere kleinbrgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span>
+Demokraten, unsere Dezentralisten,
+die Feinde aller Gesellschaftsinitiative,
+haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs auf
+lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die
+deutsche Revolution hinein wrde die Wirkung
+dieser Strmung sich bemerklich machen. Wir
+haben wahrhaftig nicht ntig, diesem gefhrlichsten
+Feind, den wir haben, dem deutschen
+Spiebrgerindividualismus, durch einen blutigen
+Antagonismus gegen den romanisch-sozialen
+Geist in seiner klassischen Form, in Frankreich,
+noch neue Krfte zuzufhren.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der
+&#8222;Volkszeitung&#8221; verdiente in gewisser Hinsicht
+zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier
+beilegt, aber des zitierten Satzes wegen vielleicht
+am wenigsten. Die politische Entwicklung Frankreichs
+war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus,
+whrend die Partei der &#8222;Volkszeitung&#8221; auf
+England, als ihr politisches Vorbild, schwor. Das
+war sicher sehr einseitig, aber noch nicht reaktionr,
+oder doch reaktionr nur insoweit, als
+es eben einseitig war. Lassalles Auffassung, die
+in dem staatlichen Zentralismus Frankreichs ein
+Produkt des &#8222;romanisch-sozialen&#8221; Geistes sah,
+ihn mit dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte,
+dagegen seine reaktionre Seite ganz
+unbeachtet lie, ist jedoch nicht minder einseitig.</p>
+
+<p>So weit ber die politische Seite des Lassalleschen
+Programms, nun zu seiner konomischen.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Der_oekonomische_Inhalt" id="Der_oekonomische_Inhalt">Der konomische Inhalt
+des Offenen Antwortschreiben.</a></h2>
+
+<p>Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften
+mit Staatskredit.</p>
+
+
+<p>Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief
+und dem er das Beiwort &#8222;ehern&#8221; gab, entspricht,
+wie ich an anderer Stelle<a name="FNAnker_24_24" id="FNAnker_24_24"></a><a href="#Fussnote_24_24" class="fnanchor">[24]</a> nachgewiesen
+zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode
+&mdash; der Manufakturindustrie &mdash; und
+einem auf ihr beruhenden Gesellschaftszustande,
+ist also in der Gesellschaft der modernen Groindustrie,
+der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten
+Kreislaufes von Krisis, Stockung und
+Prosperitt, der rasch sich vollziehenden Steigerung
+der Produktivitt der Arbeit usw. zum mindesten
+berlebt. Auch setzt es ein absolut freies
+Walten von Angebot und Nachfrage auf dem
+Arbeitsmarkt voraus, das schon gestrt ist, sobald
+die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert
+gegenbertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung,
+in die Regelung des Arbeitsverhltnisses
+eingreifen. Wenn also die Liberalen
+Lassalle entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme
+nicht, es sei veraltet, so hatte das teilweise seine<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span>
+Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die
+guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere
+Fehler als Lassalle.</p>
+
+<p>Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter
+der den Lohn bestimmenden Gesetze, weil
+er den strksten Schlag gegen die moderne Gesellschaft
+damit zu fhren meinte, da er nachwies,
+der Arbeiter erhalte unter keinen Umstnden
+seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen Anteil an
+dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der
+Frage einen rechtlichen Charakter, und agitatorisch
+hat sich das auch hchst wirksam erwiesen. Aber
+in der Sache selbst traf er damit keineswegs den
+Kern der Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit
+hat der Arbeiter auch unter den frheren Produktionsformen
+nicht erhalten, und wenn ein
+&#8222;ehernes&#8221; Gesetz es verhindert, da der Lohn
+dauernd unter ein bestimmtes Minimum sinkt,
+dieses Minimum selbst aber &mdash; wie Lassalle ausdrcklich
+zugab &mdash; im Laufe der Entwicklung
+sich zwar langsam hebt, aber doch hebt, so war
+der Beweis fr die Notwendigkeit der von ihm
+geforderten Einmischung des Staates schwer zu
+erbringen.</p>
+
+<p>Das, worauf es wirklich ankommt, ist von
+Lassalle erst spter, und nur beilufig, hervorgehoben
+worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters
+mit einem Bruchteil des von ihm erzeugten
+neuen Wertes, sondern diese Ablohnung in Verbindung
+mit der Unsicherheit der proletarischen
+Existenz, die Abhngigkeit des Arbeiters von den<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span>
+in wechselnden Zeitrumen einander folgenden
+Kontraktionen des Weltmarktes, von bestndigen
+Revolutionen der Industrie und der Absatzverhltnisse
+&mdash; der schreiende Gegensatz zwischen dem
+immer mehr gesellschaftlich werdenden Charakter
+der Produktion und ihrer anarchischen Leitung,
+dabei die wachsende Unmglichkeit fr den einzelnen
+Arbeiter, aus der doppelten Abhngigkeit
+vom Unternehmertum und den Wechselfllen des
+industriellen Zyklus sich zu befreien, die bestndige
+Bedrohung mit dem Hinausgeworfenwerden
+aus einer Sphre der Industrie in eine
+andre, tieferstehende, oder in das Heer der
+Arbeitslosen &mdash; das ist es, was die Lage der
+Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unertrglich
+macht, sie von der bei jeder vorhergehenden
+Produktionsweise zum Schlechteren unterscheidet.
+Die Abhngigkeit des Arbeiters ist mit
+der scheinbaren Freiheit nur grer geworden.
+Sie ist es, die mit eherner Wucht auf der Arbeiterklasse
+lastet, und deren Druck zunimmt mit der
+wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die
+Lohnhhe dagegen wechselt heute, je nach den
+verschiedenen Industriezweigen, von buchstblichen
+Verhungerungslhnen bis zu Lhnen, die
+tatschlich einen gewissen Wohlstand darstellen,
+und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den verschiedenen
+Industrien eine sehr verschiedene, teils
+hher, teils aber auch geringer als in frheren
+Produktionsepochen. Beide hngen von sehr vernderlichen
+Faktoren ab, beide wechseln nicht nur<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span>
+von Industrie zu Industrie, sondern sind auch in
+jeder einzelnen Industrie den grten Vernderungen
+unterworfen, und bestndig ist nur die
+Tendenz des Kapitals, die Ausbeutungsrate zu
+erhhen, zustzliche Mehrarbeit auf die eine
+oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.</p>
+
+<p>Dadurch, da Lassalle als die wesentliche Ursache
+der Leiden der Arbeiterklasse in der heutigen
+Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, die
+gar nicht das charakterisierende Merkmal der
+modernen Produktionsweise ist &mdash; denn, wie gesagt,
+den vollen Arbeitsertrag hat der Arbeiter
+zu keiner Zeit erhalten &mdash; war der Hauptfehler
+seines Abhilfemittels von vornherein angezeigt.
+Es ignoriert, oder, um Lassalle auch nicht Unrecht
+zu tun, es unterschtzt die Strke und den
+Umfang der Gesetze der Warenproduktion und
+deren wirtschaftliche und soziale Rckwirkungen
+auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir
+mssen hier wieder genau unterscheiden zwischen
+Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. Sein Ziel
+war natrlich, die Warenproduktion aufzuheben,
+sein Mittel aber lie sie unangetastet. Sein Ziel
+war die gesellschaftlich organisierte Produktion,
+sein Mittel die individuelle Assoziation, die sich
+von der Schulzeschen zunchst nur dadurch unterschied,
+da sie mit Staatskredit, mit Staatsmitteln
+ausgestattet werden sollte. Alles weitere, der
+Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm
+der freiwilligen Entschlieung jener berlassen &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span>
+es wird von ihnen erwartet, aber ihnen nicht zur
+Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern,
+die sich zu assoziieren wnschten, die
+erforderlichen Mittel dazu auf dem Wege der
+Kreditgewhrung vorstrecken.</p>
+
+<p>Die Assoziationen einer bestimmten Industrie
+wrden also, solange sie nicht diese ganze
+Industrie umfaten, mit den bestehenden Unternehmungen
+ihres Produktionszweigs in Konkurrenz
+zu treten, sich den Bedingungen dieser Konkurrenz
+zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche
+Folge auch gegeben, da sich im Schoe der
+Assoziationen Sonderinteressen herausentwickeln
+muten, da jede Assoziation danach streben
+mute, ihren Gewinn so hoch als mglich zu
+steigern, sei es auch auf Kosten andrer Assoziationen
+oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit
+Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben
+Privatunternehmungen von mehr oder minder
+groen Gruppen von Arbeitern. Individuelle
+Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle
+Glckschancen muten daher bei ihnen eine hervorragende
+Rolle spielen, die Frage von Gewinn
+und Verlust fr sie dieselbe Bedeutung erhalten,
+wie fr andre Privatunternehmungen. Lassalle
+glaubte zwar erstens &mdash; gesttzt darauf, da 1848
+in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften
+sehr stark war &mdash;, da sich sofort mindestens
+alle Arbeiter bestimmter Industrien an
+den einzelnen Orten zu je einer groen Assoziation
+zusammentun wrden, und sprach sich<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span>
+zweitens im &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; spter sogar dahin
+aus, da der Staat in jeder Stadt immer &#8222;nur
+einer Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig
+den Staatskredit zuteil werden&#8221; lassen
+wrde, &#8222;allen Arbeitern dieses Gewerkes den
+Eintritt in dieselbe offen haltend&#8221;, aber selbst
+solche rtlich einheitlich organisierten Assoziationen
+blieben noch immer in nationaler Konkurrenz.
+Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch
+groe Assekuranz- und Kreditverbnde der Assoziationen
+untereinander in ihren konomischen
+Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der
+Hand, da diese Assekuranz ein Unding war,
+wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war
+fr nationale Organisation und nationale Monopolisierung
+der Industrie. Sonst mute die berproduktion
+sehr bald die Assekuranzgesellschaft
+sprengen. Und die berproduktion war unvermeidlich,
+wenn der Staat, wie es oben heit, allen
+Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die
+Assoziationen &#8222;offen hielt&#8221;. Lassalle verwickelte
+sich da, von seinem sozialistischen Gewissen getrieben,
+in einen groen Widerspruch. &#8222;Den Eintritt
+offen halten&#8221; heit die Assoziation zur Aufnahme
+jedes sich meldenden Arbeiters verpflichten.
+Nach dem &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221;
+sollte aber die Assoziation dem Staat gegenber
+vollkommen unabhngig sein, ihm nur das Recht
+der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle
+der Geschftsfhrung zur Sicherung seiner Interessen
+zustehen. Mit obiger Verpflichtung war<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span>
+sie dagegen aus einem unabhngigen in ein ffentliches,
+d.&nbsp;h. unter den gegebenen Verhltnissen
+staatliches Institut umgewandelt &mdash; ein innerer
+Gegensatz, an dem sie unbedingt htte scheitern
+mssen.</p>
+
+<p>Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen
+Produktivgenossenschaft ist folgender. Solange
+die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehrigen
+eines bestimmten Industriezweiges umfaten,
+unterstanden sie den Zwangsgesetzen der
+Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja
+gerade die Betriebe fabrikmiger Groproduktion
+im Auge hatte, die zugleich die groen Weltmarktsindustrien
+bilden. Wo aber Konkurrenz besteht,
+besteht auch geschftliches Risiko; die Konkurrenz
+zwingt den Unternehmer, sei er eine einzelne
+Person, eine Aktiengesellschaft oder eine
+Assoziation, sich der Mglichkeit auszusetzen,
+da sein Produkt jeweilig als unterwertig &mdash; d.&nbsp;h.
+als Erzeugnis von nicht gesellschaftlich notwendiger
+Arbeit &mdash; aus dem Markt geworfen wird.
+Konkurrenz und berproduktion, Konkurrenz und
+Stockung, Konkurrenz und Bankrotte sind in der
+heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine Beherrschung
+der Produktion durch die Produzenten
+selbst ist nur mglich nach Magabe der Aufhebung
+der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar
+durch das Monopol. Whrend aber die Konkurrenz
+in der heutigen Gesellschaft die wichtige
+Mission hat, die Konsumenten vor bervorteilung
+zu schtzen und die Produktionskosten bestndig<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span>
+zu senken, hat das Monopol umgekehrt die
+Tendenz, die Konsumenten zugunsten der Monopolinhaber
+zu berteuern und den Fortschritt der
+Technik, wenn nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen.
+Das letztere um so mehr, wenn die
+beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols
+sind. Die Aufhebung des geschftlichen
+Risikos fr die Assoziationen wrde also im
+Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
+wenn berhaupt zu verwirklichen, notwendigerweise
+auf Kosten der Konsumenten vor sich
+gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten
+gegenber die groe Mehrheit ausmachen. Zwischen
+Assoziations- und Gesamtinteresse wre
+ein unlsbarer Antagonismus.</p>
+
+<p>In einem sozialistischen Gemeinwesen wre das
+natrlich leicht zu verhindern, aber ein solches
+wird nicht den Umweg von der subventionierten
+Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung
+der Produktion gehen, sondern die Produktion,
+auch wenn sie sich dabei der Form der genossenschaftlichen
+Betriebe bedient, von vornherein auf
+gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die
+kapitalistische Gesellschaft verpflanzt, wird gerade
+die Produktivgenossenschaft dagegen so oder
+so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen.
+Die Lassalleschen Produktivgenossenschaften
+wrden sich von den Schulze-Delitzschschen nur
+quantitativ, nicht qualitativ, nur der Gre, nicht
+dem Wesen nach unterschieden haben.</p>
+
+<p>Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus,<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span>
+der ein viel zu durchgebildeter konom
+war, als da ihm diese schwache Seite der Lassalleschen
+Assoziationen htte entgehen knnen. Wir
+haben bereits aus dem oben zitierten Brief Lassalles
+an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus sich in
+seinem &#8222;Offenen Brief&#8221; ber sie hatte uern
+wollen, und die auf jenen folgenden Briefe
+Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich deutlich
+durchblicken, welches der Haupteinwand von
+Rodbertus war. Noch deutlicher aber geht dies
+aus den Briefen von Rodbertus an Rudolph Meyer
+hervor, und es drfte nicht uninteressant sein,
+einige der betreffenden Stellen hier folgen zu
+lassen.</p>
+
+<p>Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:</p>
+
+<p>&#8222;... Hieran lt sich, in weiterem Verfolg,
+auch nachweisen, da dasjenige Kollektiveigentum,
+das die Sozialdemokraten heute verfolgen,
+das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften,
+ein viel schlechteres, zu weit greren
+Ungerechtigkeiten fhrendes Grund- und Kapitaleigentum
+ist, als das heutige individuelle. Die
+Arbeiter folgen hier noch Lassalle. Ich hatte ihn
+aber brieflich berfhrt, zu welchen Absurditten
+und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen
+msse und (was ihm besonders unangenehm
+war) da er gar nicht der Schpfer dieser Idee
+sei, sondern sie Proudhons Ide gnrale de la
+Rvolution entlehnt habe.&#8221;<a name="FNAnker_25_25" id="FNAnker_25_25"></a><a href="#Fussnote_25_25" class="fnanchor">[25]</a></p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span></p>
+
+<p>Brief vom 24. Mai 1872: &#8222;Noch einen dritten
+Grund allgemeiner Natur habe ich gegen diese
+Lhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am
+Geschftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder
+eine Gratifikation, wie Settegast mit Recht sagt &mdash;
+und mit &#8218;Biergeldern&#8217; wird die soziale Frage nicht
+gelst &mdash; oder sie entwickelt sich auch zu einem
+Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schlielich
+zu einem Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds.
+Dies Kollektiveigentum liegt aber nicht
+auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis
+wrde mich zu weit fhren, aber so weit hatte
+ich Lassalle denn doch schon in unserer Korrespondenz
+getrieben, da er mir in einem seiner
+letzten Briefe schrieb: &#8218;Aber, wer sagt Ihnen
+denn, da ich will, da der Produktivassoziation
+der Fonds zum Betriebe <em class="gesperrt">gehren</em> soll!&#8217; (sic!)
+Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum
+der Arbeiter an den einzelnen Betrieben wre
+ein weit bleres Eigentum, als das individuale
+Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum
+einer Kapitalistenassoziation.&#8221; ...</p>
+
+<p>Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in
+keinem der zur Verffentlichung gelangten Briefe
+Lassalles an Rodbertus. Es ist aber kaum anzunehmen,
+da Rodbertus sich so bestimmt ausgedrckt<span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span>
+haben wrde, wenn er den Wortlaut
+nicht vor sich gehabt htte. Mglich, da er
+gerade diesen Brief spter verlegt hat. Kein
+triftiger Grund spricht nmlich dagegen, da
+Lassalle sich nicht in der Tat einmal so ausgedrckt
+haben sollte. In allen Lassalleschen
+Reden ist vielmehr von den Zinsen die Rede,
+welche die Assoziationen dem Staat fr das vorgeschossene
+Kapital zu zahlen htten. Es liegt
+also in dem Satz noch nicht einmal ein Zugestndnis
+an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein
+solches, und zwar ein so starkes, da es zugleich
+in eine &mdash; unbeabsichtigte &mdash; Verurteilung der
+Produktivassoziationen umschlgt, findet sich dagegen
+in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom
+26. Mai 1863. Dort heit es:</p>
+
+<p>&#8222;Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, da,
+wenn dem Arbeiter Boden, Kapital und Arbeitsprodukt
+gehrt<a name="FNAnker_26_26" id="FNAnker_26_26"></a><a href="#Fussnote_26_26" class="fnanchor">[26]</a>, von einer Lsung der sozialen
+Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat
+wird sich also auch annhernd herausstellen,
+wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung geliefert
+wird und ihm das Arbeitsprodukt gehrt.
+Bei der lndlichen Assoziation wird dann der
+Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span>
+Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation
+wird er in der Regel mehr erhalten als
+seinen Arbeitsertrag. Alles dieses wei ich genau
+und wrde es, wenn ich mein konomisches Werk
+schreibe, sehr explizit nachweisen.&#8221;</p>
+
+<p>Im nchsten Brief erklrt Lassalle, da Rodbertus
+entweder den Sinn der vorstehenden Stze nicht
+genau verstanden hatte oder Lassalle in die Enge
+jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt
+(einen hier gleichgltigen Zwischensatz lasse ich
+fort):</p>
+
+<p>&#8222;Meine uerung: &#8218;bei der lndlichen Assoziation
+wird dann der Arbeiter entweder mehr
+oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben&#8217;, ist
+jedenfalls in bezug auf das &#8218;mehr&#8217; doch leicht zu
+verstehen. Ich verstehe gar nicht die Schwierigkeit,
+die in bezug auf diesen Satz stattfinden
+knnte.</p>
+
+<p>Die Assoziationen auf den besser beschaffenen
+oder besser gelegenen usw. ckern wrden doch
+zunchst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt
+die Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr
+als ihren wirklichen Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt,
+haben.</p>
+
+<p>Allein schon daraus allein, da einer in der
+Gesellschaft mehr hat als sein legitimes Arbeitsprodukt,
+folgt, da ein andrer weniger haben mu,
+als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages,
+wie wir uns dieselbe bereinstimmend
+(vgl. den Schlu Ihres dritten sozialen Briefes)<span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span>
+denken, auf die Vergtung seiner Arbeit kommen
+wrde.</p>
+
+<p>Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt
+(im Sinne der endgltigen Lsung der sozialen
+Frage, also im Sinne der &#8218;Idee&#8217;, die ich hier immer
+als Norm und Vergleichungsmastab bei dem
+&#8218;mehr oder weniger&#8217; unterstelle)? Ist es das
+Produkt, das ich lndlich oder industriell unter
+beliebigen Verhltnissen individuell hervorbringen
+kann, whrend ein anderer unter gnstigeren Verhltnissen
+mit derselben Arbeit mehr, ein Dritter
+unter noch ungnstigeren mit derselben Arbeit
+weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein
+Arbeitsprodukt wre der Anteil an der gesamten
+gesellschaftlichen Produktivitt, der bestimmt wird
+durch das Verhltnis, in welchem mein Arbeitsquantum
+zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft
+steht.</p>
+
+<p>Nach dem Schlu Ihres dritten sozialen Briefes
+knnen Sie das unmglich bestreiten.</p>
+
+<p>Und folglich haben, solange die Arbeiter der
+einen Assoziation Grundrente beziehen, die Arbeiter
+der andern, die nicht in diesem Fall sind,
+weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes
+Arbeitsprodukt.&#8221;</p>
+
+<p>Soweit Lassalle. Ein Miverstndnis ist hier
+gar nicht mehr mglich. Die &#8222;Idee&#8221;, welche
+Lassalle bei dem &#8222;mehr oder weniger&#8221; unterstellt,
+ist die kommunistische, die das gesamte
+Arbeitsprodukt der Gesellschaft und nicht den<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span>
+individuellen Arbeitsertrag des einzelnen oder der
+Gruppe ins Auge fat, und Lassalle war sich
+durchaus dessen bewut, da, solange der letztere
+den Verteilungsmastab bildet, ein Bruchteil
+der Bevlkerung mehr, der andere aber notwendigerweise
+weniger erhalten werde als ihm
+auf Grund des von ihm verrichteten Anteils an
+der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter
+Verteilung, zukommen sollte, d.&nbsp;h. da die Assoziationen
+zunchst eine neue Ungleichheit schaffen
+wrden. Gerade mit Rcksicht darauf habe er,
+so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung
+seines Vorschlages das Wort &#8222;Lsung
+der sozialen Frage&#8221; sorgfltig vermieden &mdash; &#8222;nicht
+aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei,
+sondern aus jenen theoretischen Grnden&#8221;.</p>
+
+<p>Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt
+Lassalle, da die Ungleichheit bei den lndlichen
+Assoziationen durch eine differenzierende Grundsteuer
+leicht beseitigt werden knne, welche &#8222;die
+ganze Grundrente abolieren, d.&nbsp;h. in die Hnde
+des Staats bringen, den Arbeitern nur den wirklich
+gleichmigen Arbeitsertrag lassen&#8221; soll &mdash; die
+Grundrente im Sinne Ricardos genommen<a name="FNAnker_27_27" id="FNAnker_27_27"></a><a href="#Fussnote_27_27" class="fnanchor">[27]</a>. Die
+Grundsteuer wrde die Bezahlung bilden fr die
+berlassung der Bodenflche an die assoziierten<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span>
+Arbeiter und &mdash; wie es bei Lassalle heit &mdash; &#8222;schon
+aus Gerechtigkeit und Neid&#8221; von den
+lndlichen Assoziationen &#8222;leidenschaftlich begnstigt
+werden&#8221;. Der Staat aber htte an dieser
+Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft,
+Kunst, ffentliche Ausgaben aller Art zu
+bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen
+solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen,
+da sobald die Assoziationen jeder einzelnen
+Branche sich zu je einer groen Assoziation
+zusammengezogen haben, der private
+Zwischenhandel aufhren und der Verkauf in
+vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt
+werden wrde. &#8222;Wrde hiermit nicht zugleich
+gettet werden, was man heut berproduktion
+und Handelskrise nennt?&#8221;</p>
+
+<p>Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung
+der Grundrente<a name="FNAnker_28_28" id="FNAnker_28_28"></a><a href="#Fussnote_28_28" class="fnanchor">[28]</a> ist ein durchaus
+rationeller, d.&nbsp;h. er enthlt keinen Widerspruch
+in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens
+sehr wahrscheinlich, da er auf einer gewissen
+Stufe der Entwicklung irgendwie verwirklicht
+werden wird. Die Idee der Zusammenziehung
+der Assoziationen ist dagegen nur ein frommer
+Wunsch, der in Erfllung gehen kann, aber nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span>
+notwendigerweise in Erfllung zu gehen braucht,
+solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen
+Assoziationen gestellt wird. Und selbst wenn sie
+in Erfllung ginge, wrde damit noch durchaus
+nicht schlechthin verhindert sein, da die Mitglieder
+der einzelnen Assoziation nicht in ihrem
+Anteil an deren Ertrage eine grere oder
+unter Umstnden geringere Quote des gesellschaftlichen
+Gesamtprodukts erhalten, als ihnen
+auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukme.
+Es stnde immer wieder Assoziationsinteresse
+gegen Gesamtinteresse.</p>
+
+<p>Hren wir noch einmal Rodbertus.</p>
+
+<p>Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August
+1872 nimmt er auf einen Artikel des &#8222;Neuen
+Sozialdemokrat&#8221; Bezug, wo ausgefhrt war, da
+Lassalle der &#8222;weitgehendsten Richtung des Sozialismus&#8221;
+angehrt habe, und meint, das sei wohl
+richtig, es sei</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;aber auch ebenso richtig, da Lassalle und
+der (Neue) &#8218;Sozialdemokrat&#8217; ursprnglich eine
+Produktivassoziation angestrebt haben, wie
+Schulze-Delitzsch sie wollte, nmlich in welcher
+der Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehren
+sollte, nur da Schulze-Delitzsch wollte, sie
+sollten sich das Kapital selbst dazu sparen, und
+Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige,
+sollte es ihnen liefern (ob leihen oder schenken,
+ist wohl nicht ganz klar). Aber eine Produktivassoziation,
+die den Kapitalgewinn einsackt,<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span>
+setzt ja das Kapitaleigentum, das &#8218;Gehren&#8217;
+voraus. Wie soll also jene &#8218;weitgehendste Richtung&#8217;
+mit einer solchen Assoziation vermittelt
+werden knnen?&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die
+Produktivassoziation als &#8222;provisorische Institution&#8221;
+gedacht werden knne, und fhrt nach einigen
+allgemeinen Bemerkungen fort: &#8222;Genug, die Produktivassoziation,
+die Lassalle und der &#8218;Sozialdemokrat&#8217;
+in der Tat angestrebt, kann auch nicht
+einmal als bergangszustand zu jenem &#8218;weitgehendsten&#8217;
+Ziele dienen, denn, der menschlichen
+Natur gem, wrde er nicht zu allgemeiner
+Brderlichkeit, sondern zu dem schrfsten Korporationseigentum
+zurckfhren, in welchem nur
+die Personen der Besitzenden gewechselt htten,
+und das sich tausendmal verhater machen wrde,
+als das heutige individuale Eigentum. Der Durchgang
+von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum
+kann eben niemals das Korporations- oder
+auch Kollektiveigentum sein (es kommt ziemlich
+ber eins heraus); weit eher ist gerade das individuale
+Eigentum der bergang vom Korporationseigentum
+zum Staatseigentum. Und hierin liegt
+die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die
+Lassalles), nmlich bei jenem weitgehendsten Ziel
+(das auch bei Lassalle noch kein praktisches Interesse
+erregen sollte) doch die Produktivassoziation
+mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum
+zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr
+hinter den Wagen gespannt worden, als von den<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span>
+Berliner Sozialdemokraten (und ihrem Fhrer
+Lassalle, insofern er ebenfalls jenes &#8218;weitgehendste&#8217;
+Ziel anstrebte) und das wei Marx sehr gut.&#8221;
+(Briefe usw. von Rodbertus-Jagetzow.)</p>
+
+<p>Ich habe Rodbertus so ausfhrlich sprechen
+lassen, weil er Lassalle vielleicht am objektivsten
+gegenberstand und in seiner Auffassung vom
+Staat usw. sehr viel Berhrungspunkte mit Lassalle
+hatte, auch wohl niemand so eingehend mit Lassalle
+ber die Produktivgenossenschaften diskutiert hat,
+wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich
+auch nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie
+von der &#8222;Lsung der sozialen Frage&#8221; hatte, nmlich
+den Normalwerksarbeitstag und den verhltnismigen
+Arbeitslohn. Aber den schwachen
+Punkt in der Lassalleschen Assoziation hat er
+in der Hauptsache richtig bezeichnet, wenn er
+sagt, da diese die Pferde hinter den Wagen
+spannt. Lassalle wollte die Vergesellschaftung
+der Produktion und der Produktionsmittel, und
+weil er es fr unzeitgem hielt, das dem
+&#8222;Mob&#8221; &mdash; worunter er den ganzen Tro der
+Gedankenlosen aller Parteien verstand &mdash; bereits
+zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen
+schleudern wollte, stellte er das ihm ungefhrlicher
+scheinende Postulat der Produktivgenossenschaft
+mit Staatskredit auf.</p>
+
+<p>Er beging damit denselben Fehler, den er in
+seinem Aufsatz ber Franz von Sickingen als
+die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte,
+er &#8222;listete&#8221; mit der &#8222;Idee&#8221;, wie es in jenem<span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span>
+Aufsatz heit, und tuschte die Freunde mehr,
+als die Feinde. Aber er tat es, wie Sickingen,
+im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt
+gegenber Rodbertus erklrt hat, er sei bereit,
+auf die Assoziationen zu verzichten, sobald jener
+ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel
+zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus
+nicht den Schlu ziehen, da Lassalle nicht von
+der Gte seines Mittels durchaus berzeugt war.
+Solche Erklrungen pflegt jeder abzugeben, und
+kann sie um so eher abgeben, je mehr er seiner
+Sache sicher zu sein glaubt. Und wie sehr dies
+bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte uerung
+in bezug auf die Assoziationen Rodbertus gegenber:
+&#8222;Kurz, ich begreife nicht, wie man nicht
+sehen knnte, da die Assoziation, vom Staat
+ausgehend, der organische Entwicklungskeim ist,
+der zu allem weiteren fhrt.&#8221; &mdash; Er ist also unbedingt
+von dem Vorwurf freizusprechen, mit
+dieser Forderung den Arbeitern etwas empfohlen
+zu haben, von dessen Richtigkeit er nicht durchdrungen
+war, ein Vorwurf, der viel schwerwiegender
+wre, als der eines theoretischen Irrtums.</p>
+
+<p>Lassalle glaubte, da in dem Mittel der Assoziationen
+mit Staatskredit der Zweck, dem diese
+dienen sollten, nmlich die Verwirklichung der
+sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen
+Grundzgen bereits enthalten, da hier in der
+Tat &mdash; worauf er so groes Gewicht legte &mdash; &#8222;das
+Mittel von der eignen Natur des Zweckes
+ganz und gar durchdrungen&#8221; sei. Nun ist ja auch<span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span>
+tatschlich die Assoziation im kleinen ein Stck
+Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der
+Gemeinschaftlichkeit, und die Forderung der
+Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die
+Staatsmaschinerie als Mittel der konomischen
+Befreiung der Arbeiterklasse in Anspruch zu
+nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den Zusammenhang
+mit dem groen Ganzen, der bei der
+Schulzeschen Assoziation verlorenging, mglichst
+zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht
+nur keinen Vorwurf machen, sondern mu vielmehr
+die Einheitlichkeit des Gedankens bei ihm
+im hchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen,
+welche Auffassung er vom Staat hatte,
+wie dieser fr ihn nicht der jeweilige politische
+Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustnde
+war, sondern die Verwirklichung eines ethischen
+Begriffs, der durch jeweilige historische Einflsse
+zwar beeintrchtigt, dessen ewige &#8222;wahre Natur&#8221;
+aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher
+Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der
+Forderung der Staatshilfe mehr als eine bloe
+praktische Maregel zu erblicken und ihr, wie
+Lassalle dies getan, als einem fundamentalen
+Prinzip des Sozialismus, eine selbstndige prinzipielle
+Bedeutung zuzuschreiben<a name="FNAnker_29_29" id="FNAnker_29_29"></a><a href="#Fussnote_29_29" class="fnanchor">[29]</a>. Und ebenso<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span>
+steht die Forderung der Produktivgenossenschaften
+in engster Ideenverbindung mit Lassalles
+Theorie des ehernen Lohngesetzes. Sie fut auf
+denselben konomischen Voraussetzungen. Kurz,
+es ist hier alles, mchte ich sagen, aus einem Gu.</p>
+
+<p>Aber es gengt noch nicht, da Lassalle an
+die Richtigkeit seines Mittels glaubte, um es zu
+rechtfertigen, da er ber sein Ziel sich so unbestimmt
+wie nur mglich uerte. Er, der in
+dem schon zitierten Aufsatz ber den &#8222;Franz
+von Sickingen&#8221; so trefflich dargelegt hatte, welche
+Gefahr darin liegt, &#8222;die wahren und letzten
+Zwecke der Bewegung andern (&#8218;und beilufig
+eben dadurch hufig sogar sich selbst&#8217;) geheim
+zu halten&#8221;, der in diesem Geheimhalten bei
+Sickingen dessen &#8222;sittliche Schuld&#8221; erblickt hatte,
+die seinen Untergang herbeifhren mute, den
+Ausflu eines Mangels an Zutrauen in die Macht
+der von ihm vertretenen Idee, ein &#8222;Abweichen
+von seinem Prinzip&#8221;, ein &#8222;halbes Gebrochensein&#8221;
+&mdash; er gerade zuletzt htte sich darauf verlegen
+drfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt
+auf den wirklichen Zweck zuzuspitzen. Die Entschuldigung,
+da man diesen Zweck dem &#8222;Mob&#8221;
+noch nicht sagen durfte, oder da die Massen
+fr ihn noch nicht zu gewinnen waren, trifft nicht
+zu. Waren die Massen fr das wirkliche Ziel der<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span>
+Bewegung noch nicht zu interessieren, so war
+diese berhaupt verfrht und dann konnte auch das
+Mittel, selbst wenn erlangt, nicht zum Ziele fhren.
+In den Hnden einer Arbeiterschaft, die ihre weltgeschichtliche
+Mission noch nicht zu begreifen
+vermag, konnte das allgemeine Wahlrecht mehr
+schaden als ntzen und muten die Produktivgenossenschaften
+mit Staatskredit nur der bestehenden
+Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prtorianer
+liefern. War aber die Arbeiterschaft
+entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu
+begreifen, dann mute dieses auch offen ausgesprochen
+werden. Es brauchte damit noch nicht
+als unmittelbares, ber Nacht zu verwirklichendes
+Ziel hingestellt zu werden, aber nicht nur der
+Fhrer, sondern auch jeder der Gefhrten mute
+wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und da
+es nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die
+Masse wre dadurch nicht mehr vor den Kopf
+gestoen worden, als es durch den Kampf um
+das Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst
+darauf hin, wie fein der Instinkt der herrschenden
+Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz
+handelt. &#8222;Individuen,&#8221; sagt er in dieser Beziehung
+mit Recht, &#8222;sind zu tuschen, Klassen niemals.&#8221;</p>
+
+<p>Wem das im Vorstehenden Ausgefhrte doktrinr
+erscheint, der sei auf die Geschichte der
+Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen.
+Und damit will ich zum Schlu auf dieses Thema
+bergehen.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Gruendung_und_Fuehrung" id="Gruendung_und_Fuehrung">Grndung und Fhrung
+des Allgemeinen Deutschen
+Arbeitervereins.</a></h2>
+
+
+<p>Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation
+knnen hier nicht dargestellt werden, soll diese
+Schrift nicht den Umfang eines ganzen Werkes
+annehmen; ich mu mich vielmehr darauf beschrnken,
+vorderhand nur die allgemeinen Zge
+der Bewegung hervorzuheben.</p>
+
+<p>Das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221; hatte zunchst
+nur zum Teil die Wirkung, die Lassalle sich von
+ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy
+in Dsseldorf und andere schreiben: &#8222;Das Ganze
+liest sich mit solcher Leichtigkeit, da es dem
+Arbeiter sofort sein mu, als wte er es schon
+jahrelang!&#8221; Die Schrift war wirklich ein agitatorisches
+Meisterwerk, sachlich und doch nicht
+trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu verfallen,
+voller Wrme und zugleich mit scharfer
+Logik geschrieben. Aber &mdash; die Arbeiter lasen
+sie vorerst berhaupt nicht; nur wo der Boden
+bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen
+der Arbeiterschaft ein. Dies war der Fall, wie
+wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen in
+Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M., in einigen greren Stdten und
+Industrieorten am Rhein und in Hamburg. Teils
+hatten zurckgekehrte politische Flchtlinge eine
+sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils
+lebten, wie namentlich am Rhein, die Traditionen
+der sozialistischen Propaganda aus der Zeit vor<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span>
+und whrend der 1848 er Revolution wieder auf.
+Aber das Gros der Arbeiter, die an der politischen
+Bewegung teilnahmen, blieb auf lngere Zeit
+hinaus noch von dem ergangenen Appell unberhrt
+und betrachtete Lassalle mit denselben Augen
+wie die meisten Fhrer der Fortschrittspartei &mdash; als
+einen Handlanger der Reaktion.</p>
+
+<p>Was nmlich die Fortschrittspartei in Preuen
+und auerhalb Preuens anbetrifft, so hatte bei
+dieser allerdings das &#8222;Antwortschreiben&#8221; einen
+wahren Sturm erregt &mdash; nmlich einen wahren
+Sturm der Entrstung, der leidenschaftlichen Erbitterung.
+Sie waren sich so gro vorgekommen,
+so erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der
+bedrohten Volksrechte, und nun wurde ihnen
+pltzlich von links her zugerufen, da sie keinen
+Anspruch auf diesen Titel, da sie sich des Vertrauens,
+das ihnen das Volk bisher entgegengebracht,
+unwrdig erwiesen htten und da daher
+jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine,
+insbesondere jeder Arbeiter, ihnen den Rcken
+zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung vertrgt
+keine kmpfende Partei, am allerwenigsten,
+wenn sie sich in einer Situation befindet, wie
+damals die Fortschrittspartei. Die Feindseligkeiten
+zwischen ihr und der preuischen Regierung
+hatten allmhlich einen Hhegrad erreicht, da
+eine gewaltsame Lsung des Konfliktes fast unvermeidlich
+schien, jedenfalls mute man sich auf
+das uerste gefat machen. Auf die Deduktionen
+der Regierungsorgane, da die Fortschrittspartei<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span>
+gar nicht das wirkliche Volk hinter sich
+habe, hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten
+knnen, das Volk, das politisch denke,
+stehe einmtig hinter ihr, und in dieser Zuversicht
+hatte sie eine immer drohendere Sprache gefhrt.
+Denn wenn die Fortschrittler auch keine groe
+Lust hatten, Revolution zu machen, an Drohungen
+mit ihr lieen sie es darum doch nicht fehlen<a name="FNAnker_30_30" id="FNAnker_30_30"></a><a href="#Fussnote_30_30" class="fnanchor">[30]</a>.</p>
+
+<p>Und gerade in einem solchen Augenblick sollte
+man sich von einem Manne, der als Demokrat,
+als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen
+lassen, man habe die Sache des Volkes preisgegeben,
+ruhig mitansehen, wie dieser Mensch
+die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich
+zu scharen suchte? Das hie ihnen Unmenschliches
+zumuten.</p>
+
+<p>Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern
+ihr Mglichstes zu versuchen, die<span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span>
+Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu lassen,
+und die nachtrgliche Kritik hat es daher nur
+mit dem Wie dieser Gegenwehr zu tun, nicht
+mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist,
+um zu irgendwelcher Betrachtung Anla zu bieten.
+Die Art der Gegenwehr nun kann kaum anders
+bezeichnet werden, als mit dem Wort: klglich.
+Da die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger
+der Reaktion hinstellten, ist eigentlich noch
+das geringste, was ihnen zum Vorwurf gemacht
+werden knnte. Denn es lt sich nun einmal
+nicht bestreiten, da Lassalles &#8222;Antwortschreiben&#8221;
+zunchst Wasser auf die Mhle der preuischen
+Regierung sein mute. Statt sich aber darauf zu
+beschrnken, Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten,
+in denen sie eine starke Position,
+oder, wie die Englnder es nennen, &#8222;einen starken
+Fall&#8221; ihm gegenber hatten, bissen sie gerade auf
+diejenigen seiner Angriffe an, die sie bei ihrer
+schwachen Seite trafen, und entwickelten dabei
+eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit
+htte Mitleid erregen knnen, wenn sie nicht
+zugleich mit einer so riesigen Dosis von Selbstberhebung
+gepaart gewesen wre. Lassalles einseitiger
+Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte
+getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen
+Aufgaben des Staats gegenber, seinem,
+wie wir gesehen haben, auf zum Teil unrichtigen
+Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz
+die platteste Verherrlichung der brgerlich-kapitalistischen
+Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span>
+Wut vergaen sie so sehr alle Wirklichkeit, alles,
+was sie selbst frher in bezug auf die nachteiligen
+Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben
+hatten, da sie durch die Unsinnigkeit
+ihrer Behauptungen selbst die bertreibungen
+Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbrgerlichen
+Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch
+und Genossen ber Nacht zu dessen
+Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten
+Abschnitt dieser Schrift (S.&nbsp;18&nbsp;ff.) gegebenen
+Auszge aus der 1858 erschienenen Schrift des
+ersteren mit den Ausfhrungen Schulzes in seinem
+&#8222;Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus&#8221;
+&mdash; eine Zusammenstellung von sechs Vortrgen,
+die letzten davon bestimmt, Lassalle vor
+den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten.
+Whrend dort es als eine der schnsten Wirkungen
+der selbsthilflerischen Assoziationen bezeichnet
+wurde, da sie den Unternehmergewinn herunterdrcken
+hlfen, heit es hier, da &#8222;die Wissenschaft
+ein solches Ding wie Unternehmergewinn&#8221;
+gar nicht kenne und also auch natrlich keinen
+Gegensatz zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn.
+Sie kenne nur &#8222;a) Unternehmerlohn und
+b) Kapitalgewinn&#8221; (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel
+S.&nbsp;153). Gegenber solcher &#8222;Wissenschaft&#8221;
+brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu sein,
+um mit ihr fertig zu werden.</p>
+
+<p>Aber trotz seiner geistigen berlegenheit, trotz
+seiner packenden Rhetorik hatte Lassalle doch
+den Fortschrittlern gegenber nicht den Erfolg,<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span>
+auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung
+des &#8222;Offenen Antwortschreibens&#8221; gleich der der
+von Luther an die Wittenberger Schlokirche genagelten
+Thesen &mdash; wie sie Lassalle sich laut
+dem bereits erwhnten Schreiben an seinen Freund
+Levy versprach &mdash; konnte zunchst auch nicht
+entfernt die Rede sein. Am 19.&nbsp;Mai&nbsp;1863 hatte
+Lassalle in Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M., nachdem er zwei
+Tage vorher auf dem dort abgehaltenen &#8222;Arbeitertag
+des Maingaues&#8221; eine vierstndige Rede gehalten,
+in einer zum Abschlu derselben anberaumten
+Volksversammlung die Annahme einer Resolution
+durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden
+verpflichteten, fr das Zustandekommen eines
+allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne
+Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward
+alsdann in Leipzig, in Anwesenheit von Delegierten
+aus 11 Stdten (Hamburg, Harburg, Kln,
+Dsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen,
+Leipzig, Dresden und Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M.), der
+&#8222;Allgemeine Deutsche Arbeiterverein&#8221; gegrndet,
+auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein
+mit dem ihm befreundeten demokratischen Fortschrittsabgeordneten
+Ziegler ausgearbeitet hatte.
+Gem diesen Statuten war die Organisation eine
+streng zentralistische, was sich zum Teil durch
+die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch
+den Umstand erklrt, da ursprnglich auch an
+die Grndung eines allgemeinen Arbeiterversicherungsverbandes
+gedacht worden war. Der Plan
+war fallen gelassen worden, aber Lassalle behielt<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span>
+trotzdem die Bestimmungen der Statuten bei, die
+sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich
+die persnlicher Spitze und die geradezu diktatorischen
+Vollmachten fr die Person des Prsidenten,
+der obendrein auf fnf Jahre unabsetzbar
+sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf
+dieser ersten konstituierenden Versammlung Anzeichen
+einer Opposition gegen solche Prsidialgewalt
+bemerkbar, aber sie konnte gegenber
+Lassalles ausgesprochenem Wunsch auf unvernderte
+Annahme der Statuten nicht durchdringen.
+Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg)
+wurde Lassalle zum Prsidenten erwhlt, und
+nachdem man ihm noch die Befugnis zugestanden,
+so oft und auf so lange als er wollte, einen Vizeprsidenten
+zu ernennen, nahm er nach einigem
+Zaudern die Wahl an. Er war somit anerkannter
+Fhrer der neuen Bewegung; diese selbst aber
+blieb auf lngere Zeit hinaus noch auf eine geringe
+Anhngerschaft beschrnkt. Drei Monate
+nach der Grndung betrug die Mitgliederzahl des
+Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900.
+An sich wre das ein gar nicht zu verachtender
+Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz
+andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der
+Leiter einer Propagandagesellschaft, sondern der
+Fhrer einer Massenbewegung sein. Die Massen
+aber blieben der neuen Organisation fern.</p>
+
+<p>Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft,
+er konnte zeitweise eine wahrhafte Riesenarbeit
+leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span>
+war das stetige, solide, ausdauernde Schaffen.
+Der Verein war noch nicht sechs Wochen alt, da
+trat der neue Prsident bereits eine mehrmonatige
+Erholungsreise an &mdash; zunchst in die Schweiz,
+dann an die Nordsee. Freilich blieb Lassalle auch
+unterwegs nicht unttig. Er unterhielt eine rege
+Korrespondenz, suchte alle mglichen Gren fr
+den Verein zu gewinnen, wobei er brigens nicht
+sehr whlerisch vorging, aber gerade das, worauf
+es ankam: die Agitation unter den Massen, lie
+er ruhen. Ferner sorgte er unbegreiflicherweise
+nicht einmal dafr, da der Verein wenigstens
+ein ordentliches Wochenblatt zur Verfgung hatte,
+obwohl es ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte.
+Er begngte sich mit gelegentlichen Subventionen
+an Bltter, wie den in Hamburg von dem alten
+Freischrler Bruhn herausgegebene &#8222;Nordstern&#8221;
+und den in Leipzig von einem Eigenbrdler,
+Dr. Ed. Lwenthal, herausgegebene &#8222;Zeitgeist&#8221;,
+womit diese Bltter zeitweise ber Wasser gehalten
+wurden, ohne jedoch deshalb aufzuhren bestndig
+zwischen Leben und Sterben zu schweben.</p>
+
+<p>Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch
+die meisten der vorgeschrittenen Demokraten und
+Sozialisten aus den brgerlichen Kreisen, an die
+sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte,
+dem Verein fern. Ein groer Teil dieser Leute
+war, wie bereits erwhnt, stark verphilistert oder
+doch auf dem besten Wege zum Philisterium,
+andere wurden durch ein unbestimmtes persnliches
+Mitrauen gegen Lassalle davon abgehalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span>
+sich ffentlich fr ihn zu erklren, wieder andere
+hielten den Zeitpunkt fr sehr ungeeignet, die
+Fortschrittspartei von links her zu attackieren. Und
+selbst diejenigen, die dem Verein beitraten, lieen
+es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden
+und verhielten sich im brigen durchaus
+passiv. Dafr agitierten zwar andere Mitglieder
+des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse
+hervorgegangenen, um so eifriger, und der
+Sekretr des Vereins, Jul. Vahlteich, entwickelte
+eine geradezu fieberhafte Ttigkeit Anhnger fr
+den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen
+durchaus nicht den Anstrengungen. Auf
+der einen Seite erwies sich die Gleichgltigkeit
+der unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der
+andern die das Interesse des Augenblicks absorbierende
+nationale Bewegung in Verbindung mit
+dem Verfassungskampf in Preuen als ein fast
+unbersteigbares Hindernis, so da an verschiedenen
+Orten die Mitglieder des Vereins bereits
+lebhaft die Frage diskutierten, ob man nicht durch
+Anziehungsmittel unpolitischer Natur, Grndung
+von Untersttzungskassen usw., das Werbegeschft
+frdern solle.</p>
+
+<p>Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt,
+auf die Diskussion dieser Frage einzugehen &mdash;
+vgl. seinen Brief vom 29.&nbsp;August&nbsp;1863 an den
+Vereinssekretr (zitiert bei B.&nbsp;Becker, Geschichte
+der Arbeiteragitation usw. S.&nbsp;83) &mdash;, er kam aber
+wieder davon ab, weil er einsah, da der Verein
+damit notwendigerweise seinen Charakter ndern<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span>
+mute. Er wrde aufgehrt haben, eine jederzeit
+disponible politische Maschine abzugeben, und nur
+als eine solche hatte er in den Augen Lassalles
+Wert.</p>
+
+<p>Noch in den Bdern entwarf Lassalle die Grundgedanken
+einer Rede, mit der er bei seiner Rckkehr
+die Agitation wieder aufnehmen wollte, und
+zwar zunchst am Rhein, wo der Boden sich ihm
+am gnstigsten erwiesen hatte. Es ist dies die
+Rede &#8222;Die Feste, die Presse und der Frankfurter
+Abgeordnetentag&#8221;.</p>
+
+<p>Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom
+20. bis 29.&nbsp;September&nbsp;1863 in Barmen, Solingen
+und Dsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt
+in seiner Agitation. Welche Einflsse whrend
+der Sommermonate auf ihn eingewirkt hatten, wird
+wohl kaum festgestellt werden knnen, indes wird
+man nicht fehlgehen, wenn man auf die Grfin
+Hatzfeldt und ihre Verbindungen schliet. Die
+Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein noch
+greres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben
+zu sehen, als dieser selbst; fr sie ging
+das Interesse am Sozialismus vollstndig auf im
+Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung
+sie berhaupt erst zum Sozialismus gekommen
+war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre
+groe Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie
+ihm zu Schritten riet, die wohl versprachen, seinem
+persnlichen Ehrgeiz Befriedigung zu verschaffen,
+die aber die Bewegung selbst im hchsten Grade
+kompromittieren konnten. Fr sie war eben die<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span>
+Bewegung Lassalle und Lassalle die Bewegung,
+sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille
+der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche
+uneigenntzigen Freunde sind indessen in der
+Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie
+aber obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung
+usw. in besonderen Klassenvorurteilen befangen
+und haben sie keinen eigenen selbstndigen
+Wirkungskreis, so wirkt ihre Frsorge zuweilen
+schlimmer als Gift. Sie bestrken den Gegenstand
+ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und
+Schwchen, sie reizen bestndig seine Empfindlichkeit,
+indem sie ihn auf jedes Unrecht aufmerksam
+machen, das ihm scheinbar geschehen;
+mehr als der Beleidigte selbst verzehren sie sich
+im Durst nach Rache fr dieses Unrecht, sie
+hetzen und schren und intrigieren &mdash; alles in
+bester Absicht, aber zum grten Schaden dessen,
+fr den es vermeintlich geschieht.</p>
+
+<p>Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite
+Frau, die Lassalle, so sehr sie ihm an Wissen
+und Energie nachstand, doch in bezug auf Erfahrung
+berlegen war. Wo seine Leidenschaft
+nicht im Wege stand, gab er viel auf ihren Rat;
+er mute doppelt auf ihn wirken, wo er seinen
+Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am
+Schlu seiner Laufbahn geschriebenen Briefe an
+die Grfin macht Lassalle dieser gegenber die
+Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die
+ihn zur Annahme des Prsidiums des Allgemeinen
+Deutschen Arbeitervereins veranlat habe. Das<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span>
+ist sicherlich nicht wrtlich zu nehmen. Lassalle
+htte wohl auch ohne die Grfin das Prsidium
+angenommen. Aber in solchen Situationen lt
+man sich besonders gern durch gute Freunde zu
+dem bestimmen, was man selbst mchte, weil es
+die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. Die
+Grfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt
+haben, und es liegt der Schlu mehr als
+nahe, da sie es mit Verweisung auf die Dinge
+getan haben wird, die sich in den oberen Regionen
+Preuens damals vorbereiteten. Es sei nur an
+die Erklrung Lassalles in seiner Verteidigungsrede
+im Hochverratsproze erinnert, da er schon
+vom ersten Tage, wo er seine Agitation begann,
+gewut habe, da Bismarck das allgemeine Wahlrecht
+oktroyieren werde, und an die weitere
+Erklrung, da, als er das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221;
+erlie, ihm &#8222;klar&#8221; war, da &#8222;groe
+auswrtige Konflikte bevorstehen, Konflikte,
+welche es unmglich machen, das Volk zu ignorieren&#8221;.
+Er stellt es zwar dort so hin, als ob
+dies jeder htte wissen mssen, der die Ereignisse
+mit sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen
+an Marx haben wir aber gesehen, wie sehr er
+sich bei seinen politischen Schritten durch die
+&#8222;Informationen&#8221; beeinflussen lie, die ihm aus
+&#8222;diplomatischen Quellen&#8221; ber die Vorgnge in
+Regierungskreisen zugingen.</p>
+
+<p>Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum
+des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
+sicherlich noch mehr enttuscht worden, als<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span>
+Lassalle selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang
+auf die Mittel der Intrige und stillen Diplomatie
+abgerichtet, mute sie auch jetzt darauf
+verfallen, hinten herum das zu erreichen, was
+auf dem Wege des offenen Kampfes sich als
+so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben
+fand sie an Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er
+sich einmal als Ziel gesetzt, um jeden Preis zu
+erzwingen, an seinem rcksichtslosen Temperament
+und seinem hochgradigen Selbstgefhl nur
+zu bereitwillige Untersttzung. Inwieweit damals
+schon die Fden angeknpft waren, die spter
+Lassalle ins Palais des Herrn von Bismarck fhrten,
+lt sich heute nicht mehr feststellen, aber
+sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die
+Rede &#8222;Die Feste, die Presse usw.&#8221; fr den Druck
+niederschrieb, an seinen Freund Levy richtete:
+&#8222;Was ich da schreibe, schreibe ich blo fr ein
+paar Leute in Berlin,&#8221; als auch vor allem der
+Inhalt der Rede selbst beweisen, da an diesen
+Fden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die
+Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei,
+die teilweise sehr bertrieben sind,
+whrend dagegen dem Minister Bismarck unumwunden
+geschmeichelt wird. Hatten bis dahin
+stets der Demokrat und der Sozialist in Lassalle
+die demagogische Ader in ihm gemeistert, so
+meistert hier der Demagoge die ersteren.</p>
+
+<p>Im Juni 1863 hatte die preuische Regierung,
+nachdem sie den Landtag nach Hause geschickt,
+die berchtigten Preordonnanzen erlassen, welche<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span>
+die Verwaltungsbehrden ermchtigten, nach vorheriger
+zweimaliger Verwarnung das fernere Erscheinen
+irgendeiner inlndischen Zeitung oder
+Zeitschrift &#8222;wegen fortdauernder, die ffentliche
+Wohlfahrt gefhrdender Haltung zeitweise oder
+dauernd&#8221; zu verbieten. Die liberale Presse, ausschlielich
+in den Hnden von Privatunternehmern,
+hatte daraufhin meist es vorgezogen, whrend der
+Dauer der Preordonnanzen berhaupt nichts
+mehr ber die innere Politik zu schreiben. Das
+war gewi nichts weniger als tapfer, aber es
+war auch nicht so schlimmer Verrat an der eigenen
+Sache als wie Lassalle es hinstellt. Lassalle
+bersah geflissentlich, da Bismarcks Absicht
+beim Erla der Preordonnanz eben gewesen
+war, die ihm verhaten Bltter der Opposition
+geschftlich zu ruinieren, um seine eigene oder
+eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen.
+In der Begrndung der Preordonnanz hatte es
+ausdrcklich geheien:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Die positive Gegenwirkung gegen die Einflsse
+derselben (d.&nbsp;h. der liberalen Presse)
+vermittelst der konservativen Presse kann schon
+deshalb den wnschenswerten Erfolg nur teilweise
+haben, weil die meisten der oppositionellen
+Organe durch eine langjhrige Gewhnung
+des Publikums und durch die industrielle
+Seite der betreffenden Unternehmungen eine
+Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu
+bekmpfen ist.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span></p>
+
+<p>Wenn also die liberalen Bltter es nicht darauf
+ankommen lieen, verboten zu werden, so erhielt
+die Regierung auch keine Mglichkeit, andere
+Bltter an deren Stelle einzuschmuggeln oder
+jenen die Annoncen abspenstig zu machen. Der
+eine Zweck der Maregel wurde also gerade
+durch dies zeitweilige Schweigen ber die innere
+Politik vereitelt. Nicht minder aber auch der
+zweite, direkt politische Zweck. Lassalle meint
+in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich
+htte verbieten lassen, wenn der Spiebrger nicht
+mehr beim Frhstck seine gewohnte Zeitung bekommen
+htte, dann wrde die Erbitterung ber
+die Preordonnanzen im Volke aufs hchste gesteigert
+worden sein und die Regierung sich gezwungen
+gesehen haben, nachzugeben. Indes, die
+Erbitterung war nicht minder gro, wenn der
+Spieer zwar seine gewohnte Zeitung forterhielt,
+aber ihm zugleich Tag fr Tag am Inhalt derselben
+vordemonstriert wurde, da seinem Organ
+ein Knebel angelegt war, wenn er zwar sein Blatt,
+aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.</p>
+
+<p>Zudem war die Preordonnanz eine Maregel,
+die nicht aufrechtzuerhalten war, sobald der Landtag
+wieder zusammentrat. Es handelte sich um
+ein Provisorium, und die liberalen Bltter hatten
+gar keine Ursache, whrend desselben, Bismarck
+zuliebe &mdash; wie Lassalle es ausdrckt &mdash; &#8222;mit
+Ehren zu sterben&#8221;.</p>
+
+<p>Die Wut der Regierung war denn auch eine
+nicht geringe, und ihre Organe spiegelten diese<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span>
+Wut natrlich entsprechend wieder. Lassalle
+drckt das so aus, da er sagt: &#8222;Selbst (!) die
+reaktionren Bltter wuten damals ihrem Erstaunen
+und ihrer Entrstung ber dieses Gebaren
+kaum hinreichenden Ausdruck zu geben.&#8221;
+Und er zitiert als Beweis die &#8222;Berliner Revue&#8221;,
+das Organ des reaktionrsten Muckertums.</p>
+
+<p>Natrlich benutzten die Reaktionre die Finte,
+ihren Angriffen auf die liberale Presse ein sozialistisches
+Mntelchen umzuhngen, sich zu gebrden,
+als ob sie ihres kapitalistischen Charakters
+halber angriffen. Statt jedoch gegen diese Flschung
+des sozialistischen Gedankens zu protestieren
+und jede Solidaritt mit ihren Urhebern
+zurckzuweisen, leistete Lassalle dem Spiel der
+Bismrcker noch Vorschub, indem er ihre Blechmnzen
+den Arbeitern als echtes Gold ausgab.</p>
+
+<p>Gewi ist die Tatsache, da die Presse heute
+ein Geldgeschft ist, ein groer belstand, ein
+mchtiger Faktor der Korruption des ffentlichen
+Lebens. Dem ist aber, solange berhaupt das
+kapitalistische Privateigentum besteht, schwerlich
+abzuhelfen, &mdash; am allerwenigsten durch beschrnkende
+Gesetze des selbst noch kapitalistisch
+geleiteten Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen
+werden kann, wird sie durch die Freiheit
+der Presse ermglicht. Davon aber wollte
+die preuische Regierung nichts wissen, und
+Lassalle untersttzte ihren Widerstand noch, indem
+er zwar fr volle Prefreiheit eintrat, aber
+zugleich erklrte, da diese ohnmchtig sein<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span>
+wrde, das Wesen der Presse umzuwandeln, wenn
+nicht zugleich der Presse das Recht entzogen
+wrde, Annoncen zu bringen. Mit letzterem wrde
+die Presse nmlich aufhren, eine lukrative Geldspekulation
+zu sein, und wrden wieder nur solche
+Mnner Zeitungen schreiben, welche fr das Wohl
+und das geistige Interesse des Volkes kmpfen.</p>
+
+<p>Braucht es noch eines besonderen Nachweises,
+wie absolut wirkungslos dieses Mittel wre?
+Lassalle htte nur seine Blicke ber den Grenzbereich
+des preuischen Staates hinaus nach England
+und Frankreich zu richten brauchen, um sich
+von der Verkehrtheit seiner Idee zu berzeugen.
+In England bildete und bildet heute noch das
+Annoncenwesen eine sehr wesentliche Einnahmequelle
+der Presse, whrend in Frankreich den
+Blttern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht
+direkt verboten, aber durch eine hohe Steuer fast
+unmglich gemacht, auf ein Minimum reduziert
+war. War deshalb die franzsische Presse besser
+als die englische? Weniger im Dienst des Kapitalismus,
+weniger korrumpiert als jene? Mit
+nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte
+es im Gegenteil dem Bonapartismus sehr wesentlich
+erleichtert, die Presse fr seine Zwecke zu
+korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische
+Presse Frankreichs nicht verhindert, der
+hohen Finanz in viel hherem Grade dienstbar
+zu sein, als es die politische Presse Englands war.</p>
+
+<p>Immerhin berhrte Lassalle in diesem Teil
+seiner Rede wenigstens eine Frage, die in der<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span>
+Tat ab ein wunder Punkt des modernen ffentlichen
+Lebens bezeichnet werden mu. War der
+Zeitpunkt auch schlecht gewhlt, war das Heilmittel
+auch von problematischem Wert, an und
+fr sich bleibt die Tatsache, da die Presse, ob
+mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein kapitalistisches
+Institut wird, ein Krebsschaden, auf
+den die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt
+werden mu, soll sie sich vom Einflu der
+Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend
+aber war, was Lassalle ber die Feste
+sagt, welche die Fortschrittler 1863 Bismarck
+zum Trotz abhielten. Er wute doch wohl, da
+die Feste weiter nichts waren, als Agitationsversammlungen,
+als Demonstrationen gegen die
+Regierung, wie sie in Frankreich und England
+unter hnlichen Verhltnissen auch veranstaltet
+worden waren. Wollte er sie kritisieren, so mute
+er hervorheben, da mit den Festen allein noch
+nichts getan war, da, wenn es bei ihnen blieb,
+die Sache des Volks gegen die Regierung um
+keinen Schritt gefrdert wurde. Statt dessen beschrnkte
+er sich darauf, die Redensarten der
+Regierungspresse ber die Feste zu wiederholen,
+den Hohn, unter dem diese ihren rger zu verbergen
+suchte, noch zu berbieten. Niemand,
+der die Geschichte der preuischen Verfassungskmpfe
+des Jahres 1863 genauer kennt, wird
+diese Stelle der Lassalleschen Rede lesen knnen,
+ohne sie zu mibilligen.</p>
+
+<p>Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im<span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span>
+Sommer 1863 zu Frankfurt&nbsp;a.&nbsp;M. zusammengetretenen
+Deutschen Abgeordnetentages, wre
+berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in
+demselben Augenblick, wo er den Fortschrittlern
+einen Vorwurf daraus machte, da sie mit den
+deutschen Frsten liebugelten, um Herrn von
+Bismarck bangezumachen &mdash; wir haben gesehen,
+wie er ihnen im &#8222;Offenen Antwortschreiben&#8221;
+das &#8222;Dogma von der preuischen Spitze&#8221; vorgeworfen
+und Preuen als den reaktionrsten
+der deutschen Staaten hingestellt hatte &mdash; wenn
+Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits
+ein gleiches Spiel getrieben htte, wie die Fortschrittler,
+nur da er nach der andern Seite hin
+liebugelte. Seine ganze Rede enthlt keine Silbe
+gegen Bismarck und die preuische Regierung,
+wohl aber eine ganze Reihe direkter und indirekter
+Schmeicheleien an deren Adresse. Er lt sie
+&#8222;mit dem ruhigen Lcheln tatschlicher Verachtung&#8221;
+ber die Beschlsse der Kammer hinweggehen,
+und er stellt Bismarck das Zeugnis
+aus, er sei &#8222;ein Mann&#8221;, whrend die Fortschrittler
+alte Weiber seien. Noch ein Passus der Rede
+zeugt von der vernderten Frontrichtung Lassalles.</p>
+
+<p>Der Fhrer des Nationalvereins, Herr von
+Bennigsen, hatte den Abgeordnetentag mit folgenden
+Worten geschlossen, und es ist ganz gut,
+wieder einmal daran zu erinnern: &#8222;Die Leidenschaft
+der Volkspartei und die Verstocktheit der
+Regierenden habe schon oft zu revolutionren
+Umwlzungen gefhrt. Aber das deutsche Volk<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span>
+sei nicht blo einmtig, sondern auch so gemigt
+bei seinen Ansprchen, da die deutsche nationale
+Partei, die keine Revolution wolle und keine
+machen kann, keine Verantwortung dafr habe,
+wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, welche,
+weil keine Reform mehr mglich, zu der Umwlzung
+greife.&#8221;</p>
+
+<p>Fr jeden, der lesen kann, ist diese Erklrung
+eine zwar recht lendenlahme Drohung, aber doch
+eine Drohung mit der Revolution. &#8222;Wir wollen
+keine Revolution, o Gott behte, wir waschen
+unsere Hnde in Unschuld, aber wenn ihr nicht
+nachgebt, dann wird sie doch kommen, und dann
+habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.&#8221; Eine,
+wenn man wirklich die ganze Nation hinter sich
+hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider zugleich
+auch sehr gebruchliche Art zu drohen &mdash; so
+gebruchlich, da, wie gesagt, ber den Sinn
+der Erklrung gar kein Miverstndnis mglich
+war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als
+ob er die Drohung nicht verstanden habe, und
+er stellt sich so, nicht etwa, um die Fortschrittler
+zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern,
+sondern um ihnen zu drohen fr den Fall, da
+es zu einer Revolution oder einem Staatsstreich
+kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch
+des Herrn von Bennigsen und lt ihm das nachstehende
+Pronunziamento folgen: &#8222;Erheben wir
+also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn
+jemals dieser Umschwung, sei es auf diesem,
+sei es auf jenem Wege kme, es den Fortschrittlern<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span>
+und Nationalvereinlern gedenken zu
+wollen, da sie bis zum letzten Augenblicke erklrt
+haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet
+euch dazu, hebt eure Hnde empor.&#8221;</p>
+
+<p>Und &#8222;die ganze Versammlung erhebt in groer
+Aufregung ihre Hnde&#8221;, heit es in dem, von
+Lassalle selbst redigierten Bericht ber die Rede.</p>
+
+<p>Was sollte diese Drohung, dieses &#8222;Gedenken&#8221;
+bedeuten? Es war kaum eine andre Auslegung
+mglich, ab da man die Fortschrittler, wenn
+nicht direkt angreifen, so doch im Stich lassen
+wollte, wenn es &#8222;auf diesem oder jenem Wege&#8221;
+zum gewaltsamen Zusammensto kommen sollte.
+Eine solche Drohung in diesem Moment konnte
+aber nur die eine Wirkung haben, die Fortschrittler,
+statt sie vorwrtszutreiben, erst recht
+kopfscheu zu machen.</p>
+
+<p>In einer der Versammlungen, in Solingen, kam
+es zu blutigen Konflikten. Eine Anzahl Fortschrittler,
+die versucht hatten, Lassalle zu unterbrechen,
+wurden von exaltierten Anhngern desselben
+mit Messerstichen bedacht. Auf Grund
+dieser Vorkommnisse lste der Brgermeister eine
+halbe Stunde spter die Versammlung auf, worauf
+Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch ber das
+andere ausbringenden Menge zum Telegraphenbureau
+eilte und das bekannte Telegramm an
+Bismarck aufgab, das mit den Worten beginnt:
+&#8222;Fortschrittlicher Brgermeister hat soeben an
+der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten
+Gendarmen und mehreren Polizisten<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span>
+mit gezogenem Sbel von mir einberufene Arbeiterversammlung
+ohne jeden gesetzlichen Grund
+aufgelst&#8221;, und mit der &#8222;Bitte um strengste,
+schleunigste, gesetzliche Genugtuung&#8221; schlo.</p>
+
+<p>Auch wenn man alles in Betracht zieht, was
+zu Lassalles Entschuldigung angefhrt werden
+kann: seine Erbitterung ber die ihm von seiten
+der Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine
+Enttuschung ber die verhltnismig geringen
+Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen Widerwillen
+gegen die feige Taktik der Fortschrittler,
+seine einseitige, aber doch aufrichtige Gegnerschaft
+gegen die liberale Wirtschaftslehre &mdash; kurz,
+wenn man sich noch so sehr in seine damalige
+Lage hineindenkt, so geht doch aus diesem Telegramm,
+in Verbindung mit der vorstehend geschilderten
+Rede, eines unbestreitbar hervor &mdash;
+da Lassalle, als er nach Deutschland zurckkam,
+bereits seinen inneren Halt &mdash; wenn ich mich
+so ausdrcken darf: seinen Standpunkt verloren
+hatte. Ein solches Telegramm htte man keinem
+Konservativen verziehen, geschweige denn einem
+Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionr genannt,
+und der seiner inneren berzeugung nach
+sicherlich sich noch fr einen solchen hielt. Wenn
+nicht andre Erwgungen, so htte das einfachste
+Taktgefhl Lassalle verbieten mssen, sich zu
+einem Appell an die Staatsgewalt herbeizulassen,
+der mit einer politischen Denunziation begann.</p>
+
+<p>Und wenn man selbst dieses Telegramm noch
+mit der durch die Auflsung der Versammlung<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span>
+hervorgerufenen Erregung entschuldigen knnte,
+so folgten ihm bald andre, bei kltester berlegung
+unternommene Schritte, die ebenfalls den
+politischen Grundstzen, als deren Vertreter
+Lassalle auftrat, schnurstracks entgegenstanden.
+Hier nur ein Beispiel, das zudem in enger Verbindung
+mit den vorerwhnten Vorkommnissen steht.</p>
+
+<p>Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung
+vom Messer Gebrauch gemacht haben sollten,
+waren im Frhjahr 1864 zu mehrmonatigen Gefngnisstrafen
+verurteilt worden. Und da war es
+Lassalle, der allen Ernstes und wiederholt den
+Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, untersttzt
+durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein
+Gnadengesuch an den Knig von Preuen richten.
+Man denke, Lassalle, der noch einige Jahre zuvor
+geschrieben hatte (vgl.&nbsp;S.&nbsp;88 dieser Schrift), er
+habe zu seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen,
+&#8222;wie wenig entmonarchisiert&#8221; das Volk in Preuen
+sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen
+hatte: &#8222;Ich habe keine Lust und keinen
+Beruf, zu andern zu sprechen, als zu Demokraten&#8221;,
+er, der als Fhrer der neuen Bewegung
+doch vor allem die Pflicht hatte, seinen Anhngern
+das Beispiel demokratischen Stolzes zu
+geben, ermuntert sie, vom Knig von Preuen
+Begnadigung zu erbetteln. Indes, die Arbeiter
+zeigten sich hier taktfester als ihr Fhrer. Am
+20. April 1864 meldet der Solinger Bevollmchtigte
+Klings, da gegen Lassalles Vorschlag allgemeine<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span>
+Abneigung herrsche. Smtliche Hauptmitglieder
+des Vereins htten sich dagegen ausgesprochen.
+&#8222;Die beiden von hier Verurteilten
+gehren zu der entschiedensten Arbeiterpartei und
+wrden, selbst wenn es vier Jahre wren, nicht
+zu bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen,
+weil es ihren Gesinnungen widerstreitet, Sr. Majestt
+verpflichtet zu sein.&#8221;</p>
+
+<p>Dieser Widerstand erweckte das demokratische
+Gewissen Lassalles, und er schrieb an Klings,
+die Weigerung der Leute erflle ihn mit groem
+Stolz. Aber den Gedanken der Adresse an den
+Knig gab er noch immer nicht auf, sondern suchte
+nachzuweisen, da diese auch ohne das Gnadengesuch
+der Verurteilten von groem Nutzen sein
+knne. Es kann, heit es wrtlich, &#8222;vielleicht
+auch noch folgender Nutzen eintreten, da, wenn
+die Adresse von mehreren tausend Arbeitern
+unterschrieben ist, man diesem Schritte oben
+eine &mdash; fr uns ganz unverbindliche &mdash; Auslegung
+gibt, durch welche man sich um so mehr
+ermutigt fhlt, bei kommender Gelegenheit an
+die Oktroyierung des allgemeinen und direkten
+Wahlrechts zu gehen: ein Schritt, den man, wie
+Ihnen der beigefgte Leitartikel der ministeriellen
+Zeitung (die damals verffentlichte Sternzeitung)
+zeigt, oben jetzt gerade wieder hin und her berlegt&#8221;.
+Indes auch diese Perspektive vermochte
+die Solinger nicht von der Richtigkeit des empfohlenen
+Schrittes zu berzeugen, und so blieb
+der Bewegung diese Blostellung erspart.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span></p>
+
+<p>Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin
+zurckkehrte, ging er zunchst mit allem Eifer
+daran, die Hauptstadt fr seine Sache zu erobern.
+Er verfate einen Aufruf &#8222;An die Arbeiter
+Berlins&#8221;, lie ihn in 16000 Exemplaren abziehen
+und einen Teil davon unentgeltlich unter
+den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der
+Aufruf sehr wirksam geschrieben ist und namentlich
+geschickt an die entstellten Berichte der
+Berliner fortschrittlichen Presse (&#8222;Volkszeitung&#8221;
+und &#8222;Reform&#8221;) ber die rheinischen Versammlungen
+anknpft, war der Erfolg doch zunchst
+ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen
+Lassalles in Berlin fanden in kleineren
+Slen statt und gaben zu allerhand Gesptt Anla,
+und als in der ersten greren Versammlung
+Lassalle auf Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft
+verhaftet wurde, klatschten fanatisierte
+Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit
+der Personen, die sich als Neugierige oder
+unter dem Eindruck der Vortrge Lassalles in
+die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen bald
+wieder ab, so da der Verein, der Anfang
+Dezember 1863 es bis auf ber 200 Mitglieder
+in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 kaum
+noch drei Dutzend Mitglieder zhlte, wovon obendrein
+ein groer Teil Nichtarbeiter waren.</p>
+
+<p>Neben der Agitation beschftigten Lassalle
+auch sehr stark seine Prozesse und sonstigen
+Kmpfe mit den Behrden. Denn so angenehm
+dem Ministerium Bismarck auch seine Agitation<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span>
+war, soweit diese sich gegen die Fortschrittspartei
+kehrte, so wute es doch sehr gut, da es in
+Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfhriges
+Werkzeug gebrauchen lie. Es konnte
+ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren
+Behrden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw.
+zu berschtten. Dadurch kam es in die Lage,
+entweder zur rechten Zeit einen unbequemen
+Drnger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch
+&#8222;mrbe&#8221; zu bekommen. Wie dem jedoch sei,
+die Staatsanwaltschaft in Dsseldorf lie die Rede
+&#8222;Die Feste, die Presse usw.&#8221; konfiszieren und
+erhob gegen Lassalle Anklage auf Verletzung der
+ 100, 101 des Preuischen Strafgesetzbuches
+(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen
+behufs Herabsetzung von Anordnungen
+der Obrigkeit). Der Proze verursachte Lassalle
+unendlich viel Scherereien und endete, nachdem
+Lassalle in erster Instanz in contumaciam zu
+einem Jahr Gefngnis verurteilt worden war, mit
+seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs
+Monaten Gefngnis. Wegen der Flugschrift &#8222;An
+die Arbeiter Berlins&#8221; erhob die Staatsanwaltschaft
+in Berlin Anklage wegen Hochverrats
+gegen Lassalle und lie auch, wie bereits erwhnt,
+Lassalle in Untersuchungshaft nehmen, aus
+der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde.
+Beides, Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten
+indes der persnlichen Rachsucht des Staatsanwalts
+von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein
+Jahr vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span>
+so bs zerzaust hatte. In der Gerichtsverhandlung,
+die am 12. Mrz 1864 vor dem
+Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte
+der Staatsanwalt nicht weniger als drei Jahre
+Zuchthaus und fnf Jahre Polizeiaufsicht gegen
+Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit
+die Anklage auf Hochverrat lautete, auf Freisprechung
+und berwies die Behandlung der untergeordneteren,
+von der Staatsanwaltschaft behaupteten
+Verste gegen das Strafgesetz der
+zustndigen Gerichtsabteilung.</p>
+
+<p>Die Verteidigungsrede in diesem Proze ist
+ein wichtiges Dokument fr die Geschichte der
+Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf
+sie eingehen, haben wir noch der groen sozialpolitischen
+Arbeit Lassalles zu erwhnen, die
+Ende Januar 1864 die Presse verlie und als sein
+propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden
+mu. Es ist dies die Streitschrift &#8222;Herr Bastiat-Schulze
+von Delitzsch, der konomische Julian,
+oder Kapital und Arbeit&#8221;.</p>
+
+<p>Es wurde gelegentlich bereits der Vortrge erwhnt,
+die Schulze-Delitzsch im Frhjahr 1863 im
+Berliner Arbeiterverein hielt und unter dem Titel
+&#8222;Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus&#8221;
+als Gegenschrift gegen die Lassallesche
+Agitation verffentlichte. Diese, aus den plattesten
+Gemeinpltzen der liberalen konomie zusammengesetzten
+Vortrge nun boten Lassalle eine willkommene
+Handhabe, den auf der Hhe seines
+Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span>
+Partei, die in ihm ihren konomischen Heros
+verehrte, jetzt auch theoretisch zu vernichten. Bercksichtigt
+man, da Lassalle zu systematischen
+konomischen Arbeiten nicht gekommen war,
+sondern gerade in dem Moment, wo er sich an
+die Vorarbeiten zu seinem konomischen Werk
+machen wollte, durch die praktische Agitation
+davon abgelenkt wurde, und zieht man auerdem
+in Betracht, da Lassalle, whrend er den
+&#8222;Bastiat-Schulze&#8221; schrieb, durch seine Prozesse
+und die Arbeiten fr die Leitung des Vereins
+fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann
+man nicht umhin, in diesem Buch einen neuen
+Beweis fr das auergewhnliche Talent, die
+staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizitt des
+Lassalleschen Geistes zu erblicken. Freilich trgt
+der &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; daneben auch aufs deutlichste
+die Spuren seines Entstehens. So sehr
+die Form der Polemik der Popularitt der Schrift
+zugute kommt, sind die Umstnde, unter denen
+diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit
+Lassalles, die um so grer war, als Lassalle
+wohl selbst fhlte, da er immer mehr in eine
+falsche Position geriet &mdash; die Enttuschung einerseits,
+und das Bestreben, sich ber diese Enttuschung
+selbst hinwegzutuschen, andererseits,
+dem Ton der Polemik sehr verhngnisvoll gewesen.
+Aber auch inhaltlich ist sie keineswegs
+immer auf der Hhe des Gegenstandes, sondern
+verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die
+obendrein nicht einmal immer in der Sache zutrifft<a name="FNAnker_31_31" id="FNAnker_31_31"></a><a href="#Fussnote_31_31" class="fnanchor">[31]</a>.<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span>
+Dazu ist der sachliche und theoretische
+Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht
+frei von Widersprchen. Als Ganzes genommen
+hat der &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; jedoch das groe Verdienst,
+den historischen Sinn und das Verstndnis
+fr die tieferen Probleme der konomie unter
+den deutschen Arbeitern in hohem Grade gefrdert
+zu haben. Stellenweise erhebt sich die
+Darstellung auf die Hhe des Besten, was Lassalle
+je geschrieben hat, an diesen Stellen leuchtet sein
+Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Lassalle_und_Bismarck" id="Lassalle_und_Bismarck">Lassalle und Bismarck.</a></h2>
+
+
+<p>Was Lassalle nach dem &#8222;Bastiat-Schulze&#8221; gesprochen
+und geschrieben hat, trgt immer deutlicher
+die Zge der inneren Ermattung, der
+geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr
+die ursprngliche, das natrliche Produkt des
+Glaubens an die eigene Kraft und die Strke<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span>
+der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine
+erzwungene. Man vergleiche das &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;
+mit der Ronsdorfer Rede, die Verteidigungsrede
+&#8222;Die Wissenschaft und die Arbeiter&#8221;
+mit der Verteidigungsrede im Hochverratsproze,
+und man wird das hier Gesagte verstehen.
+Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrcke
+treten an ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt
+die zwingende logische Beweisfhrung, und statt
+zu berzeugen, verlegt sich Lassalle immer mehr
+auf das berschreien. Was er vor kurzem noch
+den Fortschrittlern vorgeworfen, tut er jetzt
+selbst &mdash; er berauscht sich in erdichteten Erfolgen.</p>
+
+<p>Im Hochverratsproze braucht Lassalle zu
+seiner Verteidigung gegen die Behauptung der
+Anklage, da der Hintergedanke seiner Agitation
+die schlieliche Anwendung der physischen Gewalt
+sei, mit groem Geschick das Bild des Schillerschen
+Wallenstein am Vorabend von dessen bertritt
+zu den Schweden und zitiert die Verse des
+Monologs im ersten Akt von &#8222;Wallensteins Tod&#8221;:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Wr's mglich? &mdash; knnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?<br /></span>
+<span class="i0">Nicht mehr zurck, wie mir's beliebt?&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Es ist merkwrdig, wie sehr diese Verse auf
+Lassalles eigene Situation um jene Zeit passen,
+wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser
+jene Worte sprach, hnlich war. Auch er hatte,
+wie der Friedlnder &mdash; um sein eigenes Bild zu
+brauchen &mdash; &#8222;Dinge getan, welche er deux<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span>
+mains verwenden konnte&#8221;. Er hatte sich nicht
+damit begngt, die Vorgnge in der inneren und
+ueren Politik objektiv zu studieren, um den
+gnstigen Moment zur Aktion fr seine Plne
+auszuntzen, er war bereits dazu bergegangen,
+mit dem Vertreter der einen der Mchte, gegen
+die er kmpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn
+von Bismarck in direkte Unterhandlung getreten.
+Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein
+sagen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Noch ist sie rein &mdash; noch! das Verbrechen kam<br /></span>
+<span class="i0">Nicht ber diese Schwelle noch!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen.
+Aber war er auch innerlich noch frei? Konnte
+nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu
+treiben, die &#8222;Tat&#8221; zu vollbringen, weil er &#8222;nicht
+die Versuchung von sich wies&#8221;?</p>
+
+<p>Da Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte
+und eingehende Besprechungen unter vier Augen
+mit dem damaligen Herrn von Bismarck hatte,
+ist heute ber jeden Zweifel sichergestellt. Die
+langjhrige Vertraute Lassalles, die Grfin
+Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer 1878,
+als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die
+deutsche Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner
+Initiative Vertretern derselben unter Hinzufgung
+der nheren Umstnde mitgeteilt, und als August
+Bebel in der schon erwhnten Sitzung vom
+16. September 1878 die Sache im deutschen
+Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck
+tags darauf zu, Zusammenknfte mit Lassalle gehabt<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span>
+zu haben, und suchte nur in Abrede zu stellen,
+da es sich dabei um politische Verhandlungen
+gedreht habe. Bebel hatte, gesttzt auf die Mitteilungen
+der Grfin Hatzfeldt, gesagt: &#8222;Es
+drehte sich bei diesen Unterhaltungen und Unterhandlungen
+um zweierlei, erstens um Oktroyierung
+des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um
+die Gewhrung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften.
+Frst Bismarck war fr diesen
+Plan von Lassalle vollstndig gewonnen, er
+weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort
+mit der Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts
+vorzugehen, bevor nicht der schleswig-holsteinische
+Krieg glcklich zu Ende gefhrt worden sei.
+Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden
+tiefe Differenzen zwischen Lassalle und dem
+Frsten Bismarck, und es war nicht etwa der
+letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach,
+sondern es war, wie ich ausdrcklich konstatieren
+mu, Lassalle, der den Bruch herbeifhrte und
+erklrte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht
+einlassen zu knnen.&#8221; Darauf antwortete nun
+Bismarck: &#8222;Unsre Unterhaltungen drehten sich
+gewi auch um das allgemeine Wahlrecht, unter
+keinen Umstnden aber jemals um eine Oktroyierung
+desselben. Auf einen so ungeheuerlichen Gedanken,
+das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung
+einzufhren, bin ich in meinem Leben nicht
+gekommen.&#8221; Er habe es &#8222;mit einem gewissen
+Widerstreben&#8221;, als &#8222;Frankfurter Tradition&#8221; akzeptiert.
+Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe,<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span>
+so sei er &#8222;von deren Unzweckmigkeit
+noch heute nicht berzeugt&#8221;. Nur htten die
+damals eingetretenen politischen Ereignisse die
+Fortfhrung der in dieser Hinsicht angebahnten
+Versuche nicht gestattet. brigens habe nicht
+er, sondern Lassalle diese Zusammenknfte gewnscht,
+ihn brieflich darum gebeten, und er,
+Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu
+herbeigelassen, Lassalles Wnschen zu willfahren.
+&#8222;Was htte mir Lassalle bieten und geben
+knnen? Er hatte nichts hinter sich. In allen
+politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich
+gebe, damit du gibst) eine Sache, die im Hintergrunde
+steht, auch wenn man anstandshalber nicht
+davon spricht. Wenn man sich aber sagen mu,
+was kannst du armer Teufel geben? &mdash; Er hatte
+nichts, was er mir als Minister htte geben knnen.&#8221;</p>
+
+<p>Es liegt auf der Hand, da der Mann, der
+&#8222;offiziell noch nie gelogen&#8221; hat, hier mit der
+Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer
+bloen Unterhaltung willen wre Lassalle nicht
+zum Minister gegangen, und wrde dieser nicht
+den &#8222;revolutionren Juden&#8221; wiederholt &mdash; er
+selbst gesteht, da es viermal gewesen sein knne,
+whrend Sophie Hatzfeldt behauptet hatte, da
+es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche
+gewesen sei &mdash; zu sich gebeten und mit ihm
+stundenlang disputiert haben. Weiter braucht man
+nur die Reden der Regierungsvertreter in der
+Kammer und die Artikel in der Regierungspresse
+aus jener Epoche nachzulesen, um sich zu berzeugen,<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span>
+wie stark sich das Ministerium Bismarck
+damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine
+Wahlrecht einzufhren, und dazu gab es unter
+den obwaltenden Umstnden kaum einen anderen
+Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst
+zitiert in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof
+einige derartige uerungen und
+knpft daran im weiteren Verlauf die bekannten
+Erklrungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenknfte
+mit Bismarck bekannt geworden,
+richtig gewrdigt werden knnen:</p>
+
+<p>&#8222;Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine
+und direkte Wahlrecht herstellen und
+somit die Verfassung strzen zu wollen!</p>
+
+<p>Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher
+Privatmann, kann ich Ihnen sagen: ich will nicht
+nur die Verfassung strzen, sondern es vergeht
+vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie
+gestrzt!</p>
+
+<p>Aber wie? Ohne da ein Tropfen Blutes geflossen,
+ohne da eine Faust zur Gewalt sich
+geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr
+mehr, so ist in der friedlichsten Weise von
+der Welt das allgemeine und direkte Wahlrecht
+oktroyiert.</p>
+
+<p>Die starken Spiele, meine Herren, knnen gespielt
+werden, Karten auf dem Tisch! Es ist
+die strkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen
+mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil
+sie auf erzene Notwendigkeit gegrndet sind.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p>
+
+<p>Und so verkndige ich Ihnen denn an diesem
+feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr
+vergehen &mdash; und Herr von Bismarck hat die Rolle
+Robert Peels gespielt, und das allgemeine und
+direkte Wahlrecht ist oktroyiert!&#8221;</p>
+
+<p>Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von
+Anfang an gewut, &#8222;schon an dem ersten Tage,
+an welchem ich durch den Erla meines Antwortschreibens
+diese Agitation begann, und es
+konnte niemand entgehen, der mit klarem Blick
+die Situation auffate&#8221;. Aber wenn es auch
+zweifelsohne richtig ist, da man schon im Winter
+1862/63 in Regierungskreisen die Frage in Betracht
+zog, ob es mglich sei, durch eine nderung
+des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit
+zu sprengen, und zu diesem Behufe in
+sozialer Frage zu machen begann<a name="FNAnker_32_32" id="FNAnker_32_32"></a><a href="#Fussnote_32_32" class="fnanchor">[32]</a>, so wrde
+Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit
+von einer bevorstehenden Oktroyierung des<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span>
+allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben und
+immer wieder darauf zurckgekommen sein, wenn
+er nicht aus seinen Unterhaltungen mit Bismarck
+die berzeugung gewonnen htte, da, ob nun
+vor oder nach Beendigung des dnischen Feldzuges,
+diese Oktroyierung beschlossene Sache sei.</p>
+
+<p>Mehr glaubwrdig ist es dagegen, wenn Bismarck
+bestreitet, da es zwischen ihm und Lassalle zu
+einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen
+schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drngen
+berzeugt hatte, da Bismarck noch abwarten
+wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt
+unternahm &mdash; und darum spricht Lassalle auch
+immer nur von einer mglicherweise binnen Jahresfrist
+erfolgenden Oktroyierung. Aber da die
+Verbindung noch nicht endgltig abgebrochen war,
+geht schon daraus hervor, da Lassalle fortfuhr,
+von allen seinen Verffentlichungen usw. durch
+das Sekretariat des &#8222;Allgemeinen deutschen Arbeitervereins&#8221;
+ein Doppelexemplar in verschlossenem
+Kuvert und mit der Aufschrift &#8222;persnlich&#8221;
+an Bismarck bersenden zu lassen.</p>
+
+<p>Ebenso kann man Bismarck auch glauben, da
+seine Verhandlungen mit Lassalle wegen des
+&#8222;do ut des&#8221; zu keinen bestimmten Abmachungen
+fhren konnten. Zwar stand die Sache nicht so,
+wie Bismarck sie nachtrglich protzenhaft mit der
+Phrase abtut: &#8222;Was kannst du armer Teufel
+geben? Er hatte nichts, was er mir als Minister
+htte geben knnen.&#8221; Bismarck hatte es zu jener
+Zeit gar nicht so ppig, da er nicht jede Hilfe<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span>
+brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm
+immerhin geben. Die Sache war nur die, da
+es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen
+Lassalles Drngen nachzugeben. Vielleicht ist das
+auch mit einer der Grnde, da Lassalle, der
+noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben
+hatte: &#8222;Sie knnen unsre Bevollmchtigten keine
+Unwahrheiten sagen lassen. Sie knnen sie also
+nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu
+sprechen, whrend wir vielleicht nicht 1000 haben.
+Man kann schweigen ber diesen Punkt, aber
+lgen schickt sich fr uns nicht&#8221; &mdash; nach seiner
+Rckkehr nach Berlin in geradezu krankhafter
+Weise seine Erfolge bertrieb. Er wollte um
+jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht
+gelang, mit wirklichen Massen aufzumarschieren.
+Aber Bismarck war durch andre Berichterstatter
+wahrscheinlich hinreichend darber informiert, wie
+es in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.</p>
+
+<p>Und dann hatte es mit dem &#8222;Geben&#8221; auch sonst
+seine eigne Bewandtnis. Bismarck war sich schwerlich
+auch nur einen Augenblick im unklaren darber,
+da er an Lassalle nur so lange und nur
+insoweit einen politischen Verbndeten haben
+wrde, solange dieses Bndnis im Interesse
+Lassalles und seiner politischen Zwecke lag &mdash;
+mit andern Worten, da Lassalle genau so mit
+ihm verfahren wrde, wie er mit ihm, d.&nbsp;h. sich
+unbarmherzig gegen ihn wenden wrde, sobald
+er das von ihm erreicht hatte, was er brauchte.
+Davon mute ihn die erste Unterredung mit<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span>
+Lassalle berzeugt haben, da dieser nicht, wie
+Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, &#8222;ein
+Fisch ohne Grten&#8221; war, sondern ganz gehrige
+Grten und Stacheln hatte. Mit der Aussicht auf
+ein Pstchen &mdash; von Geld gar nicht zu reden &mdash;
+war da nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht
+gegeben, konnte Lassalle leicht sehr unbequem
+werden, also warum sich bereilen? Die Agitation
+Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer
+schroffer und einseitiger gegen die liberale Partei,
+und das war vorderhand alles, was Bismarck
+brauchte.</p>
+
+<p>In seiner Verteidigungsrede &#8222;Die Wissenschaft
+und die Arbeiter&#8221;, gehalten am 16. Januar 1863,
+hatte Lassalle erklrt:</p>
+
+<p>&#8222;Kann man bei uns selbst nur sagen, da die
+Einfhrung des Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden
+Klassen, da sie dem deutschen Brgertum
+zur Last falle?... Die preuische Regierung
+ist es, nicht die besitzenden Klassen in Preuen,
+welche fr alle Zeiten und vor allem Volk die
+Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten
+Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.&#8221; Und:
+&#8222;Bourgeoisie und Arbeiter sind wir die Glieder
+eines Volkes und ganz einig gegen unsre Unterdrcker&#8221;
+&mdash; d.&nbsp;h. also gegen die Regierung.</p>
+
+<p>Vor dem Staatsgerichtshof aber &mdash; am 12. Mrz
+1864 &mdash; ist ihm der Verfassungskonflikt in
+Preuen nur noch der Kampf zwischen dem
+Knigtum und einer &#8222;Clique&#8221;. Dieser &#8222;Clique&#8221;
+knne das Knigtum nicht weichen, &#8222;vollkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span>
+wohl&#8221; aber knne es &#8222;das Volk auf die Bhne
+rufen und sich auf es sttzen. Es brauche sich
+hierzu nur seines Ursprungs zu erinnern, denn
+alles Knigtum ist ursprnglich Volksknigtum
+gewesen.&#8221;</p>
+
+<p>&#8222;Ein Louis-Philippsches Knigtum, ein Knigtum
+von der Schpfung der Bourgeoisie knnte
+dies freilich nicht; aber ein Knigtum, das noch
+aus seinem ursprnglichen Teige geknetet dasteht,
+auf den Knauf des Schwertes gesttzt, knnte
+das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist,
+wahrhaft groe, nationale und volksgeme Ziele
+zu verfolgen.&#8221;</p>
+
+<p>Das ist die Sprache des Csarismus, und im
+weiteren Verlaufe seiner Rede steigert Lassalle
+sie noch, indem er die bestehende Verfassung
+als eine vom Knigtum der Bourgeoisie erwiesene
+Gunst hinstellt. Niemand lasse aber &#8222;gern aus
+seiner eigenen Gunst ein Halsband drehen, an
+welchem er erwrgt wird, und das ist niemand
+zu verdenken, und daher auch dem Knigtum
+nicht&#8221;. Bestndig auf das angebliche &#8222;Recht&#8221;
+hingedrngt, habe sich das Knigtum &#8222;erinnert,
+da es mehr in seiner Stellung lge, sich auf das
+wirkliche Recht zurckzuziehen und das Volk auf
+die Bhne zu fhren, als einer Clique zu weichen
+und von einer Handvoll Personen sich aus seiner
+eignen Gunst ein Halsband winden zu lassen, an
+dem es erwrgt wird&#8221;. So wrde er, Lassalle,
+sprechen an dem Tage, wo das Knigtum die Verfassung
+gestrzt und das allgemeine Wahlrecht<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span>
+oktroyiert haben werde, wenn man ihn der
+intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes
+anklagte.</p>
+
+<p>Lassalle war bereits so weit, da er nicht nur
+durch die Tatsache seiner Agitation &mdash; was unter
+Umstnden nicht zu vermeiden ist &mdash; der Reaktion
+vorbergehend einen Dienst erwies, er verfiel
+auch immer mehr darin, die Sprache der
+Reaktion zu sprechen. Gewi konnte er noch
+immer mit Wallenstein ausrufen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&#8222;Beim groen Gott des Himmels! Es war nicht<br /></span>
+<span class="i0">Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!&#8221;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen
+Zwecken dienstbar machen, sie selbst aber im
+gegebenen Moment mit einem Ruck abschtteln
+zu knnen. In diesem Sinne nannte er auch einmal
+der Grfin Hatzfeldt gegenber Bismarck
+seinen &#8222;Bevollmchtigten&#8221;. Aber er verga, da
+es eine Logik der Tatsachen gibt, die strker
+ist als selbst der strkste individuelle Wille, und
+da, indem er berhaupt um den Erfolg spielte,
+statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu vertrauen
+und ausschlielich ihr seine Energie zu
+widmen, er nach seiner eignen Theorie die Bewegung
+selbst zum Teil bereits aufgab.</p>
+
+<p>In der Tat, um noch einmal auf den schon
+zitierten Aufsatz Lassalles ber die Grundidee
+seines &#8222;Franz von Sickingen&#8221; zurckzugreifen:
+mit der seit seiner Rckkehr aus den Bdern vollzogenen
+Schwenkung war Lassalle genau zu derselben
+Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span>
+als die &#8222;sittliche Schuld&#8221; Franz von Sickingens
+hingestellt hatte. Es ist merkwrdig, wie genau
+Lassalle dort sein eignes Schicksal vorgezeichnet
+hat. Auch er war auf die &#8222;sich realistisch dnkende
+Verstndigkeit&#8221; verfallen, revolutionre Zwecke
+durch diplomatische Mittel erreichen zu wollen, er
+hatte eine Maske vorgenommen, seinen Gegner &mdash;
+die preuische Regierung &mdash; zu tuschen, aber
+er tuschte tatschlich nicht diese, sondern die
+Massen des Volkes, ohne die er nichts war; die
+Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp
+persnlicher Anhnger beschrnkt. Und wie
+Lassalle von Sickingen schreibt, da &#8222;dieser
+groe Diplomat und Realist, der alles sorgsam
+vorherberechnet und den Zufall ganz ausschlieen
+will, gerade dadurch zuletzt gezwungen ist, dem
+zuflligsten Zufall alles anheim zu geben&#8221;, und,
+&#8222;whrend die Rechnung auf jene Tuschung durch
+den Anschein des Zuflligen und Unwesentlichen
+an der bewuten Natur des Bestehenden zugrunde
+gehen mu, die Entscheidung, statt wie er wollte,
+aus den Hnden des vorbereiteten, vielmehr aus
+denen des ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen
+mu&#8221;<a name="FNAnker_33_33" id="FNAnker_33_33"></a><a href="#Fussnote_33_33" class="fnanchor">[33]</a> &mdash; so sieht auch er,
+Lassalle, sich gezwungen, nunmehr blo noch mit
+dem Zufall zu rechnen, alles von zuflligen Konstellationen
+in der inneren und ueren Politik<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span>
+abhngig zu machen. Im Vertrauen auf seine
+realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte
+nicht, da beim Spiel derjenige die meisten
+Aussichten hat seinen Mitspieler lahmzulegen,
+der die meisten Trmpfe in der Hand &mdash; beim
+politischen Spiel, der ber die meisten tatschlichen
+Machtfaktoren zu gebieten hat. Und da
+das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck
+war, konnte es nicht ausbleiben, da er schlielich
+mehr Bismarcks, als dieser sein &#8222;Bevollmchtigter&#8221;
+wurde.</p>
+
+<p>Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer
+Ansprache, &#8222;die Agitation des Allgemeinen
+deutschen Arbeitervereins und das Versprechen
+des Knigs von Preuen&#8221; hielt. Es ist seine letzte
+und zugleich seine schwchste Agitationsrede, ausschlielich
+auf den ueren Effekt berechnet.
+Wie sehr sich Lassalle der Schwche dieser Rede
+bewut war, zeigt ihre von ihm selbst redigierte
+gedruckte Ausgabe mit den berall eingestreuten
+Vermerken ber den Effekt der einzelnen Stze &mdash; Krcken,
+deren ein Vortrag, der an Hand und
+Fu gesund ist, durchaus entbehren kann, und die
+den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar beeintrchtigen
+wrden. Aber die Ronsdorfer Rede
+weist keinen der Vorzge der ersten Agitationsreden
+Lassalles auf, potenziert dagegen deren
+Fehler.</p>
+
+<p>Die Rede ist nicht blo inhaltlich schwach,
+sie ist auch ihrer Tendenz nach tadelnswerter als
+alle Migriffe, die Lassalle bis dahin begangen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span></p>
+
+<p>Schlesische Weber hatten, durch die Not
+getrieben und durch die Sozialdemagogie der
+Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin
+geschickt, um beim Knig von Preuen um Abhilfe
+gegen die belstnde, unter denen sie litten,
+zu petitionieren. Sie waren auch schlielich, da
+es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen
+Fabrikanten handelte, auf Veranlassung Bismarcks
+vom Knig empfangen worden und hatten auf
+ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der Knig
+habe seine Minister angewiesen, &#8222;eine gesetzliche
+Abhilfe, soweit sie mglich ist, schleunig und
+mit allem Ernst vorzubereiten&#8221;.</p>
+
+<p>Da Lassalle diesen Schritt der schlesischen
+Weber und den Empfang der Deputation von
+Seiten des Knigs als einen Erfolg seiner Agitation
+hinstellt, wird ihm, so bertrieben es tatschlich
+war, niemand zum besonderen Vorwurf machen.
+Wie andere bertreibungen in der Ansprache, erklrte
+sich auch diese aus der Situation Lassalles.
+Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab
+dem Empfang der Deputation durch den Knig
+und den Worten des letzteren eine Auslegung,
+die zunchst nur als eine Reklame fr jenen und
+dessen Regierung wirken konnte. Er verliest den
+Arbeitern einen Bericht der offizisen &#8222;Zeidlerschen
+Korrespondenz&#8221; ber den Empfang der
+Deputation beim Knig und liest gerade die dem
+Knigtum gnstigste Stelle daraus, wie er in
+der gedruckten Rede ausdrcklich verzeichnet,
+&#8222;mit dem hchsten Nachdruck der Stimme<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span>
+und begleitet sie mit der eindringlichsten Handbewegung&#8221;<a name="FNAnker_34_34" id="FNAnker_34_34"></a><a href="#Fussnote_34_34" class="fnanchor">[34]</a>.</p>
+
+<p>In den Worten des Knigs liege, erklrt er,
+&#8222;die Anerkennung des Hauptgrundsatzes, zu
+dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen&#8221; &mdash; nmlich,
+da eine Regelung der Arbeiterfrage
+durch die Gesetzgebung notwendig sei &mdash; ferner,
+&#8222;das Versprechen des Knigs, da diese Regelung
+der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot
+durch die Gesetzgebung erfolgen soll&#8221;, und
+drittens, da &#8222;eine Fortschrittskammer, eine nach
+dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz erwhlte
+Kammer, dem Knige niemals die zu diesem
+Zwecke erforderlichen Gelder bewilligen und
+ebensowenig, selbst wenn die Sache ohne Geld
+zu machen wre, auch nur ihre Zustimmung zu
+einem solchen Gesetz erteilen wrde&#8221;, so sei in
+dem kniglichen Versprechen, &#8222;innerlich durch die
+Kraft der Logik eingeschlossen&#8221; auch &#8222;das
+allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen
+worden&#8221;.</p>
+
+<p>Bei diesen Worten lt der Bericht &#8222;die Versammlung,
+welche diesem ganzen letzten Teil der
+Rede in einer unglaublichen Spannung ... zugehrt&#8221;<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span>
+habe, in einen &#8222;nicht zu beschreibenden
+Jubel&#8221; ausbrechen, der immer wieder von neuem
+begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu sprechen
+versuchte.</p>
+
+<p>War der Jubel wirklich so gro, so bewies er,
+da die Arbeiter Lassalles Auslegung des kniglichen
+Versprechens fr bare Mnze nahmen, das
+schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt
+werden konnte.</p>
+
+<p>Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit
+die Arbeiter in Betracht kamen, diese nur
+durch mglichst glnzende Ausmalung der bisher
+erzielten Erfolge zur hchsten, begeisterten Ttigkeit
+fr den Verein hingerissen werden. Aber
+die Rede ist noch an eine andere Adresse als
+die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung
+auf eine in der &#8222;Kreuzzeitung&#8221; erschienene
+Rezension des &#8222;Bastiat-Schulze&#8221;, die nach
+Lassalle &#8222;von zu beachtenswerter Seite&#8221; kam,
+als da die in ihr an Lassalle gerichteten Fragen
+htten unbeantwortet bleiben drfen, verweist
+Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes
+ausdrcklich auf die Ronsdorfer Rede und
+lt die Erwiderung und zwei Exemplare der
+Rede unter Kuvert &#8222;persnlich&#8221; an Bismarck
+senden. Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf
+die Regierung Eindruck zu machen &mdash; ad
+usum delphini geschrieben. Der &#8222;unbeschreibliche
+Jubel&#8221; sollte Kder fr Bismarck und den
+Knig sein. Aber niemand kann zwei Herren
+dienen, und das Bestreben, die Rede so zu gestalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span>
+da sie den gewnschten Effekt nach
+oben mache, bewirkte, da sie tatschlich einen
+durch und durch csaristischen Charakter erhielt.
+Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Csarismus:
+Csarismus in den Reihen der Partei, und
+Csarismus in der Politik der Partei.</p>
+
+<p>&#8222;Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfhigeres,
+nichts Unintelligenteres,&#8221; heit es
+in der Einsendung an die &#8222;Kreuzzeitung&#8221;, &#8222;als
+der unruhige, nrgelnde liberale Individualismus,
+diese groe Krankheit unserer Zeit! Aber dieser
+unruhige, nrgelnde Individualismus ist keineswegs
+Massenkrankheit, sondern wurzelt notwendig und
+naturgem nur in den Viertels- und Achtels-Intelligenzen
+der Bourgeoisie.</p>
+
+<p>Der Grund ist klar: Der Geist der Massen
+ist, ihrer Massenlage angemessen, immer auf
+objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die
+Stimmen unruhiger, persnlichkeitsschtiger Einzelner
+wrden hier in diesem Stimmenakkord verklingen,
+ohne nur gehrt zu werden. Der oligarchische
+Boden allein ist der homogene, mtterliche
+Boden fr den negativen, tzenden Individualismus
+unserer liberalen Bourgeoisie und ihre
+subjektive, eigenwillige Persnlichkeitssucht.&#8221;</p>
+
+<p>hnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheien:</p>
+
+<p>&#8222;Noch ein anderes hchst merkwrdiges Element
+unseres Erfolges habe ich zu erwhnen. Es
+ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit und
+Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht!<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span>
+Auch in dieser Hinsicht, und in dieser Hinsicht
+vor allem, steht unser Verein epochemachend,
+und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte,
+da! Dieser groe Verein, sich erstreckend
+ber fast alle deutschen Lnder, regt
+sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit
+eines Individuums! In den wenigsten Gemeinden
+bin ich persnlich bekannt oder jemals
+persnlich gewesen, und dennoch habe ich vom
+Rhein bis zur Nordsee, und von der Elbe bis
+zur Donau noch niemals ein &#8218;Nein&#8217; gehrt, und
+gleichwohl ist die Autoritt, die ihr mir anvertraut
+habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten hchsten
+Freiwilligkeit beruhende!... Wohin ich gekommen
+bin, berall habe ich von den Arbeitern Worte
+gehrt, die sich in den Satz zusammenfassen: Wir
+mssen unserer aller Willen in einen einzigen
+Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer
+in die Hnde eines Mannes legen, zu dessen
+Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das
+ntige Zutrauen haben, damit er aufschlagen knne
+mit dem Hammer!</p>
+
+<p>Die beiden Gegenstze, die unsere Staatsmnner
+bisher fr unvereinbar betrachteten, deren
+Vereinigung sie fr den Stein der Weisen hielten,
+Freiheit und Autoritt, &mdash; die hchsten Gegenstze,
+sie sind auf das innigste vereinigt in unserem
+Verein, welcher so nur das Vorbild im kleinen
+unserer nchsten Gesellschaftsform im groen
+darstellt. Nicht eine Spur ist in uns von jenem
+nrgelnden Geiste des Liberalismus, von jener<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span>
+Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens,
+von welchem der Krper unserer
+Bourgeoisie durchfressen ist ...&#8221;</p>
+
+<p>Es liegt diesen Stzen formell ein richtiger
+Gedanke zugrunde, der nmlich, da in der
+modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen
+Verhltnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse
+auf die gemeinsame Aktion angewiesen
+sind, und da in der Tat schon die
+Existenzbedingungen des modernen industriellen
+Proletariers den Geist der Gemeinschaftlichkeit
+in ihm entwickeln, whrend umgekehrt der Bourgeois
+nur unter anormalen Verhltnissen, nicht
+aber durch die bloe Art seiner gesellschaftlichen
+Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion sich
+veranlat sieht. Dieser richtige Gedanke empfngt
+aber durch die obige Verallgemeinerung
+eine total falsche Deutung. Die Massenaktion
+heit noch lange nicht die persnliche Diktatur;
+wo die Masse ihren Willen aus der Hand gibt,
+ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus einem
+revolutionren ein reaktionrer Faktor zu werden.
+Die persnliche Diktatur ist in den Kmpfen der
+modernen Gesellschaft jedesmal der Rettungsanker
+der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden
+reaktionren Klassen gewesen, niemand ist mehr
+geneigt, den &#8222;negativen, tzenden Individualismus&#8221;
+aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald
+sein Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft
+gefhrdet erscheint. In solchen Momenten wird
+das Schlagwort von der &#8222;einen reaktionren<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span>
+Masse&#8221; zur Wahrheit und blht, sobald die Strmung
+sich verallgemeinert, der Bonapartismus.
+Die zur Selbstregierung sich unfhig fhlenden
+Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern
+unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne
+Persnlichkeit ab und verdammen jeden
+Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser Persnlichkeit
+entgegenzutreten, als &#8222;unruhigen, nrgelnden
+Individualismus&#8221;. So beschuldigte die deutsche
+Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
+immer wieder gerade die Partei, die tatschlich
+am konsequentesten deren Klassenforderungen
+vertritt &mdash; die deutschfreisinnige Partei &mdash; des
+Verrats an ihren Interessen, weil sie durch
+ihre &#8222;Nrgelei&#8221; die staatserhaltende Ttigkeit der
+Regierung beeintrchtige, und so griff im Jahre
+1851 die franzsische Bourgeoisie ihre eigenen
+parlamentarischen Vertreter jedesmal, wenn diese
+daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel
+zum Staatsstreich zu verweigern, solange als
+Unruhestifter, Anarchisten usw. an, bis Napoleon
+stark genug war, sich zum Diktator der Bourgeoisie
+aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des
+bloen Hters der Ruhe und Ordnung fr die
+Bourgeoisie zu begngen.</p>
+
+<p>Eine aufsteigende, revolutionre Klasse hat
+absolut keinen Anla, ihren Willen aus der Hand
+zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das
+&#8222;Besserwissen-Wollen&#8221; ihren Fhrern gegenber
+zu verzichten. Und wir haben bei der Solinger
+Affre gesehen, da, wie sehr auch Lassalle den<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span>
+Arbeitern gegenber auf seine hhere Intelligenz
+pochte, er gerade aus den Reihen der Arbeiter
+heraus ein sehr deutliches und krftiges &#8222;Nein&#8221;
+hatte hren mssen, und sicherlich nicht zum
+Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er
+bei einem bestimmten Anla ein ebensolches
+&#8222;Nein&#8221; gehrt &mdash; er sprach, wenn er sich rhmte,
+in dem von ihm geleiteten Verein &#8222;Autoritt und
+Freiheit&#8221; in der oben geschilderten Weise verwirklicht
+zu haben, mehr einen Wunsch, als eine
+bereits verwirklichte Tatsache aus.</p>
+
+<p>Zur Ehre Lassalles mu gesagt werden, da
+er von Anfang an die persnliche Spitze fr unerllich
+gehalten hatte. Zu diesem bloen
+Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedrfnis
+hinzu. Die Politik, die er jetzt eingeschlagen
+hatte, war nur durchzufhren, wenn die Mitglieder
+und Anhnger der Bewegung kritiklos dem
+Fhrer folgten und ohne Murren taten, was er
+von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen
+des Knigs von Preuen gegenber den
+schlesischen Webern in einer Weise behandelte,
+da nur noch ein kleiner, ganz beilufiger Vorbehalt
+den Demokraten &mdash; man mchte sagen,
+vor seinem Gewissen &mdash; salvierte, das brige
+aber auf den reinen Csarismus hinauslief, so
+muten auch sie bereit sein, auf Kommando das
+Loyalittsmntelchen umzuhngen. Wenn eines
+die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu
+entschuldigen vermag, so ist es die Tatsache, da
+sie fr Lassalle unter den gegebenen Verhltnissen<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span>
+eine Notwendigkeit war. Er brauchte die
+Diktatur, um die Arbeiter je nach Bedrfnis fr
+seine jeweiligen Zwecke zur Verfgung zu haben,
+und er brauchte die Besttigung der Diktatur,
+um nach oben hin als eine bndnisfhige Macht
+zu erscheinen. Die Rede war der notwendige
+Schritt auf der einmal betretenen Bahn &mdash; ein
+Halt war da nicht mehr mglich.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod" id="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">Lassalles letzte Schritte und Tod.</a></h2>
+
+
+<p>Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl
+was die innere Vereinsleitung als auch was die
+geplante nchste uere Aktion des Vereins anbetrifft,
+bewegten sich denn auch in der gleichen
+Richtung. Im Verein drang er auf die Ausstoung
+Vahlteichs, der in bezug auf die Organisation
+in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte
+dabei nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich,
+so da den Vereinsmitgliedern kaum etwas anderes
+brig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem
+Herrn Prsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch
+sonst in dieser Angelegenheit hchst illoyal, indem
+er z.&nbsp;B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich
+gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben
+in solcher Weise zirkulieren zu lassen, da Vahlteich
+selbst den Inhalt des Schreibens erst kennenlernen
+mute, nachdem die brigen Vorstandsmitglieder
+bereits gegen ihn beeinflut waren.</p>
+
+<p>Wie man nun auch ber Vahlteichs Vorschlge
+zur Abnderung der Organisation denken mochte,<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span>
+die Art, wie Lassalle schon den Gedanken an
+eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat
+an der Sache hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt,
+als er, Lassalle, selbst bereits halb
+entschlossen war, den Verein fallen zu lassen,
+wenn sein letzter Versuch, &#8222;einen Druck auf die
+Ereignisse auszuben&#8221;, miglcken sollte.</p>
+
+<p>Dieser Versuch oder &#8222;Coup&#8221;, wie Lassalle
+ihn selbst genannt, sollte in Hamburg in Szene
+gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der
+soeben von Dnemark eroberten Herzogtmer
+Schleswig-Holstein.</p>
+
+<p>Als im Winter 1863 der Tod des Knigs von
+Dnemark die schleswig-holsteinische Frage in
+den Vordergrund gedrngt hatte, hatte Lassalle,
+der in jenem Moment bereits mit Bismarck in
+Unterhandlung stand und deshalb ein groes Interesse
+daran hatte, je nach derjenigen Politik, fr
+die die preuische Regierung sich entschlo, den
+Verein Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern
+gegen den &#8222;Schleswig-Holstein-Dusel&#8221;
+Stimmung gemacht<a name="FNAnker_35_35" id="FNAnker_35_35"></a><a href="#Fussnote_35_35" class="fnanchor">[35]</a> und eine Resolution ausgearbeitet<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span>
+und berall annehmen lassen, in der
+erklrt wurde:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Die einheitliche Gestaltung Deutschlands
+wrde die schleswig-holsteinische Frage ganz
+von selbst erledigen. Dieser groen Aufgabe
+gegenber erscheint die Frage, ob, solange in
+Deutschland 33 Frsten bestehen, einer derselben
+ein auslndischer Frst ist, von verhltnismig
+sehr untergeordnetem Interesse.&#8221;</p></blockquote>
+
+<p>Im brigen enthlt die Resolution nur mehr
+oder weniger allgemeine Wendungen; alle deutschen
+Regierungen seien verpflichtet, die Einverleibung
+der Herzogtmer in Deutschland
+&#8222;ntigenfalls mit Waffengewalt&#8221; durchzusetzen,
+aber das Volk wird aufgefordert, auf der Hut zu
+sein; es &#8222;lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen
+zentralen Aufgaben abziehen&#8221;. Gegen
+die Fortschrittler und Nationalvereinler wird der
+Vorwurf erhoben, da sie &#8222;Schleswig-Holstein
+als eine Gelegenheit benutzen zu wollen scheinen,
+um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage
+abzulenken und der Lsung eines Konfliktes, dem
+sie nicht gewachsen sind, unter dem Schein
+des Patriotismus zu entfliehen&#8221;. Dies im Dezember
+1863.</p>
+
+<p>Jetzt waren die Herzogtmer erobert, und es
+handelte sich um die Frage, was mit ihnen geschehen
+solle. Ein groer Teil der Fortschrittler
+trat fr die legitimen Ansprche des Herzogs
+von Augustenburg ein, whrend man in magebenden
+Kreisen Preuens auf die Annexion der<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span>
+Herzogtmer in Preuen hinarbeitete. So wenig
+Interesse nun die demokratischen Parteien hatten,
+zu den vorhandenen 33 souvernen Frsten in
+Deutschland noch einen 34sten zu schaffen, so
+hatten sie andrerseits auch keine Ursache, der zur
+Zeit reaktionrsten Regierung in Deutschland einen
+Machtzuwachs zuzusprechen. Lassalle aber hatte
+bereits so sehr sein politisches Taktgefhl verloren,
+da er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg
+eine groe Volksversammlung abzuhalten und
+von dieser eine Resolution beschlieen zu lassen,
+des Inhalts, da Bismarck verpflichtet sei, die
+Herzogtmer gegen den Willen sterreichs und
+der brigen deutschen Staaten an Preuen zu
+annektieren. Es braucht nicht durch Worte bezeichnet
+zu werden, welche Rolle Lassalle damit
+auf sich nahm und zu welcher Rolle er die sozialistisch
+gesinnten Arbeiter Hamburgs gebrauchen
+wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung
+entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur
+Ausfhrung des Vorhabens gekommen, es blieb
+den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen
+ihrer demokratischen berzeugung und der vermeintlichen
+Pflicht gegen ihren Fhrer glcklicherweise
+erspart.</p>
+
+<p>Lassalle war, nachdem er in Dsseldorf noch
+einen Proze ausgefochten, in die Schweiz gegangen.
+Er nahm zunchst Aufenthalt auf Rigi
+Kaltbad, und dort besuchte ihn gelegentlich eines
+Ausfluges Frulein Helene von Dnniges, deren
+Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span>
+gemacht und der er, nach ihrer Darstellung, schon
+damals seine Hand angetragen hatte. Es entwickelte
+sich im Anschlu an den Besuch jene
+Liebesaffre, deren Schluresultat der frhzeitige
+Tod Lassalles war.</p>
+
+<p>Die Einzelheiten der Lassalle-Dnniges-Affre
+sind heute so bekannt und die fr Lassalle bezeichnenderen
+Schritte desselben in dieser Affre
+so ber alle Zweifel sichergestellt, da auf eine
+Wiedererzhlung des ganzen Verlaufs der Sache
+hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte sich
+bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem
+neuen Lichte; er entwickelte vielmehr nur Eigenschaften,
+die wir bereits bei ihm kennen gelernt
+haben &mdash; man kann sagen, da die Dnniges-Affre
+im kleinen und auf einem andern Gebiet
+lediglich ein Abbild der Lassalleschen Agitationsgeschichte
+darstellt. Lassalle glaubt in Helene
+von Dnniges das Weib seiner Wahl gefunden
+zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, das Jawort
+der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht
+den mindesten Zweifel, da es dem Einflu seiner
+Persnlichkeit gelingen mu, diese Schwierigkeit
+zu berwinden. Selbstbewut, und zugleich mit
+umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden
+Momente, entwirft er seinen Operationsplan.
+Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern
+erobern und ihnen die Einwilligung abringen, ehe
+sie noch recht wissen, was sie mit ihrer Genehmigung
+tun. Da stellt sich pltzlich ein kleines,
+unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span>
+eine Unvorsichtigkeit der jungen Dame erfahren
+die Eltern frher als sie sollen von der Verlobung
+und erklren, Lassalle unter keinen Umstnden
+als Schwiegersohn annehmen zu wollen. Indes
+noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein
+Triumph wird nur um so grer sein, je grer
+der Widerstand der Eltern. Von diesem Selbstbewutsein
+getragen, begeht er einen Schritt, der
+die Situation so gestaltet, da jede Hoffnung,
+auf dem geplanten Wege zum Ziele zu gelangen,
+ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mdchen
+selbst an ihm irre werden lt. Indes, ist's nicht
+dieser Weg, so ist's ein anderer. Und ohne Rcksicht
+darauf, was er sich und seiner politischen
+Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen
+Kampf, bei dem es fr ihn nur einen Gesichtspunkt
+gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht,
+das Erfolg verspricht. Spione werden angestellt,
+die die Familie Dnniges beobachten und ber
+jeden ihrer Schritte rapportieren mssen. Durch
+die Vermittlung Hans von Blows wird Richard
+Wagner ersucht, den Knig von Bayern zu
+veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn
+v. Dnniges zu intervenieren, whrend dem Bischof
+Ketteler von Mainz der bertritt Lassalles zum
+Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof
+seinen Einflu zugunsten Lassalles geltend mache.
+Lassalle machte sich nicht die geringsten Gedanken
+darber, wie wenig wrdig es der geschichtlichen
+Mission war, die er bernommen
+hatte, bei einem Minister von Schrenk zu antichambrieren,<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span>
+damit dieser ihm zu seiner Geliebten
+verhelfe, noch kmmerte er sich darum, wie wenig
+er sich seines Vorbildes Hutten wrdig erwies,
+wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms
+um Hilfe zur Erlangung eines Weibes petitionierte.
+Hier, wo er htte stolz sein drfen, wo
+er stolz sein mute, war er es nicht.</p>
+
+<p>Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof
+von Mainz konnte gar nichts tun, weil Helene
+von Dnniges protestantisch war, und der Vermittlungsversuch,
+den ein vom bayerischen Minister
+des Auswrtigen an den Schauplatz des Konfliktes
+entsandter Vertrauensmann unternahm,
+fhrte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern,
+da er durch die Art seines Vorgehens sich und
+das Weib, fr das er kmpfte, in eine total falsche
+Position gebracht hatte. Obwohl er gewut hatte,
+da Helene jeder Willensenergie entbehrte und
+darin gerade einen Vorzug fr sein zuknftiges
+Zusammenleben mit ihr erblickt hatte &mdash; &#8222;erhalten
+Sie mir Helene in den unterwrfigen Gesinnungen,
+in denen sie jetzt ist&#8221;, hatte er am 2.&nbsp;August an
+die Grfin Hatzfeldt geschrieben &mdash;, hatte er ihr
+jetzt eine Rolle zugemutet, welche die hchste
+Willensstrke erforderte, und war emprt darber,
+da das junge Mdchen sich ihr zu entziehen suchte.
+Getragen von seinem Selbstgefhl und gewohnt,
+die Dinge ausschlielich unter dem Gesichtswinkel
+seiner Stimmungen und Interessen zu betrachten,
+hatte er ganz auer Erwgung gelassen,
+da gerade die unterwrfigsten Menschenkinder<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span>
+am leichtesten ihre Empfindungen ndern, und sah
+den &#8222;bodenlosen Verrat&#8221; und das &#8222;unerhrteste
+Spiel&#8221; einer &#8222;verworfenen Dirne&#8221;, wo weiter
+nichts vorlag, als die Unbestndigkeit eines verwhnten
+Weltkindes.</p>
+
+<p>Indes, er war nervs total heruntergekommen
+und besa lngst nicht mehr die Energie eines
+gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu Gewaltmitteln,
+das Bestreben, um jeder Kleinigkeit
+wegen Himmel und Hlle in Bewegung zu setzen,
+die Unfhigkeit, Widerspruch zu ertragen oder
+sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise
+geistiger Kraft, sondern eines hochgradigen
+Schwchezustandes. Auch der schnelle Wechsel
+von Zornesausbrchen und Trnen, der sich nach
+den bereinstimmenden Berichten der Augenzeugen
+bei Lassalle damals zeigte, deutet untrglich
+auf ein stark zerrttetes Nervensystem.</p>
+
+<p>In dieser Verfassung war es ihm unmglich, die
+erlittene Niederlage ruhig zu ertragen, und er
+suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu verschaffen
+fr die ihm nach seiner Ansicht angetane
+Schmach. So tricht das Duell an sich
+ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden
+Verhltnissen. In den Gesellschaftskreisen, in
+denen die Affre spielte, ist das Duell das
+reinigende Bad fr allen Schmutz und allen
+Schimpf, und wenn Lassalle nicht die moralische
+Kraft besa, sich im Kampf um irgendeine Sache
+auf solche Mittel zu beschrnken, welche sich
+fr den Vertreter der Partei der sozialistischen<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span>
+Umgestaltung der Gesellschaft schicken, so war
+es auch nur konsequent, da er fr den vermeintlich
+erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner
+Umgebung Genugtuung zu verschaffen suchte.
+Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im
+Duell gegenberstellte, das war nicht der Sozialist
+Lassalle, sondern der verjunkerte Kaufmannssohn
+Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der
+erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde,
+so shnte er damit die Schuld, da er jenem
+die Macht ber sich eingerumt hatte.</p>
+
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+<h2><a name="Schlussbetrachtung" id="Schlussbetrachtung">Schlubetrachtung.</a></h2>
+
+
+<p>So machte ein frhzeitiger Tod der politischen
+Laufbahn Lassalles, seinen Plnen und Hoffnungen
+ein jhes Ende. Vielleicht war es gut
+so, vielleicht hat er es selbst in seinen letzten
+Stunden nicht als ein Unglck empfunden. Das
+Ziel, das er im Sturm nehmen zu knnen geglaubt,
+war wieder in die Ferne gerckt, und fr die
+ruhige Organisationsarbeit hielt er sich nicht geschaffen.
+So sah seine nchste Zukunft sehr
+problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen
+Hast, mit der er sich in die Dnniges-Affre
+gestrzt hatte, viel beigetragen haben.</p>
+
+<p>Es ist eigentlich mig, sich die Frage vorzulegen,
+was Lassalle wohl getan htte, wenn er
+nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen
+wre. Indes ist diese Frage bisher meist<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span>
+in einer Weise errtert worden, die ein kurzes
+Eingehen darauf rechtfertigt.</p>
+
+<p>Gewhnlich wird nmlich gesagt, es wrde
+Lassalle, wenn er weiter gelebt htte, nach Lage
+der Dinge nichts brig geblieben sein, als gleich
+seinem Freunde Bucher eine Stelle im preuischen
+Staatsdienst anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt
+Lassalle absolut falsch. Wohl htte die
+von ihm schlielich eingeschlagene Politik, wenn
+konsequent weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager
+fhren mssen, aber auf diesen
+letzten Schritt htte es Lassalle eben fr sich nicht
+ankommen lassen. Er htte nie den preuischen
+Beamtenrock angezogen. Er besa genug, um
+nach seinen Bedrfnissen leben zu knnen, und
+seinem Ehrgeiz htte eine Stelle, wie die
+preuische Regierung sie ihm bieten konnte,
+ebensowenig gengt, wie sie seiner im Innersten
+stets unvernderten Gesinnung entsprochen htte.
+In dieser Hinsicht htte eher er zu Bismarck, als
+dieser zu ihm sagen knnen: &#8222;Was kannst du,
+armer Teufel, geben?&#8221;</p>
+
+<p>Das Wahrscheinliche ist vielmehr, da Lassalle
+sich, sobald die gegen ihn erkannten Strafen rechtskrftig
+geworden, dauernd im Ausland niedergelassen
+und dort einen Umschwung der Verhltnisse
+in Preuen, bzw. Deutschland abgewartet
+htte. Denn da der Hamburger &#8222;Coup&#8221;, selbst
+wenn die Versammlung zustande kam und die
+Resolution beschlossen wurde, an den tatschlichen
+Verhltnissen zunchst nichts gendert<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span>
+haben wrde, liegt auf der Hand. Wie gering
+diese Aussicht war, geht daraus hervor, da das
+bloe Jawort Helenes von Dnniges gengt hatte,
+um Lassalles Ansicht ber den voraussichtlichen
+Effekt des &#8222;Coup&#8221; erheblich zu erschttern. Am
+27. Juli hatte er ber diesen an die Grfin Hatzfeldt
+geschrieben: &#8222;... Ich mu noch vorher in
+Hamburg sein, wo ich einen groen, sehr groen,
+vielleicht tatschlich wichtigen Coup schlagen will.&#8221;
+Tags darauf erhlt er Helenes Zusage und schreibt
+nun an die Grfin, da er sich selbst &#8222;nicht zu
+viel&#8221; von dem Versuch in Hamburg verspreche.
+Die betreffende Stelle dieses Briefes ist zwar
+oft zitiert, da sie aber fr Lassalles damalige
+Stimmung uerst charakteristisch ist, mag sie
+auch hier zum Abdruck kommen. Sie lautet:</p>
+
+<p>&#8222;Wie Sie mich doch miverstehen, wenn Sie
+schreiben: &#8218;Knnen Sie sich nicht auf einige Zeit
+in Wissenschaft, Freundschaft und schner Natur
+gengen?&#8217; Sie meinen, ich msse Politik haben.</p>
+
+<p>Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich
+wnsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik
+loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft
+und Natur zurckzuziehen. Ich bin der
+Politik mde und satt. Zwar wrde ich so leidenschaftlich
+wie je fr dieselbe entflammen, wenn
+ernste Ereignisse da wren, oder wenn ich die
+Macht htte, oder ein Mittel she, sie zu erobern &mdash; ein
+solches Mittel, das sich fr mich
+schickt; denn ohne hchste Macht lt sich nichts
+machen. Zum Kinderspiel aber bin ich zu alt<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span>
+und zu gro. Darum habe ich hchst ungern das
+Prsidium bernommen! Ich gab nur Ihnen nach.
+Darum drckt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich
+es los wre, jetzt wre der Moment, wo ich entschlossen
+wre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen!
+(Aber wie es los werden?!)</p>
+
+<p>Denn die Ereignisse werden sich, frcht' ich,
+langsam, langsam entwickeln, und meine glhende
+Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen
+Prozessen keinen Spa. Politik heit
+aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere
+kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen!
+Ich werde versuchen, in Hamburg einen
+Druck auf die Ereignisse auszuben. Aber inwieweit
+das wirken wird, das kann ich nicht versprechen
+und verspreche mir selbst nicht zu viel
+davon!</p>
+
+<p>Ach knnte ich mich zurckziehen!&#8221; &mdash;</p>
+
+<p>In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer
+Stelle, er sei &#8222;lustig und voller Lebenskraft&#8221;
+und &#8222;nun, die alte Kraft ist noch da, das alte
+Glck auch noch&#8221;. Es waren also lediglich politische
+Erwgungen, die jene resignierten Stze
+diktierten.</p>
+
+<p>Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von
+Dnniges in Bern am 3.&nbsp;August&nbsp;1864 in Genf eintraf,
+scheint Lassalle bereits zur vorlufigen Expatriierung
+entschlossen gewesen zu sein. In den
+Papieren Joh. Ph. Beckers befindet sich eine von der
+Genfer Regierung fr &#8222;Mr. Ferdinand Lassalle
+professeur&#8221;, wohnhaft &#8222;chez Mr. Becker&#8221;, ausgestellte<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span>
+Aufenthaltsbewilligung, und auf dem
+Umschlag derselben folgender Vermerk von der
+Hand des alten Freiheitsveteranen:</p>
+
+<p>&#8222;Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft
+im verhngnisvollen Jahre 1864 hier mitteilte,
+er fhle seine Kraft aufgerieben, msse Einhalt
+machen; er habe geglaubt, er vermge die sozialistische
+Bewegung in etwa einem Jahre zum
+Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, da
+es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche
+Kraft nicht hinreichend fhle, namentlich werde
+er die bevorstehenden Gefngnisstrafen nicht
+berdauern knnen. Hierauf gab ich ihm den
+Rat, sich unter bewandten Umstnden irgendwo
+einen festen Wohnsitz zu grnden, zu diesem Behufe
+sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn
+er dem Gesetz gem einen Aufenthalt von zwei
+Jahren nachweise, sich das Brgerrecht zu erwerben,
+was damals gar keinen Anstand gefunden
+htte. In der Zwischenzeit knnte er natrlich beliebige
+Reisen machen. Lassalle schlug ohne Bedenken
+ein, und ich verschaffte ihm am 11. August
+1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.&#8221;</p>
+
+<p>Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf
+vorlufig sechs Monate.</p>
+
+<p>Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen
+deutschen Arbeitervereins an ihn gelangten, hat
+Lassalle whrend der vier Wochen seines Kampfes
+um Helene von Dnniges gar nicht mehr beantwortet.
+Erst als er am Vorabend des Duells
+sein Testament machte, gedachte er wieder des<span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span>
+Vereins und setzte dem Sekretr desselben,
+Willms, auf fnf Jahre hinaus eine Rente von
+jhrlich 500 Talern fr Agitationszwecke aus und
+eine ebensolche von jhrlich 150 Talern fr seinen
+persnlichen Bedarf. Als seinen Nachfolger empfahl
+er dem Verein den Frankfurter Bevollmchtigten
+Bernhard Becker. Er solle an der Organisation
+festhalten, &#8222;sie wird den Arbeiterstand
+zum Siege fhren&#8221;.</p>
+
+<p>Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die
+Nachricht von Lassalles Tod nicht geringe Bestrzung.
+Es war ihnen lange unmglich den Gedanken
+zu fassen, da Lassalle wirklich nur in
+einer gewhnlichen Liebesaffre gefallen sei. Sie
+glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von
+den Gegnern angezettelt sei, um den gefhrlichen
+Agitator aus dem Wege zu rumen, und feierten
+den Gefallenen als das Opfer einer nichtswrdigen
+politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus
+entwickelte sich zunchst, eine Art Lassalle-Religion,
+deren Propagierung vor allem die Grfin
+Hatzfeldt, aus brigens menschlich durchaus erklrlichen
+Grnden, sich angelegen sein lie. Sehr
+trug zu diesem Kultus auch die Art bei, wie
+Lassalle den Arbeitern persnlich gegenbergetreten
+war. So liebenswrdig er im Umgang
+mit ihnen sein konnte, so hatte er doch sorgfltig
+darauf geachtet, in seiner ueren Erscheinung
+sowohl wie in seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche
+und geistige berlegenheit stets vor
+Augen zu halten. Mit grtem Wohlbehagen hatte<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span>
+er ferner sich in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter
+feiern lassen und selbst dafr gesorgt, da
+ein die wirklichen Vorgnge noch bertreibender
+Bericht darber im &#8222;Nordstern&#8221; erschien.</p>
+
+<p>In seinen Reden war seine Person immer mehr
+in den Vordergrund getreten &mdash; so stark, da,
+wenn er sich in Verbindung mit andern genannt
+hatte, er stets das Ich hatte vorangehen lassen.</p>
+
+<p>Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoen,
+auf die Masse hatte es, namentlich bei
+der Jugend der Bewegung, einen groen Zauber
+ausgebt, und je mehr sich ein Mythenkreis um
+Lassalles Persnlichkeit wob, um so strkere
+Wirkung bte der Zauber nachtrglich aus.</p>
+
+<p>Es wre brigens sehr falsch, die Tatsache zu
+verkennen, da dieser Kultus der Persnlichkeit
+Lassalles sich fr die Agitation lange Zeit im
+hohen Grade frdernd erwiesen hat. Es liegt
+nun einmal in den meisten Menschen der Zug,
+eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment
+um so mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender
+ihre Ziele sind, gern in einer Person
+verkrpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht
+ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter,
+ob Charlatane oder Illusionre, und
+sie ist in England und Amerika ein anerkannter
+Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so
+stark, da zuweilen die bloe Tatsache, da eine
+Persnlichkeit aus einer Krperschaft Gleicher
+oder selbst Besserer ausscheidet, gengt, sie ber
+diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen,<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span>
+die jener hartnckig verweigert wurde.
+Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers in
+Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele
+in der Geschichte anderer Lnder ermangelt.
+Dutzende von Mitgliedern der franzsischen
+Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung
+und Charakter berlegen und konnten auf die
+ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik
+verweisen, aber sie sanken doch zu Nullen ihm
+gegenber herab, whrend er zur groen Eins
+emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende
+entflammte. Warum? Weil sich pltzlich
+in ihm eine Idee verkrperte, whrend die
+Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen
+und Erfahrung, die sie reprsentierte, nichts war
+als eine anonyme Vielheit.</p>
+
+<p>Der Name Lassalle wurde zum Banner, fr
+das sich die Massen immer mehr begeisterten, je
+mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen.
+Fr den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem
+auergewhnlichen Talent geschrieben, populr
+und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend,
+bten sie und ben sie zum Teil noch
+heute eine groe agitatorische Wirkung aus.
+Das &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;, das &#8222;Offene Antwortschreiben&#8221;,
+das &#8222;Arbeiterlesebuch&#8221; usw. haben
+Hunderttausende fr den Sozialismus gewonnen.
+Die Kraft der berzeugung, die in diesen Schriften
+weht, hat Hunderttausende zum Kampf fr
+die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren
+sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span>
+Phrasengeklingel, &mdash; ein verstndiger
+Realismus, der sich zwar gelegentlich in den
+Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit
+im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor
+und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt.
+Wovon Lassalle in seiner Praxis eher
+etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten
+und besten Agitationsschriften das rechte Ma
+dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung
+brauchte. Wenn die deutsche Sozialdemokratie
+den Wert einer krftigen Organisation zu allen
+Zeiten zu schtzen gewut hat, wenn sie von der
+Notwendigkeit des Zusammenfassens der Krfte
+so durchdrungen ist, da sie auch ohne das uere
+Band einer Organisation doch alle Funktionen
+einer solchen aufrechtzuerhalten gewut hat, so
+ist das zum groen Teil eine Erbschaft der Agitation
+Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache,
+da diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft
+die Traditionen der Lassalleschen Agitation
+am strksten waren, in bezug auf die Organisation
+in der Regel am meisten geleistet haben.</p>
+
+<p>Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht
+haben, ohne auch ihre Nachteile in den Kauf
+nehmen zu mssen. Wir haben gesehen, welchen
+doppelt zwieschlchtigen Charakter die Lassallesche
+Agitation trug, zwieschlchtig in ihrer theoretischen
+Grundlage, zwieschlchtig in ihrer
+Praxis. Das blieb natrlich lange noch bestehen,
+nachdem Lassalle selbst aus dem Leben geschieden
+war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span>
+an Lassalles Taktik hie Festhalten an der
+Schwenkung, die er whrend der letzten Monate
+seiner Agitation vollzogen, er selbst in dem Bewutsein
+und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick
+umkehren, die Maske abwerfen zu knnen.
+Aber, um einen seiner eignen Aussprche anzuwenden:
+Individuen knnen sich verstellen,
+Massen nie. Seine Politik fortfhren hie, wenn
+es buchstblich genommen wurde, die Massen
+irrefhren. Und die Massen wurden irregefhrt.
+Es kam die Zeit der Schweitzerschen Diktatur.
+Ob J.&nbsp;B.&nbsp;von Schweitzer je ein Regierungsagent
+im buchstblichen Sinne dieses Wortes war,
+scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber
+kann bestehen, da seine Politik zeitweise der
+eines Regierungsagenten nahekam. Kam es doch
+unter seiner Leitung dahin, da von Agitatoren
+des &#8222;Allgemeinen deutschen Arbeitervereins&#8221;
+Republikaner sein fr gleichbedeutend mit Bourgeois
+sein erklrt wurde, weil die bisherigen Republiken
+Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer
+war unzweifelhaft der begabteste Nachfolger
+Lassalles. Aber wenn er ihn an Talent nahezu
+erreichte, so bertraf er ihn zugleich in einigen
+seiner bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger
+Scheu als Lassalle hat er mit den preuischen
+Hof-Sozialdemagogen geliebugelt. Da er dies
+jedoch konnte, ohne je um einen, seine Politik
+untersttzenden Satz aus Lassalles Reden in Verlegenheit
+zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle
+nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span>
+um die verfassungsmigen Rechte der Volksvertretung
+kmpfenden Parteien, unter denen sich
+Mnner wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler
+usw. befanden, einfach als eine &#8222;Clique&#8221; zu bezeichnen,
+hat selbst Schweitzer nie getan.</p>
+
+<p>Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in
+der Bewegung fort, und es hat langwierige und
+schwere Kmpfe gekostet, bis sie vllig berwunden
+wurden. Was die theoretischen Irrtmer
+Lassalles anbetrifft, die ich oben ausfhrlicher
+behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie
+heftige Kmpfe es gekostet hat, bis sich in der
+deutschen sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige
+Wertschtzung der Gewerkschaftsbewegung
+Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften
+von einem groen Teil der Sozialisten mit
+dem Hinweis auf das &#8222;eherne Lohngesetz&#8221; bekmpft
+wurden. Die persnliche Frbung, die
+Lassalle der Bewegung gab, hatte zur Folge,
+da diese nach seinem Tode in das Fahrwasser
+der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in
+ihm trieb.</p>
+
+<p>Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt
+und auffallende Eigenschaften entwickelt haben,
+pflegen alsbald eine groe Anzahl Nachahmer
+zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und
+Achtels-Lassalle sproten nach seinem Tode
+frhlich aus dem Boden. Da sie aber in Ermangelung
+seines Talents sich darauf beschrnken
+muten, ihm nachzuahmen &#8222;wie er sich geruspert
+und wie er gespuckt&#8221;, und dies, wie wir gesehen<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span>
+haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so
+bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen
+der Arbeiterbewegung.</p>
+
+<p>Heute ist das alles berwunden, und die Sozialdemokratie
+kann ohne Bitterkeit darber hinweggehen.
+Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung
+darunter litt, und darum sei es hier erwhnt.</p>
+
+<p>Damit indes genug. Es mchte sonst der Eindruck
+dessen, was ich vorher von dem Erbe gesagt,
+das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute
+hinterlassen, wiederum abgeschwcht werden, und
+das liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Solange
+ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu
+untersuchen hatte, mute ich scharf sein; denn
+hher als der Ruhm des einzelnen steht das Interesse
+der groen Sache, fr die der Kampf geht,
+und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die
+Sozialdemokratie hat keine Legenden und braucht
+keine Legenden, sie betrachtet ihre Vorkmpfer
+nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann
+es daher auch vertragen, wenn sie als Menschen
+kritisiert werden. Sie wrdigt darum nicht weniger
+ihre Verdienste und hlt das Andenken derer
+in Ehren, die das Werk der Befreiung der
+Arbeiterklasse wesentlich gefrdert haben.</p>
+
+<p>Und das hat Lassalle in hohem Mae getan.
+Vielleicht in hherem Mae, als er selbst am Vorabend
+seines Todes geahnt hat. Es ist anders gekommen,
+als wie er glaubte, aber die Bewegung
+ist heute dieselbe, fr die er im Frhjahr 1863
+das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben Ziele,<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span>
+fr die sie heute kmpft, wenn sie auch in andrer
+Weise und mit andern Forderungen kmpft. Nach
+etlichen Jahren wird sie vielleicht wieder in
+andrer Weise kmpfen, und es wird doch dieselbe
+Bewegung sein.</p>
+
+<p>Kein Mensch, und sei er der grte Denker,
+kann den Weg der Sozialdemokratie im einzelnen
+vorherbestimmen. Niemand wei, wie viele
+Kmpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kmpfer
+noch werden ins Grab sinken mssen, bis das Ziel
+der Bewegung erreicht ist; aber die Leichensteine
+ihrer Toten erzhlen von den Fortschritten der
+Bewegung und erfllen ihre Kmpfer mit Siegesgewiheit
+fr die Zukunft.</p>
+
+<p>Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht
+geschaffen, so wenig wie irgendein andrer sie
+geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es bereits
+unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands
+grte und brodelte, als Lassalle sich an die
+Spitze der Bewegung stellte. Aber wenn er auch
+nicht als Schpfer der Partei bezeichnet werden
+darf, so gebhrt Lassalle doch der Ruhm, da er
+Groes fr sie ausgerichtet hat, &mdash; so Groes, wie
+es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist
+nur erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewutes
+Streben verbreitet, er hat der deutschen
+Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen
+Mission beigebracht, er hat sie gelehrt,
+sich zur selbstndigen politischen Partei zu organisieren,
+und er hat auf diese Weise den Entwicklungsproze
+der Bewegung ganz erheblich<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span>
+beschleunigt. Sein eigentliches Unternehmen
+schlug fehl, aber der Kampf fr es war kein
+vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die
+Fahne fr die Erkmpfung des allgemeinen,
+gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank
+der Agitation des von ihm gegrndeten Allgemeinen
+deutschen Arbeitervereins fr diese Forderung
+wurden die Fortschrittler gentigt, sich nun gleichfalls
+ihrer anzunehmen, und so verschwand sie
+nicht mehr von der Tagesordnung und mute die
+Berliner Regierung in sie einwilligen, als nach
+dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung
+des Norddeutschen Bundes geschaffen wurde. Das
+allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht
+wurde wenigstens fr den Reichstag des
+Norddeutschen Bundes und spter des Deutschen
+Reiches verfassungsmiges Volksrecht. Noch
+war freilich die Zeit der Siege durch die Waffe
+dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu
+knnen, mute die Arbeiterschaft erst kmpfen
+lernen. Die Siege sind dann nicht ausgeblieben,
+von Wahl zu Wahl haben sie sich gehuft, und
+im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer
+Form ins Land geht, hat die deutsche Arbeiterschaft
+vermittelst des nun auf die Wahlen zu
+allen Gesetzgebungskrpern und den Selbstverwaltungsvertretungen
+ausgedehnten und in jeder
+Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine politische
+Machtstellung erlangt, die ihr die glnzendsten
+Aussichten auf Durchsetzung tiefgreifender
+Manahmen sozialer Befreiung erffnet. Sie zum<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span>
+Kampf einexerziert, ihr fr ihn und ihre weiteren
+Ziele, wie es im Liede heit, Schwerter gegeben,
+zugleich aber auch in die Seelen deutscher
+Arbeiter Sinn und Verstndnis fr diesen <em class="gesperrt">organischen</em>
+Weg gepflanzt zu haben, der unter
+allen Gesichtspunkten dem wilden Massenkampf
+vorzuziehen ist, &mdash; bleibt das groe, das unvergngliche
+Verdienst Ferdinand Lassalles.</p>
+
+<hr class="chap" />
+
+
+
+
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span></p>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_1_1" id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Auf Vorgnge, die mit Fhrung und Ausgang
+des Hatzfeldt-Prozesses in Verbindung stehen, bezieht
+sich ein Teil der Anklagen, welche im Jahre 1855 eine
+von Dsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles,
+nach London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten
+bei Karl Marx und Freiligrath gegen Lassalle
+erhob und die auf diese beiden, wie Marx an Engels
+schrieb, einen <em class="gesperrt">entscheidenden Eindruck</em> machten.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_2_2" id="Fussnote_2_2"></a><a href="#FNAnker_2_2"><span class="label">[2]</span></a> G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches
+Charakterbild. Berlin 1877.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_3_3" id="Fussnote_3_3"></a><a href="#FNAnker_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben,
+als ich durch die Freundlichkeit von Friedrich
+Engels die im Nachla von Karl Marx vorgefundenen
+Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die seitdem
+von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart,
+J.&nbsp;H.&nbsp;W.&nbsp;Dietz Nachfolger). Ein vom 7.&nbsp;Mai&nbsp;1859
+datierter, an Marx und Engels adressierter Brief handelt
+bis auf wenige Zeilen ausschlielich vom &#8222;Franz
+von Sickingen&#8221;. Lassalle hatte von dem Drama, sobald
+es im Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl
+Marx und Friedrich Engels geschickt, worauf ihm
+diese, die damals noch rtlich getrennt lebten, eingehend
+ihre Urteile ber es mitteilten, und der erwhnte
+Brief Lassalles ist dessen Antwort auf diese
+Urteile. Er verbindet sie in einem und demselben
+Schreiben, weil, wie er sich ausdrckt, &#8222;Eure beiderseitigen
+Einwrfe, ohne geradezu identisch zu sein,
+doch in der Hauptsache dieselben Punkte berhren&#8221;.
+</p>
+<p>
+Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, da
+die Kritik von Marx wie Engels eben die Punkte betrifft,
+die auch ich im obigen kritisieren zu mssen
+glaubte. &#8222;Ihr stimmt beide darin berein,&#8221; schreibt
+Lassalle an einer Stelle, &#8222;da auch Sickingen noch
+zu abstrakt gezeichnet ist.&#8221; In diesem Satze ist in
+nuce dasselbe gesagt, was ich oben ausgefhrt habe.
+Der Lassallesche Sickingen ist nicht der streitbare
+Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts,
+er ist der in des letzteren Rstung gesteckte
+Liberale des neunzehnten Jahrhunderts, das heit der
+liberale Ideologe. Seine Reden fallen gewhnlich vollstndig
+aus der Epoche, in der sie gehalten sein sollen,
+heraus. &#8222;Ihr begegnet Euch Beide&#8221;, schreibt Lassalle
+an einer andern Stelle, &#8222;da ich die Bauernbewegung
+&#8218;zu sehr zurckgesetzt&#8217;, &#8218;nicht genug hervorgehoben
+habe&#8217;. Du (Marx) begrndest dies so: Ich htte
+Sickingen und Hutten daran untergehen lassen mssen,
+da sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer Einbildung
+revolutionr waren, in der Tat aber ein reaktionres
+Interesse vertraten. &#8218;Die adligen Reprsentanten
+der Revolution&#8217;, sagst Du, &#8218;hinter deren Stichwrtern
+von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des
+alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert &mdash;
+durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie
+sie es bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern,
+namentlich dieser, und der revolutionren Elemente in
+den Stdten muten einen ganz bedeutend aktiveren
+Hintergrund bilden. Du httest dann auch in viel
+hherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer
+naivsten Form sprechen lassen knnen, whrend jetzt
+in der That, auer der religisen Freiheit, die brgerliche
+Einheit die Hauptidee bleibt&#8217;. &#8218;Bist Du nicht
+selbst&#8217;, rufst Du aus, &#8218;gewissermaen wie Dein Franz
+von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen,
+die lutherisch-ritterliche Opposition ber die plebejisch-brgerliche
+zu stellen?&#8217;&#8221;
+</p>
+<p>
+Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen
+fortgelassen, weil sie sich meist auf
+im Brief vorhergehende Ausfhrungen beziehen, hier
+also unverstndlich wren. Im wesentlichen verteidigt
+sich Lassalle damit, da er nachzuweisen sucht, die
+ritterliche Beschrnktheit, soweit sie berhaupt im
+historischen Sickingen vorhanden, damit gengend zum
+Ausdruck gebracht zu haben, da Sickingen, statt sich
+an die ganze Nation zu wenden, statt alle revolutionren
+Krfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und
+sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen
+ritterlichen beginnt und fortfhrt, bis er an der Beschrnktheit
+seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht.
+Gerade darin, da Sickingen unterliegt, weil er nicht
+weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich
+die revolutionre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung
+aber habe er in der einen Szene des Stckes, in
+der er die Bauern selbst auf die Bhne bringe, und in
+den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars
+usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben,
+welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt habe und noch
+darber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung
+ebenso reaktionr gewesen, wie die des Adels.
+</p>
+<p>
+Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich
+auch in verschiedenen seiner spteren Schritten verfochten,
+so u.&nbsp;a. im &#8222;Arbeiterprogramm&#8221;. Sie ist aber
+m.&nbsp;E. keineswegs richtig. Da die Bauern mit Forderungen
+auftraten, die auf die Vergangenheit zurckgriffen,
+stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionren,
+die Bauern waren zwar keine neue Klasse,
+aber sie waren keineswegs, wie die Ritter, eine untergehende
+Klasse. Das Reaktionre in ihren Forderungen
+ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das
+bersieht Lassalle, der als Hegelianer hier wieder
+in den Fehler verfllt, die Geschichte aus den &#8222;Ideen&#8221;
+abzuleiten, so vollstndig, da er zu der Marxschen
+Bemerkung: &#8222;Du httest dann auch in viel hherem
+Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten
+Form sprechen lassen knnen&#8221;, ein doppeltes Fragezeichen,
+verstrkt durch ein Ausrufungszeichen, macht.
+</p>
+<p>
+Der andere Teil seiner Verteidigung htte dann seine
+Berechtigung, wenn im Stck auch nur die leiseste
+Andeutung gegeben wre, da Sickingens Beschrnkung
+auf seine ritterlichen Mittel seiner ritterlichen
+Beschrnktheit geschuldet war. Das ist aber nicht
+der Fall. Im Stck wird sie lediglich als ein taktischer
+Fehler behandelt. Das reicht aus fr die tragische
+Idee des Dramas, aber nicht fr die Veranschaulichung
+des historischen Anachronismus, an dem das Sickingensche
+Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen
+ist.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_4_4" id="Fussnote_4_4"></a><a href="#FNAnker_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Da Vogt verdchtig war, hatte Lassalle, der
+ursprnglich Vogt in Schutz genommen, schon frher
+zugegeben.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_5_5" id="Fussnote_5_5"></a><a href="#FNAnker_5_5"><span class="label">[5]</span></a> Desgleichen auch in einer zweiten Broschre
+von Engels &#8222;Savoyen, Nizza und der Rhein&#8221;. Lassalle
+hatte in seiner Broschre die Annexion Savoyens an
+Frankreich als eine ganz selbstverstndliche und, wenn
+Deutschland eine dieser Vergrerung aufwiegende
+Kompensation erhielte, &#8222;ganz unanstige&#8221; Sache hingestellt.
+Engels weist nun nach, welche auerordentlich
+starke militrische Position der Besitz Savoyens
+Frankreich Italien und der Schweiz gegenber verschaffe,
+was doch auch in Betracht zu ziehen war.
+Sardinien gab Savoyen preis, weil es im Moment mehr
+dafr eintauschte, die Schweizer waren aber durchaus
+nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmnner,
+Stmpfli, Frey-Heros u.&nbsp;a., taten ihr mglichstes, die
+berlieferung des bisher neutralen Savoyer Gebiets
+in franzsische Hnde zu verhindern. Im &#8222;Herr
+Vogt&#8221; kann man nachlesen, durch welche Manver
+die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemhungen
+hintertrieben. Alles brige sagt ein einfacher
+Blick auf die Landkarte.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_6_6" id="Fussnote_6_6"></a><a href="#FNAnker_6_6"><span class="label">[6]</span></a> Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung:
+&#8222;Nur da zum Glck auch Ihr ihm dieselbe
+nicht beibringen werdet, und darum erscheint mir der
+revolutionre Nutzen allerdings als gesichert.&#8221; Wenn
+dem aber so war, wozu dann erst die Broschre?</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_7_7" id="Fussnote_7_7"></a><a href="#FNAnker_7_7"><span class="label">[7]</span></a> Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage
+die oben in griechische Klammern gesetzte Betrachtung,
+die nicht nur durch die russische Revolution
+mit der Auflsung des russischen Imperiums den
+grten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat,
+sondern die auch Wendungen enthlt, zu denen ich
+mich grundstzlich nicht mehr bekennen kann. Ich
+habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, weil
+sie immerhin erkennen lt, wie sich zur Zeit, wo
+sie geschrieben wurde &mdash; 1891 &mdash; nach meiner Ansicht
+die durch 1866 geschaffene Lage unter deutschem
+Gesichtspunkt darstellte.
+</p>
+<p>
+In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung
+eine redaktionelle Abnderung erfahren, die mir deshalb
+der Erwhnung wert erscheint, weil sie zweifelsohne
+auf Friedrich Engels zurckzufhren ist, der,
+wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe
+durchgesehen hat. Ins Deutsche zurckbersetzt lautet
+die Einleitung dort:
+</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>&#8222;Wohin hat die preuische Lsung der nationalen
+Frage Deutschland gebracht? Lassen wir die Frage
+Elsa-Lothringen beiseite &mdash; die Annexion dieser
+Provinzen war ein weiterer Bockstreich &mdash; und betrachten
+wir nur die Lage des deutschen Volkes
+gegenber Ruland und dem Panslawismus. sterreichs
+Verdrngung aus dem Deutschen Bund&#8221;
+(weiter, wie im Original).</p></blockquote>
+
+<p>
+Obwohl bei mir die Annexion Elsa-Lothringens
+mit keiner Silbe erwhnt war und sie fr Englnder
+damals noch kein spezielles Interesse hatte, nimmt
+Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, ihrer
+zu erwhnen, um sie als einen groben politischen Fehler
+zu bezeichnen &mdash; &#8222;an additional blunder&#8221; heit es im
+Englischen. Ein Beweis, wie wenig Engels diese
+Annexion fr endgltig ansah.
+</p>
+<p>
+Da im Englischen statt &#8222;uns gebracht&#8221; gesagt
+wird: &#8222;Deutschland gebracht&#8221;, war durch die Rcksicht
+auf das andre Lesepublikum von selbst geboten.
+Ich wrde aber heute auch aus stilistischen Grnden
+diese przisere Ausdrucksweise vorziehen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_8_8" id="Fussnote_8_8"></a><a href="#FNAnker_8_8"><span class="label">[8]</span></a> Unter dem Titel &#8222;Eine Liebes-Episode aus dem
+Leben Ferdinand Lassalles&#8221;. Die Verfasserin ist
+nun auch lngst aus dem Leben geschieden.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_9_9" id="Fussnote_9_9"></a><a href="#FNAnker_9_9"><span class="label">[9]</span></a> Noch hinreiender schildert Lassalle sein seelisches
+Verhltnis zu Sophie von Hatzfeldt in einem
+Fragment gebliebenen Brief an eine ungenannte
+Adressatin, der er darin die Liebe aufkndigt, weil
+die Dame ihm erklrt hatte, sie knne es nicht vertragen,
+neben sich noch Sophie von Hatzfeldt um
+Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine ganze Abhandlung
+ber seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe
+Ferdinand Lassalles, Nachtrag.)</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_10_10" id="Fussnote_10_10"></a><a href="#FNAnker_10_10"><span class="label">[10]</span></a> Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht
+man die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundstze, die
+durch die philosophische Untersuchung vom Begriff
+und Wesen des Rechts und der Rechtsverhltnisse
+gewonnen werden und als den Menschen sozusagen
+angeborenes, ihr natrliches Recht gelten sollen. Es
+werden daher vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht
+als Gleiches bezeichnende Begriffe gebraucht.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_11_11" id="Fussnote_11_11"></a><a href="#FNAnker_11_11"><span class="label">[11]</span></a> Vgl. Fr. Engels, &#8222;Der Ursprung der Familie, des
+Privateigentums und des Staats. Im Anschlu an
+Lewis&nbsp;H.&nbsp;Morgans Forschungen&#8221;. 1.&nbsp;Aufl.&nbsp;S.&nbsp;93.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_12_12" id="Fussnote_12_12"></a><a href="#FNAnker_12_12"><span class="label">[12]</span></a> Um das Jahr 450 v. Chr.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_13_13" id="Fussnote_13_13"></a><a href="#FNAnker_13_13"><span class="label">[13]</span></a> Neuere Untersuchungen haben festgestellt, da
+das Aufkommen des Ahnenkultus bei allen Vlkern
+mit dem bergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht
+zusammentrifft.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_14_14" id="Fussnote_14_14"></a><a href="#FNAnker_14_14"><span class="label">[14]</span></a> brigens brauchen auch die Rmer das Wort
+familia nicht blo zur Bezeichnung der einzelnen,
+unter einem Oberhaupt stehenden Hausgenossenschaft,
+sondern bereits ebenfalls fr den mehr oder minder
+gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des
+rmischen Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird
+ausdrcklich zwischen der &#8222;familia&#8221; im engeren Sinne
+(jure proprio) und der familia im weiteren Sinne (communi
+jure) unterschieden, zu welch letzterer alle diejenigen
+gehren &#8222;... die aus demselben Haus und derselben
+gens hervorgegangen sind.&#8221; Fr Lassalle ist die
+betreffende Stelle ein weiterer Beweis, da das rmische
+Intestaterbe &mdash; kein Familienerbe gewesen sei.
+&#8222;Denn,&#8221; sagt er u.&nbsp;a., &#8222;man wird doch ... das Erbrecht
+der Gentilen nicht als ein &#8218;Familienrecht&#8217; ausgeben
+wollen!&#8221;</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_15_15" id="Fussnote_15_15"></a><a href="#FNAnker_15_15"><span class="label">[15]</span></a> Auch gegen die Art, wie in Preuen bei der Aufhebung
+von Grundsteuerfreiheiten usw. Entschdigungen
+von der Volksvertretung erpret wurden, sagt
+Lassalle manches krftige Wort. &#8222;Wenn eine Staatsregierung&#8221;,
+schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von
+der preuischen Regierung eingebrachten und solche
+Entschdigungen stipulierenden Entwurf &mdash; &#8222;die unbegreifliche
+Schwche hat, einen solchen Vorschlag
+zu machen, so verzichtet sie dabei grundstzlich auf
+das Souvernittsrecht des Staates, und wenn eine
+Kammer pflichtvergessen genug sein knnte, aus Rcksicht
+auf diese Schwche auf einen solchen Vorschlag
+einzugehen, so wrde sie wenigstens weit logischer
+handeln, gleich geradezu die Hrigkeit des Volkes
+von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.&#8221;
+Was htte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert
+htte, noch nach dreiig Jahren werden in Preuen
+solche &#8222;Schwchen&#8221; und solche &#8222;Pflichtvergessenheit&#8221;
+berechtigte nationale Institutionen sein! Freilich, Lassalle
+war damals noch naiv genug, zu schreiben, da,
+als in England die Kornzlle aufgehoben wurden, die
+Tories nicht die &#8222;Schamlosigkeit&#8221; gehabt haben, &#8222;sich
+aus ihren jetzt unspekulativ gewordenen Gterankufen
+ein Ersatzrecht gegen den ffentlichen Geist zu drehen!&#8221;
+Htte er dreiig Jahre lnger gelebt, so wrde er erfahren
+haben, da was den Tories 1846 fehlte, weiter
+nichts war, als das richtige &#8222;praktische Christentum&#8221;.
+</p>
+<p>
+Aber welche Ironie der Geschichte, da die Aufgabe,
+die Neuauflage des &#8222;Systems der erworbenen
+Rechte&#8221; zu besorgen, gerade Lothar Bucher zufallen
+mute. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten
+Ausgabe, nur seine Berufsttigkeit habe ihn verhindert,
+den Nachweis zu versuchen, wie das &#8222;System in den
+Gesetzberatungen der letztverflossenen zehn Jahre htte
+benutzt oder erprobt werden knnen&#8221;. Tatschlich
+schlagen die meisten der dafr in Betracht kommenden
+Gesetze der ra Bismarck dem Geist dieses Buches
+direkt ins Gesicht.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_16_16" id="Fussnote_16_16"></a><a href="#FNAnker_16_16"><span class="label">[16]</span></a> Man mu sich freilich das Verhltnis nicht gar
+zu mechanisch vorstellen. Nach dem Gesetz der
+Wechselwirkungen knnen die religisen, Rechts- usw.
+Anschauungen, kurz das, was man unter dem Begriff
+des Volksgeistes zusammenfat, ihrerseits wiederum
+einen groen Einflu auf die Gestaltung der Produktionsverhltnisse
+ausben, innerhalb gewisser Grenzen
+z.&nbsp;B. ihre Fortentwicklung hindern oder verlangsamen.
+Schlielich sind es doch immer die Menschen, die ihre
+eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich hier
+um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung
+zugrunde liegen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_17_17" id="Fussnote_17_17"></a><a href="#FNAnker_17_17"><span class="label">[17]</span></a> In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt
+er es &#8222;ein Meisterwerk&#8221;, das ihn &#8222;zur hchsten Bewunderung
+hingerissen&#8221; habe.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_18_18" id="Fussnote_18_18"></a><a href="#FNAnker_18_18"><span class="label">[18]</span></a> Da die Fhrer der Italiener Becker sehr gut
+kannten, geht aus einem Briefe Mazzinis an Becker
+vom Juni 1861 hervor. Vgl. die Verffentlichungen
+R. Reggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im
+Jahrgang 1888 der &#8222;Neuen Zeit&#8221;, S.&nbsp;458&nbsp;usf.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_19_19" id="Fussnote_19_19"></a><a href="#FNAnker_19_19"><span class="label">[19]</span></a> Die Briefe Lassalles an Hans von Blow sind
+Mitte der achtziger Jahre im Buchhandel erschienen.
+(Dresden und Leipzig, H.&nbsp;Minden.) So dnn das
+Bndchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im
+Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines ber
+Lassalle dem Frsten Pckler-Muskau zugeschrieben;
+die Briefe selbst sind nicht einmal chronologisch geordnet,
+wozu deren Nichtdatierung von seiten Lassalles
+den Vorwand liefern mu, obwohl bei den meisten
+aus dem Inhalt das ungefhre Datum leicht festzustellen
+war. In einem der Briefe ist von &#8222;Salingers
+genialer Komposition&#8221; die Rede. Der Herausgeber,
+der die Briefe von Hans von Blow selbst erhalten,
+macht dazu die Note &#8222;Arbeiterhymne von Herwegh&#8221;.
+Da der Name Salinger bzw. Solinger Pseudonym fr
+Hans von Blow war, wird dagegen nicht einmal angedeutet.
+Blow hatte die Komposition des Herweghschen
+Gedichts unter dem Namen Solinger verffentlicht.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_20_20" id="Fussnote_20_20"></a><a href="#FNAnker_20_20"><span class="label">[20]</span></a> Wohl ein Druckfehler.
+</p>
+<p class="right">D. H.
+</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_21_21" id="Fussnote_21_21"></a><a href="#FNAnker_21_21"><span class="label">[21]</span></a> Wir haben oben, bei Besprechung des &#8222;Italienischen
+Krieges&#8221; gesehen, mit welchem khlen, gar nicht
+in die Schablone des &#8222;guten Patrioten&#8221; passenden
+Blick Lassalle die Rckwirkung auswrtiger Verwicklungen
+auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend
+dafr ist auch eine Stelle in der Schrift
+&#8222;Was nun?&#8221;, die schon deshalb hierher gehrt, weil
+Lassalles dort entwickelter Vorschlag tatschlich nur
+zwei Lsungen zulie: Entweder Staatsstreich oder
+Revolution. Anknpfend daran, wie unmglich und
+unhaltbar die auswrtige diplomatische Stellung der
+preuischen Regierung wre, wenn sein Vorschlag befolgt
+wrde, fhrt Lassalle fort:
+</p>
+<p>
+&#8222;Da Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube,
+dies sei ein unpatriotisches Rsonnement. Einmal hat
+der Politiker, wie der Naturforscher, Alles zu betrachten,
+was ist, und also alle wirkenden Krfte in
+Erwgung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten
+unter einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der
+Konflikt in den diplomatischen Beziehungen ist einmal
+eine wirkende Kraft und, gleichviel ob gut oder
+schlimm, mte sie hiernach schon unbedingt in Rechnung
+gezogen werden. berdies aber, meine Herren,
+wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille
+meines Zimmers bei historischen Studien mir die groe
+Wahrheit auf das Genaueste zu vergegenwrtigen, da
+fast garnicht abzusehen wre, auf welcher Stufe der
+Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch
+stehen wrden, wenn nicht seit je die Eifersucht und
+der Gegensatz der Regierungen unter einander ein
+wirksames Mittel gewesen wre, die Regierung zu
+Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber,
+meine Herren, ist die Existenz der Deutschen nicht
+von so prekrer Natur, da bei ihnen eine Niederlage
+ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr fr die Existenz
+der Nation in sich schlsse. Wenn Sie, meine
+Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verstndni
+betrachten, so werden Sie sehen, da die
+Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so
+riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem
+brigen Europa vorleuchtende sind, da an der Nothwendigkeit
+und Unverwstlichkeit unserer nationalen
+Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten
+wir also in einen groen ueren Krieg, so knnen in
+demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die
+schsische, preuische, bayerische zusammenbrechen,
+aber wie ein Phnix wrde sich aus der Asche derselben
+unzerstrbar erheben das, worauf es uns allein
+ankommen kann &mdash; das deutsche Volk!&#8221;
+</p>
+<p>
+Es ist in diesen Stzen sehr viel Richtiges enthalten,
+doch darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens,
+da, ein so wichtiger Faktor des Fortschritts der Vlker
+die Rivalitt der Regierenden sein kann und unzweifelhaft
+oft gewesen ist, sie doch auch recht oft
+als ein Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt,
+sich als ein Hemmnis des Fortschritts erwiesen hat.
+Es sei nur an die beiden Gesichter des heutigen Militarismus
+erinnert. Zweitens, da ein uerer Krieg
+zwar ein groes Kulturvolk nicht aus der Reihe der
+Nationen auslschen, es aber doch so wesentlich in
+seinen Lebensinteressen schdigen kann, da er immer
+eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber
+auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwhnten
+Beispiel tut Lassalle nur das erstere, aber wie der
+Schlusatz und seine Briefe zeigen, war er auch zu
+dem Letzteren sehr geneigt &mdash; eine brigens weit verbreitete,
+aber darum nicht minder zu bekmpfende
+Tendenz.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_22_22" id="Fussnote_22_22"></a><a href="#FNAnker_22_22"><span class="label">[22]</span></a> Auf 3428457 selbstttige Personen in der Landwirtschaft
+kamen damals in Preuen erst 766180
+selbstttige Personen in der Fabrikindustrie, die Geschftsleiter
+und Beamten eingeschlossen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_23_23" id="Fussnote_23_23"></a><a href="#FNAnker_23_23"><span class="label">[23]</span></a> Ursprnglich hatte es in Rodbertus' &#8222;Offenem
+Brief&#8221; geheien: &#8222;Und ich wiederhole, da ich mir
+auch von den Produktivassoziationen nicht im Geringsten
+einen Beitrag zu dem verspreche, was man
+die Lsung der sozialen Frage nennt.&#8221; Auf Wunsch
+Lassalles wurden aber diese Worte beim Druck
+fortgelassen, da er der Sache nach eine Wiederholung
+des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen
+Form aber notwendigerweise &#8222;die Arbeiter, wenn
+sie so schroffen Widerstreit zwischen ihren Fhrern
+sehen, entmutigen msse&#8221;. (Lassalles Brief an Rodbertus
+vom 22. April 1863.)</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_24_24" id="Fussnote_24_24"></a><a href="#FNAnker_24_24"><span class="label">[24]</span></a> &#8222;Neue Zeit&#8221;, Jahrgang 1890/91: &#8222;Zur Frage des
+ehernen Lohngesetzes.&#8221; Die so betitelte Abhandlung
+ist von mir spter gesondert in das Buch &#8222;Zur Theorie
+des Lohngesetzes und Verwandtes&#8221; (erster Teil der
+Sammelschrift &#8222;Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus&#8221;,
+Berlin, Ferd. Dmmler) bernommen worden.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_25_25" id="Fussnote_25_25"></a><a href="#FNAnker_25_25"><span class="label">[25]</span></a> Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation
+Louis Blanc &#8222;entlehnt&#8221; &mdash; richtiger, Louis Blancs
+Assoziationsplan in seiner Weise umgearbeitet. Lassalles
+Vorschlag nimmt eine Mittelstellung zwischen
+Louis Blancs und Proudhons Vorschlgen ein; mit
+dem ersteren hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren
+die Selbstndigkeit der Assoziation gemein.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_26_26" id="Fussnote_26_26"></a><a href="#FNAnker_26_26"><span class="label">[26]</span></a> In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe
+der Lassalleschen Briefe heit es &#8222;nicht gehrt&#8221;.
+Das &#8222;nicht&#8221; beruht aber, wie sich im folgenden zeigt,
+auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck
+des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl.&nbsp;a.&nbsp;a.&nbsp;O.
+S.&nbsp;463).</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_27_27" id="Fussnote_27_27"></a><a href="#FNAnker_27_27"><span class="label">[27]</span></a> D.&nbsp;h. als der berschu des Bodenertrags ber
+einen gewissen Mindestsatz, unter dem Boden berhaupt
+nicht bewirtschaftet wird, weil er nicht einmal
+vollwertige Bezahlung fr die in ihn gesteckte Arbeit
+abwirft.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_28_28" id="Fussnote_28_28"></a><a href="#FNAnker_28_28"><span class="label">[28]</span></a> Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlgen
+von Henry George, Flrscheim usw., da Lassalle
+die allgemeine Verwirklichung der Assoziationen voraussetzt,
+ohne welche, wie wir frher gesehen haben,
+jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen
+Lohngesetz scheitern mte.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_29_29" id="Fussnote_29_29"></a><a href="#FNAnker_29_29"><span class="label">[29]</span></a> Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch,
+wenn Lassalle z.&nbsp;B. in seiner Leipziger Rede &#8222;Zur
+Arbeiterfrage&#8221; den sogenannten Manchestermnnern
+u.&nbsp;a. schon daraus einen Vorwurf machte, da sie,
+wenn sie knnten, den Staat &#8222;untergehen lassen wrden
+in der Gesellschaft&#8221;. Tatschlich liegt das Bezeichnende
+jedoch darin, da die Manchestermnner
+den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft untergehen
+lassen wollen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_30_30" id="Fussnote_30_30"></a><a href="#FNAnker_30_30"><span class="label">[30]</span></a> Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein
+Schulknabe war, noch sehr gut jener Epoche; aus
+ihr datieren meine ersten politischen Eindrcke. In
+der Schulklasse, auf dem Turnplatz &mdash; berall wurde
+in jenen Tagen politisiert, und natrlich gaben wir
+Knaben nur in unserer Art wieder, was wir im elterlichen
+Hause, in unserer Umgebung, zu vernehmen
+pflegten. Meine Mitschler gehrten den brgerlichen
+Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an,
+aber die einen wie die andern waren gleich fest davon
+berzeugt, da eine Revolution &#8222;kommen mu&#8221;, denn
+&#8222;mein Vater hat es auch gesagt&#8221;. Jede uerung der
+Wortfhrer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis
+auf die Revolution gedeutet werden knnte, wurde
+triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen
+Spottverse auf den Knig und seine Minister.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_31_31" id="Fussnote_31_31"></a><a href="#FNAnker_31_31"><span class="label">[31]</span></a> So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles
+gegen Schulze-Delitzsch, &#8222;Bedrfnis&#8221; und &#8222;Trieb nach
+Befriedigung&#8221; seien &#8222;nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen
+fr dieselbe Sache&#8221; falsch. Beides fllt
+in der Regel zusammen, ist aber keineswegs dasselbe.
+Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darber
+lustig, da Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen
+menschlicher und tierischer Arbeit darin erblicke,
+da die erstere Arbeit fr knftige Bedrfnisse
+sei, verfllt aber seinerseits in den noch greren
+Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen,
+da der Mensch mit Bewutsein, das Tier ohne solches
+ttig sei. Und hnlich an anderen Stellen.</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_32_32" id="Fussnote_32_32"></a><a href="#FNAnker_32_32"><span class="label">[32]</span></a> Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers
+erinnert. Ferner ist interessant folgende Stelle aus
+dem Schluwort einer Ansprache des Herrn Herm.
+Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck und
+tonangebenden Leiter der &#8222;Kreuz-Zeitung&#8221;, in einer
+Sitzung des konservativen preuischen Volksvereins
+vom 2.&nbsp;November&nbsp;1862: &#8222;Meine Herren, tuschen
+wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn
+sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die
+soziale Frage zu lsen, so ist all Euer Laufen und
+Mhen umsonst. Ich schliee deshalb mit der Aufforderung,
+treiben wir das, was wir als die Aufgaben
+und Bedrfnisse der nchsten Zukunft erkennen, treiben
+wir das mit noch mehr Energie, treiben wir es
+nicht blo fr die Zeit der Wahlen.&#8221;</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_33_33" id="Fussnote_33_33"></a><a href="#FNAnker_33_33"><span class="label">[33]</span></a> Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der
+Lassalleschen Schriften dem fr das groe Publikum
+bestimmten Vorwort Lassalles zum Franz von Sickingen
+angefgt (vgl. Bd. I).</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_34_34" id="Fussnote_34_34"></a><a href="#FNAnker_34_34"><span class="label">[34]</span></a> Die Stelle lautet: &#8222;Mit dem Trost einer mglichst
+baldigen gesetzlichen Regelung der Frage und
+dadurch Abhlfe ihrer Not entlieen Seine Majestt
+die Deputation. Das knigliche Versprechen wird
+erhebend und ermuthigend in allen Thlern des Riesengebirges
+widerhallen und vielen hundert duldenden
+redlichen Familien neue Hoffnung und neue Kraft
+zum muthigen Ausharren geben.&#8221;</p></div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a name="Fussnote_35_35" id="Fussnote_35_35"></a><a href="#FNAnker_35_35"><span class="label">[35]</span></a> In einen Brief Lassalles an den Vize-Prsidenten
+Dr. Dammer, an den Lassalle in der ersten
+Aufregung zwei sich durchaus widersprechende Telegramme
+gesandt, hatte es wrtlich geheien: &#8222;Die
+erste Depesche ... erlie ich sofort, weil mir der
+ganze Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht
+hchst unangenehm ist.&#8221; Der Widerspruch in den
+Telegrammen erklrt sich jetzt durch die widerspruchsvolle
+Situation, in die Lassalle geraten war. Er war,
+ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.</p></div>
+
+<div class='transnote'><h3>Anmerkungen zur Transkription:</h3>
+Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide
+Schreibweisen blich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen:
+
+<ul class="index">
+<li>anderm &mdash; anderem</li>
+<li>andern &mdash; anderen</li>
+<li>Arbeiterverein &mdash; Arbeiter-Verein</li>
+<li>eigne &mdash; eigene</li>
+<li>garnicht &mdash; gar nicht</li>
+<li>heut &mdash; heute</li>
+<li>Nothwendigkeit &mdash; Notwendigkeit</li>
+<li>Testamentrecht &mdash; Testamentsrecht</li>
+<li>Verstndni &mdash; Verstndnis</li>
+<li>Vermittelung &mdash; Vermittlung</li>
+</ul>
+
+Im Text wurden folgende nderungen vorgenommen:
+
+<ul class="index">
+<li>Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben.</li>
+<li>S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" gendert.</li>
+<li>S. 19 "Kulter" in "Kultur" gendert.</li>
+<li>S. 30 "Schaffot" in "Schafott" gendert.</li>
+<li>S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" gendert.</li>
+<li>S. 37 "Hatzfeldtproze" in "Hatzfeldt-Proze" gendert.</li>
+<li>S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" gendert (Funote).</li>
+<li>S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" gendert.</li>
+<li>S. 49 &#8218; vor "Denn" eingefgt.</li>
+<li>S. 55 &#8222; vor "Bei alledem" entfernt.</li>
+<li>S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" gendert.</li>
+<li>S. 72 &#8222; vor "zerfetzt" eingesetzt.</li>
+<li>S. 80 "Frei-Herros" in "Frey-Heros" gendert (Funote).</li>
+<li>S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" gendert.</li>
+<li>S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" gendert.</li>
+<li>S. 128 &#8222; vor "..." eingesetzt (Funote 14).</li>
+<li>S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" gendert.</li>
+<li>S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" gendert.</li>
+<li>S. 138 &#8222; am Beginn von Leibniz Zitat eingefgt.</li>
+<li>S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" gendert.</li>
+<li>S. 182 "anvancierten" in "avancierten" gendert.</li>
+<li>S. 206 &#8221; hinter "Bourgeoisie" eingefgt.</li>
+<li>S. 209 "sonderns" in "sonders" gendert.</li>
+<li>S. 217 "mute" und "muten" vertauscht.</li>
+<li>S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" gendert.</li>
+<li>S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" gendert.</li>
+<li>S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" gendert.</li>
+<li>S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" gendert.</li>
+<li>S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" gendert.</li>
+<li>Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" gendert.</li>
+</ul>
+
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE ***
+
+***** This file should be named 44722-h.htm or 44722-h.zip *****
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+Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the
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+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
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+ and discontinue all use of and all access to other copies of
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+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
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+Foundation as set forth in Section 3 below.
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+1.F.
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+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
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+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
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+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
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+WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit www.gutenberg.org/donate
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+</pre>
+
+</body>
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