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Das + Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186 + + Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. + Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften + mit Staatskredit 213 + + Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen + Arbeitervereins 235 + + Lassalle und Bismarck 263 + + Lassalles letzte Schritte und Tod 285 + + Schlußbetrachtung 293 + + + + +Vorwort. + + +Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre +1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung +„Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften +Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, +dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß +aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer +ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene +Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe. + +Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte +Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen +Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik +vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der +Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an +und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das +Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu +gestalten, als es früher vor uns stand. + +Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der +Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer +Begründer verehrt, _für_ die Partei, also namentlich auch für +bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf +zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863 +neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu +bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das +literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift +beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der +Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen +behandeln. Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur +Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des +Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen +und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer +Führer der sozialistischen Demokratie. + +_Berlin-Schöneberg_, im September 1919. + + _Ed. Bernstein._ + + + + +FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE + + + + +Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung. + + +Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete +Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren +gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und +Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder +Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man +alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so +ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an +bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem +Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so +hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner +früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige +Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe +seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren +Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf. + +Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der +kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz +zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der +schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum +Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst +in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen +die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem +Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum +zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller +Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die +Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen +jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange +Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit +diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße, +vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das +aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den +zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der +bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum +ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen +Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch +soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen +Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die +hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen +Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und +Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger +ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist +jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es +wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf +lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück. + +Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. +und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche +Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in +diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des +Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr +außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und +Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den +vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen +an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die +bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom +proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine +antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende +Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer +Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente +des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die +Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in +England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in +Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber +sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die +zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation +zurückbleiben. + +Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger +Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die +entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine +Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des +Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche +Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, +bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren +sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre +Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des +Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem +Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und +Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie +kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen +Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die +Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute +Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei +zu kämpfen. + +Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in +Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch +unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen +Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort +lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits +die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren +in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit, +der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in +Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor, +während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie +bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die +Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in +Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere +Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon +meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig +große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk. +Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er +sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen +einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und +die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben +dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den +Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der +Proudhonismus. + +In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die +Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals +in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der +Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische +Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte. + +In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse +der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern +teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf +verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief, +wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine +verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits +die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese +überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo +immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte, +so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten +des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in +Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf +der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von +ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das +Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen +unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten +noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten +ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich +an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres +gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen, +halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm +aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger +eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse +mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der +radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender +Bourgeoisphilantropen. + +Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten +mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor +sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der +erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England +die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley, +Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter +veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu +suchen -- nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre +„moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß” +usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren +Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch +die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen +besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern, +soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben +von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische +Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben, +trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser +Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes +„Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits +verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden +Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die +sogenannte freidenkerische Propaganda werfen. + +In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen, +welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne +drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische +Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß +nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18. +Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung +einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen, +es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine +der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre +Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle +Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber +diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie +sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine +bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der +Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren +treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre +Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine +Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen +großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der +Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten +Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig +scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.) + +In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der +Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren +Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben +ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in +nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche +Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich +mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen +harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher +Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der +selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur +„Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen +Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands +in ermunterndster Weise zustatten kam. + +Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften +weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; +diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt +werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie +in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große +Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister +der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie +angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr +ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden +fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die +Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt +hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und +Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von +Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone +des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern +als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom +Kapital. + +Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband +Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die +selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische +Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem +Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der +Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die +Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne +zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten +Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte +sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte, +bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche +und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften. + +Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen +Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, +als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen, +die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der +Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet, +Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation +dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der +liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich +erwärmen? + +Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben +werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift +Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von +den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der +Arbeiter erwartete: + +„Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die +Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen +den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen. Denn +muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer +zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen? +Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren +Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst +riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen +übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die +geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden? +-- Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den +Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die +Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen +ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher +gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals +allgemein und mit Sicherheit erreicht ... + +„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den +Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer +hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen +Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern, +weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während +also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen +annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und +mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen +Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem +Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer +Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur +erblicken ... + +„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter +sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen +Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es +allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen, +durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird, +ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert +ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser +Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen +geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als +Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer +Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der +Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten +anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis +dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar +nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das +Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und +Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann +erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in +tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar +hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und +das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.) + +Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862 +tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine +Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen +beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten +zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen, +aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften. + +Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848 +bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und +nehmen jetzt deren Faden wieder auf. + +Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen +empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der +Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. +Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen +Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage, +während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am +Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten +Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren +Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war, +sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des +„Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der +Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte +sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche +Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide +Regierungen vorderhand noch „solidarisch”. + +Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung, +die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850 +die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die +Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und +Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall +gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall +schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue +Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr +Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am +wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit +drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den +Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position +eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern +Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein +Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen +der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer +Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen +gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben +würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um +dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die +„Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen +Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen, +sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu +gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging +auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder +Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche +Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der +„Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands +Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle +zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen +Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien +angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach +die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man +nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem +Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte +Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch +abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen +sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und +Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter +von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis +geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten +hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die +liberalen „Freiheiten” brauchten? + +Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus +jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die +kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die +über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. Man +war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer +Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die +Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte +deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und +daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe. +Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen +Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den +Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die +Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu +Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man +hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt. + +Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts +braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der +Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im +heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der +Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in +Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber +kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden, +daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten +Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die +nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der +kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen, +überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten +Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen +Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch +immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem +Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden +Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr +Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das +Budgetrecht der Volksvertretung. + +Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt +noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf +jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren +Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der +Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die +ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen +dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten +kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig +ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst +Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von +Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit +kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch +sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die +Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine +eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch +wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als +eine bloße Kreatur der liberalen Partei. + +Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig +aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein +Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen +feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der +preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem +Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten, +_das_ „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten +-- nämlich die Klassenkämpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so +begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung +handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es +nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise +auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht +zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten, +als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das +Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein +zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen +Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” -- d. h. hübsch draußen +bleiben -- war in der Tat typisch für das Unvermögen der +Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als +den denkenden Spießbürger -- ihr Ebenbild, ihren Gott. + +So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger +Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur +Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge +die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war. + + + + +Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz +von Sickingen. + + +Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in +seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und +geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich, +sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunächst +innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt +Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst, +verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde -- kurz, +nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher +völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im +Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon +hatte. Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen +Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige +Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. +Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders +zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte, +daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse +darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem +Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden +Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen +ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei +seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen. +Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein. + +Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie +Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der +Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen +Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur +Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer +Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die +Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit +seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht +kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles +unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen +Handelns liefert. + +Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große, +man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir +sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder +Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das +Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen +noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines +eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie +gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine +innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß +Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden +hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum +Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren. Die +Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten, +unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte +ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen +jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter +Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so +selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen +trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in +das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen +Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung +gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am +1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein +Tagebuch: + +„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer +der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu +achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben +wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich +würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu +einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen +nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der +Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die +Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den +Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder +dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die +Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen +Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”, +knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die +Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht +erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur +sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die +Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein +besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate +später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die +Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, +auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man +mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß +die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns +helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es +kommt auf den Spieler an.” + +Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert, +aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen +Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle +durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr +angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und +Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die +Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer +Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen, +folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich +weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische +Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des +Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte, +Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand +ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte +betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst +geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich +bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat +sein.” + +Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den +sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten +Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und +von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium +vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle +von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig +geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, +Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die +Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für +den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen +Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater +nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er -- nach seiner +Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der +Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer +Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem +mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je +radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der +Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule +bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn +eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz +werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne. „Ich traue auf den +Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den +Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als +mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als +mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die +Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von +Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen, +als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.” +„Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu +dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich +abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß, +als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen” +Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin +oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute +sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren +„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht +einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium +vorbereite. + +Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so +weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, +geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer +größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen +Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand +der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen +Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz +richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt, +ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die +Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte, +reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen +Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann +durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich +das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können. +Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat +ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen +tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die +intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf +der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich +zur Ursache seines jähen Endes geworden. + +Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später +nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um +die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche, +kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen +Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843 +schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit +Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt +wurde -- Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen +Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im +Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt +--, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel +mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in +mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste +leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen +Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt. +Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles +Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat. + +Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die +Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren +vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten +Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen +ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens +zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die +Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen +aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht +mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen, +während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer +Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen +Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit +einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem +Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines +übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser +Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den +folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der +Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist +aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches +Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß +übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der +vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus +anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen +den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um +eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und +Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt +hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an. + +Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der +hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren +mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf +hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche +Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur +die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen, +außergewöhnlicher Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung der +gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen Mittel des +unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im +ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewöhnlicher +Genußmensch, scheute vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen, +und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu +Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die +Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen +von dem Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder herangeschleppt +wurde, von der Qualität der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen. + +Und von den Rückwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im +Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle nie ganz freimachen können. Wir +meinen das nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine +späteren Liebesaffären, sondern mit Bezug auf seine von nun an +wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen und zu +benutzen, das ihm für seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir +meinen den Verlust jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung +selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm +vertretenen Grundsätzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an +wiederholt und am stärksten in der tragischen Schlußepisode seines +Lebens sich offenbarende Einbuße an gutem Geschmack und moralischem +Unterscheidungsvermögen. Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich +in den Hatzfeldtschen Prozeß gestürzt, -- er selbst gebraucht in der +Kassettenrede das Bild des Schwimmers: „Welcher Mensch, der ein starker +Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes +fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, für einen guten +Schwimmer hielt ich mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den +Strom” -- gewiß, aber leider war es ein recht trüber Strom, in den er +sich gestürzt, ein Strom, der sich in eine große Pfütze verlief, und als +Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft, +mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen +besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes, +drängten sie auch wiederholt siegreich zurück, aber schließlich ist er +ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen, +aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur +gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben, +sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis +einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklären[1]. + +Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst noch der Rolle zu +gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat. + +Beim Ausbruch der März-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen +des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich fast +zur politischen Untätigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der +Prozeß wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen ihn statt und +er hatte alle Hände voll zu tun, sich auf diesen zu rüsten. Erst als +er nach siebentägiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann +er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit +direkten Anteil zu nehmen. + +Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte, +stand natürlich als Republikaner und Sozialist auf der äußersten Linken +der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx +redigierte „Neue Rheinische Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine +Zeitlang dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten an, der in Köln +seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in +nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mündlich und +schriftlich mit dem erwähnten Kreisausschuß, sandte wiederholt +Mitteilungen und Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” und +erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. So +bildete sich allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr +zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch später noch, als Marx im +Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde. +Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf +einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes +herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhältnis zwischen +den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. +Was sonst noch einer über die politische Kampfgenossenschaft +hinausgehenden Intimität im Wege stand, soll später erörtert werden. + +Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenüber nahm +Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der „Neuen +Rheinischen Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich +ihr forderte er, als die preußische Regierung im November 1848 den +Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst +und den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, und die +Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums +in Anklagezustand, sowie mit der Erklärung geantwortet hatte, daß +dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur +Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung +auf. Gleich dem Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch +Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die königliche +Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen +freigesprochen, aber die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion +stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur +Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben, +um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat +verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre +Berufsrichter -- Lassalle schließlich auch zu sechs Monaten +Gefängnis. + +Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage ist unter dem Titel +„Assisen-Rede” im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich +gehalten worden, und alles, was in verschiedenen älteren Biographien +über den „tiefen” Eindruck erzählt wird, den sie auf die Geschworenen +und das Publikum gemacht habe, gehört daher in das Bereich der Fabel. +Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben, +und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt +worden waren, beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit +auszuschließen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklärung, die +Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja +höchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der +Bestechung veranlaßt worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht +erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich zu verteidigen, +wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen. + +Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” bleibt jedenfalls ein +interessantes Dokument für das Studium der politischen Entwicklung +Lassalles. Er steht in ihr fast durchgängig auf dem von Karl Marx drei +Monate vorher in dessen Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen +Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste, +ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und +Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen Ausschmückung, er geht +direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrängter +Sprache, Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik seinen +Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik +der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe +ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen +politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von +Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in -- oft sehr schönen -- Bildern +und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen +Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den +Geschworenen, sondern zu den Tribünen, zu einer imaginären +Volksversammlung, und schließt, nach Verkündigung einer Rache, die „so +vollständig” sein wird wie „die Schmach, die man dem Volke antut”, +mit einer Rezitation aus Tell. + +Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnäckigkeit +Vergünstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden +pflegten -- so erhielt er, was er später selbst für ungesetzlich +erklärte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu +plädieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Tätigkeit +wieder fast vollständig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in +Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus für +politische Freunde und versammelte längere Zeit einen Kreis +vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vorträge hielt. +Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Prozeß der +Friedensschluß. Die Gräfin erhielt ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt +und Lassalle eine Rente von jährlich siebentausend Talern +sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen +Wünschen einzurichten. + +Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in Düsseldorf bei und arbeitete hier +an seinem „Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen, +u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese +Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der +das politische Leben erloschen war, aussöhnen. Es verlangte ihn nach +einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder +erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten, nach einem +größeren Wirkungskreis. So erwirkt er sich denn 1857 durch die +Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preußen von der +Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu +dürfen. + +Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle +hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die „schmachvolle und +unerträgliche Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die „über Preußen +hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: „Warum zu soviel Gewalt noch +soviel Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen wir nichts, +nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig +auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der +Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam +er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der +Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim +zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr +rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt, +daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative „Augsburger +Allgemeine Zeitung” schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die +wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, für sein gutes +Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewußtsein der +Festigkeit seines politischen Wollens für reine Formsache, daß er seine +betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich +da um verschiedene Anträge, der erste 1855 an den Berliner +Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den +damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darüber „Dokumente des +Sozialismus”, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten +machte er Karl Marx gegenüber kein Geheimnis. + +Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle durch Verbindungen der Gräfin +Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, daß sich +in den oberen Regionen Preußens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit +diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle +bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach +London gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. Februar 1854 den +Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage vorher vom Berliner +Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustände im +Berliner Kabinett -- der König und fast alle Minister für Rußland, nur +Manteuffel und der Prinz von Preußen für England -- und die für gewisse +Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen Maßregeln, worauf es heißt: +„Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als +wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier +Wochen später machte er wieder allerhand Mitteilungen über beabsichtigte +Schritte des Kabinetts, gestützt auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner +‚offiziellen’, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle”. Am 20. Mai +1854 klagt er, daß seine „diplomatische Quelle” eine weite Reise +angetreten habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man +kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit +wieder verlieren, ist überaus ärgerlich.” Aber er hat immer noch +Nebenquellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten, +und ist u. a. „zeitig vorher von Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt +worden. + +Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre +Berichte mögen auch Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige +Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit +vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hüter der +monarchischen Idee sie noch nicht für genügend erachteten, des Königs +Regierungsunfähigkeit auszusprechen, so wußte man doch in allen +unterrichteten Kreisen, daß der Regierungsantritt des Prinzen von +Preußen nur noch eine Frage von Monaten sei. + +In Berlin vollendete Lassalle zunächst den Heraklit, der Ende 1857 im +Verlage von Franz Duncker erschien. + +Über dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk +gehen die Meinungen der Sachverständigen auseinander. Die einen stellen +es als epochemachend hin, die andern behaupten, daß es in der Hauptsache +nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß +Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem Standpunkt steht -- die +Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens +als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die +Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende +Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, daß sie eine +sehr tüchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der +wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen. + +Für die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges +ist sein Werk über Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht bloß +darin von Bedeutung, daß es Lassalle als eben entschiedenen Anhänger +Hegels zeigt. Man kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker G. +Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer +Ausschmückung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über +Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit über Heraklit als +Schlüssel zum Verständnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es +gilt dies namentlich von Lassalles großem Kultus des Staatsgedankens -- +auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf +Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer +Hinsicht: + +„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in den einen Gedanken +zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: +‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich griechisch und modern; +aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen +Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Übereinstimmung +mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen +Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation +des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung +im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung +gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der +Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” (Vgl. a. a. O. S. 40.) + +Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei +Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie +und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des „formellen +Willens der Subjekte” darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man +„nicht ungestraft in seinem Gemüte hegt”, und der in der Welt der +Prinzipien das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der „rein +äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten +Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in +und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und +schwieligen Händen sprach”. + +Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich hat Lassalles +althegelsche Staatsidee ihn später im Kampf gegen den Liberalismus weit +über das Ziel hinausschießen lassen. + +Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes: + +„Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und +Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so +leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und +dem Lobe anderer. Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die +größeren Schicksale erlangen das größere Los.’ Und er hat gesagt, was +das rechte Licht auf diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die sich +weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rat +fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige nur gut, die +Besten aber dem Ruhme nachfolgen. ‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen +die Besten eins statt allem, den immerwährenden Ruhm der +Sterblichen.’ Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größere Los, +welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre +war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein +durch Reflexion und Philosophie begründetes. ‚Der Ruhm’, sagt +Lassalle, ‚ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das +Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins +überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in +ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz +selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit +des Menschen”, und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der Grund ist, +weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und +über alle kleinen und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das +der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann +‚Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel’, so ist es auch der +Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines +spekulativen Prinzips erblickte.’” + +Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst +Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz zu der +Heraklitischen Verachtung der Menge war er für den Beifall durchaus +nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr +Höflichkeitsform war, unter Umständen mit fast naiver Genugtuung für die +Sache selbst auf. Die Vorliebe für das Pathos, die sich bei Lassalle in +so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur +Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz +freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß er aus +dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe für den Lärm und +Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je +einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt +sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivetät etwas +Versöhnendes hat. Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift +erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als +volkserwählter Präsident der Republik „von sechs Schimmeln gezogen” +seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder +an eine Übertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß +Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so +fester in dem Herzen seiner Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die +bekannte schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie von Sontzew beweist, +daß es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei +einer müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte, +sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte, +dessen Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er nennt sich -- +im Jahre 1860 -- „das Haupt einer Partei”, in bezug auf das sich +„fast unsere ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren eine +-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle „achtet, liebt, +sogar nicht selten verehrt”, für die er „ein Mann von größtem Genie +und von einem fast übermenschlichen Charakter ist, von dem sie die +größten Taten erwarten”. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie +und der größte Teil der Bourgeoisie -- fürchtet ihn „mehr als irgend +jemand anders” und haßt ihn daher „unbeschreiblich”. Werde die +Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew +nicht verzeihen, daß sie einen solchen Menschen heiratete, so werden +auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß ein +solcher Mensch sie heiratete, „sie eines Glückes halber beneiden, das +ihre Verdienste übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen +nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse Ereignisse eintreten, +eine Flut von Bewegung, Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen +würde, wenn Sie mein Weib werden.” + +So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, so wenig sie +der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer +sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle +vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen Liberalen und Demokraten +auf bestem Fuße stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht hatte, +deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, die in Regierungskreisen +gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne +-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die +in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand +und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein führte. Die +Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Pläne. Jedes Wort der +Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafür hielt, war +für ihn Bestätigung seiner Mission, und nicht selten nahm er +Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es ist merkwürdig, welcher +Widersprüche die menschliche Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den +Berichten seiner näheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht, +mit schmeichelhaften Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren +allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn +selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht für echtes Gold. + +So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst +verwachsen, daß, als er später wirklich an der Spitze einer Partei +stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen +Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten +vermochte und danach behandelte. Man mißverstehe uns nicht. Es wäre +absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle den Allgemeinen deutschen +Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß der +Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war +überzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre +nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr +seine Persönlichkeit -- ich sage ausdrücklich nicht sein Leben, +aufzuopfern. + +Soviel an dieser Stelle hierüber. + +Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem +der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf +entworfenes historisches Drama und ließ es, nachdem eine anonym +eingereichte Bühnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele +abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen. + +Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk verfehlt war, hat +Lassalle später selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafür +den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht +das Drama, trotz einzelner höchst wirkungsvoller Szenen und der +gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die +Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es +werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft +von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, daß ein +Freund Lassalles, den dieser, während er am „Franz von Sickingen” +arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter metrischer +Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das +Stück lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, daß +ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. Denn die +Lassallesche Prosa hat wirklich eine Reihe großer Vorzüge, und selbst +die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische zu verfallen, +hätte in einem Drama wie der Sickingen nichts verschlagen. Aber +Lassalle ließ sich nicht von seiner Idee abbringen, daß die Versform +für das Drama unentbehrlich sei, und so stolpern nicht nur seine +Ritter und Helden auf oft recht geschraubten fünffüßigen Jamben +einher, selbst die aufständischen Bauern bedienen sich der Stelzen +des Blankverses. Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten +Losungsworten: + + „Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?” + „Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,” + +die denn auch wahrhaft erfrischend wirken. + +Indes diese technischen Fragen treten für uns zurück vor der Frage nach +Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von +Sickingen” über das historische Drama, wie es Schiller und Goethe +geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen +Kämpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden +liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, während die +eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen +und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse +der Zeiten und Völker zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, so +daß sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die +vielmehr nur die Träger und Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze +sind, sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke der Nationen +selbst -- „Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten +allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit +der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu +ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es +möglich,” meint Lassalle, „den Individuen aus der Bestimmtheit der +Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus +markige und feste, selbst derbe und realistische Individualität zu +geben.” (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit +Lassalle die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit sie +überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die großen +Kämpfe der Menschheit und der Völker so in Individuen verkörpern +lassen, daß nicht das eine oder das andere, die Größe und umfassende +Bedeutung jener Kämpfe oder die lebendige Persönlichkeit der +Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir +hier unerörtert lassen können. Es genügt, daß Lassalle bei der +Durchführung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun +zum Stoff des Dramas selbst. + +Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens +gegen die deutschen Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund +und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist +eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in +Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische oder der +theoretische Repräsentant des niederen deutschen Adels. +Merkwürdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem +letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. „Lesen Sie mein +Trauerspiel,” schreibt er an Sophie von Sontzew. „Alles, was ich Ihnen +hier sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte +alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. +Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies, +da sein Schicksal und das meinige einander vollständig gleich und von +überraschender Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst Lassalle schwer +geworden sein, diese überraschende Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich +um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte in Berlin ein +luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen aller Kreise der besser +situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt +eines ähnlichen Hasses wie der fränkische Ritter, der Urheber der +leidenschaftlichen Streitschriften wider die römische Pfaffenherrschaft. +Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle +und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen, +was tatsächlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei +seinem Werke geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem +Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen über sich selbst +ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns, +wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund +legt, erhalten dadurch für das Verständnis des Lassalleschen +Ideenkreises eine besondere Bedeutung. + +Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des +Ökolampadius gegen den geplanten Aufstand: + + „Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte. + Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,” + +ein echt Hegelscher Satz, + + „Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!” + +Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung der Liebeslehre durch das +Schwert” gesprochen: + + „Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert! + Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist + Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt, + Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren. + Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet, + Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft, + Den wir noch heut den Großen staunend nennen. + Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt, + Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab! + Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben, + Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht + Und Wissenschaft und Künste uns geboren. + Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon! + So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet + Das Herrliche, das die Geschichte sah, + Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen, + Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!” + +Es liegt in den Sätzen „doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt +ewig die Gewalt”, und „daß alles Große, was sich jemals wird +vollbringen”, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde, +unzweifelhaft viel Übertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, daß das +für die Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene Wort” +sei, daß, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein muß, für sie +mit dem Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche, +wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr +darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr +zeitgemäß, und nicht nur für die damalige Epoche, sind auch die +Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen im letzten Akt +zurufen läßt: + + „O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht + Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten + In großen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_ + Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht, + Wo im Gewühl die Völker dich nur an + Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen; + Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle + Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe. + Dann probst du aus im ungeheuren Streit + Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens, + Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!” + +Auch der Ausspruch Sickingens: + + „Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg. + Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel, + Daß eines sich stets ändert mit dem andern, + Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”. + +ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider +hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen +Laufbahn unbeachtet gelassen. + +Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das +Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz. + +Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind +beide Vertreter des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit +der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist +diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das +notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur +beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz +ihre Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das Material zu +einer echten Tragödie gegeben, der vergebliche Kampf markiger +Persönlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit. +Merkwürdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen +Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so +bedeutungsvoll sie doch gerade für die -- wir wollen nicht einmal sagen, +sozialistische, sondern überhaupt die moderne wissenschaftliche +Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche +Unternehmen an tausend Zufälligkeiten -- Unüberlegtheit, Mißgriffe in +den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit +den Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache”, was +unwillkürlich an den recht unhistorischen Schluß in Götz von +Berlichingen erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß! +Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!” Begreift man aber, warum +der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des +untergehenden Rittertums zum Helden wählen konnte, so ist es schon +schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, zu einer Zeit, +wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur +Beurteilung der Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, ein +Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin +als die Repräsentanten „eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt, +auf dessen Resultaten”, wie er sich in der Vorrede ausdrückt, „unsere +ganze Wirklichkeit lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden +Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen Prozeß noch +einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch +die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu +erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschloß ich mich zu +diesem Drama.” + +Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache +des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und für die +Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des +untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der +aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung +der Verhältnisse in Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren +Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrängt +und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen +Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der +Gründung des neudeutschen Reiches daran erinnert, daß er einmal eine so +anständige Persönlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat -- +den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger Jahren +und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus Hutten und +Sickingen als Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung und +ignorierte ihre Klassenbestrebungen. + +Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten +und Franz von Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen Freiheit +willen gegen den römischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen +Sache gegen die Einzelfürsten. „Was wir wollen,” sagt Sickingen im +Zwiegespräch mit Hutten, -- + + „das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland, + Zertrümmerung alles Pfaffenregiments, + Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen, + Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche, + Wiedergeburt, zeitmäßige der alten, + Der urgermanischen gemeinen Freiheit, + Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft + Und usurpierten Zwischenregiments, + Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang + Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd, + Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze + Des großen Reichs.” + +Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.” + +Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von Sickingen” als ein +Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg für die +Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorläufig ideale -- +Stellungnahme zu den politischen Strömungen der Zeit vollzogen. Es +sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine +Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen bürgerlichen +Demokratie, auch gegenüber einer konkreten Frage des Tages offenbaren +sollte[3]. + +Der „Franz von Sickingen” war im Winter 1857/58 vollendet worden. +Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und +begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein +Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in +die er sich bei jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem +Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung zu den großen +Kämpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und +Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich +von Huttens „berauscht”, als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen +elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf +Huttens -- wäre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne +ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu denken, den Plan des +Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst +fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” über ihn gekommen. +Man spürt es dem Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut +geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich, +dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch über die ganze +Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner der deutschen Dichter +damals besser gemacht als Lassalle. + + +Fußnoten: + + [1] Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses + in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im + Jahre 1855 eine von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach + London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und + Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx an + Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten. + + [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild. + Berlin 1877. + + [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich + durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachlaß von + Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die + seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W. + Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels + adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom + „Franz von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im + Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels + geschickt, worauf ihm diese, die damals noch örtlich getrennt lebten, + eingehend ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte Brief + Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in + einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure + beiderseitigen Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der + Hauptsache dieselben Punkte berühren”. + + Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß die Kritik von + Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen + kritisieren zu müssen glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,” + schreibt Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch zu + abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in nuce dasselbe gesagt, + was ich oben ausgeführt habe. Der Lassallesche Sickingen ist nicht der + streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts, + er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte Liberale des neunzehnten + Jahrhunderts, das heißt der liberale Ideologe. Seine Reden fallen + gewöhnlich vollständig aus der Epoche, in der sie gehalten sein + sollen, heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle an + einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung ‚zu sehr + zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben habe’. Du (Marx) + begründest dies so: Ich hätte Sickingen und Hutten daran untergehen + lassen müssen, daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer + Einbildung revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres + Interesse vertraten. ‚Die adligen Repräsentanten der Revolution’, + sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern von Einheit und Freiheit immer + noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert + -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es + bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser, + und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz + bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in + viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten + Form sprechen lassen können, während jetzt in der That, außer der + religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt’. + ‚Bist Du nicht selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein + Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die + lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche zu + stellen?’” + + Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen + fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende + Ausführungen beziehen, hier also unverständlich wären. Im wesentlichen + verteidigt sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die + ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im historischen + Sickingen vorhanden, damit genügend zum Ausdruck gebracht zu haben, + daß Sickingen, statt sich an die ganze Nation zu wenden, statt alle + revolutionären Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und sich an + ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen ritterlichen beginnt + und fortführt, bis er an der Beschränktheit seiner ritterlichen + Mittel zugrunde geht. Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil + er nicht weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich die + revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung aber habe er in + der einen Szene des Stückes, in der er die Bauern selbst auf die + Bühne bringe, und in den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden + Balthasars usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in + Wirklichkeit innegewohnt habe und noch darüber hinaus. Geschichtlich + sei die Bauernbewegung ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels. + + Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in + verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, so u. a. im + „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Daß + die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit + zurückgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären, + die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs, + wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionäre in ihren + Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das übersieht + Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfällt, + die Geschichte aus den „Ideen” abzuleiten, so vollständig, daß er + zu der Marxschen Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem + Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen + lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, verstärkt durch ein + Ausrufungszeichen, macht. + + Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine Berechtigung, + wenn im Stück auch nur die leiseste Andeutung gegeben wäre, daß + Sickingens Beschränkung auf seine ritterlichen Mittel seiner + ritterlichen Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht der + Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer Fehler behandelt. + Das reicht aus für die tragische Idee des Dramas, aber nicht für + die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an dem das + Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen ist. + + + + +Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg. + + +Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” als Buchdrama. Gerade +als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die +Entwicklung der Dinge in Deutschland eine große Rückwirkung ausüben +sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und +Cavour in Plombières verabredete französisch-sardinische Feldzug +behufs Losreißung der Lombardei von Österreich und der Beseitigung +der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien. + +Österreich gehörte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich +natürlich die Frage, welche Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem +Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des übrigen Deutschland, sich +gegenüber Frankreich mit Österreich zu identifizieren oder nicht? + +Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, daß der Krieg einen +zwieschlächtigen Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener war +er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und +Befreiung Italiens einen Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten +Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die +Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu stärken und +die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel stand auf +jeden Fall fest. Außerdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß +Napoleon sich von seinem Verbündeten, dem König von Sardinien, für seine +Bundesgenossenschaft einen hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen +(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die „Einigung” Italiens +in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den +Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem +Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer +Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombières zwischen +Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloße +dynastische Intrige. Soviel war sicher, daß, wer diesen Krieg +unterstützte, zunächst Napoleon III. und dessen Pläne unterstützte. + +Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. Gegen Österreich allein +konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die +übrigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preußen Österreich +zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er denn +durch seine Agenten und Geschäftsträger bei den deutschen Regierungen, +in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteiführern mit allen +Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg als eine Sache behandelt werde, +die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für ein +Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich in Italien ausübe, +aufrechtzuerhalten, überhaupt einem so urreaktionären Staat wie +Österreich Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene Feind der +Freiheit der Völker; werde Österreich zertrümmert, so würde auch für +Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen. + +Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen Federn, daß, +wenn die Napoleonischen Pläne im Süden sich verwirklichten, der Rhein in +direkte Gefahr geriete. Ihm würde der nächste Angriff gelten. Wer das +linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen wolle, +müsse dazu beitragen, daß Österreich seine militärischen Positionen in +Oberitalien unbeeinträchtigt erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt +werden. + +Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen +wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei +(Einigung Deutschlands unter Preußens Spitze, unter Hinauswerfung +Österreichs aus dem deutschen Bund) überein, war direkt auf es +zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine große Anzahl kleindeutscher +Politiker nicht dazu entschließen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache +Österreichs von der des übrigen Deutschland zu trennen. Dies erschien +ihnen um so weniger zulässig, als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon +den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg +führte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im +Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin, +jetzt käme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons +abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne man weiter reden. Bis +es geschehen, müßten sich aber die Italiener gefallen lassen, daß man +sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kämpften, einfach +als dessen Verbündete behandelte. + +Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom kleindeutschen Standpunkt +aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der +vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. Wenn +Österreich, und namentlich dessen außerdeutsche Besitzungen, um so eher +je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum +nicht mit Vergnügen ein Ereignis begrüßen, das sich als ein Schritt zur +Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon +erklärt, daß er nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? Warum +also Österreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen +werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch für die gerechteste +Sache von der Welt kämpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er +angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein Angriff auf +ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit Österreichs +und die Beschäftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der +Einigung Deutschlands unter Preußens Führung auch durch positive +Maßnahmen einen weiteren Schritt zu fördern? + +Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus +konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 +erschienenen Schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens” +das Wort. Mit großer Energie bekämpft er die in den beiden Berliner +Organen des norddeutschen Liberalismus, der „National-Zeitung” und der +„Volks-Zeitung”, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles +nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von +Bonaparte ausgehenden Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich als +Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, daß Preußen den +Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine +deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte +Europas im Süden nach dem Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe +im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie, +seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen, +„während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht, +für die Erhöhung Preußens in der Deutschen Achtung zu sorgen”. +Und, fügt Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung dessen +gewiß sein. In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des +deutschen Volks als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie +selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden +werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende +Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig +Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und +zittert.” + +Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre zu einem Advokaten +der „deutschen” Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt +sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte nationale Programm +als solches eine große Ähnlichkeit mit dem des im Sommer 1859 +gegründeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der +Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen +Einheit unter preußischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all +seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark +im Preußentum stecken geblieben. Nicht daß er bornierter preußischer +Partikularist gewesen wäre -- wir werden gleich sehen, wie weit er +davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf +die auswärtige Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen +durch die Brille des preußischen Demokraten an, sein Haß gegen +Österreich war in dieser Hinsicht ebenso übertrieben, wie der +Preußenhaß vieler süddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten. +Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa +aufzuweisen hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, neben +Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte”; Österreich ist +„ein reaktionäres Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller +Freiheitsideen”; „der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt, +zerstückt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut +werden”, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen +könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, und „wenn die Rechnung +sonst ziemlich gleichstehen möchte -- das römische Konkordat hat +Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des Klerus nicht +geschlossen”. Selbst Rußland kommt noch besser weg, als Österreich. +„Rußland ist ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von seiner +despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit +ihren despotischen Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier +die Entschuldigung, daß sie nationales Element ist.” Ganz anders aber +mit Österreich. „Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die +Regierung das barbarische Prinzip, künstlich und gewaltsam seine +Kulturvölker unter dasselbe beugend.” + +In dieser einseitigen und relativ -- d. h. wenn man die übrigen Staaten +in Vergleich zieht -- damals auch übertriebenen Schwarzmalerei +Österreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die +Lassallesche Broschüre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor +ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu +ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie +Hand zu lassen und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. Es war +dies die Schrift Karl Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”, +ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder +indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich +würde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange +mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus über +jeden Verdacht der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern erhaben, +daß die Möglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der +mir aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein falsches Licht auf +Lassalle zu werfen. Zum Überfluß will ich aber noch einen Passus aus der +Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die +den Beweis lieferte, daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse +schrieb und agitierte, und deren Beweisführung neun Jahre später durch +die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde -- ein +Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil er zweifelsohne gerade +auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt: + + „Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten, + die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein + Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und + Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten + aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des + italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenüber + auszuführen habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen + Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden + einer späteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es + in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu + tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der + Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat + außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten, + die er wirklich vertrat.” (K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.) + +Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, daß dort, wo Vogt mit +Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der +Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was übrigens Lassalle nicht +verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. Januar 1861 zu +erklären, daß er nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx' +Überzeugung, daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, „ganz +gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, der innere Beweis dafür[4] +sei „mit einer immensen Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder +Hinsicht ein meisterhaftes Ding”. + +Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst instruktives Buch zum +Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet +enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen +Dutzend Abhandlungen ausreichen würde. + +Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse. + +Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so +lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein großer Teil davon +handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenüber +einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch +erhalten sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, ist bis +jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen +bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die +Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre +Begründung, da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich, meist darauf +beschränkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwände gegen +dieselbe möglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des +weiteren dargelegt zu werden, warum in einer für Sozialisten +geschriebenen Abhandlung über Lassalle nicht nur dessen persönliche +Beziehung zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, +sondern auch sein Verhältnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer +Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse +ist. + +Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis lange Zeit seine +fertige Schablone. Für die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete +sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht +international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren +vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die +Revolution gekümmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig. + +Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene +Gegenüberstellung aufgegeben werden müssen. + +Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, war in demselben +Verlage, wie später diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe Thema +behandelte. Sie war betitelt: „Po und Rhein.” Der Verfasser, der sich +ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift, +suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß die von den Organen der +österreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe zu +seiner Verteidigung im Südwesten der italienischen Provinzen, falsch +sei, daß auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition +in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhängiges +Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund, +mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig genug Anlaß haben werde, +Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen. +Oberitalien sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens im Kriege +nutzen, im Frieden immer nur schaden könne. Und auch der militärische +Vorteil im Kriege würde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25 +Millionen Italienern. Aber, führte der Verfasser alsdann aus, die Frage +um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und +Italien, und nicht eine zwischen Österreich und Louis Napoleon. +Gegenüber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in +anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte, +handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur +gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn +man sie nicht mehr halten kann ... „Werden wir angegriffen, so wehren +wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit +auftreten wolle, so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern +Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber +die Karte von Europa revidiert werden, „so haben wir Deutsche das +Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe, und daß +man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle +Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber +ist,” heißt es schließlich, „daß wir Deutsche einen ganz +ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio, +die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten +gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und außen stark +machen kann.” + +Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer als -- Friedrich Engels. +Unnütz zu sagen, daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx +veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle +hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung +ihres Inhalts an die -- damals noch unabhängige -- Wiener „Presse” +geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. Er kannte also ihren +Inhalt ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” schrieb, +polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekämpft, daß, da +der Krieg durch Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen +Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit +einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als +solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt, +Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert, und zwar in dem +Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt und seine Studien”[5]. + +Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen +übereinstimmten, dafür nur ein Beispiel. Österreichischerseits war auf +die Verträge von 1815 hingewiesen worden, durch welche Österreich der +Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun: + + Vogt: + + „Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen + Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in + frecher Weise die Verträge gebrochen hat. Von allen andern sind sie + bis jetzt respektiert worden, nur Österreich hat sie gebrochen, + indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand + gegen die durch diese Verträge garantirte Republik Krakau + ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres + einverleibte.” („Studien”, S. 58.) + + Lassalle: + + „Die Verträge von 1815 können nicht einmal mehr diplomatisch + ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung + Belgiens, mit Füßen getreten und zerrissen gerade von Österreich + durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die + europäischen Kabinette zu protestieren nicht unterließen, haben sie + jede rechtliche Gültigkeit für jedes Mitglied der europäischen + Staatenfamilie verloren.” („Der Ital. Krieg usw.” Ges. Schriften + Bd. I S. 43.) + +Hören wir nun Marx gegen Vogt: + +„Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des +Königreich Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus +‚Achtung’ vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder +die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit +moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder +besetzt von Russen, Österreichern und Preußen, wurde völlig als +erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter +Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und +Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen, +Österreicher und Preußen abermals Krakau, um es Österreich +einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen +Mächte, und die österreichische Konfiskation von 1846 war nur das +letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr Vogt”, S. +73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet +„Palmerston and Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston seit +1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes +das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, +wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, daß Vogt +auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von +bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb. +In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen +bonapartistischen Pamphlete, „La vraie question, France, -- Italie -- +Autriche”, hatte es wörtlich geheißen: + +„Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische Regierung die +Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben +verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit +diese Verträge garantierten?” + +Vogt hatte in seiner Manier überall noch einen Extratrumpf +aufgesetzt. Phrasen wie „die einzige Regierung”, „in frecher +Weise”, „frevelnde Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am +Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die „politische Nemesis” +gegen Österreich anruft. + +Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, das Vogtsche Machwerk +noch nicht zu Gesicht bekommen, aber daß seine Schrift durch die von +Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle in die Presse des In- +und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt +nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe ähnlicher an die Seite +gesetzt werden können, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen +Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß die Politik ihres Heros +sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so übersahen sie dabei nur +die eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen Regierung +vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in +den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener +Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen ließ, um sie für seine damalige +Politik zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in dieser Schrift, +die später von bürgerlichen Schriftstellern als ungewöhnliche +Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts +„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten +Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor +der preußischen Heeresreform, daß, wenn Preußen einen deutschen +Bürgerkrieg für die Herstellung einer einheitlichen deutschen +Zentralgewalt ins Werk setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen +kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” („Studien” +S. 155.) Des weiteren wußte Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich +im Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” klar +geworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und +der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur +Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Österreichs zum Schwerte +greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder +für Österreich verhindern wird, um ... seinen Lohn für diese +Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. („Studien” S. +19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht +verlangen. + +Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausführung gekommen. +Bismarck, der dazu bereit gewesen wäre, war dem Prinzregenten von +Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als Minister des Auswärtigen genehm +zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurück, +Österreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine +Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine +Truppen zurück. So „drauf und dran” Österreich zu helfen, wie +Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht. + +„Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und die Aufgabe +Preußens’” -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und +Engels -- „wird Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr dort +hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese +annähernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein. +Absolute Franzosenfresserei, Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, die +revolutionäre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund), +das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die +Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der +untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gießen +suchen, und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen den Willen +des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für +unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müßte ein +von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsre +demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner +Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen kommt dazu, daß man +schon jetzt den Riß, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und +gar zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand ich für Pflicht, +mich entgegenzuwerfen ... Natürlich gebe ich mich keinen Augenblick +der Täuschung hin, als könnte und würde die Regierung den sub III +eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr +fühlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er +sofort in einen Vorwurf umschlägt. Er kann wie ein Eisblock wirken, +an dem sich die Wogen dieser falschen Popularität zu brechen +anfangen.” + +Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die +revolutionäre als die nationale Bewegung zu fördern, die letztere der +ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage +war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale +Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle +einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine +Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. Marx +und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunächst darauf +an, den gegen Deutschland als Ganzes geführten Streich durch eine +gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, und nicht in dem +Moment, wo ein solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst nur +scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung Deutschlands führen mußte. +Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage +beruht im wesentlichen darauf, daß sie sie mehr in ihrem weiteren +historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, während +Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf die augenblicklichen +Verhältnisse in der inneren Politik leiten ließ. Daher beging er auch +die Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich streng zwischen +Volk und Regierung unterschied, Österreich und das Haus Habsburg ohne +weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung Österreichs” zu +proklamieren, wo es sich zunächst doch nur um die Zertrümmerung des +habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe +an Rodbertus knüpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben: + + „Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die türkische + Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten + oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen” + +und sagt: + +„Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich in Ihrem letzten +Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese +Ansicht meinen besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten und +mich dafür von ihnen einen Träumer nennen lassen müssen! Die ganze +Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen +orientalischen Frage hat für mich immer nur den vernünftigen Sinn und +Zusammenhang gehabt, daß die Frage so lange hinausgeschoben werden +muß, bis der naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, sie löst! +Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrüder zur Welt +gekommen zu sein.” (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl +Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. Mai +1863.) + +Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten sollte, nachdem +vorher Österreich „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn +und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich losgerissen +worden, ist schwer verständlich. + +Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehört hierher: + +„Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, ist es die kleindeutsche +Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem +‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor +1½ Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner +Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir müssen alle wollen: +Großdeutschland moins les dynasties.” + +„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen +Partei zugute käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen Furcht vor: +Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stück +Nationalverrat.” (Brief vom 2. Mai 1863.) + +Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er +es in „Der Italienische Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen wäre, +er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben können, denn jenes ist +ganz gewiß kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für +seine viel weitergehenden politischen Zwecke, für die Herbeiführung +der Revolution, die die nationale Frage im großdeutschen Sinne lösen +sollte, zweckmäßig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai +1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer +bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen +Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so +können wir uns hier auf einige Auszüge und kurze Zusammenfassungen +beschränken. + +Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne +Datum, so daß dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt +Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege gegen Frankreich ... +sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein +immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so, +daß unsere Regierungen den Krieg machen müssen (und sie werden dies tun) +und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre +fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig +entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit +Leidwesen gesehen ... Käme nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung +beigebracht wird[6], die Regierung führe diesen Krieg als einen +nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet +Ihr sehen, wie vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade bei +Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen Treue’ das Volk an seine +Regierungen binden würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist +offenbar etwa folgendes: + +„1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere +Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter +Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf und dran sei, für +Österreich einzutreten.” + +Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend. + +„2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden unsere Regierungen +gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das +Volksinteresse für den Sieg sie unterstützt.) + +„3. daß das Volk der Überzeugung sei, der Krieg werde im +volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionären Sinne, also +gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein können wir besorgen, +und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.” + +Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben könne, +„einen populären Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”. +Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, die er als +maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung auf die Aussichten der +revolutionären Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung auf +die Beziehungen der deutschen Demokratie zur französischen und +italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als +Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, daß er dieselbe Politik +empfehle wie Vogt, der im französischen Solde schreibe, antwortet er: +„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad +absurdum führen? Dann könnte ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß +Du das Unglück hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu +sein.” Alsdann rühmt er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt +habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” hätten zum Rückzug +geblasen, die letztere „in einer Serie von sechs Leitartikeln eine +vollständige Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht darauf kam, +sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich +so schnell bekehren ließen! + +In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heißt +es: „Es ist ganz selbstredend, daß zwischen uns nicht das Prinzip, +sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffaßte, die +‚passendste Politik’ ... streitig war.” Und um wieder keinen Zweifel +darüber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h. +also doch die zur revolutionären Entwicklung passendste Politik.” + +Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen +muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich +meine Broschüre schrieb, sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg +gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, +daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulär und +verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück +gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, nicht für diesen Krieg +schreiben und propagieren ... Für die gegenwärtige Lage sind wir +wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr für die +zukünftige.” + +In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade +eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich +später zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen +Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preußische Regierung +überzeugt, wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch war und daß +durchgreifende Änderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu +setzen, sei es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit einiger +Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. Wer es also mit „Preußens +deutschem Beruf” ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation +einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was +ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: „Das +Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- völlige, nur verkappte -- der +Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung +eines immensen Machtmittels für Absolutismus und Junkertum ist in zwei +Worten der evidente Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt haben, +so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es durchgesetzt. Wer jetzt in +Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger +sterben!” + +Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus +Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem +Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in +der ausgeführt worden war, daß, wenn Preußen Österreich gegen Frankreich +zu Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich intervenieren, d. h. +Preußen _und_ Österreich den Krieg erklären würde. Diese Note sei, +hatte Marx ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um einen Anschlag +gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die +Schwächung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei +zweitens eine unverschämte Einmischung Rußlands in deutsche +Angelegenheiten, die nicht geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun +Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber +selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur +„die deutschen Regierungen”. „Denn, diable! was geht Dich und mich +die Machtstellung des Prinzen von Preußen an? Da alle seine Tendenzen +und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes +gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen +Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen so gering wie +möglich ist.” Man müsse sich also eher solcher Demütigungen freuen und +sie höchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die +Franzosen unter Louis Philipp getan hätten. + +Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” ausdrücken, als es hier +überall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster +eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der +Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, haben nach +Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach +einpacken müssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des +„Italienischen Krieges” leiteten, sind alles andere, nur nicht eine +Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, daß +hier, wie es in den meisten bürgerlichen Biographien heißt, bei Lassalle +der Parteimann hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im Gegenteil +eher sagen, daß der Parteimann, der republikanische Revolutionär, den +Patrioten zurückdrängt. + +Man könnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage +aufwerfen: „Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an +Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der +Broschüre vertritt, wer garantiert dann, daß der erstere der wirklich +von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle +nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx +gegenüber getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen aber so viele +Gründe, daß es kaum der Mühe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der +wichtigste ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre und Briefen +schließlich doch nur ein scheinbarer ist. Wo Lassalle in der Broschüre +etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen +deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem großen „Wenn”, +und diesem Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber nicht, dann” +gegenüber, und formuliert dieses „Dann” so: „So wird damit nur aber +und aber bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland einer +nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die positiven Behauptungen in +der Broschüre hält er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint +es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschüre +ausmachenden Darlegung, daß die Demokratie -- worunter er die +Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg +gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, weil sie sich dadurch mit den +Unterdrückern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus +ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. Bis soweit ist +denn auch die Broschüre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt +für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung +vollkommen berechtigt. + +Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die +gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich +bekämpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem +Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht +an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er für eine Politik +eintritt, von der er nicht auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch +tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mußte glauben, er +wünsche nichts sehnlicher, als daß die preußische Regierung die darin +von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen, +daß er sicher war, die preußische Regierung werde diese Politik nicht +befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht +gerechtfertigt. Das Advokatenstück, eine Sache nur deshalb zu +empfehlen, weil man zu wissen glaubt, daß sie doch nicht geschieht, ist +ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen +Anhänger irrezuführen, was ja später auch in diesem Falle eingetreten +ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist +das denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition +in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom „National”, +auswärtige Politik machten, ebnete später dem Mörder der Republik, dem +Bonapartismus, die Bahn. Wie die „reinen Republikaner” die +napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die +friderizianische Legende gegen die damalige preußische Regierung +ausspielen zu können. Aber die friderizianische Tradition, wenigstens +soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preußischen +Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der +Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda für sie. + +Wie diese später, sobald Preußen sich dazu militärisch stark genug +fühlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg +zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie Österreich glücklich aus +dem deutschen Bund herausgedrängt und die „Einigung” +Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, aber +diese Realisierung des im „Italienischen Krieg” entwickelten Programms +verhält sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte, wie in der +Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7]. + +[Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen Frage gebracht? +Österreichs Verdrängung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische +Propaganda im höchsten Grade gefördert, die österreichische Regierung +muß heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese +traten infolgedessen mit immer größeren Ansprüchen auf. Wo sie früher +mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen wären, +wollen sie heute herrschen und unterdrücken; in Prag, heute eine +tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und französische +Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die +Angliederung der deutschen Landesteile Österreichs an Deutschland wird +früher oder später freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach +ungünstigeren Verhältnissen als vor der glorreichen Herauswerfung +Österreichs aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das Deutsche Reich +ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter +um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat +Rußland so stark gemacht, daß die deutsche Politik wieder das größte +Interesse an der Erhaltung selbst dieses Österreichs hatte. Etwas ist +immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Rußland der +Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange +mag das heutige Österreich als Staat noch eine Berechtigung haben.] + +Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes als die bloße +Herausdrängung Österreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung, +die Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder einen integrierenden +Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber +um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen, +dessen unmittelbare Folge der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein +Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, dessen Bevölkerung 1859 +ganz entschieden auf seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke +Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle außer ihm liegenden +Rücksichten zu opfern, erklärt dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie, +die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs schärfste verurteilt +hatte. + +Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der leidenschaftliche Drang, in +die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer +wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung +an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen +Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem +Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die +revolutionäre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die +Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. März 1859 an Fr. Engels +geschrieben: + +„Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen und +geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von +sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht, +was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche Beginn praktischer +Bewegungen alle größere theoretische Tätigkeit sistiert.” + +„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa weiß, wenn es +dafür gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.” + +Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins +monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine +Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die +Revolution für die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist +gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt: +Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Götter -- +die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” -- +das Volk -- in Bewegung setzen. + + * * * * * + +Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen Krieg usw.” +folgen ließ, war ein Beitrag für eine Zeitschrift in Buchform, die der +demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel +„Demokratische Studien” im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der +später als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes politisches +Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” Man könnte ihn als ein +Nachwort zu „Der italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem +Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen für gut +befunden. Das „politische Vermächtnis” Fichtes ist, wie Lassalle unter +Vorführung eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs zu +einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit +Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung +der Einheit Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei einer Eroberung +Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten würde +„nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stämme durch +die gewaltsame Aufdrängung des spezifischen Hausgeistes unter die +Besonderheit desselben gebracht, preußifiziert, verbayert, +verösterreichert!” ... „Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung +fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen +Besonderheiten liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das deutsche +Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.” + +„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern +mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke, +wäre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealität dieser Entschließung +ist es geradezu töricht von Männern zu verlangen” -- es ist von den +deutschen Fürsten, speziell vom König von Preußen, die Rede -- „deren +geistige Persönlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes +Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte +ist und die dies daher ebensowenig leisten können, als es einer von uns +anderen leisten würde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschließlich +durch dieselben Faktoren bestimmt worden wäre.” + +Dies sind die letzten eigenen Ausführungen Lassalles in dem Aufsatze. Es +folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die Einheit +Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage der „ausgebildeten +persönlichen Freiheit”, und daß gerade deshalb die Deutschen „im +ewigen Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes Reich des Rechts” +darzustellen, ein Reich der „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles +dessen, was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es von uns, die +unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufügungen +abschwächen zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger +gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche” -- einen +Artikel über eine „brennende Tagesfrage” zu schreiben -- „nicht +buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfüllt -- +wie der meinige.” + +Welches aber war Lassalles Zweck bei der Veröffentlichung des Aufsatzes, +der das Datum: Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief an Marx +uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum +er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen Werkes in +Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens +habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und +tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschüre „Politische +Totenschau” zeige, wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. Dann aber +heißt es weiter: + +„Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht einigen entwickelnden +Einfluß auf unsere deutschen Philister ausüben, und schlug ich aus, so +kam der Auftrag jedenfalls an einen weit weniger entschiedenen, ja ganz +unbedingt an einen mit monarchischem oder ähnlichem Demokratismus oder +klein-deutschen Ideen Liebäugelnden, während mir der Auftrag die +Möglichkeit bot, wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf +ertönen zu lassen und so im Namen unserer Partei von einem Buche Besitz +zu ergreifen, welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen +Inhalt, obgleich ich weder über diesen noch seine Mitarbeiter Näheres +weiß, schwerlich zur Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses +unserer Partei beigetragen hätte. + +„So schreiben-wollend und nicht wollend entstand ein Artikel, von dem +ich mir, speziell um ihn Dir zu überschicken, einen besonderen Abzug +kommen ließ. (Das Buch erscheint erst zur Oktobermesse.) Ich schicke ihn +gleichzeitig mit diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann an +Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, ob er Dir gefallen. + +„Ich glaube, daß er mitten in diesem widrigen gothaischen Gesumme doch +immerhin den erfrischenden Eindruck macht, daß hinter den Bergen auch +noch Leute, daß eine republikanische Partei noch lebt, den Eindruck +eines Trompetenstoßes.” + +Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle damals arbeitete, war das +„System der erworbenen Rechte”. Drollig und doch wieder für jeden, der +sich mit größeren Arbeiten beschäftigt, ungemein verständlich klingt die +Klage Lassalles, die Arbeit ziehe sich so lange hin, daß er „bereits +einen intensiven Haß gegen sie bekommen habe”. Aber das „verm-- +Werk”, wie er es an einer anderen Stelle in demselben Briefe nennt, +sollte auch in den drei Monaten, die er sich nun als Termin stellt, +noch nicht fertig werden. + +Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfällen jener chronischen +Krankheit, von der er bereits in der Düsseldorfer Assisenrede spricht, +und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. „Ich war und bin noch +recht krank”, fängt ein Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein +muß, „ich war von neuem krank und schlimmer als früher”, beginnt der +obenzitierte Brief. „Habe ich mich in der letzten Zeit überarbeitet oder +rächt sich nun zu lange Vernachlässigung”, heißt es weiter, „kurz, +es scheint als ob meine Gesundheit aufgehört habe, der unverwüstliche +Fels zu sein, auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.” Um +sich gründlich zu heilen, ging Lassalle im Sommer desselben Jahres +nach Aachen. Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin, +Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedürftig +war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so für +sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den +aber Fräulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte. + +Es sind über diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die +Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Fräulein von Sontzew, +später die Gattin eines Gutsbesitzers in Südrußland, im Jahre 1877 in +der Petersburger Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, und +von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von +F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffäre ist +nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie +von Sontzew schreibt, daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf sie +gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt habe, ihn lieben zu können, +es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie +sich schließlich darüber klar geworden sei, daß eine Liebe, die +zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie +unter Hinweis auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen +werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht gerade auf diese Kämpfe die +junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgeständnisse und +Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite +scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein von Sontzew +beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu +sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame +hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch +wußte Lassalle sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über den +Mißerfolg bald zu trösten. + +Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre sind die aus Anlaß +dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor +allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” bezeichnete, +mehr als 35 Druckseiten ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines +der interessantesten Dokumente für die Charakteristik Lassalles. Sehen +wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jüngling heranreifenden Knaben, +so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling sein Ich +bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen +Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge +Lassalles ist seine -- man könnte fast sagen, unbewußte +Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine beständige Neigung, +ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte +Natur. Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr +Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die +Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu +verbergen. Aber es war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch anders +zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften +waren viel zu stark, als daß sie sich nicht überall verraten hätten, +seine Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch jedes Gewand, +in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem +Bilde, das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl +es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mädchen erscheinen wollte, +der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern. + +Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und +seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, wie er in +diesem Manuskript sich im Glanze seines zukünftigen Ruhmes sonnt, sich +als der Führer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar +nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn fürchten und +hassen läßt, wo zur Furcht und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso +übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. „Nichts, Sophie,” +schreibt er über den Erfolg der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur +annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den +ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz +schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen, +die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag +verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen +und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen +diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte +mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren +Hauptführer an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, daß er aus +diesem „mit nicht weniger Glanz” hervorging. „Ich werde Ihnen meine +Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie +wird Sie amüsieren.” Daß er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt +er nicht. + +Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit +fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen, +statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief +hindurch klingt der Ton einer echten Überzeugung. Selbst wenn Lassalle +von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt „gewisser Ereignisse” +-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zukünftigen Frau +ausstatten würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht wahr, Sophie, +mit so großen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen +Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloße Spekulation auf +individuelles Glück machen?” -- und bemerkt weiter: „Deshalb darf man +in keiner Weise darauf rechnen.” + +Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte” Lassalles von +Interesse. Er spricht sich darin sehr ausführlich über sein Verhältnis +zur Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine +früheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel +sicher, daß Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um das er gerade +warb und das als Gattin heimzuführen er so große Anstrengungen machte, +seine derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit sie über die der +Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, stärker zu schildern, als sie +wirklich waren. Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in +Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit für die Gräfin. Er +liebe sie „mit der zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert +hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte Mutter”. Er +verlangt von Sophie, daß sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin +„mit der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und hofft, obwohl +die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” sei und, ehe sie nicht +wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar +werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu können, -- um „alle +drei glücklich und vereint zu leben”[9]. + +Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die Sache so hinstellen, als +habe sich die Gräfin Hatzfeldt damals in Berlin und später Lassalle +einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos übertrieben haben. +Die Hatzfeldt hatte ihre großen Fehler und ihre Freundschaft ist +Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst +verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten +wir es für unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem +entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen +Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene +Behauptung, Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre gestürzt, +um die Hatzfeldt loszuwerden. + +Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den Eindruck, den die Gräfin +Hatzfeldt persönlich auf sie gemacht habe, nur günstig aus. + +Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen +Aufenthalts in Aachen. Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit +der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe über +die Verhältnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle +schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des +Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders +bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er +in Berlin noch mit den Führern der liberalen Opposition auf bestem Fuße +stand, über die damalige liberale Presse und über den von den Liberalen +in den Himmel gehobenen preußischen Richterstand dachte. Da sie ebenso +kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden. + +Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn, +unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der +infamierendsten Handlungen verdächtigt hatte, wegen Verleumdung zur +Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum +Prozeß kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht, +am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nämlich, daß wenn +Zabel alle diese Verleumdungen Vogts über Marx wiederholt und sie dabei +noch übertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben +konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx +selbst in Preußen für unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an +Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Prozeß abgeraten +hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete: + +„Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei +uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann! +Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in +einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz +reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische +Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte +betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an +diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise für diesen +Satz, und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und +zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in +reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich muß die Erinnerung daran gewaltsam +unterdrücken. Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen +Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie +Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom +ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewältigt und +niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu +werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer +Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen höre. +Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu +unsern Richtern zu sein. + +„Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du. ‚Jedenfalls,’ +sagst Du, ‚liefern mir die Preußen so ein Material in die Hand, dessen +angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!’ Nein, +lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, +daß Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst. +Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als +wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest +man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen +wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein +armseliges Wörtchen davon bringen. Sie werden sich hüten! Und unsere +liberalen Blätter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein +Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen +Richterstand’ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken +schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei +vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde +schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis +zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die deutsche Zunge reicht’, +ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? +O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel +liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel! +ich weiß wirklich keinen anderen Ausdruck für sie -- es ist die +reine ......” + +Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck +wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen. + +Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im zweiten Band der +Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz über Lessing, den er +bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: „Lessings Leben und +Werke” geschrieben, und ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches +Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen. + +Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig unbedeutend. Er ist noch +vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich +sehr stark an die Ausführungen an, die Heine in „Über Deutschland” +mit Bezug auf Lessings Bedeutung für die Literatur und das öffentliche +Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing +als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des +Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit der Situation des +derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche +Situationen erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm da wohl Heines +Ausspruch vorgeschwebt haben: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann, +der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und +dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!” +War es doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu +werden. Wie im Hutten des „Franz von Sickingen”, so spiegelt sich auch +im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es +fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. „Allein wenn wir den +Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte +durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” fragt Lassalle, und +um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten +Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu +lösen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum „Spartakus” eine +Stelle, wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: „Ich höre, +du philosophierst, Spartakus”, zurückgibt: + + „Wo du nicht willst, daß ich philosophieren soll -- Philosophieren, + es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!” + +Zwei Dezennien darauf sei in der französischen Revolution diese +Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr +„wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus +und dem Konsul der Zukunft”. + + +Fußnoten: + + [4] Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der ursprünglich Vogt in + Schutz genommen, schon früher zugegeben. + + [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre von Engels „Savoyen, + Nizza und der Rhein”. Lassalle hatte in seiner Broschüre die Annexion + Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn + Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende Kompensation + erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. Engels weist nun + nach, welche außerordentlich starke militärische Position der Besitz + Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe, + was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen + preis, weil es im Moment mehr dafür eintauschte, die Schweizer waren + aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner, + Stämpfli, Frey-Herosé u. a., taten ihr möglichstes, die Überlieferung + des bisher neutralen Savoyer Gebiets in französische Hände zu + verhindern. Im „Herr Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver + die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen + hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher Blick auf die + Landkarte. + + [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: „Nur daß zum + Glück auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum + erscheint mir der revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.” + Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre? + + [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in + griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die + russische Revolution mit der Auflösung des russischen Imperiums den + größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die + auch Wendungen enthält, zu denen ich mich grundsätzlich nicht mehr + bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, + weil sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo sie + geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866 + geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte. + + In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle + Abänderung erfahren, die mir deshalb der Erwähnung wert erscheint, + weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der, + wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins + Deutsche zurückübersetzt lautet die Einleitung dort: + + „Wohin hat die preußische Lösung der nationalen Frage Deutschland + gebracht? Lassen wir die Frage Elsaß-Lothringen beiseite -- die + Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und + betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenüber Rußland + und dem Panslawismus. Österreichs Verdrängung aus dem Deutschen Bund” + (weiter, wie im Original). + + Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens mit keiner Silbe + erwähnt war und sie für Engländer damals noch kein spezielles + Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, + ihrer zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu + bezeichnen -- „an additional blunder” heißt es im Englischen. Ein + Beweis, wie wenig Engels diese Annexion für endgültig ansah. + + Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt wird: „Deutschland + gebracht”, war durch die Rücksicht auf das andre Lesepublikum von + selbst geboten. Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen + diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen. + + [8] Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand + Lassalles”. Die Verfasserin ist nun auch längst aus dem Leben + geschieden. + + [9] Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches Verhältnis + zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine + ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil die + Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, neben sich + noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine + ganze Abhandlung über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand + Lassalles, Nachtrag.) + + + + +Das System der erworbenen Rechte. + + +Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles wissenschaftliches +Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur für den Rechtstheoretiker +geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den +praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich näher als die Materie des +„Heraklit”, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die +Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht +gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein „Riesenwerk +menschlichen Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen so +ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der erworbenen Rechte” +zugleich von der außerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem +großen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus +allen diesen Gründen wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei +diesem Buche etwas länger aufhalten. + +Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers dieser Abhandlung, +ein Urteil darüber zu fällen, welche positive Bereicherung die +Rechtswissenschaft dem „System der erworbenen Rechte” verdankt. Das +vermag nur der Kenner der gesamten einschlägigen Literatur, der +theoretisch gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, die +Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die +Art, wie er sie löst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner +Lösung zugrunde liegt. + +Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile +zerfallende Gesamtwerk trägt. „Eine Versöhnung des positiven Rechts und +der Rechtsphilosophie.” Lassalle führt in der Vorrede aus, daß trotz +Hegels Versuch, eine Versöhnung zwischen dem positiven Recht und dem +Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen +und Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst vor Hegel +gewesen. Die Schuld daran trügen aber weniger die ersteren als die +letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials +einzudringen, hätten sie sich begnügt, „im Himmel ihrer allgemeinen +Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich +zu bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche +ein wahrer „horror pleni”, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran +indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich hervorgehoben +habe, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in +die Erfahrungswissenschaften. Hegels „Rechtsphilosophie” konnte, führt +Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe +erschien, „als der erste Versuch, das Recht als einen vernünftigen, sich +aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen +Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, als etwa die +allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst”. +Hätten nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, bei den +„dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben -- „Eigentum, Familie, +Vertrag usw.” -- stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, eine +Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen +Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu +schreiben, so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen +positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß mit den +abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag, +Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der römische Eigentumsbegriff +ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der römische +Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der +römische Familienbegriff ein anderer als der germanische +Familienbegriff usw., d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das +Reich des historischen Geistes gehörend, es nicht mit logisch-ewigen +Kategorien zu tun hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur +Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des +geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und +Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind.” Eingehend +und erschöpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des +vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem +Beispiel desselben der Beweis geliefert, daß „jene Hegelsche +Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der +Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben werden muß und +nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre +Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu +erzeugen ...” Das gelte aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen +Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und wenn die Zeit +theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte, -- „man +kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas +(ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle mit berechtigter +Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies +in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von +ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im +Grunde nur „dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, die „nur +auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden soll. Es sind immer +die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die +nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. Hegel habe, wegen +unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht +häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin. +„Wenn er die römischen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten +Verstandes auffaßte, so werden wir auf das Positivste im ganzen +Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von +unseren Juristen, von den römischen aber das strikte Gegenteil gilt. +Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die +des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht +durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit des +religiösen und künstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit +wird dann immer nur erwiesen sein, daß die Hegelsche Philosophie noch +weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, und daß der spekulative +Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als +Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System der erworbenen +Rechte.) + +Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem +Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits +viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, aber er hält doch +nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der +Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen +Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form +der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der +Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung +und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen +Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem +Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich bei den +Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische +Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die +„Realisationen historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen die Frage +nach den Umständen, unter denen diese Geistesbegriffe sich +entwickelten, nach den materiellen Verhältnissen, deren Ausdruck sie +sind, ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar um und will +„im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich +rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß des +jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. So muß er +naturgemäß, auch bei dem größten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen +Folgerungen gelangen. + +Als das „großartigste Beispiel”, an welchem diese ursächliche +Abhängigkeit des „angeblich rein Positiven und Historischen” von den +historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet +Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des +Werkes, der den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und germanischen +Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung.” Die Stärke dieser +Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchführung +des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glänzenden Darstellung. +Durch alle hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den +Gedanken zu verfolgen, dem römischen Erbrecht liege der Gedanke der +Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde, +während im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne +Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade +das sei, was vom römischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres +Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt +die Schwäche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie +ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt diese zwar wieder und +immer wieder, läßt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter +liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt es, daß das römische Erbrecht +die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrückt? Von der römischen +Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt +es, daß das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der „Idee der +germanischen Familie”. Welches ist die römische Unsterblichkeitsidee? +Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der +germanischen Familie? Die „sittliche Identität der Personen, die zu +ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes +oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns +im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, warum +diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen +konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die +Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Römer und Germanen aus +deren wirklichen Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die letzte +Quelle des Rechts erscheint überall der „Volksgeist”. Dabei verfällt +denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit +Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er +unterscheidet zwar zwischen römischem und germanischem Volksgeist, aber +er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße des römischen Volkes +und konstruiert einen, ein für allemal -- das ganze Jahrtausend von der +Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des römischen Weltreichs +-- maßgebenden „römischen Volksgeist”, der sich zum -- ebenso +konstruierten -- „germanischen Volksgeiste” etwa verhalte, wie „Wille +zu Liebe”. + +Allerdings darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit, wo Lassalle sein +„System der erworbenen Rechte” schrieb, die eigentliche +Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der +römischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen +lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen +Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß +er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er sie nicht +einmal richtig stellte. + +Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich +durch Morgans epochemachende Untersuchungen über die Gens (Sippe) ist +genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der +verschiedenen Völker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die +Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als +die germanischen Stämme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit +eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der +Barbarei durchzumachen; der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von +der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten +noch in Gentilverbänden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden +Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor: +ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein +Ding der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat +die „Liebe” -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem +altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Römern war dagegen schon vor +Abschaffung des sogenannten Königtums die alte, auf persönlichen +Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf +Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche +Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an +Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Verbände als +wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das römische Testament +erwächst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen +römischen „Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben +Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist schuf, der das +Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung[12] erfüllte. Wenn die +Römer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt +das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem +die symbolische Handlung -- die Willensübertragung -- die Hauptsache, +der substantielle Inhalt derselben -- die Vermögensübertragung -- +reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch +weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Völker überhaupt alle +wichtigen ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; es sei nur an die +Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der +Grenzmarken usw. erinnert. Was würde man von einem Historiker sagen, +der den römischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausfluß der +besonderen Natur des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer +speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten +Äcker Nebensache, der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache gewesen +sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des +Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes +Terminus zurückführen wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den +Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der +Testamente bei den Römern bezeichnet, in der römischen Mythologie den +letzten Grund dieser Rechtsschöpfung erblickt.[13] + +Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie +unlogischen Behauptung, daß, wenn das römische Zwölftafelgesetz für den +Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem +nächsten Agnaten (Verwandte männlicher Linie) und, falls kein Agnat +vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, daß das Testament +auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das +Intestaterbe aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden sei. +Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz, obwohl es die +Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung +an. Es konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz der +Testierfreiheit, daß derjenige erben soll, dem der Erblasser +testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein +Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder in Kraft, die +urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nächste Agnat und dann die +Gens, der ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut +erscheint auf den zwölf Tafeln als letztes, weil es als das älteste das +umfassendste ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz bildet. +Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus +hervor, daß er sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff des +Willens” aufgebauten römischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal +gezwungen sieht, zu behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee der +Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde +liegt” und die Agnaten als „die durch das Band der Gewalt vermittelte +Personengemeinschaft” bezeichnet. Als gläubige Althegelianer haben die +alten Römer „mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” den „tiefen +Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, daß der nicht ausgedrückte +Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat +„den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen +Organisation derselbe verwirklicht ist”. Das Testament, die +Testierfreiheit, ist danach älter als der römische Staat, aber das +Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat hat eines schönen +Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidiärerben eingesetzt, +und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, sondern in ihrer +Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der +Willensidentität. + +Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben, +daß es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat, +die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr vielmehr eines der +Rechte, eines der Ämter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen, +ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, daß erst mit der Lockerung +des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich +wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit. + +Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte er, wie alle +Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm über das Wesen des +ursprünglichen römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu +falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit näherzukommen, +als seine Vorgänger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. +Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren, +schneidet er sich jede Möglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu +erkennen. Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beiläufig ebenfalls +Hegelianer -- hatte römisches Intestaterbe und Testamentserbe als +miteinander kämpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei +Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine +historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu +erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, so richtig ist der ihr +zugrunde liegende Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen +Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen Rechtsbegriffe auf +verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt +gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler der historischen Schule”, +das „aus dem Gedanken Abzuleitende” als ein „äußerlich und +historisch Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern Seite erklärt +er es als einen „Grundirrtum”, wenn andere Rechtsphilosophen von der +Auffassung ausgehen, daß „das römische Intestaterbrecht seinem +Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich ist es wirklich +nichts anderes. Nur daß die hier in Betracht kommende Familie sich +nicht mit der römischen Familie deckt, sondern den weiteren +Geschlechtsverband umfaßt[14]. + +Wir können auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber +aus dem Bisherigen schon, daß der so kunstvoll ausgeführte Bau +Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. So geschlossen und +streng folgerichtig daher die Beweisführung, und so geistreich auch die +Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er +mit dem ganzen Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, hat er +nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee ist nicht die +Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des römischen Testaments, +sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt +bestehen, auch wenn der religiöse Hintergrund verschwindet. Und gerade +in den vielen Formen und Formalitäten, von denen die Römer die +Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig machten, liegt unseres +Erachtens ein weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie Lassalle +meint, die frühere, sondern umgekehrt die spätere Einrichtung gewesen +ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das +römische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme +bildete, während das Intestaterbe noch die Regel war. + +Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie +zieht, daß das Testament nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee -- +der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem Tode -- zu begreifen +sei, daß es mit dieser „begrifflich” stehe und falle? Daß das moderne +Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit der +christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des +nicht mehr auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in sich +zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, nichts als ein großes +Mißverständnis, eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies +führt uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite, +trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist. + +Der erste Teil des „Systems der erworbenen Rechte” führt den +Untertitel „Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der +Gesetze”. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen +Grundsatz zu ermitteln, der ein für allemal die Grenze anzeigen soll, +unter welchen Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende Kraft haben +dürfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoßen. Mit anderen +Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder +Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das erstere und wann das +letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als „erworbenes” zu +respektieren, wann es ohne weiteres der Rückwirkung unterworfen sein +soll. + +Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gerügte Fehler der +Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, während alle ihre +Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen Denkens, das Verständnis -- +innerhalb der bezeichneten Grenzen -- für das geschichtliche Moment, +verbunden mit revolutionärer Kühnheit in der Verfolgung eines Gedankens +bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung +gelangen. So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als +bei der Untersuchung über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie hoch +oder gering man immer die Erörterung solcher rechtsphilosophischen +Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß +Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise löst, daß sowohl der +Jurist wie der Revolutionär dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist +gewiß eine respektable Leistung. + +Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als Normen auf: + +a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die +Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.” + +b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne +Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das +Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein +menschlichen oder natürlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen +Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft +selbst in ihren organischen Institutionen ändert.” + +Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbürgerlichen +Befugnisse der Angehörigen des Landes ändert, tritt sofort in Kraft, +läßt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher +ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberührt, auch wenn diese +Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das +zur Volljährigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht, +so verlieren alle Personen über 21 und unter 25 Jahren sofort die an die +Volljährigkeit geknüpfte Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen, +denn sie besaßen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die +Rechtsgeschäfte, die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die ihnen +bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue +Gesetz nicht zurück. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch +individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein +erworbenes Recht. + +Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist +nicht unter allen Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das Individuum +kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern, +insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen +Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” Jedem Vertrage sei „von +Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das +in demselben für sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange +Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht +überhaupt als zulässig betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des +Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame Bewußtsein des +ganzen Volks, der allgemeine Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts +könne sich daher das Individuum „niemals der Einwirkung des +allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen. Nur ein solches +Individuum würde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten können, +welches, wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein Recht weder +erwerben noch ausüben und haben wollte.” „Es läßt sich vom +Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst +desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftigen +zwingenden und prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres als +„diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” liege in der +Forderung, daß „ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern +soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen”. Wenn +also „der öffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt +ist, den Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft, +Hörigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und +Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, +fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschließen”, so +könne dabei „von irgendwelcher Kränkung erworbener Rechte ... gar +nicht die Rede sein”. So seien denn auch die Dekrete der berühmten +Nacht vom 4. August 1789, durch welche die französische +konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft +herfließenden Rechte aufhob, von „jeder Rechtsverletzung und +Rückwirkung” frei gewesen. Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein +Recht der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, auch da noch +anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom öffentlichen +Bewußtsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist, +heiße „vermöge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als +Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem öffentlichen +Geiste einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”. +Von einer Entschädigung könne nur da die Rede sein, wo nicht das +Rechtsverhältnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung +aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von +Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre +des Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt werden. +Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die französischen Versammlungen +nach 1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des Begriffs” +innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preußische Gesetz vom +2. März 1850 über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen +und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts +als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewußtsein +verordnete Vermögensverletzung der ärmsten Klassen zugunsten der +adeligen Grundbesitzer, d. h. „logisch-konsequent” nichts als „ein +Raub”[15]. + +Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte, +keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die +aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil über die +Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle, +der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. Was +aus dem ersteren folge, sei vielmehr, daß jede Zeit autonom sei, keine +Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine +„rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst noch fortwirken zu +lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von +jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut +würde”. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er +weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen, +in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrückt +habe. „Denn zum Begriff des Rechts gehört nur, daß der Volksgeist einen +geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre, +d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umständen +nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatsächliche +Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.” +Diesen Grundsatz finde man schon bei den römischen Juristen, und die +französische Gesetzgebung während und nach der französischen Revolution +habe ihn von neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent +recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionäre, es +ratifizieren müssen, wenn er die französische Revolution in ihren +rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms, +datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgänge in +Preußen und weist nach, wie im Gegensatz zur französischen Jurisprudenz +das preußische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen über das +durch die Märzrevolution von 1848 geschaffene und in der preußischen +Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrücklich anerkannte neue +Rechtsbewußtsein, daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind und +Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch Wortkünste hinweggesetzt, +Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer +„Reaktionskonvent” betätigt habe. Vier Jahre, nachdem das „System” +erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation +des Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den „liberalen +Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel +Anspruch hatte. + +Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen erstens durch individuelle +Willensaktion vermittelt und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem +erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die +Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der französische Konvent im +Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, daß die +Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. +Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die +seit dem 14. Juli 1789 eröffnet worden, so verstieß er damit nach +Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im +Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. Ventose desselben Jahres in +Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das Gesetz +„nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem großen +Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien +entwickelt” habe, aber das Prinzip der Nichtrückwirkung nicht einmal +„auch nur in Frage stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann +eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. das Gesetz auch auf +die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften ausdehnte. + +Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts +zurückzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen über römisches +und germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, auf Testamente und +Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der „Reihen, in welche die +Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende Erbrecht war danach in Rom +„erworbenes Recht”, denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der +„Substanz” des römischen Volkes, nämlich der Idee der Unsterblichkeit +des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht -- +Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer +Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität +der Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen +Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe +hat”. Die Familie erbt, weil das Eigentum überhaupt nur +Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber, +nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, „nicht mehr +auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der +Familie als durch den präsumierten Willen des Toten berufen, sondern +auf der Familie als Staatsinstitution”, auf dem „die +Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des +Staates”. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht, +von dem wir jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine kompakte +theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder Intestaterbfolge noch +Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern „Regelung der +Hinterlassenschaft von Sozietäts wegen”. Und Lassalle schließt sein +Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das Testament nicht +in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen +habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima +esset immortalis” -- „Testamente aber wären mit vollem Recht durchaus +null und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.” + +Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklärung, was Lassalle meint, +wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den +Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht bald zeigen, daß sich aus +unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere +Folgerungen über das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben?” Was +auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, können +der Staat oder die Sozietät auch jederzeit ändern, einschränken oder +ganz aufheben, wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint. +Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der +erworbenen Rechte „nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf eine +Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so +kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das +ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrücken würde -- nach +dieser Umsetzung schreit. + +Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den +Worten beginnt, daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft +gelöst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein +könne und dürfe, als „die rechtswissenschaftliche Herausringung des +unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen +Gedankens”? + +Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst? + +Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr +zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu +sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die +Darlegung, daß im allgemeinen „der kulturhistorische Gang aller +Rechtsgeschichte” darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre des +Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des +Privateigentums zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in +sehr feiner Entwicklung ausführt, mit Recht den größten Wert. Sie ist +ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk +begriffsscharfer Logik. + +Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn +sein Beispiel vom Wesen des römischen und germanischen Erbrechts +maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwäche dieses +Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu +rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen +Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen +Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser +Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem +und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben +tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in +letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen +Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ändern +sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den +materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich wird. +Dann entdeckt der „Volksgeist”, daß dieses Erbrecht seinem +Rechtsbewußtsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen +Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint nur als die letzte +Instanz, die über ihren Bestand entscheidet, tatsächlich ist er so +etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind +die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die +Verhältnisse, unter denen es die Gegenstände seines Bedarfs +produziert[16]. + +Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtümer der +alten Juristen und Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? Der +Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto +größeren Schaden für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der +Sphäre des juristischen und philosophischen „Begriffs” bleibt. Aus der +„begrifflichen” Ableitung sollen sich die Dinge erklären, die +„begriffliche” Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung bloßlegen. Die +Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre +eigenen Entwicklungsgesetze. + +Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger Jurist. Er brachte von +Hause aus außergewöhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf +mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte diese Eigenschaft noch +stärker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen +Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu +verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft +Glänzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche. +Die juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die +sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt +sich schon hier im „System der erworbenen Rechte”, es bildet die +Schwäche dieses Werkes, es sollte sich aber auch später in seiner +sozialistischen Agitation zeigen. + +Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der +Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in +Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt dagegen +in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. Das ist +um so merkwürdiger, als der Schritt, der geschehen mußte, um die +Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, längst +angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte. +1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen Jahrbüchern in einem +Aufsatz, der obendrein den Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen +Rechtsphilosophie”, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift „La +misère de la philosophie” ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx +und Engels im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner Anwendung +geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859 +erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” unter +ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten Aufsatz, geschrieben: +„Meine Untersuchung” -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung +bildete -- „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie +Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der +sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern +vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Es ist +nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr +gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” Und obgleich +Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am „System” arbeitete, +obwohl er sich Marx gegenüber in den begeistertesten Ausdrücken über +es äußerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die +im Sinne des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein Vorwurf +gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wäre im höchsten Grade +abgeschmackt. Wir führen es an zur Kritik seines Standpunktes, +seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die +ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen +Auseinandersetzung mit Marx über die im „System der erworbenen Rechte” +aufgestellten Theorien des Erbrechts. + +Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß sich Marx sofort gegen diese +auflehnen mußte, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im +direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen +Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor, +daß die, übrigens nicht lange, brieflich geführte Debatte sich im +wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament +nur aus der römischen Mythologie, der römischen Unsterblichkeitsidee, zu +begreifen sei, und daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals für +sich allein das Testament habe entwickeln können, wenn sie es nicht +schon im römischen Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz +charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die +ökonomische Entwicklung beziehen, Lassalle schließlich immer wieder mit +juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. Die grundsätzliche +Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in +dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, zum +sprechendsten Ausdruck. + +Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen +geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das „System der erworbenen +Rechte” eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen, +der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, höchst anregende und +genußreiche Lektüre. + + +Fußnoten: + + [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit + derjenigen Rechtsgrundsätze, die durch die philosophische + Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der + Rechtsverhältnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen + angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es werden daher + vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende + Begriffe gebraucht. + + [11] Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums + und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen”. 1. + Aufl. S. 93. + + [12] Um das Jahr 450 v. Chr. + + [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß das Aufkommen des + Ahnenkultus bei allen Völkern mit dem Übergang vom Mutterrecht zum + Vaterrecht zusammentrifft. + + [14] Übrigens brauchen auch die Römer das Wort familia nicht bloß + zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden + Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls für den mehr oder + minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des römischen + Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrücklich zwischen + der „familia” im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im + weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle + diejenigen gehören „... die aus demselben Haus und derselben gens + hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die betreffende Stelle ein + weiterer Beweis, daß das römische Intestaterbe -- kein Familienerbe + gewesen sei. „Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht + der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben wollen!” + + [15] Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung von + Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen von der Volksvertretung + erpreßt wurden, sagt Lassalle manches kräftige Wort. „Wenn eine + Staatsregierung”, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der + preußischen Regierung eingebrachten und solche Entschädigungen + stipulierenden Entwurf -- „die unbegreifliche Schwäche hat, einen + solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich + auf das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer + pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese + Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie + wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit + des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” Was + hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert hätte, noch nach + dreißig Jahren werden in Preußen solche „Schwächen” und solche + „Pflichtvergessenheit” berechtigte nationale Institutionen sein! + Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß, + als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die Tories nicht die + „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich aus ihren jetzt unspekulativ + gewordenen Güterankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen + Geist zu drehen!” Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er + erfahren haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war, + als das richtige „praktische Christentum”. + + Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, die Neuauflage + des „Systems der erworbenen Rechte” zu besorgen, gerade Lothar + Bucher zufallen mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten + Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, den + Nachweis zu versuchen, wie das „System in den Gesetzberatungen der + letztverflossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden + können”. Tatsächlich schlagen die meisten der dafür in Betracht + kommenden Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins + Gesicht. + + [16] Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar zu mechanisch + vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen können die + religiösen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem + Begriff des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum einen + großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse + ausüben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung + hindern oder verlangsamen. Schließlich sind es doch immer die + Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich + hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung + zugrunde liegen. + + [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es „ein + Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung hingerissen” habe. + + + + +Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das +Arbeiterprogramm. + + +Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee, +in Berlin ein demokratisches Blatt im großen Stil zu gründen. Wie er +über die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie +er danach dürstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in +Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV. +eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle +daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt +wären, nach Deutschland zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches +Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten Brief”, schreibt er unterm +11. März an Marx, „fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König stürbe +und Amnestie einträte, zurückkommen würdet, hier ein Blatt +herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nämlich für +diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden +Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein großes Blatt +herauszugeben. Würdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein, +herzukommen? Und wieviel Kapital wäre zu einem großen Blatte +erforderlich? Würde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu +aufbringen könnte? Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir +darüber schriebst, denn ich denke gern an dies château en Espagne!” +In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und +am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen in der Tat eine +Amnestie herbeigeführt hatte, schreibt er dringender: „Noch einmal +stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um hier ein +Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der „Neuen +Rheinischen Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher +zurückkehren?” + +Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frühjahr 1861 in +Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die +ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben +und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja „stets +in der Minorität”! Dann aber legte die preußische Regierung die +Amnestie so aus, daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch +mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehörigkeit zum +preußischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs +ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Anträge +genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von +Ausländern überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten +Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben der Regierung abhängen +sollte, jeden davon wieder „abschieben” zu können, dessen Rückkehr +ihr „unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx eingereichtes +Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen +abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. November 1861 datierten +Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hieß, +„zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Gründe vorhanden sind, +welche für die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen +könnten”. Damit war natürlich jeder Gedanke an eine Übersiedelung von +Marx nach Berlin ausgeschlossen. + +Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Gräfin Hatzfeldt +eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr +instruktiv” für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf +Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er „fast alle +leitenden Persönlichkeiten” in den verschiedenen Städten, die er +besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift +„Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles” +zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr. +Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, hat Lassalle bei jenem +Besuch Garibaldi zu einem militärischen Unternehmen in großem Stil +gegen Österreich zu überreden gesucht und den Plan dann in London +auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum +Diktator aufwerfen, eine große Armee bilden und mit dieser über +Padua noch weiter vordringen, während zugleich ein an die adriatische +Küste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken und die +Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb +interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener +Zeit die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, die +unter anderm die erstrebte Lösung der deutschen Frage bringen sollte. +Zu erwähnen ist noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach Italien +einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischärler +Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne +auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über Becker Lassalle +jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn +gar nicht” -- schreibt er über Becker an Marx zu seiner +„Information” -- „die, die ihn kennen, halten ihn für einen Blagueur +und Bummelfritz, für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, der +eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche +liegt.” Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' +Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. „Du weißt, wie oft wir in +die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hüten als vor +unseren Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp war doch +jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Großsprecher, sondern +hatte wiederholt für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden, +auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es Lassalle also schon ankommen +lassen können. Als er später den „Allgemeinen deutschen +Arbeiter-Verein” ins Leben rief, wußte er auch Beckers Adresse zu +finden[18] und stellte diesem gegenüber, der auf irgendeine Weise +erfahren hatte, welche Redereien über ihn im Umlauf seien, die Sache +so dar, als habe Marx aus einer Mücke einen Elefanten gemacht und +einer harmlosen gelegentlichen Äußerung über Beckers Verkehr mit Türr +eine so schlimme Deutung gegeben. + +Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin zurück. Er fand die +politische Situation wesentlich verändert vor. Der Gegensatz zwischen +dem König von Preußen und dem liberalen Bürgertum hatte sich zum +offenen Konflikt verschärft; bei den Neuwahlen zur Kammer Anfang +Dezember 1861 war die schwachmütige konstitutionelle Partei durch die, +eine etwas schärfere Tonart anschlagende Fortschrittspartei verdrängt +worden. Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres aus der bis dahin +eine kleine Minderheit in der Kammer ausmachenden Fraktion +„Jung-Litauen” entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber die +Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene Partei. Sie bestand +aus den verschiedenartigsten Elementen, liberalisierende +Großbourgeois saßen in ihr neben kleinbürgerlichen Demokraten, +ehemalige Republikaner mit verschwommenen sozialistischen Tendenzen +neben Männern, die beinahe noch königlicher waren als der König +selbst. In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es Wilhelm I. eben +mit allen verdorben; nur die Partei der Junker und Mucker und die +eigentliche Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. Die +Fortschrittspartei verfügte über die große Mehrheit der Kammer und +über fast die ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die +das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten +hegten, um sich ihr anschließen zu können, hielten es für gut, ihr +zunächst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren +Kampf mit der preußischen Regierung zu Ende führen werde. + +Lassalle war mit denjenigen Männern, die den Mittelpunkt der +Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit +zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem +Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische Berliner +„Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das, +„wenn auch häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit +viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Preßfesseln zur +Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im +allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter +verteidigt”, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der +„Neuen Rheinischen Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären” +Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso theoretisch falsch wie +praktisch verderblich” erklärt. „Wir müssen”, schrieb er, „in +bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen +Nüancen ebensosehr die Identität, als den Unterschied unsres +sozial-revolutionären Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den +Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.” +Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt +haben, alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien den +reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre ich entschieden, daß ich +diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr überall à outrance +bekämpfen werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx +mit, daß er die Weigerung der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung +von ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als Anlaß benutzt +habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. „Umgang +meine ich, denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze den +Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte Gelegenheit noch +mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß +ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen +Gesindel gar kein Verhältnis möglich, und so werde ich denn dies +benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natürliche +Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.” In der vom 27. März +1861 datierten Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” finden wir +denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten +Angriff auf die „Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den +Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung und +Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” fassen, die sie zwingt, +„sich an bloße Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und +für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle doch mit andern +Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin +selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß +politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten. +Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewöhnliche +Salonlöwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder +radikaltuende Künstler, wie Hans von Bülow usw., sich der intimen +Freundschaft Lassalles rühmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der +Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar +unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum +Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich +Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862). +Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft +zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen „reizende +blondlockige Frau” jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde +ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate +darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: „Beiläufig, mit dem ganz +gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und fügt +recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, daß seine Frau die +Veranlassung davon bildet.” + +Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher, +der nach Erlaß der Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war und sich +in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern +gehörte einer zahmeren zoologischen Gruppe an. + +Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit bestätigen, daß +dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war, +die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknüpften. +Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. +Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den +Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rüstow schrieb, „in +langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen” +für seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf +eine am Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle Bezug und führt aus, +daß er es zwar für möglich halte, die bestehende Ordnung -- „oder +Unordnung” -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht, +sie niederzuhalten; mit andern Worten, daß die Zeit für eine +sozialistische Revolution noch nicht reif sei. „Bedenken Sie dazu noch +eins: daß jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit +hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns +eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine ähnliche Bewegung +wachrufen würde.” Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er +nur „die lahme Antwort Machiavellis”: Politik ist die Wahl unter +Übeln. „Ein Sieg des Militärs” -- d. h. der preußischen Regierung!! +-- wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen Österreich wäre +kein Sieg des reaktionären Prinzips”. Dafür stelle er Lassalle als +Zeugen die „Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand gegen +Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schluß zu, daß +Lassalle eine Revolution erzwingen zu können glaubte und im Hinblick +hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen hatte. Damit war der +obenerwähnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu +gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der +für gewöhnlich in politischen Dingen ein sehr nüchterner Rechner war, +zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von +französischen, ungarischen oder italienischen Revolutionären angeregt +worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien +kennengelernt, muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rüstow um ihn +wußte und, wie Lassalle Marx erzählte, ihn gebilligt habe, mag er +auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militärs +zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, daß er Lassalles +eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles +übereinstimmte. + +Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß zu einer Revolution in +Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes +war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rückkehr zum +Studiertisch nötige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an +die große national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen, +verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen, +was bei dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen Leben übrigens +nur durchaus erklärlich war. + +Die erste Leistung, mit der er zunächst an die Öffentlichkeit trat, war +das gemeinsam mit Bucher verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der +Literarhistoriker”. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt +zusammengeschriebenen „Geschichte der deutschen Literatur” ist, zeigt +das Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt getroffen werden +sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm +mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte „Julian der +Grabowite” füglich der Ausdruck werden können, „welcher den geistigen +Höhepunkt dieser Partei kennzeichnet”. Eine etwas übertriebene Logik, +wie es überhaupt in der Schrift an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war +der Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da gerade in jenen +Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelöst und Wilhelm I. ein +Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War +nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der +Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese +zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage +gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie in einem Augenblick traf, +wo sie zufällig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die +Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe +Geißelung der bei ihm oft in „gespreizter Bildungssprache” sich +wichtig machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt. +Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe die größten +Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft fälschende und +tendenziös-gehässige Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das +Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, während Lothar Bucher +als „das Setzerweib” vorgeführt wird. + +Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, in einem Berliner +liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte +Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht möglich war --, den Führern +der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mündlich +gegenüberzutreten. Als Thema wählte er die Frage des Tages: den +ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung +hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen” +betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er +entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm +ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind +Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten +Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist; ein Volk +besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkür der +Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch +ohne die Verfassung sich gegen sie zu schützen. Es sei daher der größte +Fehler gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu +ändern und vor allen Dingen das Heer aus einem königlichen in ein +Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung +so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschöpft +hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder +einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, möge man diese +Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten +Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen -- +d. h. als dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen Verhältnisse +weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. „Das Fürstentum, meine +Herren,” heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht +Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen +wären.” + +Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar +richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie +trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die +Übersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hieß, die +Partei aber -- ein Teil der Führer überhaupt nur, der andere jedenfalls +zunächst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte. +Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der +Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im großen +und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den +Zeitpunkt für eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch +Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen +Gründe, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen, +dieser Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion, +daß man für die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese +verletzte, für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine viel +günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene +Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen +Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich +wenigstens alle moralischen sichern. + +Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder +Fortschrittler -- ja, jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben +konnte, war er daher doch den Führern der Fortschrittspartei höchst +unangenehm, während die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände +rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, das Organ der +Junker und Mucker. Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, wenn +der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch +deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage +zwischen Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil +dadurch ihre Position als einzig zuverlässige Stütze des Thrones eine +um so befestigtere wurde. Man muß nicht vergessen, daß die +„Neue Ära” Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron +der Hohenzollern von der allzu lästig gewordenen Vormundschaft der +ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenüber +dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mußte diese dagegen dem +König als das unbedingt kleinere Übel erscheinen. + +Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei weiteren +fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, daß die +fortschrittliche Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- „auf +mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die +Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über +die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich +unter diesen Verhältnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter +entwickeln werde. + +Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im +Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel +Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: „Über den +besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der +gegenwärtigen Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte er vorher +sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht +einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus -- +unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen +Reden. Eine ebenso klare wie schöne Sprache, gedrungene, flüssige, +nirgends überladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz +fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre +formellen Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit +einigen Einschränkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die +Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte +nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umständen, unter denen +sie gehalten wurde, angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen +Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache an der Hand konkreter +Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in großen Zügen +bereits vorgezeichnet ist. + +Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische +Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch +auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen gleichfalls +geschieht, die Betonung der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der +Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter vermöge ihrer +Klassenlage in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche +revolutionäre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die +Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des +kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des +„Arbeiterprogramms”, unter welchem Namen der Vortrag später in Druck +erschienen ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort wieder in +juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen +verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage +selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte man darin eine bloße +Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie +Anstoß nehmen möchte. Indes es muß Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt +werden, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig +zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen nach einer populären +Redewendung, die ihn vom „Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand” +sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen +Vorstellungen. Es ist derselbe Rückfall, der ihn den Begriff des +Bourgeois nicht etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten +läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge seiner ökonomischen Wirkungen +und Kräfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen +Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes genießt oder +beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen +Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, +verwischt er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer nur dann +einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung +eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des „Arbeiterprogramm”.) +Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als +bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal +der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin. +Das preußische Dreiklassenwahlsystem, eingeführt von der +feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die bürgerliche +Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des +modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man +den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten +beschränkt, aber was wird dann aus dem „vierten Stand”? + +Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet +Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel +der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Daß +jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern +möglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den +Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhängig +macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache +umgestoßen, daß gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte +Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem +am stärksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von den 97 +Millionen Talern, die der preußische Staat im Jahre 1855 aus Steuern +einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist +übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die 10 Millionen Taler +Grundsteuer einfach für eine indirekte Steuer, da sie nicht von den +Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis +abgewälzt werde. Das Abwälzen war aber keineswegs eine so leichte Sache, +solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die Zufuhr von +außen abgesperrt waren. Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als +eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche +von den Grundbesitzern empfunden und bei Veräußerungen behandelt worden. +9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als eine indirekte +Steuer bezeichnet werden, da aber die ärmste Klasse keineswegs die +meisten Prozesse führt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur +Entlastung des großen Kapitals sprechen, wie immer man sonst über die +Justizgebühren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des großen +Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. +Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, daß +sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden +ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht. + +Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von +Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafür +anführt, daß „die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen +Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer +Konsequenz durchführe, als dies der Adel im Mittelalter mit dem +Grundbesitz getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in +Preußen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der +halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte bloß den +Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten +Entfaltung gediehen war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die +kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems die Presse, und +obendrein in noch viel höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des +großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig es natürlich war, gegen +diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es +wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, daß, wo er die +Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen +will, er hier ausschließlich formal-rechtliche Einrichtungen anführt, +den Einfluß der ökonomischen Faktoren dagegen gänzlich ignoriert. + +Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der +„Staatsidee”, einen Dithyrambus anzustimmen. Der „vierte Stand” hat +„eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck +des Staates als die Bourgeoisie”. + +Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der +liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates +einzig darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein +Eigentum zu schützen. + +Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die Geschichte sei „ein Kampf +mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der +Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns +befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte +auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das +ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt”. +Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu +vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei +„die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen”, sein Zweck +sei, „durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, +solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie +als einzelne niemals erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe +von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als +einzelnen schlechthin unersteiglich wäre”. Und weiter sei sein Zweck, +„das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden +Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche +Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig +ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei „die Erziehung und +Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit”. So sehr sei dies +„die wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie deshalb seit +allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch +ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner +Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde”. + +Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft überhaupt +haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als +einzelne befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben dies die Bestimmung +des Staates sei und sein müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des +Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich diese „sittliche +Natur” des Staates „mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein” +zu seiner Aufgabe machen und „einen Aufschwung des Geistes, die +Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit +herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”. + +So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an +einem großen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen +Veränderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem +Begriff und Wesen nach als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes, +als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner „Idee” +zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft +erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen +Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff ist sozusagen +ein ewiger. In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer +Festrede von Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen die +Staatsidee des Liberalismus” an die „antike Bildung” appelliert, +welche „nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes +geworden” sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff +des Staates sei dahin zu erweitern, daß „der Staat die Einrichtung +sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen +solle”. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus +berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie +des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so +weit schießt Lassalle hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten +beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden von denen der +Gegenwart, daß die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für die +Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa die Ideen der Alten über +die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike +Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs +eine auf die Neuzeit übertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die +Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” in +sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige +Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt +es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates +sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene +gewesen. Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein +Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den +jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat +unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit +gefördert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen. + +Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff +der Alten unverändert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag +ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten +Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der +Kultus des Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, und +wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein +direktes Eintreten für den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so +verhinderte diese doch nicht, daß jener Kultus später von den +Anwälten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten +ausgebeutet wurde. Das ist überhaupt die Achillesferse aller auf +abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär +sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in Gefahr ist, in eine +Verklärung bestehender oder vergangener Zustände umzuschlagen. +Lassalles Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner Lassalle +eines Tages mit den Streitern für das absolute Königtum und den +Revolutionär Lassalle mit den eingefleischten Reaktionären +zusammenführte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten +eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte. + +So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen +Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der späteren +Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind. + +Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an +die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus +ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. „Es ziemen +Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen +Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn +der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der +Gegenwart gebaut werden soll!” + +Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so +vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare +politische Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei, +zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch +sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei einem +Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen +und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die +Broschüre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862 +reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen +Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der +Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen „Aufreizung der besitzlosen +Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden”. Am 17. November +beschloß das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am +16. Januar 1863 kam der Prozeß in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz +einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem +Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten gleich überlegen zeigte, und +namentlich den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde Lassalle doch zu +vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens +den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine +verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme +der Broschüre blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ Lassalle den +Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zürich in Neuauflage erscheinen. + +Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschüren über den +Prozeß in der ersten Instanz -- von denen die erste die +Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die Wissenschaft +und die Arbeiter”), die zweite den stenographischen Bericht über die +mündlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des +erstinstanzlichen Urteils enthält -- und schließlich auch unter dem +Titel: „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die +eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende +Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste +Verteidigungsrede eine außerordentlich geschickte und wirkungsvolle +Beweisführung dafür, daß der Satz in der preußischen Verfassung „die +Wissenschaft und ihre Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das +Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien +den breiten Volkskreisen vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse +infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche Verbündete der für +ihre Freiheit kämpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede über die +indirekte Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung mit sehr vielem +geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit +Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das +System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch +kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem +bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, während in der ersten +Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte +betont wurde. Eine eingehendere Würdigung dieser Reden findet man in den +Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier müssen wir vorerst wieder auf +die Zeit zurückgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war, +das Frühjahr 1862. + +Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher zunächst kein +besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von +der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den +Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der äußeren, politischen Tendenz +nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf +eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte +Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen +Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen +die Regierung spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel radikaler an +als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der +Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Großspurigkeit der +Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hörer, ob Arbeiter +oder Bürger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von +außergewöhnlichem Radikalismus. + +So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der „Philosophischen +Gesellschaft” in Berlin war, noch in demselben Frühjahr von dieser dazu +ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum +hundertjährigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu +halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen +Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen +die leitenden Persönlichkeiten damals Anstoß. Da das Bürgertum in seiner +großen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch +Ideologie treiben. + +Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den „Demokratischen Studien” +Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm +jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu +halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes +Aufsatzes. Und Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht +entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen. + +Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des +deutschen Volksgeistes.” Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes Stellung +in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt. +Weiterhin aber verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche +Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und +seine Bedeutung besteht darin, daß die Deutschen die hohe +weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem „reinen Geist” heraus diesem +„nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, sondern sogar „die bloße +Stätte seines Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. „Indem +hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts +Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen, +kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trägt +hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und +vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” Und +was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt +habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen +bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” und durchbebe „unter +dem populären und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes +edlere deutsche Herz”. + +Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des „reinen, mit +nichts Geschichtlichem verwachsenen” Geistes hinstellen -- das ging noch +über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit +großer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte +Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie +einige Blätter schadenfroh berichteten, verließen die Hörer zum großen +Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der Festrede, „um sich nach dem +Zimmer des leckeren Mahles zu verfügen”. Sie vergaßen aber +hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der +philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gästen +zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen +lediglich des guten Tons halber besuchen. + +Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie, +zusammen mit dem „Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über +Verfassungswesen” durch Lothar Bucher an Marx. Er habe „etwas +politisch-praktische Agitation beginnen” wollen, schreibt er unter dem +9. Juni an letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag in vier +Vereinen gehalten. Außerdem einen weit längeren Vortrag über den +Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.” +Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe mich jetzt auch +entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn drucken zu lassen; er ist bereits +unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im +weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurück, daß +durch die intensivere Beschäftigung mit anderen Dingen in den letzten +drei Jahren die nationalökonomische Materie in seinem Kopf „gleichsam +fossil” geworden sei. Erst wenn „alles wieder flüssig geworden”, +werde er an die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur Kritik der +politischen Ökonomie” gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen +Besprechung und die Ausführung seines eigenen ökonomischen Werkes -- +„welch letztere freilich sehr lange dauern wird”. Dieses Programm +werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im +Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der +Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz +gehen. + +Er entschied sich für das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal +an Marx, und zwar: + +„Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit +Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rüstow +gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt. +C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er +von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort +Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine +braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wünschenswert dies +wäre. Habe also die Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von +denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem +Ziel führenden Vorschub zu tun. Tue Dein Möglichstes. + +„Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London komme, nimmt zu. + + Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.” + +Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” standen im Lager des +„Nationalvereins”, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte +sie offenbar für Aktionen verwendbar machen, die zeitgemäß werden +konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme +d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre +sind eine weitere Bestätigung für das weiter oben von den +Revolutionsplänen Lassalles Gesagte. + +Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und +einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die mir +vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wäre aber falsch, daraus +den Schluß zu ziehen, daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den +beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber +wissen wir von Marx, daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen +ihm und Lassalle er dem letzteren die grundsätzliche Verschiedenheit der +beiderseitigen Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen +dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach +Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein. Um so +enger schloß sich Lassalle an Bucher an, der ihn später auch mit +Rodbertus in Verbindung brachte. + +Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preußische +Regierung der Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere Haltung +einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis plötzlich der +König in schroffer Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich auf keine +Konzessionen in bezug auf die Verkürzung der Militärdienstpflicht +einlasse und auch keine Neigung verspüre, um Indemnität für die +verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation einzukommen. Die +Kammer antwortete damit, daß sie die Forderung der Regierung, die Kosten +der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben +aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der +Mehrheit zu brechen, berief der König an Stelle des Herrn v. d. Heydt +den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am französischen +Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe +Betonung der königlichen Vorrechte war bereits im Einverständnis mit +Bismarck erfolgt. + +Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” und 1849 in der +Preußischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heißsporn +aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann” +entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien über Bord geworfen, +um desto wirksamer die Interessen des „befestigten Grundbesitzes” +wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus aufgegeben, um +dem Königtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, +daß die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die +Verantwortung für die Bedürfnisse und die Politik der Monarchie +übernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus +bekannten Regierungssystems übernommen, das, wenn es von Demokratie +spricht, Regierungsgewalt meint, und von Fürsorge für das Wohl der +Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der +Arbeiter im Schilde führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er +gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit +Revolutionären Geschäfte machen kann, von der bonapartistischen, wie +man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpönten Handlung +beschuldigen muß, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im +Begriff ist. Als Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit aller +geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende Aufrichtigkeit an +den Tag zu legen, um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr +Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um die Wahrheit nicht zu +sagen. + +Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem +wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung +in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch „Blut und +Eisen” gelöst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das +Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß bestehen, der Regierung +nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von ihr +anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklärung, die +Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde. + +Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die +Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, während +die Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” auf ihrer +Seite hatte. Indes, er wußte ganz gut, daß er sich auf die preußischen +Bajonette nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der +auswärtigen Politik, geeignet, die ehemaligen „Gothaer”, d. h. die +schwachliberalen Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, war +vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte also anderwärts Verbündete gegen +die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen. + +Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß man in Berlin in +Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen +Arbeiterkongresses zur Erörterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls +ernsthaft zu betreiben, und daß in Zusammenkünften, die dieser Frage +galten, ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer +Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die +Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts nützten. +Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen soviel Geschrei machten, +sei es nichts, nur der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, der +behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden +Äußerungen über die Schulzesche Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand +die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein +„Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen +Arbeiterkongresses und die Gründung einer selbständigen +Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das +Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des Kongresses nach +Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn +fühlte, rückte er schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der +Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die preußische Regierung +den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der +Gründung von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, daß Herr +von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Gründung einer +Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die +Maschinenbauer waren damals, und noch lange später, in Berlin die +Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natürlich müßten sich die Arbeiter +dazu entschließen, der Fortschrittspartei den Rücken zu kehren, die +eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei. + +Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig +den Arbeiterkongreß betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so +geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen Regierung zuliebe in den +Rücken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch +in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner +auffällig flotten Lebensweise, die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar +nicht paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse Anspielungen auf +eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da +er ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders +Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildfläche und +tauchte später als -- preußischer Polizeibeamter auf. + +Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878, +August Bebel die Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum Fürsten +avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von +sich abzuschütteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung +für sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die +Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen +auf die Wirkung dieses Kunstgriffs ließ er sich zu dem Geständnis +verleiten, Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt für +Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, und daß ihm „bei der +Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, daß Herr Eichler im Dienste der +Polizei gewesen ist und daß er Berichte geliefert hat”. (Vgl. die unter +dem Titel „Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage” +veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die Beratung des +Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche +vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” seinerzeit +einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische Vettel” entpuppte +sich als -- das Berliner Polizeipräsidium. + +Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag +vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: „Was +nun?” Er beruft sich dort darauf, daß die Ereignisse den Ausführungen +in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, der +Kriegsminister von Roon und der gegenwärtige Ministerpräsident von +Bismarck hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind, +bestätigt. Gestützt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich +über die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun +weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer +Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar +kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht +der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur +Wahrheit zu machen sei, da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden +wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. Soll man zu dem Mittel +der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als +solche ein wirksames Mittel nur in den Händen eines Volkes, das, wie das +englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner +Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte, +einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen „werde +unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken”. Das +einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, sobald sie +wieder zusammentrete, „aussprechen das, was ist”. Das sei „das +gewaltigste politische Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung +unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren. +Sobald sie wieder zusammentrete, müsse sie unverzüglich einen Beschluß +fassen, daß sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze, +es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung behilflich +zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten, +und daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so +lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die +verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. Sobald die +Kammer diesen Beschluß gefaßt habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung +nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten würden mit derselben +Parole wiedergewählt werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht +regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach außen würden +so gewaltig darunter leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen sein +werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gäbe es +aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller +Ausgaben der Regierung würden nur Volk und Regierung an die süße +Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. Noch +schlimmer würde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromiß +einlassen, etwa für den Preis der Bewilligung der zweijährigen +Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um +die es sich jetzt handle. Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um +so größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn sie sich gezwungen +sehen werde, nachzugeben. „Um so mehr erkennt sie dann die +gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an, +wenn sie erst später umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen muß.” +Dann aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. Keinen neuen +Kompromiß mit dem alten Absolutismus, sondern „den Daumen aufs Auge und +das Knie auf die Brust”. + +Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine versöhnliche Haltung +gegenüber der Fortschrittspartei ein. Er will „der Einigkeit zuliebe” +alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe, +unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” und ihre Hintermänner, deren +Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese +„Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, die Regierung in eine +konstitutionelle „umzulügen”, einen sehr großen Teil der +Verantwortung für den jetzigen Stand der Dinge. Aber „Friede, meine +Herren, der Vergangenheit”! + +Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und +wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf seinen +Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit nur oratorische +Floskel war, um ihm später eine desto schärfere Position gegen die +Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. Es mag beides +zutreffen. Daß er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den +Fortschrittlern grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher +gesehen, viele persönliche Beziehungen ließen ihm das sogar als +wünschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt ließ sich bei +der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen +Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler +sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einfluß auf ihre Taktik +einräumen würden, auf den er Anspruch zu haben glaubte. + + +Fußnoten: + + [18] Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht + aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die + Veröffentlichungen R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im + Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf. + + [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind Mitte der achtziger + Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.) + So dünn das Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im + Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über Lassalle dem + Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht + einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten + Lassalles den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten aus dem + Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen war. In einem der + Briefe ist von „Salingers genialer Komposition” die Rede. Der + Herausgeber, der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, macht + dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. Daß der Name Salinger + bzw. Solinger Pseudonym für Hans von Bülow war, wird dagegen nicht + einmal angedeutet. Bülow hatte die Komposition des Herweghschen + Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht. + + + + +Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene +Antwortschreiben, politischer Teil. + + +Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle +vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem +Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut, +wenn man es so schnell als möglich zum Äußersten treiben wollte, wenn +man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn +weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig -- mit einer +Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch +nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne +Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf +die Tribüne in der Kammer auf den famosen „passiven Widerstand” +hinaus, über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. Durch +beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und +drastisch „aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung ebenso +wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der +Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein +von Recht für die Außerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war +ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung +vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber dem Recht +hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” sagt B. Becker sehr gut, +„waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an +juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewöhnt und den Streit +der Kammermajorität mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit +zu betrachten geneigt.” + +Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, daß er, +gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach +der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei Becker heißt, schrieb +Lassalle den Aufsatz „Macht und Recht”, in welchem er der +Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm +ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar +Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den +Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin, dessen Erklärung, daß in +Preußen „Recht vor Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem +ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen +hatte. „Es hat kein Mensch im preußischen Staat das Recht, vom +‚Recht’ zu sprechen” -- ruft er aus -- „als die Demokratie, die +alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht +festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt +hat.” Und: „Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr +allein wird die Macht sein!” + +Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung an die radikale +Berliner „Reform” eingesandt, verschloß letztere -- für die Lassalle +noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre +Spalten, desgleichen die „Vossische Zeitung”. Die letztere lehnte auch +die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn +als „Offenes Sendschreiben” in Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl +dieses Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” der „Vossischen +Zeitung” eigentlich rechtfertigte, kümmerte ihn nicht weiter. + + * * * * * + +Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages „Was nun?” (Dezember 1862) +und der Abfassung des „Sendschreibens” (Februar 1863) liegen wiederum +zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei +Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter +F. W. Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin +gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern des +Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen +Fortschrittsführern am 2. November einer großen Arbeiterversammlung +beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das +Mandat für die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu +übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die selbst schon Sozialisten +waren, daß die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen, +dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei von einer +selbständigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Spätere +Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des +Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwähnte klassische +Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” des +Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren +die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch +außerdem für keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so +vortreffliche Kammer zusammengebracht, man könne es also schon noch eine +Weile mitansehen. Daß die vortreffliche, d. h. die oppositionelle +Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse war, kam +den guten Leuten nicht zum Bewußtsein. + +Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem späteren +Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand +Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” aufmerksam gemacht +und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht +denken, wie sehr dies dessen Entschluß bestärken mußte, nunmehr das +„Friede der Vergangenheit, meine Herren” zurückzunehmen. Als er das +Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, war bereits zwischen ihm und +dem Leipziger Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem offiziellen +Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten über die Aufgaben der +Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend +erscheinenden Form darzulegen, und daß diese Form eben die einer +Flugschrift sein sollte. Die äußerst interessanten damaligen Briefe +Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in +Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht +worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß Lassalle, so froh +er über die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem +doch in keiner Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden +Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr gut, worauf sie +hinauswollten; worüber man noch unentschlossen war, das war weniger +das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es +war durchaus nicht „das Bewußtsein seiner eigenen Unklarheit”, wie +Bernh. Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” stellenden +Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das +Komitee veranlaßte, in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an die +deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, aber gegen +Übereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen. +Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, aber nicht so bald, +daß nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan +haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten Aufruf +erließ, beschloß das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu +schicken, der auch tags darauf abging: + +„Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin. + + Sehr geehrter Herr! + +Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen +Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall von +den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das +Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung +ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche +Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen +Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt, +genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der +Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig +erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) +hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das +Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug +leisten könne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von +Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die +gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch +wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch +vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung: +Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und +geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner +Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen: + + Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form + Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren + dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert + der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse, + auszusprechen. + + Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der + angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch + Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir + ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung + unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der + Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gruß und Handschlag! + + Leipzig, 11. Februar 63. + + Für das Zentralkomitee zur Berufung eines + Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses + + Otto Dammer.” + +Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. März 1863 datierte +„Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines +allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand +Lassalle”. + +Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger +Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation +Lassalles und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins”. + + * * * * * + +Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt zunächst der Ansicht +entgegen, daß die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekümmern +hätten. Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der Politik zu +beteiligen, bloß dürften sie dies nicht in der Weise tun, daß sie sich +als den „selbstlosen Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei +betrachteten. Der Nachweis dafür, daß die Fortschrittspartei den +Anspruch darauf verwirkt habe, stützt sich im wesentlichen auf das von +dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern +nicht überall von gleichmäßiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf +Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, daß sie „nur .... +das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes +habe”, so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage „Was nun?” +als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des +Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei +auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Sünde +anrechnete, daß sie + + „sich durch ihr Dogma von der preußischen Spitze zwingt, in der + preußischen Regierung den berufenen Messias für die deutsche + Wiedergeburt zu sehen, während es, mit Einschluß Hessens, nicht + eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preußischen + in politischer Beziehung zurückstände, während es, und zwar mit + Einschluß Österreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung + gibt, welche der preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.” + +Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich recht. Die +Organisation der Arbeiter als selbständige politische Partei mit eigenem +Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung +der politischen Zustände Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen +konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom +Heerbann der gegen den Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei +abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser +Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hieß die selbständige +Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung der +Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Daß sie diese in der Tat zur +Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei +selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenüber der neuen +Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches +Lassalle dieser Bewegung gab. + +Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” gesehen, welch +abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff +„Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß er einen +wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. „Das uralte Vestafeuer +aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene +modernen Barbaren” -- nämlich die Manchesterpartei -- ruft er in der +Rede „Die indirekte Steuer” den Richtern des Berliner Kammergerichts +zu, und ähnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor. +Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin, +die Ursache von allerhand verhängnisvollen Fehlgriffen. Die +althegelisch-ideologische Vorstellung vom „Staat” veranlaßte +Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische +Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für sie zunächst noch +darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst +loszuwerden. Es hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen +Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, Sie wollten über +Freizügigkeit debattieren? Ich weiß Ihnen hierauf nur mit dem +Distichon Schillers zu antworten: + + „Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen, + Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” -- + +Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem +gesetzgebenden Körper „stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr +debattiert”. Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die +Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, während die Arbeiter sie +unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und +Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Rang auf einem +Arbeiterkongreß einzunehmen hatten, war der, daß sie zugleich in hohem +Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus waren; aber überflüssig +war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in +Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit über ihre Bedeutung herrschte. + +Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die +Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen, +zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig +wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse für die politische Aktion +aufzurütteln, sie zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen +Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung der demokratischen +Forderungen zu erwärmen. Und kein Zweifel, daß ihm zu jener Zeit diese +zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge +selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er +diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren. + +Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu überzeugen, +wie sie von bürgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf +das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den +Klassikern der politischen Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von +Ricardo formuliert worden war, das „eherne und grausame Gesetz, wonach +unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche +Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, +der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur +Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er zeitweilig über diesen Satz, +so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung +der Arbeiterbevölkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen +der Lohn wieder auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er aber +unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, größere Sterblichkeit +unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine +Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Löhne wieder +stiegen. So tanzten „Arbeiter und Arbeitslohn immer um den äußersten +Rand dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem +notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, und dies „ändert sich nie”. + +Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen +Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise +zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der +Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese +vereinzelt blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile +verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein würden, würden +die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie +als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage +der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes +ökonomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des +Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr +eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Gründung +selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die +erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal +verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die +Mitglieder in die „widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln +und Unternehmergesinnungen” verwandelte. Die großen Fragen ließen sich +nur mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die Assoziationen in +großartigem Maßstabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmäßige +Großindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das nötige +Kapital, bzw. der nötige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei +durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. „Nichts ist weiter entfernt +von dem sogenannten Kommunismus oder Sozialismus als diese Forderung, +bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle +Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergütung +beibehalten und zu dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, als daß +ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, resp. der erforderliche +Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird.” Der Beruf des Staates sei +es aber gerade, die großen Kulturfortschritte der Menschheit zu +erleichtern und zu vermitteln. „Dazu existiert er, hat immer dazu +gedient und dienen müssen.” Was aber „ist denn der Staat”? Und +Lassalle führt die Zahlen der preußischen Einkommensstatistik von +1851 an, wonach in jenem Jahre 89 Prozent der Bevölkerung ein +Einkommen unter 200 Talern gehabt hatten, dazu 7¼ Prozent der +Bevölkerung ein solches von 200 bis 400 Talern, so daß also 96¼ +Prozent der Bevölkerung in elender, gedrückter Lage sich befänden. +„Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehört der +Staat, nicht uns, den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er! Was +ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen, +handgreiflicher als aus dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der +ärmeren Klassen, große Assoziation -- das ist der Staat.” Und wie +den Staat zu der geforderten Intervention vermögen? Dies werde nur +durch das allgemeine und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn die +gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten +Wahlrecht hervorgehen -- „dann und nur dann werden Sie den Staat +bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen”. Das +allgemeine und direkte Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches, +es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller +sozialen Hilfe”. Darum mögen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen +deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die +Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen +Ländern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der +Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der +Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet, so +werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen würde. +„Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder +Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren +und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach +rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines +und direktes Wahlrecht heißt oder damit in Zusammenhang steht und +dazu führen kann.” + +Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt des „Offenen +Antwortschreibens” und zugleich der Lassalleschen Agitation überhaupt. +Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen +Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest, +die Bewegung auf diesen einen Punkt: „Allgemeines Wahlrecht behufs +Erlangung von Staatshilfe für Produktionsgenossenschaften” zu +beschränken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, daß die +Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf +einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu +behalten, wenn man an die agitatorische Tätigkeit Lassalles den +richtigen Maßstab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn, +auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen. +Ausdrücklich verweist Lassalle im „Offenen Antwortschreiben” auf die +Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso +scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu +haben, wie der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an die Erklärung +des Chartistenpredigers Stephens erinnert: „Der Chartismus, meine +Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und +Gabelfrage.” + +Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer +praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage der +damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube ich die Frage unbedingt +bejahen zu müssen. Daß später Bismarck, wenn auch freilich nur zum +Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einführte, +ist für mich dabei nicht maßgebend. Allerhand Umstände hätten das +verhindern können, ohne daß dadurch die Tatsache umgestoßen worden wäre, +daß Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt, +obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen Landtag beibehalten +wurde, bleibt der Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach +durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wußte ganz genau, +daß, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele +Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafür in den Kreisen der +Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer scheeleren +Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Blätter sprachen sich +bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte es, +wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch +die er genau über die Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen +unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht +nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg -- der +ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte -- schließlich kaum etwas +anderes übrig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen und +ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem +Schritt mußte sie sich um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke, +von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung bestand, die die +Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte. +Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg mußte ihr dies als der +beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig +gegen sich im Rücken zu haben[21]. + +Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also +Lassalle unzweifelhaft recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht +auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen +Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht +nachgeben zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts +mindestens noch weiter hinausgeschoben. „Seien Sie taub für alles, was +nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder damit im +Zusammenhang steht und dazu führen kann”, heißt es im „Offenen +Antwortschreiben”. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, würde +dieses, das muß man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrücklich +ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage +lösen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie +überhaupt die Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache selbst +gerechtfertigt? + +Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur +Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus +nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar während der +Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung +gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt worden durch +die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das +allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig +verhindert, daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen können als +„Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die +Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat +proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine +Epoche sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, so daß +nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafür gegeben waren, daß sie +im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik hätte +werden können. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch +das Kaiserreich gestürzt werden? + +Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” sagt, was am +2. Dezember 1851 gestürzt worden, das sei „nicht die Republik” +gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz +vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten +Zensus zur Ausschließung der Arbeiter eingeführt hatte; die Republik +des allgemeinen Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen +Arbeiter einen unübersteiglichen Wall gefunden haben”, so wiederholt +er damit ein Schlagwort der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la +Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur +verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche Wall”, als die auf Grund +des allgemeinen Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? Warum +hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich der Bourgeoisie” +nicht verhindert? + +Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so würde er auf die Tatsache +gestoßen sein, daß die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht +halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche hätte +stützen müssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht +entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne +industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, für einen +Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen, +aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem +Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf +die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgänge einzugehen sucht, +hält ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite +wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das Ökonomische packt er +gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf, +juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, daß er, um den +Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevölkerung des +Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung, +und zwar ausschließlich an sie hält. Der Streit, der sich damals an +diese Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, ist ein +verhältnismäßig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentsätze +nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde +wenig an, die Tatsache, daß die große Masse der Bevölkerung in dürftigen +Verhältnissen lebt, während nur eine kleine Minderheit im Überfluß +schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle +damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht +aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht +berücksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89 +Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, als deren „große +Assoziation” er den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil davon +Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter +bildeten, die noch großenteils völlig unter der geistigen +Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz unerörtert. +Über die Hälfte der Bevölkerung Preußens entfiel damals auf den +Ackerbau, die größeren Städte spielten bei weitem nicht die Rolle, +die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung +betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit +vereinzelten Oasen[22]. + +Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine Wahlrecht an der +Zusammensetzung der Kammer ändern? War von ihm ein besseres Resultat zu +erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848 +und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von +Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich +gewiß sehr zu wünschen. Aber im übrigen mußte es, gerade je mehr es die +Wirkung erfüllte, die Lassalle von ihm versprach -- nämlich einen +Volksvertretungskörper zusammenbringen, der „das genaue, treue Ebenbild +ist des Volkes, das ihn gewählt hat” („Arbeiterprogramm”) -- die +Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. +Denn so jämmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch +wenigstens bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen +Klassen zwar unter Umständen sämtlich revolutionäre Truppen stellen, +aber keineswegs samt und sonders revolutionäre Klassen sind, er vergaß, +daß die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern +bestanden. + +Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen möglich war, so ist doch +damit noch keineswegs gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder als +Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigeführt haben würde. +Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse der +Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst das Gegenteil bewirken, +statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in größerer +Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren +aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen +Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil Ideologen, welche +gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen +Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur +an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger +Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafür, daß +das allgemeine Stimmrecht „nicht notwendig dem Arbeiterstande die +Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt worden, das allgemeine +Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu +verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar”. +„Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, daß hier das Mittel mit +zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen +muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus +geht auch hervor, daß, beinahe mehr noch als Rodbertus' +gegensätzliches Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften, +sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, daß er +trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen +Arbeiterverein nicht beitrat[23]. + +Und wie man sonst auch über Rodbertus denken mag, seine Motive werden +auf das Unzweifelhafteste durch den Schlußsatz seines Briefes +charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl Lassalle recht habe, +daß man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und +freie Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in ihr Programm +aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, der Ihnen schaden könnte, höchst +wirksam zurückzuscheuchen”. + +Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus übertrieben, so +nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die +er später tatsächlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach +von vornherein in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine Stelle aus +dem teilweise schon früher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20. +Juni 1859 über die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es: + + „Im Anfang, als mit solcher Wut überall das nationale Geschrei + eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’ + (Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr Redakteur) in einem + Leitartikel triumphierend aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei + aller Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine + welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von + der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.’ -- + Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt dieses + Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewiß nicht! Ein + populärer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbürgerlichen + Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller + Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs + auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution + hinein würde die Wirkung dieser Strömung sich bemerklich machen. + Wir haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten Feind, den + wir haben, dem deutschen Spießbürgerindividualismus, durch einen + blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner + klassischen Form, in Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen.” + +So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der „Volkszeitung” verdiente in +gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt, +aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische +Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus, +während die Partei der „Volkszeitung” auf England, als ihr politisches +Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht +reaktionär, oder doch reaktionär nur insoweit, als es eben einseitig +war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus +Frankreichs ein Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, ihn mit +dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine +reaktionäre Seite ganz unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder +einseitig. + +So weit über die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu +seiner ökonomischen. + + +Fußnoten: + + [20] Wohl ein Druckfehler. D. H. + + [21] Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen Krieges” + gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht in die Schablone des „guten + Patrioten” passenden Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger + Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend + dafür ist auch eine Stelle in der Schrift „Was nun?”, die schon + deshalb hierher gehört, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag + tatsächlich nur zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder + Revolution. Anknüpfend daran, wie unmöglich und unhaltbar die + auswärtige diplomatische Stellung der preußischen Regierung wäre, + wenn sein Vorschlag befolgt würde, fährt Lassalle fort: + + „Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein + unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der + Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden + Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter + einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den + diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und, + gleichviel ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt + in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft + habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei + historischen Studien mir die große Wahrheit auf das Genaueste zu + vergegenwärtigen, daß fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe + der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen würden, + wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen + unter einander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu + Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist + die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen + eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die + Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die + Geschichte genau und mit innerem Verständniß betrachten, so werden + Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so + riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa + vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit und Unverwüstlichkeit + unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten + wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl + unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische + zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche + derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen + kann -- das deutsche Volk!” + + Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man + zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß, ein so wichtiger Faktor + des Fortschritts der Völker die Rivalität der Regierenden sein kann + und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein + Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des + Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des + heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg zwar + ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslöschen, es + aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schädigen kann, + daß er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber + auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwähnten Beispiel tut + Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlußsatz und seine Briefe + zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine übrigens + weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekämpfende Tendenz. + + [22] Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft + kamen damals in Preußen erst 766180 selbsttätige Personen in der + Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter und Beamten eingeschlossen. + + [23] Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem Brief” geheißen: + „Und ich wiederhole, daß ich mir auch von den Produktivassoziationen + nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die + Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch Lassalles wurden aber + diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine + Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen + Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn sie so schroffen + Widerstreit zwischen ihren Führern sehen, entmutigen müsse”. + (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.) + + + + +Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben. + +Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit. + + +Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das +Beiwort „ehern” gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24] +nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode -- +der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden +Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen +Großindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten +Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperität, der rasch sich +vollziehenden Steigerung der Produktivität der Arbeit usw. zum +mindesten überlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von +Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört +ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert +gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung +des Arbeitsverhältnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle +entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so +hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die +guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als +Lassalle. + +Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn +bestimmenden Gesetze, weil er den stärksten Schlag gegen die moderne +Gesellschaft damit zu führen meinte, daß er nachwies, der Arbeiter +erhalte unter keinen Umständen seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen +Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen +rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch höchst wirksam +erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der +Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den +früheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein „ehernes” +Gesetz es verhindert, daß der Lohn dauernd unter ein bestimmtes +Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle +ausdrücklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam +hebt, aber doch hebt, so war der Beweis für die Notwendigkeit der von +ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen. + +Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst später, und nur +beiläufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit +einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese +Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen +Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den in wechselnden +Zeiträumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von +beständigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse -- der +schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden +Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die +wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten +Abhängigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfällen des industriellen +Zyklus sich zu befreien, die beständige Bedrohung mit dem +Hinausgeworfenwerden aus einer Sphäre der Industrie in eine andre, +tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die +Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich +macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum +Schlechteren unterscheidet. Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit der +scheinbaren Freiheit nur größer geworden. Sie ist es, die mit eherner +Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der +wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhöhe dagegen wechselt +heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen +Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die tatsächlich einen gewissen +Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den +verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils höher, teils aber +auch geringer als in früheren Produktionsepochen. Beide hängen von sehr +veränderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu +Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den größten +Veränderungen unterworfen, und beständig ist nur die Tendenz des +Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die +eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen. + +Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der +Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, +die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen +Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat +der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines +Abhilfemittels von vornherein angezeigt. Es ignoriert, oder, um Lassalle +auch nicht Unrecht zu tun, es unterschätzt die Stärke und den Umfang der +Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale +Rückwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir müssen hier +wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. +Sein Ziel war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel +aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich +organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die +sich von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, daß sie mit +Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles +weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der +freiwilligen Entschließung jener überlassen -- es wird von ihnen erwartet, +aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern, +die sich zu assoziieren wünschten, die erforderlichen Mittel dazu auf +dem Wege der Kreditgewährung vorstrecken. + +Die Assoziationen einer bestimmten Industrie würden also, solange sie +nicht diese ganze Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen +ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen +dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche +Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der Assoziationen +Sonderinteressen herausentwickeln mußten, daß jede Assoziation danach +streben mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu steigern, sei es auch +auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit +Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen +von mehr oder minder großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle +Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glückschancen mußten +daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn +und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie für andre +Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gestützt darauf, +daß 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr +stark war --, daß sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter +Industrien an den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation +zusammentun würden, und sprach sich zweitens im „Bastiat-Schulze” +später sogar dahin aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur einer +Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil +werden” lassen würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in +dieselbe offen haltend”, aber selbst solche örtlich einheitlich +organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. +Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch große Assekuranz- und +Kreditverbände der Assoziationen untereinander in ihren ökonomischen +Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, daß diese +Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war +für nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie. +Sonst mußte die Überproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft +sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie +es oben heißt, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die +Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte sich da, von seinem +sozialistischen Gewissen getrieben, in einen großen Widerspruch. „Den +Eintritt offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme jedes sich +meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem „Offenen Antwortschreiben” +sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber vollkommen unabhängig +sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle +der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit +obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhängigen in ein +öffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhältnissen staatliches +Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt +hätte scheitern müssen. + +Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist +folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen +eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, unterstanden sie den +Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja +gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion im Auge hatte, die +zugleich die großen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz +besteht, besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den +Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder +eine Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, daß sein Produkt +jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht +gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird. +Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und +Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine +Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur möglich +nach Maßgabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar +durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz in der heutigen +Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor +Übervorteilung zu schützen und die Produktionskosten beständig zu +senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten +der Monopolinhaber zu überteuern und den Fortschritt der Technik, wenn +nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn +die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die +Aufhebung des geschäftlichen Risikos für die Assoziationen würde also im +Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn überhaupt zu +verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich +gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenüber die große +Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wäre ein +unlösbarer Antagonismus. + +In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das natürlich leicht zu +verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der +subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der +Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der +Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf +gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische +Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen +so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die +Lassalleschen Produktivgenossenschaften würden sich von den +Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe, +nicht dem Wesen nach unterschieden haben. + +Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu +durchgebildeter Ökonom war, als daß ihm diese schwache Seite der +Lassalleschen Assoziationen hätte entgehen können. Wir haben bereits aus +dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus +sich in seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern wollen, und die +auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich +deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war. +Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an +Rudolph Meyer hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, einige +der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen. + +Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus: + +„... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, daß +dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen, +das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel +schlechteres, zu weit größeren Ungerechtigkeiten führendes Grund- und +Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen +hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich überführt, zu welchen +Absurditäten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen müsse +und (was ihm besonders unangenehm war) daß er gar nicht der Schöpfer +dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la Révolution +entlehnt habe.”[25] + +Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe +ich gegen diese Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am +Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie +Settegast mit Recht sagt -- und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale +Frage nicht gelöst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem +Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich zu einem +Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum +liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis würde +mich zu weit führen, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon +in unserer Korrespondenz getrieben, daß er mir in einem seiner +letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen denn, daß ich will, daß +der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehören_ soll!’ +(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter +an den einzelnen Betrieben wäre ein weit übleres Eigentum, als das +individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer +Kapitalistenassoziation.” ... + +Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur +Veröffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber +kaum anzunehmen, daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt haben +würde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er +gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht +nämlich dagegen, daß Lassalle sich nicht in der Tat einmal so +ausgedrückt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von +den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat für das +vorgeschossene Kapital zu zahlen hätten. Es liegt also in dem Satz noch +nicht einmal ein Zugeständnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein +solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich in eine -- +unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlägt, +findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai +1863. Dort heißt es: + +„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, wenn dem Arbeiter Boden, +Kapital und Arbeitsprodukt gehört[26], von einer Lösung der sozialen +Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch +annähernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung +geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. Bei der ländlichen +Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein +Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der +Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich +genau und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk schreibe, sehr +explizit nachweisen.” + +Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der +vorstehenden Sätze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die +Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier +gleichgültigen Zwischensatz lasse ich fort): + +„Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation wird dann der +Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’, +ist jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu verstehen. Ich +verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz +stattfinden könnte. + +Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw. +Äckern würden doch zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die +Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen +Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben. + +Allein schon daraus allein, daß einer in der Gesellschaft mehr hat als +sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, daß ein andrer weniger haben muß, +als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns +dieselbe übereinstimmend (vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen +Briefes) denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen würde. + +Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgültigen +Lösung der sozialen Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier +immer als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem ‚mehr oder weniger’ +unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich ländlich oder industriell +unter beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen kann, +während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen mit derselben +Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungünstigeren mit derselben +Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wäre +der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivität, der +bestimmt wird durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum +zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht. + +Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes können Sie das unmöglich +bestreiten. + +Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation +Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall +sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes +Arbeitsprodukt.” + +Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier gar nicht mehr möglich. Die +„Idee”, welche Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt, +ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der +Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen +oder der Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich durchaus dessen +bewußt, daß, solange der letztere den Verteilungsmaßstab bildet, ein +Bruchteil der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise +weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten +Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter +Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen zunächst +eine neue Ungleichheit schaffen würden. Gerade mit Rücksicht darauf +habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines +Vorschlages das Wort „Lösung der sozialen Frage” sorgfältig vermieden +-- „nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern +aus jenen theoretischen Gründen”. + +Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, daß die +Ungleichheit bei den ländlichen Assoziationen durch eine +differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden könne, welche „die +ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hände des Staats bringen, den +Arbeitern nur den wirklich gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll -- +die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer würde die +Bezahlung bilden für die Überlassung der Bodenfläche an die +assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heißt -- „schon aus +Gerechtigkeit und Neid” von den ländlichen Assoziationen +„leidenschaftlich begünstigt werden”. Der Staat aber hätte an dieser +Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, öffentliche +Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen +solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, daß sobald die +Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer großen +Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhören +und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden +würde. „Würde hiermit nicht zugleich getötet werden, was man heut +Überproduktion und Handelskrise nennt?” + +Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der +Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthält keinen +Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr +wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung +irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der +Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfüllung gehen +kann, aber nicht notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht, +solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt +wird. Und selbst wenn sie in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus +nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder der einzelnen +Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine größere oder +unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts +erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. Es +stände immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse. + +Hören wir noch einmal Rodbertus. + +Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel +des „Neuen Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß Lassalle der +„weitgehendsten Richtung des Sozialismus” angehört habe, und meint, +das sei wohl richtig, es sei + + „aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und der (Neue) + ‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine Produktivassoziation angestrebt + haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher der + Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören sollte, nur daß + Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu + sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es + ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar). + Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt, + setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ voraus. Wie soll also + jene ‚weitgehendste Richtung’ mit einer solchen Assoziation + vermittelt werden können?” + +Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation +als „provisorische Institution” gedacht werden könne, und +fährt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die +Produktivassoziation, die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ in der +Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als Übergangszustand zu jenem +‚weitgehendsten’ Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gemäß, +würde er nicht zu allgemeiner Brüderlichkeit, sondern zu dem +schärfsten Korporationseigentum zurückführen, in welchem nur die +Personen der Besitzenden gewechselt hätten, und das sich tausendmal +verhaßter machen würde, als das heutige individuale Eigentum. Der +Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben +niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt +ziemlich über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale +Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum. +Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die +Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei +Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die +Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum +zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen +gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem +Führer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ Ziel +anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” (Briefe usw. von +Rodbertus-Jagetzow.) + +Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen lassen, weil er Lassalle +vielleicht am objektivsten gegenüberstand und in seiner Auffassung vom +Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl +niemand so eingehend mit Lassalle über die Produktivgenossenschaften +diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch +nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der „Lösung der +sozialen Frage” hatte, nämlich den Normalwerksarbeitstag und den +verhältnismäßigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der +Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet, +wenn er sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle +wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel, +und weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem „Mob” -- worunter er +den ganzen Troß der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits +zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte, +stellte er das ihm ungefährlicher scheinende Postulat der +Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf. + +Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz über Franz +von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er +„listete” mit der „Idee”, wie es in jenem Aufsatz heißt, und +täuschte die Freunde mehr, als die Feinde. Aber er tat es, wie +Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenüber +Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu +verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel +zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schluß ziehen, +daß Lassalle nicht von der Güte seines Mittels durchaus überzeugt +war. Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so +eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie +sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung in bezug +auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: „Kurz, ich begreife nicht, +wie man nicht sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat ausgehend, +der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren führt.” -- +Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser +Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen +Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel +schwerwiegender wäre, als der eines theoretischen Irrtums. + +Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit +der Zweck, dem diese dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der +sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzügen bereits +enthalten, daß hier in der Tat -- worauf er so großes Gewicht legte -- +„das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen” +sei. Nun ist ja auch tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück +Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit, +und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die +Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen Befreiung der +Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den +Zusammenhang mit dem großen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation +verlorenging, möglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht +nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr die Einheitlichkeit des +Gedankens bei ihm im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen, +welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser für ihn nicht der +jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände +war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch +jeweilige historische Einflüsse zwar beeinträchtigt, dessen ewige +„wahre Natur” aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher +Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der +Staatshilfe mehr als eine bloße praktische Maßregel zu erblicken +und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des +Sozialismus, eine selbständige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29]. +Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in +engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen +Lohngesetzes. Sie fußt auf denselben ökonomischen Voraussetzungen. +Kurz, es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß. + +Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an die Richtigkeit seines +Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so +unbestimmt wie nur möglich äußerte. Er, der in dem schon zitierten +Aufsatz über den „Franz von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte, +welche Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten Zwecke der Bewegung +andern (‚und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim +zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen +„sittliche Schuld” erblickt hatte, die seinen Untergang herbeiführen +mußte, den Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm +vertretenen Idee, ein „Abweichen von seinem Prinzip”, ein „halbes +Gebrochensein” -- er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen +dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck +zuzuspitzen. Die Entschuldigung, daß man diesen Zweck dem „Mob” noch +nicht sagen durfte, oder daß die Massen für ihn noch nicht zu +gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen für das wirkliche +Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese +überhaupt verfrüht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn +erlangt, nicht zum Ziele führen. In den Händen einer Arbeiterschaft, +die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag, +konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als nützen und mußten +die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden +Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer liefern. War aber die +Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen, +dann mußte dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit +noch nicht als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes Ziel +hingestellt zu werden, aber nicht nur der Führer, sondern auch jeder +der Geführten mußte wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß es +nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wäre dadurch nicht +mehr vor den Kopf gestoßen worden, als es durch den Kampf um das +Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der +Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz +handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung mit Recht, „sind +zu täuschen, Klassen niemals.” + +Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär erscheint, der sei auf die +Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit +will ich zum Schluß auf dieses Thema übergehen. + + +Fußnoten: + + [24] „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des ehernen + Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung ist von mir später + gesondert in das Buch „Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes” + (erster Teil der Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des + Sozialismus”, Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden. + + [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc + „entlehnt” -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner + Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung + zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit dem ersteren + hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbständigkeit der + Assoziation gemein. + + [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen + Briefe heißt es „nicht gehört”. Das „nicht” beruht aber, wie + sich im folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem + Abdruck des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463). + + [27] D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über einen gewissen + Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt nicht bewirtschaftet wird, + weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte + Arbeit abwirft. + + [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen von Henry George, + Flürscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der + Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir früher gesehen haben, + jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern + müßte. + + [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle + z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur Arbeiterfrage” den sogenannten + Manchestermännern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß + sie, wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden in der + Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, daß + die Manchestermänner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft + untergehen lassen wollen. + + + + +Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. + + +Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation können hier nicht +dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen +Werkes annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, vorderhand +nur die allgemeinen Züge der Bewegung hervorzuheben. + +Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst nur zum Teil die Wirkung, +die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in +Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze liest sich mit solcher +Leichtigkeit, daß es dem Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon +jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk, +sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu +verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben. +Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden +bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft +ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen +in Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und Industrieorten am +Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge +eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie +namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus +der Zeit vor und während der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das +Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf +längere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt und +betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Führer der +Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion. + +Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen und außerhalb Preußens +anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen +wahren Sturm erregt -- nämlich einen wahren Sturm der Entrüstung, der +leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so groß vorgekommen, so +erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und +nun wurde ihnen plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen +Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, das ihnen das +Volk bisher entgegengebracht, unwürdig erwiesen hätten und daß daher +jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder +Arbeiter, ihnen den Rücken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung +verträgt keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in +einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die +Feindseligkeiten zwischen ihr und der preußischen Regierung hatten +allmählich einen Höhegrad erreicht, daß eine gewaltsame Lösung des +Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mußte man sich auf das +Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, daß +die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe, +hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten können, das Volk, das +politisch denke, stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht +hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. Denn wenn die +Fortschrittler auch keine große Lust hatten, Revolution zu machen, an +Drohungen mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen[30]. + +Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne, +der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen, +man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser +Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte? +Das hieß ihnen Unmenschliches zumuten. + +Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr +Möglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu +lassen, und die nachträgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser +Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist, +um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. Die Art der Gegenwehr +nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. Daß +die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion +hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf +gemacht werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal nicht bestreiten, +daß Lassalles „Antwortschreiben” zunächst Wasser auf die Mühle der +preußischen Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu beschränken, +Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine +starke Position, oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken +Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner +Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und +entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit +hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht zugleich mit einer so +riesigen Dosis von Selbstüberhebung gepaart gewesen wäre. Lassalles +einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte +getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des +Staats gegenüber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil +unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die +platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen +Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaßen sie so sehr +alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst früher in bezug auf die +nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben +hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die +Übertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen +Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen +über Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten +Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszüge aus der 1858 +erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausführungen Schulzes in +seinem „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” -- eine +Zusammenstellung von sechs Vorträgen, die letzten davon bestimmt, +Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Während +dort es als eine der schönsten Wirkungen der selbsthilflerischen +Assoziationen bezeichnet wurde, daß sie den Unternehmergewinn +herunterdrücken hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft ein +solches Ding wie Unternehmergewinn” gar nicht kenne und also +auch natürlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und +Unternehmergewinn. Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und b) +Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenüber +solcher „Wissenschaft” brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu +sein, um mit ihr fertig zu werden. + +Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz seiner packenden +Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenüber nicht den +Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des „Offenen +Antwortschreibens” gleich der der von Luther an die Wittenberger +Schloßkirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits +erwähnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunächst +auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in +Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen +„Arbeitertag des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, in einer +zum Abschluß derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer +Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, für +das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne +Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in +Anwesenheit von Delegierten aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln, +Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und +Frankfurt a. M.), der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet, +auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten +demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte. +Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische, +was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den +Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an die Gründung eines allgemeinen +Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen +gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der +Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich +die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten für +die Person des Präsidenten, der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar +sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten +konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche +Präsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenüber Lassalles +ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte Annahme der Statuten nicht +durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde +Lassalle zum Präsidenten erwählt, und nachdem man ihm noch die Befugnis +zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen +Vizepräsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an. +Er war somit anerkannter Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber +blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhängerschaft +beschränkt. Drei Monate nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des +Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wäre das ein gar +nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz +andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer +Propagandagesellschaft, sondern der Führer einer Massenbewegung sein. +Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern. + +Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine +wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war +das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht +sechs Wochen alt, da trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige +Erholungsreise an -- zunächst in die Schweiz, dann an die Nordsee. +Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine +rege Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für den Verein zu +gewinnen, wobei er übrigens nicht sehr wählerisch vorging, aber gerade +das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ er ruhen. +Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafür, daß der Verein +wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, obwohl es +ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begnügte sich mit +gelegentlichen Subventionen an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten +Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” und den in Leipzig von +einem Eigenbrödler, Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”, +womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten wurden, ohne +jedoch deshalb aufzuhören beständig zwischen Leben und Sterben zu +schweben. + +Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der +vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den bürgerlichen +Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem +Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute war, wie bereits erwähnt, +stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium, +andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches Mißtrauen gegen +Lassalle davon abgehalten, sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder +andere hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei +von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein +beitraten, ließen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und +verhielten sich im übrigen durchaus passiv. Dafür agitierten zwar andere +Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse +hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretär des Vereins, Jul. +Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für +den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den +Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit der +unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des +Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem +Verfassungskampf in Preußen als ein fast unübersteigbares Hindernis, so +daß an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft +die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel +unpolitischer Natur, Gründung von Unterstützungskassen usw., das +Werbegeschäft fördern solle. + +Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser +Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den +Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation +usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, daß der +Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ändern mußte. Er würde +aufgehört haben, eine jederzeit disponible politische Maschine +abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert. + +Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit +der er bei seiner Rückkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und +zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm am günstigsten erwiesen +hatte. Es ist dies die Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter +Abgeordnetentag”. + +Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in +Barmen, Solingen und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in +seiner Agitation. Welche Einflüsse während der Sommermonate auf ihn +eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden können, indes wird +man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin Hatzfeldt und ihre +Verbindungen schließt. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein +noch größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als +dieser selbst; für sie ging das Interesse am Sozialismus vollständig auf +im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie überhaupt erst +zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre +große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet, +die wohl versprachen, seinem persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu +verschaffen, die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade +kompromittieren konnten. Für sie war eben die Bewegung Lassalle und +Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille +der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigennützigen Freunde +sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber +obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen +Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbständigen +Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie +bestärken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und +Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf +jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als +der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache für dieses +Unrecht, sie hetzen und schüren und intrigieren -- alles in bester +Absicht, aber zum größten Schaden dessen, für den es vermeintlich +geschieht. + +Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so +sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf +Erfahrung überlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab +er viel auf ihren Rat; er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen +Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schluß seiner Laufbahn +geschriebenen Briefe an die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die +Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des +Präsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe. +Das ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle hätte wohl auch +ohne die Gräfin das Präsidium angenommen. Aber in solchen Situationen +läßt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was +man selbst möchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. +Die Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es +liegt der Schluß mehr als nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge +getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preußens damals +vorbereiteten. Es sei nur an die Erklärung Lassalles in seiner +Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon vom ersten +Tage, wo er seine Agitation begann, gewußt habe, daß Bismarck das +allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklärung, +daß, als er das „Offene Antwortschreiben” erließ, ihm „klar” war, +daß „große auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es +unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. Er stellt es zwar dort so +hin, als ob dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse mit +sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber +gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die +„Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus „diplomatischen +Quellen” über die Vorgänge in Regierungskreisen zugingen. + +Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als Lassalle +selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und +stillen Diplomatie abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf verfallen, +hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich +als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an +Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um +jeden Preis zu erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament und +seinem hochgradigen Selbstgefühl nur zu bereitwillige Unterstützung. +Inwieweit damals schon die Fäden angeknüpft waren, die später Lassalle +ins Palais des Herrn von Bismarck führten, läßt sich heute nicht mehr +feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede +„Die Feste, die Presse usw.” für den Druck niederschrieb, an seinen +Freund Levy richtete: „Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein +paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst +beweisen, daß an diesen Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die +Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die +teilweise sehr übertrieben sind, während dagegen dem Minister Bismarck +unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und +der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so +meistert hier der Demagoge die ersteren. + +Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, nachdem sie den Landtag +nach Hause geschickt, die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche +die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger zweimaliger +Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inländischen Zeitung oder +Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche Wohlfahrt +gefährdender Haltung zeitweise oder dauernd” zu verbieten. Die +liberale Presse, ausschließlich in den Händen von Privatunternehmern, +hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der Dauer der +Preßordonnanzen überhaupt nichts mehr über die innere Politik zu +schreiben. Das war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es war auch +nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es +hinstellt. Lassalle übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht +beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaßten +Blätter der Opposition geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene +oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der +Begründung der Preßordonnanz hatte es ausdrücklich geheißen: + + „Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse derselben (d. h. der + liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon + deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die + meisten der oppositionellen Organe durch eine langjährige Gewöhnung + des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden + Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu + bekämpfen ist.” + +Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf ankommen ließen, +verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Möglichkeit, +andere Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen +abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maßregel wurde also gerade +durch dies zeitweilige Schweigen über die innere Politik vereitelt. +Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. Lassalle +meint in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich hätte verbieten +lassen, wenn der Spießbürger nicht mehr beim Frühstück seine gewohnte +Zeitung bekommen hätte, dann würde die Erbitterung über die +Preßordonnanzen im Volke aufs höchste gesteigert worden sein und die +Regierung sich gezwungen gesehen haben, nachzugeben. Indes, die +Erbitterung war nicht minder groß, wenn der Spießer zwar seine gewohnte +Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben +vordemonstriert wurde, daß seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er +zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt. + +Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, die nicht aufrechtzuerhalten +war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein +Provisorium, und die liberalen Blätter hatten gar keine Ursache, während +desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrückt -- „mit Ehren +zu sterben”. + +Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe +spiegelten diese Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle drückt das +so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die reaktionären Blätter wußten +damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren kaum +hinreichenden Ausdruck zu geben.” Und er zitiert als Beweis die +„Berliner Revue”, das Organ des reaktionärsten Muckertums. + +Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, ihren Angriffen auf die +liberale Presse ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, sich zu +gebärden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen. +Statt jedoch gegen diese Fälschung des sozialistischen Gedankens zu +protestieren und jede Solidarität mit ihren Urhebern zurückzuweisen, +leistete Lassalle dem Spiel der Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre +Blechmünzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab. + +Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute ein Geldgeschäft ist, ein +großer Übelstand, ein mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen +Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das kapitalistische +Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten +durch beschränkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten +Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die +Freiheit der Presse ermöglicht. Davon aber wollte die preußische +Regierung nichts wissen, und Lassalle unterstützte ihren Widerstand +noch, indem er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber zugleich +erklärte, daß diese ohnmächtig sein würde, das Wesen der Presse +umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen würde, +Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde die Presse nämlich aufhören, +eine lukrative Geldspekulation zu sein, und würden wieder nur solche +Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl und das geistige +Interesse des Volkes kämpfen. + +Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos +dieses Mittel wäre? Lassalle hätte nur seine Blicke über den +Grenzbereich des preußischen Staates hinaus nach England und Frankreich +zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu +überzeugen. In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen +eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, während in Frankreich +den Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber +durch eine hohe Steuer fast unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert +war. War deshalb die französische Presse besser als die englische? +Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit +nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem +Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse für seine Zwecke +zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse +Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel höherem Grade +dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war. + +Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine +Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen +Lebens bezeichnet werden muß. War der Zeitpunkt auch schlecht gewählt, +war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und für sich bleibt +die Tatsache, daß die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein +kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die +Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden muß, soll sie sich vom +Einfluß der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber +war, was Lassalle über die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863 +Bismarck zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß die Feste weiter +nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die +Regierung, wie sie in Frankreich und England unter ähnlichen +Verhältnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren, +so mußte er hervorheben, daß mit den Festen allein noch nichts getan +war, daß, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die +Regierung um keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte er +sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse über die Feste zu +wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen suchte, +noch zu überbieten. Niemand, der die Geschichte der preußischen +Verfassungskämpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der +Lassalleschen Rede lesen können, ohne sie zu mißbilligen. + +Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu +Frankfurt a. M. zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wäre +berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo +er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den +deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen -- +wir haben gesehen, wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” das +„Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen und Preußen als den +reaktionärsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn +Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel +getrieben hätte, wie die Fortschrittler, nur daß er nach der andern +Seite hin liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe gegen +Bismarck und die preußische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe +direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie +„mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” über die +Beschlüsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis +aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler alte Weiber seien. +Noch ein Passus der Rede zeugt von der veränderten Frontrichtung +Lassalles. + +Der Führer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den +Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut, +wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft der Volkspartei und +die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionären +Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk sei nicht bloß einmütig, +sondern auch so gemäßigt bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche +nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann, +keine Verantwortung dafür habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, +welche, weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung greife.” + +Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung eine zwar recht +lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. „Wir +wollen keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen unsere Hände in +Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und +dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, wenn man wirklich die +ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider +zugleich auch sehr gebräuchliche Art zu drohen -- so gebräuchlich, daß, +wie gesagt, über den Sinn der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich +war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht +verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die +Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern +um ihnen zu drohen für den Fall, daß es zu einer Revolution oder einem +Staatsstreich kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn +von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen: +„Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals +dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege käme, es den +Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis +zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution! +Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor.” + +Und „die ganze Versammlung erhebt in großer Aufregung ihre Hände”, +heißt es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht über die +Rede. + +Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” bedeuten? Es war kaum eine +andre Auslegung möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn nicht +direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es „auf diesem +oder jenem Wege” zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. Eine solche +Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die +Fortschrittler, statt sie vorwärtszutreiben, erst recht kopfscheu zu +machen. + +In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten. +Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu +unterbrechen, wurden von exaltierten Anhängern desselben mit +Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse löste der +Bürgermeister eine halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf +Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das andere ausbringenden +Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck +aufgab, das mit den Worten beginnt: „Fortschrittlicher Bürgermeister hat +soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen +und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene +Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst”, und mit +der „Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß. + +Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung +angeführt werden kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten der +Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttäuschung über die +verhältnismäßig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen +Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige, +aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre +-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt, +so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend +geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- daß Lassalle, als er +nach Deutschland zurückkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich +so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches +Telegramm hätte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn +einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, und der +seiner inneren Überzeugung nach sicherlich sich noch für einen solchen +hielt. Wenn nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste Taktgefühl +Lassalle verbieten müssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt +herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann. + +Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflösung +der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, so +folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung unternommene Schritte, +die ebenfalls den politischen Grundsätzen, als deren Vertreter Lassalle +auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem +in enger Verbindung mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht. + +Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch +gemacht haben sollten, waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen +Gefängnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen +Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, +unterstützt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an +den König von Preußen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige +Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu +seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, „wie wenig entmonarchisiert” +das Volk in Preußen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen +hatte: „Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als +zu Demokraten”, er, der als Führer der neuen Bewegung doch vor allem die +Pflicht hatte, seinen Anhängern das Beispiel demokratischen Stolzes zu +geben, ermuntert sie, vom König von Preußen Begnadigung zu erbetteln. +Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am 20. +April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte Klings, daß gegen +Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Sämtliche +Hauptmitglieder des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. „Die +beiden von hier Verurteilten gehören zu der entschiedensten +Arbeiterpartei und würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht zu +bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen +widerstreitet, Sr. Majestät verpflichtet zu sein.” + +Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er +schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem Stolz. +Aber den Gedanken der Adresse an den König gab er noch immer nicht auf, +sondern suchte nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch der +Verurteilten von großem Nutzen sein könne. Es kann, heißt es wörtlich, +„vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn die Adresse +von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte +oben eine -- für uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche +man sich um so mehr ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an die +Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein +Schritt, den man, wie Ihnen der beigefügte Leitartikel der +ministeriellen Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) zeigt, +oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. Indes auch diese +Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des +empfohlenen Schrittes zu überzeugen, und so blieb der Bewegung diese +Bloßstellung erspart. + +Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurückkehrte, ging er +zunächst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt für seine Sache zu +erobern. Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter Berlins”, ließ ihn +in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter +den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam +geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte +der Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” und „Reform”) +über die rheinischen Versammlungen anknüpft, war der Erfolg doch +zunächst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in +Berlin fanden in kleineren Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött +Anlaß, und als in der ersten größeren Versammlung Lassalle auf +Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde, +klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der +Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der +Vorträge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen +bald wieder ab, so daß der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis +auf über 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 +kaum noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein ein großer +Teil Nichtarbeiter waren. + +Neben der Agitation beschäftigten Lassalle auch sehr stark seine +Prozesse und sonstigen Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm dem +Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen +die Fortschrittspartei kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in +Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges Werkzeug +gebrauchen ließ. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren +Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu überschütten. +Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen +Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch „mürbe” zu bekommen. +Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede +„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und erhob gegen Lassalle +Anklage auf Verletzung der §§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches +(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung +von Anordnungen der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle +unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster +Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, +mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefängnis. +Wegen der Flugschrift „An die Arbeiter Berlins” erhob die +Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle +und ließ auch, wie bereits erwähnt, Lassalle in Untersuchungshaft +nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides, +Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persönlichen Rachsucht des +Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr +vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bös zerzaust +hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. März 1864 vor dem +Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht +weniger als drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen +Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat +lautete, auf Freisprechung und überwies die Behandlung der +untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verstöße gegen +das Strafgesetz der zuständigen Gerichtsabteilung. + +Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist ein wichtiges Dokument für +die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie +eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen Arbeit Lassalles +zu erwähnen, die Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein +propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden muß. Es ist dies die +Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische +Julian, oder Kapital und Arbeit”. + +Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, die +Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und +unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” als +Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation veröffentlichte. Diese, +aus den plattesten Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie +zusammengesetzten Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe, +den auf der Höhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei, +die in ihm ihren ökonomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu +vernichten. Berücksichtigt man, daß Lassalle zu systematischen +ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment, +wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk machen wollte, +durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man +außerdem in Betracht, daß Lassalle, während er den „Bastiat-Schulze” +schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten für die Leitung des +Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin, +in diesem Buch einen neuen Beweis für das außergewöhnliche Talent, die +staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des Lassalleschen Geistes +zu erblicken. Freilich trägt der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs +deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik +der Popularität der Schrift zugute kommt, sind die Umstände, unter denen +diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so +größer war, als Lassalle wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine +falsche Position geriet -- die Enttäuschung einerseits, und das +Bestreben, sich über diese Enttäuschung selbst hinwegzutäuschen, +andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. Aber auch +inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Höhe des Gegenstandes, +sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein +nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche +und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht +frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen hat der „Bastiat-Schulze” +jedoch das große Verdienst, den historischen Sinn und das Verständnis +für die tieferen Probleme der Ökonomie unter den deutschen Arbeitern in +hohem Grade gefördert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung +auf die Höhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen +Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf. + + +Fußnoten: + + [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war, + noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen + Eindrücke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- überall wurde + in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir Knaben nur + in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer + Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschüler gehörten den + bürgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber + die einen wie die andern waren gleich fest davon überzeugt, daß eine + Revolution „kommen muß”, denn „mein Vater hat es auch gesagt”. + Jede Äußerung der Wortführer der Fortschrittspartei, die als + ein Hinweis auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde + triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse + auf den König und seine Minister. + + [31] So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles gegen + Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach Befriedigung” + seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen für dieselbe Sache” + falsch. Beides fällt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs + dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber lustig, + daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und + tierischer Arbeit darin erblicke, daß die erstere Arbeit für künftige + Bedürfnisse sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren + Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, daß der Mensch mit + Bewußtsein, das Tier ohne solches tätig sei. Und ähnlich an anderen + Stellen. + + + + +Lassalle und Bismarck. + + +Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen und geschrieben +hat, trägt immer deutlicher die Züge der inneren Ermattung, der +geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprüngliche, +das natürliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die +Stärke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man +vergleiche das „Arbeiterprogramm” mit der Ronsdorfer Rede, die +Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter” mit der +Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, und man wird das hier Gesagte +verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke treten an +ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische +Beweisführung, und statt zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer +mehr auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern +vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten +Erfolgen. + +Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die +Behauptung der Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation die +schließliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit großem Geschick +das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt +zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von +„Wallensteins Tod”: + + „Wär's möglich? -- könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte? + Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?” + +Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation +um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser +jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, wie der Friedländer -- um +sein eigenes Bild zu brauchen -- „Dinge getan, welche er à deux mains +verwenden konnte”. Er hatte sich nicht damit begnügt, die Vorgänge in +der inneren und äußeren Politik objektiv zu studieren, um den günstigen +Moment zur Aktion für seine Pläne auszunützen, er war bereits dazu +übergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen die er +kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte +Unterhandlung getreten. Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein +sagen: + + „Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam + Nicht über diese Schwelle noch!” + +Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch +innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu +treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht die Versuchung von +sich wies”? + +Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende +Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck +hatte, ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die langjährige +Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer +1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche +Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern +derselben unter Hinzufügung der näheren Umstände mitgeteilt, und als +August Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom 16. September 1878 die +Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags +darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte +nur in Abrede zu stellen, daß es sich dabei um politische +Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen +der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es drehte sich bei diesen +Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um +Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die +Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Fürst +Bismarck war für diesen Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er +weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung +des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der +schleswig-holsteinische Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei. +Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen +zwischen Lassalle und dem Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der +letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich +ausdrücklich konstatieren muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte +und erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu +können.” Darauf antwortete nun Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten +sich gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umständen +aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so +ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung +einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht gekommen.” Er habe es „mit +einem gewissen Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert. +Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er „von deren +Unzweckmäßigkeit noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die damals +eingetretenen politischen Ereignisse die Fortführung der in dieser +Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht er, +sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, ihn brieflich darum +gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu +herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren. „Was hätte mir +Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In +allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du +gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man +anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, was +kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als +Minister hätte geben können.” + +Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der „offiziell noch nie gelogen” +hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloßen +Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und +würde dieser nicht den „revolutionären Juden” wiederholt -- er selbst +gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, während Sophie Hatzfeldt +behauptet hatte, daß es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche +gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert +haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in +der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche +nachzulesen, um sich zu überzeugen, wie stark sich das Ministerium +Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht +einzuführen, und dazu gab es unter den obwaltenden Umständen kaum +einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert +in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige +Äußerungen und knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten +Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte mit Bismarck +bekannt geworden, richtig gewürdigt werden können: + +„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte +Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen! + +Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich +Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es +vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt! + +Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust +zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr +mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine +und direkte Wahlrecht oktroyiert. + +Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf +dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen +mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene +Notwendigkeit gegründet sind. + +Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird +vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die +Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht +ist oktroyiert!” + +Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewußt, „schon +an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erlaß meines +Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand +entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffaßte”. Aber wenn es +auch zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter 1862/63 in +Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es möglich sei, durch +eine Änderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu +sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32], +so würde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer +bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben +und immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn er nicht aus seinen +Unterhaltungen mit Bismarck die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun +vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, diese Oktroyierung +beschlossene Sache sei. + +Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, daß es +zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen +schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen überzeugt hatte, +daß Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt +unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer +möglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die +Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, geht schon daraus +hervor, daß Lassalle fortfuhr, von allen seinen Veröffentlichungen usw. +durch das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” ein +Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift +„persönlich” an Bismarck übersenden zu lassen. + +Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß seine Verhandlungen mit +Lassalle wegen des „do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen führen +konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachträglich +protzenhaft mit der Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel geben? Er +hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Bismarck +hatte es zu jener Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe +brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache +war nur die, daß es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles +Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, daß +Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: „Sie +können unsre Bevollmächtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. Sie +können sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen, +während wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen über diesen +Punkt, aber lügen schickt sich für uns nicht” -- nach seiner Rückkehr +nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge übertrieb. Er +wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit +wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre +Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie es +in Wirklichkeit mit der Bewegung stand. + +Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst seine eigne Bewandtnis. +Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren +darüber, daß er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen +politischen Verbündeten haben würde, solange dieses Bündnis im +Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern +Worten, daß Lassalle genau so mit ihm verfahren würde, wie er mit +ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald er das +von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mußte ihn die erste +Unterredung mit Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie +Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein Fisch ohne Gräten” +war, sondern ganz gehörige Gräten und Stacheln hatte. Mit der +Aussicht auf ein Pöstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da +nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle +leicht sehr unbequem werden, also warum sich übereilen? Die Agitation +Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger +gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck +brauchte. + +In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter”, +gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklärt: + +„Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die Einführung des +Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, daß sie dem deutschen +Bürgertum zur Last falle?... Die preußische Regierung ist es, nicht die +besitzenden Klassen in Preußen, welche für alle Zeiten und vor allem +Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten +Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: „Bourgeoisie und Arbeiter +sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre +Unterdrücker” -- d. h. also gegen die Regierung. + +Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. März 1864 -- ist ihm der +Verfassungskonflikt in Preußen nur noch der Kampf zwischen dem +Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” könne das Königtum +nicht weichen, „vollkommen wohl” aber könne es „das Volk auf die +Bühne rufen und sich auf es stützen. Es brauche sich hierzu nur +seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich +Volkskönigtum gewesen.” + +„Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der +Bourgeoisie könnte dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch aus +seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des +Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen +ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.” + +Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im weiteren Verlaufe seiner +Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung +als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt. +Niemand lasse aber „gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband +drehen, an welchem er erwürgt wird, und das ist niemand zu verdenken, +und daher auch dem Königtum nicht”. Beständig auf das angebliche +„Recht” hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, daß es mehr +in seiner Stellung läge, sich auf das wirkliche Recht zurückzuziehen +und das Volk auf die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen und +von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband +winden zu lassen, an dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle, +sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung gestürzt und das +allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der +intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte. + +Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur durch die Tatsache seiner +Agitation -- was unter Umständen nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion +vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die +Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch immer mit +Wallenstein ausrufen: + + „Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht + Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!” + +Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar +machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck +abschütteln zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal der +Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck seinen „Bevollmächtigten”. Aber +er vergaß, daß es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker ist als +selbst der stärkste individuelle Wille, und daß, indem er überhaupt +um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu +vertrauen und ausschließlich ihr seine Energie zu widmen, er nach +seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab. + +In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles +über die Grundidee seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: mit +der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen Schwenkung war +Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz +als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es +ist merkwürdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal +vorgezeichnet hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende +Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke durch diplomatische +Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen +Gegner -- die preußische Regierung -- zu täuschen, aber er täuschte +tatsächlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er +nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp +persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie Lassalle von Sickingen +schreibt, daß „dieser große Diplomat und Realist, der alles sorgsam +vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen will, gerade dadurch +zuletzt gezwungen ist, dem zufälligsten Zufall alles anheim zu +geben”, und, „während die Rechnung auf jene Täuschung durch den +Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen an der bewußten Natur des +Bestehenden zugrunde gehen muß, die Entscheidung, statt wie er +wollte, aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus denen des +ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen muß”[33] -- so sieht +auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit dem Zufall +zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen in der inneren und +äußeren Politik abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine +realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, daß beim +Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler +lahmzulegen, der die meisten Trümpfe in der Hand -- beim politischen +Spiel, der über die meisten tatsächlichen Machtfaktoren zu gebieten +hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war, +konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich mehr Bismarcks, als +dieser sein „Bevollmächtigter” wurde. + +Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, „die +Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen +des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine +schwächste Agitationsrede, ausschließlich auf den äußeren Effekt +berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede bewußt war, +zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den überall +eingestreuten Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze -- Krücken, +deren ein Vortrag, der an Hand und Fuß gesund ist, durchaus entbehren +kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar +beeinträchtigen würden. Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der +Vorzüge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen +deren Fehler. + +Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz +nach tadelnswerter als alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen. + +Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die +Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin +geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe gegen die Übelstände, +unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da +es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte, +auf Veranlassung Bismarcks vom König empfangen worden und hatten auf +ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König habe seine Minister +angewiesen, „eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig +und mit allem Ernst vorzubereiten”. + +Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang +der Deputation von Seiten des Königs als einen Erfolg seiner +Agitation hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich war, +niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere Übertreibungen in +der Ansprache, erklärte sich auch diese aus der Situation Lassalles. +Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der +Deputation durch den König und den Worten des letzteren eine +Auslegung, die zunächst nur als eine Reklame für jenen und dessen +Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der +offiziösen „Zeidlerschen Korrespondenz” über den Empfang der +Deputation beim König und liest gerade die dem Königtum günstigste +Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrücklich +verzeichnet, „mit dem höchsten Nachdruck der Stimme und begleitet +sie mit der eindringlichsten Handbewegung”[34]. + +In den Worten des Königs liege, erklärt er, „die Anerkennung des +Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” -- +nämlich, daß eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung +notwendig sei -- ferner, „das Versprechen des Königs, daß diese +Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die +Gesetzgebung erfolgen soll”, und drittens, da „eine +Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz +erwählte Kammer, dem Könige niemals die zu diesem Zwecke +erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn die +Sache ohne Geld zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu einem +solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in dem königlichen +Versprechen, „innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen” +auch „das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden”. + +Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, welche diesem +ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ... +zugehört” habe, in einen „nicht zu beschreibenden Jubel” ausbrechen, +der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu +sprechen versuchte. + +War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, daß die Arbeiter Lassalles +Auslegung des königlichen Versprechens für bare Münze nahmen, das +schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte. + +Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in +Betracht kamen, diese nur durch möglichst glänzende Ausmalung der +bisher erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit für den +Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere +Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine +in der „Kreuzzeitung” erschienene Rezension des „Bastiat-Schulze”, +die nach Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, als daß die in +ihr an Lassalle gerichteten Fragen hätten unbeantwortet bleiben +dürfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes +ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und läßt die Erwiderung und zwei +Exemplare der Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck senden. +Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck +zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche +Jubel” sollte Köder für Bismarck und den König sein. Aber niemand +kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu +gestalten, daß sie den gewünschten Effekt nach oben mache, bewirkte, +daß sie tatsächlich einen durch und durch cäsaristischen Charakter +erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus: +Cäsarismus in den Reihen der Partei, und Cäsarismus in der Politik +der Partei. + +„Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres, +nichts Unintelligenteres,” heißt es in der Einsendung an die +„Kreuzzeitung”, „als der unruhige, nörgelnde liberale +Individualismus, diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser +unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit, +sondern wurzelt notwendig und naturgemäß nur in den Viertels- und +Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie. + +Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage +angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die +Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner würden hier in +diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehört zu werden. Der +oligarchische Boden allein ist der homogene, mütterliche Boden für den +negativen, ätzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und +ihre subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.” + +Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen: + +„Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe +ich zu erwähnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit +und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser +Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein +epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte, +da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen +Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines +Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt +oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis +zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein ‚Nein’ +gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut +habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit +beruhende!... Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den +Arbeitern Worte gehört, die sich in den Satz zusammenfassen: +Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer +zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen, +zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige +Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit dem Hammer! + +Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar +betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten, +Freiheit und Autorität, -- die höchsten Gegensätze, sie sind auf das +innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im +kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen darstellt. Nicht +eine Spur ist in uns von jenem nörgelnden Geiste des Liberalismus, von +jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von +welchem der Körper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...” + +Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der +nämlich, daß in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen +Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf +die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und daß in der Tat schon die +Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist +der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, während umgekehrt der +Bourgeois nur unter anormalen Verhältnissen, nicht aber durch die bloße +Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion +sich veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt aber durch die +obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion +heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; wo die Masse ihren +Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus +einem revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden. Die persönliche +Diktatur ist in den Kämpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der +Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionären +Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den „negativen, ätzenden +Individualismus” aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein +Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefährdet erscheint. In +solchen Momenten wird das Schlagwort von der „einen reaktionären +Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung sich +verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich +unfähig fühlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern +unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persönlichkeit +ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser +Persönlichkeit entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden +Individualismus”. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den +letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die +Partei, die tatsächlich am konsequentesten deren Klassenforderungen +vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren +Interessen, weil sie durch ihre „Nörgelei” die staatserhaltende +Tätigkeit der Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre 1851 +die französische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter +jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum +Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten +usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der +Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloßen Hüters +der Ruhe und Ordnung für die Bourgeoisie zu begnügen. + +Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat absolut keinen Anlaß, +ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das +„Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber zu verzichten. Und wir +haben bei der Solinger Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle +den Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz pochte, er +gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und +kräftiges „Nein” hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum +Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten +Anlaß ein ebensolches „Nein” gehört -- er sprach, wenn er sich +rühmte, in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und Freiheit” in +der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen +Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus. + +Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß er von Anfang an die +persönliche Spitze für unerläßlich gehalten hatte. Zu diesem bloßen +Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis hinzu. Die Politik, die +er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder +und Anhänger der Bewegung kritiklos dem Führer folgten und ohne Murren +taten, was er von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen +des Königs von Preußen gegenüber den schlesischen Webern in einer Weise +behandelte, daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt den +Demokraten -- man möchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das +übrige aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so mußten auch sie +bereit sein, auf Kommando das Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn +eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag, +so ist es die Tatsache, daß sie für Lassalle unter den gegebenen +Verhältnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die +Arbeiter je nach Bedürfnis für seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu +haben, und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, um nach oben hin +als eine bündnisfähige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige +Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr +möglich. + + +Fußnoten: + + [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert. + Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schlußwort einer + Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck + und tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer Sitzung des + konservativen preußischen Volksvereins vom 2. November 1862: „Meine + Herren, täuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn + sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu + lösen, so ist all Euer Laufen und Mühen umsonst. Ich schließe deshalb + mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und + Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch + mehr Energie, treiben wir es nicht bloß für die Zeit der Wahlen.” + + [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen + Schriften dem für das große Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum + Franz von Sickingen angefügt (vgl. Bd. I). + + [34] Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst baldigen + gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhülfe ihrer Not + entließen Seine Majestät die Deputation. Das königliche Versprechen + wird erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges + widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue + Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.” + + + + +Lassalles letzte Schritte und Tod. + + +Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere +Vereinsleitung als auch was die geplante nächste äußere Aktion des +Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. Im +Verein drang er auf die Ausstoßung Vahlteichs, der in bezug auf die +Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei +nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so daß den Vereinsmitgliedern +kaum etwas anderes übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn +Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit +höchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich +gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise +zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens +erst kennenlernen mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder bereits +gegen ihn beeinflußt waren. + +Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge zur Abänderung der +Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken +an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache +hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst +bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein +letzter Versuch, „einen Druck auf die Ereignisse auszuüben”, +mißglücken sollte. + +Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in +Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben +von Dänemark eroberten Herzogtümer Schleswig-Holstein. + +Als im Winter 1863 der Tod des Königs von Dänemark die +schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrängt hatte, hatte +Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung +stand und deshalb ein großes Interesse daran hatte, je nach derjenigen +Politik, für die die preußische Regierung sich entschloß, den Verein +Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den +„Schleswig-Holstein-Dusel” Stimmung gemacht[35] und eine Resolution +ausgearbeitet und überall annehmen lassen, in der erklärt wurde: + + „Die einheitliche Gestaltung Deutschlands würde die + schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser + großen Aufgabe gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in + Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben ein ausländischer + Fürst ist, von verhältnismäßig sehr untergeordnetem Interesse.” + +Im übrigen enthält die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine +Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die +Einverleibung der Herzogtümer in Deutschland „nötigenfalls mit +Waffengewalt” durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der +Hut zu sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen +Aufgaben abziehen”. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird +der Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit +benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage +abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen +sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember +1863. + +Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es handelte sich um die Frage, +was mit ihnen geschehen solle. Ein großer Teil der Fortschrittler trat +für die legitimen Ansprüche des Herzogs von Augustenburg ein, während +man in maßgebenden Kreisen Preußens auf die Annexion der Herzogtümer in +Preußen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien +hatten, zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in Deutschland noch +einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache, +der zur Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs +zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches +Taktgefühl verloren, daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine +große Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution +beschließen zu lassen, des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die +Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und der übrigen deutschen +Staaten an Preußen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte +bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu +welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs +gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung +entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausführung des Vorhabens +gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer +demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren +Führer glücklicherweise erspart. + +Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch einen Prozeß ausgefochten, +in die Schweiz gegangen. Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad, +und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Fräulein Helene von +Dönniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht +und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen +hatte. Es entwickelte sich im Anschluß an den Besuch jene Liebesaffäre, +deren Schlußresultat der frühzeitige Tod Lassalles war. + +Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre sind heute so bekannt und +die für Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affäre so +über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine Wiedererzählung des +ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte +sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er +entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen +gelernt haben -- man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre im kleinen und +auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen +Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dönniges +das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, +das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den +mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner Persönlichkeit gelingen +muß, diese Schwierigkeit zu überwinden. Selbstbewußt, und zugleich mit +umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er +seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern +und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie +mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines, +unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der +jungen Dame erfahren die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung +und erklären, Lassalle unter keinen Umständen als Schwiegersohn annehmen +zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph +wird nur um so größer sein, je größer der Widerstand der Eltern. Von +diesem Selbstbewußtsein getragen, begeht er einen Schritt, der die +Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum +Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen selbst +an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein +anderer. Und ohne Rücksicht darauf, was er sich und seiner politischen +Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es für ihn +nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das +Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges +beobachten und über jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch die +Vermittlung Hans von Bülows wird Richard Wagner ersucht, den König von +Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dönniges zu +intervenieren, während dem Bischof Ketteler von Mainz der Übertritt +Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen +Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht +die geringsten Gedanken darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen +Mission war, die er übernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu +antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch +kümmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten würdig +erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur +Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er hätte stolz sein +dürfen, wo er stolz sein mußte, war er es nicht. + +Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts +tun, weil Helene von Dönniges protestantisch war, und der +Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswärtigen an +den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm, +führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, daß er durch die Art +seines Vorgehens sich und das Weib, für das er kämpfte, in eine total +falsche Position gebracht hatte. Obwohl er gewußt hatte, daß Helene +jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug für sein +zukünftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- „erhalten Sie mir +Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist”, hatte +er am 2. August an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr +jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste Willensstärke erforderte, +und war empört darüber, daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen +suchte. Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, die Dinge +ausschließlich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen +zu betrachten, hatte er ganz außer Erwägung gelassen, daß gerade die +unterwürfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ändern, +und sah den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste Spiel” einer +„verworfenen Dirne”, wo weiter nichts vorlag, als die Unbeständigkeit +eines verwöhnten Weltkindes. + +Indes, er war nervös total heruntergekommen und besaß längst nicht mehr +die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu +Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und +Hölle in Bewegung zu setzen, die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen +oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft, +sondern eines hochgradigen Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel +von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach den übereinstimmenden +Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich +auf ein stark zerrüttetes Nervensystem. + +In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die erlittene Niederlage +ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu +verschaffen für die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So töricht +das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden +Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affäre spielte, +ist das Duell das reinigende Bad für allen Schmutz und allen Schimpf, +und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besaß, sich im Kampf um +irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschränken, welche sich für den +Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft +schicken, so war es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich +erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu +verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell +gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der +verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der +erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit +die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte. + + +Fußnoten: + + [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten Dr. Dammer, + an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus + widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wörtlich geheißen: + „Die erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der ganze + Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht höchst unangenehm ist.” + Der Widerspruch in den Telegrammen erklärt sich jetzt durch die + widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war, + ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei. + + + + +Schlußbetrachtung. + + +So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles, +seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so, +vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein +Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt, +war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit +hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr +problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der +er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben. + +Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl +getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen +wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert +worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt. + +Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt +hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich +seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst +anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl +hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent +weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf +diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen +lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß +genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz +hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte, +ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten +Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu +Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel, +geben?” + +Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen +ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland +niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen, +bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”, +selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution +beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts +geändert haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht +war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges +genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt +des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen +an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „... Ich muß noch vorher in +Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich +wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage +und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel” +von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses +Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige +Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck +kommen. Sie lautet: + +„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich +nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur +genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben. + +Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher, +als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft +und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde +ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste +Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel +sähe, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich für mich schickt; +denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber +bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium +übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig. +Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre, +mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!) + +Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam +entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und +chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane +Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus +besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse +auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht +versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon! + +Ach könnte ich mich zurückziehen!” -- + +In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig +und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte +Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die +jene resignierten Sätze diktierten. + +Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am +3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorläufigen +Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph. +Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung für „Mr. Ferdinand +Lassalle professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte +Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk +von der Hand des alten Freiheitsveteranen: + +„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhängnisvollen Jahre +1864 hier mitteilte, er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt +machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische Bewegung in +etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß +es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht +hinreichend fühle, namentlich werde er die bevorstehenden +Gefängnisstrafen nicht überdauern können. Hierauf gab ich ihm den Rat, +sich unter bewandten Umständen irgendwo einen festen Wohnsitz zu +gründen, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er +dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das +Bürgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden hätte. +In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige Reisen machen. +Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11. +August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.” + +Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate. + +Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an +ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um +Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend +des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und +setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente +von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von +jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen +Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten +Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den +Arbeiterstand zum Siege führen”. + +Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles +Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken +zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre +gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den +Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu +räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen +politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich +zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die +Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen, +sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei, +wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So +liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch +sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in +seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit +stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich +in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür +gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht +darüber im „Nordstern” erschien. + +In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten +-- so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte, +er stets das Ich hatte vorangehen lassen. + +Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte +es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber +ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit +wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus. + +Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser +Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im +hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten +Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so +mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind, +gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht +ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob +Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein +anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß +zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer +Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über +diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener +hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers +in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte +anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen +Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und +konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen, +aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur +großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende +entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte, +während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung, +die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit. + +Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr +begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für +den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent +geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte +hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große +agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene +Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende +für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen +Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der +Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie +in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verständiger +Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der +aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in +ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon +Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in +seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen +hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche +Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten +zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des +Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das +äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen +aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine +Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare +Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die +Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug +auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben. + +Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre +Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen +doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug, +zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer +Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst +aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch. +Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die +er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in +dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die +Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche +anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik +fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen +irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der +Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent +im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft; +kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines +Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß +von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner +sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die +bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war +unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an +Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner +bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit +den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch +konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus +Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle +nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die +verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter +denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden, +einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie +getan. + +Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat +langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden +wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich +oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie +heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen +sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der +Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften +von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne +Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der +Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das +Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb. + +Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende +Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl +Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und +Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da +sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten, +ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und +dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so +bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der +Arbeiterbewegung. + +Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne +Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung +darunter litt, und darum sei es hier erwähnt. + +Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher +von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute +hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht +in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu +untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des +einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht, +und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat +keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre +Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher +auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt +darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in +Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich +gefördert haben. + +Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße, +als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders +gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für +die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben +Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit +andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht +wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein. + +Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der +Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele +Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab +sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die +Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung +und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft. + +Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig +wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es +bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und +brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber +wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so +gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat, +-- so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur +erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er +hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen +Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen +politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den +Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein +eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein +vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung +des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der +Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins +für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun +gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der +Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als +nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen +Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime +Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes +und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war +freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da. +Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen. +Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich +gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land +geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen +zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen +ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine +politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten +auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. +Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es +im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen +deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen _organischen_ Weg +gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden +Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das große, das unvergängliche +Verdienst Ferdinand Lassalles. + + + + + +--------------------------------------------------------------------+ + | Anmerkungen zur Transkription | + | | + | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide | + | Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: | + | | + | anderm -- anderem | + | andern -- anderen | + | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein | + | eigne -- eigene | + | garnicht -- gar nicht | + | heut -- heute | + | Testamentrecht -- Testamentsrecht | + | Vermittelung -- Vermittlung | + | Verständniß -- Verständnis | + | | + | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: | + | | + | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. | + | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. | + | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert. | + | S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert. | + | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert. | + | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert. | + | S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert. | + | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert | + | (Fußnote). | + | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert. | + | S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt. | + | S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt. | + | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert. | + | S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt. | + | S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote). | + | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert. | + | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert. | + | S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14). | + | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert. | + | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert. | + | S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt. | + | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert. | + | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert. | + | S. 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt. | + | S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert. | + | S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht. | + | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert. | + | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert. | + | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert. | + | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert. | + | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert. | + | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert. | + +--------------------------------------------------------------------+ + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44722 *** diff --git a/44722-h/44722-h.htm b/44722-h/44722-h.htm new file mode 100644 index 0000000..fa68071 --- /dev/null +++ b/44722-h/44722-h.htm @@ -0,0 +1,10456 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" /> + <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein. + </title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" /> + <style type="text/css"> + +body { + margin-left: 10%; 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} + .poem span.i0 {display: block; margin-left: 0em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + </style> + </head> +<body> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44722 ***</div> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[S. 1]</a></span></p> + + + + +<h1>FERDINAND LASSALLE</h1> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[S. 2]</a></span></p> +<p> </p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[S. 3]</a></span></p> + + +<p class="center pagebreak"><big><big><big><br /><br />FERDINAND LASSALLE</big></big></big></p> + +<p class="center"><br /><big><big>EINE WÜRDIGUNG<br /> +DES LEHRERS UND<br /> +KÄMPFERS<br /><br /><br /></big></big></p> + +<p class="center">VON</p> + +<p class="center"><big>EDUARD BERNSTEIN<br /><br /><br /><br /><br /><br /></big></p> + + +<hr class="full" /> +<p class="center">VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN<br /> +1 9 1 9 +</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[S. 4]</a></span></p> + + +<p class="center pagebreak"><br /><br /> +<br /><br /><br /><br /><br /><br /> +ALLE RECHTE VORBEHALTEN<br /> +COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN +<br /><br /> +<br /><br /><br /><br /><br /><br /></p> + + +<p class="center"><em class="gesperrt">DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG</em> +</p> + +<hr class="chap" /> + + + + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span></p> +<h2><a name="Inhalt" id="Inhalt">Inhalt.</a></h2> + + + +<div class="center" style="margin-left: 1em;"> +<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary="Inhalt"> +<tr><td align="left"></td><td align="right">Seite</td></tr> +<tr><td class="tdl">Vorwort</td><td align="right"><a href="#Seite_5">5</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung</td><td align="right"><a href="#Seite_7">7</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz von Sickingen</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">27</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Ferdinand_Lassalle">66</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Das System der erworbenen Rechte</td><td align="right"><a href="#Das_System_der_erworbenen_Rechte">114</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Der_preussische_Verfassungskonflikt">145</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalle">186</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_213">213</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_235">235</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalle und Bismarck</td><td align="right"><a href="#Lassalle_und_Bismarck">263</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalles letzte Schritte und Tod</td><td align="right"><a href="#Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">285</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Schlußbetrachtung</td><td align="right"><a href="#Schlussbetrachtung">293</a></td></tr> +</table></div> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span></p> + + + + +<h2><a name="Vorwort" id="Vorwort">Vorwort.</a></h2> + + +<p>Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer +ersten Gestalt im Jahre 1891 verfaßt, als eine +Einleitung zu der damals von der Buchhandlung +„Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von +Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand, +daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen +Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, +und daß aus buchhändlerischen Gründen +die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich +kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte +verschiedene Mängel zur Folge, die ich später oft +bedauert habe.</p> + +<p>Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden +ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier +zu bessern, was nach meiner eigenen Überzeugung +und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten +Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere +aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen, +teilweise recht bedeutsamen Briefe +von, an und über Lassalle berücksichtigt worden, +die dazu beigetragen haben, das Bild des großen +Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher +zu gestalten, als es früher vor uns stand.</p> + +<p>Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die +besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mit<span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span>glied +der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begründer +verehrt, <em class="gesperrt">für</em> die Partei, also namentlich +auch für bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, +hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die +Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der +von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in +möglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen. +Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur +Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich +zurücktreten mußte. Die Schrift beansprucht +nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die +Lassalle von der Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers +oder Literaturpsychologen behandeln. +Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment +um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade +in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses +steht und an dem Lassalle am meisten gelegen +war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender +Lehrer des Sozialismus und als politischer +Führer der sozialistischen Demokratie.</p> + +<p> +<span> <em class="gesperrt">Berlin-Schöneberg</em>, im September 1919.</span><br /> +</p> +<p class="right"><em class="gesperrt">Ed. Bernstein</em>. +</p> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p> + + + + +<p class="center pagebreak"><big><big>FERDINAND LASSALLE UND DIE<br /> +DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE<br /><br /></big></big></p> + + +<h2 class="nopagebreak"><a name="Deutschland_am" id="Deutschland_am">Deutschland am +Vorabend der Lassalleschen Bewegung.</a></h2> + + +<p>Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende +und ausgebeutete Klassen gibt, hat es +auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren +gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, +Ehrgeizige und Schwärmer gefunden, +welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung +oder Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in +Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen +unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, +so ist der Sozialismus so alt wie die +Zivilisation. Hält man sich jedoch an bestimmtere +Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen +nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie +und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der +Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit +dem irgendeiner früheren Epoche nur soviel gemein, +daß er wie jener der geistige Niederschlag +der besonderen, von den Besitzlosen geführten +Klassenkämpfe seiner Zeit ist. Überall drückt +die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden +er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche +ihren Stempel auf.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span></p> + +<p>Der moderne Sozialismus ist das Produkt des +Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft, +er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen +Bourgeoisie und modernem Proletariat, +einem Gegensatz, der schon verhältnismäßig früh +in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum +Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang +von den Kämpfenden selbst in seiner vollen +Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf +gegen die privilegierten Stände der feudalen +Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem +absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum +zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der +Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen, +die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung +ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger +Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen +Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit +im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die +es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint +ihm als deren vernunftgemäße, vor dem +gesunden Menschenverstand Bestand habende +Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber, +soweit es sich selbst bereits von den zunftbürgerlichen +Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen +der bürgerlichen Wortführer so lange +für bare Münze, als das Bürgertum ausschließlich +Opposition gegen die Vertreter der ständischen +Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die +letzteren besiegt oder doch soweit zurückgedrängt, +um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen<span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span> +gehen zu können, so stellt sich bald +heraus, daß die hinter ihm stehenden Plebejer +ganz andere Begriffe von dem versprochenen +Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen +Freunde und Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, +die um so heftiger ausfallen, je +größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat +ist jedoch noch nicht stark genug, seinen +Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit +rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht +und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz +zurück.</p> + +<p>Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen +des 16., 17. und 18. und selbst noch +der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die +rasche Entwicklung, welche die Revolution der +Produktionsverhältnisse in diesem Jahrhundert +nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des +Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte +nicht mehr außergewöhnlicher Veranlassungen, +um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen +der beiden an den Tag treten zu lassen, +er kam in den vorgeschrittenen Ländern auch +ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an, +sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, +die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung +wurde vom proletarischen Standpunkt +aus der Kritik unterworfen, es entstand eine +antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig +unbedeutende Reibereien im Schoße +der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> +Flügel gegen einen andern aber genügten, um +die tatkräftigeren Elemente des Proletariats als +selbständige Partei mit eigenen Forderungen in +die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung +des liberalen Bürgertums in England wurde das +Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution +in Frankreich leitete erst eine rein republikanische +Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionäre +Bewegungen ein, die zusammen +an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation +zurückbleiben.</p> + +<p>Literarisch und propagandistisch schlägt die +Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland +hinüber. Schriftsteller und Politiker, die +entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch +in der Heimat für eine Zeitlang zu entgehen, sich +ins Ausland begeben, werden Proselyten des +Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland +zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer +Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, +bringen die sozialistische Lehre in die Heimat +zurück und kolportieren sie auf den Herbergen. +Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre +Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, +am Vorabend des Revolutionsjahres 1848, +tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem +Programm, das mit unübertroffener revolutionärer +Schärfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen +Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet, +aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen +Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> +zunächst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam +mit der Bourgeoisie gegen die absolute +Monarchie, das feudale Grundeigentum und die +reaktionäre Kleinbürgerei zu kämpfen.</p> + +<p>Die Februarrevolution in Frankreich und die +Märzrevolution in Deutschland fanden das erstere +in seinen Zentren stark sozialistisch unterwühlt, +das letztere gleichfalls schon mit einer relativ +großen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter +durchsetzt. Hier wie dort lieferten die Arbeiter, +wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits +die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber +die Verhältnisse waren in Frankreich, trotz seiner +politischen und ökonomischen Überlegenheit, der +Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger +als in Deutschland. Auf dem Lande herrschte +der kleinbäuerliche Grundsatz vor, während in +den Städten und Industriebezirken zwar die große +Industrie bereits um sich gegriffen, aber doch +noch lange nicht die Alleinherrschaft erobert +hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in +Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das +kleinere und mittlere Handwerk, wenn es auch +aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon +meist für den Großindustriellen arbeitete, noch +eine verhältnismäßig große Rolle, ganz besonders +auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend +hatte der französische Sozialismus +selbst dort, wo er sich vom eigentlichen Utopismus +freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen +einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span> +die Februarrevolution und die furchtbare Lehre +der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben +dem utopistischen Sozialismus bei den französischen +Arbeitern den Todesstoß, aber an seine +Stelle trat auf Jahre hinaus — der Proudhonismus.</p> + +<p>In dieser relativen Unreife der ökonomischen +Verhältnisse liegt die Erklärung für die sonst unbegreifliche +Tatsache, daß, während es damals in +Frankreich von Sozialisten wimmelte, während +über 200 Mitglieder der Deputiertenkammer sich +„Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische +Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten +abzuspeisen vermochte.</p> + +<p>In Deutschland war die Unreife natürlich noch +größer. Die große Masse der Arbeiter steckte +nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern +teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. +Auf verschiedenen der Arbeiterkongresse, +die das Jahr 1848 ins Leben rief, +wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. +Nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit der +deutschen Arbeiter hatte bereits die revolutionäre +Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese +überall in den vordersten Reihen der Volksparteien +kämpfte, wenn sie, wo immer sie konnte, die +bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte, +so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen +Leibe. Die Kommunisten des Jahres 1848 fielen +auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in +Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, +als die Reaktion auf der ganzen Linie gesiegt,<span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span> +das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von ihnen +im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, +die das Frühjahr 1848 ins Leben +gerufen, wurden von den Regierungen unterschiedlos +aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was +an Sozialisten noch im Lande blieb, zog sich entweder +in Erwartung günstigerer Zeiten ganz von +der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und +schloß sich an die ihm adäquate Fraktion des +bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres gilt +namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des +halb schöngeistigen, halb sansculottischen „wahren” +Sozialismus, der mit so vielem Lärm aufgetreten +war. Die Arbeiter selbst aber, mehr +oder weniger eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken +ihrer Organisation als Klasse mit selbständigen +Zielen ab und verfallen der Vormundschaft +der radikalen Bourgeoisparteien oder +der Protektion wohlmeinender Bourgeoisphilantropen.</p> + +<p>Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen +wesentlichen Punkten mit den in England und +Frankreich unter den gleichen Umständen vor +sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der +Fehlschlag der erneuerten Agitation der Chartisten +im Jahre 1848 hatte in England die Wirkung, +daß der christliche Sozialismus der Maurice, +Kingsley, Ludlow sich in den Vordergrund drängte +und einen Teil der Arbeiter veranlaßte, in selbsthilflerischen +Genossenschaften ihre Befreiung zu +suchen — nicht nur ihre ökonomische, sondern<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> +auch ihre „moralische”, ihre Befreiung vom +„Egoismus”, vom „Klassenhaß” usw. Wenn nun +diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren +Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche +Zwecke verbanden, noch die Geschäfte irgendeiner +besonderen Partei der besitzenden Klassen +besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda +unter den Arbeitern, soweit ihr Einfluß reichte, +doch zunächst die der Ablenkung derselben von +den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. +politische Entmannung. Soweit es gelang, den +„Klassenegoismus” zu vertreiben, trat in den +meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser +Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder +philisterhaftes „Bildungs”-Pharisäertum. Die +Gewerkvereinsbewegung ihrerseits verliert sich +fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden +Interessen, während die Reste der Oweniten +sich meist auf die sogenannte freidenkerische +Propaganda werfen.</p> + +<p>In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion +gewesen, welche die Arbeiterklasse +in den Hintergrund der revolutionären Bühne +drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. +Der rege politische Geist des Pariser Proletariats +konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß nicht +sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie +Marx im 18. Brumaire schreibt, „jedesmal wieder +vorzudrängen, sobald die Bewegung einen neuen +Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft +war gebrochen, es konnte selbst nicht einmal mehr<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span> +vorübergehend siegen. „Sobald eine der höher +über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre +Gärung gerät, geht es eine Verbindung +mit ihr ein und teilt so alle Niederlagen, die die +verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. +Aber diese nachträglichen Schläge schwächen sich +immer mehr ab, je mehr sie sich auf die ganze +Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine bedeutenderen +Führer in der Versammlung und in +der Presse fallen der Reihe nach den Gerichten +zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren +treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich +auf doktrinäre Experimente, Tauschbanken und +Arbeiter-Assoziationen, also in eine Bewegung, +worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren +eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr +hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf +Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen, +seine Erlösung zu vollbringen +sucht, also notwendig scheitert.” (Der achtzehnte +Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)</p> + +<p>In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen +Niederlage der Arbeiter keine Rede sein +konnte, weil diese sich zu einer größeren Aktion +als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, +unterblieben ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche +von Arbeitern, sich in nennenswerter Weise +selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche +Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der +arbeitenden Klasse” sich mit der Frage der +Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> +harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein +kleinbürgerlicher Demokrat, der preußische Abgeordnete +Schulze-Delitzsch, der selbsthilflerischen +Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur +„Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei +welchem löblichen Unternehmen ihm gerade die +ökonomische Rückständigkeit Deutschlands in ermunterndster +Weise zustatten kam.</p> + +<p>Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei +seinen Genossenschaften weniger die Arbeiter, als +die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; +diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine +in den Stand gesetzt werden, mit der Großindustrie +zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie +in Deutschland noch wenig entwickelt +war, es dafür aber eine große Anzahl von Handwerksmeistern +gab, die sich noch nicht, wie die +Meister der kleinen Industrie in Frankreich und +England, an die große Industrie angepaßt hatten, +sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr +ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf +einen fruchtbaren Boden fallen, die geschilderten +Genossenschaften ihnen auch, solange sich die +Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges +noch nicht bemächtigt hatte, wirklich von +Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und +Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch +Konsumvereine von Kleinbürgern und Arbeitern, +und im Hintergrunde winkten — als die Krone +des Ganzen erscheinend — die Produktivgenossenschaften +von Arbeitern als die Verwirklichung<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> +des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom +Kapital.</p> + +<p>Ebensowenig wie die englischen christlichen +Sozialisten verband Schulze-Delitzsch ursprünglich +mit der Propaganda für die selbsthilflerischen +Genossenschaften spezifische politische Parteizwecke, +sondern folgte, gleich jenen, nur einer +mit seinem Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. +Zur Zeit, als er sich der Bewegung zuwandte, +war die politische Partei, zu der er gehörte, +die Linke der preußischen Nationalversammlung, +von der öffentlichen Bühne zurückgetreten. +Nachdem sie sich von der Krone und deren +geliebten Krautjunkern nach allen Regeln der +Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte sie, als die +preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem +oktroyierte, bis auf weiteres das Feld geräumt. +Sie ballte die Faust in der Tasche und ließ die +Reaktion sich selbst abwirtschaften.</p> + +<p>Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber +Kleinbürger mit liberalen Anschauungen, dabei in +seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, +als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, +eine Idee aufgegriffen, die damals allgemein in +der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der +Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren +gelautet, Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr +gegründet, Assoziation dozierte der +konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum +sollte der liberale Kreisrichter Schulze nicht auch +für „Assoziationen” sich erwärmen?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span></p> + +<p>Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer +Stelle einzugehen haben werden, so seien hier nur +aus einer 1858 veröffentlichten Schrift Schulze-Delitzschs +einige Sätze zitiert über die Wirkungen, +die er von den selbsthilflerischen Genossenschaften +in bezug auf die Lage der Arbeiter +erwartete:</p> + +<p>„Und was die im Lohndienst verbleibenden +Arbeiter anbelangt, so ist die Konkurrenz, welche +die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen +den Unternehmern machen, auch für sie +von den günstigsten Folgen. Denn muß nicht die +solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der +Unternehmer zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich +der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht +die Inhaber der großen Etablissements dadurch +genötigt, ihren Arbeitern möglichst gute Bedingungen +zu bieten, weil sie sonst riskieren, daß +dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen +übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, +wozu natürlich die geschicktesten und strebsamsten +Arbeiter am ersten geneigt sein werden? +— Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter +selbst den Arbeitgebern Konkurrenz bieten, +läßt sich ein dauernder Einfluß auf die Lohnerhöhung, +auf eine günstigere Stellung der Arbeiter +im ganzen ausüben, den man mittelst gesetzlicher +Zwangsmittel, wie wir früher gesehen +haben, oder durch die Appellation an die Humanität +niemals allgemein und mit Sicherheit erreicht ...</p> + +<p>„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements<span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span> +von den Arbeitern errichtet und +das bisherige Monopol der Großunternehmer hierbei +durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, +daß sich die enormen Gewinne derselben, welche +sie früher ausschließlich zogen, vermindern, weil +sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen +müssen. Während also der Reichtum von der +einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen +wird, schwindet auf der andern Seite der +Notstand mehr und mehr, und die Zustände beginnen +sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes +zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus +wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen, +diesen unseligen Auswüchsen unserer Industrie, +in denen wir zwei gleich feindliche Mächte +wahrer Kultur erblicken ...</p> + +<p>„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: +daß ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft +und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen +wagen und tatsächlich die Möglichkeit +dartun, daß sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung +der übrigen Klassen, durchzusetzen vermögen, +man sich von seiten dieser wohl hüten +wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man +viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen +Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn +dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz +fühlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem +sie den Unternehmern einmal selbst als +Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie +auf Beachtung ihrer Wünsche, auf das Entgegenkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> +des Publikums, insbesondere der Kapitalisten +rechnen, welche sie erst dann als Leute +zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr +auch mitzählen, während sie ihnen bis dahin +für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig +für sich gar nicht in Ansatz kamen. Auf +dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse +die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche +und Strebungen, mögen sie noch so gerecht +und billig sein, finden nur dann erst Geltung, +wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, +daß sie in tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen +sich unabweisbar hervordrängen.” ... +(Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen +und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig +1858, S. 58, 61 und 63.)</p> + +<p>Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, +der im Sommer 1862 tagte, mußte Schulze eingestehen, +daß noch fast gar keine Produktivgenossenschaften +und nur eine winzige Anzahl +von Konsumvereinen beständen. Nur die aus +Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten +zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine +gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl, +die Rohstoffgenossenschaften.</p> + +<p>Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges +der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der +Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und +nehmen jetzt deren Faden wieder auf.</p> + +<p>Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen +Reaktion einen empfindlichen Stoß versetzt, indem<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span> +er die „Solidarität der Regierungen”, die +eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken +brachte. Die Rivalität zwischen Preußen und +Österreich trat in dem verschiedenen Verhalten +des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland +von neuem zutage, während der Tod Nikolaus I. +und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende +des Krieges befand, die Reaktionsparteien in +Europa ihres stärksten Hortes beraubte. Rußland +hatte vorläufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten +zu tun, daß es auf Jahre hinaus +nicht in der Lage war, sich für die Sache der +Ordnung in irgendeinem andern Lande des „Prinzips” +halber zu interessieren, es kam für die +innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand +außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte sich +die Rivalität zwischen Preußen und Österreich +auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern +gegenüber blieben beide Regierungen +vorderhand noch „solidarisch”.</p> + +<p>Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine +Geschäftsstockung, die 1857 und 1858 +sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität +1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht +hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die +alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und +Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder +ins Wanken. Überall gärte es in den unter der +Krisis leidenden Volkskreisen, überall schöpfte +die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der +Massen neue Kraft, überall erhoben die „Mächte<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span> +des Umsturzes” von neuem ihr Haupt. Am +drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich +am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte +es Napoleon III. mit drakonischen Gewaltmaßregeln, +zu denen das Attentat Orsinis ihm den +Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er +dadurch seine Position eher verschlimmerte als +sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel. +Er versuchte durch einen populären auswärtigen +Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen +und sein Leben vor den Dolchen der +Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige +Mitglied ihrer Verschwörung durch Orsini wissen +lassen, daß, wenn er sein ihnen gegebenes Wort +nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn +erheben würden. Der italienische Feldzug wurde +also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in +Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die +„Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand +noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, Österreichs +Hegemonie in Deutschland zu brechen, +sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das +liberale Bürgertum zu gewinnen und ernennt ein +diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch +alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun +wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, +überbot sich der bürgerliche Liberalismus in allen +möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der „Nationalverein” +wurde gegründet mit dem Programm: +Deutschlands Einigung unter Preußens Spitze. +Preußen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span> +politischen und nationalen Aspirationen der liberalen +Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer +Völkerfrühling schien angebrochen und ein viel +schönerer als der von 1848, denn er versprach +die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären +Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt +macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe +entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht +die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach +sich hübsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn +es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten +kommen sollte — hatte nicht das Beispiel der +Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine, +der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die +Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt +und ihnen den Beweis geliefert, welche große +Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten hätten, +sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts +als die liberalen „Freiheiten” brauchten?</p> + +<p>Wer heute die sozialpolitische Literatur des +deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest, +dem fällt nichts so sehr auf als die kolossale +Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, +die über den engen Horizont des aufgeklärten +Gewürzkrämers hinausgehen. Man war +sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel +von altathenischer Verfassung und englischem +Parlamentarismus zu erzählen, aber die Nutzanwendung, +die man aus allem zog, war immer +die, daß der aufgeklärte deutsche Gewürzkrämer +oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und<span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span> +daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert +sei, daß es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgefälligen +Naivetät trieb man es im preußischen +Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch +ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit +dieser Naivetät entfremdete man sich die Arbeiterklasse, +lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz +dazu Veranlassung gab. Man wußte +erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte +„auch wirklich nichts” aus ihr gelernt.</p> + +<p>Auf die Ursachen und den Gegenstand des +preußischen Verfassungskonflikts braucht hier +nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach +aus, und der Liberalismus sah sich plötzlich, er +wußte selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit +eben der Regierung, die er die schöne Rolle der +Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, +die Hegemonie in Deutschland zugesprochen +hatte. Indes das war vorläufig nur +Pech, aber kein Unglück. Die liberale Partei war +mittlerweile so stark geworden, daß sie den Streit +eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem +bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast +das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strömung +hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; +von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen +Feudalen und Betbrüder abgesehen, überließen +sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei +die Ausfechtung des Kampfes mit +der preußischen Regierung. Welche Fehler diese +Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> +Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, +in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs +neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum +und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der +ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente +lag: das Budgetrecht der Volksvertretung.</p> + +<p>Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe +zuerkennen, heißt noch nicht, sich ihr mit +Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf +jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch +die entwickelteren Elemente unter den deutschen +Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten, +die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die +Kost, die ihnen in den von diesen patronisierten +Bildungs- usw. Vereinen dargeboten wurde, unmöglich +auf die Dauer genügen. Noch waren die +alten kommunistischen und revolutionären Traditionen +nicht völlig ausgestorben, noch gab es gar +manchen Arbeiter, der entweder selbst Mitglied +irgendeiner der kommunistischen Verbindungen +gewesen oder von Mitgliedern über deren Grundsätze +aufgeklärt, von ihnen mit kommunistischen +Schriften versehen worden war. Unter diesen, +und durch sie angeregt, fing man an, in immer +weiteren Kreisen der Arbeiter die Frage zu erörtern, +ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht +sofort eine eigne Arbeiterpartei mit einem eignen +Arbeiterprogramm, so doch wenigstens einen +Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei +als eine bloße Kreatur der liberalen Partei.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span></p> + +<p>Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler +nur ein wenig aus der Geschichte anderer +Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein +Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung +sich ihnen feindselig gegenüberstellte, solange +sie selbst im Kampf mit der preußischen +Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel +von dem Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie +ja die Volkssache vertraten, <em class="gesperrt">das</em> „Volk”, und +als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten — +nämlich die Klassenkämpfe — des Auslandes +erhaben seien; und so begriffen sie denn auch +nicht, daß es sich hier um eine Strömung handelte, +die früher oder später eintreten mußte, und daß +es nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige +Weise auseinanderzusetzen. So verliebt +waren sie in sich, daß sie gar nicht zu fassen +vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr +geizen konnten, als nach der Ehre, durch sie vertreten +zu sein. Die Antwort auf das Gesuch, den +Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein +zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich +als die geborenen Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” +— d. h. hübsch draußen bleiben — war +in der Tat typisch für das Unvermögen der Parteigenossen +des braven Schulze, etwas anderes zu +begreifen, als den denkenden Spießbürger — ihr +Ebenbild, ihren Gott.</p> + +<p>So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen +in Leipziger Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis +die Bildung eines Komitees zur Einberufung<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span> +eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer +Folge die Anknüpfung von Verhandlungen +mit Ferdinand Lassalle war.</p> + + + +<hr class="chap" /> +<h2><a name="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess" id="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, +die Assisenrede und der +Franz von Sickingen.</a></h2> + + +<p>Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle +wandte, stand dieser in seinem 37. Lebensjahre, +in der Vollkraft seiner körperlichen und geistigen +Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben +hinter sich, sich politisch und wissenschaftlich — +beides allerdings zunächst innerhalb bestimmter +Kreise — einen Namen gemacht, er unterhielt +Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der +Literatur und Kunst, verfügte über ansehnliche +Geldmittel und einflußreiche Freunde — kurz, +nach landläufigen Begriffen konnte ihm das +Komitee, eine aus bisher völlig unbekannten Persönlichkeiten +zusammengesetzte Vertretung einer +im Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts +bieten, was er nicht schon hatte. Trotzdem ging +er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen +Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, +der Bewegung diejenige Richtung zu geben, die +seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. +Von anderen Rücksichten abgesehen, zog +ihn gerade der Umstand besonders zu ihr hin, +daß die Bewegung noch keine bestimmte Form +angenommen hatte, daß sie sich ihm als eine ohne<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span> +Schwierigkeit zu modelnde Masse darstellte. Ihr +erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in +seinem Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur +seinen hochfliegenden Plänen, das war überhaupt +eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen ungemein +sympathisch sein mußte. Die Einladung traf +ihn nicht nur bei seiner sozialistischen Überzeugung, +sondern auch bei seinen Schwächen. Und +so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf +sie ein.</p> + +<p>Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine +eigentliche Biographie Ferdinand Lassalles zu +geben, die sehr ansehnliche Zahl der Lebensbeschreibungen +des Gründers des Allgemeinen +Deutschen Arbeitervereins noch um eine weitere +zu vermehren. Der für sie zur Verfügung stehende +Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer +Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, +ist vielmehr die Persönlichkeit und Bedeutung +Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit seine +politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit +in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist ein +Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles unerläßlich, +da er erst den Schlüssel zum Verständnis +seines politischen Handelns liefert.</p> + +<p>Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung +Lassalles eine große, man kann sogar +sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. +Wir sprechen hier nicht schlechthin von vererbten +Eigenschaften oder Dispositionen, sondern von +der bedeutungsvollen Tatsache, daß das Bewußt<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span>sein, +von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen +noch in vorgeschrittenen Jahren +peinlich war, und daß es ihm trotz seines eifrigen +Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses +Bemühens nie gelang, sich tatsächlich über seine +Abstammung hinwegzusetzen, eine innerliche Befangenheit +loszuwerden. Aber man darf nicht +vergessen, daß Lassalles Wiege im östlichen Teil +der preußischen Monarchie gestanden hatte — er +wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren —, +wo bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal +formell völlig emanzipiert waren. Die Wohlhabenheit +seiner Eltern ersparte Lassalle viele +Widerwärtigkeiten, unter denen die ärmeren Juden +damals zu leiden hatten, aber sie schützte ihn nicht +vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die +Angehörigen jeder für untergeordnet gehaltenen +Rasse, auch wenn sie sich in guter Lebensstellung +befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so +selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend +auf war, zunächst einen trotzigen Fanatismus des +Widerstandes erzeugen, der dann später oft in +das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus +bei dem jungen Lassalle war, geht aus +seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung +gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und +1841 hervor. Am 1. Februar 1840 schreibt der +noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein Tagebuch:</p> + +<p>„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich +glaube, ich bin einer der besten Juden, die es<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span> +gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten. +Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ +mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen +drückenden Lage zu reißen. Ich würde selbst das +Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu +einem geachteten Volke machen. O, wenn ich +meinen kindischen Träumen nachhänge, so ist es +immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der +Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig +zu machen.” Die Mißhandlungen der Juden in +Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den Ausruf: +„Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, +es räche oder dulde die Behandlung.” Und an +den Satz eines Berichterstatters: „Die Juden +dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur +von diesen Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion +ertragen werden können”, knüpft er die +von Börne übernommene Betrachtung an: „Also +sogar die Christen wundern sich über unser träges +Blut, daß wir uns nicht erheben, nicht lieber auf +dem Schlachtfeld, als auf der Tortur sterben +wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen +sich die Schweizer einst erhoben, größer?... +Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los.” +Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate +später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten +Geschichten, daß die Juden Christenblut +brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, +auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber +aus allen Winkeln der Erde man mit diesen Beschuldigungen +hervortritt, scheint mir anzudeuten,<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> +daß die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat +durch Christenblut uns helfen werden. Aide-toi +et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es kommt +auf den Spieler an.”</p> + +<p>Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich +der Blick erweitert, aber die Wirkung, die solche +Jugendeindrücke auf die geistigen Dispositionen +ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife +Lassalle durch den Stachel der „Torturen”, von +denen er schreibt, um so mehr angetrieben, sich +für seine Person um jeden Preis Anerkennung +und Geltung zu verschaffen. Auf der anderen +Seite wird der Rebell gegen die Unterdrückung +der Juden durch die Christen bald politischer +Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er +Schillers Fiesko gesehen, folgende, von merkwürdig +scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: +„Ich weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische +Gesinnungen habe +wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle +des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich +nicht damit begnügt hätte, Genuas erster Bürger +zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand +ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich +die Sache bei Lichte betrachte, daß ich bloß +Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren, +ich würde mit Leib und Leben Aristokrat +sein. So aber, da ich bloß ein schlichter Bürgerssohn +bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat +sein.”</p> + +<p>Sein politischer Radikalismus ist es auch, der<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> +1841 den sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, +den vorübergehend gefaßten Entschluß, sich zum +Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben +und von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, +sich zum Universitätsstudium vorzubereiten. Die +lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle +von seinem Vater wider seinen Willen auf die +Handelsschule nach Leipzig geschickt worden, ist +durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, +Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium +auf die Handelsschule betrieben. Freilich +nicht aus vorübergehender Vorliebe für den +Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer +Reihe von leichtsinnigen Streichen zu entgehen, +die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem +Vater nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu +müssen, welche er — nach seiner Ansicht unverdient +— zu erhalten pflegte. Als es ihm aber +auf der Leipziger Handelsschule nicht besser erging +als auf dem Breslauer Gymnasium, als er +auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor +allem mit dem Direktor in Konflikte geriet, die +sich immer mehr zuspitzten, je radikaler Lassalles +Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der +Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat +er die Handelsschule bezogen, und schon am +3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn eines +Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen +Schauplatz werfen werde, auf dem er öffentlich +wirken könne. „Ich traue auf den Zufall und +auf meinen festen Willen, mich mehr mit den<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> +Musen als den Haupt- und Strazzabüchern, mich +mehr mit Hellas und dem Orient, als mit Indigo +und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren +Priestern, als mit Krämern und ihren Kommis +zu beschäftigen, mich mehr um die Freiheit, als +um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die +Hunde von Aristokraten, die dem Menschen sein +erstes, höchstes Gut wegnehmen, als die Konkurrenten, +die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.” +„Aber beim Verwünschen soll's nicht +bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu dem Radikalismus +kommt der immer stärkere Drang, den Juden +in sich abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich +so energisch, daß, als Lassalle im Mai 1841 +dem Vater seinen „unwiderruflichen” Entschluß +mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, +Medizin oder Jura zu studieren, weil „der Arzt +wie der Advokat Kaufleute sind, die mit ihrem +Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren +„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der +Vater zwar nicht einverstanden, er willigte aber +ein, daß Lassalle sich zum Studium vorbereite.</p> + +<p>Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war +im Jahre 1842 schon so weit, sein Maturitätsexamen +abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, +geht aber dann zur Philosophie über und entwirft +den Plan zu einer größeren philologisch-philosophischen +Arbeit über den Philosophen Herakleitos +von Ephesus. Daß er sich gerade diesen +Denker zum Gegenstand der Untersuchung auswählte, +von dem selbst die größten Philosophen<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> +Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher +seien, ob sie ihn ganz richtig verstanden, und +der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt, +ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für +Lassalle. Mehr noch als die Lehre Heraklits, +den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt +hatte, reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur +durch glänzende Leistungen Lorbeeren zu erlangen +waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, +jedermann durch außergewöhnliche Leistungen zu +verblüffen, hatte Lassalle zugleich das Bewußtsein, +jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen +zu können. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen +war das Fatum seines Lebens. Es hat ihn in +der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen +lassen, vor denen tausend andere zurückgeschreckt +wären, selbst wenn sie über die intellektuellen +Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber +auf der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller +Fehlgriffe und schließlich zur Ursache seines +jähen Endes geworden.</p> + +<p>Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 +an den Rhein und später nach Paris, teils um +dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um +die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens +der Epoche, kennenzulernen. In Paris gingen damals +die Wogen der sozialistischen Bewegung +sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, +der 1843 schon sein sozialistisches Damaskus gefunden +hatte. Ob und inwieweit Lassalle mit +den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> +wurde — Karl Marx war, nachdem die +„Deutsch-französischen Jahrbücher” eingegangen +und der „Vorwärts” sistiert worden war, im +Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und +nach Brüssel übersiedelt —, darüber fehlen zuverlässige +Angaben. Wir wissen nur, daß er +viel mit Heinrich Heine verkehrte, an den er +empfohlen war, und dem er in mißlichen Geldangelegenheiten +(einem Erbschaftsstreit) große +Dienste leistete. Die Briefe, in denen der kranke +Dichter dem zwanzigjährigen Lassalle seine Dankbarkeit +und Bewunderung aussprach, sind bekannt. +Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken +Eindruck Lassalles Selbstbewußtsein auf Heine +gemacht hat.</p> + +<p>Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle +im Jahre 1846 die Bekanntschaft der Gräfin +Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren vergeblich +bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten +Aristokraten, der sie allen Arten von +Demütigungen und Kränkungen ausgesetzt hatte, +gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens +zu erlangen. Man hat über die Motive, +welche Lassalle veranlaßten, die Führung der +Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen +aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis +mit der zwar nicht mehr jugendlichen, +aber noch immer schönen Frau zurückführen +wollen, während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß +mit großer Leidenschaftlichkeit dagegen +verwahrt hat, durch irgendeinen anderen Beweggrund<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span> +dazu veranlaßt worden zu sein, als den des +Mitleids mit einer verfolgten, von allen helfenden +Freunden verlassenen Frau, dem Opfer ihres +Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen +eines übermütigen Aristokraten. Es liegt +absolut kein Grund vor, dieser Lassalleschen Beteuerung +nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in +den folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres +Verhältnis als das der Freundschaft zur +Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es +ist aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, +daß ein solches Verhältnis gleich +am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den +Prozeß übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher +ist es, daß neben der vielleicht etwas +romantisch übertriebenen, aber doch durchaus anerkennenswerten +Parteinahme für eine verfolgte +Frau und dem Haß gegen den hochgestellten +Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier +um eine Sache handelte, die nur mit Anwendung +außergewöhnlicher Mittel und Kraftentfaltung zu +gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle +ausgeübt hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog +ihn unbedingt an.</p> + +<p>Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph +gehabt, daß der hochmütige Aristokrat vor ihm, +dem „dummen Judenjungen” kapitulieren mußte. +Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem +Kampf hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte +er freilich außergewöhnliche Mittel aufwenden +müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> +nur die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in +die rechtlichen Streitfragen, außergewöhnlicher +Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung +der gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen +Mittel des unterirdischen Krieges: +die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im +ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf +Hatzfeldt, ein gewöhnlicher Genußmensch, scheute +vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen, +und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, +nahm die Gegenseite zu Mitteln ihre +Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. +Wer die Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, +kann sich keine Ahnung machen von dem +Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder +herangeschleppt wurde, von der Qualität der +beiderseitigen Anklagen und — Zeugen.</p> + +<p>Und von den Rückwirkungen der umgekehrten +Augiasarbeit im Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle +nie ganz freimachen können. Wir meinen das +nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick +auf seine späteren Liebesaffären, sondern +mit Bezug auf seine von nun an wiederholt bewiesene +Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen +und zu benutzen, das ihm für seine jeweiligen +Zwecke dienlich erschien; wir meinen den Verlust +jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung +selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt +verbietet, der mit den von ihm vertretenen Grundsätzen +in Widerspruch steht, wir meinen die +von da an wiederholt und am stärksten in der<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span> +tragischen Schlußepisode seines Lebens sich offenbarende +Einbuße an gutem Geschmack und moralischem +Unterscheidungsvermögen. Als jugendlicher +Enthusiast hatte Lassalle sich in den Hatzfeldtschen +Prozeß gestürzt, — er selbst gebraucht +in der Kassettenrede das Bild des Schwimmers: +„Welcher Mensch, der ein starker Schwimmer +ist, sieht einen andern von den Wellen eines +Stromes fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? +Nun wohl, für einen guten Schwimmer hielt ich +mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den +Strom” — gewiß, aber leider war es ein recht +trüber Strom, in den er sich gestürzt, ein Strom, +der sich in eine große Pfütze verlief, und als +Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen +Moral der Gesellschaft, mit der er sich zu befassen +gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen +besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen +dieses Giftes, drängten sie auch wiederholt +siegreich zurück, aber schließlich ist er ihnen +doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu +scharf erscheinen, aber wir werden im weiteren +Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur gerecht +gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine +Apologie zu schreiben, sondern eine kritische Darstellung +zu geben, und das erste Erfordernis einer +solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu +erklären<a name="FNAnker_1_1" id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a>.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p> + +<p>Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst +noch der Rolle zu gedenken, die Lassalle +im Jahre 1848 gespielt hat.</p> + +<p>Beim Ausbruch der März-Revolution war +Lassalle so tief in den Maschen des Hatzfeldtschen +Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich +fast zur politischen Untätigkeit verurteilt +sah. Im August 1848 fand der Prozeß +wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen +ihn statt und er hatte alle Hände voll zu tun, sich +auf diesen zu rüsten. Erst als er nach siebentägiger +Verhandlung freigesprochen worden war, gewann +er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen +jener bewegten Zeit direkten Anteil zu nehmen.</p> + +<p>Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt +Heines, lebte, stand natürlich als Republikaner +und Sozialist auf der äußersten Linken +der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war +die von Karl Marx redigierte „Neue Rheinische +Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine Zeitlang +dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten +an, der in Köln seinen Sitz hatte. So war +eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in +nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte +mündlich und schriftlich mit dem erwähnten +Kreisausschuß, sandte wiederholt Mitteilungen und +<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span> +Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” +und erschien auch gelegentlich selbst auf +der Redaktion dieses Blattes. So bildete sich +allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr +zwischen Lassalle und Marx heraus, der +auch später noch, als Marx im Exil lebte, in +Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt +wurde. Lassalle besuchte Marx 1862 in +London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf einer +Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht +hatte. Indes herrschte zu keiner Zeit ein tieferes +Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden, dazu +waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. +Was sonst noch einer über die politische +Kampfgenossenschaft hinausgehenden Intimität im +Wege stand, soll später erörtert werden.</p> + +<p>Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 +gegenüber nahm Lassalle genau dieselbe Haltung +ein, wie die Redaktion der „Neuen Rheinischen +Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. +Gleich ihr forderte er, als die preußische Regierung +im November 1848 den Sitz der Nationalversammlung +verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst und +den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, +und die Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung +des Ministeriums in Anklagezustand, sowie +mit der Erklärung geantwortet hatte, daß dieses +Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, +zur Organisierung des bewaffneten Widerstandes +gegen die Steuererhebung auf. Gleich dem +Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span> +Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen +die königliche Gewalt unter Anklage gestellt, gleich +ihm von den Geschworenen freigesprochen, aber +die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion +stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, +zur Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte +aufgefordert zu haben, um ihn vor das +Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat +verurteilte dieses — die Regierung kannte unzweifelhaft +ihre Berufsrichter — Lassalle schließlich +auch zu sechs Monaten Gefängnis.</p> + +<p>Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage +ist unter dem Titel „Assisen-Rede” im Druck +erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich gehalten +worden, und alles, was in verschiedenen älteren +Biographien über den „tiefen” Eindruck erzählt +wird, den sie auf die Geschworenen und das Publikum +gemacht habe, gehört daher in das Bereich +der Fabel. Lassalle hatte die Rede noch vor der +Verhandlung in Druck gegeben, und da einzelne +der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf +gesetzt worden waren, beschloß der Gerichtshof, +die Öffentlichkeit auszuschließen. Als trotz +Lassalles Protest und der Erklärung, die Verbreitung +der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen +erfolgt, ja höchstwahrscheinlich von seinen Feinden +durch das Mittel der Bestechung veranlaßt +worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht +erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich +zu verteidigen, wurde aber nichtsdestoweniger +freigesprochen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span></p> + +<p>Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” +bleibt jedenfalls ein interessantes Dokument +für das Studium der politischen Entwicklung Lassalles. +Er steht in ihr fast durchgängig auf dem +von Karl Marx drei Monate vorher in dessen +Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen +Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden +zeigt dies aufs deutlichste, ebenso aber auch die +Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und +Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen +Ausschmückung, er geht direkt auf die Sache ein, +entwickelt in einfacher und gedrängter Sprache, +Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik +seinen Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe +mit einer Charakteristik der politischen +Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person +stehe ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, +den Geschworenen einen politischen Vortrag +zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast +von Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in — +oft sehr schönen — Bildern und in Superlativen. +Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen +Sache oder von seiner Person die Rede ist, er +spricht nicht zu den Geschworenen, sondern zu +den Tribünen, zu einer imaginären Volksversammlung, +und schließt, nach Verkündigung einer +Rache, die „so vollständig” sein wird wie „die +Schmach, die man dem Volke antut”, mit einer +Rezitation aus Tell.</p> + +<p>Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine +Energie und Hartnäckigkeit Vergünstigungen ertrotzte,<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span> +die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden +pflegten — so erhielt er, was er später selbst +für ungesetzlich erklärte, wiederholt Urlaub, um +in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu plädieren +— und in den darauffolgenden Jahren wurde +Lassalles Tätigkeit wieder fast vollständig durch +die Hatzfeldtsche Angelegenheit in Anspruch genommen. +Daneben hielt Lassalle ein gastliches +Haus für politische Freunde und versammelte +längere Zeit einen Kreis vorgeschrittener Arbeiter +um sich, denen er politische Vorträge hielt. Endlich +erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen +Prozeß der Friedensschluß. Die Gräfin erhielt +ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt und Lassalle +eine Rente von jährlich siebentausend Talern +sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise +ganz nach seinen Wünschen einzurichten.</p> + +<p>Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in +Düsseldorf bei und arbeitete hier an seinem +„Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand +Reisen, u. a. auch eine in den Orient. Auf +die Dauer aber konnten ihn diese Unterbrechungen +nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, +in der das politische Leben erloschen war, aussöhnen. +Es verlangte ihn nach einem freieren, anregenderen +Leben, als es die rheinische Stadt bot +oder erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden +Persönlichkeiten, nach einem größeren Wirkungskreis. +So erwirkt er sich denn 1857 durch die Vermittlung +Alexander von Humboldts beim Prinzen +von Preußen von der Berliner Polizei die Erlaubnis,<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> +seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu +dürfen.</p> + +<p>Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen +Beachtung. Lassalle hatte im Mai 1849 +in flammenden Worten die „schmachvolle und unerträgliche +Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die +„über Preußen hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: +„Warum zu soviel Gewalt noch soviel +Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen +wir nichts, nie, niemals... Bewahren wir +sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig auf, wie +die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges +Erbe ist der Racheschwur, der sich an diese +Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam er +nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es +dem guten Willen der Regierung, die in der angegebenen +Weise angegriffen worden war, anheim +zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in +politischen Dingen sehr rigoros sein und hat es +1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt, +daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative +„Augsburger Allgemeine Zeitung” +schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die +wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, +für sein gutes Recht, die Aufenthaltsbewilligung +zu verlangen, und im Bewußtsein der Festigkeit +seines politischen Wollens für reine Formsache, +daß er seine betreffenden Eingaben als Gesuche +abzufassen hatte. Denn es handelt sich da um verschiedene +Anträge, der erste 1855 an den Berliner +Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> +1856, direkt an den damaligen Prinzregenten gerichtet +(Vgl. darüber „Dokumente des Sozialismus”, +Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus +diesen Schritten machte er Karl Marx gegenüber +kein Geheimnis.</p> + +<p>Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle +durch Verbindungen der Gräfin Hatzfeldt, die +ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, +daß sich in den oberen Regionen Preußens ein +neuer Wind vorbereite. Wie weit diese Verbindungen +reichten, geht aus Informationen hervor, +die Lassalle bereits im Jahre 1854, beim +Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach London +gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. Februar +1854 den Wortlaut einer Erklärung mit, +die einige Tage vorher vom Berliner Kabinett nach +Paris und London abgegangen sei, schildert die +Zustände im Berliner Kabinett — der König +und fast alle Minister für Rußland, nur Manteuffel +und der Prinz von Preußen für England — und +die für gewisse Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen +Maßregeln, worauf es heißt: „Alle +die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so +betrachten, als wenn Du sie aus Manteuffels und +Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier Wochen +später machte er wieder allerhand Mitteilungen +über beabsichtigte Schritte des Kabinetts, gestützt +auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner ‚offiziellen’, +aber doch aus ziemlich glaubhafter +Quelle”. Am 20. Mai 1854 klagt er, daß seine +„diplomatische Quelle” eine weite Reise angetreten<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span> +habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man +kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann +auf so lange Zeit wieder verlieren, ist überaus +ärgerlich.” Aber er hat immer noch Nebenquellen, +die ihn über Interna des Berliner Kabinetts +unterrichten, und ist u. a. „zeitig vorher von +Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt worden.</p> + +<p>Einige dieser Quellen standen dem Berliner +Hof sehr nahe, und ihre Berichte mögen auch +Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige +Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das +Jahr 1857 bereits sehr weit vorgeschritten, und +wenn auch die getreuen Minister und Hüter der +monarchischen Idee sie noch nicht für genügend +erachteten, des Königs Regierungsunfähigkeit auszusprechen, +so wußte man doch in allen unterrichteten +Kreisen, daß der Regierungsantritt des +Prinzen von Preußen nur noch eine Frage von +Monaten sei.</p> + +<p>In Berlin vollendete Lassalle zunächst den +Heraklit, der Ende 1857 im Verlage von Franz +Duncker erschien.</p> + +<p>Über dieses beinahe mehr noch philologische +als philosophische Werk gehen die Meinungen der +Sachverständigen auseinander. Die einen stellen +es als epochemachend hin, die andern behaupten, +daß es in der Hauptsache nichts sage, was nicht +schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß +Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem +Standpunkt steht — die Dinge werden aus den +Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span> +als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, +deren Bewegung die Geschichte erzeugt. +Aber auch diejenigen, welche die epochemachende +Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, +geben zu, daß sie eine sehr tüchtige Leistung ist. +Sie verschaffte Lassalle in der wissenschaftlichen +Welt einen geachteten Namen.</p> + +<p>Für die Charakteristik Lassalles und seines +geistigen Entwicklungsganges ist sein Werk über +Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht +bloß darin von Bedeutung, daß es Lassalle als +eben entschiedenen Anhänger Hegels zeigt. Man +kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker +G. Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft +zugunsten belletristischer Ausschmückung mit den +Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über +Lassalle<a name="FNAnker_2_2" id="FNAnker_2_2"></a><a href="#Fussnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> auf verschiedene Stellen in der Arbeit +über Heraklit als Schlüssel zum Verständnis von +Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es gilt +dies namentlich von Lassalles großem Kultus +des Staatsgedankens — auch in dieser Hinsicht +war Lassalle Althegelianer — und in bezug +auf Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. +Brandes schreibt in ersterer Hinsicht:</p> + +<p>„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in +den einen Gedanken zusammen, der zugleich der +ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: +‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span> +griechisch und modern; aber Lassalle kann sich +das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen +Ausführung dieses Gedankens bei dem alten +Griechen die Übereinstimmung mit Hegels Staatsphilosophie +nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen +Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt +werden als die Realisation des allgemeinen +substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung +im geringsten an den formellen Willen +der Subjekte und deren Zählung gedacht wird, +so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr +von der Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” +(Vgl. a. a. O. S. 40.)</p> + +<p>Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen +dieser Staatsidee, die bei Lassalle immer wiederkehrt, +und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie +und zum allgemeinen Stimmrecht — die +doch die Herrschaft des „formellen Willens +der Subjekte” darstellen — einen Gegensatz erblickt, +den man „nicht ungestraft in seinem Gemüte +hegt”, und der in der Welt der Prinzipien +das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der +„rein äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit +seiner ausgesucht eleganten Kleidung, seiner ausgesucht +feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln +in und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit +rußiger Haut und schwieligen Händen sprach”.</p> + +<p>Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich +hat Lassalles althegelsche Staatsidee ihn später +im Kampf gegen den Liberalismus weit über das +Ziel hinausschießen lassen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span></p> + +<p>Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm +schreibt Brandes:</p> + +<p>„Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen +— Heraklit und Lassalle, bildet der trotz +des Selbstgefühls und des Stolzes so leidenschaftliche +Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung +und dem Lobe anderer. Heraklit hat +das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die größeren +Schicksale erlangen das größere Los.’ +Und er hat gesagt, was das rechte Licht auf +diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die +sich weise Dünkenden den Sängern der Völker +folgen und die Gesetze um Rat fragen, +nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige +nur gut, die Besten aber dem Ruhme nachfolgen. +‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen die Besten eins +statt allem, den immerwährenden Ruhm der Sterblichen.’ +Ruhm war für Heraklit also gerade jenes +größere Los, welches das größere Schicksal erlangen +kann; sein Trachten nach Ehre war nicht +nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern +ein durch Reflexion und Philosophie begründetes. +‚Der Ruhm’, sagt Lassalle, ‚ist in der +Tat das Entgegengesetzte von allem, das Entgegengesetzte +gegen die Kategorie des unmittelbaren +realen Seins überhaupt und seiner einzelnen +Zwecke. Er ist Sein der Menschen in ihrem +Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen +Existenz selbst, er ist darum erreichte und +wirklich gewordene Unendlichkeit des Menschen”, +und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> +Grund ist, weshalb der Ruhm seit je die großen +Seelen so mächtig ergriffen und über alle kleinen +und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie +das der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, +daß er erst annahen kann ‚Hand in Hand mit dem +prüfenden Todesengel’, so ist es auch der Grund, +weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung +seines spekulativen Prinzips erblickte.’”</p> + +<p>Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich +mit dem Ruhm, der erst Hand in Hand mit dem +Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz +zu der Heraklitischen Verachtung der Menge war +er für den Beifall durchaus nicht unempfindlich +und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr Höflichkeitsform +war, unter Umständen mit fast naiver +Genugtuung für die Sache selbst auf. Die Vorliebe +für das Pathos, die sich bei Lassalle in so +hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine +Neigung zur Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch +von einer Dosis davon nicht ganz freizusprechen, +so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß +er aus dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe +für den Lärm und Trommelschall der Ehre, +für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je einen +Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen +Briefen tritt sie mit einer Offenheit zutage, die +in ihrer Naivetät etwas Versöhnendes hat. Wenn +Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift +erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt +habe, wie er einst als volkserwählter Präsident +der Republik „von sechs Schimmeln gezogen”<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> +seinen Einzug in Berlin halten werde, so +ist man versucht, entweder an eine Übertreibung +der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß +Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden +Zukunft um so fester in dem Herzen seiner +Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die bekannte +schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie +von Sontzew beweist, daß es sich bei diesem Zukunftsbild +keineswegs nur um die Spielerei einer +müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten +handelte, sondern um einen Gedanken, +in dem Lassalle selbst sich berauschte, dessen +Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er +nennt sich — im Jahre 1860 — „das Haupt +einer Partei”, in bezug auf das sich „fast unsere +ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren +eine — ein Teil der Bourgeoisie und das Volk — +Lassalle „achtet, liebt, sogar nicht selten verehrt”, +für die er „ein Mann von größtem Genie +und von einem fast übermenschlichen Charakter +ist, von dem sie die größten Taten erwarten”. +Die andere Partei — die ganze Aristokratie und +der größte Teil der Bourgeoisie — fürchtet ihn +„mehr als irgend jemand anders” und haßt ihn +daher „unbeschreiblich”. Werde die Frauenwelt +dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von +Sontzew nicht verzeihen, daß sie einen solchen +Menschen heiratete, so werden auf der andern +Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß +ein solcher Mensch sie heiratete, „sie eines +Glückes halber beneiden, das ihre Verdienste<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> +übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen +nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse +Ereignisse eintreten, eine Flut von Bewegung, +Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen würde, +wenn Sie mein Weib werden.”</p> + +<p>So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, +so wenig sie der Wirklichkeit entsprachen +zu einer Zeit, wo von einer sozialistisch-demokratischen +Partei gar keine Rede war, Lassalle +vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen +Liberalen und Demokraten auf bestem Fuße +stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht +hatte, deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, +die in Regierungskreisen gehegt wurden, so wohnt +ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne +— Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte +an die Partei, die in ihm ihr Haupt erblickte, +wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand +und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes +Dasein führte. Die Partei, das war +er — seine Bestrebungen und seine Pläne. Jedes +Wort der Anerkennung von seiten seiner Freunde +oder aber, was er dafür hielt, war für ihn Bestätigung +seiner Mission, und nicht selten nahm +er Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es +ist merkwürdig, welcher Widersprüche die menschliche +Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den +Berichten seiner näheren Bekannten und aus +seinen Briefen hervorgeht, mit schmeichelhaften +Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren allenfalls +Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span> +anderen auf ihn selbst angewendet, nahm er sie +dagegen leicht für echtes Gold.</p> + +<p>So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung +mit ihm selbst verwachsen, daß, als er später +wirklich an der Spitze einer Partei stand, oder +wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen +Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel +seiner Person zu betrachten vermochte +und danach behandelte. Man mißverstehe uns +nicht. Es wäre absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle +den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein nur ins +Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß +der Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck +war. Lassalle war überzeugter Sozialist, das +unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre nicht +imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung +aufzugehen, ihr seine Persönlichkeit — ich sage +ausdrücklich nicht sein Leben, aufzuopfern.</p> + +<p>Soviel an dieser Stelle hierüber.</p> + +<p>Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher +Ritter. Kurz nachdem der Heraklit erschienen, +vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf +entworfenes historisches Drama und ließ +es, nachdem eine anonym eingereichte Bühnenbearbeitung +von der Intendantur der Kgl. Schauspiele +abgelehnt worden war, 1859 unter seinem +Namen im Druck erscheinen.</p> + +<p>Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk +verfehlt war, hat Lassalle später selbst eingesehen, +und er hat als Hauptursache dafür den +Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> +der Tat macht das Drama, trotz einzelner höchst +wirkungsvoller Szenen und der gedankenreichen +Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, +die Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel +Reflexion da, und es werden vor allem viel zuviel +Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft von +einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, +daß ein Freund Lassalles, den dieser, während +er am „Franz von Sickingen” arbeitete, um +seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter +metrischer Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag +gemacht habe, er solle das Stück lieber in +Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, +daß ein besserer Rat gar nicht gegeben +werden konnte. Denn die Lassallesche Prosa hat +wirklich eine Reihe großer Vorzüge, und selbst +die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische +zu verfallen, hätte in einem Drama wie der +Sickingen nichts verschlagen. Aber Lassalle ließ +sich nicht von seiner Idee abbringen, daß die +Versform für das Drama unentbehrlich sei, und +so stolpern nicht nur seine Ritter und Helden auf +oft recht geschraubten fünffüßigen Jamben einher, +selbst die aufständischen Bauern bedienen +sich der Stelzen des Blankverses. Eine Ausnahme +machen sie nur bei den bekannten Losungsworten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?”<br /></span> +<span class="i0">„Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,”<br /></span> +</div></div> + +<p>die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.</p> + +<p>Indes diese technischen Fragen treten für uns +zurück vor der Frage nach Inhalt und Tendenz<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> +des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von +Sickingen” über das historische Drama, wie es +Schiller und Goethe geschaffen, einen weiteren +Schritt hinaus machen. Die historischen Kämpfe +sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst +den Boden liefern, auf welchem sich der tragische +Konflikt bewegt, während die eigentliche dramatische +Handlung sich um rein individuelle Interessen +und Geschicke dreht, vielmehr sollten die +kulturhistorischen Prozesse der Zeiten und Völker +zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, +so daß sich diese nicht mehr um die Individuen +als solche dreht, die vielmehr nur die Träger und +Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze sind, +sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke +der Nationen selbst — „Schicksale, welche +über das Wohl und Wehe des gesamten allgemeinen +Geistes entscheiden und von den dramatischen +Personen mit der verzehrenden Leidenschaft, +welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer +eigenen Lebensfrage gemacht werden. „Bei alledem +sei es möglich,” meint Lassalle, „den Individuen +aus der Bestimmtheit der Gedanken und +Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus +markige und feste, selbst derbe und realistische +Individualität zu geben.” (Vgl. das Vorwort zum +Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit Lassalle +die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit +sie überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen +sich die großen Kämpfe der Menschheit +und der Völker so in Individuen verkörpern<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> +lassen, daß nicht das eine oder das andere, die +Größe und umfassende Bedeutung jener Kämpfe +oder die lebendige Persönlichkeit der Individuen +dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, +die wir hier unerörtert lassen können. Es genügt, +daß Lassalle bei der Durchführung des Dramas +von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun +zum Stoff des Dramas selbst.</p> + +<p>Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen +Franz von Sickingens gegen die deutschen +Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein +Freund und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die +Helden des Dramas, und es ist eigentlich schwer +zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in +Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische +oder der theoretische Repräsentant des +niederen deutschen Adels. Merkwürdigerweise +hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in +dem letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. +„Lesen Sie mein Trauerspiel,” schreibt er an +Sophie von Sontzew. „Alles, was ich Ihnen hier +sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. +Auch er hatte alle Verleumdungen, alle Arten +von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich +habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, +und ich konnte dies, da sein Schicksal und das +meinige einander vollständig gleich und von überraschender +Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst +Lassalle schwer geworden sein, diese überraschende +Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich um +die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span> +in Berlin ein luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen +aller Kreise der besser situierten Gesellschaft +und erfreute sich als Politiker nicht +entfernt eines ähnlichen Hasses wie der fränkische +Ritter, der Urheber der leidenschaftlichen Streitschriften +wider die römische Pfaffenherrschaft. +Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien +zwischen Lassalle und Hutten ziehen, aber +in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen, +was tatsächlich war, sondern was Lassalle +glaubte und wovon er sich bei seinem Werke +geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem +Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen +über sich selbst ausgesetzt. Genug, wir +haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor +uns, wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, +die er Hutten in den Mund legt, erhalten dadurch +für das Verständnis des Lassalleschen Ideenkreises +eine besondere Bedeutung.</p> + +<p>Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens +auf die Bedenken des Ökolampadius gegen den +geplanten Aufstand:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.<br /></span> +<span class="i0">Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,”<br /></span> +</div></div> + +<p>ein echt Hegelscher Satz,</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Doch ihre Form bleibt ewig — die Gewalt!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung +der Liebeslehre durch das Schwert” gesprochen:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span></p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!<br /></span> +<span class="i0">Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist<br /></span> +<span class="i0">Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,<br /></span> +<span class="i0">Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.<br /></span> +<span class="i0">Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,<br /></span> +<span class="i0">Den wir noch heut den Großen staunend nennen.<br /></span> +<span class="i0">Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt,<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab!<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht<br /></span> +<span class="i0">Und Wissenschaft und Künste uns geboren.<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!<br /></span> +<span class="i0">So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet<br /></span> +<span class="i0">Das Herrliche, das die Geschichte sah,<br /></span> +<span class="i0">Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen,<br /></span> +<span class="i0">Dem <em class="gesperrt">Schwert</em> zuletzt verdankt es sein Gelingen!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Es liegt in den Sätzen „doch ihre — der Geschichte +— Form bleibt ewig die Gewalt”, und +„daß alles Große, was sich jemals wird vollbringen”, +dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken +werde, unzweifelhaft viel Übertreibung. +Trotzdem hatte der Hinweis, daß das für die +Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene +Wort” sei, daß, wer die Freiheit erwerben +will, bereit sein muß, für sie mit dem +Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in +einer Epoche, wo man in weiten Kreisen der ehemaligen +Demokratie sich immer mehr darauf verlegte, +alles von der Macht des Wortes zu erwarten. +Sehr zeitgemäß, und nicht nur für die +damalige Epoche, sind auch die Worte, die +Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen +im letzten Akt zurufen läßt:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span></p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht<br /></span> +<span class="i0">Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten<br /></span> +<span class="i0">In großen Dingen schlau zu sein. <em class="gesperrt">Verkleidung</em><br /></span> +<span class="i0">Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,<br /></span> +<span class="i0">Wo im Gewühl die Völker dich nur an<br /></span> +<span class="i0">Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen;<br /></span> +<span class="i0">Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle<br /></span> +<span class="i0">Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe.<br /></span> +<span class="i0">Dann probst du aus im ungeheuren Streit<br /></span> +<span class="i0">Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,<br /></span> +<span class="i0">Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Auch der Ausspruch Sickingens:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.<br /></span> +<span class="i0">Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,<br /></span> +<span class="i0">Daß eines sich stets ändert mit dem andern,<br /></span> +<span class="i0">Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”.<br /></span> +</div></div> + +<p>ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis +Lassalles. Leider hat er ihn jedoch gerade +in der kritischsten Periode seiner politischen Laufbahn +unbeachtet gelassen.</p> + +<p>Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten +auf, sondern nehmen wir das Ganze des Dramas, +ziehen wir seine Quintessenz.</p> + +<p>Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte +ist bekannt. Sie sind beide Vertreter +des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die +Zeit der Reformation im Untergehen begriffenen +Klasse. Was sie wollen, ist diesen Untergang +aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das notwendigerweise +scheitert und dasjenige, was es +verhindern will, nur beschleunigt. Da Hutten wie +Sickingen durch Charakter wie Intelligenz ihre +Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span> +Material zu einer echten Tragödie gegeben, +der vergebliche Kampf markiger Persönlichkeiten +gegen die geschichtliche Notwendigkeit. Merkwürdigerweise +wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen +Bewegung im Lassalleschen Drama +am wenigsten behandelt, so bedeutungsvoll sie +doch gerade für die — wir wollen nicht einmal +sagen, sozialistische, sondern überhaupt die moderne +wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ist. +Im Drama geht das Hutten-Sickingensche Unternehmen +an tausend Zufälligkeiten — Unüberlegtheit, +Mißgriffe in den Mitteln, Verrat usw. — +zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit den +Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich +unsere Rache”, was unwillkürlich an den recht +unhistorischen Schluß in Götz von Berlichingen +erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von +sich stieß! Wehe der Nachkommenschaft, die +dich verkennt!” Begreift man aber, warum der +junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich +einen Vertreter des untergehenden Rittertums zum +Helden wählen konnte, so ist es schon schwerer +zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, +zu einer Zeit, wo die Geschichtsforschung bereits +ganz andere Gesichtspunkte zur Beurteilung der +Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, +ein Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben +dieses Rittertums schlechthin als die Repräsentanten +„eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt, +auf dessen Resultaten”, wie er sich in der +Vorrede ausdrückt, „unsere ganze Wirklichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span> +lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden +Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen +Prozeß noch einmal in bewußter Erkenntnis +und leidenschaftlicher Ergreifung durch +die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen +solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie +gegeben — und darum entschloß ich mich zu +diesem Drama.”</p> + +<p>Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen +neben und mit der Sache des Rittertums noch +den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und +für die Einheit des Reiches, zwei Forderungen, +welche ideologisch die des untergehenden Rittertums +waren, geschichtlich aber im Interesse der +aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn +auch durch die Entwicklung der Verhältnisse in +Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren +Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in +den Vordergrund gedrängt und im neunzehnten +Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen +Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche +Adel hat sich erst nach der Gründung des neudeutschen +Reiches daran erinnert, daß er einmal +eine so anständige Persönlichkeit wie Franz von +Sickingen hervorgebracht hat — den Hutten kann +er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger +Jahren und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus +Hutten und Sickingen als +Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung +und ignorierte ihre Klassenbestrebungen.</p> + +<p>Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span> +der Fall. Ulrich von Hutten und Franz von +Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen +Freiheit willen gegen den römischen Antichrist, +nur im Interesse der nationalen Sache gegen die +Einzelfürsten. „Was wir wollen,” sagt Sickingen +im Zwiegespräch mit Hutten, —</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland,<br /></span> +<span class="i0">Zertrümmerung alles Pfaffenregiments,<br /></span> +<span class="i0">Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen,<br /></span> +<span class="i0">Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,<br /></span> +<span class="i0">Wiedergeburt, zeitmäßige der alten,<br /></span> +<span class="i0">Der urgermanischen gemeinen Freiheit,<br /></span> +<span class="i0">Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft<br /></span> +<span class="i0">Und usurpierten Zwischenregiments,<br /></span> +<span class="i0">Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang<br /></span> +<span class="i0">Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,<br /></span> +<span class="i0">Ein — evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze<br /></span> +<span class="i0">Des großen Reichs.”<br /></span> +</div></div> + +<p>Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.”</p> + +<p>Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von +Sickingen” als ein Tendenzdrama bezeichnet, so +haben wir in ihm einen Beleg für die Wandlung, +die sich in ihm in bezug auf seine — vorläufig +ideale — Stellungnahme zu den politischen Strömungen +der Zeit vollzogen. Es sollte indes gar +nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine +Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen +bürgerlichen Demokratie, auch gegenüber +einer konkreten Frage des Tages offenbaren +sollte<a name="FNAnker_3_3" id="FNAnker_3_3"></a><a href="#Fussnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a>.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span></p> + +<p>Der „Franz von Sickingen” war im Winter +1857/58 vollendet worden. Lassalle hatte ihn, +wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> +begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. +Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig +aus der abstrakten Gedankenwelt, in die er sich bei<span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span> +jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem +Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung +zu den großen Kämpfen der Menschheit +stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und +Reformationszeit studiert und sich an den Werken +und dem Leben Ulrich von Huttens „berauscht”, +als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> +elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken +brachte: Das — der Kampf Huttens — wäre +ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne +ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu +denken, den Plan des Dramas entworfen, wurde +sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst +fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” +über ihn gekommen. Man spürt es dem +Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut +geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten +Fehler erhebt es sich, dank seines geistigen Gehalts, +immer noch himmelhoch über die ganze +Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner +der deutschen Dichter damals besser gemacht als +Lassalle.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + +<h2><a name="Ferdinand_Lassalle" id="Ferdinand_Lassalle">Ferdinand Lassalle +und der italienische Krieg.</a></h2> + + +<p>Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” +als Buchdrama. Gerade als er herauskam, +stand Europa am Vorabend eines Krieges, der +auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland +eine große Rückwirkung ausüben sollte. Es war +der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis +Napoleon und Cavour in Plombières verabredete +französisch-sardinische Feldzug behufs Losreißung +der Lombardei von Österreich und der +Beseitigung der österreichischen Oberherrschaft +in Mittelitalien.</p> + +<p>Österreich gehörte damals zum deutschen Bund,<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span> +und so erhob sich natürlich die Frage, welche +Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem +Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des +übrigen Deutschland, sich gegenüber Frankreich +mit Österreich zu identifizieren oder nicht?</p> + +<p>Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, +daß der Krieg einen zwieschlächtigen +Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener +war er ein nationaler Befreiungskampf, der die +Sache der Einigung und Befreiung Italiens einen +Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten Frankreichs +dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, +um die Herrschaft des bonapartistischen +Regimes in Frankreich zu stärken und die Machtstellung +Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel +stand auf jeden Fall fest. Außerdem pfiffen +es die Spatzen von den Dächern, daß Napoleon +sich von seinem Verbündeten, dem König von +Sardinien, für seine Bundesgenossenschaft einen +hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen (Nizza +und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die +„Einigung” Italiens in jenem Moment nur soweit +stattfinden sollte, als sich mit den Interessen des +bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem +Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher +italienischer Patriot wie Mazzini bereits +Ende 1858 den in Plombières zwischen Napoleon +und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als +eine bloße dynastische Intrige. Soviel war sicher, +daß, wer diesen Krieg unterstützte, zunächst +Napoleon III. und dessen Pläne unterstützte.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span></p> + +<p>Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. +Gegen Österreich allein konnte er im Bunde mit +Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber +die übrigen Staaten des Deutschen Bundes und +namentlich Preußen Österreich zu Hilfe, so stand +die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er +denn durch seine Agenten und Geschäftsträger +bei den deutschen Regierungen, in der deutschen +Presse und unter den deutschen Parteiführern +mit allen Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg +als eine Sache behandelt werde, die Deutschland +etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für +ein Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich +in Italien ausübe, aufrechtzuerhalten, überhaupt +einem so urreaktionären Staat wie Österreich +Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene +Feind der Freiheit der Völker; werde +Österreich zertrümmert, so würde auch für +Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen.</p> + +<p>Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen +Federn, daß, wenn die Napoleonischen +Pläne im Süden sich verwirklichten, der +Rhein in direkte Gefahr geriete. Ihm würde der +nächste Angriff gelten. Wer das linke Rheinufer +vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen +wolle, müsse dazu beitragen, daß Österreich seine +militärischen Positionen in Oberitalien unbeeinträchtigt +erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt +werden.</p> + +<p>Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene +Parole stimmte in vielen wesentlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> +Punkten mit dem Programm der kleindeutschen +Partei (Einigung Deutschlands unter Preußens +Spitze, unter Hinauswerfung Österreichs aus dem +deutschen Bund) überein, war direkt auf es zugeschnitten. +Trotzdem konnten sich eine große +Anzahl kleindeutscher Politiker nicht dazu entschließen, +gerade in diesem Zeitpunkt die Sache +Österreichs von der des übrigen Deutschland zu +trennen. Dies erschien ihnen um so weniger zulässig, +als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon +den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen +Regierung in Petersburg führte, dieser also den +weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen +im Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr +ging ihre Meinung dahin, jetzt käme es vor +allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons +abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne +man weiter reden. Bis es geschehen, müßten sich +aber die Italiener gefallen lassen, daß man sie, +solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes +kämpften, einfach als dessen Verbündete behandelte.</p> + +<p>Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom +kleindeutschen Standpunkt aus auch zu einer andern +Auffassung der Situation gelangen, in der vorentwickelten +Gedankenreihe eine Inkonsequenz +erblicken konnte. Wenn Österreich, und namentlich +dessen außerdeutsche Besitzungen, um so +eher je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen +werden sollten, warum nicht mit Vergnügen +ein Ereignis begrüßen, das sich als ein<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span> +Schritt zur Verwirklichung dieses Programms darstellte? +Hatte nicht Napoleon erklärt, daß er +nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? +Warum also Österreich gegen Frankreich beistehen, +zumal man dadurch gezwungen werde, +auch die Italiener zu bekriegen, die doch für +die gerechteste Sache von der Welt kämpften? +Warum den Rhein verteidigen, ehe er angegriffen, +ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein +Angriff auf ihn beabsichtigt sei? Warum nicht +lieber die Verlegenheit Österreichs und die Beschäftigung +Napoleons in Italien benutzen, um die +Sache der Einigung Deutschlands unter Preußens +Führung auch durch positive Maßnahmen einen +weiteren Schritt zu fördern?</p> + +<p>Dieser — es sei wiederholt — vom kleindeutschen +Standpunkt aus konsequenteren Politik +spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 erschienenen +Schrift „Der Italienische Krieg und +die Aufgabe Preußens” das Wort. Mit großer +Energie bekämpft er die in den beiden Berliner +Organen des norddeutschen Liberalismus, der +„National-Zeitung” und der „Volks-Zeitung”, — +in der ersteren unter anderm auch von Lassalles +nachmaligem Freunde, Lothar Bucher — verfochtene +Ansicht, einem von Bonaparte ausgehenden +Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich +als Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert +er dagegen, daß Preußen den Moment benutzen +solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine +deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> +Napoleon die Karte Europas im Süden nach dem +Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe im +Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn +jener Italien befreie, seinerseits Schleswig-Holstein +zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen, +„während die Demolierung Österreichs sich schon +von selbst vollzieht, für die Erhöhung Preußens +in der Deutschen Achtung zu sorgen”. Und, fügt +Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung +dessen gewiß sein. In diesem Kriege, der ebensosehr +ein Lebensinteresse des deutschen Volks +als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie +selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse +vor ihm zu Boden werfen mit einer Expansivkraft, +wie ihrer nur der berauschende Ausbruch +einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche +seit fünfzig Jahren komprimiert in dem Herzen +eines großen Volkes zuckt und zittert.”</p> + +<p>Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre +zu einem Advokaten der „deutschen” Politik +Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt +sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte +nationale Programm als solches eine große Ähnlichkeit +mit dem des im Sommer 1859 gegründeten +Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit +der Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung +der deutschen Einheit unter preußischer +Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all seinem +theoretischen Radikalismus in der Praxis noch +ziemlich stark im Preußentum stecken geblieben. +Nicht daß er bornierter preußischer Partikularist<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span> +gewesen wäre — wir werden gleich sehen, +wie weit er davon entfernt war —, aber er sah +die nationale Bewegung und die auf die auswärtige +Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen +durch die Brille des preußischen Demokraten +an, sein Haß gegen Österreich war in dieser +Hinsicht ebenso übertrieben, wie der Preußenhaß +vieler süddeutscher Demokraten und selbst +Sozialisten. Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste +Staatsbegriff, den Europa aufzuweisen +hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, +neben Österreich gestellt, nicht ins Weißliche +schimmerte”; Österreich ist „ein reaktionäres +Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller Freiheitsideen”; +„der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt, +zerstückt, vernichtet, zermalmt — in alle +vier Winde zerstreut werden”, jede politische +Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen +könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, +und „wenn die Rechnung sonst ziemlich gleichstehen +möchte — das römische Konkordat hat +Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des +Klerus nicht geschlossen”. Selbst Rußland kommt +noch besser weg, als Österreich. „Rußland ist +ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von +seiner despotischen Regierung soweit zu zivilisieren +gesucht wird, als mit ihren despotischen +Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier +die Entschuldigung, daß sie nationales Element +ist.” Ganz anders aber mit Österreich. „Hier +vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> +das barbarische Prinzip, künstlich und +gewaltsam seine Kulturvölker unter dasselbe beugend.”</p> + +<p>In dieser einseitigen und relativ — d. h. wenn +man die übrigen Staaten in Vergleich zieht — +damals auch übertriebenen Schwarzmalerei Österreichs +und auch sonst in verschiedenen Punkten, +begegnet sich die Lassallesche Broschüre mit einer +Schrift, die schon einige Wochen vor ihr erschienen +war und ebenfalls die Tendenz hatte, die +Deutschen zu ermahnen, Napoleon in Italien, solange +er den Befreier spiele, freie Hand zu lassen +und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. +Es war dies die Schrift Karl Vogts +„Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”, ein die +bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und +direkt oder indirekt auch auf bonapartistischen +Antrieb geschriebenes Buch. Ich würde Anstand +genommen haben, diese Schrift in irgendeinem +Zusammenhange mit der Lassalleschen zu zitieren, +indes Lassalle ist so durchaus über jeden Verdacht +der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern +erhaben, daß die Möglichkeit absolut +ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der mir +aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein +falsches Licht auf Lassalle zu werfen. Zum +Überfluß will ich aber noch einen Passus aus +der Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx +hierhersetzen, jener Schrift, die den Beweis lieferte, +daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse +schrieb und agitierte, und deren Beweisführung<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> +neun Jahre später durch die in den Tuilerien +vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde — +ein Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil +er zweifelsohne gerade auch auf Lassalle sich bezieht. +Marx schreibt:</p> + +<blockquote> + +<p>„Von Männern, die schon vor 1848 miteinander +darin übereinstimmten, die Unabhängigkeit +Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als +ein Recht dieser Länder, sondern als das Interesse +Deutschlands und Europas zu vertreten, +wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt +über die Taktik, die Deutschland bei +Gelegenheit des italienischen Krieges von 1859 +Louis Bonaparte gegenüber auszuführen habe. +Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen +Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, +über die zu entscheiden einer späteren Zeit +vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe +es in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts +und seiner Klique zu tun. Selbst die Ansicht, +die er zu vertreten vorgab, und in der Einbildung +eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt +in der Tat außerhalb der Grenzen meiner Kritik. +Ich behandle die Ansichten, die er wirklich vertrat.” +(K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.)</p></blockquote> + +<p>Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, +daß dort, wo Vogt mit Argumenten operiert, die +sich auch bei Lassalle finden, dieser in der Marxschen +Schrift mitkritisiert wird, was übrigens +Lassalle nicht verhindert hat, in einem Briefe an<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span> +Marx vom 19. Januar 1861 zu erklären, daß er +nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx' Überzeugung, +daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, +„ganz gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, +der innere Beweis dafür<a name="FNAnker_4_4" id="FNAnker_4_4"></a><a href="#Fussnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> sei „mit einer immensen +Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder Hinsicht +ein meisterhaftes Ding”.</p> + +<p>Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst +instruktives Buch zum Verständnis der Geschichte +des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet +enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, +das zu einem ganzen Dutzend Abhandlungen ausreichen +würde.</p> + +<p>Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein +besonderes Interesse.</p> + +<p>Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle +war zu keiner Zeit so lebhaft, als in den Jahren +1859 und 1860, und ein großer Teil davon handelt +eben von dem italienischen Krieg und der +ihm gegenüber einzunehmenden Haltung. Ob die +Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch erhalten +sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, +ist bis jetzt nicht bekannt, noch ob der +jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen bereit ist. +Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, +die Marx damals einnahm, nur unvollkommen +zu ersehen, und noch weniger ihre Begründung, +da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich,<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span> +meist darauf beschränkt, seine Stellungnahme zu +motivieren und die Einwände gegen dieselbe möglichst +zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht +des weiteren dargelegt zu werden, warum in einer +für Sozialisten geschriebenen Abhandlung über +Lassalle nicht nur dessen persönliche Beziehung +zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen +Sozialismus, sondern auch sein Verhältnis +zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer Behandlung +der politischen und sozialen Fragen von +besonderem Interesse ist.</p> + +<p>Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis +lange Zeit seine fertige Schablone. Für +die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete +sie: Lassalle war national, Marx und Engels +waren in jeder Hinsicht international, Lassalle +war deutscher Patriot, Marx und Engels waren +vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die +Weltrepublik und die Revolution gekümmert, was +aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig.</p> + +<p>Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser +Schrift hat jene Gegenüberstellung aufgegeben +werden müssen.</p> + +<p>Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, +war in demselben Verlage, wie später +diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe +Thema behandelte. Sie war betitelt: „Po und +Rhein.” Der Verfasser, der sich ebensowenig +nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner +Schrift, suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, +daß die von den Organen der österreichischen<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> +Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe +zu seiner Verteidigung im Südwesten der +italienischen Provinzen, falsch sei, daß auch ohne +diese Deutschland noch eine starke Defensivposition +in den Alpen habe, namentlich sobald ein +einheitliches und unabhängiges Italien geschaffen +sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund, +mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig +genug Anlaß haben werde, Deutschlands Bundesgenossenschaft +gegen Frankreich zu suchen. Oberitalien +sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens +im Kriege nutzen, im Frieden immer nur +schaden könne. Und auch der militärische Vorteil +im Kriege würde erkauft durch die geschworene +Feindschaft von 25 Millionen Italienern. Aber, +führte der Verfasser alsdann aus, die Frage um +den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen +Deutschland und Italien, und nicht eine zwischen +Österreich und Louis Napoleon. Gegenüber +einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner +eigenen, in anderer Beziehung anti-deutschen Interessen +willen sich einmischte, handle es sich um +die einfache Behauptung einer Provinz, die man +nur gezwungen abtritt, einer militärischen Position, +die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr +halten kann ... „Werden wir angegriffen, so +wehren wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin +der italienischen Unabhängigkeit auftreten wolle, +so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern +Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie +ernst es ihm ist. Solle aber die Karte von Europa<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span> +revidiert werden, „so haben wir Deutsche das +Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch +geschehe, und daß man nicht, wie es +beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein +solle Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser +ganzen Untersuchung aber ist,” heißt es schließlich, +„daß wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten +Handel machen würden, wenn wir den Po, +den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen +Plunder vertauschen könnten gegen die Einheit ... +die allein uns nach innen und außen stark machen +kann.”</p> + +<p>Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer +als — Friedrich Engels. Unnütz zu sagen, +daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx +veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle +besorgt. Lassalle hatte auch, wie aus einem seiner +Briefe hervorgeht, eine Besprechung ihres Inhalts +an die — damals noch unabhängige — +Wiener „Presse” geschickt, deren Redakteur mit +ihm verwandt war. Er kannte also ihren Inhalt +ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” +schrieb, polemisiert somit auch gegen sie, wenn er +die Ansicht bekämpft, daß, da der Krieg durch +Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in +ein gegen Deutschland gerichtetes Unternehmen +verwandelt sei, das notgedrungen mit einem +Angriff auf den Rhein enden werde, er auch +deutscherseits nur als solches zu behandeln sei. +Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt, +Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert,<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> +und zwar in dem Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt +und seine Studien”<a name="FNAnker_5_5" id="FNAnker_5_5"></a><a href="#Fussnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a>.</p> + +<p>Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit +den Vogtschen übereinstimmten, dafür nur ein +Beispiel. Österreichischerseits war auf die Verträge +von 1815 hingewiesen worden, durch welche +Österreich der Besitz der Lombardei garantiert +worden war. Darauf antworten nun:</p> + + +<div class="center" style="font-size: 90%;"> +<table border="0" cellpadding="8" cellspacing="0" summary="Antworten Vogt - Lassalle"> +<col width="50%" /> +<col width="50%" /> +<tr><td>Vogt:</td><td>Lassalle:</td></tr> +<tr><td align="justify" valign="top"> +„Es ist sonderbar, eine +solche Sprache in dem +Munde der einzigen Regierung +(bei Vogt unterstrichen) +zu vernehmen, +die bis jetzt in frecher +Weise die Verträge gebrochen +hat. Von allen andern +sind sie bis jetzt respektiert +worden, nur Österreich +hat sie gebrochen, indem +es mitten im Frieden, +ohne Ursache, seine frevelnde +Hand gegen die +durch diese Verträge garantirte +Republik Krakau +ausstreckte und dieselbe +dem Kaiserstaat ohne weiteres +einverleibte.” („Studien”, +S. 58.) +</td><td align="justify" valign="top"> +„Die Verträge von 1815 +können nicht einmal mehr +diplomatisch ernstlich aufgerufen +werden. Verletzt +durch die Konstituirung +Belgiens, mit Füßen getreten +und zerrissen gerade +von Österreich durch die +gewaltsame Okkupation +Krakaus, gegen welche die +europäischen Kabinette zu +protestieren nicht unterließen, +haben sie jede rechtliche +Gültigkeit für jedes +Mitglied der europäischen +Staatenfamilie verloren.” +(„Der Ital. Krieg usw.” +Ges. Schriften Bd. I S. 43.) +</td></tr> +</table> +</div> + + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p> + +<p>Hören wir nun Marx gegen Vogt:</p> + +<p>„Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution +und Selbständigkeit des Königreich Polen, durch +die Verträge von 1815 garantiert, aus ‚Achtung’ +vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete +nicht minder die Integrität Krakaus, als es die +freie Stadt im Jahre 1831 mit moskowitischen +Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau +wieder besetzt von Russen, Österreichern und +Preußen, wurde völlig als erobertes Land behandelt +und appellierte noch im Jahre 1840, unter +Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens +an England und Frankreich. Endlich am 22. Februar +1846 besetzten Russen, Österreicher und +Preußen abermals Krakau, um es Österreich einzuverleiben. +Der Vertragsbruch geschah durch +die drei nordischen Mächte, und die österreichische +Konfiskation von 1846 war nur das letzte Wort +des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr +Vogt”, S. 73/74.) In einer Note weist dann<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> +Marx noch auf sein Pamphlet „Palmerston and +Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston +seit 1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau +mitgearbeitet habe. Indes das letztere ist eine +Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, wohl +aber interessiert uns der andere Nachweis bei +Marx, daß Vogt auch mit der Verweisung auf +das Beispiel Krakaus nur eine von bonapartistischer +Seite ausgehende Argumentation ab- und +umschrieb. In einem der Anfang 1859 bei Dentu +in Paris herausgekommenen bonapartistischen +Pamphlete, „La vraie question, France, — Italie +— Autriche”, hatte es wörtlich geheißen:</p> + +<p>„Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische +Regierung die Unverletzbarkeit der +Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben +verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, +dessen Unabhängigkeit diese Verträge garantierten?”</p> + +<p>Vogt hatte in seiner Manier überall noch +einen Extratrumpf aufgesetzt. Phrasen wie „die +einzige Regierung”, „in frecher Weise”, „frevelnde +Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am +Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die +„politische Nemesis” gegen Österreich anruft.</p> + +<p>Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, +das Vogtsche Machwerk noch nicht zu Gesicht +bekommen, aber daß seine Schrift durch die von +Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle +in die Presse des In- und Auslandes lancierten +Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt nach<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> +diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe +ähnlicher an die Seite gesetzt werden können, +gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen +Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß +die Politik ihres Heros sogar die Sanktion Lassalles +erhalten habe, so übersahen sie dabei nur die +eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen +Regierung vorgehaltene Programm, wie +immer es von Lassalle selbst gemeint war, in den +entscheidenden Punkten dem Programm glich, das +Bonaparte zu jener Zeit den deutschen Patrioten +vorsetzen ließ, um sie für seine damalige Politik +zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in +dieser Schrift, die später von bürgerlichen Schriftstellern +als ungewöhnliche Vorhersagungen bezeichnet +worden sind, finden sich auch in Vogts +„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen +gespeisten Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. +schon im Jahre 1859, also noch vor der preußischen +Heeresreform, daß, wenn Preußen einen +deutschen Bürgerkrieg für die Herstellung einer +einheitlichen deutschen Zentralgewalt ins Werk +setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen +kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” +(„Studien” S. 155.) Des weiteren wußte +Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich im +Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” +klar geworden sein, daß ein Einverständnis +zwischen Preußens Regierung und der +kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß +Preußen nicht zur Verteidigung der außerdeutschen<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> +Provinzen Österreichs zum Schwerte +greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner +Bundesglieder für Österreich verhindern +wird, um ... seinen Lohn für diese Anstrengungen +in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. +(„Studien” S. 19.) Mehr Vorhersagungen kann +man wirklich von einem Propheten nicht verlangen.</p> + +<p>Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur +Ausführung gekommen. Bismarck, der dazu bereit +gewesen wäre, war dem Prinzregenten von +Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als +Minister des Auswärtigen genehm zu sein. Der +nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken +zurück, Österreich rundheraus die Bundeshilfe +zu versagen. Er stellte seine Bedingungen, +und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt +er seine Truppen zurück. So „drauf und dran” +Österreich zu helfen, wie Lassalle eine Zeitlang +annahm, war auch er nicht.</p> + +<p>„Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und +die Aufgabe Preußens’” — schreibt Lassalle +unterm 27. Mai 1859 an Marx und Engels — „wird +Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr +dort hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens +durch diese annähernd von der Stimmung +hier unterrichtet gewesen zu sein. Absolute Franzosenfresserei, +Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, +die revolutionäre Entwicklung Frankreichs +der wirkliche geheime Grund), das ist das Horn, +in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die +Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend,<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span> +ins Herz der untersten Volksklassen +und der demokratischen Kreise zu gießen suchen, +und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen +den Willen des Volkes von der Regierung unternommener +Krieg gegen Frankreich für unsere +revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich +müßte ein von verblendeter Volkspopularität +getragener Krieg auf unsre demokratische Entwicklung +einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner +Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen +kommt dazu, daß man schon jetzt den Riß, der +uns von unsern Regierungen trennt, ganz und gar +zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand +ich für Pflicht, mich entgegenzuwerfen ... Natürlich +gebe ich mich keinen Augenblick der Täuschung +hin, als könnte und würde die Regierung den +sub III eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... +Aber eben um so mehr fühlte ich mich +gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade +weil er sofort in einen Vorwurf umschlägt. Er +kann wie ein Eisblock wirken, an dem sich die +Wogen dieser falschen Popularität zu brechen +anfangen.”</p> + +<p>Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner +Schrift mehr darauf an, die revolutionäre als die +nationale Bewegung zu fördern, die letztere der +ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich +war berechtigt, die Frage war eben nur, ob das +Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale +Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung +zwischen Lassalle einerseits und Marx und Engels<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> +andererseits durchaus keine Meinungsverschiedenheit +bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. +Marx und Engels behaupteten das. Nach ihrer +Ansicht kam es zunächst darauf an, den gegen +Deutschland als Ganzes geführten Streich durch +eine gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, +und nicht in dem Moment, wo ein +solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst +nur scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung +Deutschlands führen mußte. Die Meinungsverschiedenheit +zwischen ihnen und Lassalle in +dieser Frage beruht im wesentlichen darauf, daß +sie sie mehr in ihrem weiteren historischen und +internationalen Zusammenhang betrachteten, während +Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf +die augenblicklichen Verhältnisse in der inneren +Politik leiten ließ. Daher beging er auch die +Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich +streng zwischen Volk und Regierung unterschied, +Österreich und das Haus Habsburg ohne +weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung +Österreichs” zu proklamieren, wo es sich +zunächst doch nur um die Zertrümmerung des +habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. +In einem seiner Briefe an Rodbertus knüpft er +an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:</p> + +<blockquote> + +<p>„Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, +wo — die türkische Erbschaft an Deutschland +gefallen sein wird und deutsche Soldaten oder +Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen”</p></blockquote> + +<p>und sagt:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span></p> + +<p>„Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich +in Ihrem letzten Schreiben diese Worte las! Denn +wie oft habe ich nicht gerade diese Ansicht meinen +besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten +und mich dafür von ihnen einen Träumer nennen +lassen müssen! Die ganze Verschiebung der seit +1839 so oft in Angriff genommenen orientalischen +Frage hat für mich immer nur den vernünftigen +Sinn und Zusammenhang gehabt, daß die Frage +so lange hinausgeschoben werden muß, bis der +naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, +sie löst! Wir scheinen im Geist als siamesische +Zwillingsbrüder zur Welt gekommen zu sein.” +(Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus-Jagetzow, +herausgegeben von Ad. Wagner, Brief +vom 8. Mai 1863.)</p> + +<p>Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten +sollte, nachdem vorher Österreich „zerfetzt, +zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn +und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich +losgerissen worden, ist schwer verständlich.</p> + +<p>Noch eine andere Stelle aus den Briefen an +Rodbertus gehört hierher:</p> + +<p>„Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, +ist es die kleindeutsche Partei. Alles Kleindeutsche +ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem +‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und +reine Feigheit. Vor 1½ Jahren hielt ich hier einmal +bei mir eine Versammlung meiner Freunde<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span> +ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir +müssen alle wollen: Großdeutschland moins les +dynasties.”</p> + +<p>„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, +das der kleindeutschen Partei zugute +käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen +Furcht vor: Ernst, Krieg, Revolution, Republik +und als ein gutes Stück Nationalverrat.” (Brief +vom 2. Mai 1863.)</p> + +<p>Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem +nationalen Programm, wie er es in „Der Italienische +Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen +wäre, er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben +können, denn jenes ist ganz gewiß kleindeutsch. +Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für seine +viel weitergehenden politischen Zwecke, für die +Herbeiführung der Revolution, die die nationale +Frage im großdeutschen Sinne lösen sollte, zweckmäßig +erschien. In den, auf sein Schreiben vom +27. Mai 1859 folgenden Briefen an Marx und +Engels spricht er sich immer bestimmter in diesem +Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen Briefe +nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen +sind, so können wir uns hier auf einige +Auszüge und kurze Zusammenfassungen beschränken.</p> + +<p>Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen +Briefe sind sehr oft ohne Datum, so daß dieses +aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt +Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> +gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglück. In +dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein +immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe +verteilt sich also so, daß unsere Regierungen +den Krieg machen müssen (und sie werden dies +tun) und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr +scheint dort, zehn Jahre fern von hier, wirklich +noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig entmonarchisiert +unser Volk ist. Ich habe es auch +erst in Berlin mit Leidwesen gesehen ... Käme +nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung +beigebracht wird<a name="FNAnker_6_6" id="FNAnker_6_6"></a><a href="#Fussnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a>, die Regierung führe diesen +Krieg als einen nationalen, sie habe sich zu einer +nationalen Tat erhoben, so solltet Ihr sehen, wie +vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade +bei Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen +Treue’ das Volk an seine Regierungen binden +würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist +offenbar etwa folgendes:</p> + +<p>„1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, +wie gesagt, unsere Regierungen schon von +selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter +Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf +und dran sei, für Österreich einzutreten.”</p> + +<p>Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt +zutreffend.</p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span></p> +<p>„2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden +unsere Regierungen gleichfalls von selbst besorgen, +und um so mehr, je weniger das Volksinteresse +für den Sieg sie unterstützt.)</p> + +<p>„3. daß das Volk der Überzeugung sei, der +Krieg werde im volksfeindlichen, im dynastischen, +im kontrerevolutionären Sinne, also gegen seine +Interessen, unternommen. — Dies allein können +wir besorgen, und dies zu besorgen ist daher +unsere Pflicht.”</p> + +<p>Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen +Zweck es haben könne, „einen populären Krieg +gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”. +Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, +die er als maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung +auf die Aussichten der revolutionären +Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung +auf die Beziehungen der deutschen Demokratie +zur französischen und italienischen Demokratie. +Die Frage der Interessen Deutschlands +als Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, +daß er dieselbe Politik empfehle wie Vogt, der +im französischen Solde schreibe, antwortet er: +„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, +die ich habe, ad absurdum führen? Dann könnte +ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß Du +das Unglück hast, diesmal mit Venedey und +Waldeck einer Meinung zu sein.” Alsdann rühmt +er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt +habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” +hätten zum Rückzug geblasen, die letztere „in<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> +einer Serie von sechs Leitartikeln eine vollständige +Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht +darauf kam, sich zu fragen, warum denn diese +Organe kleindeutscher Richtung sich so schnell +bekehren ließen!</p> + +<p>In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 — +nach Villafranca — heißt es: „Es ist ganz selbstredend, +daß zwischen uns nicht das Prinzip, sondern, +wie Du sagst und wie ich es nie anders +auffaßte, die ‚passendste Politik’ ... streitig war.” +Und um wieder keinen Zweifel darüber zu lassen, +wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h. +also doch die zur revolutionären Entwicklung +passendste Politik.”</p> + +<p>Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung +von Mißverständnissen muß ich bemerken, +daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, +als ich meine Broschüre schrieb, sehnlichst +wünschte, daß Preußen den Krieg gegen Napoleon +mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, +daß die Regierung ihn mache, er aber +beim Volke so unpopulär und verhaßt wie möglich +sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück +gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, +nicht für diesen Krieg schreiben und propagieren +... Für die gegenwärtige Lage sind wir +wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl +ebensosehr für die zukünftige.”</p> + +<p>In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf +die damals gerade eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage +zu sprechen, die bekanntlich später<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span> +zum Konflikt zwischen der Regierung und der +liberalen Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung +1859 hatte die preußische Regierung überzeugt, +wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch +war und daß durchgreifende Änderungen notwendig +waren, um sie in den Stand zu setzen, sei +es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit +einiger Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. +Wer es also mit „Preußens deutschem Beruf” +ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation +einwilligen oder mindestens objektiv ihre +Berechtigung anerkennen, was ja auch die Fortschrittler +anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: +„Das Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung — +völlige, nur verkappte — der Landwehr als letzten +demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung +eines immensen Machtmittels für Absolutismus +und Junkertum ist in zwei Worten der evidente +Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt +haben, so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es +durchgesetzt. Wer jetzt in Berlin lebt und nicht +am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger +sterben!”</p> + +<p>Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe +Lassalles an Marx aus Aachen vom 11. September +1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem Briefe +an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs +hingewiesen, in der ausgeführt worden war, daß, +wenn Preußen Österreich gegen Frankreich zu +Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich +<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> +intervenieren, d. h. Preußen <em class="gesperrt">und</em> Österreich den +Krieg erklären würde. Diese Note sei, hatte Marx +ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um +einen Anschlag gehandelt habe, bei dem die Befreiung +Italiens nur Vorwand, die Schwächung +Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und +sie sei zweitens eine unverschämte Einmischung +Rußlands in deutsche Angelegenheiten, die nicht +geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun +Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung +nicht erblicken, aber selbst wenn eine solche darin +enthalten sei, so treffe sie ja doch nur „die deutschen +Regierungen”. „Denn, diable! was geht +Dich und mich die Machtstellung des Prinzen von +Preußen an? Da alle seine Tendenzen und Interessen +gegen die Tendenzen und Interessen des +deutschen Volkes gerichtet sind, so liegt es vielmehr +gerade im Interesse des deutschen Volkes, +wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen +so gering wie möglich ist.” Man müsse sich also +eher solcher Demütigungen freuen und sie höchstens +in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, +wie es die Franzosen unter Louis Philipp getan +hätten.</p> + +<p>Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” +ausdrücken, als es hier überall geschieht, und diejenigen, +die ehedem Lassalle als das Muster eines +guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses +Wortes der Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, +haben nach Veröffentlichung der Lassalleschen +Briefe an Marx und Engels einfach einpacken +müssen. Die Motive, die Lassalle bei der<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span> +Abfassung des „Italienischen Krieges” leiteten, +sind alles andere, nur nicht eine Anerkennung der +nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, +daß hier, wie es in den meisten bürgerlichen +Biographien heißt, bei Lassalle der Parteimann +hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im +Gegenteil eher sagen, daß der Parteimann, der +republikanische Revolutionär, den Patrioten zurückdrängt.</p> + +<p>Man könnte freilich mit einem gewissen Schein +von Recht die Frage aufwerfen: „Ja, wenn der +Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an +Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, +den er in der Broschüre vertritt, wer garantiert +dann, daß der erstere der wirklich von Lassalle +im Innersten seines Herzens eingenommene ist? +Kann Lassalle nicht, da er doch das eine Mal +sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx gegenüber +getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen +aber so viele Gründe, daß es kaum der Mühe +lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der wichtigste +ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre +und Briefen schließlich doch nur ein scheinbarer +ist. Wo Lassalle in der Broschüre etwas sagt, +was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten +Ideen deckt, da spricht er immer nur +hypothetisch mit einem großen „Wenn”, und diesem +Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber +nicht, dann” gegenüber, und formuliert dieses +„Dann” so: „So wird damit nur aber und aber +bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> +einer nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die +positiven Behauptungen in der Broschüre hält er +aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint +es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt +der Broschüre ausmachenden Darlegung, daß die +Demokratie — worunter er die Gesamtheit der +entschiedenen Oppositionsparteien verstand — +den Krieg gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, +weil sie sich dadurch mit den Unterdrückern Italiens +identifiziere, und es war ihm ferner durchaus +ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. +Bis soweit ist denn auch die Broschüre, +ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt +für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung +vollkommen berechtigt.</p> + +<p>Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt +Lassalle eine Diplomatie, die gerade er in seinem +Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich +bekämpft hatte. Auch der demokratische +Politiker braucht nicht in jedem Zeitpunkt seine +letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht +ihm nicht an und bringt ihn in eine falsche Lage, +wenn er für eine Politik eintritt, von der er nicht +auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch tut +Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift +mußte glauben, er wünsche nichts sehnlicher, als +daß die preußische Regierung die darin von ihm +entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich +darauf berufen, daß er sicher war, die preußische +Regierung werde diese Politik nicht befolgen. Damit +war aber das Doppelspiel sicherlich nicht gerechtfertigt.<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span> +Das Advokatenstück, eine Sache nur +deshalb zu empfehlen, weil man zu wissen glaubt, +daß sie doch nicht geschieht, ist ein durchaus +falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen +Anhänger irrezuführen, was ja später auch +in diesem Falle eingetreten ist. Das Beispiel, auf +das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist das +denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische +Opposition in Frankreich unter Louis +Philipp, die Herren vom „National”, auswärtige +Politik machten, ebnete später dem Mörder der +Republik, dem Bonapartismus, die Bahn. Wie die +„reinen Republikaner” die napoleonische Legende +gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die +friderizianische Legende gegen die damalige +preußische Regierung ausspielen zu können. Aber +die friderizianische Tradition, wenigstens soweit +sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der +preußischen Regierung aufgegeben, und statt gegen +die Hauspolitik der Hohenzollern, machte Lassalle +Propaganda für sie.</p> + +<p>Wie diese später, sobald Preußen sich dazu +militärisch stark genug fühlte, energisch aufgenommen +wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg +zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie +Österreich glücklich aus dem deutschen Bund herausgedrängt +und die „Einigung” Rumpf-Deutschlands +alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, +aber diese Realisierung des im „Italienischen +Krieg” entwickelten Programms verhält +sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte,<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> +wie in der Lessingschen Fabel das Kamel zum +Pferd<a name="FNAnker_7_7" id="FNAnker_7_7"></a><a href="#Fussnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a>.</p> + +<p>[Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen +Frage gebracht? Österreichs Verdrängung +aus dem deutschen Bund hat die panslawistische +Propaganda im höchsten Grade gefördert, die +österreichische Regierung muß heute den Slawen +eine Konzession nach der andern machen, und +diese traten infolgedessen mit immer größeren +Ansprüchen auf. Wo sie früher mit Anerkennung +ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen +wären, wollen sie heute herrschen und unterdrücken; +in Prag, heute eine tschechische Stadt, +fraternisierten Tschechen und französische Chauvinisten<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span> +und toastierten auf den Kampf wider das +Deutschtum. Die Angliederung der deutschen +Landesteile Österreichs an Deutschland wird +früher oder später freilich doch erfolgen, aber +unter zehnfach ungünstigeren Verhältnissen als +vor der glorreichen Herauswerfung Österreichs +aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das +Deutsche Reich ruhig zusehen, wie in jenen +Landesteilen die Slawisierung immer weiter um +sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung +Deutschlands hat Rußland so stark gemacht, +daß die deutsche Politik wieder das größte Interesse +an der Erhaltung selbst dieses Österreichs +hatte. Etwas ist immer noch besser als gar nichts. +Und freilich, solange in Rußland der Zarismus +mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht,<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span> +so lange mag das heutige Österreich als Staat +noch eine Berechtigung haben.]</p> + +<p>Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes +als die bloße Herausdrängung Österreichs aus +dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung, die +Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder +einen integrierenden Teil der einen und unteilbaren +deutschen Republik bilden sollten. Aber um +so weniger durfte er auch nur zum Schein ein +Programm aufstellen, dessen unmittelbare Folge +der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein +Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, +dessen Bevölkerung 1859 ganz entschieden auf +seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke +Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle +außer ihm liegenden Rücksichten zu opfern, erklärt +dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie, +die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs +schärfste verurteilt hatte.</p> + +<p>Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der +leidenschaftliche Drang, in die aktuelle Politik +einzugreifen. Er spricht sich immer und immer +wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um +jene Zeit die Beteiligung an irgendeiner Sache mit +dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen Arbeiten, +die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht +es mit dem Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit +bietet, unmittelbar auf die revolutionäre +Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch +die Wissenschaft liegen. So hatte er auch am +21. März 1859 an Fr. Engels geschrieben:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p> + +<p>„Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen +und geschichtsphilosophischen Fache — ich meine +Geschichte im Sinne von sozialer Kulturentwicklung +— von nun an wohl verbleiben, wenn nicht, +was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche +Beginn praktischer Bewegungen alle größere +theoretische Tätigkeit sistiert.”</p> + +<p>„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was +ich etwa weiß, wenn es dafür gelingt, einiges von +dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.”</p> + +<p>Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, +sollte Lassalle ins monarchistisch-kleindeutsche +Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine Diplomatie +war falsch, aber seine Absicht war die alte +geblieben: die Revolution für die eine und unteilbare +deutsche Republik. Sie ist gemeint, wenn +er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt: +Flectere si nequeo superos acheronta movebo +— wenn ich die Götter — die Regierung — +nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” +— das Volk — in Bewegung setzen.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p>Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen +Krieg usw.” folgen ließ, war ein Beitrag +für eine Zeitschrift in Buchform, die der +demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode +unter dem Titel „Demokratische Studien” im +Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der später +als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span> +politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” +Man könnte ihn als ein Nachwort zu „Der +italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem +Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen +für gut befunden. Das „politische Vermächtnis” +Fichtes ist, wie Lassalle unter Vorführung +eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs +zu einer politischen Abhandlung darlegt, der +Gedanke der Einheit Deutschlands als unitarische +Republik. Anders sei die Verwirklichung der Einheit +Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei +einer Eroberung Deutschlands durch irgendeinen +der bestehenden deutschen Staaten würde „nicht +Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen +Stämme durch die gewaltsame Aufdrängung des +spezifischen Hausgeistes unter die Besonderheit +desselben gebracht, preußifiziert, verbayert, verösterreichert!” +... „Und indem so auch noch diejenige +Ausgleichung fortfiele, welche jetzt noch +in dem Dasein der verschiedenen Besonderheiten +liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das +deutsche Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel +aufgehoben.”</p> + +<p>„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen +Hausgeiste, sondern mit freiem Aufgehen +desselben in den nationalen Geist und seine +Zwecke, wäre freilich ein ganz anderes! Aber +die Idealität dieser Entschließung ist es geradezu +töricht von Männern zu verlangen” — es ist von +den deutschen Fürsten, speziell vom König von +Preußen, die Rede — „deren geistige Persönlichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span> +doch wie die aller anderen ein bestimmtes +Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, +Neigung und Geschichte ist und die dies daher +ebensowenig leisten können, als es einer von uns +anderen leisten würde, wenn seine Bildung und +Erziehung ausschließlich durch dieselben Faktoren +bestimmt worden wäre.”</p> + +<p>Dies sind die letzten eigenen Ausführungen +Lassalles in dem Aufsatze. Es folgen dann nur +noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die +Einheit Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage +der „ausgebildeten persönlichen Freiheit”, +und daß gerade deshalb die Deutschen „im ewigen +Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes +Reich des Rechts” darzustellen, ein Reich der +„Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, +was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es +von uns, die unerreichbare Gewalt dieser Worte +durch irgendwelche Hinzufügungen abschwächen +zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger +gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, +auch Ihrem Wunsche” — einen Artikel über eine +„brennende Tagesfrage” zu schreiben — „nicht +buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, +Ihr Zweck erfüllt — wie der meinige.”</p> + +<p>Welches aber war Lassalles Zweck bei der +Veröffentlichung des Aufsatzes, der das Datum: +Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief +an Marx uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 +legt Lassalle diesem dar, warum er, obwohl +seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span> +Werkes in Anspruch genommen sei, Walesrodes +Einladung angenommen habe. Erstens habe er +in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, +der mutvoll und tapfer, wie auch seine verdienstliche +Broschüre „Politische Totenschau” zeige, +wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. Dann +aber heißt es weiter:</p> + +<p>„Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht +einigen entwickelnden Einfluß auf unsere +deutschen Philister ausüben, und schlug ich aus, +so kam der Auftrag jedenfalls an einen weit +weniger entschiedenen, ja ganz unbedingt an einen +mit monarchischem oder ähnlichem Demokratismus +oder klein-deutschen Ideen Liebäugelnden, +während mir der Auftrag die Möglichkeit bot, +wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf +ertönen zu lassen und so im Namen unserer +Partei von einem Buche Besitz zu ergreifen, +welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen +Inhalt, obgleich ich weder über diesen noch +seine Mitarbeiter Näheres weiß, schwerlich zur +Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses +unserer Partei beigetragen hätte.</p> + +<p>„So schreiben-wollend und nicht wollend entstand +ein Artikel, von dem ich mir, speziell um +ihn Dir zu überschicken, einen besonderen Abzug +kommen ließ. (Das Buch erscheint erst zur +Oktobermesse.) Ich schicke ihn gleichzeitig mit +diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann +an Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, +ob er Dir gefallen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p> + +<p>„Ich glaube, daß er mitten in diesem widrigen +gothaischen Gesumme doch immerhin den erfrischenden +Eindruck macht, daß hinter den Bergen +auch noch Leute, daß eine republikanische Partei +noch lebt, den Eindruck eines Trompetenstoßes.”</p> + +<p>Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle +damals arbeitete, war das „System der erworbenen +Rechte”. Drollig und doch wieder für jeden, +der sich mit größeren Arbeiten beschäftigt, ungemein +verständlich klingt die Klage Lassalles, +die Arbeit ziehe sich so lange hin, daß er „bereits +einen intensiven Haß gegen sie bekommen habe”. +Aber das „verm— Werk”, wie er es an einer +anderen Stelle in demselben Briefe nennt, sollte +auch in den drei Monaten, die er sich nun als +Termin stellt, noch nicht fertig werden.</p> + +<p>Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfällen +jener chronischen Krankheit, von der er +bereits in der Düsseldorfer Assisenrede spricht, +und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. +„Ich war und bin noch recht krank”, fängt ein +Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein +muß, „ich war von neuem krank und schlimmer +als früher”, beginnt der obenzitierte Brief. „Habe +ich mich in der letzten Zeit überarbeitet oder rächt +sich nun zu lange Vernachlässigung”, heißt es +weiter, „kurz, es scheint als ob meine Gesundheit +aufgehört habe, der unverwüstliche Fels zu sein, +auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.” +Um sich gründlich zu heilen, ging Lassalle im +Sommer desselben Jahres nach Aachen. Dort<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span> +machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin, +Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls +einer Kur bedürftig war, nach Aachen begleitet +hatte, und diese Dame nahm Lassalle so +für sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen +Heiratsantrag machte, den aber Fräulein von +Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.</p> + +<p>Es sind über diese Episode aus dem bewegten +Leben Lassalles fast nur die Aufzeichnungen bekannt +geworden, die das damalige Fräulein von +Sontzew, später die Gattin eines Gutsbesitzers in +Südrußland, im Jahre 1877 in der Petersburger +Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, +und von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein +Jahr darauf im Verlage von F. A. Brockhaus in +Leipzig erschien<a name="FNAnker_8_8" id="FNAnker_8_8"></a><a href="#Fussnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a>. Die eigentliche Liebesaffäre +ist nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein +korrekt zu. Sophie von Sontzew schreibt, +daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf +sie gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt +habe, ihn lieben zu können, es seien aber stets +sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie +sich schließlich darüber klar geworden sei, daß +eine Liebe, die zweifelt, keine Liebe sei — vor +allem keine Liebe, wie Lassalle sie unter Hinweis +auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft +ihm bringen werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> +gerade auf diese Kämpfe die junge Dame +mehr schreckte, als sie zugesteht — Tagebuchgeständnisse +und Memoiren sagen bekanntlich nie +die volle Wahrheit. Auf der andern Seite scheint +uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein +von Sontzew beinahe als ein Verbrechen anrechnet, +von Lassalle geliebt worden zu sein, ohne +seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. +Die Dame hatte ein unbestrittenes Recht, ihr +Herz nicht zu verschenken, auch wußte Lassalle +sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über +den Mißerfolg bald zu trösten.</p> + +<p>Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre +sind die aus Anlaß dieser geschriebenen +Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor +allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” +bezeichnete, mehr als 35 Druckseiten +ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines der +interessantesten Dokumente für die Charakteristik +Lassalles. Sehen wir in dessen erstem Tagebuch +den zum Jüngling heranreifenden Knaben, so +sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling +sein Ich bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem +Falle das oben von solchen Bekenntnissen +Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge +Lassalles ist seine — man könnte fast +sagen, unbewußte Wahrhaftigkeit. Lassalle war, +wie schon seine beständige Neigung, ins Pathetische +zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte +Natur. Er schauspielerte gern ein wenig +und war viel zu sehr Gesellschaftsmensch, um<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span> +darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die +Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, +seine Gedanken zu verbergen. Aber es +war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch +anders zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen +und Leidenschaften waren viel zu stark, +als daß sie sich nicht überall verraten hätten, seine +Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch +jedes Gewand, in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. +So schaut auch aus dem Bilde, +das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich +entwirft, obwohl es eine Schilderung gibt, wie er +dem jungen Mädchen erscheinen wollte, der richtige +Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und +seinen Fehlern.</p> + +<p>Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges +Selbstvertrauen und seine Einbildungskraft +zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, +wie er in diesem Manuskript sich im Glanze seines +zukünftigen Ruhmes sonnt, sich als der Führer +einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch +gar nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie +ihn fürchten und hassen läßt, wo zur Furcht +und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso +übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. +„Nichts, Sophie,” schreibt er über den Erfolg +der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur annähernd +eine Vorstellung von dem elektrischen +Eindruck geben, den ich hervorbrachte. Die ganze +Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz +schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> +... alle Klassen, die ganze Bourgeoisie +war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag verschafft +mir in der Rheinprovinz den Ruf eines +Redners ohnegleichen und eines Mannes von unbegrenzter +Energie, und die Zeitungen trugen +diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit +diesem Tage erkannte mich die demokratische +Partei in der Rheinprovinz als ihren Hauptführer +an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, +daß er aus diesem „mit nicht weniger Glanz” +hervorging. „Ich werde Ihnen meine Rede aus +diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt +ist; sie wird Sie amüsieren.” Daß er die +Rede gar nicht gehalten hat, schreibt er nicht.</p> + +<p>Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen +oder kindischen Eitelkeit fehlen aber auch nicht +solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen, +statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und +durch den ganzen Brief hindurch klingt der Ton +einer echten Überzeugung. Selbst wenn Lassalle +von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt +„gewisser Ereignisse” — der erwarteten Revolution +— das Leben seiner zukünftigen Frau ausstatten +würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht +wahr, Sophie, mit so großen Dingen, die das +Ziel der Anstrengungen des ganzen Menschengeschlechts +bilden, darf man nicht eine bloße +Spekulation auf individuelles Glück machen?” — +und bemerkt weiter: „Deshalb darf man in keiner +Weise darauf rechnen.”</p> + +<p>Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte”<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span> +Lassalles von Interesse. Er spricht sich +darin sehr ausführlich über sein Verhältnis zur +Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches +in bezug auf seine früheren Beziehungen zu dieser +Frau idealisiert sein, so ist doch soviel sicher, daß +Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um +das er gerade warb und das als Gattin heimzuführen +er so große Anstrengungen machte, seine +derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit +sie über die der Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, +stärker zu schildern, als sie wirklich waren. +Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief +in Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit +für die Gräfin. Er liebe sie „mit der +zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert +hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte +Mutter”. Er verlangt von Sophie, daß sie, +wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin „mit +der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und +hofft, obwohl die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” +sei und, ehe sie nicht wisse, ob Sophie +Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar +werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen +zu können, — um „alle drei glücklich und vereint +zu leben”<a name="FNAnker_9_9" id="FNAnker_9_9"></a><a href="#Fussnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a>.</p> + +<p>Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die +Sache so hinstellen, als habe sich die Gräfin Hatzfeldt<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> +damals in Berlin und später Lassalle einer +Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos +übertrieben haben. Die Hatzfeldt hatte ihre großen +Fehler und ihre Freundschaft ist Lassalle unseres +Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst +verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser +Ansicht sind, halten wir es für unsere Pflicht, da, +wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem entgegenzutreten. +Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen +Schriftstellern dem bekannten Beckerschen +Pamphlet nachgeschriebene Behauptung, +Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre +gestürzt, um die Hatzfeldt loszuwerden.</p> + +<p>Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den +Eindruck, den die Gräfin Hatzfeldt persönlich auf +sie gemacht habe, nur günstig aus.</p> + +<p>Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus +der Zeit seines damaligen Aufenthalts in Aachen. +Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit +der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen +in einem der Briefe über die Verhältnisse am +russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle +schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich +viel des Interessanten, und eine Stelle in +einem davon ist ganz besonders bemerkenswert, +weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, +wo er in Berlin noch mit den Führern der liberalen<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span> +Opposition auf bestem Fuße stand, über die damalige +liberale Presse und über den von den +Liberalen in den Himmel gehobenen preußischen +Richterstand dachte. Da sie ebenso kurz wie +drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.</p> + +<p>Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, +Zabel, der ihn, unter Benutzung des +gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der infamierendsten +Handlungen verdächtigt hatte, wegen +Verleumdung zur Rechenschaft ziehen wollen, war +aber in drei Instanzen, noch ehe es zum Prozeß +kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter +am Stadtgericht, am Kammergericht und am Obertribunal +in Berlin fanden nämlich, daß wenn Zabel +alle diese Verleumdungen Vogts über Marx +wiederholt und sie dabei noch übertrumpft hatte, +er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben +konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren +nun hatte Marx selbst in Preußen für +unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an +Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang +an vom Prozeß abgeraten hatte, weil doch +auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:</p> + +<p>„Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von +den Richtern abhängt bei uns, ob es ein Individuum +überhaupt nur bis zum Prozeß bringen +kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal +Unrecht getan, als ich in einem meiner Briefe +sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage +ganz reuig an meine Brust und nehme das gänzlich<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span> +zurück. Die preußische Justiz wenigstens +scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte +betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz +andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht, +noch ganz anders starke Beweise für diesen Satz, +und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an +ihnen erlebt, und zwar zu dreimal drei Dutzenden +und in Straf- wie besonders sogar in reinen Zivilprozessen +... Uff! Ich muß die Erinnerung daran +gewaltsam unterdrücken. Denn wenn ich an diesen +zehnjährigen täglichen Justizmord denke, den ich +erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor +den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom +ersticken wollte! Nun, ich habe das alles +lange bewältigt und niedergelebt, es ist Zeit genug +seitdem verflossen, um kalt darüber zu werden, +aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln +tieferer Verachtung, als wenn ich von Richtern +und Recht bei uns sprechen höre. Galeerensträflinge +scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis +zu unsern Richtern zu sein.</p> + +<p>„Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst +Du. ‚Jedenfalls,’ sagst Du, ‚liefern mir die +Preußen so ein Material in die Hand, dessen angenehme +Folgen in der Londoner Presse sie bald +merken sollen!’ Nein, lieber Freund, sie werden +gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, daß +Du sie in der Londoner Presse darstellen und +vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts +davon, gar nichts, es wird sein, als wenn Du gar +nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span> +liest man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren +deutschen Zeitungen wird auch keine einzige davon +Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein armseliges +Wörtchen davon bringen. Sie werden sich +hüten! Und unsere liberalen Blätter am allermeisten! +Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein +Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den +‚preußischen Richterstand’ bringen, bei dessen +bloßer Erwähnung sie vor Entzücken schnalzen — +sie sprechen schon das Wort nie anders als mit +zwei vollen Pausbacken aus — und vor Respekt +mit dem Kopf auf die Erde schlagen! O, gar +nichts werden sie davon bringen, es von der Donau +bis zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die +deutsche Zunge reicht’, ruhig totschweigen! Was +ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? O, +unsere Polizei ist, man sage was man will, noch +immer ein viel liberaleres Institut als unsere Presse! +Es ist — hilf Himmel! ich weiß wirklich keinen +anderen Ausdruck für sie — es ist die reine ......”</p> + +<p>Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu +burschikos, um es im Druck wiederzugeben, der +Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen.</p> + +<p>Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im +zweiten Band der Demokratischen Studien einen +kleinen Aufsatz über Lessing, den er bereits +1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: +„Lessings Leben und Werke” geschrieben, und +ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches +Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span></p> + +<p>Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig +unbedeutend. Er ist noch vorwiegend in althegelianischer +Sprache gehalten und lehnt sich +sachlich sehr stark an die Ausführungen an, die +Heine in „Über Deutschland” mit Bezug auf +Lessings Bedeutung für die Literatur und das +öffentliche Leben in Deutschland abgibt. Wie +Heine feiert auch Lassalle Lessing als den zweiten +Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des +Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit +der Situation des derzeitigen Deutschland mit +der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche Situationen +erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm +da wohl Heines Ausspruch vorgeschwebt haben: +„Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da +vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing +fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland +so sehr bedarf — der dritte Befreier!” War es +doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte +Befreier zu werden. Wie im Hutten des „Franz +von Sickingen”, so spiegelt sich auch im Lessing +dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt +wider. Es fehlt selbst die Apotheose des Schwertes +nicht. „Allein wenn wir den Begriff Lessings +durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte +durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” +fragt Lassalle, und um denjenigen, die nach +Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten +Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die +letzten Zweifel zu lösen, zitiert er aus den Lessingschen +Fragmenten zum „Spartakus” eine Stelle,<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span> +wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: +„Ich höre, du philosophierst, Spartakus”, +zurückgibt:</p> + +<blockquote> + +<p>„Wo du nicht willst, daß ich philosophieren +soll — Philosophieren, es macht mich lachen! — +Nun wohlan! Wir wollen fechten!”</p></blockquote> + +<p>Zwei Dezennien darauf sei in der französischen +Revolution diese Prophezeiung Lessings eingetroffen. +Und dieser Ausgang werde nach Stahr „wohl +auch das Ende vom Liede sein in dem Handel +zwischen dem Spartakus und dem Konsul der Zukunft”.</p> + +<hr class="chap" /> + + + +<h2><a name="Das_System_der_erworbenen_Rechte" id="Das_System_der_erworbenen_Rechte">Das System der erworbenen Rechte.</a></h2> + + +<p>Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles +wissenschaftliches Hauptwerk, ist zwar in erster +Linie nur für den Rechtstheoretiker geschrieben, +doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den +praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich +näher als die Materie des „Heraklit”, und wir +wollen daher versuchen, wenigstens die Hauptgedanken +dieser Arbeit darzustellen, von der +Lassalle mit Recht gelegentlich den Ausdruck gebrauchen +durfte, ein „Riesenwerk menschlichen +Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen +so ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der +erworbenen Rechte” zugleich von der außerordentlichen +geistigen Schaffenskraft, wie dem großen +juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis +ablegt. Aus allen diesen Gründen wird man es<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span> +berechtigt finden, wenn wir uns bei diesem Buche +etwas länger aufhalten.</p> + +<p>Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers +dieser Abhandlung, ein Urteil darüber zu +fällen, welche positive Bereicherung die Rechtswissenschaft +dem „System der erworbenen Rechte” +verdankt. Das vermag nur der Kenner der gesamten +einschlägigen Literatur, der theoretisch +gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, +die Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich +mit seinem Buche stellt, die Art, wie er sie löst, +und den theoretischen Standpunkt, der seiner +Lösung zugrunde liegt.</p> + +<p>Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, +den das in zwei Teile zerfallende Gesamtwerk +trägt. „Eine Versöhnung des positiven +Rechts und der Rechtsphilosophie.” Lassalle +führt in der Vorrede aus, daß trotz Hegels Versuch, +eine Versöhnung zwischen dem positiven +Recht und dem Naturrecht<a name="FNAnker_10_10" id="FNAnker_10_10"></a><a href="#Fussnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> herzustellen, die +Entfremdung zwischen positiven Juristen und +Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst +vor Hegel gewesen. Die Schuld daran trügen aber +weniger die ersteren als die letzteren; statt in<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> +den Reichtum des positiven Rechtsmaterials einzudringen, +hätten sie sich begnügt, „im Himmel +ihrer allgemeinen Redensarten der groben Erde +des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich zu +bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen +Richtung herrsche ein wahrer „horror pleni”, +ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran indes +Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich +hervorgehoben habe, daß die Philosophie nichts +so sehr erfordere, als die Vertiefung in die Erfahrungswissenschaften. +Hegels „Rechtsphilosophie” +konnte, führt Lassalle aus, nach den gesamten +Grundbedingungen, unter denen dieselbe +erschien, „als der erste Versuch, das Recht als +einen vernünftigen, sich aus sich selbst entwickelnden +Organismus nachzuweisen, zur wirklichen +Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, +als etwa die allgemeine logische Disposition +eines Werkes zu dem Werke selbst”. Hätten +nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, +bei den „dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben +— „Eigentum, Familie, Vertrag usw.” — +stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, +eine Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne +einer philosophischen Entwicklung der konkreten +einzelnen Rechtsinstitute desselben zu schreiben, +so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser +einzelnen positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt +haben, daß mit den abstrakt-allgemeinen +Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag, +Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> +römische Eigentumsbegriff ein anderer ist, als +der germanische Eigentumsbegriff, der römische +Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische +Erbtumsbegriff, der römische Familienbegriff ein +anderer als der germanische Familienbegriff usw., +d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das Reich +des historischen Geistes gehörend, es nicht mit +logisch-ewigen Kategorien zu tun hat, sondern daß +die Rechtsinstitute nur Realisationen historischer +Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des geistigen +Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister +und Zeitperioden, und daher nur als solche zu +begreifen sind.” Eingehend und erschöpfend sei +dies durch den ganzen zweiten Teil des vorliegenden +Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen +und an dem Beispiel desselben der Beweis geliefert, +daß „jene Hegelsche Disposition selbst, +wie der gesamte Bau und die Architektonik der +Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben +werden muß und nichts von der Hegelschen +Philosophie bewahrt werden kann, als ihre +Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre +Rechtsphilosophie zu erzeugen ...” Das gelte +aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen +Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und +wenn die Zeit theoretischer Muße für die Deutschen +niemals aufhören sollte, — „man kann sie +heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum +felicitas (ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle +mit berechtigter Bitterkeit hinzu — so werde +er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies in einem<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span> +neuen System der Philosophie nachweisen. Indes +werde die von ihm verlangte totale Reformation +der Hegelschen Philosophie doch im Grunde nur +„dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, +die „nur auf einem anderen Wege zum Siege geführt +werden soll. Es sind immer die Grundprinzipien +und die Methode der Hegelschen Philosophie, +die nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. +Hegel habe, wegen unzureichender Bekanntschaft +mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht +häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner +anderen Disziplin. „Wenn er die römischen Juristen +als die Tätigkeit des abstrakten Verstandes auffaßte, +so werden wir auf das Positivste im ganzen +Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis +bringen, wie dies nur von unseren Juristen, von +den römischen aber das strikte Gegenteil gilt. +Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr +schlechterdings nur die des spekulativen Begriffs +ist, nur eine sich selbst nicht durchsichtige und +bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit +des religiösen und künstlerischen Geistes der Fall +ist ... Allein hiermit wird dann immer nur erwiesen +sein, daß die Hegelsche Philosophie noch +weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, +und daß der spekulative Begriff noch weitere +Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als +Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System +der erworbenen Rechte.)</p> + +<p>Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, +wie weit Lassalle in dem Werke selbst noch auf<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> +Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits +viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, +aber er hält doch nicht nur an der Methode, sondern +auch noch an den Grundprinzipien der Hegelschen +Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen +Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, +der dialektischen Form der Untersuchung, +sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, +der Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen +auf die Entwicklung und Bewegung +der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der +materiellen Grundlage dieser Bewegung. Wie +Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem Wege +stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich +bei den Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, +sondern um historische Kategorien handelt, aber er +behandelt diese Kategorien nur als die „Realisationen +historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen +die Frage nach den Umständen, unter denen diese +Geistesbegriffe sich entwickelten, nach den materiellen +Verhältnissen, deren Ausdruck sie sind, +ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar +um und will „im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen +suchen, wie das angeblich rein Positive +und Historische nur notwendiger Ausfluß des +jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. +So muß er naturgemäß, auch bei dem größten +Aufwand von Scharfsinn, zu falschen Folgerungen +gelangen.</p> + +<p>Als das „großartigste Beispiel”, an welchem +diese ursächliche Abhängigkeit des „angeblich rein<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> +Positiven und Historischen” von den historischen +Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, +bezeichnet Lassalle die gesamte Darstellung des +Erbrechts im zweiten Bande des Werkes, der +den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und +germanischen Erbrechts in historisch-philosophischer +Entwickelung.” Die Stärke dieser Arbeit +beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten +Durchführung des leitenden Gedankens und der +oft wahrhaft glänzenden Darstellung. Durch alle +hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht +Lassalle den Gedanken zu verfolgen, dem römischen +Erbrecht liege der Gedanke der Fortdauer +des subjektiven Willens des Erblassers im Erben +zugrunde, während im altgermanischen Erbrecht, +dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne Testament), +die Idee der Familie den leitenden Gedanken +bilde, es gerade das sei, was vom römischen +Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres +Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen +richtig. Aber nun beginnt die Schwäche der +Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf +sie ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt +diese zwar wieder und immer wieder, läßt +keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter +liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt +es, daß das römische Erbrecht die Fortpflanzung +des subjektiven Willens ausdrückt? Von der +römischen Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus +der Laren und Manen. Woher kommt es, daß +das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> +der „Idee der germanischen Familie”. Welches +ist die römische Unsterblichkeitsidee? Die Fortdauer +des subjektiven Willens. Welches ist die +Idee der germanischen Familie? Die „sittliche +Identität der Personen, die zu ihrer substantiellen +Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes +oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug +wie vorher, wir drehen uns im Kreise der Ideen +und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, +warum diese Idee hier, jener Begriff dort die +ihm zugewiesene Rolle spielen konnten. Auch +mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die +Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der +Römer und Germanen aus deren wirklichen +Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die +letzte Quelle des Rechts erscheint überall der +„Volksgeist”. Dabei verfällt denn Lassalle in +denselben Fehler, den er an einer andern Stelle +mit Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum +Vorwurf macht, er unterscheidet zwar zwischen +römischem und germanischem Volksgeist, aber er +ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße +des römischen Volkes und konstruiert einen, ein +für allemal — das ganze Jahrtausend von der +Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung +des römischen Weltreichs — maßgebenden +„römischen Volksgeist”, der sich zum — +ebenso konstruierten — „germanischen Volksgeiste” +etwa verhalte, wie „Wille zu Liebe”.</p> + +<p>Allerdings darf nicht übersehen werden, daß +zur Zeit, wo Lassalle sein „System der erworbenen<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> +Rechte” schrieb, die eigentliche Geschichtsforschung +in bezug auf die Entstehung und Entwicklung +der römischen Gesellschaft und der +germanischen Vorzeit noch sehr im argen lag, +selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie +in wichtigen Punkten im Dunkeln tappten. Es +trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß er die +Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er +sie nicht einmal richtig stellte.</p> + +<p>Erst durch die Fortschritte der vergleichenden +Ethnologie und namentlich durch Morgans epochemachende +Untersuchungen über die Gens (Sippe) +ist genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche +Entwicklung der verschiedenen Völker geschaffen +worden, um erkennen zu lassen, warum +die Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die +Geschichte eintraten, als die germanischen Stämme +zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit +eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe +zur Oberstufe der Barbarei durchzumachen; der +Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von +der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht +ganz vollzogen, sie lebten noch in Gentilverbänden +— auf Blutsverwandtschaft beruhenden Genossenschaften +— und noch herrschte der Kommunismus +der Sippe vor: ein auf dem subjektiven Willen +beruhendes Erbrecht war daher einfach ein Ding +der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, +so wenig hat die „Liebe” — eine viel +modernere Erfindung — etwas mit dem altgermanischen +Erbrecht zu tun. Bei den Römern<span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span> +war dagegen schon vor Abschaffung des sogenannten +Königtums die alte, auf persönlichen Blutbanden +beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt +und eine neue, auf Gebietseinteilung und Vermögensunterschied +begründete, wirkliche Staatsverfassung +an ihre Stelle gesetzt worden<a name="FNAnker_11_11" id="FNAnker_11_11"></a><a href="#Fussnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a>. Privateigentum +an Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen +Verbände als wirtschaftliche +Einheit sind der Boden, auf dem das römische +Testament erwächst, nicht als Produkt eines +von vornherein gegebenen besonderen römischen +„Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben +Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist +schuf, der das Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung<a name="FNAnker_12_12" id="FNAnker_12_12"></a><a href="#Fussnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a> +erfüllte. Wenn die Römer +dem Testament eine gewisse feierliche Weihe +gaben, so berechtigt das keineswegs dazu, das +Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem die +symbolische Handlung — die Willensübertragung +— die Hauptsache, der substantielle Inhalt derselben +— die Vermögensübertragung — reine +Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen +Kulturstufe, und noch weit in die Zivilisation +hinein, kleiden die Völker überhaupt alle wichtigen +ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; +es sei nur an die Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, +an die Einweihung der Grenzmarken<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span> +usw. erinnert. Was würde man von einem Historiker +sagen, der den römischen Kultus des Gottes +Terminus als den Ausfluß der besonderen Natur +des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck +einer speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, +bei der die eingegrenzten Äcker Nebensache, +der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache +gewesen sei? Was von einem Rechtshistoriker, +der das Aufkommen des Privateigentums an Grund +und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes +Terminus zurückführen wollte? Und genau dies +ist es, wenn Lassalle den Kultus der Manen und +Laren als die Ursache des Aufkommens der +Testamente bei den Römern bezeichnet, in der +römischen Mythologie den letzten Grund dieser +Rechtsschöpfung erblickt.<a name="FNAnker_13_13" id="FNAnker_13_13"></a><a href="#Fussnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a></p> + +<p>Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso +unhistorischen wie unlogischen Behauptung, daß, +wenn das römische Zwölftafelgesetz für den +Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die +Hinterlassenschaft dem nächsten Agnaten (Verwandte +männlicher Linie) und, falls kein Agnat +vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis +sei, daß das Testament auch der geschichtlichen +Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das Intestaterbe +aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden +sei. Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz,<span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span> +obwohl es die Reihenfolge umkehrt, den wirklichen +Gang der historischen Entwicklung an. Es +konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz +der Testierfreiheit, daß derjenige erben +soll, dem der Erblasser testamentarisch die Hinterlassenschaft +zugeschrieben hat. Ist aber kein +Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder +in Kraft, die urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst +erbt der nächste Agnat und dann die Gens, der +ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich +erste Institut erscheint auf den zwölf Tafeln als +letztes, weil es als das älteste das umfassendste +ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz +bildet. Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion +ist, geht schon daraus hervor, daß er +sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff +des Willens” aufgebauten römischen Erbrecht +aufrechtzuerhalten, einmal gezwungen sieht, zu +behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee +der Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen +Auffassung zugrunde liegt” und die +Agnaten als „die durch das Band der Gewalt +vermittelte Personengemeinschaft” bezeichnet. +Als gläubige Althegelianer haben die alten Römer +„mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” +den „tiefen Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, +daß der nicht ausgedrückte Wille des +Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt +hat „den allgemeinen Willen des Volkes oder +den Staat, in dessen Organisation derselbe verwirklicht +ist”. Das Testament, die Testierfreiheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span> +ist danach älter als der römische Staat, aber das +Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat +hat eines schönen Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft +als Subsidiärerben eingesetzt, und +zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, +sondern in ihrer Eigenschaft als Organe der +Staatsordnung, als Organe der Willensidentität.</p> + +<p>Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade +umgekehrt zugetragen haben, daß es nicht der +Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet +hat, die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr +vielmehr eines der Rechte, eines der Ämter, die +sie innegehabt, nach dem andern abgenommen, +ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, +daß erst mit der Lockerung des Gentilverbandes, +mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich +wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.</p> + +<p>Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte +er, wie alle Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit +ihm und vor ihm über das Wesen des ursprünglichen +römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise +zu falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt +der Wahrheit näherzukommen, als seine Vorgänger, +steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. +Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff +zu konstruieren, schneidet er sich jede Möglichkeit +ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu erkennen. +Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans +— beiläufig ebenfalls Hegelianer — hatte römisches +Intestaterbe und Testamentserbe als miteinander<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> +kämpfende Gedanken hingestellt, die +keinerlei Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts +haben und sie als eine historische Stammesverschiedenheit +zwischen Patriziern und Plebejern +zu erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, +so richtig ist der ihr zugrunde liegende +Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen +Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen +Rechtsbegriffe auf verschiedenem historischen +Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt +gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler +der historischen Schule”, das „aus dem Gedanken +Abzuleitende” als ein „äußerlich und historisch +Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern +Seite erklärt er es als einen „Grundirrtum”, wenn +andere Rechtsphilosophen von der Auffassung ausgehen, +daß „das römische Intestaterbrecht seinem +Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich +ist es wirklich nichts anderes. Nur daß +die hier in Betracht kommende Familie sich nicht +mit der römischen Familie deckt, sondern den +weiteren Geschlechtsverband umfaßt<a name="FNAnker_14_14" id="FNAnker_14_14"></a><a href="#Fussnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a>.</p> + +<p>Wir können auf den Gegenstand hier nicht +weiter eingehen, man sieht aber aus dem Bisherigen<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> +schon, daß der so kunstvoll ausgeführte +Bau Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente +ruht. So geschlossen und streng folgerichtig +daher die Beweisführung, und so geistreich auch +die Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare +— gerade das, was er mit dem ganzen +Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, +hat er nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee +ist nicht die Grundlage, sondern die ideologische +Umkleidung des römischen Testaments, +sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. +Dieser bleibt bestehen, auch wenn der religiöse +Hintergrund verschwindet. Und gerade in den +vielen Formen und Formalitäten, von denen die +Römer die Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig +machten, liegt unseres Erachtens ein +weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie +Lassalle meint, die frühere, sondern umgekehrt +die spätere Einrichtung gewesen ist und wahrscheinlich +— wie auch bei den Deutschen, nachdem +diese das römische Recht bereits angenommen +hatten, — lange Zeit die Ausnahme bildete, +während das Intestaterbe noch die Regel war.</p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span></p> +<p>Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die +Lassalle aus seiner Theorie zieht, daß das Testament +nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee — +der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem +Tode — zu begreifen sei, daß es mit dieser „begrifflich” +stehe und falle? Daß das moderne +Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit +der christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, +der Unsterblichkeit des nicht mehr +auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in +sich zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, +nichts als ein großes Mißverständnis, eine „kompakte +theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies führt +uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu +dem der zweite, trotz seiner Abgeschlossenheit, +eben doch nur eine Art Anhang ist.</p> + +<p>Der erste Teil des „Systems der erworbenen +Rechte” führt den Untertitel „Die Theorie der +erworbenen Rechte und der Kollision der Gesetze”. +Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen +Grundsatz zu ermitteln, der ein für +allemal die Grenze anzeigen soll, unter welchen +Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende +Kraft haben dürfen, ohne gegen die Rechtsidee +selbst zu verstoßen. Mit anderen Worten, wann +da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz +oder Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das +erstere und wann das letztere entscheiden, wann +ein Recht wirklich als „erworbenes” zu respektieren, +wann es ohne weiteres der Rückwirkung +unterworfen sein soll.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p> + +<p>Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich +der oben gerügte Fehler der Lassalleschen Untersuchungsmethode +weniger geltend, während alle +ihre Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen +Denkens, das Verständnis — innerhalb der bezeichneten +Grenzen — für das geschichtliche +Moment, verbunden mit revolutionärer Kühnheit +in der Verfolgung eines Gedankens bis in seine +letzten Konsequenzen — zu ihrer vollen Entfaltung +gelangen. So ist das Resultat denn auch +ein viel befriedigenderes, als bei der Untersuchung +über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie +hoch oder gering man immer die Erörterung +solcher rechtsphilosophischen Fragen veranschlagen +mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß +Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise +löst, daß sowohl der Jurist wie der Revolutionär +dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist +gewiß eine respektable Leistung.</p> + +<p>Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als +Normen auf:</p> + +<p>a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein +Individuum nur durch die Vermittelung seiner +Willensaktionen trifft.”</p> + +<p>b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches +das Individuum ohne Dazwischenschiebung eines +solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das Individuum +also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, +allgemein menschlichen oder natürlichen oder +von der Gesellschaft ihm übertragenen Qualitäten +trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span> +selbst in ihren organischen Institutionen +ändert.”</p> + +<p>Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen +oder staatsbürgerlichen Befugnisse der Angehörigen +des Landes ändert, tritt sofort in Kraft, läßt +aber die Handlungen, welche die Individuen auf +Grund der vorher ihnen zustehenden Befugnisse +getroffen haben, unberührt, auch wenn diese Befugnisse +selbst durch es aufgehoben werden. Wenn +heute ein Gesetz das zur Volljährigkeit erforderliche +Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht, +so verlieren alle Personen über 21 und unter +25 Jahren sofort die an die Volljährigkeit geknüpfte +Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen, +denn sie besaßen sie nicht durch individuellen +Willensakt. Aber auf die Rechtsgeschäfte, +die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die +ihnen bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen +hatten, wirkt das neue Gesetz nicht zurück. +Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch +individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte +Recht ist ein erworbenes Recht.</p> + +<p>Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung +erworbene Recht ist nicht unter allen +Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das +Individuum kann sich und andern nur insoweit +und auf so lange Rechte sichern, insoweit und +solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen +Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” +Jedem Vertrage sei „von Anfang an die stillschweigende +Klausel hinzuzudenken, als solle das<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span> +in demselben für sich oder andere stipulierte Recht +nur auf so lange Zeit Geltung haben, solange die +Gesetzgebung ein solches Recht überhaupt als zulässig +betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des +Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame +Bewußtsein des ganzen Volks, der allgemeine +Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts könne sich +daher das Individuum „niemals der Einwirkung des +allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen. +Nur ein solches Individuum würde diese Einwirkung +wirklich von sich abhalten können, welches, +wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein +Recht weder erwerben noch ausüben und haben +wollte.” „Es läßt sich vom Individuum kein +Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich +mittelst desselben für selbstherrlich für alle +Zeiten und gegen alle künftigen zwingenden und +prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres +als „diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” +liege in der Forderung, daß „ein erworbenes +Recht auch für solche Zeiten fortdauern +soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit +ausschließen”. Wenn also „der öffentliche Geist +in seiner Fortentwicklung dazu gelangt ist, den +Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft, +Hörigkeit, Robotten, Bann- und +Zwanggerechtigkeiten, Dienste und Abgaben bestimmter +Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, +fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab +auszuschließen”, so könne dabei „von irgendwelcher +Kränkung erworbener Rechte ... gar<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span> +nicht die Rede sein”. So seien denn auch die +Dekrete der berühmten Nacht vom 4. August 1789, +durch welche die französische konstituierende +Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft +herfließenden Rechte aufhob, von „jeder +Rechtsverletzung und Rückwirkung” frei gewesen. +Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein Recht +der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, +auch da noch anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen +Rechts vom öffentlichen Bewußtsein +bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt +ist, heiße „vermöge der Kraft der Logik gar +nichts Geringeres, als Klassen oder Individuen +das Recht zusprechen, dem öffentlichen Geiste +einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”. +Von einer Entschädigung könne nur +da die Rede sein, wo nicht das Rechtsverhältnis +selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung +aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte +Klasse von Rechtsobjekten, sondern nur +einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre des +Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt +werden. Diesen Grundsatz haben, weist +er nach, die französischen Versammlungen nach +1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des +Begriffs” innegehalten. Dagegen sei beispielsweise +das preußische Gesetz vom 2. März 1850 +über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen +und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe +von Bestimmungen nichts als eine widerrechtlich +und wider das eigne Rechtsbewußtsein verordnete<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> +Vermögensverletzung der ärmsten Klassen +zugunsten der adeligen Grundbesitzer, d. h. +„logisch-konsequent” nichts als „ein Raub”<a name="FNAnker_15_15" id="FNAnker_15_15"></a><a href="#Fussnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a>.</p> + +<p>Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, +der geschrieben hatte, keine Zeit sei berufen, +Gericht zu halten über die Vergangenheit und die +aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem +Urteil über die Angemessenheit, anzuerkennen oder +zu vernichten, — erwidert Lassalle, der Vordersatz +sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr +falsch. Was aus dem ersteren folge, sei vielmehr, +daß jede Zeit autonom sei, keine Zeit unter der +Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine +„rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst +noch fortwirken zu lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein +widerspricht, und von ihr also von<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span> +jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt +des Rechts, angeschaut würde”. Es sei aber +durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er +weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, +seinen neuen Willen, in Worten — durch +den Mund der Volksvertretung etwa — ausgedrückt +habe. „Denn zum Begriff des Rechts +gehört nur, daß der Volksgeist einen geistigen +Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre, +d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies +kann aber unter Umständen nicht weniger bestimmt +und energisch als durch Worte durch tatsächliche +Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, +den ein Volk vornimmt.” Diesen Grundsatz +finde man schon bei den römischen Juristen, +und die französische Gesetzgebung während und<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span> +nach der französischen Revolution habe ihn von +neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem +Konvent recht gegeben, die Geschichtsschreibung, +auch die reaktionäre, es ratifizieren müssen, wenn +er die französische Revolution in ihren rechtlichen +Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des +Bastillesturms, datierte. Und wieder exemplifiziert +Lassalle auf analoge Vorgänge in Preußen und +weist nach, wie im Gegensatz zur französischen +Jurisprudenz das preußische Obertribunal sich in +mehreren Erkenntnissen über das durch die Märzrevolution +von 1848 geschaffene und in der +preußischen Verfassung (selbst der oktroyierten) +ausdrücklich anerkannte neue Rechtsbewußtsein, +daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind +und Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch +Wortkünste hinweggesetzt, Standesvorrechte wiederhergestellt, +kurz, sich als ein wahrer „Reaktionskonvent” +betätigt habe. Vier Jahre, nachdem +das „System” erschienen, bewies das genannte +Tribunal in der famosen Interpretation des +Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den +„liberalen Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, +ihm von Lassalle verliehenen Titel Anspruch hatte.</p> + +<p>Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen +erstens durch individuelle Willensaktion vermittelt +und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem +erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. +Das ist in kurzem die Theorie der erworbenen +Rechte. Wenn also der französische Konvent im +Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span> +1794) bestimmte, daß die Vorschriften dieses +Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. Erbschaften +aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung +finden sollten, die seit dem 14. Juli 1789 eröffnet +worden, so verstieß er damit nach Lassalle durchaus +nicht gegen den Grundsatz der erworbenen +Rechte. Im Gegenteil durfte er mit vollem Recht +am 22. Ventose desselben Jahres in Beantwortung +mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das +Gesetz „nur die seit jenem Tage — eben dem +14. Juli 1789 — von einem großen Volke, das +seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien +entwickelt” habe, aber das Prinzip der +Nichtrückwirkung nicht einmal „auch nur in Frage +stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann +eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. +das Gesetz auch auf die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten +Erbschaften ausdehnte.</p> + +<p>Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage +des Erbrechts zurückzukehren, worauf Lassalle +mit seinen Untersuchungen über römisches und +germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, +auf Testamente und Intestaterbfolge nicht der +Familie, sondern der „Reihen, in welche die +Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende +Erbrecht war danach in Rom „erworbenes Recht”, +denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der +„Substanz” des römischen Volkes, nämlich der +Idee der Unsterblichkeit des Willenssubjekts. +Ebenso war das altgermanische Erbrecht — +Intestatrecht der Familie — erworbenes Recht,<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> +denn es entsprach einer Idee des altgermanischen +Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität der +Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen +Grundlage die sich empfindende Einheit +des Geistes oder die Liebe hat”. Die Familie +erbt, weil das Eigentum überhaupt nur Familieneigentum +ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe +aber, nachdem das Eigentum rein individuelles +Eigentum geworden, „nicht mehr auf der Familie +als aus eigenem Recht erbender, auch nicht +auf der Familie als durch den präsumierten +Willen des Toten berufen, sondern auf der Familie +als Staatsinstitution”, auf dem „die Vermögenshinterlassenschaften +regelnden allgemeinen +Willen des Staates”. Und das letztere sei auch +der Fall mit dem Testamentrecht, von dem wir +jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine +kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder +Intestaterbfolge noch Testamentrecht sind heute +Naturrechte, sondern „Regelung der Hinterlassenschaft +von Sozietäts wegen”. Und Lassalle schließt +sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, +trotzdem er das Testament nicht in seinem vollen +Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen +habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent +momenti, nisi anima esset immortalis” — „Testamente +aber wären mit vollem Recht durchaus null +und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.”</p> + +<p>Braucht es hiernach noch einer besonderen +Erklärung, was Lassalle meint, wenn er, gegen +Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend,<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span> +in den Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht +bald zeigen, daß sich aus unseren objektiven +Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere +Folgerungen über das moderne Testamentsrecht +von selbst ergeben?” Was auf keinem +Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution +ist, können der Staat oder die Sozietät auch jederzeit +ändern, einschränken oder ganz aufheben, +wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint. +Wenn daher G. Brandes und andere nach +ihm im ganzen System der erworbenen Rechte +„nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf +eine Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie +in die Praxis hinweise, so kann man ihnen +aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, +das ganze Werk ist es, das — wie Lassalle sich +ausdrücken würde — nach dieser Umsetzung +schreit.</p> + +<p>Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, +wenn er die Vorrede mit den Worten beginnt, +daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe +wahrhaft gelöst haben soll, es in seinem letzten +Resultate nichts Geringeres sein könne und dürfe, +als „die rechtswissenschaftliche Herausringung +des unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden +politisch-sozialen Gedankens”?</p> + +<p>Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst?</p> + +<p>Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, +so scheint die ihr zugrunde liegende Auffassung +heut so ziemlich allgemein anerkannt zu +sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span> +abgesehen, die Darlegung, daß im allgemeinen +„der kulturhistorische Gang aller Rechtsgeschichte” +darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre +des Privatindividuums zu beschränken, +immer mehr Objekte außerhalb des Privateigentums +zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo +er dies in sehr feiner Entwicklung ausführt, mit +Recht den größten Wert. Sie ist ein ganzes geschichtsphilosophisches +Programm, ein Meisterwerk +begriffsscharfer Logik.</p> + +<p>Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung +der Theorie, wenn sein Beispiel vom +Wesen des römischen und germanischen Erbrechts +maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der +Schwäche dieses Vergleichs bereits oben gekennzeichnet +und brauchen daher hier nur zu rekapitulieren. +Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen +Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer +Zusammenhang zwischen Erbsystem und +Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist +dieser Zusammenhang doch nicht der von letzter +Ursache und Wirkung. Erbsystem und Volksgeist +stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben +tieferliegenden Ursache oder Gruppe von +Ursachen an. Beide sind in letzter Instanz das +Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen +Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen +aus diesen heraus und ändern sich mit ihnen, d. h. +das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den +materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich +wird. Dann entdeckt der „Volksgeist”,<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span> +daß dieses Erbrecht seinem Rechtsbewußtsein +nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen +Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint +nur als die letzte Instanz, die über ihren Bestand +entscheidet, tatsächlich ist er so etwas wie Gerichtsvollzieher, +die wirklich bestimmende Instanz +sind die materiellen Lebensbedingungen des +Volkes, die Art, wie, und die Verhältnisse, unter +denen es die Gegenstände seines Bedarfs produziert<a name="FNAnker_16_16" id="FNAnker_16_16"></a><a href="#Fussnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a>.</p> + +<p>Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, +die Irrtümer der alten Juristen und +Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? +Der Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner +Konsequenz, aber zum desto größeren Schaden +für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende +in der Sphäre des juristischen und philosophischen +„Begriffs” bleibt. Aus der „begrifflichen” Ableitung +sollen sich die Dinge erklären, die „begriffliche” +Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung +bloßlegen. Die Dinge aber richten sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span> +nach den Begriffen, sie haben ihre eigenen Entwicklungsgesetze.</p> + +<p>Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger +Jurist. Er brachte von Hause aus außergewöhnliche +Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf +mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte +diese Eigenschaft noch stärker in ihm entwickelt. +Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen Rechtsgrundsatz +bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs +zu verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, +da leistet er wahrhaft Glänzendes. Aber seine +starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche. Die +juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so +sieht er auch die sozialen Probleme vorwiegend +mit den Augen des Juristen an. Das zeigt sich +schon hier im „System der erworbenen Rechte”, +es bildet die Schwäche dieses Werkes, es sollte +sich aber auch später in seiner sozialistischen Agitation +zeigen.</p> + +<p>Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich +eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie +sein. Es kritisiert sie aber nur in Nebenpunkten, +macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt +dagegen in der Hauptsache auf demselben Standpunkt +stehen, wie diese. Das ist um so merkwürdiger, +als der Schritt, der geschehen mußte, +um die Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt +treffenden zu gestalten, längst angegeben war, und +zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte. +1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen +Jahrbüchern in einem Aufsatz, der obendrein den<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> +Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie”, +auf ihn hingewiesen, 1846 in der +Schrift „La misère de la philosophie” ihn deutlich +vorgezeichnet, 1847 hatten Marx und Engels +im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner +Anwendung geliefert, und endlich hatte Karl +Marx in der Vorrede zu seiner 1859 erschienenen +Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” +unter ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten +Aufsatz, geschrieben: „Meine Untersuchung” +— zu der jener Aufsatz nur die Einleitung bildete — „mündete +in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse +wie Staatsformen weder aus sich selbst +zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen +Entwicklung des menschlichen Geistes, +sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen +wurzeln ... Es ist nicht das Bewußtsein +der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt +ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” +Und obgleich Lassalle dieses Buch schon +kannte, als er noch am „System” arbeitete, obwohl +er sich Marx gegenüber in den begeistertesten +Ausdrücken über es äußerte<a name="FNAnker_17_17" id="FNAnker_17_17"></a><a href="#Fussnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a>, findet sich in +seinem Werk auch nicht eine Zeile, die im Sinne +des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein +Vorwurf gegen Lassalle ausgesprochen werden? +Das wäre im höchsten Grade abgeschmackt. Wir +führen es an zur Kritik seines Standpunktes, seiner<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> +Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch +die ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch +in der brieflichen Auseinandersetzung mit Marx +über die im „System der erworbenen Rechte” aufgestellten +Theorien des Erbrechts.</p> + +<p>Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß +sich Marx sofort gegen diese auflehnen mußte, +denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt +im direkten Widerspruch. Was er Lassalle +entgegenhielt, ist aus dessen Briefen nur unvollkommen +zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen +hervor, daß die, übrigens nicht lange, brieflich +geführte Debatte sich im wesentlichen um die +Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament +nur aus der römischen Mythologie, der römischen +Unsterblichkeitsidee, zu begreifen sei, und +daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals +für sich allein das Testament habe entwickeln +können, wenn sie es nicht schon im römischen +Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz charakteristisch +zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die +sich auf die ökonomische Entwicklung beziehen, +Lassalle schließlich immer wieder mit juristisch-ideologischen +Wendungen antwortet. Die grundsätzliche +Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte +beider Denker kommt in dieser +Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen +können, zum sprechendsten Ausdruck.</p> + +<p>Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz +des falschen geschichtstheoretischen Standpunktes +bleibt das „System der erworbenen Rechte” eine<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> +sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen, +der Lassalles theoretischen Standpunkt +nicht teilt, höchst anregende und genußreiche +Lektüre.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Der_preussische_Verfassungskonflikt" id="Der_preussische_Verfassungskonflikt">Der preußische Verfassungskonflikt, +die Verfassungsreden +und das Arbeiterprogramm.</a></h2> + + +<p>Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 +sehr stark mit der Idee, in Berlin ein demokratisches +Blatt im großen Stil zu gründen. Wie er +über die liberale Presse dachte, haben wir oben +gesehen, und ebenso, wie er danach dürstete, +unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in +Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben +Friedrich Wilhelms IV. eine allgemeine +Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle +daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels +in diesem Falle geneigt wären, nach Deutschland +zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches +Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten +Brief”, schreibt er unterm 11. März an Marx, +„fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König +stürbe und Amnestie einträte, zurückkommen +würdet, hier ein Blatt herauszugeben? Antworte +doch darauf. Ich trage mich nämlich für diesen +Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden +Hoffnung, dann mit Euch (hier in +Berlin) ein großes Blatt herauszugeben. Würdet +Ihr also in solchem Falle geneigt sein, herzukommen?<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span> +Und wieviel Kapital wäre zu einem großen +Blatte erforderlich? Würde es hinreichen, wenn +man etwa 10000 Taler dazu aufbringen könnte? +Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir +darüber schriebst, denn ich denke gern an dies +château en Espagne!” In den folgenden Briefen +kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und am +19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen +in der Tat eine Amnestie herbeigeführt hatte, +schreibt er dringender: „Noch einmal stelle ich +Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um +hier ein Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen +Redakteuren der „Neuen Rheinischen +Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher +zurückkehren?”</p> + +<p>Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte +und ihn im Frühjahr 1861 in Berlin besuchte, zerschlug +sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die +ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der +Redaktion eine Stimme haben und Marx und +Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei +er ja „stets in der Minorität”! Dann aber legte +die preußische Regierung die Amnestie so aus, +daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch +mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer +Zugehörigkeit zum preußischen Staatsverband verlustig +gegangen seien, sie keineswegs ohne weiteres +wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden +Anträge genau so behandelt werden sollten, +wie die Naturalisationsgesuche von Ausländern +überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span> +Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben +der Regierung abhängen sollte, jeden davon wieder +„abschieben” zu können, dessen Rückkehr ihr +„unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx +eingereichtes Naturalisationsgesuch wurde denn +auch richtig in allen Instanzen abgelehnt, da, wie +es in einem vom 11. November 1861 datierten +Bescheid des — liberalen — Ministers Schwerin +an Lassalle hieß, „zur Zeit wenigstens durchaus +keine besonderen Gründe vorhanden sind, welche +für die Erteilung der Naturalisation an den +p. Marx sprechen könnten”. Damit war natürlich +jeder Gedanke an eine Übersiedelung von Marx +nach Berlin ausgeschlossen.</p> + +<p>Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen +mit der Gräfin Hatzfeldt eine Reise nach +Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr instruktiv” +für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei +Garibaldi auf Caprera sei sehr interessant gewesen, +auch habe er „fast alle leitenden Persönlichkeiten” +in den verschiedenen Städten, die er +besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker +in seiner Schrift „Enthüllungen über das tragische +Lebensende Ferdinand Lassalles” zuerst bekannt +gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief +an Fr. Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, +hat Lassalle bei jenem Besuch Garibaldi zu einem +militärischen Unternehmen in großem Stil gegen +Österreich zu überreden gesucht und den Plan +dann in London auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi +sollte sich danach in Neapel zum Diktator<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span> +aufwerfen, eine große Armee bilden und mit +dieser über Padua noch weiter vordringen, während +zugleich ein an die adriatische Küste geworfenes +detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken +und die Ungarn insurgieren sollte. Ein +Plan, der namentlich deshalb interessant ist, weil +er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener Zeit +die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, +die unter anderm die erstrebte Lösung der +deutschen Frage bringen sollte. Zu erwähnen ist +noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach +Italien einen Empfehlungsbrief an den deutschen +Sozialisten und Freischärler Johann Philipp Becker +gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne auf +Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über +Becker Lassalle jedoch bewogen, jenem aus dem +Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn gar +nicht” — schreibt er über Becker an Marx zu +seiner „Information” — „die, die ihn kennen, +halten ihn für einen Blagueur und Bummelfritz, +für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, +der eine entschieden napoleonische Kreatur ist, +und dem er auf der Tasche liegt.” Infolgedessen +habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' Empfehlungsbrief +keinen Gebrauch zu machen. „Du +weißt, wie oft wir in die Lage kommen, im Ausland +uns vor nichts mehr zu hüten als vor unseren +Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp +war doch jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene +Großsprecher, sondern hatte wiederholt +für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span> +auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es +Lassalle also schon ankommen lassen können. Als +er später den „Allgemeinen deutschen Arbeiter-Verein” +ins Leben rief, wußte er auch Beckers +Adresse zu finden<a name="FNAnker_18_18" id="FNAnker_18_18"></a><a href="#Fussnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> und stellte diesem gegenüber, +der auf irgendeine Weise erfahren hatte, welche +Redereien über ihn im Umlauf seien, die Sache +so dar, als habe Marx aus einer Mücke einen +Elefanten gemacht und einer harmlosen gelegentlichen +Äußerung über Beckers Verkehr mit Türr +eine so schlimme Deutung gegeben.</p> + +<p>Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin +zurück. Er fand die politische Situation wesentlich +verändert vor. Der Gegensatz zwischen dem +König von Preußen und dem liberalen Bürgertum +hatte sich zum offenen Konflikt verschärft; bei +den Neuwahlen zur Kammer Anfang Dezember +1861 war die schwachmütige konstitutionelle Partei +durch die, eine etwas schärfere Tonart anschlagende +Fortschrittspartei verdrängt worden. +Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres +aus der bis dahin eine kleine Minderheit in der +Kammer ausmachenden Fraktion „Jung-Litauen” +entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber +die Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene +Partei. Sie bestand aus den verschiedenartigsten<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> +Elementen, liberalisierende Großbourgeois +saßen in ihr neben kleinbürgerlichen Demokraten, +ehemalige Republikaner mit verschwommenen +sozialistischen Tendenzen neben Männern, die beinahe +noch königlicher waren als der König selbst. +In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es +Wilhelm I. eben mit allen verdorben; nur die +Partei der Junker und Mucker und die eigentliche +Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. +Die Fortschrittspartei verfügte über die +große Mehrheit der Kammer und über fast die +ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, +die das innere Wesen dieser Partei durchschauten +und zu radikale Ansichten hegten, um sich ihr +anschließen zu können, hielten es für gut, ihr zunächst +nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, +wie sie ihren Kampf mit der preußischen Regierung +zu Ende führen werde.</p> + +<p>Lassalle war mit denjenigen Männern, die den +Mittelpunkt der Fortschrittspartei in Berlin bildeten, +schon seit einiger Zeit zerfallen. Anfangs +1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem +Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische +Berliner „Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, +sie ein Blatt genannt, das, „wenn auch +häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, +und mit viel weniger Konsequenz, als es sich trotz +der Preßfesseln zur Pflicht machen sollte, doch +immerhin den demokratischen Standpunkt im allgemeinen +durch alle die Jahre hindurch verteidigt +hat und weiter verteidigt”, und hatte jede andere<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> +Politik, als die 1848 von der „Neuen Rheinischen +Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären” +Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso +theoretisch falsch wie praktisch verderblich” erklärt. +„Wir müssen”, schrieb er, „in bezug auf +die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen +Nüancen ebensosehr die Identität, +als den Unterschied unsres sozial-revolutionären +Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den +Unterschied herauskehren — wird Zeit sein, wenn +sie gesiegt haben.” Sollte die Partei in London +dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt haben, +alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien +den reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre +ich entschieden, daß ich diese Wandlung nicht +mitmachen, sie vielmehr überall à outrance bekämpfen +werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 +teilt er jedoch Marx mit, daß er die Weigerung +der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung von +ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als +Anlaß benutzt habe, um mit ihrem Herausgeber, +Franz Duncker, zu brechen. „Umgang meine ich, +denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze +den Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte +Gelegenheit noch mehr als ein Grund. +Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß +ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem +mattherzigen Gesindel gar kein Verhältnis möglich, +und so werde ich denn dies benutzen, um +alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine +natürliche Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.”<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span> +In der vom 27. März 1861 datierten +Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” +finden wir denn auch schon einen an jener Stelle +sogar ziemlich unvermittelten Angriff auf die +„Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den +Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung +und Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” +fassen, die sie zwingt, „sich an bloße +Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten +und für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle +doch mit andern Fortschrittlern und Nationalvereinlern +in Verkehr, und in Berlin selbst hatte +der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß +politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles +Umgang bildeten. Abgesehen von einigen wirklichen +Gelehrten, durften ganz gewöhnliche Salonlöwen, +wie der Baron Korff, Meyerbeers +Schwiegersohn, oder radikaltuende Künstler, wie +Hans von Bülow usw., sich der intimen Freundschaft +Lassalles rühmen<a name="FNAnker_19_19" id="FNAnker_19_19"></a><a href="#Fussnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a>. In der Rechtfertigungsschrift +der Frau Helene von Racowitza wird +von der Schreiberin, zwar unabsichtlich aber desto +eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum Teil<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> +ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in +der sich Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft +machte (Anfang 1862). Vom Rechtsanwalt +Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft +zwischen Helene und Lassalle stattfand, +und dessen „reizende blondlockige Frau” +jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde +ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst +wenige Monate darauf — am 9. Juni 1862 — an +Marx: „Beiläufig, mit dem ganz gemeinen Hecht +Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und +fügt recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, +daß seine Frau die Veranlassung davon bildet.”</p> + +<p>Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles +mit Lothar Bucher, der nach Erlaß der +Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war +und sich in Berlin niedergelassen hatte. Bucher +war freilich kein Hecht, sondern gehörte einer +zahmeren zoologischen Gruppe an.</p> + +<p>Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus +jener Zeit bestätigen, daß dieser aus Italien mit +ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war, +die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> +anknüpften. Einer der interessantesten +davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. Januar +1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht +ging und den Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 +an W. Rüstow schrieb, „in langen, mit +rasender geistiger Anstrengung verbundenen +Unterredungen” für seine Ideen zu gewinnen versucht +hatte, nimmt in jenem Brief auf eine am +Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle +Bezug und führt aus, daß er es zwar für möglich +halte, die bestehende Ordnung — „oder Unordnung” +— der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, +aber noch nicht, sie niederzuhalten; mit andern +Worten, daß die Zeit für eine sozialistische Revolution +noch nicht reif sei. „Bedenken Sie dazu +noch eins: daß jede sozialistische Bewegung in +Frankreich auf lange Zeit hinaus mit dem Kot +und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei +uns eine Menge gesunder und reiner Elemente +gegen eine ähnliche Bewegung wachrufen würde.” +Auf die Frage, was denn also geschehen solle, +habe er nur „die lahme Antwort Machiavellis”: +Politik ist die Wahl unter Übeln. „Ein Sieg des +Militärs” — d. h. der preußischen Regierung!! — +wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen +Österreich wäre kein Sieg des reaktionären Prinzips”. +Dafür stelle er Lassalle als Zeugen die +„Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand +gegen Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen +nur den Schluß zu, daß Lassalle eine Revolution +erzwingen zu können glaubte und im Hinblick<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span> +hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen +hatte. Damit war der obenerwähnte Versuch, +Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu +gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, +wie Lassalle, der für gewöhnlich in politischen +Dingen ein sehr nüchterner Rechner war, zu einem +so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er +von französischen, ungarischen oder italienischen +Revolutionären angeregt worden war, die Lassalle +auf seiner Reise nach und durch Italien kennengelernt, +muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm +Rüstow um ihn wußte und, wie Lassalle Marx +erzählte, ihn gebilligt habe, mag er auch auf Anregungen +dieses etwas phantasiereichen Militärs +zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, +daß er Lassalles eignem Kopf entsprungen war, +so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles übereinstimmte.</p> + +<p>Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß +zu einer Revolution in Deutschland vor allem noch +die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes war +die Situation doch zu bewegt, um die zu einer +Rückkehr zum Studiertisch nötige Ruhe in ihm +aufkommen zu lassen. Statt alsbald an die große +national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich +vorgenommen, verschob er sie immer wieder, um +sich den Fragen des Tages zu widmen, was bei +dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen +Leben übrigens nur durchaus erklärlich war.</p> + +<p>Die erste Leistung, mit der er zunächst an die +Öffentlichkeit trat, war das gemeinsam mit Bucher<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span> +verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der Literarhistoriker”. +Obwohl die Schrift formell Kritik +einer von Schmidt zusammengeschriebenen „Geschichte +der deutschen Literatur” ist, zeigt das +Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt +getroffen werden sollte. Und auch die +liberale Partei. Da Schmidt deren Programm mitunterschrieben +hatte und eifrig verfocht, sollte +„Julian der Grabowite” füglich der Ausdruck +werden können, „welcher den geistigen Höhepunkt +dieser Partei kennzeichnet”. Eine etwas übertriebene +Logik, wie es überhaupt in der Schrift +an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war der +Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da +gerade in jenen Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus +aufgelöst und Wilhelm I. ein Reskript +gegen die fortschrittlich-liberale Presse +erlassen hatte. War nun auch die Fraktion +Grabow — die altliberale Partei — nicht mit der +Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein +gutes Teil mehr als diese zu Kompromissen geneigt, +so machte sie doch in der Verfassungsfrage +gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie +in einem Augenblick traf, wo sie zufällig sich +besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war +die Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, +die scharfe Geißelung der bei ihm oft +in „gespreizter Bildungssprache” sich wichtig +machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt. +Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe +die größten Denker und Dichter Deutschlands<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span> +gegen die oft fälschende und tendenziös-gehässige +Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das +Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, +während Lothar Bucher als „das Setzerweib” +vorgeführt wird.</p> + +<p>Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, +in einem Berliner liberalen Bezirksverein +einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte +Gelegenheit — da es ihm in der Presse nicht möglich +war —, den Führern der Fortschrittspartei +vor ihren eignen Leuten mündlich gegenüberzutreten. +Als Thema wählte er die Frage des +Tages: den ausgebrochenen Verfassungskonflikt. +Aber mit geschickter Berechnung hielt er sich +in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen” +betitelte, noch absolut auf dem Boden +akademischer Darlegung. Er entwickelt seinen +prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm +ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen +sind Machtfragen, eine Verfassung +hat nur dann und so lange gesicherten Bestand, +als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse +ist; ein Volk besitzt nur dann in der Verfassung +einen Schutz gegen Willkür der Regierenden, +wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen +Fall auch ohne die Verfassung sich gegen +sie zu schützen. Es sei daher der größte Fehler +gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen +Machtfaktoren zu ändern und vor allen Dingen das +Heer aus einem königlichen in ein Volksheer zu +verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> +Verfassung so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution +Kraft genug geschöpft hatte, die Nationalversammlung +auseinanderzujagen. Wenn das +Volk wieder einmal in die Lage komme, eine Verfassung +zu machen, möge man diese Erfahrung +daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten +Heeresvorlagen seien ebenfalls aus +diesem Gesichtspunkt zu beurteilen — d. h. als +dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen +Verhältnisse weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. +„Das Fürstentum, meine Herren,” +heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht +Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen +zu wünschen wären.”</p> + +<p>Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, +ist unbestreitbar richtig. Auch die meisten +Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie +trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so +taten sie dies, weil die Übersetzung des ersteren +in die Praxis einfach die Revolution hieß, die +Partei aber — ein Teil der Führer überhaupt +nur, der andere jedenfalls zunächst — den Kampf +auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte. +Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener +Gegner der Revolution zu sein, als +wie Lassalle die Fortschrittler — und im großen +und ganzen auch durchaus mit Recht — damals +hinstellte, um den Zeitpunkt für eine solche als +noch nicht gekommen zu erachten. Auch Lassalles +Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, +trotz der vielen Gründe, die er hatte, die bestehende<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span> +Ordnung der Dinge zu hassen, dieser +Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot +jedoch die Fiktion, daß man für die bestehende Verfassung +gegen die Regierung, die diese verletzte, +für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine +viel günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere +Position, als die offene Proklamierung des Kampfes +um die Macht selbst. Die materiellen Machtmittel +hatte die Regierung in der Hand, darum +wollte man sich wenigstens alle moralischen sichern.</p> + +<p>Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt +hatte, was nicht jeder Fortschrittler — ja, +jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben +konnte, war er daher doch den Führern der +Fortschrittspartei höchst unangenehm, während die +Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände +rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, +das Organ der Junker und Mucker. +Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, +wenn der Konflikt ins Herz des Feindes getragen +wurde, lag ihr auch deshalb daran, die Verfassungsfrage +als eine reine Machtfrage zwischen +Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, +weil dadurch ihre Position als einzig zuverlässige +Stütze des Thrones eine um so befestigtere wurde. +Man muß nicht vergessen, daß die „Neue Ära” +Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, +den Thron der Hohenzollern von der allzu +lästig gewordenen Vormundschaft der ostelbischen +Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. +Gegenüber dem Programm, wie es Lassalle formulierte,<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span> +mußte diese dagegen dem König als das +unbedingt kleinere Übel erscheinen.</p> + +<p>Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei +weiteren fortschrittlichen Versammlungen gehalten +hat — ein Beweis, daß die fortschrittliche +Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand — +„auf mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. +Inzwischen hatten die Neuwahlen zum Landtage +einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über +die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten +Blicks, wie sich unter diesen Verhältnissen +der Konflikt zwischen den beiden weiter entwickeln +werde.</p> + +<p>Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in +Berlin — im Handwerkerverein der Oranienburger +Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel Berlins — +noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel +gab: „Über den besonderen Zusammenhang der +Idee des Arbeiterstandes mit der gegenwärtigen +Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte +er vorher sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, +wenngleich in Einzelheiten nicht einwandfrei — +schon der Titel fordert zur Kritik heraus — unzweifelhaft +eine der besten, wenn nicht die beste +der Lassalleschen Reden. Eine ebenso klare wie +schöne Sprache, gedrungene, flüssige, nirgends +überladene und doch nie trockene Darstellung, von +Satz zu Satz fortschreitende systematische Entwicklung +des Grundgedankens, sind ihre formellen +Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach — wie +gesagt, mit einigen Einschränkungen — eine vortreffliche<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> +Einleitung in die Gedankenwelt des +Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem +Werte nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und +den Umständen, unter denen sie gehalten wurde, +angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen +Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache +an der Hand konkreter Beispiele aus, was +im historischen Teil des Manifestes in großen +Zügen bereits vorgezeichnet ist.</p> + +<p>Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie +und die juristische Auffassungsweise in die +Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch +auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen +gleichfalls geschieht, die Betonung +der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der +Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter +vermöge ihrer Klassenlage in der modernen +bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche revolutionäre +Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen +ist, die Gesellschaft auf eine neue Grundlage +zu stellen — die Grundidee des kommunistischen +Manifestes — ist auch der leitende Gedanke +des „Arbeiterprogramms”, unter welchem +Namen der Vortrag später in Druck erschienen +ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort +wieder in juristische Begriffe kristallisiert und +mit ideologischen Vorstellungen verquickt wird. +Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage +selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte +man darin eine bloße Konzession an den Sprachgebrauch +erblicken, an der nur Pedanterie Anstoß<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> +nehmen möchte. Indes es muß Lassalle zu +seinem Lobe nachgesagt werden, daß er in der +Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig +zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen +nach einer populären Redewendung, die ihn vom +„Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand” +sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich +juristischen Vorstellungen. Es ist derselbe +Rückfall, der ihn den Begriff des Bourgeois nicht +etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten +läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge +seiner ökonomischen Wirkungen und Kräfte verleiht, +sondern — von den rechtlichen und staatlichen +Privilegien, die der Kapitalist auf Grund +seines Besitzes genießt oder beansprucht. Statt +den fundamentalen Unterschied zwischen dem +modernen Bourgeois und dem mittelalterlichen +Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, verwischt +er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer +nur dann einen Bourgeois sein, wenn +er staatlich und rechtlich die Stellung eines +Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des +„Arbeiterprogramm”.) Und, wie immer, konsequent +selbst in seinem Irrtum, stellt er als bezeichnendes +Merkmal — d. h. nicht als ein, sondern +als <em class="gesperrt">das</em> Merkmal der Bourgeoisie-Gesellschaft +— das Klassen- oder Zensuswahlsystem +hin. Das preußische Dreiklassenwahlsystem, +eingeführt von der feudalistisch-absolutistischen +Reaktion gegen die bürgerliche Revolution des +Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> +des modernen Bourgeoisiestaates. Das +hat allenfalls einen Sinn, wenn man den Begriff +Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten +beschränkt, aber was wird dann aus +dem „vierten Stand”?</p> + +<p>Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten +Bourgeoisiestaates bezeichnet Lassalle die Ausbildung +des Systems der indirekten Steuern als +Mittel der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht +privilegierten Klassen. Daß jeder privilegierten +Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den +Steuern möglichst zu befreien, kann unbestritten +bleiben. Aber wenn Lassalle den Begriff des +Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten +abhängig macht, dann wird seine Theorie schon +durch die einfache Tatsache umgestoßen, daß +gerade in dem Lande, wo das allgemeine und +direkte Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, +das indirekte Steuersystem am stärksten +ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von +den 97 Millionen Talern, die der preußische Staat +im Jahre 1855 aus Steuern einnahm, nur etwa +13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, +ist übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die +10 Millionen Taler Grundsteuer einfach für eine +indirekte Steuer, da sie nicht von den Grundbesitzern +bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis +abgewälzt werde. Das Abwälzen war +aber keineswegs eine so leichte Sache, solange die +Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die +Zufuhr von außen abgesperrt waren. Die Grundsteuer<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span> +hat vielmehr lange Zeit als eine reine Reallast +auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als +solche von den Grundbesitzern empfunden und +bei Veräußerungen behandelt worden. 9 Millionen +Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als +eine indirekte Steuer bezeichnet werden, da aber +die ärmste Klasse keineswegs die meisten Prozesse +führt, so kann man hier nicht von einer +Steuer zur Entlastung des großen Kapitals +sprechen, wie immer man sonst über die Justizgebühren +denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit +des großen Kapitals ist kein notwendiges +Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. Diese +unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft +dadurch, daß sie nicht an gesetzliche +Statuierung der Klassenunterschiede gebunden ist, +vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung +aller fortbesteht.</p> + +<p>Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung +von Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer +als einen Beleg dafür anführt, daß +„die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen +Privilegiums und Elementes — des Kapitals — +mit noch strengerer Konsequenz durchführe, als +dies der Adel im Mittelalter mit dem Grundbesitz +getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel +waren in Preußen keineswegs Regierungsmittel +der Bourgeoisie, sondern der halb-feudalen +und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte +bloß den Blick nach England zu wenden, wo die +Bourgeoisie zur weitesten Entfaltung gediehen<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span> +war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die +kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems +die Presse, und obendrein in noch viel +höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des +großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig +es natürlich war, gegen diese Mittel der politischen +Repression die Stimme zu erheben, so ist es +wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer +Denkweise, daß, wo er die Wirkung der Herrschaft +der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen +will, er hier ausschließlich formal-rechtliche +Einrichtungen anführt, den Einfluß der ökonomischen +Faktoren dagegen gänzlich ignoriert.</p> + +<p>Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, +dem Staat, der „Staatsidee”, einen Dithyrambus +anzustimmen. Der „vierte Stand” hat „eine ganz +andere, ganz verschiedene Auffassung von dem +sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie”.</p> + +<p>Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle +die Auffassung der liberalen Freihandelsschule +hin, nach welcher die Aufgabe des Staates einzig +darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen +und sein Eigentum zu schützen.</p> + +<p>Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die +Geschichte sei „ein Kampf mit der Natur, mit +dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der +Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller +Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht +am Anfang der Geschichte auftrat. Die +fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit — +das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span> +Geschichte darstellt”. Diese Entwicklung des +Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen, +das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der +Staat sei „die Einheit der Individuen in einem +sittlichen Ganzen”, sein Zweck sei, „durch diese +Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, +solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu +erreichen, die sie als einzelne niemals erreichen +könnten, sie zu befähigen, eine Summe von Bildung, +Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen +sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich +wäre”. Und weiter sei sein Zweck, „das menschliche +Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden +Entwicklung zu bringen, mit anderen +Worten, die menschliche Bestimmung — d. i. die +Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist — +zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei +„die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts +zur Freiheit”. So sehr sei dies „die +wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie +deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der +Dinge selbst von dem Staate, auch ohne seinen +Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen +seiner Leiter, mehr oder weniger ausgeführt +wurde”.</p> + +<p>Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der +Gesellschaft überhaupt haben schon durch die +hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als einzelne +befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben +dies die Bestimmung des Staates sei und sein +müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span> +Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich +diese „sittliche Natur” des Staates „mit höchster +Klarheit und völligem Bewußtsein” zu seiner Aufgabe +machen und „einen Aufschwung des Geistes, +die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, +Wohlsein und Freiheit herbeiführen, wie +sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”.</p> + +<p>So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet +diese Darstellung doch an einem großen Fehler: +Trotz aller Betonung der geschichtlichen Veränderungen +in Staat und Gesellschaft erscheint +der Staat hier seinem Begriff und Wesen nach +als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes, als +habe er von Anfang an einen bestimmten, einen +seiner „Idee” zugrunde liegenden Zweck gehabt, +der zeitweise verkannt, mangelhaft erkannt oder +ignoriert worden sei und dem daher zur vollen +Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff +ist sozusagen ein ewiger. In diesem Sinne +zitiert Lassalle eine Stelle aus einer Festrede von +Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen +die Staatsidee des Liberalismus” an die „antike +Bildung” appelliert, welche „nun einmal die unverlierbare +Grundlage des deutschen Geistes geworden” +sei und von der aus sich die Ansicht +erzeuge, der Begriff des Staates sei dahin zu erweitern, +daß „der Staat die Einrichtung sei, in +welcher die ganze Tugend der Menschheit sich +verwirklichen solle”. So begreiflich und innerhalb +gewisser Grenzen auch durchaus berechtigt +der Protest gegen die sich damals breitmachende<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span> +Theorie des absoluten sozialpolitischen Gehen- +und Geschehenlassens war, so weit schießt Lassalle +hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten +beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden +von denen der Gegenwart, daß die +Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für +die Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa +die Ideen der Alten über die Arbeit, das Geld, +die Familie. Gleich diesen ist die antike Staatsidee +nur Material der vergleichenden Forschung, +aber keineswegs eine auf die Neuzeit übertragbare +Theorie. Wenn nach Boeckh die Staatsidee des +Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” +in sich trug, so die Aufpfropfung der antiken +Staatsidee auf die heutige Gesellschaft die Gefahr +einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt +es auch durchaus nicht, was Lassalle von den +Wirkungen des Staates sagt. Diese sind vielmehr +zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene gewesen. +Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen +worden, ehe ein Staat bestand, und wichtige +Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den +jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; +der Staat hat unzweifelhaft im wesentlichen den +Fortschritt der Menschheit gefördert, aber doch +auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.</p> + +<p>Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, +den Staatsbegriff der Alten unverändert wieder +herstellen zu wollen — auch Boeckh lag ein +solcher Gedanke fern —, aber mit dem schlechtweg +abgeleiteten Staatsbegriff wurde die Sache<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> +nicht besser, sondern schlimmer. Der Kultus des +Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, +und wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer +Gesinnung ein direktes Eintreten für +den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so verhinderte +diese doch nicht, daß jener Kultus später +von den Anwälten des bestehenden Staates weidlich +zu dessen Gunsten ausgebeutet wurde. Das +ist überhaupt die Achillesferse aller auf abgeleitete +Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär +sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in +Gefahr ist, in eine Verklärung bestehender oder +vergangener Zustände umzuschlagen. Lassalles +Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner +Lassalle eines Tages mit den Streitern für das +absolute Königtum und den Revolutionär Lassalle +mit den eingefleischten Reaktionären zusammenführte. +Der philosophische Absolutismus hatte zu +allen Zeiten eine Ader, die ihn dem politischen +Absolutismus nahe brachte.</p> + +<p>So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst +vortrefflichen Eigenschaften, im Keim bereits alle +Fehler, welche in der späteren Lassalleschen Bewegung +zutage getreten sind.</p> + +<p>Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, +sich ganz von dem Gedanken an die hohe geschichtliche +Mission ihrer Klasse durchdringen +zu lassen, aus ihm die Pflicht zu einer ganz neuen +Haltung herzuleiten. „Es ziemen Ihnen nicht +mehr die Laster der Unterdrückten, noch die +müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span> +selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden. +Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der +Gegenwart gebaut werden soll!”</p> + +<p>Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag +drucken. Aber so vorsichtig er auch gehalten +ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare politische +Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner +Polizei, zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen +sehr gut bekannt waren, doch sofort, worauf +der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei +einem Berliner Drucker hergestellte Auflage von +3000 Exemplaren beschlagnahmen und gegen +Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni +war die Broschüre im Druck vollendet und konfisziert +worden. Am 4. November 1862 reichte +der Staatsanwalt von Schelling — ein Sohn des +Philosophen Schelling — beim Berliner Stadtgericht +das Gesuch ein um Einleitung der Strafuntersuchung +gegen Lassalle wegen „Aufreizung +der besitzlosen Klassen zu Haß und Verachtung +gegen die Besitzenden”. Am 17. November beschloß +das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu +geben, und am 16. Januar 1863 kam der Prozeß +in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz einer +wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich +Lassalle dem Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten +gleich überlegen zeigte, und namentlich +den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde +Lassalle doch zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. +Er appellierte und hatte wenigstens den +Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe<span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span> +in eine verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe +umwandelte. Die Beschlagnahme der Broschüre +blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ +Lassalle den Vortrag nun bei Meyer & Zeller in +Zürich in Neuauflage erscheinen.</p> + +<p>Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die +drei Broschüren über den Prozeß in der ersten +Instanz — von denen die erste die Verteidigungsrede +Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die +Wissenschaft und die Arbeiter”), die zweite den +stenographischen Bericht über die mündlichen +Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite +Kritik des erstinstanzlichen Urteils enthält — und +schließlich auch unter dem Titel: „Die indirekte +Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die +eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten +Steuer darbietende Verteidigungsrede in der zweiten +Instanz. War die erste Verteidigungsrede eine +außerordentlich geschickte und wirkungsvolle Beweisführung +dafür, daß der Satz in der preußischen +Verfassung „die Wissenschaft und ihre +Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das +Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft +und ihre Theorien den breiten Volkskreisen +vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse +infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche +Verbündete der für ihre Freiheit kämpfenden +Wissenschaft sei, so ist die Rede über die indirekte +Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung +mit sehr vielem geschichtlichen und statistischen +Material, die man noch heute mit Frucht<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> +lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften +gegen das System der indirekten Steuern, die je +geschrieben wurden. Politisch kommt in dieser +zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit +dem bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, +während in der ersten Rede noch die Gemeinsamkeit +des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte +betont wurde. Eine eingehendere +Würdigung dieser Reden findet man in den Vorworten +des Schreibers zu ihnen. Hier müssen +wir vorerst wieder auf die Zeit zurückgehen, in +welcher der Vortrag selbst gehalten worden war, +das Frühjahr 1862.</p> + +<p>Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher +zunächst kein besonderes Aufsehen machte. So +sehr er sich dem inneren Gehalt nach von der +Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern +damals von den Fortschrittsrednern vorgesetzt +wurde, der äußeren, politischen Tendenz nach +wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, +Anspielungen auf eine Neuauflage der +1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte +Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen +Dutzendredner nicht fehlen. Ja, +da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen die Regierung +spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel +radikaler an als der fast ganz akademisch gehaltene +Vortrag Lassalles. Wenn der Philister oppositionell +ist, nimmt er es in der Großspurigkeit +der Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit +seiner Hörer, ob Arbeiter oder Bürger,<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span> +machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von +außergewöhnlichem Radikalismus.</p> + +<p>So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der +„Philosophischen Gesellschaft” in Berlin war, +noch in demselben Frühjahr von dieser dazu ausersehen, +bei der auf den 19. Mai veranstalteten +Gedenkfeier zum hundertjährigen Geburtstage des +Philosophen Fichte die Festrede zu halten. Weder +an seinem sozialen noch an seinem politischen +Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl +bekannt war, nahmen die leitenden Persönlichkeiten +damals Anstoß. Da das Bürgertum in +seiner großen Mehrheit oppositionell war, durften +auch seine Gelehrten noch Ideologie treiben.</p> + +<p>Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den +„Demokratischen Studien” Fichte als Apostel der +deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm jetzt +den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine +Festrede zu halten, so war das im Grunde nichts +als eine Anerkennung jenes Aufsatzes. Und +Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht +entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung +zu wiederholen.</p> + +<p>Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie +Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes.” +Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes +Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie +zur Anschauung bringt. Weiterhin aber +verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche +Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische +Volksidee, und seine Bedeutung besteht<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> +darin, daß die Deutschen die hohe weltgeschichtliche +Aufgabe haben, aus dem „reinen +Geist” heraus diesem „nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, +sondern sogar „die bloße Stätte seines +Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. +„Indem hier das Sein aus dem reinen Geist selbst +erzeugt wird, mit nichts Geschichtlichem, nichts +Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen, +kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild +sein, und trägt hierin die Notwendigkeit +jener Bestimmung zur höchsten und vollendetsten +Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” +Und was Fichte philosophisch in der +Einsamkeit seines Denkens aufgestellt habe, das +sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen +bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” +und durchbebe „unter dem populären und dogmatischen +Namen der deutschen Einheit jedes edlere +deutsche Herz”.</p> + +<p>Das Streben nach der deutschen Einheit als +die Frucht des „reinen, mit nichts Geschichtlichem +verwachsenen” Geistes hinstellen — das ging noch +über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb +scheint auch der mit großer Konsequenz +und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte +Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total +verfehlt zu haben. Wie einige Blätter schadenfroh +berichteten, verließen die Hörer zum großen +Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der +Festrede, „um sich nach dem Zimmer des leckeren +Mahles zu verfügen”. Sie vergaßen aber<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span> +hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur +aus Mitgliedern der philosophischen Gesellschaft, +sondern in der Mehrheit aus deren Gästen zusammensetzte +— meist also Leute, die solche +Festversammlungen lediglich des guten Tons halber +besuchen.</p> + +<p>Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck +erscheinen und sandte sie, zusammen mit dem +„Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über Verfassungswesen” +durch Lothar Bucher an Marx. +Er habe „etwas politisch-praktische Agitation beginnen” +wollen, schreibt er unter dem 9. Juni an +letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag +in vier Vereinen gehalten. Außerdem einen weit +längeren Vortrag über den Arbeiterstand geschrieben +und in einem Arbeiterverein gehalten.” +Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe +mich jetzt auch entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn +drucken zu lassen; er ist bereits unter der Presse. +Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im weiteren +Verlauf seines Briefes kommt er wieder +darauf zurück, daß durch die intensivere Beschäftigung +mit anderen Dingen in den letzten drei +Jahren die nationalökonomische Materie in seinem +Kopf „gleichsam fossil” geworden sei. Erst wenn +„alles wieder flüssig geworden”, werde er an +die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur +Kritik der politischen Ökonomie” gehen, und dann +ziemlich gleichzeitig an dessen Besprechung und +die Ausführung seines eigenen ökonomischen +Werkes — „welch letztere freilich sehr lange<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> +dauern wird”. Dieses Programm werde ohnehin +durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, +denn im Sommer halte er es in Berlin nicht aus. +Im Juli werde er nach der Schweiz reisen oder +erst nach London kommen und dann in die Schweiz +gehen.</p> + +<p>Er entschied sich für das letztere. Vorher aber +schrieb er noch einmal an Marx, und zwar:</p> + +<p>„Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann +Schweigert, der mit Auszeichnung unter +Garibaldi und speziell unter meinem Freund +Rüstow gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste +Kerl von der Welt. C'est un homme +d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, +die er von Coburg aus organisiert und geht jetzt +nach London, um dort Geldmittel für 3000 Gewehre +aufzutreiben, die er für die Wehrvereine +braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, +wie wünschenswert dies wäre. Habe also die +Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, +von denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann +oder sonstigen zu diesem Ziel führenden Vorschub +zu tun. Tue Dein Möglichstes.</p> + +<p>„Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London +komme, nimmt zu.</p> + +<p> +Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.”<br /> +</p> + +<p>Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” +standen im Lager des „Nationalvereins”, der +seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte +sie offenbar für Aktionen verwendbar machen,<span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span> +die zeitgemäß werden konnten, wenn Garibaldi +sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme +d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung +der 3000 Gewehre sind eine weitere +Bestätigung für das weiter oben von den Revolutionsplänen +Lassalles Gesagte.</p> + +<p>Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, +die sich auf Besuche und einen zu unternehmenden +gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die +mir vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. +Es wäre aber falsch, daraus den Schluß zu ziehen, +daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen +den beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie +stattgefunden. Wohl aber wissen wir von Marx, +daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen +ihm und Lassalle er dem letzteren die +grundsätzliche Verschiedenheit der beiderseitigen +Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg +gegen dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem +Lassalle im Herbst 1862 nach Berlin zurückgekehrt +war, schlief die Korrespondenz gänzlich +ein. Um so enger schloß sich Lassalle an Bucher +an, der ihn später auch mit Rodbertus in Verbindung +brachte.</p> + +<p>Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, +als wolle die preußische Regierung der +Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere +Haltung einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, +bis plötzlich der König in schroffer +Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich +auf keine Konzessionen in bezug auf die Verkürzung<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span> +der Militärdienstpflicht einlasse und auch +keine Neigung verspüre, um Indemnität für die +verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation +einzukommen. Die Kammer antwortete +damit, daß sie die Forderung der Regierung, +die Kosten der Heeresorganisation in +den Etat der ordentlichen Ausgaben aufzunehmen, +mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den +Widerstand der Mehrheit zu brechen, berief der +König an Stelle des Herrn v. d. Heydt den gerade +in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am +französischen Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. +Die vorhergegangene schroffe Betonung +der königlichen Vorrechte war bereits im +Einverständnis mit Bismarck erfolgt.</p> + +<p>Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” +und 1849 in der Preußischen Nationalversammlung +als feudal-junkerlicher Heißsporn aufgetreten +war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann” +entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien +über Bord geworfen, um desto wirksamer +die Interessen des „befestigten Grundbesitzes” +wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus +aufgegeben, um dem Königtum dadurch +eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, daß +die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch +nichts als die Verantwortung für die Bedürfnisse +und die Politik der Monarchie übernehmen sollte. +Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus +bekannten Regierungssystems übernommen, +das, wenn es von Demokratie spricht, Regierungsgewalt<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span> +meint, und von Fürsorge für das Wohl +der Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug +auf die Taschen der Arbeiter im Schilde +führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er +gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter +der Hand mit Revolutionären Geschäfte machen +kann, von der bonapartistischen, wie man stets in +dem Augenblick den Gegner einer verpönten +Handlung beschuldigen muß, wo man selbst eben +diese Handlung zu begehen im Begriff ist. Als +Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit +aller geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende +Aufrichtigkeit an den Tag zu legen, +um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr +Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um +die Wahrheit nicht zu sagen.</p> + +<p>Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch +vor die Kammer, trotzdem wurde ihm jedoch sein +deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung +in der Budgetkommission, die deutsche +Frage werde nur durch „Blut und Eisen” gelöst +werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. +Das Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß +bestehen, der Regierung nichts zu bewilligen, +bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von +ihr anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus +vertagte mit der Erklärung, die Regierung werde +vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.</p> + +<p>Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. +Wohl hatte er die Regierungsgewalt, d. h. +die organisierte Macht, hinter sich, während die<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> +Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” +auf ihrer Seite hatte. Indes, er wußte ganz +gut, daß er sich auf die preußischen Bajonette +nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge +in der auswärtigen Politik, geeignet, die +ehemaligen „Gothaer”, d. h. die schwachliberalen +Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, +war vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte +also anderwärts Verbündete gegen die Fortschrittspartei +zu gewinnen suchen.</p> + +<p>Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß +man in Berlin in Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung +eines Allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses +zur Erörterung von besonderen Fragen +des Arbeiterwohls ernsthaft zu betreiben, und +daß in Zusammenkünften, die dieser Frage galten, +ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler +mit besonderer Heftigkeit die Fortschrittspartei +der Lahmheit anklagte und gegen die Schulzeschen +Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts +nützten. Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen +soviel Geschrei machten, sei es nichts, nur +der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, +der behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner +absprechenden Äußerungen über die Schulzesche +Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand die Mittel, +nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein +„Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung +eines allgemeinen Arbeiterkongresses und +die Gründung einer selbständigen Arbeiterorganisation +lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span> +Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des +Kongresses nach Berlin zu gewinnen, und als man +ihm etwas genauer auf den Zahn fühlte, rückte er +schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der +Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die +preußische Regierung den guten Willen habe, den +Arbeitern zu helfen, namentlich bei der Gründung +von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, +daß Herr von Bismarck bereit sei, 30000 Taler +zur Gründung einer Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft +zu liefern — die Maschinenbauer +waren damals, und noch lange später, in +Berlin die Kerntruppe der Fortschrittspartei! +Natürlich müßten sich die Arbeiter dazu entschließen, +der Fortschrittspartei den Rücken zu +kehren, die eine Partei der Bourgeoisie, der +Hauptfeindin der Arbeiter, sei.</p> + +<p>Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die +Leute, welche in Leipzig den Arbeiterkongreß +betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so +geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen +Regierung zuliebe in den Rücken zu fallen. Eichler +zog unverrichteter Sache heim und scheint auch +in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man +ihm wegen seiner auffällig flotten Lebensweise, +die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar nicht +paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse +Anspielungen auf eine reiche vornehme Dame, die +Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da er +ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts +besonders Unwahrscheinliches. Eichler verschwand<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span> +dann von der Bildfläche und tauchte später +als — preußischer Polizeibeamter auf.</p> + +<p>Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung +vom 16. September 1878, August Bebel die +Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum +Fürsten avancierten Bismarck vorhielt, suchte +dieser tags darauf den Eichler von sich abzuschütteln, +indem er ein Versehen Bebels in der +Zeitbestimmung für sich ausnutzte — Bebel hatte +September statt Oktober 1862 als die Zeit des +Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; +aber im Vertrauen auf die Wirkung dieses Kunstgriffs +ließ er sich zu dem Geständnis verleiten, +Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt +für Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, +und daß ihm „bei der Gelegenheit erst in Erinnerung +gekommen, daß Herr Eichler im Dienste +der Polizei gewesen ist und daß er Berichte +geliefert hat”. (Vgl. die unter dem Titel „Die +Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage” +veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die +Beratung des Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) +Mit andern Worten, die angebliche vornehme +Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” +seinerzeit einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische +Vettel” entpuppte sich als — das +Berliner Polizeipräsidium.</p> + +<p>Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am +13. Oktober Bismarck den Landtag vertagt hatte, +hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: +„Was nun?” Er beruft sich dort darauf, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span> +die Ereignisse den Ausführungen in seinem ersten +Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, +der Kriegsminister von Roon und der +gegenwärtige Ministerpräsident von Bismarck +hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen +Machtfragen sind, bestätigt. Gestützt auf ihre +Macht habe die Regierung fortgefahren, sich über +die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es +handle sich nun weniger um die Frage, wie +der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer +Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen +das Volk zum Teil gar kein Interesse habe, sondern +einfach um die Frage, wie das Budgetrecht +der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische +Regime zur Wahrheit zu machen sei, +da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden +wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. +Soll man zu dem Mittel der Steuerverweigerung +greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei +als solche ein wirksames Mittel nur in den Händen +eines Volkes, das, wie das englische, die vielen +Machtmittel der organisierten Macht auf seiner +Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn +sie dazu dienen sollte, einen allgemeinen Aufstand +zu entflammen. Aber an einen solchen +„werde unter den jetzigen Umständen hoffentlich +wohl niemand denken”. Das einzige Mittel +sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, +sobald sie wieder zusammentrete, „aussprechen +das, was ist”. Das sei „das gewaltigste politische +Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span> +unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus +weiter zu regieren. Sobald sie wieder zusammentrete, +müsse sie unverzüglich einen Beschluß +fassen, daß sie, solange die Regierung +ihren Verfassungsbruch fortsetze, es ablehne, +durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung +behilflich zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen +Zustandes aufrechtzuhalten, und +daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte +Zeit, und zwar auf so lange aussetze, bis die +Regierung den Nachweis antritt, daß die verweigerten +Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. +Sobald die Kammer diesen Beschluß gefaßt +habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung +nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten +würden mit derselben Parole wiedergewählt +werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht +regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung +nach außen würden so gewaltig darunter +leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen +sein werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, +den Konflikt beizulegen, gäbe es aber nicht. +Durch Forttagen und Verweigern anderer oder +auch aller Ausgaben der Regierung würden nur +Volk und Regierung an die süße Gewohnheit der +Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. +Noch schlimmer würde es sein, wollte die Kammer +sich auf einen Kompromiß einlassen, etwa für +den Preis der Bewilligung der zweijährigen Dienstzeit. +Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen +Grundfrage, um die es sich jetzt handle.<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span> +Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um so +größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn +sie sich gezwungen sehen werde, nachzugeben. +„Um so mehr erkennt sie dann die gesellschaftliche +Macht des Bürgertums als die ihr überlegene +Macht an, wenn sie erst später umkehrend sich +vor Volk und Kammer beugen muß.” Dann +aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. +Keinen neuen Kompromiß mit dem alten Absolutismus, +sondern „den Daumen aufs Auge und +das Knie auf die Brust”.</p> + +<p>Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen +eine versöhnliche Haltung gegenüber der Fortschrittspartei +ein. Er will „der Einigkeit zuliebe” +alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf +dem Herzen habe, unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” +und ihre Hintermänner, deren Politik +das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. +Diese „Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, +die Regierung in eine konstitutionelle „umzulügen”, +einen sehr großen Teil der Verantwortung +für den jetzigen Stand der Dinge. Aber +„Friede, meine Herren, der Vergangenheit”!</p> + +<p>Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so +friedlich gesinnt war und wirklich sich dem +Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf +seinen Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit +nur oratorische Floskel war, um ihm +später eine desto schärfere Position gegen die +Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. +Es mag beides zutreffen. Daß er einem<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span> +zeitweiligen Zusammengehen mit den Fortschrittlern +grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir +vorher gesehen, viele persönliche Beziehungen +ließen ihm das sogar als wünschenswert erscheinen, +und vom prinzipiellen Standpunkt ließ +sich bei der damaligen Sachlage auch nichts dagegen +einwenden. Auf der anderen Seite war es +aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler +sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen +Einfluß auf ihre Taktik einräumen würden, +auf den er Anspruch zu haben glaubte.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Lassalle" id="Lassalle">Lassalle +und das Leipziger Arbeiterkomitee. — +Das Offene Antwortschreiben, +politischer Teil.</a></h2> + + +<p>Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, +d. h. die von Lassalle vorgeschlagene Kampfesmethode, +nicht ein. Man kann ihnen auch von +ihrem Standpunkt aus nicht unrecht geben. +Lassalles Vorschlag war sehr gut, wenn man es +so schnell als möglich zum Äußersten treiben +wollte, wenn man entschlossen, sowie in der Lage +war, auf einen Staatsstreich — denn weiter blieb +der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig — mit +einer Revolution zu antworten. Soweit waren +aber die Fortschrittler noch nicht, und darum +zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne +Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige +Verzicht auf die Tribüne in der Kammer<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span> +auf den famosen „passiven Widerstand” hinaus, +über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig +machte. Durch beharrliche Verweigerung des +Budgets konnte man ebenso laut und drastisch +„aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung +ebenso wirksam oder noch mehr in Erregung +halten, als durch das Mittel der Vertagung ins +Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen +Schein von Recht für die Außerkraftsetzung der +Verfassung lieferte. Das war ja aber die Hauptidee +der Taktik der Fortschrittler, die Regierung +vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber +dem Recht hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” +sagt B. Becker sehr gut, „waren meist Leute +aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich +an juristisch-advokatorische <em class="gesperrt">Dehnbarkeit</em><a name="FNAnker_20_20" id="FNAnker_20_20"></a><a href="#Fussnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a> +gewöhnt und den Streit der Kammermajorität mit +der Regierung wie einen langen Rechtsstreit zu +betrachten geneigt.”</p> + +<p>Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle +den Vorwurf, daß er, gleich der Regierung, Macht +vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach +der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei +Becker heißt, schrieb Lassalle den Aufsatz „Macht +und Recht”, in welchem er der Fortschrittspartei +rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es +war ihm ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit +jenes Vorwurfs mit ein paar Worten schlagend +nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe +den Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin,<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> +dessen Erklärung, daß in Preußen „Recht vor +Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem +ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor +Recht ging, teilgenommen hatte. „Es hat kein +Mensch im preußischen Staat das Recht, vom +‚Recht’ zu sprechen” — ruft er aus — „als die +Demokratie, die alte und wahre Demokratie. +Denn sie allein ist es, die stets am Recht festgehalten +und sich zu keinem Kompromiß mit der +Macht erniedrigt hat.” Und: „Bei der Demokratie +allein ist alles Recht — und bei ihr allein +wird die Macht sein!”</p> + +<p>Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung +an die radikale Berliner „Reform” eingesandt, +verschloß letztere — für die Lassalle noch +im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt +hatte — ihre Spalten, desgleichen die „Vossische +Zeitung”. Die letztere lehnte auch die Aufnahme +des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf +Lassalle ihn als „Offenes Sendschreiben” in +Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl dieses +Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” +der „Vossischen Zeitung” eigentlich rechtfertigte, +kümmerte ihn nicht weiter.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p>Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages +„Was nun?” (Dezember 1862) und der Abfassung +des „Sendschreibens” (Februar 1863) +liegen wiederum zwei Monate. Noch vor dieser +Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei Mitglieder<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span> +des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter +F. W. Fritzsche und der Schuhmacher +Julius Vahlteich, nach Berlin gefahren und hatten +dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern +des Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch +und noch etlichen Fortschrittsführern +am 2. November einer großen Arbeiterversammlung +beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit +beschlossen wurde, das Mandat für die Einberufung +des Kongresses dem Leipziger Komitee +zu übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die +selbst schon Sozialisten waren, daß die Arbeiter +Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen, +dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei +von einer selbständigen Arbeiterbewegung +sehr wenig wissen wollten. Spätere +Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In +bezug auf die Frage des Beitritts zum Nationalverein +erhielt man die bereits erwähnte klassische +Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” +des Nationalvereins betrachten. In +bezug auf die Frage des Wahlrechts waren die +Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, +hielten sie auch außerdem für keine brennende. +Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so vortreffliche +Kammer zusammengebracht, man könne +es also schon noch eine Weile mitansehen. Daß +die vortreffliche, d. h. die oppositionelle Kammer, +lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse +war, kam den guten Leuten nicht zum Bewußtsein.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p> + +<p>Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, +dem späteren Fortschrittsabgeordneten Ludwig +Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand +Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” +aufmerksam gemacht und setzten sich +nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich +leicht denken, wie sehr dies dessen Entschluß +bestärken mußte, nunmehr das „Friede der Vergangenheit, +meine Herren” zurückzunehmen. Als +er das Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, +war bereits zwischen ihm und dem Leipziger +Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem +offiziellen Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten +über die Aufgaben der Arbeiterbewegung +und die Frage der Assoziationen in einer ihm +passend erscheinenden Form darzulegen, und daß +diese Form eben die einer Flugschrift sein sollte. +Die äußerst interessanten damaligen Briefe +Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von +Prof. H. Oncken in Grünbergs „Archiv für die +Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht worden +(Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß +Lassalle, so froh er über die Verbindung mit dem +Leipziger Komitee war, sich diesem doch in keiner +Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden +Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr +gut, worauf sie hinauswollten; worüber man noch +unentschlossen war, das war weniger das Wesen +der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. +Es war durchaus nicht „das Bewußtsein +seiner eigenen Unklarheit”, wie Bernh.<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span> +Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” +stellenden Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation +schreibt, die das Komitee veranlaßte, +in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an +die deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, +aber gegen Übereilung des zu berufenden +Arbeiterkongresses sich auszusprechen. +Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, +aber nicht so bald, daß nicht inzwischen die +Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan haben +konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten +Aufruf erließ, beschloß das Komitee, +folgenden Brief an Lassalle zu schicken, der auch +tags darauf abging:</p> + +<p> + „Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.<br /> +<br /> + Sehr geehrter Herr!<br /> +</p> + +<p>Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang +der gegenwärtigen Geschichtsperiode +mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall +von den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen +worden und das Zentralkomitee hat sich in +Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung ausgesprochen. +Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr +ernstliche Bedenken ausgesprochen worden, ob +die von Schulze-Delitzsch empfohlenen Assoziationen +der großen Mehrzahl der Arbeiter, die +gar nichts besitzt, genügend helfen können, ob +namentlich durch dieselben die Stellung der Arbeiter +im Staat in der Art verändert werden kann,<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span> +wie es notwendig erscheinen muß. Das Zentralkomitee +hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) hierüber +seine Ansichten ausgesprochen; es ist der +Überzeugung, daß das Assoziationswesen unter +unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug leisten +könne. — Da nun aber aller Orten die Ideen +von Schulze-Delitzsch als maßgebend für den +Arbeiterstand, unter dem wir die gedrückteste +Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, +und da doch wohl noch andere Mittel und Wege, +als die von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen, +denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung: +Verbesserung der Lage der Arbeiter +in politischer, materieller und geistiger Beziehung +zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner +Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen:</p> + +<blockquote> + +<p>Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend +erscheinenden Form Ihre Ansichten über die +Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren +dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders +auch über den Wert der Assoziationen für die +ganz unbemittelte Volksklasse, auszusprechen.</p> + +<p>Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, +welche Sie in der angeführten Broschüre +ausgesprochen haben, und werden deshalb auch +Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen +wissen. Wir ersuchen Sie schließlich nur +noch um möglichst baldige Erfüllung unserer +Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span> +der Arbeiterbewegung zu beschleunigen. — +Mit Gruß und Handschlag!</p> + +<p>Leipzig, 11. Februar 63.</p></blockquote> + +<p class="center"> +Für das Zentralkomitee zur Berufung eines<br /> +Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses<br /> +<br /> + Otto Dammer.”<br /> +</p> + +<p>Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom +1. März 1863 datierte „Offene Antwortschreiben +an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen +deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig +von Ferdinand Lassalle”.</p> + +<p>Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee +und im Leipziger Arbeiterverein selbst beginnt +die eigentlich sozialistische Agitation Lassalles +und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins”.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p>Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt +zunächst der Ansicht entgegen, daß die Arbeiter +sich nicht um die Politik zu bekümmern hätten. +Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der +Politik zu beteiligen, bloß dürften sie dies nicht +in der Weise tun, daß sie sich als den „selbstlosen +Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei +betrachteten. Der Nachweis dafür, daß +die Fortschrittspartei den Anspruch darauf verwirkt +habe, stützt sich im wesentlichen auf das +von dieser im Verfassungskonflikt beobachtete<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span> +Verhalten und ist insofern nicht überall von gleichmäßiger +Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf +Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, +daß sie „nur .... das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht +zum Inhalt ihres Kampfes habe”, +so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage +„Was nun?” als das eigentliche und mit aller +Energie zu vertretende Objekt des Kampfes bezeichnet +hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei +auf ihn selbst berufen, wenn er es +ihr als eine politische Sünde anrechnete, daß sie</p> + +<blockquote> + +<p>„sich durch ihr Dogma von der preußischen +Spitze zwingt, in der preußischen Regierung +den berufenen Messias für die deutsche Wiedergeburt +zu sehen, während es, mit Einschluß +Hessens, nicht eine einzige deutsche Regierung +gibt, welche hinter der preußischen in politischer +Beziehung zurückstände, während es, +und zwar mit Einschluß Österreichs (!!), fast +keine einzige deutsche Regierung gibt, welche der +preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.”</p></blockquote> + +<p>Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich +recht. Die Organisation der Arbeiter als +selbständige politische Partei mit eigenem Programm +war eine geschichtliche Notwendigkeit, und +wenn die Entwicklung der politischen Zustände +Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen +konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten +war, die Arbeiter vom Heerbann der gegen den +Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei abzutrennen,<span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span> +so lag von seiten der letzteren genug +vor, was zu dieser Abtrennung geradezu herausforderte. +Zudem hieß die selbständige Organisierung +der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung +der Aggressivkraft der Fortschrittspartei. +Daß sie diese in der Tat zur Folge hatte, +ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei +selbst — ihrer wahrhaft bornierten +Haltung gegenüber der neuen Bewegung. Zum +Teil allerdings auch Schuld des Programms, +welches Lassalle dieser Bewegung gab.</p> + +<p>Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” +gesehen, welch abstrakte, rein ideologische +Vorstellung Lassalle mit dem Begriff +„Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu +sagen, daß er einen wahren Kultus mit dem Staatsbegriff +trieb. „Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation, +den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen +jene modernen Barbaren” — nämlich die Manchesterpartei +— ruft er in der Rede „Die +indirekte Steuer” den Richtern des Berliner +Kammergerichts zu, und ähnliche Stellen finden +sich in fast allen seinen Reden vor. Dieser Staatskultus +ist die Achillesferse der Lassalleschen +Doktrin, die Ursache von allerhand verhängnisvollen +Fehlgriffen. Die althegelisch-ideologische +Vorstellung vom „Staat” veranlaßte Lassalle, in +einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische +Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für +sie zunächst noch darum handelte, die Bevormundungen +des Polizeistaats erst loszuwerden. Es<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span> +hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen +Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, +Sie wollten über Freizügigkeit debattieren? Ich +weiß Ihnen hierauf nur mit dem Distichon Schillers +zu antworten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,<br /></span> +<span class="i0">Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” —<br /></span> +</div></div> + +<p>Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, +die man in einem gesetzgebenden Körper „stumm +und lautlos dekretiert, aber nicht mehr debattiert”. +Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit +ihnen die Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, +während die Arbeiter sie unbedingt brauchten. +Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und +Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten +Rang auf einem Arbeiterkongreß einzunehmen +hatten, war der, daß sie zugleich in +hohem Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus +waren; aber überflüssig war ihre Diskutierung +schon deshalb nicht, weil selbst in Arbeiterkreisen +noch sehr viel Unklarheit über ihre +Bedeutung herrschte.</p> + +<p>Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm +wichtiger als sie die Forderung der Staatshilfe +schien. Einmal der Sache selbst wegen, zweitens +aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe +das einzig wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse +für die politische Aktion aufzurütteln, sie +zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span> +Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung +der demokratischen Forderungen zu erwärmen. +Und kein Zweifel, daß ihm zu jener +Zeit diese zweite Seite die wichtigere war. Sie +war es auch nach Lage der Dinge selbst. Es +handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, +durch die er diesen Zweck zu erreichen suchte, +richtig waren.</p> + +<p>Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der +Selbsthilfe zu überzeugen, wie sie von bürgerlicher +Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle +auf das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, +wie es von den Klassikern der politischen +Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von +Ricardo formuliert worden war, das „eherne und +grausame Gesetz, wonach unter der Herrschaft +von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche +Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt +reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig +zur Fristung der Existenz und +zur Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er +zeitweilig über diesen Satz, so bewirkten leichtere +Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung +der Arbeiterbevölkerung und damit des +Arbeiterangebots, infolgedessen der Lohn wieder +auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er +aber unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, +größere Sterblichkeit unter den Arbeitern, +Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine Verminderung +des Arbeiterangebots, infolgedessen +die Löhne wieder stiegen. So tanzten „Arbeiter<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span> +und Arbeitslohn immer um den äußersten Rand +dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder +Zeit zu dem notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, +und dies „ändert sich nie”.</p> + +<p>Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, +durch die individuellen Anstrengungen ihrer Mitglieder +ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise +zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es +verfehlt, die Lage der Arbeiter durch Konsumvereine +verbessern zu wollen. So lange diese vereinzelt +blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern +Vorteile verschaffen. Von dem Zeitpunkt +aber an, wo sie allgemein würden, würden die +Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder +verlieren, was sie als Konsumenten, beim Einkauf +ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage +der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur +von dem Druck jenes ökonomischen Gesetzes befreit +werden, wenn an die Stelle des Arbeitslohns +der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse +ihr eigener Unternehmer werde. Das sei +aber nicht durch die Gründung selbsthilflerischer +Assoziationen zu erreichen, da diesen die erforderlichen +Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft +dem Schicksal verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist +seinen Einzug halte und die Mitglieder +in die „widrige Karikatur der Arbeiter +mit Arbeitermitteln und Unternehmergesinnungen” +verwandelte. Die großen Fragen ließen sich nur +mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die +Assoziationen in großartigem Maßstabe und mit<span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span> +Ausdehnung auf die fabrikmäßige Großindustrie +ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber — das +nötige Kapital, bzw. der nötige Kredit — vom +Staat dargeboten werden. Das sei durchaus kein +Kommunismus oder Sozialismus. „Nichts ist weiter +entfernt von dem sogenannten Kommunismus oder +Sozialismus als diese Forderung, bei welcher +die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle +Freiheit, individuelle Lebensweise und +individuelle Arbeitsvergütung beibehalten und zu +dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, +als daß ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, +resp. der erforderliche Kredit zu ihrer Assoziation +vermittelt wird.” Der Beruf des Staates sei es +aber gerade, die großen Kulturfortschritte der +Menschheit zu erleichtern und zu vermitteln. +„Dazu existiert er, hat immer dazu gedient und +dienen müssen.” Was aber „ist denn der Staat”? +Und Lassalle führt die Zahlen der preußischen +Einkommensstatistik von 1851 an, wonach in +jenem Jahre 89 Prozent der Bevölkerung ein Einkommen +unter 200 Talern gehabt hatten, dazu +7¼ Prozent der Bevölkerung ein solches von +200 bis 400 Talern, so daß also 96¼ Prozent +der Bevölkerung in elender, gedrückter Lage sich +befänden. „Ihnen also, meine Herren, den notleidenden +Klassen, gehört der Staat, nicht uns, +den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er! +Was ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen +jetzt aus wenigen Zahlen, handgreiflicher als aus +dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der ärmeren<span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span> +Klassen, große Assoziation — das ist der Staat.” +Und wie den Staat zu der geforderten Intervention +vermögen? Dies werde nur durch das allgemeine +und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn +die gesetzgebenden Körper Deutschlands aus +dem allgemeinen und direkten Wahlrecht hervorgehen +— „dann und nur dann werden Sie den +Staat bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht +zu unterziehen”. Das allgemeine und direkte +Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches, es +ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung +aller sozialen Hilfe”. Darum mögen +sich die Arbeiter zu einem allgemeinen deutschen +Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe +die Einführung des allgemeinen und direkten +Wahlrechts in allen deutschen Ländern. Werde +diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der +Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher +auch mit der Magenwärme durch den ganzen +nationalen Körper hin verbreitet, so werde es keine +Macht geben, die sich dem lange widersetzen +würde. „Alle Kunst praktischer Erfolge besteht +darin, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt — +auf den wichtigsten Punkt — zu konzentrieren +und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken +Sie nicht nach rechts noch links, seien Sie taub +für alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht +heißt oder damit in Zusammenhang steht +und dazu führen kann.”</p> + +<p>Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt +des „Offenen Antwortschreibens” und zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span> +der Lassalleschen Agitation überhaupt. +Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort +der Bestrebungen Lassalles gesagt war, so hielt +doch Lassalle bis zuletzt daran fest, die Bewegung +auf diesen einen Punkt: „Allgemeines +Wahlrecht behufs Erlangung von Staatshilfe für +Produktionsgenossenschaften” zu beschränken, +eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, +daß die Kunst praktischer Erfolge darin besteht, +alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt zu +konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im +Auge zu behalten, wenn man an die agitatorische +Tätigkeit Lassalles den richtigen Maßstab anlegen +will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn, +auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet +gewesen. Ausdrücklich verweist Lassalle +im „Offenen Antwortschreiben” auf die Agitation +und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, +und ebenso scheint ihm die Agitation der +englischen Chartisten vorgeschwebt zu haben, wie +der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an +die Erklärung des Chartistenpredigers Stephens +erinnert: „Der Chartismus, meine Freunde, ist +keine politische Frage, sondern eine Messer- und +Gabelfrage.”</p> + +<p>Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, +ob denn ein unmittelbarer praktischer Erfolg der +so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage +der damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube +ich die Frage unbedingt bejahen zu müssen. Daß +später Bismarck, wenn auch freilich nur zum<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span> +Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine +Wahlrecht einführte, ist für mich dabei nicht +maßgebend. Allerhand Umstände hätten das verhindern +können, ohne daß dadurch die Tatsache +umgestoßen worden wäre, daß Lassalles Berechnung +ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt, +obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen +Landtag beibehalten wurde, bleibt der +Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach +durchaus der damaligen politischen Situation. +Lassalle wußte ganz genau, daß, wenn im Lager +der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht +viele Gegner und im ganzen nur laue Freunde +hatte, dafür in den Kreisen der Regierung das +Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer +scheeleren Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen +Blätter sprachen sich bereits ganz unverhohlen +in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte +es, wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht +an Verbindungen, durch die er genau über die +Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen +unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem +Verfassungskonflikt nicht nachgeben wollte, so +blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg — der +ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte — schließlich +kaum etwas anderes übrig, als Napoleon +III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen +und ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht +zu oktroyieren. Zu diesem Schritt mußte sie sich +um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke, +von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung<span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span> +bestand, die die Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems +auf ihre Fahne geschrieben hatte. +Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg +mußte ihr dies als der beste Ausweg erscheinen, +gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig +gegen sich im Rücken zu haben<a name="FNAnker_21_21" id="FNAnker_21_21"></a><a href="#Fussnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a>.</p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p> +<p>Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen +Erfolgs hatte also Lassalle unzweifelhaft<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span> +recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht +auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. +Allerdings um einen Preis: wenn die Regierung +es gab, um der Fortschrittspartei nicht nachgeben +zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts +mindestens noch weiter hinausgeschoben. +„Seien Sie taub für alles, was nicht +allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder +damit im Zusammenhang steht und dazu führen +kann”, heißt es im „Offenen Antwortschreiben”. +Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, +würde dieses, das muß man bei Lassalle, wenn +er es auch nicht ausdrücklich ausspricht, logischerweise +als Voraussetzung annehmen, auch diese +Frage lösen. War aber diese Erwartung Lassalles +vom allgemeinen Wahlrecht, wie überhaupt die +Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache +selbst gerechtfertigt?</p> + +<p>Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und +direkte Wahlrecht lagen zur Zeit Lassalles nur +aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus +nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte +zwar während der Februarrepublik eine Reihe +von Sozialisten in die Volksvertretung gebracht, +aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt +worden durch die der Vertreter der verschiedenen +Bourgeoisparteien, und das allgemeine Wahlrecht +hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig verhindert, +daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte +unternehmen können als „Wiederhersteller des +allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span> +Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom +Pariser Proletariat proklamiert worden als soziale +Republik, ihr war vorhergegangen eine Epoche +sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, +so daß nach dieser Seite hin die Voraussetzungen +dafür gegeben waren, daß sie im Laufe +der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik +hätte werden können. Warum wurde sie es nicht? +Warum konnte sie vielmehr durch das Kaiserreich +gestürzt werden?</p> + +<p>Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” +sagt, was am 2. Dezember 1851 gestürzt +worden, das sei „nicht die Republik” gewesen, +sondern die Bourgeoisrepublik, welche +durch das Wahlgesetz vom Mai 1850 das allgemeine +Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten +Zensus zur Ausschließung der Arbeiter +eingeführt hatte; die Republik des allgemeinen +Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen +Arbeiter einen unübersteiglichen Wall +gefunden haben”, so wiederholt er damit ein Schlagwort +der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la +Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, +sondern nur verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche +Wall”, als die auf Grund des allgemeinen +Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? +Warum hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich +der Bourgeoisie” nicht verhindert?</p> + +<p>Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so +würde er auf die Tatsache gestoßen sein, daß +die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span> +halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als +solche hätte stützen müssen, noch nicht entwickelt +genug war — d. h. nicht entwickelt genug im +sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne +industrielle Proletariat war da, es war stark genug +gewesen, für einen Augenblick die bestehende +Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen, +aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir +begegnen hier wieder dem Grundfehler der +Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo +Lassalle auf die tieferen Ursachen der geschichtlichen +Vorgänge einzugehen sucht, hält ihn seine +mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen +Seite wirklich auf den Grund zu gehen, und auch +das Ökonomische packt er gerade da an, wo es +sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf, +juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, +daß er, um den Arbeitern zu zeigen, aus +welchen Elementen sich die Bevölkerung des +Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der +Einkommensverteilung, und zwar ausschließlich an +sie hält. Der Streit, der sich damals an diese +Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, +ist ein verhältnismäßig untergeordneter. Ob +Lassalle sich um einige Prozentsätze nach der +einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf +kommt im Grunde wenig an, die Tatsache, daß +die große Masse der Bevölkerung in dürftigen +Verhältnissen lebt, während nur eine kleine +Minderheit im Überfluß schwelgt, konnten die +Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span> +damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer +ganzen Rabulistik nicht aus der Welt leugnen. +Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht berücksichtigt, +aus wie verschiedenartigen Elementen +sich die 96 oder 89 Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, +als deren „große Assoziation” er +den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil +davon Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie +vor allem die Landarbeiter bildeten, die noch +großenteils völlig unter der geistigen Vormundschaft +ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz +unerörtert. Über die Hälfte der Bevölkerung +Preußens entfiel damals auf den Ackerbau, die +größeren Städte spielten bei weitem nicht die +Rolle, die sie heute spielen, vom Standpunkt der +industriellen Entwicklung betrachtet, war der +ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit +vereinzelten Oasen<a name="FNAnker_22_22" id="FNAnker_22_22"></a><a href="#Fussnote_22_22" class="fnanchor">[22]</a>.</p> + +<p>Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine +Wahlrecht an der Zusammensetzung der +Kammer ändern? War von ihm ein besseres +Resultat zu erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht +im Frankreich der Jahre 1848 und 1849? +Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl +von Arbeitervertretern in die Volksvertretung +bringen, und das war an sich gewiß sehr zu +wünschen. Aber im übrigen mußte es, gerade je<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span> +mehr es die Wirkung erfüllte, die Lassalle von +ihm versprach — nämlich einen Volksvertretungskörper +zusammenbringen, der „das genaue, treue +Ebenbild ist des Volkes, das ihn gewählt hat” +(„Arbeiterprogramm”) — die Zusammensetzung +der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. +Denn so jämmerlich immer die damalige +Volksvertretung war, sie war doch wenigstens +bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen +Klassen zwar unter Umständen sämtlich +revolutionäre Truppen stellen, aber keineswegs +samt und sonders revolutionäre Klassen sind, +er vergaß, daß die 89 Prozent nur erst zum Teil +aus modernen Proletariern bestanden.</p> + +<p>Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen +möglich war, so ist doch damit noch keineswegs +gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder +als Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit +herbeigeführt haben würde. Bei der politischen +und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse +der Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst +das Gegenteil bewirken, statt Vertreter +moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in +größerer Anzahl als bisher in die Kammer bringen. +Nicht alle Fortschrittler waren aus Klasseninteresse +Gegner oder laue Freunde des allgemeinen +Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil +Ideologen, welche gerade durch die Entwicklung +der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen Wert +skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten +dachten so. Es sei nur an Rodbertus erinnert,<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span> +der in seinem Offenen Brief an das Leipziger +Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als +ein Beispiel dafür, daß das allgemeine Stimmrecht +„nicht notwendig dem Arbeiterstande die +Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt +worden, das allgemeine Wahlrecht solle nur Mittel +zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu verschiedenen +Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten +brauchbar”. „Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, +daß hier das Mittel mit zwingender Notwendigkeit +zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen +muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen +Lassalles an Rodbertus geht auch hervor, daß, +beinahe mehr noch als Rodbertus' gegensätzliches +Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften, +sein Gegensatz gegen das allgemeine +Stimmrecht der Grund war, daß er trotz aller +dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen +Deutschen Arbeiterverein nicht beitrat<a name="FNAnker_23_23" id="FNAnker_23_23"></a><a href="#Fussnote_23_23" class="fnanchor">[23]</a>.</p> + +<p>Und wie man sonst auch über Rodbertus denken +mag, seine Motive werden auf das Unzweifelhafteste<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span> +durch den Schlußsatz seines Briefes +charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl +Lassalle recht habe, daß man solche Fragen +nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und freie +Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in +ihr Programm aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, +der Ihnen schaden könnte, höchst wirksam +zurückzuscheuchen”.</p> + +<p>Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des +Bonapartismus übertrieben, so nahm Lassalle sie +seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, +die er später tatsächlich in dieser Richtung +machte, lag dem Ideengang nach von vornherein +in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine +Stelle aus dem teilweise schon früher zitierten +Brief Lassalles an Marx vom 20. Juni 1859 über +die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es:</p> + +<blockquote> + +<p>„Im Anfang, als mit solcher Wut überall +das nationale Geschrei eines Krieges gegen +Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’ +(Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr +Redakteur) in einem Leitartikel triumphierend +aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei aller +Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man +seine welthistorische Bedeutung kennen? Die +Emanzipation Deutschlands von der politischen +Entwicklung Frankreichs — das bedeutet es.’ — +Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt +dieses Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? +Doch gewiß nicht! Ein populärer +Krieg gegen Frankreich — und unsere kleinbürgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span> +Demokraten, unsere Dezentralisten, +die Feinde aller Gesellschaftsinitiative, +haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs auf +lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die +deutsche Revolution hinein würde die Wirkung +dieser Strömung sich bemerklich machen. Wir +haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten +Feind, den wir haben, dem deutschen +Spießbürgerindividualismus, durch einen blutigen +Antagonismus gegen den romanisch-sozialen +Geist in seiner klassischen Form, in Frankreich, +noch neue Kräfte zuzuführen.”</p></blockquote> + +<p>So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der +„Volkszeitung” verdiente in gewisser Hinsicht +zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier +beilegt, aber des zitierten Satzes wegen vielleicht +am wenigsten. Die politische Entwicklung Frankreichs +war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus, +während die Partei der „Volkszeitung” auf +England, als ihr politisches Vorbild, schwor. Das +war sicher sehr einseitig, aber noch nicht reaktionär, +oder doch reaktionär nur insoweit, als +es eben einseitig war. Lassalles Auffassung, die +in dem staatlichen Zentralismus Frankreichs ein +Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, +ihn mit dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, +dagegen seine reaktionäre Seite ganz +unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder einseitig.</p> + +<p>So weit über die politische Seite des Lassalleschen +Programms, nun zu seiner ökonomischen.</p> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span></p> + + + + +<h2><a name="Der_oekonomische_Inhalt" id="Der_oekonomische_Inhalt">Der ökonomische Inhalt +des Offenen Antwortschreiben.</a></h2> + +<p>Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften +mit Staatskredit.</p> + + +<p>Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief +und dem er das Beiwort „ehern” gab, entspricht, +wie ich an anderer Stelle<a name="FNAnker_24_24" id="FNAnker_24_24"></a><a href="#Fussnote_24_24" class="fnanchor">[24]</a> nachgewiesen +zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode +— der Manufakturindustrie — und +einem auf ihr beruhenden Gesellschaftszustande, +ist also in der Gesellschaft der modernen Großindustrie, +der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten +Kreislaufes von Krisis, Stockung und +Prosperität, der rasch sich vollziehenden Steigerung +der Produktivität der Arbeit usw. zum mindesten +überlebt. Auch setzt es ein absolut freies +Walten von Angebot und Nachfrage auf dem +Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört ist, sobald +die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert +gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, +in die Regelung des Arbeitsverhältnisses +eingreifen. Wenn also die Liberalen +Lassalle entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme +nicht, es sei veraltet, so hatte das teilweise seine<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> +Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die +guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere +Fehler als Lassalle.</p> + +<p>Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter +der den Lohn bestimmenden Gesetze, weil +er den stärksten Schlag gegen die moderne Gesellschaft +damit zu führen meinte, daß er nachwies, +der Arbeiter erhalte unter keinen Umständen +seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen Anteil an +dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der +Frage einen rechtlichen Charakter, und agitatorisch +hat sich das auch höchst wirksam erwiesen. Aber +in der Sache selbst traf er damit keineswegs den +Kern der Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit +hat der Arbeiter auch unter den früheren Produktionsformen +nicht erhalten, und wenn ein +„ehernes” Gesetz es verhindert, daß der Lohn +dauernd unter ein bestimmtes Minimum sinkt, +dieses Minimum selbst aber — wie Lassalle ausdrücklich +zugab — im Laufe der Entwicklung +sich zwar langsam hebt, aber doch hebt, so war +der Beweis für die Notwendigkeit der von ihm +geforderten Einmischung des Staates schwer zu +erbringen.</p> + +<p>Das, worauf es wirklich ankommt, ist von +Lassalle erst später, und nur beiläufig, hervorgehoben +worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters +mit einem Bruchteil des von ihm erzeugten +neuen Wertes, sondern diese Ablohnung in Verbindung +mit der Unsicherheit der proletarischen +Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> +in wechselnden Zeiträumen einander folgenden +Kontraktionen des Weltmarktes, von beständigen +Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse +— der schreiende Gegensatz zwischen dem +immer mehr gesellschaftlich werdenden Charakter +der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, +dabei die wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen +Arbeiter, aus der doppelten Abhängigkeit +vom Unternehmertum und den Wechselfällen des +industriellen Zyklus sich zu befreien, die beständige +Bedrohung mit dem Hinausgeworfenwerden +aus einer Sphäre der Industrie in eine +andre, tieferstehende, oder in das Heer der +Arbeitslosen — das ist es, was die Lage der +Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich +macht, sie von der bei jeder vorhergehenden +Produktionsweise zum Schlechteren unterscheidet. +Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit +der scheinbaren Freiheit nur größer geworden. +Sie ist es, die mit eherner Wucht auf der Arbeiterklasse +lastet, und deren Druck zunimmt mit der +wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die +Lohnhöhe dagegen wechselt heute, je nach den +verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen +Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die +tatsächlich einen gewissen Wohlstand darstellen, +und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den verschiedenen +Industrien eine sehr verschiedene, teils +höher, teils aber auch geringer als in früheren +Produktionsepochen. Beide hängen von sehr veränderlichen +Faktoren ab, beide wechseln nicht nur<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span> +von Industrie zu Industrie, sondern sind auch in +jeder einzelnen Industrie den größten Veränderungen +unterworfen, und beständig ist nur die +Tendenz des Kapitals, die Ausbeutungsrate zu +erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die eine +oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.</p> + +<p>Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache +der Leiden der Arbeiterklasse in der heutigen +Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, die +gar nicht das charakterisierende Merkmal der +modernen Produktionsweise ist — denn, wie gesagt, +den vollen Arbeitsertrag hat der Arbeiter +zu keiner Zeit erhalten — war der Hauptfehler +seines Abhilfemittels von vornherein angezeigt. +Es ignoriert, oder, um Lassalle auch nicht Unrecht +zu tun, es unterschätzt die Stärke und den +Umfang der Gesetze der Warenproduktion und +deren wirtschaftliche und soziale Rückwirkungen +auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir +müssen hier wieder genau unterscheiden zwischen +Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. Sein Ziel +war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, +sein Mittel aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel +war die gesellschaftlich organisierte Produktion, +sein Mittel die individuelle Assoziation, die sich +von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, +daß sie mit Staatskredit, mit Staatsmitteln +ausgestattet werden sollte. Alles weitere, der +Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm +der freiwilligen Entschließung jener überlassen —<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span> +es wird von ihnen erwartet, aber ihnen nicht zur +Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern, +die sich zu assoziieren wünschten, die +erforderlichen Mittel dazu auf dem Wege der +Kreditgewährung vorstrecken.</p> + +<p>Die Assoziationen einer bestimmten Industrie +würden also, solange sie nicht diese ganze +Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen +ihres Produktionszweigs in Konkurrenz +zu treten, sich den Bedingungen dieser Konkurrenz +zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche +Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der +Assoziationen Sonderinteressen herausentwickeln +mußten, daß jede Assoziation danach streben +mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu +steigern, sei es auch auf Kosten andrer Assoziationen +oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit +Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben +Privatunternehmungen von mehr oder minder +großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle +Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle +Glückschancen mußten daher bei ihnen eine hervorragende +Rolle spielen, die Frage von Gewinn +und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, +wie für andre Privatunternehmungen. Lassalle +glaubte zwar erstens — gestützt darauf, daß 1848 +in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften +sehr stark war —, daß sich sofort mindestens +alle Arbeiter bestimmter Industrien an +den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation +zusammentun würden, und sprach sich<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span> +zweitens im „Bastiat-Schulze” später sogar dahin +aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur +einer Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig +den Staatskredit zuteil werden” lassen +würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den +Eintritt in dieselbe offen haltend”, aber selbst +solche örtlich einheitlich organisierten Assoziationen +blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. +Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch +große Assekuranz- und Kreditverbände der Assoziationen +untereinander in ihren ökonomischen +Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der +Hand, daß diese Assekuranz ein Unding war, +wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war +für nationale Organisation und nationale Monopolisierung +der Industrie. Sonst mußte die Überproduktion +sehr bald die Assekuranzgesellschaft +sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, +wenn der Staat, wie es oben heißt, allen +Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die +Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte +sich da, von seinem sozialistischen Gewissen getrieben, +in einen großen Widerspruch. „Den Eintritt +offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme +jedes sich meldenden Arbeiters verpflichten. +Nach dem „Offenen Antwortschreiben” +sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber +vollkommen unabhängig sein, ihm nur das Recht +der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle +der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen +zustehen. Mit obiger Verpflichtung war<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span> +sie dagegen aus einem unabhängigen in ein öffentliches, +d. h. unter den gegebenen Verhältnissen +staatliches Institut umgewandelt — ein innerer +Gegensatz, an dem sie unbedingt hätte scheitern +müssen.</p> + +<p>Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen +Produktivgenossenschaft ist folgender. Solange +die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen +eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, +unterstanden sie den Zwangsgesetzen der +Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja +gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion +im Auge hatte, die zugleich die großen Weltmarktsindustrien +bilden. Wo aber Konkurrenz besteht, +besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz +zwingt den Unternehmer, sei er eine einzelne +Person, eine Aktiengesellschaft oder eine +Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, +daß sein Produkt jeweilig als unterwertig — d. h. +als Erzeugnis von nicht gesellschaftlich notwendiger +Arbeit — aus dem Markt geworfen wird. +Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und +Stockung, Konkurrenz und Bankrotte sind in der +heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine Beherrschung +der Produktion durch die Produzenten +selbst ist nur möglich nach Maßgabe der Aufhebung +der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar +durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz +in der heutigen Gesellschaft die wichtige +Mission hat, die Konsumenten vor Übervorteilung +zu schützen und die Produktionskosten beständig<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span> +zu senken, hat das Monopol umgekehrt die +Tendenz, die Konsumenten zugunsten der Monopolinhaber +zu überteuern und den Fortschritt der +Technik, wenn nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. +Das letztere um so mehr, wenn die +beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols +sind. Die Aufhebung des geschäftlichen +Risikos für die Assoziationen würde also im +Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, +wenn überhaupt zu verwirklichen, notwendigerweise +auf Kosten der Konsumenten vor sich +gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten +gegenüber die große Mehrheit ausmachen. Zwischen +Assoziations- und Gesamtinteresse wäre +ein unlösbarer Antagonismus.</p> + +<p>In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das +natürlich leicht zu verhindern, aber ein solches +wird nicht den Umweg von der subventionierten +Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung +der Produktion gehen, sondern die Produktion, +auch wenn sie sich dabei der Form der genossenschaftlichen +Betriebe bedient, von vornherein auf +gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die +kapitalistische Gesellschaft verpflanzt, wird gerade +die Produktivgenossenschaft dagegen so oder +so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. +Die Lassalleschen Produktivgenossenschaften +würden sich von den Schulze-Delitzschschen nur +quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe, nicht +dem Wesen nach unterschieden haben.</p> + +<p>Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus,<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span> +der ein viel zu durchgebildeter Ökonom +war, als daß ihm diese schwache Seite der Lassalleschen +Assoziationen hätte entgehen können. Wir +haben bereits aus dem oben zitierten Brief Lassalles +an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus sich in +seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern +wollen, und die auf jenen folgenden Briefe +Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich deutlich +durchblicken, welches der Haupteinwand von +Rodbertus war. Noch deutlicher aber geht dies +aus den Briefen von Rodbertus an Rudolph Meyer +hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, +einige der betreffenden Stellen hier folgen zu +lassen.</p> + +<p>Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:</p> + +<p>„... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, +auch nachweisen, daß dasjenige Kollektiveigentum, +das die Sozialdemokraten heute verfolgen, +das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, +ein viel schlechteres, zu weit größeren +Ungerechtigkeiten führendes Grund- und Kapitaleigentum +ist, als das heutige individuelle. Die +Arbeiter folgen hier noch Lassalle. Ich hatte ihn +aber brieflich überführt, zu welchen Absurditäten +und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen +müsse und (was ihm besonders unangenehm +war) daß er gar nicht der Schöpfer dieser Idee +sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la +Révolution entlehnt habe.”<a name="FNAnker_25_25" id="FNAnker_25_25"></a><a href="#Fussnote_25_25" class="fnanchor">[25]</a></p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span></p> + +<p>Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten +Grund allgemeiner Natur habe ich gegen diese +Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am +Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder +eine Gratifikation, wie Settegast mit Recht sagt — +und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale Frage nicht +gelöst — oder sie entwickelt sich auch zu einem +Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich +zu einem Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. +Dies Kollektiveigentum liegt aber nicht +auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis +würde mich zu weit führen, aber so weit hatte +ich Lassalle denn doch schon in unserer Korrespondenz +getrieben, daß er mir in einem seiner +letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen +denn, daß ich will, daß der Produktivassoziation +der Fonds zum Betriebe <em class="gesperrt">gehören</em> soll!’ (sic!) +Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum +der Arbeiter an den einzelnen Betrieben wäre +ein weit übleres Eigentum, als das individuale +Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum +einer Kapitalistenassoziation.” ...</p> + +<p>Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in +keinem der zur Veröffentlichung gelangten Briefe +Lassalles an Rodbertus. Es ist aber kaum anzunehmen, +daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt<span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span> +haben würde, wenn er den Wortlaut +nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er +gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein +triftiger Grund spricht nämlich dagegen, daß +Lassalle sich nicht in der Tat einmal so ausgedrückt +haben sollte. In allen Lassalleschen +Reden ist vielmehr von den Zinsen die Rede, +welche die Assoziationen dem Staat für das vorgeschossene +Kapital zu zahlen hätten. Es liegt +also in dem Satz noch nicht einmal ein Zugeständnis +an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein +solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich +in eine — unbeabsichtigte — Verurteilung der +Produktivassoziationen umschlägt, findet sich dagegen +in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom +26. Mai 1863. Dort heißt es:</p> + +<p>„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, +wenn dem Arbeiter Boden, Kapital und Arbeitsprodukt +gehört<a name="FNAnker_26_26" id="FNAnker_26_26"></a><a href="#Fussnote_26_26" class="fnanchor">[26]</a>, von einer Lösung der sozialen +Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat +wird sich also auch annähernd herausstellen, +wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung geliefert +wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. +Bei der ländlichen Assoziation wird dann der +Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span> +Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation +wird er in der Regel mehr erhalten als +seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich genau +und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk +schreibe, sehr explizit nachweisen.”</p> + +<p>Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus +entweder den Sinn der vorstehenden Sätze nicht +genau verstanden hatte oder Lassalle in die Enge +jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt +(einen hier gleichgültigen Zwischensatz lasse ich +fort):</p> + +<p>„Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation +wird dann der Arbeiter entweder mehr +oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’, ist +jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu +verstehen. Ich verstehe gar nicht die Schwierigkeit, +die in bezug auf diesen Satz stattfinden +könnte.</p> + +<p>Die Assoziationen auf den besser beschaffenen +oder besser gelegenen usw. Äckern würden doch +zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt +die Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr +als ihren wirklichen Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, +haben.</p> + +<p>Allein schon daraus allein, daß einer in der +Gesellschaft mehr hat als sein legitimes Arbeitsprodukt, +folgt, daß ein andrer weniger haben muß, +als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, +wie wir uns dieselbe übereinstimmend +(vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen Briefes)<span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span> +denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen +würde.</p> + +<p>Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt +(im Sinne der endgültigen Lösung der sozialen +Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier immer +als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem +‚mehr oder weniger’ unterstelle)? Ist es das +Produkt, das ich ländlich oder industriell unter +beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen +kann, während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen +mit derselben Arbeit mehr, ein Dritter +unter noch ungünstigeren mit derselben Arbeit +weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein +Arbeitsprodukt wäre der Anteil an der gesamten +gesellschaftlichen Produktivität, der bestimmt wird +durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum +zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft +steht.</p> + +<p>Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes +können Sie das unmöglich bestreiten.</p> + +<p>Und folglich haben, solange die Arbeiter der +einen Assoziation Grundrente beziehen, die Arbeiter +der andern, die nicht in diesem Fall sind, +weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes +Arbeitsprodukt.”</p> + +<p>Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier +gar nicht mehr möglich. Die „Idee”, welche +Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt, +ist die kommunistische, die das gesamte +Arbeitsprodukt der Gesellschaft und nicht den<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span> +individuellen Arbeitsertrag des einzelnen oder der +Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich +durchaus dessen bewußt, daß, solange der letztere +den Verteilungsmaßstab bildet, ein Bruchteil +der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise +weniger erhalten werde als ihm +auf Grund des von ihm verrichteten Anteils an +der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter +Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen +zunächst eine neue Ungleichheit schaffen +würden. Gerade mit Rücksicht darauf habe er, +so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung +seines Vorschlages das Wort „Lösung +der sozialen Frage” sorgfältig vermieden — „nicht +aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, +sondern aus jenen theoretischen Gründen”.</p> + +<p>Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt +Lassalle, daß die Ungleichheit bei den ländlichen +Assoziationen durch eine differenzierende Grundsteuer +leicht beseitigt werden könne, welche „die +ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hände +des Staats bringen, den Arbeitern nur den wirklich +gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll — die +Grundrente im Sinne Ricardos genommen<a name="FNAnker_27_27" id="FNAnker_27_27"></a><a href="#Fussnote_27_27" class="fnanchor">[27]</a>. Die +Grundsteuer würde die Bezahlung bilden für die +Überlassung der Bodenfläche an die assoziierten<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span> +Arbeiter und — wie es bei Lassalle heißt — „schon +aus Gerechtigkeit und Neid” von den +ländlichen Assoziationen „leidenschaftlich begünstigt +werden”. Der Staat aber hätte an dieser +Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, +Kunst, öffentliche Ausgaben aller Art zu +bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen +solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, +daß sobald die Assoziationen jeder einzelnen +Branche sich zu je einer großen Assoziation +zusammengezogen haben, der private +Zwischenhandel aufhören und der Verkauf in +vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt +werden würde. „Würde hiermit nicht zugleich +getötet werden, was man heut Überproduktion +und Handelskrise nennt?”</p> + +<p>Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung +der Grundrente<a name="FNAnker_28_28" id="FNAnker_28_28"></a><a href="#Fussnote_28_28" class="fnanchor">[28]</a> ist ein durchaus +rationeller, d. h. er enthält keinen Widerspruch +in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens +sehr wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen +Stufe der Entwicklung irgendwie verwirklicht +werden wird. Die Idee der Zusammenziehung +der Assoziationen ist dagegen nur ein frommer +Wunsch, der in Erfüllung gehen kann, aber nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span> +notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht, +solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen +Assoziationen gestellt wird. Und selbst wenn sie +in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus +nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder +der einzelnen Assoziation nicht in ihrem +Anteil an deren Ertrage eine größere oder +unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen +Gesamtprodukts erhalten, als ihnen +auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. +Es stände immer wieder Assoziationsinteresse +gegen Gesamtinteresse.</p> + +<p>Hören wir noch einmal Rodbertus.</p> + +<p>Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August +1872 nimmt er auf einen Artikel des „Neuen +Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß +Lassalle der „weitgehendsten Richtung des Sozialismus” +angehört habe, und meint, das sei wohl +richtig, es sei</p> + +<blockquote> + +<p>„aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und +der (Neue) ‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine +Produktivassoziation angestrebt haben, wie +Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher +der Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören +sollte, nur daß Schulze-Delitzsch wollte, sie +sollten sich das Kapital selbst dazu sparen, und +Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, +sollte es ihnen liefern (ob leihen oder schenken, +ist wohl nicht ganz klar). Aber eine Produktivassoziation, +die den Kapitalgewinn einsackt,<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span> +setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ +voraus. Wie soll also jene ‚weitgehendste Richtung’ +mit einer solchen Assoziation vermittelt +werden können?”</p></blockquote> + +<p>Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die +Produktivassoziation als „provisorische Institution” +gedacht werden könne, und fährt nach einigen +allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die Produktivassoziation, +die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ +in der Tat angestrebt, kann auch nicht +einmal als Übergangszustand zu jenem ‚weitgehendsten’ +Ziele dienen, denn, der menschlichen +Natur gemäß, würde er nicht zu allgemeiner +Brüderlichkeit, sondern zu dem schärfsten Korporationseigentum +zurückführen, in welchem nur +die Personen der Besitzenden gewechselt hätten, +und das sich tausendmal verhaßter machen würde, +als das heutige individuale Eigentum. Der Durchgang +von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum +kann eben niemals das Korporations- oder +auch Kollektiveigentum sein (es kommt ziemlich +über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale +Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum +zum Staatseigentum. Und hierin liegt +die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die +Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel +(das auch bei Lassalle noch kein praktisches Interesse +erregen sollte) doch die Produktivassoziation +mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum +zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr +hinter den Wagen gespannt worden, als von den<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span> +Berliner Sozialdemokraten (und ihrem Führer +Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ +Ziel anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” +(Briefe usw. von Rodbertus-Jagetzow.)</p> + +<p>Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen +lassen, weil er Lassalle vielleicht am objektivsten +gegenüberstand und in seiner Auffassung vom +Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle +hatte, auch wohl niemand so eingehend mit Lassalle +über die Produktivgenossenschaften diskutiert hat, +wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich +auch nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie +von der „Lösung der sozialen Frage” hatte, nämlich +den Normalwerksarbeitstag und den verhältnismäßigen +Arbeitslohn. Aber den schwachen +Punkt in der Lassalleschen Assoziation hat er +in der Hauptsache richtig bezeichnet, wenn er +sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen +spannt. Lassalle wollte die Vergesellschaftung +der Produktion und der Produktionsmittel, und +weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem +„Mob” — worunter er den ganzen Troß der +Gedankenlosen aller Parteien verstand — bereits +zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen +schleudern wollte, stellte er das ihm ungefährlicher +scheinende Postulat der Produktivgenossenschaft +mit Staatskredit auf.</p> + +<p>Er beging damit denselben Fehler, den er in +seinem Aufsatz über Franz von Sickingen als +die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, +er „listete” mit der „Idee”, wie es in jenem<span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span> +Aufsatz heißt, und täuschte die Freunde mehr, +als die Feinde. Aber er tat es, wie Sickingen, +im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt +gegenüber Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, +auf die Assoziationen zu verzichten, sobald jener +ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel +zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus +nicht den Schluß ziehen, daß Lassalle nicht von +der Güte seines Mittels durchaus überzeugt war. +Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und +kann sie um so eher abgeben, je mehr er seiner +Sache sicher zu sein glaubt. Und wie sehr dies +bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung +in bezug auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: +„Kurz, ich begreife nicht, wie man nicht +sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat +ausgehend, der organische Entwicklungskeim ist, +der zu allem weiteren führt.” — Er ist also unbedingt +von dem Vorwurf freizusprechen, mit +dieser Forderung den Arbeitern etwas empfohlen +zu haben, von dessen Richtigkeit er nicht durchdrungen +war, ein Vorwurf, der viel schwerwiegender +wäre, als der eines theoretischen Irrtums.</p> + +<p>Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen +mit Staatskredit der Zweck, dem diese +dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der +sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen +Grundzügen bereits enthalten, daß hier in der +Tat — worauf er so großes Gewicht legte — „das +Mittel von der eignen Natur des Zweckes +ganz und gar durchdrungen” sei. Nun ist ja auch<span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span> +tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück +Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der +Gemeinschaftlichkeit, und die Forderung der +Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die +Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen +Befreiung der Arbeiterklasse in Anspruch zu +nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den Zusammenhang +mit dem großen Ganzen, der bei der +Schulzeschen Assoziation verlorenging, möglichst +zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht +nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr +die Einheitlichkeit des Gedankens bei ihm +im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen, +welche Auffassung er vom Staat hatte, +wie dieser für ihn nicht der jeweilige politische +Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände +war, sondern die Verwirklichung eines ethischen +Begriffs, der durch jeweilige historische Einflüsse +zwar beeinträchtigt, dessen ewige „wahre Natur” +aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher +Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der +Forderung der Staatshilfe mehr als eine bloße +praktische Maßregel zu erblicken und ihr, wie +Lassalle dies getan, als einem fundamentalen +Prinzip des Sozialismus, eine selbständige prinzipielle +Bedeutung zuzuschreiben<a name="FNAnker_29_29" id="FNAnker_29_29"></a><a href="#Fussnote_29_29" class="fnanchor">[29]</a>. Und ebenso<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span> +steht die Forderung der Produktivgenossenschaften +in engster Ideenverbindung mit Lassalles +Theorie des ehernen Lohngesetzes. Sie fußt auf +denselben ökonomischen Voraussetzungen. Kurz, +es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß.</p> + +<p>Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an +die Richtigkeit seines Mittels glaubte, um es zu +rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so unbestimmt +wie nur möglich äußerte. Er, der in +dem schon zitierten Aufsatz über den „Franz +von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte, welche +Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten +Zwecke der Bewegung andern (‚und beiläufig +eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim +zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei +Sickingen dessen „sittliche Schuld” erblickt hatte, +die seinen Untergang herbeiführen mußte, den +Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht +der von ihm vertretenen Idee, ein „Abweichen +von seinem Prinzip”, ein „halbes Gebrochensein” +— er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen +dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt +auf den wirklichen Zweck zuzuspitzen. Die Entschuldigung, +daß man diesen Zweck dem „Mob” +noch nicht sagen durfte, oder daß die Massen +für ihn noch nicht zu gewinnen waren, trifft nicht +zu. Waren die Massen für das wirkliche Ziel der<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span> +Bewegung noch nicht zu interessieren, so war +diese überhaupt verfrüht und dann konnte auch das +Mittel, selbst wenn erlangt, nicht zum Ziele führen. +In den Händen einer Arbeiterschaft, die ihre weltgeschichtliche +Mission noch nicht zu begreifen +vermag, konnte das allgemeine Wahlrecht mehr +schaden als nützen und mußten die Produktivgenossenschaften +mit Staatskredit nur der bestehenden +Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer +liefern. War aber die Arbeiterschaft +entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu +begreifen, dann mußte dieses auch offen ausgesprochen +werden. Es brauchte damit noch nicht +als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes +Ziel hingestellt zu werden, aber nicht nur der +Führer, sondern auch jeder der Geführten mußte +wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß +es nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die +Masse wäre dadurch nicht mehr vor den Kopf +gestoßen worden, als es durch den Kampf um +das Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst +darauf hin, wie fein der Instinkt der herrschenden +Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz +handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung +mit Recht, „sind zu täuschen, Klassen niemals.”</p> + +<p>Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär +erscheint, der sei auf die Geschichte der +Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. +Und damit will ich zum Schluß auf dieses Thema +übergehen.</p> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span></p> + + + + +<h2><a name="Gruendung_und_Fuehrung" id="Gruendung_und_Fuehrung">Gründung und Führung +des Allgemeinen Deutschen +Arbeitervereins.</a></h2> + + +<p>Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation +können hier nicht dargestellt werden, soll diese +Schrift nicht den Umfang eines ganzen Werkes +annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, +vorderhand nur die allgemeinen Züge +der Bewegung hervorzuheben.</p> + +<p>Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst +nur zum Teil die Wirkung, die Lassalle sich von +ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy +in Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze +liest sich mit solcher Leichtigkeit, daß es dem +Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon +jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches +Meisterwerk, sachlich und doch nicht +trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu verfallen, +voller Wärme und zugleich mit scharfer +Logik geschrieben. Aber — die Arbeiter lasen +sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden +bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen +der Arbeiterschaft ein. Dies war der Fall, wie +wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen in +Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und +Industrieorten am Rhein und in Hamburg. Teils +hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge eine +sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils +lebten, wie namentlich am Rhein, die Traditionen +der sozialistischen Propaganda aus der Zeit vor<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span> +und während der 1848 er Revolution wieder auf. +Aber das Gros der Arbeiter, die an der politischen +Bewegung teilnahmen, blieb auf längere Zeit +hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt +und betrachtete Lassalle mit denselben Augen +wie die meisten Führer der Fortschrittspartei — als +einen Handlanger der Reaktion.</p> + +<p>Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen +und außerhalb Preußens anbetrifft, so hatte bei +dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen +wahren Sturm erregt — nämlich einen wahren +Sturm der Entrüstung, der leidenschaftlichen Erbitterung. +Sie waren sich so groß vorgekommen, +so erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der +bedrohten Volksrechte, und nun wurde ihnen +plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen +Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, +das ihnen das Volk bisher entgegengebracht, +unwürdig erwiesen hätten und daß daher +jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, +insbesondere jeder Arbeiter, ihnen den Rücken +zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung verträgt +keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, +wenn sie sich in einer Situation befindet, wie +damals die Fortschrittspartei. Die Feindseligkeiten +zwischen ihr und der preußischen Regierung +hatten allmählich einen Höhegrad erreicht, daß +eine gewaltsame Lösung des Konfliktes fast unvermeidlich +schien, jedenfalls mußte man sich auf +das Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen +der Regierungsorgane, daß die Fortschrittspartei<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span> +gar nicht das wirkliche Volk hinter sich +habe, hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten +können, das Volk, das politisch denke, +stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht +hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. +Denn wenn die Fortschrittler auch keine große +Lust hatten, Revolution zu machen, an Drohungen +mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen<a name="FNAnker_30_30" id="FNAnker_30_30"></a><a href="#Fussnote_30_30" class="fnanchor">[30]</a>.</p> + +<p>Und gerade in einem solchen Augenblick sollte +man sich von einem Manne, der als Demokrat, +als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen +lassen, man habe die Sache des Volkes preisgegeben, +ruhig mitansehen, wie dieser Mensch +die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich +zu scharen suchte? Das hieß ihnen Unmenschliches +zumuten.</p> + +<p>Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern +ihr Möglichstes zu versuchen, die<span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span> +Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu lassen, +und die nachträgliche Kritik hat es daher nur +mit dem Wie dieser Gegenwehr zu tun, nicht +mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist, +um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. +Die Art der Gegenwehr nun kann kaum anders +bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. +Daß die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger +der Reaktion hinstellten, ist eigentlich noch +das geringste, was ihnen zum Vorwurf gemacht +werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal +nicht bestreiten, daß Lassalles „Antwortschreiben” +zunächst Wasser auf die Mühle der preußischen +Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu +beschränken, Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, +in denen sie eine starke Position, +oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken +Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf +diejenigen seiner Angriffe an, die sie bei ihrer +schwachen Seite trafen, und entwickelten dabei +eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit +hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht +zugleich mit einer so riesigen Dosis von Selbstüberhebung +gepaart gewesen wäre. Lassalles einseitiger +Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte +getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen +Aufgaben des Staats gegenüber, seinem, +wie wir gesehen haben, auf zum Teil unrichtigen +Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz +die platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen +Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span> +Wut vergaßen sie so sehr alle Wirklichkeit, alles, +was sie selbst früher in bezug auf die nachteiligen +Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben +hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit +ihrer Behauptungen selbst die Übertreibungen +Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen +Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch +und Genossen über Nacht zu dessen +Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten +Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen +Auszüge aus der 1858 erschienenen Schrift des +ersteren mit den Ausführungen Schulzes in seinem +„Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” +— eine Zusammenstellung von sechs Vorträgen, +die letzten davon bestimmt, Lassalle vor +den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. +Während dort es als eine der schönsten Wirkungen +der selbsthilflerischen Assoziationen bezeichnet +wurde, daß sie den Unternehmergewinn herunterdrücken +hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft +ein solches Ding wie Unternehmergewinn” +gar nicht kenne und also auch natürlich keinen +Gegensatz zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn. +Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und +b) Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel +S. 153). Gegenüber solcher „Wissenschaft” +brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu sein, +um mit ihr fertig zu werden.</p> + +<p>Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz +seiner packenden Rhetorik hatte Lassalle doch +den Fortschrittlern gegenüber nicht den Erfolg,<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span> +auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung +des „Offenen Antwortschreibens” gleich der der +von Luther an die Wittenberger Schloßkirche genagelten +Thesen — wie sie Lassalle sich laut +dem bereits erwähnten Schreiben an seinen Freund +Levy versprach — konnte zunächst auch nicht +entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte +Lassalle in Frankfurt a. M., nachdem er zwei +Tage vorher auf dem dort abgehaltenen „Arbeitertag +des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, +in einer zum Abschluß derselben anberaumten +Volksversammlung die Annahme einer Resolution +durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden +verpflichteten, für das Zustandekommen eines +allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne +Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward +alsdann in Leipzig, in Anwesenheit von Delegierten +aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln, +Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, +Leipzig, Dresden und Frankfurt a. M.), der +„Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet, +auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein +mit dem ihm befreundeten demokratischen Fortschrittsabgeordneten +Ziegler ausgearbeitet hatte. +Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine +streng zentralistische, was sich zum Teil durch +die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch +den Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an +die Gründung eines allgemeinen Arbeiterversicherungsverbandes +gedacht worden war. Der Plan +war fallen gelassen worden, aber Lassalle behielt<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span> +trotzdem die Bestimmungen der Statuten bei, die +sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich +die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen +Vollmachten für die Person des Präsidenten, +der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar +sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf +dieser ersten konstituierenden Versammlung Anzeichen +einer Opposition gegen solche Präsidialgewalt +bemerkbar, aber sie konnte gegenüber +Lassalles ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte +Annahme der Statuten nicht durchdringen. +Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) +wurde Lassalle zum Präsidenten erwählt, und +nachdem man ihm noch die Befugnis zugestanden, +so oft und auf so lange als er wollte, einen Vizepräsidenten +zu ernennen, nahm er nach einigem +Zaudern die Wahl an. Er war somit anerkannter +Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber +blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe +Anhängerschaft beschränkt. Drei Monate +nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des +Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. +An sich wäre das ein gar nicht zu verachtender +Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz +andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der +Leiter einer Propagandagesellschaft, sondern der +Führer einer Massenbewegung sein. Die Massen +aber blieben der neuen Organisation fern.</p> + +<p>Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, +er konnte zeitweise eine wahrhafte Riesenarbeit +leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span> +war das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. +Der Verein war noch nicht sechs Wochen alt, da +trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige +Erholungsreise an — zunächst in die Schweiz, +dann an die Nordsee. Freilich blieb Lassalle auch +unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine rege +Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für +den Verein zu gewinnen, wobei er übrigens nicht +sehr wählerisch vorging, aber gerade das, worauf +es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ +er ruhen. Ferner sorgte er unbegreiflicherweise +nicht einmal dafür, daß der Verein wenigstens +ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, +obwohl es ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. +Er begnügte sich mit gelegentlichen Subventionen +an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten +Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” +und den in Leipzig von einem Eigenbrödler, +Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”, +womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten +wurden, ohne jedoch deshalb aufzuhören beständig +zwischen Leben und Sterben zu schweben.</p> + +<p>Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch +die meisten der vorgeschrittenen Demokraten und +Sozialisten aus den bürgerlichen Kreisen, an die +sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, +dem Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute +war, wie bereits erwähnt, stark verphilistert oder +doch auf dem besten Wege zum Philisterium, +andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches +Mißtrauen gegen Lassalle davon abgehalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span> +sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder andere +hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die +Fortschrittspartei von links her zu attackieren. Und +selbst diejenigen, die dem Verein beitraten, ließen +es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden +und verhielten sich im übrigen durchaus +passiv. Dafür agitierten zwar andere Mitglieder +des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse +hervorgegangenen, um so eifriger, und der +Sekretär des Vereins, Jul. Vahlteich, entwickelte +eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für +den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen +durchaus nicht den Anstrengungen. Auf +der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit +der unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der +andern die das Interesse des Augenblicks absorbierende +nationale Bewegung in Verbindung mit +dem Verfassungskampf in Preußen als ein fast +unübersteigbares Hindernis, so daß an verschiedenen +Orten die Mitglieder des Vereins bereits +lebhaft die Frage diskutierten, ob man nicht durch +Anziehungsmittel unpolitischer Natur, Gründung +von Unterstützungskassen usw., das Werbegeschäft +fördern solle.</p> + +<p>Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, +auf die Diskussion dieser Frage einzugehen — +vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den +Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte +der Arbeiteragitation usw. S. 83) —, er kam aber +wieder davon ab, weil er einsah, daß der Verein +damit notwendigerweise seinen Charakter ändern<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span> +mußte. Er würde aufgehört haben, eine jederzeit +disponible politische Maschine abzugeben, und nur +als eine solche hatte er in den Augen Lassalles +Wert.</p> + +<p>Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken +einer Rede, mit der er bei seiner Rückkehr +die Agitation wieder aufnehmen wollte, und +zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm +am günstigsten erwiesen hatte. Es ist dies die +Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter +Abgeordnetentag”.</p> + +<p>Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom +20. bis 29. September 1863 in Barmen, Solingen +und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt +in seiner Agitation. Welche Einflüsse während +der Sommermonate auf ihn eingewirkt hatten, wird +wohl kaum festgestellt werden können, indes wird +man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin +Hatzfeldt und ihre Verbindungen schließt. Die +Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein noch +größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben +zu sehen, als dieser selbst; für sie ging +das Interesse am Sozialismus vollständig auf im +Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung +sie überhaupt erst zum Sozialismus gekommen +war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre +große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie +ihm zu Schritten riet, die wohl versprachen, seinem +persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu verschaffen, +die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade +kompromittieren konnten. Für sie war eben die<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span> +Bewegung Lassalle und Lassalle die Bewegung, +sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille +der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche +uneigennützigen Freunde sind indessen in der +Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie +aber obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung +usw. in besonderen Klassenvorurteilen befangen +und haben sie keinen eigenen selbständigen +Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen +schlimmer als Gift. Sie bestärken den Gegenstand +ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und +Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, +indem sie ihn auf jedes Unrecht aufmerksam +machen, das ihm scheinbar geschehen; +mehr als der Beleidigte selbst verzehren sie sich +im Durst nach Rache für dieses Unrecht, sie +hetzen und schüren und intrigieren — alles in +bester Absicht, aber zum größten Schaden dessen, +für den es vermeintlich geschieht.</p> + +<p>Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite +Frau, die Lassalle, so sehr sie ihm an Wissen +und Energie nachstand, doch in bezug auf Erfahrung +überlegen war. Wo seine Leidenschaft +nicht im Wege stand, gab er viel auf ihren Rat; +er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen +Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am +Schluß seiner Laufbahn geschriebenen Briefe an +die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die +Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die +ihn zur Annahme des Präsidiums des Allgemeinen +Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe. Das<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span> +ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle +hätte wohl auch ohne die Gräfin das Präsidium +angenommen. Aber in solchen Situationen läßt +man sich besonders gern durch gute Freunde zu +dem bestimmen, was man selbst möchte, weil es +die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. Die +Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt +haben, und es liegt der Schluß mehr als +nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge +getan haben wird, die sich in den oberen Regionen +Preußens damals vorbereiteten. Es sei nur an +die Erklärung Lassalles in seiner Verteidigungsrede +im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon +vom ersten Tage, wo er seine Agitation begann, +gewußt habe, daß Bismarck das allgemeine Wahlrecht +oktroyieren werde, und an die weitere +Erklärung, daß, als er das „Offene Antwortschreiben” +erließ, ihm „klar” war, daß „große +auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, +welche es unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. +Er stellt es zwar dort so hin, als ob +dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse +mit sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen +an Marx haben wir aber gesehen, wie sehr er +sich bei seinen politischen Schritten durch die +„Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus +„diplomatischen Quellen” über die Vorgänge in +Regierungskreisen zugingen.</p> + +<p>Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum +des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins +sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span> +Lassalle selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang +auf die Mittel der Intrige und stillen Diplomatie +abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf +verfallen, hinten herum das zu erreichen, was +auf dem Wege des offenen Kampfes sich als +so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben +fand sie an Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er +sich einmal als Ziel gesetzt, um jeden Preis zu +erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament +und seinem hochgradigen Selbstgefühl nur +zu bereitwillige Unterstützung. Inwieweit damals +schon die Fäden angeknüpft waren, die später +Lassalle ins Palais des Herrn von Bismarck führten, +läßt sich heute nicht mehr feststellen, aber +sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die +Rede „Die Feste, die Presse usw.” für den Druck +niederschrieb, an seinen Freund Levy richtete: +„Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein +paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der +Inhalt der Rede selbst beweisen, daß an diesen +Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die +Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, +die teilweise sehr übertrieben sind, +während dagegen dem Minister Bismarck unumwunden +geschmeichelt wird. Hatten bis dahin +stets der Demokrat und der Sozialist in Lassalle +die demagogische Ader in ihm gemeistert, so +meistert hier der Demagoge die ersteren.</p> + +<p>Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, +nachdem sie den Landtag nach Hause geschickt, +die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span> +die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger +zweimaliger Verwarnung das fernere Erscheinen +irgendeiner inländischen Zeitung oder +Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche +Wohlfahrt gefährdender Haltung zeitweise oder +dauernd” zu verbieten. Die liberale Presse, ausschließlich +in den Händen von Privatunternehmern, +hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der +Dauer der Preßordonnanzen überhaupt nichts +mehr über die innere Politik zu schreiben. Das +war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es +war auch nicht so schlimmer Verrat an der eigenen +Sache als wie Lassalle es hinstellt. Lassalle +übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht +beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen +war, die ihm verhaßten Blätter der Opposition +geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene oder +eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. +In der Begründung der Preßordonnanz hatte es +ausdrücklich geheißen:</p> + +<blockquote> + +<p>„Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse +derselben (d. h. der liberalen Presse) +vermittelst der konservativen Presse kann schon +deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise +haben, weil die meisten der oppositionellen +Organe durch eine langjährige Gewöhnung +des Publikums und durch die industrielle +Seite der betreffenden Unternehmungen eine +Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu +bekämpfen ist.”</p></blockquote> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span></p> + +<p>Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf +ankommen ließen, verboten zu werden, so erhielt +die Regierung auch keine Möglichkeit, andere +Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder +jenen die Annoncen abspenstig zu machen. Der +eine Zweck der Maßregel wurde also gerade +durch dies zeitweilige Schweigen über die innere +Politik vereitelt. Nicht minder aber auch der +zweite, direkt politische Zweck. Lassalle meint +in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich +hätte verbieten lassen, wenn der Spießbürger nicht +mehr beim Frühstück seine gewohnte Zeitung bekommen +hätte, dann würde die Erbitterung über +die Preßordonnanzen im Volke aufs höchste gesteigert +worden sein und die Regierung sich gezwungen +gesehen haben, nachzugeben. Indes, die +Erbitterung war nicht minder groß, wenn der +Spießer zwar seine gewohnte Zeitung forterhielt, +aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben +vordemonstriert wurde, daß seinem Organ +ein Knebel angelegt war, wenn er zwar sein Blatt, +aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.</p> + +<p>Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, +die nicht aufrechtzuerhalten war, sobald der Landtag +wieder zusammentrat. Es handelte sich um +ein Provisorium, und die liberalen Blätter hatten +gar keine Ursache, während desselben, Bismarck +zuliebe — wie Lassalle es ausdrückt — „mit +Ehren zu sterben”.</p> + +<p>Die Wut der Regierung war denn auch eine +nicht geringe, und ihre Organe spiegelten diese<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span> +Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle +drückt das so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die +reaktionären Blätter wußten damals ihrem Erstaunen +und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren +kaum hinreichenden Ausdruck zu geben.” +Und er zitiert als Beweis die „Berliner Revue”, +das Organ des reaktionärsten Muckertums.</p> + +<p>Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, +ihren Angriffen auf die liberale Presse ein sozialistisches +Mäntelchen umzuhängen, sich zu gebärden, +als ob sie ihres kapitalistischen Charakters +halber angriffen. Statt jedoch gegen diese Fälschung +des sozialistischen Gedankens zu protestieren +und jede Solidarität mit ihren Urhebern +zurückzuweisen, leistete Lassalle dem Spiel der +Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre Blechmünzen +den Arbeitern als echtes Gold ausgab.</p> + +<p>Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute +ein Geldgeschäft ist, ein großer Übelstand, ein +mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen +Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das +kapitalistische Privateigentum besteht, schwerlich +abzuhelfen, — am allerwenigsten durch beschränkende +Gesetze des selbst noch kapitalistisch +geleiteten Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen +werden kann, wird sie durch die Freiheit +der Presse ermöglicht. Davon aber wollte +die preußische Regierung nichts wissen, und +Lassalle unterstützte ihren Widerstand noch, indem +er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber +zugleich erklärte, daß diese ohnmächtig sein<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span> +würde, das Wesen der Presse umzuwandeln, wenn +nicht zugleich der Presse das Recht entzogen +würde, Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde +die Presse nämlich aufhören, eine lukrative Geldspekulation +zu sein, und würden wieder nur solche +Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl +und das geistige Interesse des Volkes kämpfen.</p> + +<p>Braucht es noch eines besonderen Nachweises, +wie absolut wirkungslos dieses Mittel wäre? +Lassalle hätte nur seine Blicke über den Grenzbereich +des preußischen Staates hinaus nach England +und Frankreich zu richten brauchen, um sich +von der Verkehrtheit seiner Idee zu überzeugen. +In England bildete und bildet heute noch das +Annoncenwesen eine sehr wesentliche Einnahmequelle +der Presse, während in Frankreich den +Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht +direkt verboten, aber durch eine hohe Steuer fast +unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert +war. War deshalb die französische Presse besser +als die englische? Weniger im Dienst des Kapitalismus, +weniger korrumpiert als jene? Mit +nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte +es im Gegenteil dem Bonapartismus sehr wesentlich +erleichtert, die Presse für seine Zwecke zu +korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische +Presse Frankreichs nicht verhindert, der +hohen Finanz in viel höherem Grade dienstbar +zu sein, als es die politische Presse Englands war.</p> + +<p>Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil +seiner Rede wenigstens eine Frage, die in der<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> +Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen +Lebens bezeichnet werden muß. War der +Zeitpunkt auch schlecht gewählt, war das Heilmittel +auch von problematischem Wert, an und +für sich bleibt die Tatsache, daß die Presse, ob +mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein kapitalistisches +Institut wird, ein Krebsschaden, auf +den die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt +werden muß, soll sie sich vom Einfluß der +Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend +aber war, was Lassalle über die Feste +sagt, welche die Fortschrittler 1863 Bismarck +zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß +die Feste weiter nichts waren, als Agitationsversammlungen, +als Demonstrationen gegen die +Regierung, wie sie in Frankreich und England +unter ähnlichen Verhältnissen auch veranstaltet +worden waren. Wollte er sie kritisieren, so mußte +er hervorheben, daß mit den Festen allein noch +nichts getan war, daß, wenn es bei ihnen blieb, +die Sache des Volks gegen die Regierung um +keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte +er sich darauf, die Redensarten der +Regierungspresse über die Feste zu wiederholen, +den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen +suchte, noch zu überbieten. Niemand, +der die Geschichte der preußischen Verfassungskämpfe +des Jahres 1863 genauer kennt, wird +diese Stelle der Lassalleschen Rede lesen können, +ohne sie zu mißbilligen.</p> + +<p>Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im<span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span> +Sommer 1863 zu Frankfurt a. M. zusammengetretenen +Deutschen Abgeordnetentages, wäre +berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in +demselben Augenblick, wo er den Fortschrittlern +einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den +deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von +Bismarck bangezumachen — wir haben gesehen, +wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” +das „Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen +und Preußen als den reaktionärsten +der deutschen Staaten hingestellt hatte — wenn +Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits +ein gleiches Spiel getrieben hätte, wie die Fortschrittler, +nur daß er nach der andern Seite hin +liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe +gegen Bismarck und die preußische Regierung, +wohl aber eine ganze Reihe direkter und indirekter +Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie +„mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” +über die Beschlüsse der Kammer hinweggehen, +und er stellt Bismarck das Zeugnis +aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler +alte Weiber seien. Noch ein Passus der Rede +zeugt von der veränderten Frontrichtung Lassalles.</p> + +<p>Der Führer des Nationalvereins, Herr von +Bennigsen, hatte den Abgeordnetentag mit folgenden +Worten geschlossen, und es ist ganz gut, +wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft +der Volkspartei und die Verstocktheit der +Regierenden habe schon oft zu revolutionären +Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span> +sei nicht bloß einmütig, sondern auch so gemäßigt +bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche nationale +Partei, die keine Revolution wolle und keine +machen kann, keine Verantwortung dafür habe, +wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, welche, +weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung +greife.”</p> + +<p>Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung +eine zwar recht lendenlahme Drohung, aber doch +eine Drohung mit der Revolution. „Wir wollen +keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen +unsere Hände in Unschuld, aber wenn ihr nicht +nachgebt, dann wird sie doch kommen, und dann +habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, +wenn man wirklich die ganze Nation hinter sich +hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider zugleich +auch sehr gebräuchliche Art zu drohen — so +gebräuchlich, daß, wie gesagt, über den Sinn +der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich +war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als +ob er die Drohung nicht verstanden habe, und +er stellt sich so, nicht etwa, um die Fortschrittler +zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, +sondern um ihnen zu drohen für den Fall, daß +es zu einer Revolution oder einem Staatsstreich +kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch +des Herrn von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende +Pronunziamento folgen: „Erheben wir +also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn +jemals dieser Umschwung, sei es auf diesem, +sei es auf jenem Wege käme, es den Fortschrittlern<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span> +und Nationalvereinlern gedenken zu +wollen, daß sie bis zum letzten Augenblicke erklärt +haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet +euch dazu, hebt eure Hände empor.”</p> + +<p>Und „die ganze Versammlung erhebt in großer +Aufregung ihre Hände”, heißt es in dem, von +Lassalle selbst redigierten Bericht über die Rede.</p> + +<p>Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” +bedeuten? Es war kaum eine andre Auslegung +möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn +nicht direkt angreifen, so doch im Stich lassen +wollte, wenn es „auf diesem oder jenem Wege” +zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. +Eine solche Drohung in diesem Moment konnte +aber nur die eine Wirkung haben, die Fortschrittler, +statt sie vorwärtszutreiben, erst recht +kopfscheu zu machen.</p> + +<p>In einer der Versammlungen, in Solingen, kam +es zu blutigen Konflikten. Eine Anzahl Fortschrittler, +die versucht hatten, Lassalle zu unterbrechen, +wurden von exaltierten Anhängern desselben +mit Messerstichen bedacht. Auf Grund +dieser Vorkommnisse löste der Bürgermeister eine +halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf +Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das +andere ausbringenden Menge zum Telegraphenbureau +eilte und das bekannte Telegramm an +Bismarck aufgab, das mit den Worten beginnt: +„Fortschrittlicher Bürgermeister hat soeben an +der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten +Gendarmen und mehreren Polizisten<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span> +mit gezogenem Säbel von mir einberufene Arbeiterversammlung +ohne jeden gesetzlichen Grund +aufgelöst”, und mit der „Bitte um strengste, +schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß.</p> + +<p>Auch wenn man alles in Betracht zieht, was +zu Lassalles Entschuldigung angeführt werden +kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten +der Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine +Enttäuschung über die verhältnismäßig geringen +Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen Widerwillen +gegen die feige Taktik der Fortschrittler, +seine einseitige, aber doch aufrichtige Gegnerschaft +gegen die liberale Wirtschaftslehre — kurz, +wenn man sich noch so sehr in seine damalige +Lage hineindenkt, so geht doch aus diesem Telegramm, +in Verbindung mit der vorstehend geschilderten +Rede, eines unbestreitbar hervor — +daß Lassalle, als er nach Deutschland zurückkam, +bereits seinen inneren Halt — wenn ich mich +so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren +hatte. Ein solches Telegramm hätte man keinem +Konservativen verziehen, geschweige denn einem +Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, +und der seiner inneren Überzeugung nach +sicherlich sich noch für einen solchen hielt. Wenn +nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste +Taktgefühl Lassalle verbieten müssen, sich zu +einem Appell an die Staatsgewalt herbeizulassen, +der mit einer politischen Denunziation begann.</p> + +<p>Und wenn man selbst dieses Telegramm noch +mit der durch die Auflösung der Versammlung<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span> +hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, +so folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung +unternommene Schritte, die ebenfalls den +politischen Grundsätzen, als deren Vertreter +Lassalle auftrat, schnurstracks entgegenstanden. +Hier nur ein Beispiel, das zudem in enger Verbindung +mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht.</p> + +<p>Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung +vom Messer Gebrauch gemacht haben sollten, +waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen +verurteilt worden. Und da war es +Lassalle, der allen Ernstes und wiederholt den +Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, unterstützt +durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein +Gnadengesuch an den König von Preußen richten. +Man denke, Lassalle, der noch einige Jahre zuvor +geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er +habe zu seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, +„wie wenig entmonarchisiert” das Volk in Preußen +sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen +hatte: „Ich habe keine Lust und keinen +Beruf, zu andern zu sprechen, als zu Demokraten”, +er, der als Führer der neuen Bewegung +doch vor allem die Pflicht hatte, seinen Anhängern +das Beispiel demokratischen Stolzes zu +geben, ermuntert sie, vom König von Preußen +Begnadigung zu erbetteln. Indes, die Arbeiter +zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am +20. April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte +Klings, daß gegen Lassalles Vorschlag allgemeine<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span> +Abneigung herrsche. Sämtliche Hauptmitglieder +des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. +„Die beiden von hier Verurteilten +gehören zu der entschiedensten Arbeiterpartei und +würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht +zu bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, +weil es ihren Gesinnungen widerstreitet, Sr. Majestät +verpflichtet zu sein.”</p> + +<p>Dieser Widerstand erweckte das demokratische +Gewissen Lassalles, und er schrieb an Klings, +die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem +Stolz. Aber den Gedanken der Adresse an den +König gab er noch immer nicht auf, sondern suchte +nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch +der Verurteilten von großem Nutzen sein +könne. Es kann, heißt es wörtlich, „vielleicht +auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn +die Adresse von mehreren tausend Arbeitern +unterschrieben ist, man diesem Schritte oben +eine — für uns ganz unverbindliche — Auslegung +gibt, durch welche man sich um so mehr +ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an +die Oktroyierung des allgemeinen und direkten +Wahlrechts zu gehen: ein Schritt, den man, wie +Ihnen der beigefügte Leitartikel der ministeriellen +Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) +zeigt, oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. +Indes auch diese Perspektive vermochte +die Solinger nicht von der Richtigkeit des empfohlenen +Schrittes zu überzeugen, und so blieb +der Bewegung diese Bloßstellung erspart.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span></p> + +<p>Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin +zurückkehrte, ging er zunächst mit allem Eifer +daran, die Hauptstadt für seine Sache zu erobern. +Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter +Berlins”, ließ ihn in 16000 Exemplaren abziehen +und einen Teil davon unentgeltlich unter +den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der +Aufruf sehr wirksam geschrieben ist und namentlich +geschickt an die entstellten Berichte der +Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” +und „Reform”) über die rheinischen Versammlungen +anknüpft, war der Erfolg doch zunächst +ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen +Lassalles in Berlin fanden in kleineren +Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött Anlaß, +und als in der ersten größeren Versammlung +Lassalle auf Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft +verhaftet wurde, klatschten fanatisierte +Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit +der Personen, die sich als Neugierige oder +unter dem Eindruck der Vorträge Lassalles in +die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen bald +wieder ab, so daß der Verein, der Anfang +Dezember 1863 es bis auf über 200 Mitglieder +in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 kaum +noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein +ein großer Teil Nichtarbeiter waren.</p> + +<p>Neben der Agitation beschäftigten Lassalle +auch sehr stark seine Prozesse und sonstigen +Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm +dem Ministerium Bismarck auch seine Agitation<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span> +war, soweit diese sich gegen die Fortschrittspartei +kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in +Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges +Werkzeug gebrauchen ließ. Es konnte +ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren +Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. +zu überschütten. Dadurch kam es in die Lage, +entweder zur rechten Zeit einen unbequemen +Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch +„mürbe” zu bekommen. Wie dem jedoch sei, +die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede +„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und +erhob gegen Lassalle Anklage auf Verletzung der +§§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches +(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen +behufs Herabsetzung von Anordnungen +der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle +unendlich viel Scherereien und endete, nachdem +Lassalle in erster Instanz in contumaciam zu +einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, mit +seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs +Monaten Gefängnis. Wegen der Flugschrift „An +die Arbeiter Berlins” erhob die Staatsanwaltschaft +in Berlin Anklage wegen Hochverrats +gegen Lassalle und ließ auch, wie bereits erwähnt, +Lassalle in Untersuchungshaft nehmen, aus +der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. +Beides, Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten +indes der persönlichen Rachsucht des Staatsanwalts +von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein +Jahr vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span> +so bös zerzaust hatte. In der Gerichtsverhandlung, +die am 12. März 1864 vor dem +Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte +der Staatsanwalt nicht weniger als drei Jahre +Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen +Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit +die Anklage auf Hochverrat lautete, auf Freisprechung +und überwies die Behandlung der untergeordneteren, +von der Staatsanwaltschaft behaupteten +Verstöße gegen das Strafgesetz der +zuständigen Gerichtsabteilung.</p> + +<p>Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist +ein wichtiges Dokument für die Geschichte der +Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf +sie eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen +Arbeit Lassalles zu erwähnen, die +Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein +propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden +muß. Es ist dies die Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze +von Delitzsch, der ökonomische Julian, +oder Kapital und Arbeit”.</p> + +<p>Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, +die Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im +Berliner Arbeiterverein hielt und unter dem Titel +„Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” +als Gegenschrift gegen die Lassallesche +Agitation veröffentlichte. Diese, aus den plattesten +Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie zusammengesetzten +Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene +Handhabe, den auf der Höhe seines +Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span> +Partei, die in ihm ihren ökonomischen Heros +verehrte, jetzt auch theoretisch zu vernichten. Berücksichtigt +man, daß Lassalle zu systematischen +ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, +sondern gerade in dem Moment, wo er sich an +die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk +machen wollte, durch die praktische Agitation +davon abgelenkt wurde, und zieht man außerdem +in Betracht, daß Lassalle, während er den +„Bastiat-Schulze” schrieb, durch seine Prozesse +und die Arbeiten für die Leitung des Vereins +fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann +man nicht umhin, in diesem Buch einen neuen +Beweis für das außergewöhnliche Talent, die +staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des +Lassalleschen Geistes zu erblicken. Freilich trägt +der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs deutlichste +die Spuren seines Entstehens. So sehr +die Form der Polemik der Popularität der Schrift +zugute kommt, sind die Umstände, unter denen +diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit +Lassalles, die um so größer war, als Lassalle +wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine +falsche Position geriet — die Enttäuschung einerseits, +und das Bestreben, sich über diese Enttäuschung +selbst hinwegzutäuschen, andererseits, +dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. +Aber auch inhaltlich ist sie keineswegs +immer auf der Höhe des Gegenstandes, sondern +verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die +obendrein nicht einmal immer in der Sache zutrifft<a name="FNAnker_31_31" id="FNAnker_31_31"></a><a href="#Fussnote_31_31" class="fnanchor">[31]</a>.<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span> +Dazu ist der sachliche und theoretische +Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht +frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen +hat der „Bastiat-Schulze” jedoch das große Verdienst, +den historischen Sinn und das Verständnis +für die tieferen Probleme der Ökonomie unter +den deutschen Arbeitern in hohem Grade gefördert +zu haben. Stellenweise erhebt sich die +Darstellung auf die Höhe des Besten, was Lassalle +je geschrieben hat, an diesen Stellen leuchtet sein +Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Lassalle_und_Bismarck" id="Lassalle_und_Bismarck">Lassalle und Bismarck.</a></h2> + + +<p>Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen +und geschrieben hat, trägt immer deutlicher +die Züge der inneren Ermattung, der +geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr +die ursprüngliche, das natürliche Produkt des +Glaubens an die eigene Kraft und die Stärke<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span> +der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine +erzwungene. Man vergleiche das „Arbeiterprogramm” +mit der Ronsdorfer Rede, die Verteidigungsrede +„Die Wissenschaft und die Arbeiter” +mit der Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, +und man wird das hier Gesagte verstehen. +Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke +treten an ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt +die zwingende logische Beweisführung, und statt +zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer mehr +auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch +den Fortschrittlern vorgeworfen, tut er jetzt +selbst — er berauscht sich in erdichteten Erfolgen.</p> + +<p>Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu +seiner Verteidigung gegen die Behauptung der +Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation +die schließliche Anwendung der physischen Gewalt +sei, mit großem Geschick das Bild des Schillerschen +Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt +zu den Schweden und zitiert die Verse des +Monologs im ersten Akt von „Wallensteins Tod”:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Wär's möglich? — könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?<br /></span> +<span class="i0">Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?”<br /></span> +</div></div> + +<p>Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf +Lassalles eigene Situation um jene Zeit passen, +wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser +jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, +wie der Friedländer — um sein eigenes Bild zu +brauchen — „Dinge getan, welche er à deux<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span> +mains verwenden konnte”. Er hatte sich nicht +damit begnügt, die Vorgänge in der inneren und +äußeren Politik objektiv zu studieren, um den +günstigen Moment zur Aktion für seine Pläne +auszunützen, er war bereits dazu übergegangen, +mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen +die er kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn +von Bismarck in direkte Unterhandlung getreten. +Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein +sagen:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Noch ist sie rein — noch! das Verbrechen kam<br /></span> +<span class="i0">Nicht über diese Schwelle noch!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. +Aber war er auch innerlich noch frei? Konnte +nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu +treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht +die Versuchung von sich wies”?</p> + +<p>Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte +und eingehende Besprechungen unter vier Augen +mit dem damaligen Herrn von Bismarck hatte, +ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die +langjährige Vertraute Lassalles, die Gräfin +Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer 1878, +als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die +deutsche Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner +Initiative Vertretern derselben unter Hinzufügung +der näheren Umstände mitgeteilt, und als August +Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom +16. September 1878 die Sache im deutschen +Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck +tags darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span> +zu haben, und suchte nur in Abrede zu stellen, +daß es sich dabei um politische Verhandlungen +gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen +der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es +drehte sich bei diesen Unterhaltungen und Unterhandlungen +um zweierlei, erstens um Oktroyierung +des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um +die Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. +Fürst Bismarck war für diesen +Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er +weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort +mit der Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts +vorzugehen, bevor nicht der schleswig-holsteinische +Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei. +Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden +tiefe Differenzen zwischen Lassalle und dem +Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der +letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, +sondern es war, wie ich ausdrücklich konstatieren +muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte und +erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht +einlassen zu können.” Darauf antwortete nun +Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten sich +gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter +keinen Umständen aber jemals um eine Oktroyierung +desselben. Auf einen so ungeheuerlichen Gedanken, +das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung +einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht +gekommen.” Er habe es „mit einem gewissen +Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert. +Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe,<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span> +so sei er „von deren Unzweckmäßigkeit +noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die +damals eingetretenen politischen Ereignisse die +Fortführung der in dieser Hinsicht angebahnten +Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht +er, sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, +ihn brieflich darum gebeten, und er, +Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu +herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren. +„Was hätte mir Lassalle bieten und geben +können? Er hatte nichts hinter sich. In allen +politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich +gebe, damit du gibst) eine Sache, die im Hintergrunde +steht, auch wenn man anstandshalber nicht +davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, +was kannst du armer Teufel geben? — Er hatte +nichts, was er mir als Minister hätte geben können.”</p> + +<p>Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der +„offiziell noch nie gelogen” hat, hier mit der +Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer +bloßen Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht +zum Minister gegangen, und würde dieser nicht +den „revolutionären Juden” wiederholt — er +selbst gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, +während Sophie Hatzfeldt behauptet hatte, daß +es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche +gewesen sei — zu sich gebeten und mit ihm +stundenlang disputiert haben. Weiter braucht man +nur die Reden der Regierungsvertreter in der +Kammer und die Artikel in der Regierungspresse +aus jener Epoche nachzulesen, um sich zu überzeugen,<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span> +wie stark sich das Ministerium Bismarck +damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine +Wahlrecht einzuführen, und dazu gab es unter +den obwaltenden Umständen kaum einen anderen +Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst +zitiert in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof +einige derartige Äußerungen und +knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten +Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte +mit Bismarck bekannt geworden, +richtig gewürdigt werden können:</p> + +<p>„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine +und direkte Wahlrecht herstellen und +somit die Verfassung stürzen zu wollen!</p> + +<p>Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher +Privatmann, kann ich Ihnen sagen: ich will nicht +nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht +vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie +gestürzt!</p> + +<p>Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, +ohne daß eine Faust zur Gewalt sich +geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr +mehr, so ist in der friedlichsten Weise von +der Welt das allgemeine und direkte Wahlrecht +oktroyiert.</p> + +<p>Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt +werden, Karten auf dem Tisch! Es ist +die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen +mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil +sie auf erzene Notwendigkeit gegründet sind.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p> + +<p>Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem +feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr +vergehen — und Herr von Bismarck hat die Rolle +Robert Peels gespielt, und das allgemeine und +direkte Wahlrecht ist oktroyiert!”</p> + +<p>Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von +Anfang an gewußt, „schon an dem ersten Tage, +an welchem ich durch den Erlaß meines Antwortschreibens +diese Agitation begann, und es +konnte niemand entgehen, der mit klarem Blick +die Situation auffaßte”. Aber wenn es auch +zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter +1862/63 in Regierungskreisen die Frage in Betracht +zog, ob es möglich sei, durch eine Änderung +des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit +zu sprengen, und zu diesem Behufe in +sozialer Frage zu machen begann<a name="FNAnker_32_32" id="FNAnker_32_32"></a><a href="#Fussnote_32_32" class="fnanchor">[32]</a>, so würde +Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit +von einer bevorstehenden Oktroyierung des<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span> +allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben und +immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn +er nicht aus seinen Unterhaltungen mit Bismarck +die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun +vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, +diese Oktroyierung beschlossene Sache sei.</p> + +<p>Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck +bestreitet, daß es zwischen ihm und Lassalle zu +einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen +schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen +überzeugt hatte, daß Bismarck noch abwarten +wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt +unternahm — und darum spricht Lassalle auch +immer nur von einer möglicherweise binnen Jahresfrist +erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die +Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, +geht schon daraus hervor, daß Lassalle fortfuhr, +von allen seinen Veröffentlichungen usw. durch +das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” +ein Doppelexemplar in verschlossenem +Kuvert und mit der Aufschrift „persönlich” +an Bismarck übersenden zu lassen.</p> + +<p>Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß +seine Verhandlungen mit Lassalle wegen des +„do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen +führen konnten. Zwar stand die Sache nicht so, +wie Bismarck sie nachträglich protzenhaft mit der +Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel +geben? Er hatte nichts, was er mir als Minister +hätte geben können.” Bismarck hatte es zu jener +Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span> +brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm +immerhin geben. Die Sache war nur die, daß +es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen +Lassalles Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das +auch mit einer der Gründe, daß Lassalle, der +noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben +hatte: „Sie können unsre Bevollmächtigten keine +Unwahrheiten sagen lassen. Sie können sie also +nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu +sprechen, während wir vielleicht nicht 1000 haben. +Man kann schweigen über diesen Punkt, aber +lügen schickt sich für uns nicht” — nach seiner +Rückkehr nach Berlin in geradezu krankhafter +Weise seine Erfolge übertrieb. Er wollte um +jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht +gelang, mit wirklichen Massen aufzumarschieren. +Aber Bismarck war durch andre Berichterstatter +wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie +es in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.</p> + +<p>Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst +seine eigne Bewandtnis. Bismarck war sich schwerlich +auch nur einen Augenblick im unklaren darüber, +daß er an Lassalle nur so lange und nur +insoweit einen politischen Verbündeten haben +würde, solange dieses Bündnis im Interesse +Lassalles und seiner politischen Zwecke lag — +mit andern Worten, daß Lassalle genau so mit +ihm verfahren würde, wie er mit ihm, d. h. sich +unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald +er das von ihm erreicht hatte, was er brauchte. +Davon mußte ihn die erste Unterredung mit<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span> +Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie +Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein +Fisch ohne Gräten” war, sondern ganz gehörige +Gräten und Stacheln hatte. Mit der Aussicht auf +ein Pöstchen — von Geld gar nicht zu reden — +war da nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht +gegeben, konnte Lassalle leicht sehr unbequem +werden, also warum sich übereilen? Die Agitation +Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer +schroffer und einseitiger gegen die liberale Partei, +und das war vorderhand alles, was Bismarck +brauchte.</p> + +<p>In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft +und die Arbeiter”, gehalten am 16. Januar 1863, +hatte Lassalle erklärt:</p> + +<p>„Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die +Einführung des Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden +Klassen, daß sie dem deutschen Bürgertum +zur Last falle?... Die preußische Regierung +ist es, nicht die besitzenden Klassen in Preußen, +welche für alle Zeiten und vor allem Volk die +Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten +Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: +„Bourgeoisie und Arbeiter sind wir die Glieder +eines Volkes und ganz einig gegen unsre Unterdrücker” +— d. h. also gegen die Regierung.</p> + +<p>Vor dem Staatsgerichtshof aber — am 12. März +1864 — ist ihm der Verfassungskonflikt in +Preußen nur noch der Kampf zwischen dem +Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” +könne das Königtum nicht weichen, „vollkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span> +wohl” aber könne es „das Volk auf die Bühne +rufen und sich auf es stützen. Es brauche sich +hierzu nur seines Ursprungs zu erinnern, denn +alles Königtum ist ursprünglich Volkskönigtum +gewesen.”</p> + +<p>„Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum +von der Schöpfung der Bourgeoisie könnte +dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch +aus seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, +auf den Knauf des Schwertes gestützt, könnte +das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist, +wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele +zu verfolgen.”</p> + +<p>Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im +weiteren Verlaufe seiner Rede steigert Lassalle +sie noch, indem er die bestehende Verfassung +als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene +Gunst hinstellt. Niemand lasse aber „gern aus +seiner eigenen Gunst ein Halsband drehen, an +welchem er erwürgt wird, und das ist niemand +zu verdenken, und daher auch dem Königtum +nicht”. Beständig auf das angebliche „Recht” +hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, +daß es mehr in seiner Stellung läge, sich auf das +wirkliche Recht zurückzuziehen und das Volk auf +die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen +und von einer Handvoll Personen sich aus seiner +eignen Gunst ein Halsband winden zu lassen, an +dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle, +sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung +gestürzt und das allgemeine Wahlrecht<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span> +oktroyiert haben werde, wenn man ihn der +intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes +anklagte.</p> + +<p>Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur +durch die Tatsache seiner Agitation — was unter +Umständen nicht zu vermeiden ist — der Reaktion +vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel +auch immer mehr darin, die Sprache der +Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch +immer mit Wallenstein ausrufen:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht<br /></span> +<span class="i0">Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen +Zwecken dienstbar machen, sie selbst aber im +gegebenen Moment mit einem Ruck abschütteln +zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal +der Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck +seinen „Bevollmächtigten”. Aber er vergaß, daß +es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker +ist als selbst der stärkste individuelle Wille, und +daß, indem er überhaupt um den Erfolg spielte, +statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu vertrauen +und ausschließlich ihr seine Energie zu +widmen, er nach seiner eignen Theorie die Bewegung +selbst zum Teil bereits aufgab.</p> + +<p>In der Tat, um noch einmal auf den schon +zitierten Aufsatz Lassalles über die Grundidee +seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: +mit der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen +Schwenkung war Lassalle genau zu derselben +Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span> +als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens +hingestellt hatte. Es ist merkwürdig, wie genau +Lassalle dort sein eignes Schicksal vorgezeichnet +hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende +Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke +durch diplomatische Mittel erreichen zu wollen, er +hatte eine Maske vorgenommen, seinen Gegner — +die preußische Regierung — zu täuschen, aber +er täuschte tatsächlich nicht diese, sondern die +Massen des Volkes, ohne die er nichts war; die +Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp +persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie +Lassalle von Sickingen schreibt, daß „dieser +große Diplomat und Realist, der alles sorgsam +vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen +will, gerade dadurch zuletzt gezwungen ist, dem +zufälligsten Zufall alles anheim zu geben”, und, +„während die Rechnung auf jene Täuschung durch +den Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen +an der bewußten Natur des Bestehenden zugrunde +gehen muß, die Entscheidung, statt wie er wollte, +aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus +denen des ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen +muß”<a name="FNAnker_33_33" id="FNAnker_33_33"></a><a href="#Fussnote_33_33" class="fnanchor">[33]</a> — so sieht auch er, +Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit +dem Zufall zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen +in der inneren und äußeren Politik<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span> +abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine +realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte +nicht, daß beim Spiel derjenige die meisten +Aussichten hat seinen Mitspieler lahmzulegen, +der die meisten Trümpfe in der Hand — beim +politischen Spiel, der über die meisten tatsächlichen +Machtfaktoren zu gebieten hat. Und da +das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck +war, konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich +mehr Bismarcks, als dieser sein „Bevollmächtigter” +wurde.</p> + +<p>Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer +Ansprache, „die Agitation des Allgemeinen +deutschen Arbeitervereins und das Versprechen +des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte +und zugleich seine schwächste Agitationsrede, ausschließlich +auf den äußeren Effekt berechnet. +Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede +bewußt war, zeigt ihre von ihm selbst redigierte +gedruckte Ausgabe mit den überall eingestreuten +Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze — Krücken, +deren ein Vortrag, der an Hand und +Fuß gesund ist, durchaus entbehren kann, und die +den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar beeinträchtigen +würden. Aber die Ronsdorfer Rede +weist keinen der Vorzüge der ersten Agitationsreden +Lassalles auf, potenziert dagegen deren +Fehler.</p> + +<p>Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, +sie ist auch ihrer Tendenz nach tadelnswerter als +alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span></p> + +<p>Schlesische Weber hatten, durch die Not +getrieben und durch die Sozialdemagogie der +Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin +geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe +gegen die Übelstände, unter denen sie litten, +zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da +es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen +Fabrikanten handelte, auf Veranlassung Bismarcks +vom König empfangen worden und hatten auf +ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König +habe seine Minister angewiesen, „eine gesetzliche +Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig und +mit allem Ernst vorzubereiten”.</p> + +<p>Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen +Weber und den Empfang der Deputation von +Seiten des Königs als einen Erfolg seiner Agitation +hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich +war, niemand zum besonderen Vorwurf machen. +Wie andere Übertreibungen in der Ansprache, erklärte +sich auch diese aus der Situation Lassalles. +Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab +dem Empfang der Deputation durch den König +und den Worten des letzteren eine Auslegung, +die zunächst nur als eine Reklame für jenen und +dessen Regierung wirken konnte. Er verliest den +Arbeitern einen Bericht der offiziösen „Zeidlerschen +Korrespondenz” über den Empfang der +Deputation beim König und liest gerade die dem +Königtum günstigste Stelle daraus, wie er in +der gedruckten Rede ausdrücklich verzeichnet, +„mit dem höchsten Nachdruck der Stimme<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span> +und begleitet sie mit der eindringlichsten Handbewegung”<a name="FNAnker_34_34" id="FNAnker_34_34"></a><a href="#Fussnote_34_34" class="fnanchor">[34]</a>.</p> + +<p>In den Worten des Königs liege, erklärt er, +„die Anerkennung des Hauptgrundsatzes, zu +dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” — nämlich, +daß eine Regelung der Arbeiterfrage +durch die Gesetzgebung notwendig sei — ferner, +„das Versprechen des Königs, daß diese Regelung +der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot +durch die Gesetzgebung erfolgen soll”, und +drittens, da „eine Fortschrittskammer, eine nach +dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz erwählte +Kammer, dem Könige niemals die zu diesem +Zwecke erforderlichen Gelder bewilligen und +ebensowenig, selbst wenn die Sache ohne Geld +zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu +einem solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in +dem königlichen Versprechen, „innerlich durch die +Kraft der Logik eingeschlossen” auch „das +allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen +worden”.</p> + +<p>Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, +welche diesem ganzen letzten Teil der +Rede in einer unglaublichen Spannung ... zugehört”<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span> +habe, in einen „nicht zu beschreibenden +Jubel” ausbrechen, der immer wieder von neuem +begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu sprechen +versuchte.</p> + +<p>War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, +daß die Arbeiter Lassalles Auslegung des königlichen +Versprechens für bare Münze nahmen, das +schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt +werden konnte.</p> + +<p>Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit +die Arbeiter in Betracht kamen, diese nur +durch möglichst glänzende Ausmalung der bisher +erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit +für den Verein hingerissen werden. Aber +die Rede ist noch an eine andere Adresse als +die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung +auf eine in der „Kreuzzeitung” erschienene +Rezension des „Bastiat-Schulze”, die nach +Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, +als daß die in ihr an Lassalle gerichteten Fragen +hätten unbeantwortet bleiben dürfen, verweist +Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes +ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und +läßt die Erwiderung und zwei Exemplare der +Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck +senden. Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf +die Regierung Eindruck zu machen — ad +usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche +Jubel” sollte Köder für Bismarck und den +König sein. Aber niemand kann zwei Herren +dienen, und das Bestreben, die Rede so zu gestalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span> +daß sie den gewünschten Effekt nach +oben mache, bewirkte, daß sie tatsächlich einen +durch und durch cäsaristischen Charakter erhielt. +Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus: +Cäsarismus in den Reihen der Partei, und +Cäsarismus in der Politik der Partei.</p> + +<p>„Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres, +nichts Unintelligenteres,” heißt es +in der Einsendung an die „Kreuzzeitung”, „als +der unruhige, nörgelnde liberale Individualismus, +diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser +unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs +Massenkrankheit, sondern wurzelt notwendig und +naturgemäß nur in den Viertels- und Achtels-Intelligenzen +der Bourgeoisie.</p> + +<p>Der Grund ist klar: Der Geist der Massen +ist, ihrer Massenlage angemessen, immer auf +objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die +Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner +würden hier in diesem Stimmenakkord verklingen, +ohne nur gehört zu werden. Der oligarchische +Boden allein ist der homogene, mütterliche +Boden für den negativen, ätzenden Individualismus +unserer liberalen Bourgeoisie und ihre +subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.”</p> + +<p>Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen:</p> + +<p>„Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element +unseres Erfolges habe ich zu erwähnen. Es +ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit und +Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht!<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span> +Auch in dieser Hinsicht, und in dieser Hinsicht +vor allem, steht unser Verein epochemachend, +und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte, +da! Dieser große Verein, sich erstreckend +über fast alle deutschen Länder, regt +sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit +eines Individuums! In den wenigsten Gemeinden +bin ich persönlich bekannt oder jemals +persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom +Rhein bis zur Nordsee, und von der Elbe bis +zur Donau noch niemals ein ‚Nein’ gehört, und +gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut +habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten +Freiwilligkeit beruhende!... Wohin ich gekommen +bin, überall habe ich von den Arbeitern Worte +gehört, die sich in den Satz zusammenfassen: Wir +müssen unserer aller Willen in einen einzigen +Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer +in die Hände eines Mannes legen, zu dessen +Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das +nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne +mit dem Hammer!</p> + +<p>Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner +bisher für unvereinbar betrachteten, deren +Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten, +Freiheit und Autorität, — die höchsten Gegensätze, +sie sind auf das innigste vereinigt in unserem +Verein, welcher so nur das Vorbild im kleinen +unserer nächsten Gesellschaftsform im großen +darstellt. Nicht eine Spur ist in uns von jenem +nörgelnden Geiste des Liberalismus, von jener<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span> +Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, +von welchem der Körper unserer +Bourgeoisie durchfressen ist ...”</p> + +<p>Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger +Gedanke zugrunde, der nämlich, daß in der +modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen +Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse +auf die gemeinsame Aktion angewiesen +sind, und daß in der Tat schon die +Existenzbedingungen des modernen industriellen +Proletariers den Geist der Gemeinschaftlichkeit +in ihm entwickeln, während umgekehrt der Bourgeois +nur unter anormalen Verhältnissen, nicht +aber durch die bloße Art seiner gesellschaftlichen +Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion sich +veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt +aber durch die obige Verallgemeinerung +eine total falsche Deutung. Die Massenaktion +heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; +wo die Masse ihren Willen aus der Hand gibt, +ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus einem +revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden. +Die persönliche Diktatur ist in den Kämpfen der +modernen Gesellschaft jedesmal der Rettungsanker +der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden +reaktionären Klassen gewesen, niemand ist mehr +geneigt, den „negativen, ätzenden Individualismus” +aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald +sein Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft +gefährdet erscheint. In solchen Momenten wird +das Schlagwort von der „einen reaktionären<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span> +Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung +sich verallgemeinert, der Bonapartismus. +Die zur Selbstregierung sich unfähig fühlenden +Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern +unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne +Persönlichkeit ab und verdammen jeden +Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser Persönlichkeit +entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden +Individualismus”. So beschuldigte die deutsche +Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts +immer wieder gerade die Partei, die tatsächlich +am konsequentesten deren Klassenforderungen +vertritt — die deutschfreisinnige Partei — des +Verrats an ihren Interessen, weil sie durch +ihre „Nörgelei” die staatserhaltende Tätigkeit der +Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre +1851 die französische Bourgeoisie ihre eigenen +parlamentarischen Vertreter jedesmal, wenn diese +daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel +zum Staatsstreich zu verweigern, solange als +Unruhestifter, Anarchisten usw. an, bis Napoleon +stark genug war, sich zum Diktator der Bourgeoisie +aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des +bloßen Hüters der Ruhe und Ordnung für die +Bourgeoisie zu begnügen.</p> + +<p>Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat +absolut keinen Anlaß, ihren Willen aus der Hand +zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das +„Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber +zu verzichten. Und wir haben bei der Solinger +Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle den<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span> +Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz +pochte, er gerade aus den Reihen der Arbeiter +heraus ein sehr deutliches und kräftiges „Nein” +hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum +Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er +bei einem bestimmten Anlaß ein ebensolches +„Nein” gehört — er sprach, wenn er sich rühmte, +in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und +Freiheit” in der oben geschilderten Weise verwirklicht +zu haben, mehr einen Wunsch, als eine +bereits verwirklichte Tatsache aus.</p> + +<p>Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß +er von Anfang an die persönliche Spitze für unerläßlich +gehalten hatte. Zu diesem bloßen +Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis +hinzu. Die Politik, die er jetzt eingeschlagen +hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder +und Anhänger der Bewegung kritiklos dem +Führer folgten und ohne Murren taten, was er +von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen +des Königs von Preußen gegenüber den +schlesischen Webern in einer Weise behandelte, +daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt +den Demokraten — man möchte sagen, +vor seinem Gewissen — salvierte, das übrige +aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so +mußten auch sie bereit sein, auf Kommando das +Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn eines +die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu +entschuldigen vermag, so ist es die Tatsache, daß +sie für Lassalle unter den gegebenen Verhältnissen<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span> +eine Notwendigkeit war. Er brauchte die +Diktatur, um die Arbeiter je nach Bedürfnis für +seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu haben, +und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, +um nach oben hin als eine bündnisfähige Macht +zu erscheinen. Die Rede war der notwendige +Schritt auf der einmal betretenen Bahn — ein +Halt war da nicht mehr möglich.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod" id="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">Lassalles letzte Schritte und Tod.</a></h2> + + +<p>Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl +was die innere Vereinsleitung als auch was die +geplante nächste äußere Aktion des Vereins anbetrifft, +bewegten sich denn auch in der gleichen +Richtung. Im Verein drang er auf die Ausstoßung +Vahlteichs, der in bezug auf die Organisation +in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte +dabei nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, +so daß den Vereinsmitgliedern kaum etwas anderes +übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem +Herrn Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch +sonst in dieser Angelegenheit höchst illoyal, indem +er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich +gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben +in solcher Weise zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich +selbst den Inhalt des Schreibens erst kennenlernen +mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder +bereits gegen ihn beeinflußt waren.</p> + +<p>Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge +zur Abänderung der Organisation denken mochte,<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span> +die Art, wie Lassalle schon den Gedanken an +eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat +an der Sache hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, +als er, Lassalle, selbst bereits halb +entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, +wenn sein letzter Versuch, „einen Druck auf die +Ereignisse auszuüben”, mißglücken sollte.</p> + +<p>Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle +ihn selbst genannt, sollte in Hamburg in Szene +gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der +soeben von Dänemark eroberten Herzogtümer +Schleswig-Holstein.</p> + +<p>Als im Winter 1863 der Tod des Königs von +Dänemark die schleswig-holsteinische Frage in +den Vordergrund gedrängt hatte, hatte Lassalle, +der in jenem Moment bereits mit Bismarck in +Unterhandlung stand und deshalb ein großes Interesse +daran hatte, je nach derjenigen Politik, für +die die preußische Regierung sich entschloß, den +Verein Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern +gegen den „Schleswig-Holstein-Dusel” +Stimmung gemacht<a name="FNAnker_35_35" id="FNAnker_35_35"></a><a href="#Fussnote_35_35" class="fnanchor">[35]</a> und eine Resolution ausgearbeitet<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span> +und überall annehmen lassen, in der +erklärt wurde:</p> + +<blockquote> + +<p>„Die einheitliche Gestaltung Deutschlands +würde die schleswig-holsteinische Frage ganz +von selbst erledigen. Dieser großen Aufgabe +gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in +Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben +ein ausländischer Fürst ist, von verhältnismäßig +sehr untergeordnetem Interesse.”</p></blockquote> + +<p>Im übrigen enthält die Resolution nur mehr +oder weniger allgemeine Wendungen; alle deutschen +Regierungen seien verpflichtet, die Einverleibung +der Herzogtümer in Deutschland +„nötigenfalls mit Waffengewalt” durchzusetzen, +aber das Volk wird aufgefordert, auf der Hut zu +sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen +zentralen Aufgaben abziehen”. Gegen +die Fortschrittler und Nationalvereinler wird der +Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein +als eine Gelegenheit benutzen zu wollen scheinen, +um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage +abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem +sie nicht gewachsen sind, unter dem Schein +des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember +1863.</p> + +<p>Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es +handelte sich um die Frage, was mit ihnen geschehen +solle. Ein großer Teil der Fortschrittler +trat für die legitimen Ansprüche des Herzogs +von Augustenburg ein, während man in maßgebenden +Kreisen Preußens auf die Annexion der<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span> +Herzogtümer in Preußen hinarbeitete. So wenig +Interesse nun die demokratischen Parteien hatten, +zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in +Deutschland noch einen 34sten zu schaffen, so +hatten sie andrerseits auch keine Ursache, der zur +Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen +Machtzuwachs zuzusprechen. Lassalle aber hatte +bereits so sehr sein politisches Taktgefühl verloren, +daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg +eine große Volksversammlung abzuhalten und +von dieser eine Resolution beschließen zu lassen, +des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die +Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und +der übrigen deutschen Staaten an Preußen zu +annektieren. Es braucht nicht durch Worte bezeichnet +zu werden, welche Rolle Lassalle damit +auf sich nahm und zu welcher Rolle er die sozialistisch +gesinnten Arbeiter Hamburgs gebrauchen +wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung +entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur +Ausführung des Vorhabens gekommen, es blieb +den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen +ihrer demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen +Pflicht gegen ihren Führer glücklicherweise +erspart.</p> + +<p>Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch +einen Prozeß ausgefochten, in die Schweiz gegangen. +Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi +Kaltbad, und dort besuchte ihn gelegentlich eines +Ausfluges Fräulein Helene von Dönniges, deren +Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span> +gemacht und der er, nach ihrer Darstellung, schon +damals seine Hand angetragen hatte. Es entwickelte +sich im Anschluß an den Besuch jene +Liebesaffäre, deren Schlußresultat der frühzeitige +Tod Lassalles war.</p> + +<p>Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre +sind heute so bekannt und die für Lassalle bezeichnenderen +Schritte desselben in dieser Affäre +so über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine +Wiedererzählung des ganzen Verlaufs der Sache +hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte sich +bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem +neuen Lichte; er entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, +die wir bereits bei ihm kennen gelernt +haben — man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre +im kleinen und auf einem andern Gebiet +lediglich ein Abbild der Lassalleschen Agitationsgeschichte +darstellt. Lassalle glaubt in Helene +von Dönniges das Weib seiner Wahl gefunden +zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, das Jawort +der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht +den mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner +Persönlichkeit gelingen muß, diese Schwierigkeit +zu überwinden. Selbstbewußt, und zugleich mit +umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden +Momente, entwirft er seinen Operationsplan. +Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern +erobern und ihnen die Einwilligung abringen, ehe +sie noch recht wissen, was sie mit ihrer Genehmigung +tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines, +unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span> +eine Unvorsichtigkeit der jungen Dame erfahren +die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung +und erklären, Lassalle unter keinen Umständen +als Schwiegersohn annehmen zu wollen. Indes +noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein +Triumph wird nur um so größer sein, je größer +der Widerstand der Eltern. Von diesem Selbstbewußtsein +getragen, begeht er einen Schritt, der +die Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, +auf dem geplanten Wege zum Ziele zu gelangen, +ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen +selbst an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht +dieser Weg, so ist's ein anderer. Und ohne Rücksicht +darauf, was er sich und seiner politischen +Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen +Kampf, bei dem es für ihn nur einen Gesichtspunkt +gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, +das Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, +die die Familie Dönniges beobachten und über +jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch +die Vermittlung Hans von Bülows wird Richard +Wagner ersucht, den König von Bayern zu +veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn +v. Dönniges zu intervenieren, während dem Bischof +Ketteler von Mainz der Übertritt Lassalles zum +Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof +seinen Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. +Lassalle machte sich nicht die geringsten Gedanken +darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen +Mission war, die er übernommen +hatte, bei einem Minister von Schrenk zu antichambrieren,<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span> +damit dieser ihm zu seiner Geliebten +verhelfe, noch kümmerte er sich darum, wie wenig +er sich seines Vorbildes Hutten würdig erwies, +wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms +um Hilfe zur Erlangung eines Weibes petitionierte. +Hier, wo er hätte stolz sein dürfen, wo +er stolz sein mußte, war er es nicht.</p> + +<p>Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof +von Mainz konnte gar nichts tun, weil Helene +von Dönniges protestantisch war, und der Vermittlungsversuch, +den ein vom bayerischen Minister +des Auswärtigen an den Schauplatz des Konfliktes +entsandter Vertrauensmann unternahm, +führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, +daß er durch die Art seines Vorgehens sich und +das Weib, für das er kämpfte, in eine total falsche +Position gebracht hatte. Obwohl er gewußt hatte, +daß Helene jeder Willensenergie entbehrte und +darin gerade einen Vorzug für sein zukünftiges +Zusammenleben mit ihr erblickt hatte — „erhalten +Sie mir Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, +in denen sie jetzt ist”, hatte er am 2. August an +die Gräfin Hatzfeldt geschrieben —, hatte er ihr +jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste +Willensstärke erforderte, und war empört darüber, +daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen suchte. +Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, +die Dinge ausschließlich unter dem Gesichtswinkel +seiner Stimmungen und Interessen zu betrachten, +hatte er ganz außer Erwägung gelassen, +daß gerade die unterwürfigsten Menschenkinder<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span> +am leichtesten ihre Empfindungen ändern, und sah +den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste +Spiel” einer „verworfenen Dirne”, wo weiter +nichts vorlag, als die Unbeständigkeit eines verwöhnten +Weltkindes.</p> + +<p>Indes, er war nervös total heruntergekommen +und besaß längst nicht mehr die Energie eines +gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu Gewaltmitteln, +das Bestreben, um jeder Kleinigkeit +wegen Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, +die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen oder +sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise +geistiger Kraft, sondern eines hochgradigen +Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel +von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach +den übereinstimmenden Berichten der Augenzeugen +bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich +auf ein stark zerrüttetes Nervensystem.</p> + +<p>In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die +erlittene Niederlage ruhig zu ertragen, und er +suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu verschaffen +für die ihm nach seiner Ansicht angetane +Schmach. So töricht das Duell an sich +ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden +Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in +denen die Affäre spielte, ist das Duell das +reinigende Bad für allen Schmutz und allen +Schimpf, und wenn Lassalle nicht die moralische +Kraft besaß, sich im Kampf um irgendeine Sache +auf solche Mittel zu beschränken, welche sich +für den Vertreter der Partei der sozialistischen<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span> +Umgestaltung der Gesellschaft schicken, so war +es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich +erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner +Umgebung Genugtuung zu verschaffen suchte. +Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im +Duell gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist +Lassalle, sondern der verjunkerte Kaufmannssohn +Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der +erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, +so sühnte er damit die Schuld, daß er jenem +die Macht über sich eingeräumt hatte.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Schlussbetrachtung" id="Schlussbetrachtung">Schlußbetrachtung.</a></h2> + + +<p>So machte ein frühzeitiger Tod der politischen +Laufbahn Lassalles, seinen Plänen und Hoffnungen +ein jähes Ende. Vielleicht war es gut +so, vielleicht hat er es selbst in seinen letzten +Stunden nicht als ein Unglück empfunden. Das +Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt, +war wieder in die Ferne gerückt, und für die +ruhige Organisationsarbeit hielt er sich nicht geschaffen. +So sah seine nächste Zukunft sehr +problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen +Hast, mit der er sich in die Dönniges-Affäre +gestürzt hatte, viel beigetragen haben.</p> + +<p>Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, +was Lassalle wohl getan hätte, wenn er +nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen +wäre. Indes ist diese Frage bisher meist<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span> +in einer Weise erörtert worden, die ein kurzes +Eingehen darauf rechtfertigt.</p> + +<p>Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde +Lassalle, wenn er weiter gelebt hätte, nach Lage +der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich +seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen +Staatsdienst anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt +Lassalle absolut falsch. Wohl hätte die +von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn +konsequent weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager +führen müssen, aber auf diesen +letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht +ankommen lassen. Er hätte nie den preußischen +Beamtenrock angezogen. Er besaß genug, um +nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und +seinem Ehrgeiz hätte eine Stelle, wie die +preußische Regierung sie ihm bieten konnte, +ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten +stets unveränderten Gesinnung entsprochen hätte. +In dieser Hinsicht hätte eher er zu Bismarck, als +dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, +armer Teufel, geben?”</p> + +<p>Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle +sich, sobald die gegen ihn erkannten Strafen rechtskräftig +geworden, dauernd im Ausland niedergelassen +und dort einen Umschwung der Verhältnisse +in Preußen, bzw. Deutschland abgewartet +hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”, selbst +wenn die Versammlung zustande kam und die +Resolution beschlossen wurde, an den tatsächlichen +Verhältnissen zunächst nichts geändert<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span> +haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering +diese Aussicht war, geht daraus hervor, daß das +bloße Jawort Helenes von Dönniges genügt hatte, +um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen +Effekt des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am +27. Juli hatte er über diesen an die Gräfin Hatzfeldt +geschrieben: „... Ich muß noch vorher in +Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, +vielleicht tatsächlich wichtigen Coup schlagen will.” +Tags darauf erhält er Helenes Zusage und schreibt +nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu +viel” von dem Versuch in Hamburg verspreche. +Die betreffende Stelle dieses Briefes ist zwar +oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige +Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie +auch hier zum Abdruck kommen. Sie lautet:</p> + +<p>„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie +schreiben: ‚Können Sie sich nicht auf einige Zeit +in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur +genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben.</p> + +<p>Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich +wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik +loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft +und Natur zurückzuziehen. Ich bin der +Politik müde und satt. Zwar würde ich so leidenschaftlich +wie je für dieselbe entflammen, wenn +ernste Ereignisse da wären, oder wenn ich die +Macht hätte, oder ein Mittel sähe, sie zu erobern — ein +solches Mittel, das sich für mich +schickt; denn ohne höchste Macht läßt sich nichts +machen. Zum Kinderspiel aber bin ich zu alt<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span> +und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das +Präsidium übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. +Darum drückt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich +es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen +wäre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! +(Aber wie es los werden?!)</p> + +<p>Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, +langsam, langsam entwickeln, und meine glühende +Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen +Prozessen keinen Spaß. Politik heißt +aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere +kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen! +Ich werde versuchen, in Hamburg einen +Druck auf die Ereignisse auszuüben. Aber inwieweit +das wirken wird, das kann ich nicht versprechen +und verspreche mir selbst nicht zu viel +davon!</p> + +<p>Ach könnte ich mich zurückziehen!” —</p> + +<p>In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer +Stelle, er sei „lustig und voller Lebenskraft” +und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte +Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische +Erwägungen, die jene resignierten Sätze +diktierten.</p> + +<p>Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von +Dönniges in Bern am 3. August 1864 in Genf eintraf, +scheint Lassalle bereits zur vorläufigen Expatriierung +entschlossen gewesen zu sein. In den +Papieren Joh. Ph. Beckers befindet sich eine von der +Genfer Regierung für „Mr. Ferdinand Lassalle +professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span> +Aufenthaltsbewilligung, und auf dem +Umschlag derselben folgender Vermerk von der +Hand des alten Freiheitsveteranen:</p> + +<p>„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft +im verhängnisvollen Jahre 1864 hier mitteilte, +er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt +machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische +Bewegung in etwa einem Jahre zum +Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß +es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche +Kraft nicht hinreichend fühle, namentlich werde +er die bevorstehenden Gefängnisstrafen nicht +überdauern können. Hierauf gab ich ihm den +Rat, sich unter bewandten Umständen irgendwo +einen festen Wohnsitz zu gründen, zu diesem Behufe +sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn +er dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei +Jahren nachweise, sich das Bürgerrecht zu erwerben, +was damals gar keinen Anstand gefunden +hätte. In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige +Reisen machen. Lassalle schlug ohne Bedenken +ein, und ich verschaffte ihm am 11. August +1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.”</p> + +<p>Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf +vorläufig sechs Monate.</p> + +<p>Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen +deutschen Arbeitervereins an ihn gelangten, hat +Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes +um Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. +Erst als er am Vorabend des Duells +sein Testament machte, gedachte er wieder des<span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span> +Vereins und setzte dem Sekretär desselben, +Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente von +jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und +eine ebensolche von jährlich 150 Talern für seinen +persönlichen Bedarf. Als seinen Nachfolger empfahl +er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten +Bernhard Becker. Er solle an der Organisation +festhalten, „sie wird den Arbeiterstand +zum Siege führen”.</p> + +<p>Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die +Nachricht von Lassalles Tod nicht geringe Bestürzung. +Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken +zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in +einer gewöhnlichen Liebesaffäre gefallen sei. Sie +glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von +den Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen +Agitator aus dem Wege zu räumen, und feierten +den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen +politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus +entwickelte sich zunächst, eine Art Lassalle-Religion, +deren Propagierung vor allem die Gräfin +Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen +Gründen, sich angelegen sein ließ. Sehr +trug zu diesem Kultus auch die Art bei, wie +Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten +war. So liebenswürdig er im Umgang +mit ihnen sein konnte, so hatte er doch sorgfältig +darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung +sowohl wie in seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche +und geistige Überlegenheit stets vor +Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span> +er ferner sich in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter +feiern lassen und selbst dafür gesorgt, daß +ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender +Bericht darüber im „Nordstern” erschien.</p> + +<p>In seinen Reden war seine Person immer mehr +in den Vordergrund getreten — so stark, daß, +wenn er sich in Verbindung mit andern genannt +hatte, er stets das Ich hatte vorangehen lassen.</p> + +<p>Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, +auf die Masse hatte es, namentlich bei +der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber +ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um +Lassalles Persönlichkeit wob, um so stärkere +Wirkung übte der Zauber nachträglich aus.</p> + +<p>Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu +verkennen, daß dieser Kultus der Persönlichkeit +Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im +hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt +nun einmal in den meisten Menschen der Zug, +eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment +um so mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender +ihre Ziele sind, gern in einer Person +verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht +ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, +ob Charlatane oder Illusionäre, und +sie ist in England und Amerika ein anerkannter +Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so +stark, daß zuweilen die bloße Tatsache, daß eine +Persönlichkeit aus einer Körperschaft Gleicher +oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über +diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen,<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span> +die jener hartnäckig verweigert wurde. +Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers in +Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele +in der Geschichte anderer Länder ermangelt. +Dutzende von Mitgliedern der französischen +Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung +und Charakter überlegen und konnten auf die +ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik +verweisen, aber sie sanken doch zu Nullen ihm +gegenüber herab, während er zur großen Eins +emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende +entflammte. Warum? Weil sich plötzlich +in ihm eine Idee verkörperte, während die +Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen +und Erfahrung, die sie repräsentierte, nichts war +als eine anonyme Vielheit.</p> + +<p>Der Name Lassalle wurde zum Banner, für +das sich die Massen immer mehr begeisterten, je +mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. +Für den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem +außergewöhnlichen Talent geschrieben, populär +und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend, +übten sie und üben sie zum Teil noch +heute eine große agitatorische Wirkung aus. +Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene Antwortschreiben”, +das „Arbeiterlesebuch” usw. haben +Hunderttausende für den Sozialismus gewonnen. +Die Kraft der Überzeugung, die in diesen Schriften +weht, hat Hunderttausende zum Kampf für +die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren +sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span> +Phrasengeklingel, — ein verständiger +Realismus, der sich zwar gelegentlich in den +Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit +im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor +und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. +Wovon Lassalle in seiner Praxis eher +etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten +und besten Agitationsschriften das rechte Maß +dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung +brauchte. Wenn die deutsche Sozialdemokratie +den Wert einer kräftigen Organisation zu allen +Zeiten zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der +Notwendigkeit des Zusammenfassens der Kräfte +so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das äußere +Band einer Organisation doch alle Funktionen +einer solchen aufrechtzuerhalten gewußt hat, so +ist das zum großen Teil eine Erbschaft der Agitation +Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, +daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft +die Traditionen der Lassalleschen Agitation +am stärksten waren, in bezug auf die Organisation +in der Regel am meisten geleistet haben.</p> + +<p>Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht +haben, ohne auch ihre Nachteile in den Kauf +nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen +doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche +Agitation trug, zwieschlächtig in ihrer theoretischen +Grundlage, zwieschlächtig in ihrer +Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, +nachdem Lassalle selbst aus dem Leben geschieden +war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span> +an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der +Schwenkung, die er während der letzten Monate +seiner Agitation vollzogen, er selbst in dem Bewußtsein +und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick +umkehren, die Maske abwerfen zu können. +Aber, um einen seiner eignen Aussprüche anzuwenden: +Individuen können sich verstellen, +Massen nie. Seine Politik fortführen hieß, wenn +es buchstäblich genommen wurde, die Massen +irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. +Es kam die Zeit der Schweitzerschen Diktatur. +Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent +im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, +scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber +kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der +eines Regierungsagenten nahekam. Kam es doch +unter seiner Leitung dahin, daß von Agitatoren +des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” +Republikaner sein für gleichbedeutend mit Bourgeois +sein erklärt wurde, weil die bisherigen Republiken +Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer +war unzweifelhaft der begabteste Nachfolger +Lassalles. Aber wenn er ihn an Talent nahezu +erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen +seiner bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger +Scheu als Lassalle hat er mit den preußischen +Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies +jedoch konnte, ohne je um einen, seine Politik +unterstützenden Satz aus Lassalles Reden in Verlegenheit +zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle +nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span> +um die verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung +kämpfenden Parteien, unter denen sich +Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler +usw. befanden, einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, +hat selbst Schweitzer nie getan.</p> + +<p>Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in +der Bewegung fort, und es hat langwierige und +schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden +wurden. Was die theoretischen Irrtümer +Lassalles anbetrifft, die ich oben ausführlicher +behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie +heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der +deutschen sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige +Wertschätzung der Gewerkschaftsbewegung +Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften +von einem großen Teil der Sozialisten mit +dem Hinweis auf das „eherne Lohngesetz” bekämpft +wurden. Die persönliche Färbung, die +Lassalle der Bewegung gab, hatte zur Folge, +daß diese nach seinem Tode in das Fahrwasser +der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in +ihm trieb.</p> + +<p>Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt +und auffallende Eigenschaften entwickelt haben, +pflegen alsbald eine große Anzahl Nachahmer +zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und +Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode +fröhlich aus dem Boden. Da sie aber in Ermangelung +seines Talents sich darauf beschränken +mußten, ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert +und wie er gespuckt”, und dies, wie wir gesehen<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span> +haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so +bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen +der Arbeiterbewegung.</p> + +<p>Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie +kann ohne Bitterkeit darüber hinweggehen. +Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung +darunter litt, und darum sei es hier erwähnt.</p> + +<p>Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck +dessen, was ich vorher von dem Erbe gesagt, +das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute +hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und +das liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Solange +ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu +untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn +höher als der Ruhm des einzelnen steht das Interesse +der großen Sache, für die der Kampf geht, +und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die +Sozialdemokratie hat keine Legenden und braucht +keine Legenden, sie betrachtet ihre Vorkämpfer +nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann +es daher auch vertragen, wenn sie als Menschen +kritisiert werden. Sie würdigt darum nicht weniger +ihre Verdienste und hält das Andenken derer +in Ehren, die das Werk der Befreiung der +Arbeiterklasse wesentlich gefördert haben.</p> + +<p>Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. +Vielleicht in höherem Maße, als er selbst am Vorabend +seines Todes geahnt hat. Es ist anders gekommen, +als wie er glaubte, aber die Bewegung +ist heute dieselbe, für die er im Frühjahr 1863 +das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben Ziele,<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span> +für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer +Weise und mit andern Forderungen kämpft. Nach +etlichen Jahren wird sie vielleicht wieder in +andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe +Bewegung sein.</p> + +<p>Kein Mensch, und sei er der größte Denker, +kann den Weg der Sozialdemokratie im einzelnen +vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele +Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer +noch werden ins Grab sinken müssen, bis das Ziel +der Bewegung erreicht ist; aber die Leichensteine +ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der +Bewegung und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit +für die Zukunft.</p> + +<p>Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht +geschaffen, so wenig wie irgendein andrer sie +geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es bereits +unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands +gärte und brodelte, als Lassalle sich an die +Spitze der Bewegung stellte. Aber wenn er auch +nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden +darf, so gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er +Großes für sie ausgerichtet hat, — so Großes, wie +es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist +nur erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes +Streben verbreitet, er hat der deutschen +Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen +Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, +sich zur selbständigen politischen Partei zu organisieren, +und er hat auf diese Weise den Entwicklungsprozeß +der Bewegung ganz erheblich<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span> +beschleunigt. Sein eigentliches Unternehmen +schlug fehl, aber der Kampf für es war kein +vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die +Fahne für die Erkämpfung des allgemeinen, +gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank +der Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen +deutschen Arbeitervereins für diese Forderung +wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun gleichfalls +ihrer anzunehmen, und so verschwand sie +nicht mehr von der Tagesordnung und mußte die +Berliner Regierung in sie einwilligen, als nach +dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung +des Norddeutschen Bundes geschaffen wurde. Das +allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht +wurde wenigstens für den Reichstag des +Norddeutschen Bundes und später des Deutschen +Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch +war freilich die Zeit der Siege durch die Waffe +dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu +können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen +lernen. Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, +von Wahl zu Wahl haben sie sich gehäuft, und +im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer +Form ins Land geht, hat die deutsche Arbeiterschaft +vermittelst des nun auf die Wahlen zu +allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen +ausgedehnten und in jeder +Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine politische +Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten +Aussichten auf Durchsetzung tiefgreifender +Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. Sie zum<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span> +Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren +Ziele, wie es im Liede heißt, Schwerter gegeben, +zugleich aber auch in die Seelen deutscher +Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen <em class="gesperrt">organischen</em> +Weg gepflanzt zu haben, der unter +allen Gesichtspunkten dem wilden Massenkampf +vorzuziehen ist, — bleibt das große, das unvergängliche +Verdienst Ferdinand Lassalles.</p> + +<hr class="chap" /> + + + + + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span></p> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_1_1" id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang +des Hatzfeldt-Prozesses in Verbindung stehen, bezieht +sich ein Teil der Anklagen, welche im Jahre 1855 eine +von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, +nach London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten +bei Karl Marx und Freiligrath gegen Lassalle +erhob und die auf diese beiden, wie Marx an Engels +schrieb, einen <em class="gesperrt">entscheidenden Eindruck</em> machten.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_2_2" id="Fussnote_2_2"></a><a href="#FNAnker_2_2"><span class="label">[2]</span></a> G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches +Charakterbild. Berlin 1877.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_3_3" id="Fussnote_3_3"></a><a href="#FNAnker_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, +als ich durch die Freundlichkeit von Friedrich +Engels die im Nachlaß von Karl Marx vorgefundenen +Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die seitdem +von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, +J. H. W. Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 +datierter, an Marx und Engels adressierter Brief handelt +bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom „Franz +von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald +es im Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl +Marx und Friedrich Engels geschickt, worauf ihm +diese, die damals noch örtlich getrennt lebten, eingehend +ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte +Brief Lassalles ist dessen Antwort auf diese +Urteile. Er verbindet sie in einem und demselben +Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure beiderseitigen +Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, +doch in der Hauptsache dieselben Punkte berühren”. +</p> +<p> +Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß +die Kritik von Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, +die auch ich im obigen kritisieren zu müssen +glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,” schreibt +Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch +zu abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in +nuce dasselbe gesagt, was ich oben ausgeführt habe. +Der Lassallesche Sickingen ist nicht der streitbare +Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts, +er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte +Liberale des neunzehnten Jahrhunderts, das heißt der +liberale Ideologe. Seine Reden fallen gewöhnlich vollständig +aus der Epoche, in der sie gehalten sein sollen, +heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle +an einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung +‚zu sehr zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben +habe’. Du (Marx) begründest dies so: Ich hätte +Sickingen und Hutten daran untergehen lassen müssen, +daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer Einbildung +revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres +Interesse vertraten. ‚Die adligen Repräsentanten +der Revolution’, sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern +von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des +alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert — +durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie +sie es bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, +namentlich dieser, und der revolutionären Elemente in +den Städten mußten einen ganz bedeutend aktiveren +Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in viel +höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer +naivsten Form sprechen lassen können, während jetzt +in der That, außer der religiösen Freiheit, die bürgerliche +Einheit die Hauptidee bleibt’. ‚Bist Du nicht +selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein Franz +von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, +die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche +zu stellen?’” +</p> +<p> +Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen +fortgelassen, weil sie sich meist auf +im Brief vorhergehende Ausführungen beziehen, hier +also unverständlich wären. Im wesentlichen verteidigt +sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die +ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im +historischen Sickingen vorhanden, damit genügend zum +Ausdruck gebracht zu haben, daß Sickingen, statt sich +an die ganze Nation zu wenden, statt alle revolutionären +Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und +sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen +ritterlichen beginnt und fortführt, bis er an der Beschränktheit +seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht. +Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil er nicht +weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich +die revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung +aber habe er in der einen Szene des Stückes, in +der er die Bauern selbst auf die Bühne bringe, und in +den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars +usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, +welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt habe und noch +darüber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung +ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels. +</p> +<p> +Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich +auch in verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, +so u. a. im „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber +m. E. keineswegs richtig. Daß die Bauern mit Forderungen +auftraten, die auf die Vergangenheit zurückgriffen, +stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären, +die Bauern waren zwar keine neue Klasse, +aber sie waren keineswegs, wie die Ritter, eine untergehende +Klasse. Das Reaktionäre in ihren Forderungen +ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das +übersieht Lassalle, der als Hegelianer hier wieder +in den Fehler verfällt, die Geschichte aus den „Ideen” +abzuleiten, so vollständig, daß er zu der Marxschen +Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem +Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten +Form sprechen lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, +verstärkt durch ein Ausrufungszeichen, macht. +</p> +<p> +Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine +Berechtigung, wenn im Stück auch nur die leiseste +Andeutung gegeben wäre, daß Sickingens Beschränkung +auf seine ritterlichen Mittel seiner ritterlichen +Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht +der Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer +Fehler behandelt. Das reicht aus für die tragische +Idee des Dramas, aber nicht für die Veranschaulichung +des historischen Anachronismus, an dem das Sickingensche +Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen +ist.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_4_4" id="Fussnote_4_4"></a><a href="#FNAnker_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der +ursprünglich Vogt in Schutz genommen, schon früher +zugegeben.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_5_5" id="Fussnote_5_5"></a><a href="#FNAnker_5_5"><span class="label">[5]</span></a> Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre +von Engels „Savoyen, Nizza und der Rhein”. Lassalle +hatte in seiner Broschüre die Annexion Savoyens an +Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn +Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende +Kompensation erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. +Engels weist nun nach, welche außerordentlich +starke militärische Position der Besitz Savoyens +Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe, +was doch auch in Betracht zu ziehen war. +Sardinien gab Savoyen preis, weil es im Moment mehr +dafür eintauschte, die Schweizer waren aber durchaus +nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner, +Stämpfli, Frey-Herosé u. a., taten ihr möglichstes, die +Überlieferung des bisher neutralen Savoyer Gebiets +in französische Hände zu verhindern. Im „Herr +Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver +die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen +hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher +Blick auf die Landkarte.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_6_6" id="Fussnote_6_6"></a><a href="#FNAnker_6_6"><span class="label">[6]</span></a> Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: +„Nur daß zum Glück auch Ihr ihm dieselbe +nicht beibringen werdet, und darum erscheint mir der +revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.” Wenn +dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre?</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_7_7" id="Fussnote_7_7"></a><a href="#FNAnker_7_7"><span class="label">[7]</span></a> Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage +die oben in griechische Klammern gesetzte Betrachtung, +die nicht nur durch die russische Revolution +mit der Auflösung des russischen Imperiums den +größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, +sondern die auch Wendungen enthält, zu denen ich +mich grundsätzlich nicht mehr bekennen kann. Ich +habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, weil +sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo +sie geschrieben wurde — 1891 — nach meiner Ansicht +die durch 1866 geschaffene Lage unter deutschem +Gesichtspunkt darstellte. +</p> +<p> +In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung +eine redaktionelle Abänderung erfahren, die mir deshalb +der Erwähnung wert erscheint, weil sie zweifelsohne +auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der, +wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe +durchgesehen hat. Ins Deutsche zurückübersetzt lautet +die Einleitung dort: +</p> + +<blockquote> + +<p>„Wohin hat die preußische Lösung der nationalen +Frage Deutschland gebracht? Lassen wir die Frage +Elsaß-Lothringen beiseite — die Annexion dieser +Provinzen war ein weiterer Bockstreich — und betrachten +wir nur die Lage des deutschen Volkes +gegenüber Rußland und dem Panslawismus. Österreichs +Verdrängung aus dem Deutschen Bund” +(weiter, wie im Original).</p></blockquote> + +<p> +Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens +mit keiner Silbe erwähnt war und sie für Engländer +damals noch kein spezielles Interesse hatte, nimmt +Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, ihrer +zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler +zu bezeichnen — „an additional blunder” heißt es im +Englischen. Ein Beweis, wie wenig Engels diese +Annexion für endgültig ansah. +</p> +<p> +Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt +wird: „Deutschland gebracht”, war durch die Rücksicht +auf das andre Lesepublikum von selbst geboten. +Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen +diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_8_8" id="Fussnote_8_8"></a><a href="#FNAnker_8_8"><span class="label">[8]</span></a> Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem +Leben Ferdinand Lassalles”. Die Verfasserin ist +nun auch längst aus dem Leben geschieden.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_9_9" id="Fussnote_9_9"></a><a href="#FNAnker_9_9"><span class="label">[9]</span></a> Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches +Verhältnis zu Sophie von Hatzfeldt in einem +Fragment gebliebenen Brief an eine ungenannte +Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil +die Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, +neben sich noch Sophie von Hatzfeldt um +Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine ganze Abhandlung +über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe +Ferdinand Lassalles, Nachtrag.)</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_10_10" id="Fussnote_10_10"></a><a href="#FNAnker_10_10"><span class="label">[10]</span></a> Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht +man die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundsätze, die +durch die philosophische Untersuchung vom Begriff +und Wesen des Rechts und der Rechtsverhältnisse +gewonnen werden und als den Menschen sozusagen +angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es +werden daher vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht +als Gleiches bezeichnende Begriffe gebraucht.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_11_11" id="Fussnote_11_11"></a><a href="#FNAnker_11_11"><span class="label">[11]</span></a> Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des +Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an +Lewis H. Morgans Forschungen”. 1. Aufl. S. 93.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_12_12" id="Fussnote_12_12"></a><a href="#FNAnker_12_12"><span class="label">[12]</span></a> Um das Jahr 450 v. Chr.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_13_13" id="Fussnote_13_13"></a><a href="#FNAnker_13_13"><span class="label">[13]</span></a> Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß +das Aufkommen des Ahnenkultus bei allen Völkern +mit dem Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht +zusammentrifft.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_14_14" id="Fussnote_14_14"></a><a href="#FNAnker_14_14"><span class="label">[14]</span></a> Übrigens brauchen auch die Römer das Wort +familia nicht bloß zur Bezeichnung der einzelnen, +unter einem Oberhaupt stehenden Hausgenossenschaft, +sondern bereits ebenfalls für den mehr oder minder +gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des +römischen Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird +ausdrücklich zwischen der „familia” im engeren Sinne +(jure proprio) und der familia im weiteren Sinne (communi +jure) unterschieden, zu welch letzterer alle diejenigen +gehören „... die aus demselben Haus und derselben +gens hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die +betreffende Stelle ein weiterer Beweis, daß das römische +Intestaterbe — kein Familienerbe gewesen sei. +„Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht +der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben +wollen!”</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_15_15" id="Fussnote_15_15"></a><a href="#FNAnker_15_15"><span class="label">[15]</span></a> Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung +von Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen +von der Volksvertretung erpreßt wurden, sagt +Lassalle manches kräftige Wort. „Wenn eine Staatsregierung”, +schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von +der preußischen Regierung eingebrachten und solche +Entschädigungen stipulierenden Entwurf — „die unbegreifliche +Schwäche hat, einen solchen Vorschlag +zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich auf +das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine +Kammer pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht +auf diese Schwäche auf einen solchen Vorschlag +einzugehen, so würde sie wenigstens weit logischer +handeln, gleich geradezu die Hörigkeit des Volkes +von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” +Was hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert +hätte, noch nach dreißig Jahren werden in Preußen +solche „Schwächen” und solche „Pflichtvergessenheit” +berechtigte nationale Institutionen sein! Freilich, Lassalle +war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß, +als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die +Tories nicht die „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich +aus ihren jetzt unspekulativ gewordenen Güterankäufen +ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen Geist zu drehen!” +Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er erfahren +haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter +nichts war, als das richtige „praktische Christentum”. +</p> +<p> +Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, +die Neuauflage des „Systems der erworbenen +Rechte” zu besorgen, gerade Lothar Bucher zufallen +mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten +Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, +den Nachweis zu versuchen, wie das „System in den +Gesetzberatungen der letztverflossenen zehn Jahre hätte +benutzt oder erprobt werden können”. Tatsächlich +schlagen die meisten der dafür in Betracht kommenden +Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches +direkt ins Gesicht.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_16_16" id="Fussnote_16_16"></a><a href="#FNAnker_16_16"><span class="label">[16]</span></a> Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar +zu mechanisch vorstellen. Nach dem Gesetz der +Wechselwirkungen können die religiösen, Rechts- usw. +Anschauungen, kurz das, was man unter dem Begriff +des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum +einen großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse +ausüben, innerhalb gewisser Grenzen +z. B. ihre Fortentwicklung hindern oder verlangsamen. +Schließlich sind es doch immer die Menschen, die ihre +eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich hier +um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung +zugrunde liegen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_17_17" id="Fussnote_17_17"></a><a href="#FNAnker_17_17"><span class="label">[17]</span></a> In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt +er es „ein Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung +hingerissen” habe.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_18_18" id="Fussnote_18_18"></a><a href="#FNAnker_18_18"><span class="label">[18]</span></a> Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut +kannten, geht aus einem Briefe Mazzinis an Becker +vom Juni 1861 hervor. Vgl. die Veröffentlichungen +R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im +Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_19_19" id="Fussnote_19_19"></a><a href="#FNAnker_19_19"><span class="label">[19]</span></a> Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind +Mitte der achtziger Jahre im Buchhandel erschienen. +(Dresden und Leipzig, H. Minden.) So dünn das +Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im +Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über +Lassalle dem Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; +die Briefe selbst sind nicht einmal chronologisch geordnet, +wozu deren Nichtdatierung von seiten Lassalles +den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten +aus dem Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen +war. In einem der Briefe ist von „Salingers +genialer Komposition” die Rede. Der Herausgeber, +der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, +macht dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. +Daß der Name Salinger bzw. Solinger Pseudonym für +Hans von Bülow war, wird dagegen nicht einmal angedeutet. +Bülow hatte die Komposition des Herweghschen +Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_20_20" id="Fussnote_20_20"></a><a href="#FNAnker_20_20"><span class="label">[20]</span></a> Wohl ein Druckfehler. +</p> +<p class="right">D. H. +</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_21_21" id="Fussnote_21_21"></a><a href="#FNAnker_21_21"><span class="label">[21]</span></a> Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen +Krieges” gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht +in die Schablone des „guten Patrioten” passenden +Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger Verwicklungen +auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend +dafür ist auch eine Stelle in der Schrift +„Was nun?”, die schon deshalb hierher gehört, weil +Lassalles dort entwickelter Vorschlag tatsächlich nur +zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder +Revolution. Anknüpfend daran, wie unmöglich und +unhaltbar die auswärtige diplomatische Stellung der +preußischen Regierung wäre, wenn sein Vorschlag befolgt +würde, fährt Lassalle fort: +</p> +<p> +„Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, +dies sei ein unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat +der Politiker, wie der Naturforscher, Alles zu betrachten, +was ist, und also alle wirkenden Kräfte in +Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten +unter einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der +Konflikt in den diplomatischen Beziehungen ist einmal +eine wirkende Kraft und, gleichviel ob gut oder +schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt in Rechnung +gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, +wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille +meines Zimmers bei historischen Studien mir die große +Wahrheit auf das Genaueste zu vergegenwärtigen, daß +fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe der +Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch +stehen würden, wenn nicht seit je die Eifersucht und +der Gegensatz der Regierungen unter einander ein +wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu +Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, +meine Herren, ist die Existenz der Deutschen nicht +von so prekärer Natur, daß bei ihnen eine Niederlage +ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz +der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine +Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verständniß +betrachten, so werden Sie sehen, daß die +Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so +riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem +übrigen Europa vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit +und Unverwüstlichkeit unserer nationalen +Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten +wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in +demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die +sächsische, preußische, bayerische zusammenbrechen, +aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben +unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein +ankommen kann — das deutsche Volk!” +</p> +<p> +Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, +doch darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens, +daß, ein so wichtiger Faktor des Fortschritts der Völker +die Rivalität der Regierenden sein kann und unzweifelhaft +oft gewesen ist, sie doch auch recht oft +als ein Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, +sich als ein Hemmnis des Fortschritts erwiesen hat. +Es sei nur an die beiden Gesichter des heutigen Militarismus +erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg +zwar ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der +Nationen auslöschen, es aber doch so wesentlich in +seinen Lebensinteressen schädigen kann, daß er immer +eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber +auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwähnten +Beispiel tut Lassalle nur das erstere, aber wie der +Schlußsatz und seine Briefe zeigen, war er auch zu +dem Letzteren sehr geneigt — eine übrigens weit verbreitete, +aber darum nicht minder zu bekämpfende +Tendenz.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_22_22" id="Fussnote_22_22"></a><a href="#FNAnker_22_22"><span class="label">[22]</span></a> Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft +kamen damals in Preußen erst 766180 +selbsttätige Personen in der Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter +und Beamten eingeschlossen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_23_23" id="Fussnote_23_23"></a><a href="#FNAnker_23_23"><span class="label">[23]</span></a> Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem +Brief” geheißen: „Und ich wiederhole, daß ich mir +auch von den Produktivassoziationen nicht im Geringsten +einen Beitrag zu dem verspreche, was man +die Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch +Lassalles wurden aber diese Worte beim Druck +fortgelassen, da er der Sache nach eine Wiederholung +des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen +Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn +sie so schroffen Widerstreit zwischen ihren Führern +sehen, entmutigen müsse”. (Lassalles Brief an Rodbertus +vom 22. April 1863.)</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_24_24" id="Fussnote_24_24"></a><a href="#FNAnker_24_24"><span class="label">[24]</span></a> „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des +ehernen Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung +ist von mir später gesondert in das Buch „Zur Theorie +des Lohngesetzes und Verwandtes” (erster Teil der +Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus”, +Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_25_25" id="Fussnote_25_25"></a><a href="#FNAnker_25_25"><span class="label">[25]</span></a> Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation +Louis Blanc „entlehnt” — richtiger, Louis Blancs +Assoziationsplan in seiner Weise umgearbeitet. Lassalles +Vorschlag nimmt eine Mittelstellung zwischen +Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit +dem ersteren hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren +die Selbständigkeit der Assoziation gemein.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_26_26" id="Fussnote_26_26"></a><a href="#FNAnker_26_26"><span class="label">[26]</span></a> In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe +der Lassalleschen Briefe heißt es „nicht gehört”. +Das „nicht” beruht aber, wie sich im folgenden zeigt, +auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck +des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. +S. 463).</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_27_27" id="Fussnote_27_27"></a><a href="#FNAnker_27_27"><span class="label">[27]</span></a> D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über +einen gewissen Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt +nicht bewirtschaftet wird, weil er nicht einmal +vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte Arbeit +abwirft.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_28_28" id="Fussnote_28_28"></a><a href="#FNAnker_28_28"><span class="label">[28]</span></a> Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen +von Henry George, Flürscheim usw., da Lassalle +die allgemeine Verwirklichung der Assoziationen voraussetzt, +ohne welche, wie wir früher gesehen haben, +jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen +Lohngesetz scheitern müßte.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_29_29" id="Fussnote_29_29"></a><a href="#FNAnker_29_29"><span class="label">[29]</span></a> Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, +wenn Lassalle z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur +Arbeiterfrage” den sogenannten Manchestermännern +u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß sie, +wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden +in der Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende +jedoch darin, daß die Manchestermänner +den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft untergehen +lassen wollen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_30_30" id="Fussnote_30_30"></a><a href="#FNAnker_30_30"><span class="label">[30]</span></a> Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein +Schulknabe war, noch sehr gut jener Epoche; aus +ihr datieren meine ersten politischen Eindrücke. In +der Schulklasse, auf dem Turnplatz — überall wurde +in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir +Knaben nur in unserer Art wieder, was wir im elterlichen +Hause, in unserer Umgebung, zu vernehmen +pflegten. Meine Mitschüler gehörten den bürgerlichen +Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, +aber die einen wie die andern waren gleich fest davon +überzeugt, daß eine Revolution „kommen muß”, denn +„mein Vater hat es auch gesagt”. Jede Äußerung der +Wortführer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis +auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde +triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen +Spottverse auf den König und seine Minister.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_31_31" id="Fussnote_31_31"></a><a href="#FNAnker_31_31"><span class="label">[31]</span></a> So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles +gegen Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach +Befriedigung” seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen +für dieselbe Sache” falsch. Beides fällt +in der Regel zusammen, ist aber keineswegs dasselbe. +Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber +lustig, daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen +menschlicher und tierischer Arbeit darin erblicke, +daß die erstere Arbeit für künftige Bedürfnisse +sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren +Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, +daß der Mensch mit Bewußtsein, das Tier ohne solches +tätig sei. Und ähnlich an anderen Stellen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_32_32" id="Fussnote_32_32"></a><a href="#FNAnker_32_32"><span class="label">[32]</span></a> Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers +erinnert. Ferner ist interessant folgende Stelle aus +dem Schlußwort einer Ansprache des Herrn Herm. +Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck und +tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer +Sitzung des konservativen preußischen Volksvereins +vom 2. November 1862: „Meine Herren, täuschen +wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn +sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die +soziale Frage zu lösen, so ist all Euer Laufen und +Mühen umsonst. Ich schließe deshalb mit der Aufforderung, +treiben wir das, was wir als die Aufgaben +und Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben +wir das mit noch mehr Energie, treiben wir es +nicht bloß für die Zeit der Wahlen.”</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_33_33" id="Fussnote_33_33"></a><a href="#FNAnker_33_33"><span class="label">[33]</span></a> Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der +Lassalleschen Schriften dem für das große Publikum +bestimmten Vorwort Lassalles zum Franz von Sickingen +angefügt (vgl. Bd. I).</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_34_34" id="Fussnote_34_34"></a><a href="#FNAnker_34_34"><span class="label">[34]</span></a> Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst +baldigen gesetzlichen Regelung der Frage und +dadurch Abhülfe ihrer Not entließen Seine Majestät +die Deputation. Das königliche Versprechen wird +erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges +widerhallen und vielen hundert duldenden +redlichen Familien neue Hoffnung und neue Kraft +zum muthigen Ausharren geben.”</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_35_35" id="Fussnote_35_35"></a><a href="#FNAnker_35_35"><span class="label">[35]</span></a> In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten +Dr. Dammer, an den Lassalle in der ersten +Aufregung zwei sich durchaus widersprechende Telegramme +gesandt, hatte es wörtlich geheißen: „Die +erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der +ganze Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht +höchst unangenehm ist.” Der Widerspruch in den +Telegrammen erklärt sich jetzt durch die widerspruchsvolle +Situation, in die Lassalle geraten war. Er war, +ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.</p></div> + +<div class='transnote'><h3>Anmerkungen zur Transkription:</h3> +Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide +Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: + +<ul class="index"> +<li>anderm — anderem</li> +<li>andern — anderen</li> +<li>Arbeiterverein — Arbeiter-Verein</li> +<li>eigne — eigene</li> +<li>garnicht — gar nicht</li> +<li>heut — heute</li> +<li>Nothwendigkeit — Notwendigkeit</li> +<li>Testamentrecht — Testamentsrecht</li> +<li>Verständniß — Verständnis</li> +<li>Vermittelung — Vermittlung</li> +</ul> + +Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: + +<ul class="index"> +<li>Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben.</li> +<li>S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert.</li> +<li>S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert.</li> +<li>S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert.</li> +<li>S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert.</li> +<li>S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert.</li> +<li>S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert (Fußnote).</li> +<li>S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert.</li> +<li>S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt.</li> +<li>S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt.</li> +<li>S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert.</li> +<li>S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt.</li> +<li>S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote).</li> +<li>S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert.</li> +<li>S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert.</li> +<li>S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14).</li> +<li>S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert.</li> +<li>S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert.</li> +<li>S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt.</li> +<li>S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert.</li> +<li>S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert.</li> +<li>S. 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt.</li> +<li>S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert.</li> +<li>S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht.</li> +<li>S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert.</li> +<li>S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert.</li> +<li>S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert.</li> +<li>S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert.</li> +<li>S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert.</li> +<li>Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert.</li> +</ul> + +</div> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44722 ***</div> +</body> +</html> diff --git a/44722-h/images/cover.jpg b/44722-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..f5e1d32 --- /dev/null +++ b/44722-h/images/cover.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Ferdinand Lassalle + Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers + +Author: Eduard Bernstein + +Release Date: January 20, 2014 [EBook #44722] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE *** + + + + +Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +(This book was produced from scanned images of public +domain material from the Google Print project.) + + + + + + +--------------------------------------------------------------------+ + | Anmerkungen zur Transkription | + | | + | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ markiert. | + | Informationen zu Korrekturen befinden sich am Ende des Texts. | + +--------------------------------------------------------------------+ + + + + + FERDINAND LASSALLE + + EINE WÜRDIGUNG + DES LEHRERS UND + KÄMPFERS + + VON + + EDUARD BERNSTEIN + + + VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN + 1919 + + + ALLE RECHTE VORBEHALTEN + COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN + + + _DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_ + + + + +Inhalt. + + + Seite + + Vorwort 5 + + Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7 + + Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede + und der Franz von Sickingen 27 + + Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66 + + Das System der erworbenen Rechte 114 + + Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden + und das Arbeiterprogramm 145 + + Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das + Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186 + + Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. + Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften + mit Staatskredit 213 + + Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen + Arbeitervereins 235 + + Lassalle und Bismarck 263 + + Lassalles letzte Schritte und Tod 285 + + Schlußbetrachtung 293 + + + + +Vorwort. + + +Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre +1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung +„Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften +Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, +dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß +aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer +ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene +Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe. + +Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte +Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen +Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik +vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der +Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an +und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das +Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu +gestalten, als es früher vor uns stand. + +Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der +Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer +Begründer verehrt, _für_ die Partei, also namentlich auch für +bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf +zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863 +neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu +bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das +literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift +beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der +Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen +behandeln. Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur +Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des +Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen +und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer +Führer der sozialistischen Demokratie. + +_Berlin-Schöneberg_, im September 1919. + + _Ed. Bernstein._ + + + + +FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE + + + + +Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung. + + +Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete +Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren +gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und +Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder +Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man +alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so +ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an +bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem +Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so +hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner +früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige +Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe +seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren +Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf. + +Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der +kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz +zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der +schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum +Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst +in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen +die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem +Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum +zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller +Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die +Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen +jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange +Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit +diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße, +vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das +aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den +zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der +bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum +ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen +Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch +soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen +Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die +hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen +Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und +Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger +ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist +jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es +wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf +lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück. + +Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. +und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche +Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in +diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des +Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr +außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und +Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den +vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen +an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die +bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom +proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine +antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende +Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer +Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente +des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die +Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in +England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in +Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber +sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die +zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation +zurückbleiben. + +Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger +Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die +entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine +Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des +Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche +Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, +bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren +sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre +Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des +Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem +Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und +Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie +kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen +Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die +Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute +Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei +zu kämpfen. + +Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in +Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch +unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen +Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort +lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits +die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren +in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit, +der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in +Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor, +während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie +bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die +Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in +Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere +Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon +meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig +große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk. +Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er +sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen +einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und +die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben +dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den +Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der +Proudhonismus. + +In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die +Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals +in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der +Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische +Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte. + +In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse +der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern +teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf +verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief, +wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine +verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits +die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese +überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo +immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte, +so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten +des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in +Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf +der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von +ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das +Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen +unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten +noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten +ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich +an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres +gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen, +halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm +aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger +eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse +mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der +radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender +Bourgeoisphilantropen. + +Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten +mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor +sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der +erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England +die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley, +Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter +veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu +suchen -- nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre +„moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß” +usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren +Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch +die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen +besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern, +soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben +von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische +Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben, +trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser +Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes +„Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits +verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden +Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die +sogenannte freidenkerische Propaganda werfen. + +In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen, +welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne +drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische +Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß +nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18. +Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung +einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen, +es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine +der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre +Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle +Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber +diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie +sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine +bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der +Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren +treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre +Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine +Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen +großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der +Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten +Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig +scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.) + +In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der +Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren +Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben +ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in +nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche +Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich +mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen +harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher +Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der +selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur +„Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen +Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands +in ermunterndster Weise zustatten kam. + +Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften +weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; +diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt +werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren. Da nun die Großindustrie +in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große +Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister +der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie +angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr +ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden +fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die +Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt +hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und +Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von +Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone +des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern +als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom +Kapital. + +Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband +Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die +selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische +Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem +Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der +Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die +Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne +zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten +Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte +sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte, +bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche +und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften. + +Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen +Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, +als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen, +die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der +Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet, +Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation +dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der +liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich +erwärmen? + +Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben +werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift +Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von +den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der +Arbeiter erwartete: + +„Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die +Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen +den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen. Denn +muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer +zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen? +Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren +Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst +riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen +übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die +geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden? +-- Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den +Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die +Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen +ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher +gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals +allgemein und mit Sicherheit erreicht ... + +„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den +Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer +hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen +Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern, +weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während +also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen +annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und +mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen +Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem +Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer +Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur +erblicken ... + +„Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter +sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen +Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es +allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen, +durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird, +ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert +ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser +Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen +geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als +Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer +Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der +Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten +anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis +dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar +nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das +Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und +Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann +erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in +tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar +hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und +das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.) + +Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862 +tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine +Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen +beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten +zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen, +aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften. + +Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848 +bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und +nehmen jetzt deren Faden wieder auf. + +Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen +empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der +Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. +Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen +Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage, +während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am +Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten +Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren +Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war, +sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des +„Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der +Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte +sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche +Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide +Regierungen vorderhand noch „solidarisch”. + +Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung, +die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850 +die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die +Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und +Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall +gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall +schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue +Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr +Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am +wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit +drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den +Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position +eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern +Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein +Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen +der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer +Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen +gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben +würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um +dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die +„Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen +Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen, +sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu +gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging +auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder +Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche +Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der +„Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands +Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle +zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen +Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien +angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach +die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man +nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem +Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte +Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch +abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen +sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und +Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter +von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis +geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten +hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die +liberalen „Freiheiten” brauchten? + +Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus +jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die +kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die +über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. Man +war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer +Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die +Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte +deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und +daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe. +Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen +Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den +Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die +Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu +Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man +hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt. + +Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts +braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der +Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im +heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der +Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in +Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber +kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden, +daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten +Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die +nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der +kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen, +überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten +Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen +Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch +immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem +Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden +Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr +Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das +Budgetrecht der Volksvertretung. + +Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt +noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf +jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren +Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der +Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die +ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen +dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten +kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig +ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst +Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von +Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit +kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch +sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die +Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine +eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch +wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als +eine bloße Kreatur der liberalen Partei. + +Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig +aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein +Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen +feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der +preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem +Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten, +_das_ „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten +-- nämlich die Klassenkämpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so +begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung +handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es +nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise +auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht +zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten, +als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das +Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein +zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen +Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” -- d. h. hübsch draußen +bleiben -- war in der Tat typisch für das Unvermögen der +Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als +den denkenden Spießbürger -- ihr Ebenbild, ihren Gott. + +So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger +Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur +Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge +die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war. + + + + +Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz +von Sickingen. + + +Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in +seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und +geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich, +sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunächst +innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt +Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst, +verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde -- kurz, +nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher +völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im +Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon +hatte. Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen +Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige +Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. +Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders +zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte, +daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse +darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem +Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden +Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen +ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei +seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen. +Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein. + +Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie +Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der +Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen +Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur +Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer +Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die +Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit +seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht +kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles +unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen +Handelns liefert. + +Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große, +man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir +sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder +Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das +Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen +noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines +eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie +gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine +innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß +Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden +hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum +Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren. Die +Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten, +unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte +ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen +jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter +Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so +selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen +trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in +das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen +Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung +gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am +1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein +Tagebuch: + +„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer +der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu +achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben +wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich +würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu +einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen +nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der +Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die +Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den +Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder +dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die +Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen +Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”, +knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die +Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht +erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur +sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die +Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein +besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate +später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die +Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, +auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man +mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß +die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns +helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Würfel liegen, es +kommt auf den Spieler an.” + +Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert, +aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen +Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle +durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr +angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und +Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die +Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer +Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen, +folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich +weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische +Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des +Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte, +Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand +ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte +betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst +geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich +bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat +sein.” + +Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den +sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten +Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und +von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium +vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle +von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig +geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, +Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die +Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für +den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen +Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater +nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er -- nach seiner +Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der +Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer +Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem +mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je +radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der +Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule +bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn +eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz +werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne. „Ich traue auf den +Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den +Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als +mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als +mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die +Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von +Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen, +als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.” +„Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu +dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich +abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß, +als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen” +Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin +oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute +sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren +„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht +einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium +vorbereite. + +Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so +weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, +geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer +größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen +Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand +der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen +Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz +richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt, +ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die +Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte, +reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen +Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann +durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich +das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können. +Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat +ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen +tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die +intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf +der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich +zur Ursache seines jähen Endes geworden. + +Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später +nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um +die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche, +kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen +Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843 +schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit +Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt +wurde -- Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen +Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im +Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt +--, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel +mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in +mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste +leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen +Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt. +Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles +Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat. + +Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die +Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren +vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten +Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen +ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens +zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die +Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen +aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht +mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen, +während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer +Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen +Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit +einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem +Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines +übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser +Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den +folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der +Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist +aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches +Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß +übernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der +vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus +anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen +den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um +eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und +Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt +hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an. + +Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der +hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren +mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf +hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche +Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur +die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen, +außergewöhnlicher Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung der +gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen Mittel des +unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im +ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewöhnlicher +Genußmensch, scheute vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen, +und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu +Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die +Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen +von dem Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder herangeschleppt +wurde, von der Qualität der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen. + +Und von den Rückwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im +Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle nie ganz freimachen können. Wir +meinen das nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine +späteren Liebesaffären, sondern mit Bezug auf seine von nun an +wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen und zu +benutzen, das ihm für seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir +meinen den Verlust jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung +selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm +vertretenen Grundsätzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an +wiederholt und am stärksten in der tragischen Schlußepisode seines +Lebens sich offenbarende Einbuße an gutem Geschmack und moralischem +Unterscheidungsvermögen. Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich +in den Hatzfeldtschen Prozeß gestürzt, -- er selbst gebraucht in der +Kassettenrede das Bild des Schwimmers: „Welcher Mensch, der ein starker +Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes +fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, für einen guten +Schwimmer hielt ich mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den +Strom” -- gewiß, aber leider war es ein recht trüber Strom, in den er +sich gestürzt, ein Strom, der sich in eine große Pfütze verlief, und als +Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft, +mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen +besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes, +drängten sie auch wiederholt siegreich zurück, aber schließlich ist er +ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen, +aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur +gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben, +sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis +einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklären[1]. + +Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst noch der Rolle zu +gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat. + +Beim Ausbruch der März-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen +des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich fast +zur politischen Untätigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der +Prozeß wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen ihn statt und +er hatte alle Hände voll zu tun, sich auf diesen zu rüsten. Erst als +er nach siebentägiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann +er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit +direkten Anteil zu nehmen. + +Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte, +stand natürlich als Republikaner und Sozialist auf der äußersten Linken +der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx +redigierte „Neue Rheinische Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine +Zeitlang dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten an, der in Köln +seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in +nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mündlich und +schriftlich mit dem erwähnten Kreisausschuß, sandte wiederholt +Mitteilungen und Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” und +erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. So +bildete sich allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr +zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch später noch, als Marx im +Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde. +Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf +einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes +herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhältnis zwischen +den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. +Was sonst noch einer über die politische Kampfgenossenschaft +hinausgehenden Intimität im Wege stand, soll später erörtert werden. + +Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenüber nahm +Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der „Neuen +Rheinischen Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich +ihr forderte er, als die preußische Regierung im November 1848 den +Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst +und den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, und die +Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums +in Anklagezustand, sowie mit der Erklärung geantwortet hatte, daß +dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur +Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung +auf. Gleich dem Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch +Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die königliche +Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen +freigesprochen, aber die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion +stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur +Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben, +um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat +verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre +Berufsrichter -- Lassalle schließlich auch zu sechs Monaten +Gefängnis. + +Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage ist unter dem Titel +„Assisen-Rede” im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich +gehalten worden, und alles, was in verschiedenen älteren Biographien +über den „tiefen” Eindruck erzählt wird, den sie auf die Geschworenen +und das Publikum gemacht habe, gehört daher in das Bereich der Fabel. +Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben, +und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt +worden waren, beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit +auszuschließen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklärung, die +Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja +höchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der +Bestechung veranlaßt worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht +erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich zu verteidigen, +wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen. + +Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” bleibt jedenfalls ein +interessantes Dokument für das Studium der politischen Entwicklung +Lassalles. Er steht in ihr fast durchgängig auf dem von Karl Marx drei +Monate vorher in dessen Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen +Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste, +ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und +Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen Ausschmückung, er geht +direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrängter +Sprache, Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik seinen +Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik +der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe +ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen +politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von +Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in -- oft sehr schönen -- Bildern +und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen +Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den +Geschworenen, sondern zu den Tribünen, zu einer imaginären +Volksversammlung, und schließt, nach Verkündigung einer Rache, die „so +vollständig” sein wird wie „die Schmach, die man dem Volke antut”, +mit einer Rezitation aus Tell. + +Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnäckigkeit +Vergünstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden +pflegten -- so erhielt er, was er später selbst für ungesetzlich +erklärte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu +plädieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Tätigkeit +wieder fast vollständig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in +Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus für +politische Freunde und versammelte längere Zeit einen Kreis +vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vorträge hielt. +Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Prozeß der +Friedensschluß. Die Gräfin erhielt ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt +und Lassalle eine Rente von jährlich siebentausend Talern +sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen +Wünschen einzurichten. + +Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in Düsseldorf bei und arbeitete hier +an seinem „Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen, +u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese +Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der +das politische Leben erloschen war, aussöhnen. Es verlangte ihn nach +einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder +erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten, nach einem +größeren Wirkungskreis. So erwirkt er sich denn 1857 durch die +Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preußen von der +Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu +dürfen. + +Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle +hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die „schmachvolle und +unerträgliche Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die „über Preußen +hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: „Warum zu soviel Gewalt noch +soviel Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen wir nichts, +nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig +auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der +Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam +er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der +Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim +zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr +rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt, +daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative „Augsburger +Allgemeine Zeitung” schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die +wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, für sein gutes +Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewußtsein der +Festigkeit seines politischen Wollens für reine Formsache, daß er seine +betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich +da um verschiedene Anträge, der erste 1855 an den Berliner +Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den +damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darüber „Dokumente des +Sozialismus”, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten +machte er Karl Marx gegenüber kein Geheimnis. + +Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle durch Verbindungen der Gräfin +Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, daß sich +in den oberen Regionen Preußens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit +diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle +bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach +London gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. Februar 1854 den +Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage vorher vom Berliner +Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustände im +Berliner Kabinett -- der König und fast alle Minister für Rußland, nur +Manteuffel und der Prinz von Preußen für England -- und die für gewisse +Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen Maßregeln, worauf es heißt: +„Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als +wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier +Wochen später machte er wieder allerhand Mitteilungen über beabsichtigte +Schritte des Kabinetts, gestützt auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner +‚offiziellen’, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle”. Am 20. Mai +1854 klagt er, daß seine „diplomatische Quelle” eine weite Reise +angetreten habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man +kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit +wieder verlieren, ist überaus ärgerlich.” Aber er hat immer noch +Nebenquellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten, +und ist u. a. „zeitig vorher von Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt +worden. + +Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre +Berichte mögen auch Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige +Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit +vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hüter der +monarchischen Idee sie noch nicht für genügend erachteten, des Königs +Regierungsunfähigkeit auszusprechen, so wußte man doch in allen +unterrichteten Kreisen, daß der Regierungsantritt des Prinzen von +Preußen nur noch eine Frage von Monaten sei. + +In Berlin vollendete Lassalle zunächst den Heraklit, der Ende 1857 im +Verlage von Franz Duncker erschien. + +Über dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk +gehen die Meinungen der Sachverständigen auseinander. Die einen stellen +es als epochemachend hin, die andern behaupten, daß es in der Hauptsache +nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß +Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem Standpunkt steht -- die +Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens +als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die +Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende +Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, daß sie eine +sehr tüchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der +wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen. + +Für die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges +ist sein Werk über Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht bloß +darin von Bedeutung, daß es Lassalle als eben entschiedenen Anhänger +Hegels zeigt. Man kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker G. +Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer +Ausschmückung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über +Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit über Heraklit als +Schlüssel zum Verständnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es +gilt dies namentlich von Lassalles großem Kultus des Staatsgedankens -- +auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf +Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer +Hinsicht: + +„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in den einen Gedanken +zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: +‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich griechisch und modern; +aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen +Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Übereinstimmung +mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen +Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation +des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung +im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung +gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der +Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” (Vgl. a. a. O. S. 40.) + +Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei +Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie +und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des „formellen +Willens der Subjekte” darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man +„nicht ungestraft in seinem Gemüte hegt”, und der in der Welt der +Prinzipien das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der „rein +äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten +Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in +und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und +schwieligen Händen sprach”. + +Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich hat Lassalles +althegelsche Staatsidee ihn später im Kampf gegen den Liberalismus weit +über das Ziel hinausschießen lassen. + +Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes: + +„Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und +Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so +leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und +dem Lobe anderer. Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die +größeren Schicksale erlangen das größere Los.’ Und er hat gesagt, was +das rechte Licht auf diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die sich +weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rat +fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige nur gut, die +Besten aber dem Ruhme nachfolgen. ‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen +die Besten eins statt allem, den immerwährenden Ruhm der +Sterblichen.’ Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größere Los, +welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre +war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein +durch Reflexion und Philosophie begründetes. ‚Der Ruhm’, sagt +Lassalle, ‚ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das +Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins +überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in +ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz +selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit +des Menschen”, und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der Grund ist, +weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und +über alle kleinen und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das +der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann +‚Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel’, so ist es auch der +Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines +spekulativen Prinzips erblickte.’” + +Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst +Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz zu der +Heraklitischen Verachtung der Menge war er für den Beifall durchaus +nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr +Höflichkeitsform war, unter Umständen mit fast naiver Genugtuung für die +Sache selbst auf. Die Vorliebe für das Pathos, die sich bei Lassalle in +so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur +Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz +freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß er aus +dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe für den Lärm und +Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je +einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt +sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivetät etwas +Versöhnendes hat. Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift +erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als +volkserwählter Präsident der Republik „von sechs Schimmeln gezogen” +seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder +an eine Übertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß +Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so +fester in dem Herzen seiner Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die +bekannte schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie von Sontzew beweist, +daß es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei +einer müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte, +sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte, +dessen Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er nennt sich -- +im Jahre 1860 -- „das Haupt einer Partei”, in bezug auf das sich +„fast unsere ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren eine +-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle „achtet, liebt, +sogar nicht selten verehrt”, für die er „ein Mann von größtem Genie +und von einem fast übermenschlichen Charakter ist, von dem sie die +größten Taten erwarten”. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie +und der größte Teil der Bourgeoisie -- fürchtet ihn „mehr als irgend +jemand anders” und haßt ihn daher „unbeschreiblich”. Werde die +Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew +nicht verzeihen, daß sie einen solchen Menschen heiratete, so werden +auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß ein +solcher Mensch sie heiratete, „sie eines Glückes halber beneiden, das +ihre Verdienste übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen +nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse Ereignisse eintreten, +eine Flut von Bewegung, Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen +würde, wenn Sie mein Weib werden.” + +So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, so wenig sie +der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer +sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle +vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen Liberalen und Demokraten +auf bestem Fuße stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht hatte, +deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, die in Regierungskreisen +gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne +-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die +in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand +und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein führte. Die +Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Pläne. Jedes Wort der +Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafür hielt, war +für ihn Bestätigung seiner Mission, und nicht selten nahm er +Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es ist merkwürdig, welcher +Widersprüche die menschliche Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den +Berichten seiner näheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht, +mit schmeichelhaften Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren +allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn +selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht für echtes Gold. + +So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst +verwachsen, daß, als er später wirklich an der Spitze einer Partei +stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen +Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten +vermochte und danach behandelte. Man mißverstehe uns nicht. Es wäre +absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle den Allgemeinen deutschen +Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß der +Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war +überzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre +nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr +seine Persönlichkeit -- ich sage ausdrücklich nicht sein Leben, +aufzuopfern. + +Soviel an dieser Stelle hierüber. + +Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem +der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf +entworfenes historisches Drama und ließ es, nachdem eine anonym +eingereichte Bühnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele +abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen. + +Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk verfehlt war, hat +Lassalle später selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafür +den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht +das Drama, trotz einzelner höchst wirkungsvoller Szenen und der +gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die +Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es +werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft +von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, daß ein +Freund Lassalles, den dieser, während er am „Franz von Sickingen” +arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter metrischer +Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das +Stück lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, daß +ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. Denn die +Lassallesche Prosa hat wirklich eine Reihe großer Vorzüge, und selbst +die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische zu verfallen, +hätte in einem Drama wie der Sickingen nichts verschlagen. Aber +Lassalle ließ sich nicht von seiner Idee abbringen, daß die Versform +für das Drama unentbehrlich sei, und so stolpern nicht nur seine +Ritter und Helden auf oft recht geschraubten fünffüßigen Jamben +einher, selbst die aufständischen Bauern bedienen sich der Stelzen +des Blankverses. Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten +Losungsworten: + + „Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?” + „Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,” + +die denn auch wahrhaft erfrischend wirken. + +Indes diese technischen Fragen treten für uns zurück vor der Frage nach +Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von +Sickingen” über das historische Drama, wie es Schiller und Goethe +geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen +Kämpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden +liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, während die +eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen +und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse +der Zeiten und Völker zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, so +daß sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die +vielmehr nur die Träger und Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze +sind, sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke der Nationen +selbst -- „Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten +allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit +der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu +ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es +möglich,” meint Lassalle, „den Individuen aus der Bestimmtheit der +Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus +markige und feste, selbst derbe und realistische Individualität zu +geben.” (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit +Lassalle die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit sie +überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die großen +Kämpfe der Menschheit und der Völker so in Individuen verkörpern +lassen, daß nicht das eine oder das andere, die Größe und umfassende +Bedeutung jener Kämpfe oder die lebendige Persönlichkeit der +Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir +hier unerörtert lassen können. Es genügt, daß Lassalle bei der +Durchführung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun +zum Stoff des Dramas selbst. + +Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens +gegen die deutschen Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund +und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist +eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in +Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische oder der +theoretische Repräsentant des niederen deutschen Adels. +Merkwürdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem +letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. „Lesen Sie mein +Trauerspiel,” schreibt er an Sophie von Sontzew. „Alles, was ich Ihnen +hier sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte +alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. +Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies, +da sein Schicksal und das meinige einander vollständig gleich und von +überraschender Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst Lassalle schwer +geworden sein, diese überraschende Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich +um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte in Berlin ein +luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen aller Kreise der besser +situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt +eines ähnlichen Hasses wie der fränkische Ritter, der Urheber der +leidenschaftlichen Streitschriften wider die römische Pfaffenherrschaft. +Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle +und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen, +was tatsächlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei +seinem Werke geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem +Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen über sich selbst +ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns, +wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund +legt, erhalten dadurch für das Verständnis des Lassalleschen +Ideenkreises eine besondere Bedeutung. + +Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des +Ökolampadius gegen den geplanten Aufstand: + + „Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte. + Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,” + +ein echt Hegelscher Satz, + + „Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!” + +Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung der Liebeslehre durch das +Schwert” gesprochen: + + „Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert! + Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist + Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt, + Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren. + Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet, + Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft, + Den wir noch heut den Großen staunend nennen. + Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt, + Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab! + Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben, + Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht + Und Wissenschaft und Künste uns geboren. + Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon! + So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet + Das Herrliche, das die Geschichte sah, + Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen, + Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!” + +Es liegt in den Sätzen „doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt +ewig die Gewalt”, und „daß alles Große, was sich jemals wird +vollbringen”, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde, +unzweifelhaft viel Übertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, daß das +für die Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene Wort” +sei, daß, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein muß, für sie +mit dem Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche, +wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr +darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr +zeitgemäß, und nicht nur für die damalige Epoche, sind auch die +Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen im letzten Akt +zurufen läßt: + + „O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht + Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten + In großen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_ + Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht, + Wo im Gewühl die Völker dich nur an + Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen; + Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle + Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe. + Dann probst du aus im ungeheuren Streit + Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens, + Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!” + +Auch der Ausspruch Sickingens: + + „Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg. + Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel, + Daß eines sich stets ändert mit dem andern, + Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”. + +ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider +hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen +Laufbahn unbeachtet gelassen. + +Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das +Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz. + +Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind +beide Vertreter des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit +der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist +diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das +notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur +beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz +ihre Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das Material zu +einer echten Tragödie gegeben, der vergebliche Kampf markiger +Persönlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit. +Merkwürdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen +Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so +bedeutungsvoll sie doch gerade für die -- wir wollen nicht einmal sagen, +sozialistische, sondern überhaupt die moderne wissenschaftliche +Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche +Unternehmen an tausend Zufälligkeiten -- Unüberlegtheit, Mißgriffe in +den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit +den Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache”, was +unwillkürlich an den recht unhistorischen Schluß in Götz von +Berlichingen erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß! +Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!” Begreift man aber, warum +der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des +untergehenden Rittertums zum Helden wählen konnte, so ist es schon +schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, zu einer Zeit, +wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur +Beurteilung der Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, ein +Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin +als die Repräsentanten „eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt, +auf dessen Resultaten”, wie er sich in der Vorrede ausdrückt, „unsere +ganze Wirklichkeit lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden +Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen Prozeß noch +einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch +die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu +erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschloß ich mich zu +diesem Drama.” + +Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache +des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und für die +Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des +untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der +aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung +der Verhältnisse in Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren +Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrängt +und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen +Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der +Gründung des neudeutschen Reiches daran erinnert, daß er einmal eine so +anständige Persönlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat -- +den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger Jahren +und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus Hutten und +Sickingen als Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung und +ignorierte ihre Klassenbestrebungen. + +Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten +und Franz von Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen Freiheit +willen gegen den römischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen +Sache gegen die Einzelfürsten. „Was wir wollen,” sagt Sickingen im +Zwiegespräch mit Hutten, -- + + „das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland, + Zertrümmerung alles Pfaffenregiments, + Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen, + Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche, + Wiedergeburt, zeitmäßige der alten, + Der urgermanischen gemeinen Freiheit, + Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft + Und usurpierten Zwischenregiments, + Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang + Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd, + Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze + Des großen Reichs.” + +Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.” + +Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von Sickingen” als ein +Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg für die +Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorläufig ideale -- +Stellungnahme zu den politischen Strömungen der Zeit vollzogen. Es +sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine +Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen bürgerlichen +Demokratie, auch gegenüber einer konkreten Frage des Tages offenbaren +sollte[3]. + +Der „Franz von Sickingen” war im Winter 1857/58 vollendet worden. +Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und +begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein +Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in +die er sich bei jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem +Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung zu den großen +Kämpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und +Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich +von Huttens „berauscht”, als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen +elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf +Huttens -- wäre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne +ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu denken, den Plan des +Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst +fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” über ihn gekommen. +Man spürt es dem Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut +geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich, +dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch über die ganze +Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner der deutschen Dichter +damals besser gemacht als Lassalle. + + +Fußnoten: + + [1] Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses + in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im + Jahre 1855 eine von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach + London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und + Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx an + Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten. + + [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild. + Berlin 1877. + + [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich + durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachlaß von + Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die + seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W. + Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels + adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom + „Franz von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im + Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels + geschickt, worauf ihm diese, die damals noch örtlich getrennt lebten, + eingehend ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte Brief + Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in + einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure + beiderseitigen Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der + Hauptsache dieselben Punkte berühren”. + + Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß die Kritik von + Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen + kritisieren zu müssen glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,” + schreibt Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch zu + abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in nuce dasselbe gesagt, + was ich oben ausgeführt habe. Der Lassallesche Sickingen ist nicht der + streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts, + er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte Liberale des neunzehnten + Jahrhunderts, das heißt der liberale Ideologe. Seine Reden fallen + gewöhnlich vollständig aus der Epoche, in der sie gehalten sein + sollen, heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle an + einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung ‚zu sehr + zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben habe’. Du (Marx) + begründest dies so: Ich hätte Sickingen und Hutten daran untergehen + lassen müssen, daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer + Einbildung revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres + Interesse vertraten. ‚Die adligen Repräsentanten der Revolution’, + sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern von Einheit und Freiheit immer + noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert + -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es + bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser, + und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz + bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in + viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten + Form sprechen lassen können, während jetzt in der That, außer der + religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt’. + ‚Bist Du nicht selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein + Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die + lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche zu + stellen?’” + + Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen + fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende + Ausführungen beziehen, hier also unverständlich wären. Im wesentlichen + verteidigt sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die + ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im historischen + Sickingen vorhanden, damit genügend zum Ausdruck gebracht zu haben, + daß Sickingen, statt sich an die ganze Nation zu wenden, statt alle + revolutionären Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und sich an + ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen ritterlichen beginnt + und fortführt, bis er an der Beschränktheit seiner ritterlichen + Mittel zugrunde geht. Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil + er nicht weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich die + revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung aber habe er in + der einen Szene des Stückes, in der er die Bauern selbst auf die + Bühne bringe, und in den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden + Balthasars usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in + Wirklichkeit innegewohnt habe und noch darüber hinaus. Geschichtlich + sei die Bauernbewegung ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels. + + Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in + verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, so u. a. im + „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Daß + die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit + zurückgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären, + die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs, + wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionäre in ihren + Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das übersieht + Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfällt, + die Geschichte aus den „Ideen” abzuleiten, so vollständig, daß er + zu der Marxschen Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem + Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen + lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, verstärkt durch ein + Ausrufungszeichen, macht. + + Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine Berechtigung, + wenn im Stück auch nur die leiseste Andeutung gegeben wäre, daß + Sickingens Beschränkung auf seine ritterlichen Mittel seiner + ritterlichen Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht der + Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer Fehler behandelt. + Das reicht aus für die tragische Idee des Dramas, aber nicht für + die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an dem das + Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen ist. + + + + +Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg. + + +Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” als Buchdrama. Gerade +als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die +Entwicklung der Dinge in Deutschland eine große Rückwirkung ausüben +sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und +Cavour in Plombières verabredete französisch-sardinische Feldzug +behufs Losreißung der Lombardei von Österreich und der Beseitigung +der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien. + +Österreich gehörte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich +natürlich die Frage, welche Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem +Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des übrigen Deutschland, sich +gegenüber Frankreich mit Österreich zu identifizieren oder nicht? + +Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, daß der Krieg einen +zwieschlächtigen Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener war +er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und +Befreiung Italiens einen Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten +Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die +Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu stärken und +die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel stand auf +jeden Fall fest. Außerdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß +Napoleon sich von seinem Verbündeten, dem König von Sardinien, für seine +Bundesgenossenschaft einen hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen +(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die „Einigung” Italiens +in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den +Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem +Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer +Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombières zwischen +Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloße +dynastische Intrige. Soviel war sicher, daß, wer diesen Krieg +unterstützte, zunächst Napoleon III. und dessen Pläne unterstützte. + +Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. Gegen Österreich allein +konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die +übrigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preußen Österreich +zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er denn +durch seine Agenten und Geschäftsträger bei den deutschen Regierungen, +in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteiführern mit allen +Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg als eine Sache behandelt werde, +die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für ein +Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich in Italien ausübe, +aufrechtzuerhalten, überhaupt einem so urreaktionären Staat wie +Österreich Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene Feind der +Freiheit der Völker; werde Österreich zertrümmert, so würde auch für +Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen. + +Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen Federn, daß, +wenn die Napoleonischen Pläne im Süden sich verwirklichten, der Rhein in +direkte Gefahr geriete. Ihm würde der nächste Angriff gelten. Wer das +linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen wolle, +müsse dazu beitragen, daß Österreich seine militärischen Positionen in +Oberitalien unbeeinträchtigt erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt +werden. + +Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen +wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei +(Einigung Deutschlands unter Preußens Spitze, unter Hinauswerfung +Österreichs aus dem deutschen Bund) überein, war direkt auf es +zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine große Anzahl kleindeutscher +Politiker nicht dazu entschließen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache +Österreichs von der des übrigen Deutschland zu trennen. Dies erschien +ihnen um so weniger zulässig, als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon +den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg +führte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im +Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin, +jetzt käme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons +abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne man weiter reden. Bis +es geschehen, müßten sich aber die Italiener gefallen lassen, daß man +sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kämpften, einfach +als dessen Verbündete behandelte. + +Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom kleindeutschen Standpunkt +aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der +vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. Wenn +Österreich, und namentlich dessen außerdeutsche Besitzungen, um so eher +je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum +nicht mit Vergnügen ein Ereignis begrüßen, das sich als ein Schritt zur +Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon +erklärt, daß er nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? Warum +also Österreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen +werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch für die gerechteste +Sache von der Welt kämpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er +angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein Angriff auf +ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit Österreichs +und die Beschäftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der +Einigung Deutschlands unter Preußens Führung auch durch positive +Maßnahmen einen weiteren Schritt zu fördern? + +Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus +konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 +erschienenen Schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens” +das Wort. Mit großer Energie bekämpft er die in den beiden Berliner +Organen des norddeutschen Liberalismus, der „National-Zeitung” und der +„Volks-Zeitung”, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles +nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von +Bonaparte ausgehenden Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich als +Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, daß Preußen den +Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine +deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte +Europas im Süden nach dem Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe +im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie, +seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen, +„während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht, +für die Erhöhung Preußens in der Deutschen Achtung zu sorgen”. +Und, fügt Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung dessen +gewiß sein. In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des +deutschen Volks als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie +selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden +werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende +Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig +Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und +zittert.” + +Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre zu einem Advokaten +der „deutschen” Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt +sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte nationale Programm +als solches eine große Ähnlichkeit mit dem des im Sommer 1859 +gegründeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der +Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen +Einheit unter preußischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all +seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark +im Preußentum stecken geblieben. Nicht daß er bornierter preußischer +Partikularist gewesen wäre -- wir werden gleich sehen, wie weit er +davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf +die auswärtige Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen +durch die Brille des preußischen Demokraten an, sein Haß gegen +Österreich war in dieser Hinsicht ebenso übertrieben, wie der +Preußenhaß vieler süddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten. +Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa +aufzuweisen hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, neben +Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte”; Österreich ist +„ein reaktionäres Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller +Freiheitsideen”; „der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt, +zerstückt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut +werden”, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen +könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, und „wenn die Rechnung +sonst ziemlich gleichstehen möchte -- das römische Konkordat hat +Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des Klerus nicht +geschlossen”. Selbst Rußland kommt noch besser weg, als Österreich. +„Rußland ist ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von seiner +despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit +ihren despotischen Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier +die Entschuldigung, daß sie nationales Element ist.” Ganz anders aber +mit Österreich. „Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die +Regierung das barbarische Prinzip, künstlich und gewaltsam seine +Kulturvölker unter dasselbe beugend.” + +In dieser einseitigen und relativ -- d. h. wenn man die übrigen Staaten +in Vergleich zieht -- damals auch übertriebenen Schwarzmalerei +Österreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die +Lassallesche Broschüre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor +ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu +ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie +Hand zu lassen und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. Es war +dies die Schrift Karl Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”, +ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder +indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich +würde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange +mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus über +jeden Verdacht der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern erhaben, +daß die Möglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der +mir aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein falsches Licht auf +Lassalle zu werfen. Zum Überfluß will ich aber noch einen Passus aus der +Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die +den Beweis lieferte, daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse +schrieb und agitierte, und deren Beweisführung neun Jahre später durch +die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde -- ein +Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil er zweifelsohne gerade +auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt: + + „Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten, + die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein + Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und + Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten + aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des + italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenüber + auszuführen habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen + Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden + einer späteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es + in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu + tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der + Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat + außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten, + die er wirklich vertrat.” (K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.) + +Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, daß dort, wo Vogt mit +Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der +Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was übrigens Lassalle nicht +verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. Januar 1861 zu +erklären, daß er nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx' +Überzeugung, daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, „ganz +gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, der innere Beweis dafür[4] +sei „mit einer immensen Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder +Hinsicht ein meisterhaftes Ding”. + +Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst instruktives Buch zum +Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet +enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen +Dutzend Abhandlungen ausreichen würde. + +Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse. + +Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so +lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein großer Teil davon +handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenüber +einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch +erhalten sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, ist bis +jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen +bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die +Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre +Begründung, da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich, meist darauf +beschränkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwände gegen +dieselbe möglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des +weiteren dargelegt zu werden, warum in einer für Sozialisten +geschriebenen Abhandlung über Lassalle nicht nur dessen persönliche +Beziehung zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, +sondern auch sein Verhältnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer +Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse +ist. + +Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis lange Zeit seine +fertige Schablone. Für die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete +sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht +international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren +vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die +Revolution gekümmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig. + +Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene +Gegenüberstellung aufgegeben werden müssen. + +Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, war in demselben +Verlage, wie später diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe Thema +behandelte. Sie war betitelt: „Po und Rhein.” Der Verfasser, der sich +ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift, +suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß die von den Organen der +österreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe zu +seiner Verteidigung im Südwesten der italienischen Provinzen, falsch +sei, daß auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition +in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhängiges +Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund, +mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig genug Anlaß haben werde, +Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen. +Oberitalien sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens im Kriege +nutzen, im Frieden immer nur schaden könne. Und auch der militärische +Vorteil im Kriege würde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25 +Millionen Italienern. Aber, führte der Verfasser alsdann aus, die Frage +um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und +Italien, und nicht eine zwischen Österreich und Louis Napoleon. +Gegenüber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in +anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte, +handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur +gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn +man sie nicht mehr halten kann ... „Werden wir angegriffen, so wehren +wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit +auftreten wolle, so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern +Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber +die Karte von Europa revidiert werden, „so haben wir Deutsche das +Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe, und daß +man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle +Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber +ist,” heißt es schließlich, „daß wir Deutsche einen ganz +ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio, +die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten +gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und außen stark +machen kann.” + +Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer als -- Friedrich Engels. +Unnütz zu sagen, daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx +veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle +hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung +ihres Inhalts an die -- damals noch unabhängige -- Wiener „Presse” +geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. Er kannte also ihren +Inhalt ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” schrieb, +polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekämpft, daß, da +der Krieg durch Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen +Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit +einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als +solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt, +Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert, und zwar in dem +Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt und seine Studien”[5]. + +Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen +übereinstimmten, dafür nur ein Beispiel. Österreichischerseits war auf +die Verträge von 1815 hingewiesen worden, durch welche Österreich der +Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun: + + Vogt: + + „Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen + Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in + frecher Weise die Verträge gebrochen hat. Von allen andern sind sie + bis jetzt respektiert worden, nur Österreich hat sie gebrochen, + indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand + gegen die durch diese Verträge garantirte Republik Krakau + ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres + einverleibte.” („Studien”, S. 58.) + + Lassalle: + + „Die Verträge von 1815 können nicht einmal mehr diplomatisch + ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung + Belgiens, mit Füßen getreten und zerrissen gerade von Österreich + durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die + europäischen Kabinette zu protestieren nicht unterließen, haben sie + jede rechtliche Gültigkeit für jedes Mitglied der europäischen + Staatenfamilie verloren.” („Der Ital. Krieg usw.” Ges. Schriften + Bd. I S. 43.) + +Hören wir nun Marx gegen Vogt: + +„Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des +Königreich Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus +‚Achtung’ vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder +die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit +moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder +besetzt von Russen, Österreichern und Preußen, wurde völlig als +erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter +Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und +Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen, +Österreicher und Preußen abermals Krakau, um es Österreich +einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen +Mächte, und die österreichische Konfiskation von 1846 war nur das +letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr Vogt”, S. +73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet +„Palmerston and Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston seit +1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes +das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, +wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, daß Vogt +auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von +bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb. +In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen +bonapartistischen Pamphlete, „La vraie question, France, -- Italie -- +Autriche”, hatte es wörtlich geheißen: + +„Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische Regierung die +Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben +verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit +diese Verträge garantierten?” + +Vogt hatte in seiner Manier überall noch einen Extratrumpf +aufgesetzt. Phrasen wie „die einzige Regierung”, „in frecher +Weise”, „frevelnde Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am +Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die „politische Nemesis” +gegen Österreich anruft. + +Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, das Vogtsche Machwerk +noch nicht zu Gesicht bekommen, aber daß seine Schrift durch die von +Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle in die Presse des In- +und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt +nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe ähnlicher an die Seite +gesetzt werden können, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen +Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß die Politik ihres Heros +sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so übersahen sie dabei nur +die eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen Regierung +vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in +den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener +Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen ließ, um sie für seine damalige +Politik zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in dieser Schrift, +die später von bürgerlichen Schriftstellern als ungewöhnliche +Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts +„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten +Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor +der preußischen Heeresreform, daß, wenn Preußen einen deutschen +Bürgerkrieg für die Herstellung einer einheitlichen deutschen +Zentralgewalt ins Werk setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen +kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” („Studien” +S. 155.) Des weiteren wußte Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich +im Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” klar +geworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und +der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur +Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Österreichs zum Schwerte +greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder +für Österreich verhindern wird, um ... seinen Lohn für diese +Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. („Studien” S. +19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht +verlangen. + +Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausführung gekommen. +Bismarck, der dazu bereit gewesen wäre, war dem Prinzregenten von +Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als Minister des Auswärtigen genehm +zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurück, +Österreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine +Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine +Truppen zurück. So „drauf und dran” Österreich zu helfen, wie +Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht. + +„Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und die Aufgabe +Preußens’” -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und +Engels -- „wird Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr dort +hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese +annähernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein. +Absolute Franzosenfresserei, Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, die +revolutionäre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund), +das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die +Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der +untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gießen +suchen, und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen den Willen +des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für +unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müßte ein +von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsre +demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner +Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen kommt dazu, daß man +schon jetzt den Riß, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und +gar zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand ich für Pflicht, +mich entgegenzuwerfen ... Natürlich gebe ich mich keinen Augenblick +der Täuschung hin, als könnte und würde die Regierung den sub III +eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr +fühlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er +sofort in einen Vorwurf umschlägt. Er kann wie ein Eisblock wirken, +an dem sich die Wogen dieser falschen Popularität zu brechen +anfangen.” + +Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die +revolutionäre als die nationale Bewegung zu fördern, die letztere der +ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage +war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale +Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle +einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine +Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. Marx +und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunächst darauf +an, den gegen Deutschland als Ganzes geführten Streich durch eine +gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, und nicht in dem +Moment, wo ein solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst nur +scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung Deutschlands führen mußte. +Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage +beruht im wesentlichen darauf, daß sie sie mehr in ihrem weiteren +historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, während +Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf die augenblicklichen +Verhältnisse in der inneren Politik leiten ließ. Daher beging er auch +die Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich streng zwischen +Volk und Regierung unterschied, Österreich und das Haus Habsburg ohne +weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung Österreichs” zu +proklamieren, wo es sich zunächst doch nur um die Zertrümmerung des +habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe +an Rodbertus knüpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben: + + „Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die türkische + Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten + oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen” + +und sagt: + +„Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich in Ihrem letzten +Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese +Ansicht meinen besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten und +mich dafür von ihnen einen Träumer nennen lassen müssen! Die ganze +Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen +orientalischen Frage hat für mich immer nur den vernünftigen Sinn und +Zusammenhang gehabt, daß die Frage so lange hinausgeschoben werden +muß, bis der naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, sie löst! +Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrüder zur Welt +gekommen zu sein.” (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl +Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. Mai +1863.) + +Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten sollte, nachdem +vorher Österreich „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn +und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich losgerissen +worden, ist schwer verständlich. + +Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehört hierher: + +„Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, ist es die kleindeutsche +Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem +‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor +1½ Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner +Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir müssen alle wollen: +Großdeutschland moins les dynasties.” + +„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen +Partei zugute käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen Furcht vor: +Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stück +Nationalverrat.” (Brief vom 2. Mai 1863.) + +Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er +es in „Der Italienische Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen wäre, +er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben können, denn jenes ist +ganz gewiß kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für +seine viel weitergehenden politischen Zwecke, für die Herbeiführung +der Revolution, die die nationale Frage im großdeutschen Sinne lösen +sollte, zweckmäßig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai +1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer +bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen +Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so +können wir uns hier auf einige Auszüge und kurze Zusammenfassungen +beschränken. + +Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne +Datum, so daß dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt +Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege gegen Frankreich ... +sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein +immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so, +daß unsere Regierungen den Krieg machen müssen (und sie werden dies tun) +und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre +fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig +entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit +Leidwesen gesehen ... Käme nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung +beigebracht wird[6], die Regierung führe diesen Krieg als einen +nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet +Ihr sehen, wie vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade bei +Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen Treue’ das Volk an seine +Regierungen binden würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist +offenbar etwa folgendes: + +„1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere +Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter +Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf und dran sei, für +Österreich einzutreten.” + +Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend. + +„2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden unsere Regierungen +gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das +Volksinteresse für den Sieg sie unterstützt.) + +„3. daß das Volk der Überzeugung sei, der Krieg werde im +volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionären Sinne, also +gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein können wir besorgen, +und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.” + +Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben könne, +„einen populären Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”. +Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, die er als +maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung auf die Aussichten der +revolutionären Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung auf +die Beziehungen der deutschen Demokratie zur französischen und +italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als +Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, daß er dieselbe Politik +empfehle wie Vogt, der im französischen Solde schreibe, antwortet er: +„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad +absurdum führen? Dann könnte ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß +Du das Unglück hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu +sein.” Alsdann rühmt er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt +habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” hätten zum Rückzug +geblasen, die letztere „in einer Serie von sechs Leitartikeln eine +vollständige Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht darauf kam, +sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich +so schnell bekehren ließen! + +In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heißt +es: „Es ist ganz selbstredend, daß zwischen uns nicht das Prinzip, +sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffaßte, die +‚passendste Politik’ ... streitig war.” Und um wieder keinen Zweifel +darüber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h. +also doch die zur revolutionären Entwicklung passendste Politik.” + +Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen +muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich +meine Broschüre schrieb, sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg +gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, +daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulär und +verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück +gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, nicht für diesen Krieg +schreiben und propagieren ... Für die gegenwärtige Lage sind wir +wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr für die +zukünftige.” + +In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade +eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich +später zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen +Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preußische Regierung +überzeugt, wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch war und daß +durchgreifende Änderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu +setzen, sei es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit einiger +Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. Wer es also mit „Preußens +deutschem Beruf” ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation +einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was +ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: „Das +Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- völlige, nur verkappte -- der +Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung +eines immensen Machtmittels für Absolutismus und Junkertum ist in zwei +Worten der evidente Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt haben, +so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es durchgesetzt. Wer jetzt in +Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger +sterben!” + +Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus +Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem +Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in +der ausgeführt worden war, daß, wenn Preußen Österreich gegen Frankreich +zu Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich intervenieren, d. h. +Preußen _und_ Österreich den Krieg erklären würde. Diese Note sei, +hatte Marx ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um einen Anschlag +gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die +Schwächung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei +zweitens eine unverschämte Einmischung Rußlands in deutsche +Angelegenheiten, die nicht geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun +Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber +selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur +„die deutschen Regierungen”. „Denn, diable! was geht Dich und mich +die Machtstellung des Prinzen von Preußen an? Da alle seine Tendenzen +und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes +gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen +Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen so gering wie +möglich ist.” Man müsse sich also eher solcher Demütigungen freuen und +sie höchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die +Franzosen unter Louis Philipp getan hätten. + +Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” ausdrücken, als es hier +überall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster +eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der +Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, haben nach +Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach +einpacken müssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des +„Italienischen Krieges” leiteten, sind alles andere, nur nicht eine +Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, daß +hier, wie es in den meisten bürgerlichen Biographien heißt, bei Lassalle +der Parteimann hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im Gegenteil +eher sagen, daß der Parteimann, der republikanische Revolutionär, den +Patrioten zurückdrängt. + +Man könnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage +aufwerfen: „Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an +Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der +Broschüre vertritt, wer garantiert dann, daß der erstere der wirklich +von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle +nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx +gegenüber getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen aber so viele +Gründe, daß es kaum der Mühe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der +wichtigste ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre und Briefen +schließlich doch nur ein scheinbarer ist. Wo Lassalle in der Broschüre +etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen +deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem großen „Wenn”, +und diesem Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber nicht, dann” +gegenüber, und formuliert dieses „Dann” so: „So wird damit nur aber +und aber bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland einer +nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die positiven Behauptungen in +der Broschüre hält er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint +es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschüre +ausmachenden Darlegung, daß die Demokratie -- worunter er die +Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg +gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, weil sie sich dadurch mit den +Unterdrückern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus +ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. Bis soweit ist +denn auch die Broschüre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt +für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung +vollkommen berechtigt. + +Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die +gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich +bekämpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem +Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht +an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er für eine Politik +eintritt, von der er nicht auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch +tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mußte glauben, er +wünsche nichts sehnlicher, als daß die preußische Regierung die darin +von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen, +daß er sicher war, die preußische Regierung werde diese Politik nicht +befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht +gerechtfertigt. Das Advokatenstück, eine Sache nur deshalb zu +empfehlen, weil man zu wissen glaubt, daß sie doch nicht geschieht, ist +ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen +Anhänger irrezuführen, was ja später auch in diesem Falle eingetreten +ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist +das denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition +in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom „National”, +auswärtige Politik machten, ebnete später dem Mörder der Republik, dem +Bonapartismus, die Bahn. Wie die „reinen Republikaner” die +napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die +friderizianische Legende gegen die damalige preußische Regierung +ausspielen zu können. Aber die friderizianische Tradition, wenigstens +soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preußischen +Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der +Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda für sie. + +Wie diese später, sobald Preußen sich dazu militärisch stark genug +fühlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg +zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie Österreich glücklich aus +dem deutschen Bund herausgedrängt und die „Einigung” +Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, aber +diese Realisierung des im „Italienischen Krieg” entwickelten Programms +verhält sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte, wie in der +Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7]. + +[Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen Frage gebracht? +Österreichs Verdrängung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische +Propaganda im höchsten Grade gefördert, die österreichische Regierung +muß heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese +traten infolgedessen mit immer größeren Ansprüchen auf. Wo sie früher +mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen wären, +wollen sie heute herrschen und unterdrücken; in Prag, heute eine +tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und französische +Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die +Angliederung der deutschen Landesteile Österreichs an Deutschland wird +früher oder später freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach +ungünstigeren Verhältnissen als vor der glorreichen Herauswerfung +Österreichs aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das Deutsche Reich +ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter +um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat +Rußland so stark gemacht, daß die deutsche Politik wieder das größte +Interesse an der Erhaltung selbst dieses Österreichs hatte. Etwas ist +immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Rußland der +Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange +mag das heutige Österreich als Staat noch eine Berechtigung haben.] + +Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes als die bloße +Herausdrängung Österreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung, +die Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder einen integrierenden +Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber +um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen, +dessen unmittelbare Folge der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein +Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, dessen Bevölkerung 1859 +ganz entschieden auf seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke +Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle außer ihm liegenden +Rücksichten zu opfern, erklärt dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie, +die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs schärfste verurteilt +hatte. + +Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der leidenschaftliche Drang, in +die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer +wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung +an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen +Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem +Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die +revolutionäre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die +Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. März 1859 an Fr. Engels +geschrieben: + +„Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen und +geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von +sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht, +was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche Beginn praktischer +Bewegungen alle größere theoretische Tätigkeit sistiert.” + +„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa weiß, wenn es +dafür gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.” + +Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins +monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine +Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die +Revolution für die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist +gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt: +Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Götter -- +die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” -- +das Volk -- in Bewegung setzen. + + * * * * * + +Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen Krieg usw.” +folgen ließ, war ein Beitrag für eine Zeitschrift in Buchform, die der +demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel +„Demokratische Studien” im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der +später als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes politisches +Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” Man könnte ihn als ein +Nachwort zu „Der italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem +Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen für gut +befunden. Das „politische Vermächtnis” Fichtes ist, wie Lassalle unter +Vorführung eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs zu +einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit +Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung +der Einheit Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei einer Eroberung +Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten würde +„nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stämme durch +die gewaltsame Aufdrängung des spezifischen Hausgeistes unter die +Besonderheit desselben gebracht, preußifiziert, verbayert, +verösterreichert!” ... „Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung +fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen +Besonderheiten liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das deutsche +Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.” + +„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern +mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke, +wäre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealität dieser Entschließung +ist es geradezu töricht von Männern zu verlangen” -- es ist von den +deutschen Fürsten, speziell vom König von Preußen, die Rede -- „deren +geistige Persönlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes +Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte +ist und die dies daher ebensowenig leisten können, als es einer von uns +anderen leisten würde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschließlich +durch dieselben Faktoren bestimmt worden wäre.” + +Dies sind die letzten eigenen Ausführungen Lassalles in dem Aufsatze. Es +folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die Einheit +Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage der „ausgebildeten +persönlichen Freiheit”, und daß gerade deshalb die Deutschen „im +ewigen Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes Reich des Rechts” +darzustellen, ein Reich der „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles +dessen, was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es von uns, die +unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufügungen +abschwächen zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger +gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche” -- einen +Artikel über eine „brennende Tagesfrage” zu schreiben -- „nicht +buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfüllt -- +wie der meinige.” + +Welches aber war Lassalles Zweck bei der Veröffentlichung des Aufsatzes, +der das Datum: Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief an Marx +uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum +er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen Werkes in +Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens +habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und +tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschüre „Politische +Totenschau” zeige, wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. Dann aber +heißt es weiter: + +„Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht einigen entwickelnden +Einfluß auf unsere deutschen Philister ausüben, und schlug ich aus, so +kam der Auftrag jedenfalls an einen weit weniger entschiedenen, ja ganz +unbedingt an einen mit monarchischem oder ähnlichem Demokratismus oder +klein-deutschen Ideen Liebäugelnden, während mir der Auftrag die +Möglichkeit bot, wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf +ertönen zu lassen und so im Namen unserer Partei von einem Buche Besitz +zu ergreifen, welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen +Inhalt, obgleich ich weder über diesen noch seine Mitarbeiter Näheres +weiß, schwerlich zur Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses +unserer Partei beigetragen hätte. + +„So schreiben-wollend und nicht wollend entstand ein Artikel, von dem +ich mir, speziell um ihn Dir zu überschicken, einen besonderen Abzug +kommen ließ. (Das Buch erscheint erst zur Oktobermesse.) Ich schicke ihn +gleichzeitig mit diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann an +Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, ob er Dir gefallen. + +„Ich glaube, daß er mitten in diesem widrigen gothaischen Gesumme doch +immerhin den erfrischenden Eindruck macht, daß hinter den Bergen auch +noch Leute, daß eine republikanische Partei noch lebt, den Eindruck +eines Trompetenstoßes.” + +Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle damals arbeitete, war das +„System der erworbenen Rechte”. Drollig und doch wieder für jeden, der +sich mit größeren Arbeiten beschäftigt, ungemein verständlich klingt die +Klage Lassalles, die Arbeit ziehe sich so lange hin, daß er „bereits +einen intensiven Haß gegen sie bekommen habe”. Aber das „verm-- +Werk”, wie er es an einer anderen Stelle in demselben Briefe nennt, +sollte auch in den drei Monaten, die er sich nun als Termin stellt, +noch nicht fertig werden. + +Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfällen jener chronischen +Krankheit, von der er bereits in der Düsseldorfer Assisenrede spricht, +und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. „Ich war und bin noch +recht krank”, fängt ein Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein +muß, „ich war von neuem krank und schlimmer als früher”, beginnt der +obenzitierte Brief. „Habe ich mich in der letzten Zeit überarbeitet oder +rächt sich nun zu lange Vernachlässigung”, heißt es weiter, „kurz, +es scheint als ob meine Gesundheit aufgehört habe, der unverwüstliche +Fels zu sein, auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.” Um +sich gründlich zu heilen, ging Lassalle im Sommer desselben Jahres +nach Aachen. Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin, +Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedürftig +war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so für +sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den +aber Fräulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte. + +Es sind über diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die +Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Fräulein von Sontzew, +später die Gattin eines Gutsbesitzers in Südrußland, im Jahre 1877 in +der Petersburger Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, und +von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von +F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffäre ist +nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie +von Sontzew schreibt, daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf sie +gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt habe, ihn lieben zu können, +es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie +sich schließlich darüber klar geworden sei, daß eine Liebe, die +zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie +unter Hinweis auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen +werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht gerade auf diese Kämpfe die +junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgeständnisse und +Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite +scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein von Sontzew +beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu +sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame +hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch +wußte Lassalle sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über den +Mißerfolg bald zu trösten. + +Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre sind die aus Anlaß +dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor +allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” bezeichnete, +mehr als 35 Druckseiten ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines +der interessantesten Dokumente für die Charakteristik Lassalles. Sehen +wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jüngling heranreifenden Knaben, +so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling sein Ich +bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen +Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge +Lassalles ist seine -- man könnte fast sagen, unbewußte +Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine beständige Neigung, +ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte +Natur. Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr +Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die +Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu +verbergen. Aber es war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch anders +zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften +waren viel zu stark, als daß sie sich nicht überall verraten hätten, +seine Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch jedes Gewand, +in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem +Bilde, das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl +es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mädchen erscheinen wollte, +der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern. + +Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und +seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, wie er in +diesem Manuskript sich im Glanze seines zukünftigen Ruhmes sonnt, sich +als der Führer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar +nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn fürchten und +hassen läßt, wo zur Furcht und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso +übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. „Nichts, Sophie,” +schreibt er über den Erfolg der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur +annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den +ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz +schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen, +die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag +verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen +und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen +diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte +mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren +Hauptführer an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, daß er aus +diesem „mit nicht weniger Glanz” hervorging. „Ich werde Ihnen meine +Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie +wird Sie amüsieren.” Daß er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt +er nicht. + +Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit +fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen, +statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief +hindurch klingt der Ton einer echten Überzeugung. Selbst wenn Lassalle +von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt „gewisser Ereignisse” +-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zukünftigen Frau +ausstatten würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht wahr, Sophie, +mit so großen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen +Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloße Spekulation auf +individuelles Glück machen?” -- und bemerkt weiter: „Deshalb darf man +in keiner Weise darauf rechnen.” + +Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte” Lassalles von +Interesse. Er spricht sich darin sehr ausführlich über sein Verhältnis +zur Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine +früheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel +sicher, daß Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um das er gerade +warb und das als Gattin heimzuführen er so große Anstrengungen machte, +seine derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit sie über die der +Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, stärker zu schildern, als sie +wirklich waren. Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in +Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit für die Gräfin. Er +liebe sie „mit der zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert +hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte Mutter”. Er +verlangt von Sophie, daß sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin +„mit der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und hofft, obwohl +die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” sei und, ehe sie nicht +wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar +werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu können, -- um „alle +drei glücklich und vereint zu leben”[9]. + +Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die Sache so hinstellen, als +habe sich die Gräfin Hatzfeldt damals in Berlin und später Lassalle +einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos übertrieben haben. +Die Hatzfeldt hatte ihre großen Fehler und ihre Freundschaft ist +Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst +verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten +wir es für unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem +entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen +Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene +Behauptung, Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre gestürzt, +um die Hatzfeldt loszuwerden. + +Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den Eindruck, den die Gräfin +Hatzfeldt persönlich auf sie gemacht habe, nur günstig aus. + +Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen +Aufenthalts in Aachen. Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit +der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe über +die Verhältnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle +schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des +Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders +bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er +in Berlin noch mit den Führern der liberalen Opposition auf bestem Fuße +stand, über die damalige liberale Presse und über den von den Liberalen +in den Himmel gehobenen preußischen Richterstand dachte. Da sie ebenso +kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden. + +Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn, +unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der +infamierendsten Handlungen verdächtigt hatte, wegen Verleumdung zur +Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum +Prozeß kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht, +am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nämlich, daß wenn +Zabel alle diese Verleumdungen Vogts über Marx wiederholt und sie dabei +noch übertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben +konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx +selbst in Preußen für unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an +Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Prozeß abgeraten +hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete: + +„Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei +uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann! +Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in +einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz +reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische +Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte +betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an +diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise für diesen +Satz, und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und +zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in +reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich muß die Erinnerung daran gewaltsam +unterdrücken. Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen +Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie +Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom +ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewältigt und +niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu +werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer +Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen höre. +Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu +unsern Richtern zu sein. + +„Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du. ‚Jedenfalls,’ +sagst Du, ‚liefern mir die Preußen so ein Material in die Hand, dessen +angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!’ Nein, +lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, +daß Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst. +Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als +wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest +man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen +wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein +armseliges Wörtchen davon bringen. Sie werden sich hüten! Und unsere +liberalen Blätter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein +Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen +Richterstand’ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken +schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei +vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde +schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis +zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die deutsche Zunge reicht’, +ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? +O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel +liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel! +ich weiß wirklich keinen anderen Ausdruck für sie -- es ist die +reine ......” + +Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck +wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen. + +Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im zweiten Band der +Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz über Lessing, den er +bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: „Lessings Leben und +Werke” geschrieben, und ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches +Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen. + +Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig unbedeutend. Er ist noch +vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich +sehr stark an die Ausführungen an, die Heine in „Über Deutschland” +mit Bezug auf Lessings Bedeutung für die Literatur und das öffentliche +Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing +als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des +Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit der Situation des +derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche +Situationen erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm da wohl Heines +Ausspruch vorgeschwebt haben: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann, +der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und +dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!” +War es doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu +werden. Wie im Hutten des „Franz von Sickingen”, so spiegelt sich auch +im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es +fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. „Allein wenn wir den +Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte +durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” fragt Lassalle, und +um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten +Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu +lösen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum „Spartakus” eine +Stelle, wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: „Ich höre, +du philosophierst, Spartakus”, zurückgibt: + + „Wo du nicht willst, daß ich philosophieren soll -- Philosophieren, + es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!” + +Zwei Dezennien darauf sei in der französischen Revolution diese +Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr +„wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus +und dem Konsul der Zukunft”. + + +Fußnoten: + + [4] Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der ursprünglich Vogt in + Schutz genommen, schon früher zugegeben. + + [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre von Engels „Savoyen, + Nizza und der Rhein”. Lassalle hatte in seiner Broschüre die Annexion + Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn + Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende Kompensation + erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. Engels weist nun + nach, welche außerordentlich starke militärische Position der Besitz + Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe, + was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen + preis, weil es im Moment mehr dafür eintauschte, die Schweizer waren + aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner, + Stämpfli, Frey-Herosé u. a., taten ihr möglichstes, die Überlieferung + des bisher neutralen Savoyer Gebiets in französische Hände zu + verhindern. Im „Herr Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver + die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen + hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher Blick auf die + Landkarte. + + [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: „Nur daß zum + Glück auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum + erscheint mir der revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.” + Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre? + + [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in + griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die + russische Revolution mit der Auflösung des russischen Imperiums den + größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die + auch Wendungen enthält, zu denen ich mich grundsätzlich nicht mehr + bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, + weil sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo sie + geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866 + geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte. + + In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle + Abänderung erfahren, die mir deshalb der Erwähnung wert erscheint, + weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der, + wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins + Deutsche zurückübersetzt lautet die Einleitung dort: + + „Wohin hat die preußische Lösung der nationalen Frage Deutschland + gebracht? Lassen wir die Frage Elsaß-Lothringen beiseite -- die + Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und + betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenüber Rußland + und dem Panslawismus. Österreichs Verdrängung aus dem Deutschen Bund” + (weiter, wie im Original). + + Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens mit keiner Silbe + erwähnt war und sie für Engländer damals noch kein spezielles + Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, + ihrer zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu + bezeichnen -- „an additional blunder” heißt es im Englischen. Ein + Beweis, wie wenig Engels diese Annexion für endgültig ansah. + + Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt wird: „Deutschland + gebracht”, war durch die Rücksicht auf das andre Lesepublikum von + selbst geboten. Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen + diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen. + + [8] Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand + Lassalles”. Die Verfasserin ist nun auch längst aus dem Leben + geschieden. + + [9] Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches Verhältnis + zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine + ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil die + Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, neben sich + noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine + ganze Abhandlung über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand + Lassalles, Nachtrag.) + + + + +Das System der erworbenen Rechte. + + +Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles wissenschaftliches +Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur für den Rechtstheoretiker +geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den +praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich näher als die Materie des +„Heraklit”, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die +Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht +gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein „Riesenwerk +menschlichen Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen so +ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der erworbenen Rechte” +zugleich von der außerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem +großen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus +allen diesen Gründen wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei +diesem Buche etwas länger aufhalten. + +Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers dieser Abhandlung, +ein Urteil darüber zu fällen, welche positive Bereicherung die +Rechtswissenschaft dem „System der erworbenen Rechte” verdankt. Das +vermag nur der Kenner der gesamten einschlägigen Literatur, der +theoretisch gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, die +Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die +Art, wie er sie löst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner +Lösung zugrunde liegt. + +Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile +zerfallende Gesamtwerk trägt. „Eine Versöhnung des positiven Rechts und +der Rechtsphilosophie.” Lassalle führt in der Vorrede aus, daß trotz +Hegels Versuch, eine Versöhnung zwischen dem positiven Recht und dem +Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen +und Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst vor Hegel +gewesen. Die Schuld daran trügen aber weniger die ersteren als die +letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials +einzudringen, hätten sie sich begnügt, „im Himmel ihrer allgemeinen +Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich +zu bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche +ein wahrer „horror pleni”, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran +indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich hervorgehoben +habe, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in +die Erfahrungswissenschaften. Hegels „Rechtsphilosophie” konnte, führt +Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe +erschien, „als der erste Versuch, das Recht als einen vernünftigen, sich +aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen +Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, als etwa die +allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst”. +Hätten nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, bei den +„dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben -- „Eigentum, Familie, +Vertrag usw.” -- stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, eine +Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen +Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu +schreiben, so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen +positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß mit den +abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag, +Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der römische Eigentumsbegriff +ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der römische +Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der +römische Familienbegriff ein anderer als der germanische +Familienbegriff usw., d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das +Reich des historischen Geistes gehörend, es nicht mit logisch-ewigen +Kategorien zu tun hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur +Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des +geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und +Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind.” Eingehend +und erschöpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des +vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem +Beispiel desselben der Beweis geliefert, daß „jene Hegelsche +Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der +Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben werden muß und +nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre +Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu +erzeugen ...” Das gelte aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen +Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und wenn die Zeit +theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte, -- „man +kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas +(ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle mit berechtigter +Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies +in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von +ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im +Grunde nur „dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, die „nur +auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden soll. Es sind immer +die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die +nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. Hegel habe, wegen +unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht +häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin. +„Wenn er die römischen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten +Verstandes auffaßte, so werden wir auf das Positivste im ganzen +Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von +unseren Juristen, von den römischen aber das strikte Gegenteil gilt. +Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die +des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht +durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit des +religiösen und künstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit +wird dann immer nur erwiesen sein, daß die Hegelsche Philosophie noch +weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, und daß der spekulative +Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als +Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System der erworbenen +Rechte.) + +Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem +Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits +viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, aber er hält doch +nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der +Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen +Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form +der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der +Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung +und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen +Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem +Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich bei den +Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische +Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die +„Realisationen historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen die Frage +nach den Umständen, unter denen diese Geistesbegriffe sich +entwickelten, nach den materiellen Verhältnissen, deren Ausdruck sie +sind, ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar um und will +„im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich +rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß des +jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. So muß er +naturgemäß, auch bei dem größten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen +Folgerungen gelangen. + +Als das „großartigste Beispiel”, an welchem diese ursächliche +Abhängigkeit des „angeblich rein Positiven und Historischen” von den +historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet +Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des +Werkes, der den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und germanischen +Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung.” Die Stärke dieser +Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchführung +des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glänzenden Darstellung. +Durch alle hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den +Gedanken zu verfolgen, dem römischen Erbrecht liege der Gedanke der +Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde, +während im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne +Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade +das sei, was vom römischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres +Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt +die Schwäche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie +ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt diese zwar wieder und +immer wieder, läßt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter +liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt es, daß das römische Erbrecht +die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrückt? Von der römischen +Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt +es, daß das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der „Idee der +germanischen Familie”. Welches ist die römische Unsterblichkeitsidee? +Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der +germanischen Familie? Die „sittliche Identität der Personen, die zu +ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes +oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns +im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, warum +diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen +konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die +Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Römer und Germanen aus +deren wirklichen Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die letzte +Quelle des Rechts erscheint überall der „Volksgeist”. Dabei verfällt +denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit +Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er +unterscheidet zwar zwischen römischem und germanischem Volksgeist, aber +er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße des römischen Volkes +und konstruiert einen, ein für allemal -- das ganze Jahrtausend von der +Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des römischen Weltreichs +-- maßgebenden „römischen Volksgeist”, der sich zum -- ebenso +konstruierten -- „germanischen Volksgeiste” etwa verhalte, wie „Wille +zu Liebe”. + +Allerdings darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit, wo Lassalle sein +„System der erworbenen Rechte” schrieb, die eigentliche +Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der +römischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen +lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen +Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß +er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er sie nicht +einmal richtig stellte. + +Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich +durch Morgans epochemachende Untersuchungen über die Gens (Sippe) ist +genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der +verschiedenen Völker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die +Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als +die germanischen Stämme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit +eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der +Barbarei durchzumachen; der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von +der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten +noch in Gentilverbänden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden +Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor: +ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein +Ding der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat +die „Liebe” -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem +altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Römern war dagegen schon vor +Abschaffung des sogenannten Königtums die alte, auf persönlichen +Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf +Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche +Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an +Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Verbände als +wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das römische Testament +erwächst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen +römischen „Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben +Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist schuf, der das +Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung[12] erfüllte. Wenn die +Römer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt +das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem +die symbolische Handlung -- die Willensübertragung -- die Hauptsache, +der substantielle Inhalt derselben -- die Vermögensübertragung -- +reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch +weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Völker überhaupt alle +wichtigen ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; es sei nur an die +Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der +Grenzmarken usw. erinnert. Was würde man von einem Historiker sagen, +der den römischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausfluß der +besonderen Natur des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer +speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten +Äcker Nebensache, der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache gewesen +sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des +Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes +Terminus zurückführen wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den +Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der +Testamente bei den Römern bezeichnet, in der römischen Mythologie den +letzten Grund dieser Rechtsschöpfung erblickt.[13] + +Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie +unlogischen Behauptung, daß, wenn das römische Zwölftafelgesetz für den +Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem +nächsten Agnaten (Verwandte männlicher Linie) und, falls kein Agnat +vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, daß das Testament +auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das +Intestaterbe aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden sei. +Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz, obwohl es die +Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung +an. Es konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz der +Testierfreiheit, daß derjenige erben soll, dem der Erblasser +testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein +Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder in Kraft, die +urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nächste Agnat und dann die +Gens, der ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut +erscheint auf den zwölf Tafeln als letztes, weil es als das älteste das +umfassendste ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz bildet. +Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus +hervor, daß er sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff des +Willens” aufgebauten römischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal +gezwungen sieht, zu behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee der +Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde +liegt” und die Agnaten als „die durch das Band der Gewalt vermittelte +Personengemeinschaft” bezeichnet. Als gläubige Althegelianer haben die +alten Römer „mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” den „tiefen +Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, daß der nicht ausgedrückte +Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat +„den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen +Organisation derselbe verwirklicht ist”. Das Testament, die +Testierfreiheit, ist danach älter als der römische Staat, aber das +Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat hat eines schönen +Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidiärerben eingesetzt, +und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, sondern in ihrer +Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der +Willensidentität. + +Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben, +daß es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat, +die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr vielmehr eines der +Rechte, eines der Ämter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen, +ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, daß erst mit der Lockerung +des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich +wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit. + +Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte er, wie alle +Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm über das Wesen des +ursprünglichen römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu +falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit näherzukommen, +als seine Vorgänger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. +Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren, +schneidet er sich jede Möglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu +erkennen. Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beiläufig ebenfalls +Hegelianer -- hatte römisches Intestaterbe und Testamentserbe als +miteinander kämpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei +Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine +historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu +erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, so richtig ist der ihr +zugrunde liegende Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen +Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen Rechtsbegriffe auf +verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt +gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler der historischen Schule”, +das „aus dem Gedanken Abzuleitende” als ein „äußerlich und +historisch Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern Seite erklärt +er es als einen „Grundirrtum”, wenn andere Rechtsphilosophen von der +Auffassung ausgehen, daß „das römische Intestaterbrecht seinem +Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich ist es wirklich +nichts anderes. Nur daß die hier in Betracht kommende Familie sich +nicht mit der römischen Familie deckt, sondern den weiteren +Geschlechtsverband umfaßt[14]. + +Wir können auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber +aus dem Bisherigen schon, daß der so kunstvoll ausgeführte Bau +Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. So geschlossen und +streng folgerichtig daher die Beweisführung, und so geistreich auch die +Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er +mit dem ganzen Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, hat er +nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee ist nicht die +Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des römischen Testaments, +sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt +bestehen, auch wenn der religiöse Hintergrund verschwindet. Und gerade +in den vielen Formen und Formalitäten, von denen die Römer die +Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig machten, liegt unseres +Erachtens ein weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie Lassalle +meint, die frühere, sondern umgekehrt die spätere Einrichtung gewesen +ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das +römische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme +bildete, während das Intestaterbe noch die Regel war. + +Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie +zieht, daß das Testament nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee -- +der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem Tode -- zu begreifen +sei, daß es mit dieser „begrifflich” stehe und falle? Daß das moderne +Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit der +christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des +nicht mehr auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in sich +zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, nichts als ein großes +Mißverständnis, eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies +führt uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite, +trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist. + +Der erste Teil des „Systems der erworbenen Rechte” führt den +Untertitel „Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der +Gesetze”. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen +Grundsatz zu ermitteln, der ein für allemal die Grenze anzeigen soll, +unter welchen Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende Kraft haben +dürfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoßen. Mit anderen +Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder +Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das erstere und wann das +letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als „erworbenes” zu +respektieren, wann es ohne weiteres der Rückwirkung unterworfen sein +soll. + +Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gerügte Fehler der +Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, während alle ihre +Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen Denkens, das Verständnis -- +innerhalb der bezeichneten Grenzen -- für das geschichtliche Moment, +verbunden mit revolutionärer Kühnheit in der Verfolgung eines Gedankens +bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung +gelangen. So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als +bei der Untersuchung über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie hoch +oder gering man immer die Erörterung solcher rechtsphilosophischen +Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß +Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise löst, daß sowohl der +Jurist wie der Revolutionär dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist +gewiß eine respektable Leistung. + +Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als Normen auf: + +a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die +Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.” + +b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne +Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das +Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein +menschlichen oder natürlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen +Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft +selbst in ihren organischen Institutionen ändert.” + +Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbürgerlichen +Befugnisse der Angehörigen des Landes ändert, tritt sofort in Kraft, +läßt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher +ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberührt, auch wenn diese +Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das +zur Volljährigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht, +so verlieren alle Personen über 21 und unter 25 Jahren sofort die an die +Volljährigkeit geknüpfte Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen, +denn sie besaßen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die +Rechtsgeschäfte, die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die ihnen +bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue +Gesetz nicht zurück. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch +individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein +erworbenes Recht. + +Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist +nicht unter allen Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das Individuum +kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern, +insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen +Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” Jedem Vertrage sei „von +Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das +in demselben für sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange +Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht +überhaupt als zulässig betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des +Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame Bewußtsein des +ganzen Volks, der allgemeine Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts +könne sich daher das Individuum „niemals der Einwirkung des +allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen. Nur ein solches +Individuum würde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten können, +welches, wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein Recht weder +erwerben noch ausüben und haben wollte.” „Es läßt sich vom +Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst +desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftigen +zwingenden und prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres als +„diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” liege in der +Forderung, daß „ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern +soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen”. Wenn +also „der öffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt +ist, den Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft, +Hörigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und +Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, +fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschließen”, so +könne dabei „von irgendwelcher Kränkung erworbener Rechte ... gar +nicht die Rede sein”. So seien denn auch die Dekrete der berühmten +Nacht vom 4. August 1789, durch welche die französische +konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft +herfließenden Rechte aufhob, von „jeder Rechtsverletzung und +Rückwirkung” frei gewesen. Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein +Recht der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, auch da noch +anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom öffentlichen +Bewußtsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist, +heiße „vermöge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als +Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem öffentlichen +Geiste einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”. +Von einer Entschädigung könne nur da die Rede sein, wo nicht das +Rechtsverhältnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung +aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von +Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre +des Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt werden. +Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die französischen Versammlungen +nach 1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des Begriffs” +innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preußische Gesetz vom +2. März 1850 über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen +und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts +als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewußtsein +verordnete Vermögensverletzung der ärmsten Klassen zugunsten der +adeligen Grundbesitzer, d. h. „logisch-konsequent” nichts als „ein +Raub”[15]. + +Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte, +keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die +aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil über die +Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle, +der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. Was +aus dem ersteren folge, sei vielmehr, daß jede Zeit autonom sei, keine +Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine +„rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst noch fortwirken zu +lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von +jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut +würde”. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er +weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen, +in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrückt +habe. „Denn zum Begriff des Rechts gehört nur, daß der Volksgeist einen +geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre, +d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umständen +nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatsächliche +Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.” +Diesen Grundsatz finde man schon bei den römischen Juristen, und die +französische Gesetzgebung während und nach der französischen Revolution +habe ihn von neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent +recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionäre, es +ratifizieren müssen, wenn er die französische Revolution in ihren +rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms, +datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgänge in +Preußen und weist nach, wie im Gegensatz zur französischen Jurisprudenz +das preußische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen über das +durch die Märzrevolution von 1848 geschaffene und in der preußischen +Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrücklich anerkannte neue +Rechtsbewußtsein, daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind und +Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch Wortkünste hinweggesetzt, +Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer +„Reaktionskonvent” betätigt habe. Vier Jahre, nachdem das „System” +erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation +des Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den „liberalen +Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel +Anspruch hatte. + +Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen erstens durch individuelle +Willensaktion vermittelt und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem +erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die +Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der französische Konvent im +Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, daß die +Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. +Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die +seit dem 14. Juli 1789 eröffnet worden, so verstieß er damit nach +Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im +Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. Ventose desselben Jahres in +Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das Gesetz +„nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem großen +Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien +entwickelt” habe, aber das Prinzip der Nichtrückwirkung nicht einmal +„auch nur in Frage stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann +eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. das Gesetz auch auf +die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften ausdehnte. + +Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts +zurückzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen über römisches +und germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, auf Testamente und +Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der „Reihen, in welche die +Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende Erbrecht war danach in Rom +„erworbenes Recht”, denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der +„Substanz” des römischen Volkes, nämlich der Idee der Unsterblichkeit +des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht -- +Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer +Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität +der Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen +Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe +hat”. Die Familie erbt, weil das Eigentum überhaupt nur +Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber, +nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, „nicht mehr +auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der +Familie als durch den präsumierten Willen des Toten berufen, sondern +auf der Familie als Staatsinstitution”, auf dem „die +Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des +Staates”. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht, +von dem wir jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine kompakte +theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder Intestaterbfolge noch +Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern „Regelung der +Hinterlassenschaft von Sozietäts wegen”. Und Lassalle schließt sein +Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das Testament nicht +in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen +habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima +esset immortalis” -- „Testamente aber wären mit vollem Recht durchaus +null und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.” + +Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklärung, was Lassalle meint, +wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den +Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht bald zeigen, daß sich aus +unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere +Folgerungen über das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben?” Was +auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, können +der Staat oder die Sozietät auch jederzeit ändern, einschränken oder +ganz aufheben, wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint. +Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der +erworbenen Rechte „nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf eine +Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so +kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das +ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrücken würde -- nach +dieser Umsetzung schreit. + +Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den +Worten beginnt, daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft +gelöst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein +könne und dürfe, als „die rechtswissenschaftliche Herausringung des +unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen +Gedankens”? + +Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst? + +Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr +zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu +sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die +Darlegung, daß im allgemeinen „der kulturhistorische Gang aller +Rechtsgeschichte” darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre des +Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des +Privateigentums zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in +sehr feiner Entwicklung ausführt, mit Recht den größten Wert. Sie ist +ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk +begriffsscharfer Logik. + +Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn +sein Beispiel vom Wesen des römischen und germanischen Erbrechts +maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwäche dieses +Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu +rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen +Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen +Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser +Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem +und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben +tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in +letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen +Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ändern +sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den +materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich wird. +Dann entdeckt der „Volksgeist”, daß dieses Erbrecht seinem +Rechtsbewußtsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen +Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint nur als die letzte +Instanz, die über ihren Bestand entscheidet, tatsächlich ist er so +etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind +die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die +Verhältnisse, unter denen es die Gegenstände seines Bedarfs +produziert[16]. + +Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtümer der +alten Juristen und Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? Der +Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto +größeren Schaden für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der +Sphäre des juristischen und philosophischen „Begriffs” bleibt. Aus der +„begrifflichen” Ableitung sollen sich die Dinge erklären, die +„begriffliche” Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung bloßlegen. Die +Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre +eigenen Entwicklungsgesetze. + +Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger Jurist. Er brachte von +Hause aus außergewöhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf +mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte diese Eigenschaft noch +stärker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen +Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu +verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft +Glänzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche. +Die juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die +sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt +sich schon hier im „System der erworbenen Rechte”, es bildet die +Schwäche dieses Werkes, es sollte sich aber auch später in seiner +sozialistischen Agitation zeigen. + +Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der +Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in +Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt dagegen +in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. Das ist +um so merkwürdiger, als der Schritt, der geschehen mußte, um die +Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, längst +angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte. +1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen Jahrbüchern in einem +Aufsatz, der obendrein den Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen +Rechtsphilosophie”, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift „La +misère de la philosophie” ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx +und Engels im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner Anwendung +geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859 +erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” unter +ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten Aufsatz, geschrieben: +„Meine Untersuchung” -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung +bildete -- „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie +Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der +sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern +vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Es ist +nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr +gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” Und obgleich +Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am „System” arbeitete, +obwohl er sich Marx gegenüber in den begeistertesten Ausdrücken über +es äußerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die +im Sinne des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein Vorwurf +gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wäre im höchsten Grade +abgeschmackt. Wir führen es an zur Kritik seines Standpunktes, +seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die +ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen +Auseinandersetzung mit Marx über die im „System der erworbenen Rechte” +aufgestellten Theorien des Erbrechts. + +Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß sich Marx sofort gegen diese +auflehnen mußte, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im +direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen +Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor, +daß die, übrigens nicht lange, brieflich geführte Debatte sich im +wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament +nur aus der römischen Mythologie, der römischen Unsterblichkeitsidee, zu +begreifen sei, und daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals für +sich allein das Testament habe entwickeln können, wenn sie es nicht +schon im römischen Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz +charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die +ökonomische Entwicklung beziehen, Lassalle schließlich immer wieder mit +juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. Die grundsätzliche +Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in +dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, zum +sprechendsten Ausdruck. + +Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen +geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das „System der erworbenen +Rechte” eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen, +der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, höchst anregende und +genußreiche Lektüre. + + +Fußnoten: + + [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit + derjenigen Rechtsgrundsätze, die durch die philosophische + Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der + Rechtsverhältnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen + angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es werden daher + vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende + Begriffe gebraucht. + + [11] Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums + und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen”. 1. + Aufl. S. 93. + + [12] Um das Jahr 450 v. Chr. + + [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß das Aufkommen des + Ahnenkultus bei allen Völkern mit dem Übergang vom Mutterrecht zum + Vaterrecht zusammentrifft. + + [14] Übrigens brauchen auch die Römer das Wort familia nicht bloß + zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden + Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls für den mehr oder + minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des römischen + Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrücklich zwischen + der „familia” im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im + weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle + diejenigen gehören „... die aus demselben Haus und derselben gens + hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die betreffende Stelle ein + weiterer Beweis, daß das römische Intestaterbe -- kein Familienerbe + gewesen sei. „Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht + der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben wollen!” + + [15] Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung von + Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen von der Volksvertretung + erpreßt wurden, sagt Lassalle manches kräftige Wort. „Wenn eine + Staatsregierung”, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der + preußischen Regierung eingebrachten und solche Entschädigungen + stipulierenden Entwurf -- „die unbegreifliche Schwäche hat, einen + solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich + auf das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer + pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese + Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie + wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit + des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” Was + hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert hätte, noch nach + dreißig Jahren werden in Preußen solche „Schwächen” und solche + „Pflichtvergessenheit” berechtigte nationale Institutionen sein! + Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß, + als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die Tories nicht die + „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich aus ihren jetzt unspekulativ + gewordenen Güterankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen + Geist zu drehen!” Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er + erfahren haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war, + als das richtige „praktische Christentum”. + + Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, die Neuauflage + des „Systems der erworbenen Rechte” zu besorgen, gerade Lothar + Bucher zufallen mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten + Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, den + Nachweis zu versuchen, wie das „System in den Gesetzberatungen der + letztverflossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden + können”. Tatsächlich schlagen die meisten der dafür in Betracht + kommenden Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins + Gesicht. + + [16] Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar zu mechanisch + vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen können die + religiösen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem + Begriff des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum einen + großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse + ausüben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung + hindern oder verlangsamen. Schließlich sind es doch immer die + Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich + hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung + zugrunde liegen. + + [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es „ein + Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung hingerissen” habe. + + + + +Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das +Arbeiterprogramm. + + +Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee, +in Berlin ein demokratisches Blatt im großen Stil zu gründen. Wie er +über die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie +er danach dürstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in +Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV. +eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle +daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt +wären, nach Deutschland zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches +Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten Brief”, schreibt er unterm +11. März an Marx, „fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König stürbe +und Amnestie einträte, zurückkommen würdet, hier ein Blatt +herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nämlich für +diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden +Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein großes Blatt +herauszugeben. Würdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein, +herzukommen? Und wieviel Kapital wäre zu einem großen Blatte +erforderlich? Würde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu +aufbringen könnte? Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir +darüber schriebst, denn ich denke gern an dies château en Espagne!” +In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und +am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen in der Tat eine +Amnestie herbeigeführt hatte, schreibt er dringender: „Noch einmal +stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um hier ein +Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der „Neuen +Rheinischen Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher +zurückkehren?” + +Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frühjahr 1861 in +Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die +ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben +und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja „stets +in der Minorität”! Dann aber legte die preußische Regierung die +Amnestie so aus, daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch +mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehörigkeit zum +preußischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs +ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Anträge +genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von +Ausländern überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten +Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben der Regierung abhängen +sollte, jeden davon wieder „abschieben” zu können, dessen Rückkehr +ihr „unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx eingereichtes +Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen +abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. November 1861 datierten +Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hieß, +„zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Gründe vorhanden sind, +welche für die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen +könnten”. Damit war natürlich jeder Gedanke an eine Übersiedelung von +Marx nach Berlin ausgeschlossen. + +Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Gräfin Hatzfeldt +eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr +instruktiv” für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf +Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er „fast alle +leitenden Persönlichkeiten” in den verschiedenen Städten, die er +besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift +„Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles” +zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr. +Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, hat Lassalle bei jenem +Besuch Garibaldi zu einem militärischen Unternehmen in großem Stil +gegen Österreich zu überreden gesucht und den Plan dann in London +auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum +Diktator aufwerfen, eine große Armee bilden und mit dieser über +Padua noch weiter vordringen, während zugleich ein an die adriatische +Küste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken und die +Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb +interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener +Zeit die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, die +unter anderm die erstrebte Lösung der deutschen Frage bringen sollte. +Zu erwähnen ist noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach Italien +einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischärler +Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne +auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über Becker Lassalle +jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn +gar nicht” -- schreibt er über Becker an Marx zu seiner +„Information” -- „die, die ihn kennen, halten ihn für einen Blagueur +und Bummelfritz, für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, der +eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche +liegt.” Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' +Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. „Du weißt, wie oft wir in +die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hüten als vor +unseren Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp war doch +jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Großsprecher, sondern +hatte wiederholt für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden, +auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es Lassalle also schon ankommen +lassen können. Als er später den „Allgemeinen deutschen +Arbeiter-Verein” ins Leben rief, wußte er auch Beckers Adresse zu +finden[18] und stellte diesem gegenüber, der auf irgendeine Weise +erfahren hatte, welche Redereien über ihn im Umlauf seien, die Sache +so dar, als habe Marx aus einer Mücke einen Elefanten gemacht und +einer harmlosen gelegentlichen Äußerung über Beckers Verkehr mit Türr +eine so schlimme Deutung gegeben. + +Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin zurück. Er fand die +politische Situation wesentlich verändert vor. Der Gegensatz zwischen +dem König von Preußen und dem liberalen Bürgertum hatte sich zum +offenen Konflikt verschärft; bei den Neuwahlen zur Kammer Anfang +Dezember 1861 war die schwachmütige konstitutionelle Partei durch die, +eine etwas schärfere Tonart anschlagende Fortschrittspartei verdrängt +worden. Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres aus der bis dahin +eine kleine Minderheit in der Kammer ausmachenden Fraktion +„Jung-Litauen” entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber die +Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene Partei. Sie bestand +aus den verschiedenartigsten Elementen, liberalisierende +Großbourgeois saßen in ihr neben kleinbürgerlichen Demokraten, +ehemalige Republikaner mit verschwommenen sozialistischen Tendenzen +neben Männern, die beinahe noch königlicher waren als der König +selbst. In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es Wilhelm I. eben +mit allen verdorben; nur die Partei der Junker und Mucker und die +eigentliche Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. Die +Fortschrittspartei verfügte über die große Mehrheit der Kammer und +über fast die ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die +das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten +hegten, um sich ihr anschließen zu können, hielten es für gut, ihr +zunächst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren +Kampf mit der preußischen Regierung zu Ende führen werde. + +Lassalle war mit denjenigen Männern, die den Mittelpunkt der +Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit +zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem +Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische Berliner +„Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das, +„wenn auch häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit +viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Preßfesseln zur +Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im +allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter +verteidigt”, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der +„Neuen Rheinischen Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären” +Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso theoretisch falsch wie +praktisch verderblich” erklärt. „Wir müssen”, schrieb er, „in +bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen +Nüancen ebensosehr die Identität, als den Unterschied unsres +sozial-revolutionären Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den +Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.” +Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt +haben, alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien den +reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre ich entschieden, daß ich +diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr überall à outrance +bekämpfen werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx +mit, daß er die Weigerung der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung +von ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als Anlaß benutzt +habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. „Umgang +meine ich, denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze den +Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte Gelegenheit noch +mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß +ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen +Gesindel gar kein Verhältnis möglich, und so werde ich denn dies +benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natürliche +Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.” In der vom 27. März +1861 datierten Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” finden wir +denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten +Angriff auf die „Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den +Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung und +Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” fassen, die sie zwingt, +„sich an bloße Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und +für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle doch mit andern +Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin +selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß +politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten. +Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewöhnliche +Salonlöwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder +radikaltuende Künstler, wie Hans von Bülow usw., sich der intimen +Freundschaft Lassalles rühmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der +Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar +unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum +Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich +Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862). +Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft +zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen „reizende +blondlockige Frau” jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde +ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate +darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: „Beiläufig, mit dem ganz +gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und fügt +recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, daß seine Frau die +Veranlassung davon bildet.” + +Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher, +der nach Erlaß der Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war und sich +in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern +gehörte einer zahmeren zoologischen Gruppe an. + +Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit bestätigen, daß +dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war, +die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknüpften. +Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. +Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den +Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rüstow schrieb, „in +langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen” +für seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf +eine am Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle Bezug und führt aus, +daß er es zwar für möglich halte, die bestehende Ordnung -- „oder +Unordnung” -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht, +sie niederzuhalten; mit andern Worten, daß die Zeit für eine +sozialistische Revolution noch nicht reif sei. „Bedenken Sie dazu noch +eins: daß jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit +hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns +eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine ähnliche Bewegung +wachrufen würde.” Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er +nur „die lahme Antwort Machiavellis”: Politik ist die Wahl unter +Übeln. „Ein Sieg des Militärs” -- d. h. der preußischen Regierung!! +-- wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen Österreich wäre +kein Sieg des reaktionären Prinzips”. Dafür stelle er Lassalle als +Zeugen die „Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand gegen +Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schluß zu, daß +Lassalle eine Revolution erzwingen zu können glaubte und im Hinblick +hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen hatte. Damit war der +obenerwähnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu +gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der +für gewöhnlich in politischen Dingen ein sehr nüchterner Rechner war, +zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von +französischen, ungarischen oder italienischen Revolutionären angeregt +worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien +kennengelernt, muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rüstow um ihn +wußte und, wie Lassalle Marx erzählte, ihn gebilligt habe, mag er +auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militärs +zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, daß er Lassalles +eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles +übereinstimmte. + +Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß zu einer Revolution in +Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes +war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rückkehr zum +Studiertisch nötige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an +die große national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen, +verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen, +was bei dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen Leben übrigens +nur durchaus erklärlich war. + +Die erste Leistung, mit der er zunächst an die Öffentlichkeit trat, war +das gemeinsam mit Bucher verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der +Literarhistoriker”. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt +zusammengeschriebenen „Geschichte der deutschen Literatur” ist, zeigt +das Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt getroffen werden +sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm +mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte „Julian der +Grabowite” füglich der Ausdruck werden können, „welcher den geistigen +Höhepunkt dieser Partei kennzeichnet”. Eine etwas übertriebene Logik, +wie es überhaupt in der Schrift an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war +der Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da gerade in jenen +Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelöst und Wilhelm I. ein +Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War +nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der +Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese +zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage +gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie in einem Augenblick traf, +wo sie zufällig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die +Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe +Geißelung der bei ihm oft in „gespreizter Bildungssprache” sich +wichtig machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt. +Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe die größten +Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft fälschende und +tendenziös-gehässige Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das +Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, während Lothar Bucher +als „das Setzerweib” vorgeführt wird. + +Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, in einem Berliner +liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte +Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht möglich war --, den Führern +der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mündlich +gegenüberzutreten. Als Thema wählte er die Frage des Tages: den +ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung +hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen” +betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er +entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm +ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind +Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten +Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist; ein Volk +besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkür der +Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch +ohne die Verfassung sich gegen sie zu schützen. Es sei daher der größte +Fehler gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu +ändern und vor allen Dingen das Heer aus einem königlichen in ein +Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung +so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschöpft +hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder +einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, möge man diese +Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten +Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen -- +d. h. als dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen Verhältnisse +weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. „Das Fürstentum, meine +Herren,” heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht +Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen +wären.” + +Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar +richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie +trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die +Übersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hieß, die +Partei aber -- ein Teil der Führer überhaupt nur, der andere jedenfalls +zunächst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte. +Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der +Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im großen +und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den +Zeitpunkt für eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch +Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen +Gründe, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen, +dieser Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion, +daß man für die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese +verletzte, für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine viel +günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene +Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen +Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich +wenigstens alle moralischen sichern. + +Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder +Fortschrittler -- ja, jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben +konnte, war er daher doch den Führern der Fortschrittspartei höchst +unangenehm, während die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände +rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, das Organ der +Junker und Mucker. Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, wenn +der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch +deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage +zwischen Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil +dadurch ihre Position als einzig zuverlässige Stütze des Thrones eine +um so befestigtere wurde. Man muß nicht vergessen, daß die +„Neue Ära” Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron +der Hohenzollern von der allzu lästig gewordenen Vormundschaft der +ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenüber +dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mußte diese dagegen dem +König als das unbedingt kleinere Übel erscheinen. + +Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei weiteren +fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, daß die +fortschrittliche Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- „auf +mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die +Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über +die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich +unter diesen Verhältnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter +entwickeln werde. + +Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im +Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel +Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: „Über den +besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der +gegenwärtigen Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte er vorher +sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht +einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus -- +unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen +Reden. Eine ebenso klare wie schöne Sprache, gedrungene, flüssige, +nirgends überladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz +fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre +formellen Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit +einigen Einschränkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die +Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte +nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umständen, unter denen +sie gehalten wurde, angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen +Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache an der Hand konkreter +Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in großen Zügen +bereits vorgezeichnet ist. + +Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische +Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch +auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen gleichfalls +geschieht, die Betonung der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der +Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter vermöge ihrer +Klassenlage in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche +revolutionäre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die +Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des +kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des +„Arbeiterprogramms”, unter welchem Namen der Vortrag später in Druck +erschienen ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort wieder in +juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen +verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage +selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte man darin eine bloße +Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie +Anstoß nehmen möchte. Indes es muß Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt +werden, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig +zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen nach einer populären +Redewendung, die ihn vom „Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand” +sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen +Vorstellungen. Es ist derselbe Rückfall, der ihn den Begriff des +Bourgeois nicht etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten +läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge seiner ökonomischen Wirkungen +und Kräfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen +Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes genießt oder +beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen +Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, +verwischt er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer nur dann +einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung +eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des „Arbeiterprogramm”.) +Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als +bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal +der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin. +Das preußische Dreiklassenwahlsystem, eingeführt von der +feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die bürgerliche +Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des +modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man +den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten +beschränkt, aber was wird dann aus dem „vierten Stand”? + +Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet +Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel +der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Daß +jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern +möglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den +Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhängig +macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache +umgestoßen, daß gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte +Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem +am stärksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von den 97 +Millionen Talern, die der preußische Staat im Jahre 1855 aus Steuern +einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist +übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die 10 Millionen Taler +Grundsteuer einfach für eine indirekte Steuer, da sie nicht von den +Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis +abgewälzt werde. Das Abwälzen war aber keineswegs eine so leichte Sache, +solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die Zufuhr von +außen abgesperrt waren. Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als +eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche +von den Grundbesitzern empfunden und bei Veräußerungen behandelt worden. +9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als eine indirekte +Steuer bezeichnet werden, da aber die ärmste Klasse keineswegs die +meisten Prozesse führt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur +Entlastung des großen Kapitals sprechen, wie immer man sonst über die +Justizgebühren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des großen +Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. +Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, daß +sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden +ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht. + +Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von +Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafür +anführt, daß „die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen +Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer +Konsequenz durchführe, als dies der Adel im Mittelalter mit dem +Grundbesitz getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in +Preußen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der +halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte bloß den +Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten +Entfaltung gediehen war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die +kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems die Presse, und +obendrein in noch viel höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des +großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig es natürlich war, gegen +diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es +wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, daß, wo er die +Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen +will, er hier ausschließlich formal-rechtliche Einrichtungen anführt, +den Einfluß der ökonomischen Faktoren dagegen gänzlich ignoriert. + +Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der +„Staatsidee”, einen Dithyrambus anzustimmen. Der „vierte Stand” hat +„eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck +des Staates als die Bourgeoisie”. + +Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der +liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates +einzig darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein +Eigentum zu schützen. + +Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die Geschichte sei „ein Kampf +mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der +Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns +befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte +auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das +ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt”. +Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu +vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei +„die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen”, sein Zweck +sei, „durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, +solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie +als einzelne niemals erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe +von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als +einzelnen schlechthin unersteiglich wäre”. Und weiter sei sein Zweck, +„das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden +Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche +Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig +ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei „die Erziehung und +Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit”. So sehr sei dies +„die wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie deshalb seit +allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch +ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner +Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde”. + +Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft überhaupt +haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als +einzelne befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben dies die Bestimmung +des Staates sei und sein müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des +Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich diese „sittliche +Natur” des Staates „mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein” +zu seiner Aufgabe machen und „einen Aufschwung des Geistes, die +Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit +herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”. + +So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an +einem großen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen +Veränderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem +Begriff und Wesen nach als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes, +als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner „Idee” +zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft +erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen +Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff ist sozusagen +ein ewiger. In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer +Festrede von Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen die +Staatsidee des Liberalismus” an die „antike Bildung” appelliert, +welche „nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes +geworden” sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff +des Staates sei dahin zu erweitern, daß „der Staat die Einrichtung +sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen +solle”. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus +berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie +des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so +weit schießt Lassalle hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten +beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden von denen der +Gegenwart, daß die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für die +Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa die Ideen der Alten über +die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike +Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs +eine auf die Neuzeit übertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die +Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” in +sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige +Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt +es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates +sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene +gewesen. Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein +Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den +jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat +unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit +gefördert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen. + +Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff +der Alten unverändert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag +ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten +Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der +Kultus des Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, und +wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein +direktes Eintreten für den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so +verhinderte diese doch nicht, daß jener Kultus später von den +Anwälten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten +ausgebeutet wurde. Das ist überhaupt die Achillesferse aller auf +abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär +sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in Gefahr ist, in eine +Verklärung bestehender oder vergangener Zustände umzuschlagen. +Lassalles Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner Lassalle +eines Tages mit den Streitern für das absolute Königtum und den +Revolutionär Lassalle mit den eingefleischten Reaktionären +zusammenführte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten +eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte. + +So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen +Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der späteren +Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind. + +Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an +die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus +ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. „Es ziemen +Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen +Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn +der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der +Gegenwart gebaut werden soll!” + +Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so +vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare +politische Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei, +zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch +sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei einem +Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen +und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die +Broschüre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862 +reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen +Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der +Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen „Aufreizung der besitzlosen +Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden”. Am 17. November +beschloß das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am +16. Januar 1863 kam der Prozeß in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz +einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem +Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten gleich überlegen zeigte, und +namentlich den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde Lassalle doch zu +vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens +den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine +verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme +der Broschüre blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ Lassalle den +Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zürich in Neuauflage erscheinen. + +Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschüren über den +Prozeß in der ersten Instanz -- von denen die erste die +Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die Wissenschaft +und die Arbeiter”), die zweite den stenographischen Bericht über die +mündlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des +erstinstanzlichen Urteils enthält -- und schließlich auch unter dem +Titel: „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die +eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende +Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste +Verteidigungsrede eine außerordentlich geschickte und wirkungsvolle +Beweisführung dafür, daß der Satz in der preußischen Verfassung „die +Wissenschaft und ihre Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das +Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien +den breiten Volkskreisen vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse +infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche Verbündete der für +ihre Freiheit kämpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede über die +indirekte Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung mit sehr vielem +geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit +Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das +System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch +kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem +bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, während in der ersten +Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte +betont wurde. Eine eingehendere Würdigung dieser Reden findet man in den +Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier müssen wir vorerst wieder auf +die Zeit zurückgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war, +das Frühjahr 1862. + +Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher zunächst kein +besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von +der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den +Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der äußeren, politischen Tendenz +nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf +eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte +Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen +Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen +die Regierung spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel radikaler an +als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der +Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Großspurigkeit der +Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hörer, ob Arbeiter +oder Bürger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von +außergewöhnlichem Radikalismus. + +So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der „Philosophischen +Gesellschaft” in Berlin war, noch in demselben Frühjahr von dieser dazu +ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum +hundertjährigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu +halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen +Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen +die leitenden Persönlichkeiten damals Anstoß. Da das Bürgertum in seiner +großen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch +Ideologie treiben. + +Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den „Demokratischen Studien” +Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm +jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu +halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes +Aufsatzes. Und Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht +entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen. + +Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des +deutschen Volksgeistes.” Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes Stellung +in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt. +Weiterhin aber verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche +Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und +seine Bedeutung besteht darin, daß die Deutschen die hohe +weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem „reinen Geist” heraus diesem +„nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, sondern sogar „die bloße +Stätte seines Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. „Indem +hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts +Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen, +kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trägt +hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und +vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” Und +was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt +habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen +bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” und durchbebe „unter +dem populären und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes +edlere deutsche Herz”. + +Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des „reinen, mit +nichts Geschichtlichem verwachsenen” Geistes hinstellen -- das ging noch +über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit +großer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte +Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie +einige Blätter schadenfroh berichteten, verließen die Hörer zum großen +Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der Festrede, „um sich nach dem +Zimmer des leckeren Mahles zu verfügen”. Sie vergaßen aber +hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der +philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gästen +zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen +lediglich des guten Tons halber besuchen. + +Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie, +zusammen mit dem „Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über +Verfassungswesen” durch Lothar Bucher an Marx. Er habe „etwas +politisch-praktische Agitation beginnen” wollen, schreibt er unter dem +9. Juni an letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag in vier +Vereinen gehalten. Außerdem einen weit längeren Vortrag über den +Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.” +Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe mich jetzt auch +entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn drucken zu lassen; er ist bereits +unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im +weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurück, daß +durch die intensivere Beschäftigung mit anderen Dingen in den letzten +drei Jahren die nationalökonomische Materie in seinem Kopf „gleichsam +fossil” geworden sei. Erst wenn „alles wieder flüssig geworden”, +werde er an die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur Kritik der +politischen Ökonomie” gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen +Besprechung und die Ausführung seines eigenen ökonomischen Werkes -- +„welch letztere freilich sehr lange dauern wird”. Dieses Programm +werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im +Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der +Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz +gehen. + +Er entschied sich für das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal +an Marx, und zwar: + +„Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit +Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rüstow +gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt. +C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er +von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort +Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine +braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wünschenswert dies +wäre. Habe also die Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von +denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem +Ziel führenden Vorschub zu tun. Tue Dein Möglichstes. + +„Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London komme, nimmt zu. + + Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.” + +Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” standen im Lager des +„Nationalvereins”, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte +sie offenbar für Aktionen verwendbar machen, die zeitgemäß werden +konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme +d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre +sind eine weitere Bestätigung für das weiter oben von den +Revolutionsplänen Lassalles Gesagte. + +Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und +einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die mir +vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wäre aber falsch, daraus +den Schluß zu ziehen, daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den +beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber +wissen wir von Marx, daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen +ihm und Lassalle er dem letzteren die grundsätzliche Verschiedenheit der +beiderseitigen Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen +dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach +Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein. Um so +enger schloß sich Lassalle an Bucher an, der ihn später auch mit +Rodbertus in Verbindung brachte. + +Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preußische +Regierung der Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere Haltung +einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis plötzlich der +König in schroffer Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich auf keine +Konzessionen in bezug auf die Verkürzung der Militärdienstpflicht +einlasse und auch keine Neigung verspüre, um Indemnität für die +verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation einzukommen. Die +Kammer antwortete damit, daß sie die Forderung der Regierung, die Kosten +der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben +aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der +Mehrheit zu brechen, berief der König an Stelle des Herrn v. d. Heydt +den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am französischen +Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe +Betonung der königlichen Vorrechte war bereits im Einverständnis mit +Bismarck erfolgt. + +Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” und 1849 in der +Preußischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heißsporn +aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann” +entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien über Bord geworfen, +um desto wirksamer die Interessen des „befestigten Grundbesitzes” +wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus aufgegeben, um +dem Königtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, +daß die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die +Verantwortung für die Bedürfnisse und die Politik der Monarchie +übernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus +bekannten Regierungssystems übernommen, das, wenn es von Demokratie +spricht, Regierungsgewalt meint, und von Fürsorge für das Wohl der +Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der +Arbeiter im Schilde führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er +gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit +Revolutionären Geschäfte machen kann, von der bonapartistischen, wie +man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpönten Handlung +beschuldigen muß, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im +Begriff ist. Als Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit aller +geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende Aufrichtigkeit an +den Tag zu legen, um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr +Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um die Wahrheit nicht zu +sagen. + +Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem +wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung +in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch „Blut und +Eisen” gelöst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das +Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß bestehen, der Regierung +nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von ihr +anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklärung, die +Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde. + +Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die +Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, während +die Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” auf ihrer +Seite hatte. Indes, er wußte ganz gut, daß er sich auf die preußischen +Bajonette nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der +auswärtigen Politik, geeignet, die ehemaligen „Gothaer”, d. h. die +schwachliberalen Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, war +vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte also anderwärts Verbündete gegen +die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen. + +Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß man in Berlin in +Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen +Arbeiterkongresses zur Erörterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls +ernsthaft zu betreiben, und daß in Zusammenkünften, die dieser Frage +galten, ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer +Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die +Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts nützten. +Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen soviel Geschrei machten, +sei es nichts, nur der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, der +behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden +Äußerungen über die Schulzesche Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand +die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein +„Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen +Arbeiterkongresses und die Gründung einer selbständigen +Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das +Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des Kongresses nach +Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn +fühlte, rückte er schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der +Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die preußische Regierung +den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der +Gründung von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, daß Herr +von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Gründung einer +Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die +Maschinenbauer waren damals, und noch lange später, in Berlin die +Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natürlich müßten sich die Arbeiter +dazu entschließen, der Fortschrittspartei den Rücken zu kehren, die +eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei. + +Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig +den Arbeiterkongreß betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so +geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen Regierung zuliebe in den +Rücken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch +in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner +auffällig flotten Lebensweise, die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar +nicht paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse Anspielungen auf +eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da +er ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders +Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildfläche und +tauchte später als -- preußischer Polizeibeamter auf. + +Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878, +August Bebel die Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum Fürsten +avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von +sich abzuschütteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung +für sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die +Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen +auf die Wirkung dieses Kunstgriffs ließ er sich zu dem Geständnis +verleiten, Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt für +Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, und daß ihm „bei der +Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, daß Herr Eichler im Dienste der +Polizei gewesen ist und daß er Berichte geliefert hat”. (Vgl. die unter +dem Titel „Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage” +veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die Beratung des +Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche +vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” seinerzeit +einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische Vettel” entpuppte +sich als -- das Berliner Polizeipräsidium. + +Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag +vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: „Was +nun?” Er beruft sich dort darauf, daß die Ereignisse den Ausführungen +in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, der +Kriegsminister von Roon und der gegenwärtige Ministerpräsident von +Bismarck hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind, +bestätigt. Gestützt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich +über die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun +weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer +Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar +kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht +der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur +Wahrheit zu machen sei, da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden +wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. Soll man zu dem Mittel +der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als +solche ein wirksames Mittel nur in den Händen eines Volkes, das, wie das +englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner +Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte, +einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen „werde +unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken”. Das +einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, sobald sie +wieder zusammentrete, „aussprechen das, was ist”. Das sei „das +gewaltigste politische Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung +unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren. +Sobald sie wieder zusammentrete, müsse sie unverzüglich einen Beschluß +fassen, daß sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze, +es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung behilflich +zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten, +und daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so +lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die +verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. Sobald die +Kammer diesen Beschluß gefaßt habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung +nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten würden mit derselben +Parole wiedergewählt werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht +regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach außen würden +so gewaltig darunter leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen sein +werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gäbe es +aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller +Ausgaben der Regierung würden nur Volk und Regierung an die süße +Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. Noch +schlimmer würde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromiß +einlassen, etwa für den Preis der Bewilligung der zweijährigen +Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um +die es sich jetzt handle. Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um +so größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn sie sich gezwungen +sehen werde, nachzugeben. „Um so mehr erkennt sie dann die +gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an, +wenn sie erst später umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen muß.” +Dann aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. Keinen neuen +Kompromiß mit dem alten Absolutismus, sondern „den Daumen aufs Auge und +das Knie auf die Brust”. + +Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine versöhnliche Haltung +gegenüber der Fortschrittspartei ein. Er will „der Einigkeit zuliebe” +alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe, +unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” und ihre Hintermänner, deren +Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese +„Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, die Regierung in eine +konstitutionelle „umzulügen”, einen sehr großen Teil der +Verantwortung für den jetzigen Stand der Dinge. Aber „Friede, meine +Herren, der Vergangenheit”! + +Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und +wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf seinen +Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit nur oratorische +Floskel war, um ihm später eine desto schärfere Position gegen die +Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. Es mag beides +zutreffen. Daß er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den +Fortschrittlern grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher +gesehen, viele persönliche Beziehungen ließen ihm das sogar als +wünschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt ließ sich bei +der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen +Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler +sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einfluß auf ihre Taktik +einräumen würden, auf den er Anspruch zu haben glaubte. + + +Fußnoten: + + [18] Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht + aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die + Veröffentlichungen R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im + Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf. + + [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind Mitte der achtziger + Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.) + So dünn das Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im + Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über Lassalle dem + Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht + einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten + Lassalles den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten aus dem + Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen war. In einem der + Briefe ist von „Salingers genialer Komposition” die Rede. Der + Herausgeber, der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, macht + dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. Daß der Name Salinger + bzw. Solinger Pseudonym für Hans von Bülow war, wird dagegen nicht + einmal angedeutet. Bülow hatte die Komposition des Herweghschen + Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht. + + + + +Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene +Antwortschreiben, politischer Teil. + + +Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle +vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem +Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut, +wenn man es so schnell als möglich zum Äußersten treiben wollte, wenn +man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn +weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig -- mit einer +Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch +nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne +Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf +die Tribüne in der Kammer auf den famosen „passiven Widerstand” +hinaus, über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. Durch +beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und +drastisch „aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung ebenso +wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der +Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein +von Recht für die Außerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war +ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung +vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber dem Recht +hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” sagt B. Becker sehr gut, +„waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an +juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewöhnt und den Streit +der Kammermajorität mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit +zu betrachten geneigt.” + +Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, daß er, +gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach +der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei Becker heißt, schrieb +Lassalle den Aufsatz „Macht und Recht”, in welchem er der +Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm +ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar +Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den +Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin, dessen Erklärung, daß in +Preußen „Recht vor Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem +ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen +hatte. „Es hat kein Mensch im preußischen Staat das Recht, vom +‚Recht’ zu sprechen” -- ruft er aus -- „als die Demokratie, die +alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht +festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt +hat.” Und: „Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr +allein wird die Macht sein!” + +Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung an die radikale +Berliner „Reform” eingesandt, verschloß letztere -- für die Lassalle +noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre +Spalten, desgleichen die „Vossische Zeitung”. Die letztere lehnte auch +die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn +als „Offenes Sendschreiben” in Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl +dieses Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” der „Vossischen +Zeitung” eigentlich rechtfertigte, kümmerte ihn nicht weiter. + + * * * * * + +Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages „Was nun?” (Dezember 1862) +und der Abfassung des „Sendschreibens” (Februar 1863) liegen wiederum +zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei +Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter +F. W. Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin +gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern des +Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen +Fortschrittsführern am 2. November einer großen Arbeiterversammlung +beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das +Mandat für die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu +übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die selbst schon Sozialisten +waren, daß die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen, +dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei von einer +selbständigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Spätere +Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des +Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwähnte klassische +Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” des +Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren +die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch +außerdem für keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so +vortreffliche Kammer zusammengebracht, man könne es also schon noch eine +Weile mitansehen. Daß die vortreffliche, d. h. die oppositionelle +Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse war, kam +den guten Leuten nicht zum Bewußtsein. + +Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem späteren +Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand +Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” aufmerksam gemacht +und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht +denken, wie sehr dies dessen Entschluß bestärken mußte, nunmehr das +„Friede der Vergangenheit, meine Herren” zurückzunehmen. Als er das +Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, war bereits zwischen ihm und +dem Leipziger Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem offiziellen +Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten über die Aufgaben der +Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend +erscheinenden Form darzulegen, und daß diese Form eben die einer +Flugschrift sein sollte. Die äußerst interessanten damaligen Briefe +Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in +Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht +worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß Lassalle, so froh +er über die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem +doch in keiner Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden +Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr gut, worauf sie +hinauswollten; worüber man noch unentschlossen war, das war weniger +das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es +war durchaus nicht „das Bewußtsein seiner eigenen Unklarheit”, wie +Bernh. Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” stellenden +Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das +Komitee veranlaßte, in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an die +deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, aber gegen +Übereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen. +Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, aber nicht so bald, +daß nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan +haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten Aufruf +erließ, beschloß das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu +schicken, der auch tags darauf abging: + +„Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin. + + Sehr geehrter Herr! + +Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen +Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall von +den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das +Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung +ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche +Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen +Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt, +genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der +Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig +erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) +hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das +Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug +leisten könne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von +Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die +gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch +wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch +vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung: +Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und +geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner +Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen: + + Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form + Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren + dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert + der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse, + auszusprechen. + + Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der + angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch + Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir + ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung + unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der + Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gruß und Handschlag! + + Leipzig, 11. Februar 63. + + Für das Zentralkomitee zur Berufung eines + Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses + + Otto Dammer.” + +Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. März 1863 datierte +„Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines +allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand +Lassalle”. + +Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger +Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation +Lassalles und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins”. + + * * * * * + +Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt zunächst der Ansicht +entgegen, daß die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekümmern +hätten. Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der Politik zu +beteiligen, bloß dürften sie dies nicht in der Weise tun, daß sie sich +als den „selbstlosen Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei +betrachteten. Der Nachweis dafür, daß die Fortschrittspartei den +Anspruch darauf verwirkt habe, stützt sich im wesentlichen auf das von +dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern +nicht überall von gleichmäßiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf +Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, daß sie „nur .... +das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes +habe”, so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage „Was nun?” +als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des +Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei +auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Sünde +anrechnete, daß sie + + „sich durch ihr Dogma von der preußischen Spitze zwingt, in der + preußischen Regierung den berufenen Messias für die deutsche + Wiedergeburt zu sehen, während es, mit Einschluß Hessens, nicht + eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preußischen + in politischer Beziehung zurückstände, während es, und zwar mit + Einschluß Österreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung + gibt, welche der preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.” + +Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich recht. Die +Organisation der Arbeiter als selbständige politische Partei mit eigenem +Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung +der politischen Zustände Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen +konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom +Heerbann der gegen den Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei +abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser +Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hieß die selbständige +Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung der +Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Daß sie diese in der Tat zur +Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei +selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenüber der neuen +Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches +Lassalle dieser Bewegung gab. + +Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” gesehen, welch +abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff +„Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß er einen +wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. „Das uralte Vestafeuer +aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene +modernen Barbaren” -- nämlich die Manchesterpartei -- ruft er in der +Rede „Die indirekte Steuer” den Richtern des Berliner Kammergerichts +zu, und ähnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor. +Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin, +die Ursache von allerhand verhängnisvollen Fehlgriffen. Die +althegelisch-ideologische Vorstellung vom „Staat” veranlaßte +Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische +Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für sie zunächst noch +darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst +loszuwerden. Es hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen +Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, Sie wollten über +Freizügigkeit debattieren? Ich weiß Ihnen hierauf nur mit dem +Distichon Schillers zu antworten: + + „Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen, + Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” -- + +Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem +gesetzgebenden Körper „stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr +debattiert”. Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die +Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, während die Arbeiter sie +unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und +Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Rang auf einem +Arbeiterkongreß einzunehmen hatten, war der, daß sie zugleich in hohem +Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus waren; aber überflüssig +war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in +Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit über ihre Bedeutung herrschte. + +Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die +Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen, +zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig +wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse für die politische Aktion +aufzurütteln, sie zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen +Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung der demokratischen +Forderungen zu erwärmen. Und kein Zweifel, daß ihm zu jener Zeit diese +zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge +selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er +diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren. + +Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu überzeugen, +wie sie von bürgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf +das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den +Klassikern der politischen Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von +Ricardo formuliert worden war, das „eherne und grausame Gesetz, wonach +unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche +Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, +der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur +Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er zeitweilig über diesen Satz, +so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung +der Arbeiterbevölkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen +der Lohn wieder auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er aber +unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, größere Sterblichkeit +unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine +Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Löhne wieder +stiegen. So tanzten „Arbeiter und Arbeitslohn immer um den äußersten +Rand dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem +notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, und dies „ändert sich nie”. + +Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen +Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise +zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der +Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese +vereinzelt blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile +verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein würden, würden +die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie +als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage +der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes +ökonomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des +Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr +eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Gründung +selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die +erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal +verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die +Mitglieder in die „widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln +und Unternehmergesinnungen” verwandelte. Die großen Fragen ließen sich +nur mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die Assoziationen in +großartigem Maßstabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmäßige +Großindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das nötige +Kapital, bzw. der nötige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei +durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. „Nichts ist weiter entfernt +von dem sogenannten Kommunismus oder Sozialismus als diese Forderung, +bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle +Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergütung +beibehalten und zu dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, als daß +ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, resp. der erforderliche +Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird.” Der Beruf des Staates sei +es aber gerade, die großen Kulturfortschritte der Menschheit zu +erleichtern und zu vermitteln. „Dazu existiert er, hat immer dazu +gedient und dienen müssen.” Was aber „ist denn der Staat”? Und +Lassalle führt die Zahlen der preußischen Einkommensstatistik von +1851 an, wonach in jenem Jahre 89 Prozent der Bevölkerung ein +Einkommen unter 200 Talern gehabt hatten, dazu 7¼ Prozent der +Bevölkerung ein solches von 200 bis 400 Talern, so daß also 96¼ +Prozent der Bevölkerung in elender, gedrückter Lage sich befänden. +„Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehört der +Staat, nicht uns, den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er! Was +ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen, +handgreiflicher als aus dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der +ärmeren Klassen, große Assoziation -- das ist der Staat.” Und wie +den Staat zu der geforderten Intervention vermögen? Dies werde nur +durch das allgemeine und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn die +gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten +Wahlrecht hervorgehen -- „dann und nur dann werden Sie den Staat +bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen”. Das +allgemeine und direkte Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches, +es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller +sozialen Hilfe”. Darum mögen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen +deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die +Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen +Ländern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der +Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der +Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet, so +werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen würde. +„Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder +Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren +und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach +rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines +und direktes Wahlrecht heißt oder damit in Zusammenhang steht und +dazu führen kann.” + +Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt des „Offenen +Antwortschreibens” und zugleich der Lassalleschen Agitation überhaupt. +Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen +Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest, +die Bewegung auf diesen einen Punkt: „Allgemeines Wahlrecht behufs +Erlangung von Staatshilfe für Produktionsgenossenschaften” zu +beschränken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, daß die +Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf +einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu +behalten, wenn man an die agitatorische Tätigkeit Lassalles den +richtigen Maßstab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn, +auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen. +Ausdrücklich verweist Lassalle im „Offenen Antwortschreiben” auf die +Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso +scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu +haben, wie der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an die Erklärung +des Chartistenpredigers Stephens erinnert: „Der Chartismus, meine +Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und +Gabelfrage.” + +Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer +praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage der +damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube ich die Frage unbedingt +bejahen zu müssen. Daß später Bismarck, wenn auch freilich nur zum +Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einführte, +ist für mich dabei nicht maßgebend. Allerhand Umstände hätten das +verhindern können, ohne daß dadurch die Tatsache umgestoßen worden wäre, +daß Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt, +obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen Landtag beibehalten +wurde, bleibt der Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach +durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wußte ganz genau, +daß, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele +Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafür in den Kreisen der +Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer scheeleren +Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Blätter sprachen sich +bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte es, +wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch +die er genau über die Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen +unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht +nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg -- der +ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte -- schließlich kaum etwas +anderes übrig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen und +ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem +Schritt mußte sie sich um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke, +von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung bestand, die die +Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte. +Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg mußte ihr dies als der +beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig +gegen sich im Rücken zu haben[21]. + +Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also +Lassalle unzweifelhaft recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht +auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen +Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht +nachgeben zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts +mindestens noch weiter hinausgeschoben. „Seien Sie taub für alles, was +nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder damit im +Zusammenhang steht und dazu führen kann”, heißt es im „Offenen +Antwortschreiben”. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, würde +dieses, das muß man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrücklich +ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage +lösen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie +überhaupt die Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache selbst +gerechtfertigt? + +Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur +Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus +nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar während der +Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung +gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt worden durch +die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das +allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig +verhindert, daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen können als +„Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die +Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat +proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine +Epoche sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, so daß +nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafür gegeben waren, daß sie +im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik hätte +werden können. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch +das Kaiserreich gestürzt werden? + +Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” sagt, was am +2. Dezember 1851 gestürzt worden, das sei „nicht die Republik” +gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz +vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten +Zensus zur Ausschließung der Arbeiter eingeführt hatte; die Republik +des allgemeinen Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen +Arbeiter einen unübersteiglichen Wall gefunden haben”, so wiederholt +er damit ein Schlagwort der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la +Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur +verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche Wall”, als die auf Grund +des allgemeinen Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? Warum +hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich der Bourgeoisie” +nicht verhindert? + +Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so würde er auf die Tatsache +gestoßen sein, daß die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht +halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche hätte +stützen müssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht +entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne +industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, für einen +Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen, +aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem +Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf +die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgänge einzugehen sucht, +hält ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite +wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das Ökonomische packt er +gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf, +juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, daß er, um den +Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevölkerung des +Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung, +und zwar ausschließlich an sie hält. Der Streit, der sich damals an +diese Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, ist ein +verhältnismäßig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentsätze +nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde +wenig an, die Tatsache, daß die große Masse der Bevölkerung in dürftigen +Verhältnissen lebt, während nur eine kleine Minderheit im Überfluß +schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle +damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht +aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht +berücksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89 +Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, als deren „große +Assoziation” er den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil davon +Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter +bildeten, die noch großenteils völlig unter der geistigen +Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz unerörtert. +Über die Hälfte der Bevölkerung Preußens entfiel damals auf den +Ackerbau, die größeren Städte spielten bei weitem nicht die Rolle, +die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung +betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit +vereinzelten Oasen[22]. + +Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine Wahlrecht an der +Zusammensetzung der Kammer ändern? War von ihm ein besseres Resultat zu +erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848 +und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von +Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich +gewiß sehr zu wünschen. Aber im übrigen mußte es, gerade je mehr es die +Wirkung erfüllte, die Lassalle von ihm versprach -- nämlich einen +Volksvertretungskörper zusammenbringen, der „das genaue, treue Ebenbild +ist des Volkes, das ihn gewählt hat” („Arbeiterprogramm”) -- die +Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. +Denn so jämmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch +wenigstens bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen +Klassen zwar unter Umständen sämtlich revolutionäre Truppen stellen, +aber keineswegs samt und sonders revolutionäre Klassen sind, er vergaß, +daß die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern +bestanden. + +Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen möglich war, so ist doch +damit noch keineswegs gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder als +Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigeführt haben würde. +Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse der +Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst das Gegenteil bewirken, +statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in größerer +Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren +aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen +Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil Ideologen, welche +gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen +Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur +an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger +Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafür, daß +das allgemeine Stimmrecht „nicht notwendig dem Arbeiterstande die +Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt worden, das allgemeine +Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu +verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar”. +„Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, daß hier das Mittel mit +zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen +muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus +geht auch hervor, daß, beinahe mehr noch als Rodbertus' +gegensätzliches Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften, +sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, daß er +trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen +Arbeiterverein nicht beitrat[23]. + +Und wie man sonst auch über Rodbertus denken mag, seine Motive werden +auf das Unzweifelhafteste durch den Schlußsatz seines Briefes +charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl Lassalle recht habe, +daß man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und +freie Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in ihr Programm +aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, der Ihnen schaden könnte, höchst +wirksam zurückzuscheuchen”. + +Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus übertrieben, so +nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die +er später tatsächlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach +von vornherein in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine Stelle aus +dem teilweise schon früher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20. +Juni 1859 über die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es: + + „Im Anfang, als mit solcher Wut überall das nationale Geschrei + eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’ + (Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr Redakteur) in einem + Leitartikel triumphierend aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei + aller Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine + welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von + der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.’ -- + Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt dieses + Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewiß nicht! Ein + populärer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbürgerlichen + Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller + Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs + auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution + hinein würde die Wirkung dieser Strömung sich bemerklich machen. + Wir haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten Feind, den + wir haben, dem deutschen Spießbürgerindividualismus, durch einen + blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner + klassischen Form, in Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen.” + +So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der „Volkszeitung” verdiente in +gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt, +aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische +Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus, +während die Partei der „Volkszeitung” auf England, als ihr politisches +Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht +reaktionär, oder doch reaktionär nur insoweit, als es eben einseitig +war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus +Frankreichs ein Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, ihn mit +dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine +reaktionäre Seite ganz unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder +einseitig. + +So weit über die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu +seiner ökonomischen. + + +Fußnoten: + + [20] Wohl ein Druckfehler. D. H. + + [21] Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen Krieges” + gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht in die Schablone des „guten + Patrioten” passenden Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger + Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend + dafür ist auch eine Stelle in der Schrift „Was nun?”, die schon + deshalb hierher gehört, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag + tatsächlich nur zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder + Revolution. Anknüpfend daran, wie unmöglich und unhaltbar die + auswärtige diplomatische Stellung der preußischen Regierung wäre, + wenn sein Vorschlag befolgt würde, fährt Lassalle fort: + + „Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein + unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der + Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden + Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter + einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den + diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und, + gleichviel ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt + in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft + habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei + historischen Studien mir die große Wahrheit auf das Genaueste zu + vergegenwärtigen, daß fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe + der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen würden, + wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen + unter einander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu + Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist + die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen + eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die + Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die + Geschichte genau und mit innerem Verständniß betrachten, so werden + Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so + riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa + vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit und Unverwüstlichkeit + unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten + wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl + unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische + zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche + derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen + kann -- das deutsche Volk!” + + Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man + zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß, ein so wichtiger Faktor + des Fortschritts der Völker die Rivalität der Regierenden sein kann + und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein + Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des + Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des + heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg zwar + ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslöschen, es + aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schädigen kann, + daß er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber + auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwähnten Beispiel tut + Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlußsatz und seine Briefe + zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine übrigens + weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekämpfende Tendenz. + + [22] Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft + kamen damals in Preußen erst 766180 selbsttätige Personen in der + Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter und Beamten eingeschlossen. + + [23] Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem Brief” geheißen: + „Und ich wiederhole, daß ich mir auch von den Produktivassoziationen + nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die + Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch Lassalles wurden aber + diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine + Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen + Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn sie so schroffen + Widerstreit zwischen ihren Führern sehen, entmutigen müsse”. + (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.) + + + + +Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben. + +Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit. + + +Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das +Beiwort „ehern” gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24] +nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode -- +der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden +Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen +Großindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten +Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperität, der rasch sich +vollziehenden Steigerung der Produktivität der Arbeit usw. zum +mindesten überlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von +Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört +ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert +gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung +des Arbeitsverhältnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle +entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so +hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die +guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als +Lassalle. + +Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn +bestimmenden Gesetze, weil er den stärksten Schlag gegen die moderne +Gesellschaft damit zu führen meinte, daß er nachwies, der Arbeiter +erhalte unter keinen Umständen seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen +Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen +rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch höchst wirksam +erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der +Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den +früheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein „ehernes” +Gesetz es verhindert, daß der Lohn dauernd unter ein bestimmtes +Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle +ausdrücklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam +hebt, aber doch hebt, so war der Beweis für die Notwendigkeit der von +ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen. + +Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst später, und nur +beiläufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit +einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese +Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen +Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den in wechselnden +Zeiträumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von +beständigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse -- der +schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden +Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die +wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten +Abhängigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfällen des industriellen +Zyklus sich zu befreien, die beständige Bedrohung mit dem +Hinausgeworfenwerden aus einer Sphäre der Industrie in eine andre, +tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die +Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich +macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum +Schlechteren unterscheidet. Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit der +scheinbaren Freiheit nur größer geworden. Sie ist es, die mit eherner +Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der +wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhöhe dagegen wechselt +heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen +Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die tatsächlich einen gewissen +Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den +verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils höher, teils aber +auch geringer als in früheren Produktionsepochen. Beide hängen von sehr +veränderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu +Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den größten +Veränderungen unterworfen, und beständig ist nur die Tendenz des +Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die +eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen. + +Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der +Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, +die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen +Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat +der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines +Abhilfemittels von vornherein angezeigt. Es ignoriert, oder, um Lassalle +auch nicht Unrecht zu tun, es unterschätzt die Stärke und den Umfang der +Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale +Rückwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir müssen hier +wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. +Sein Ziel war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel +aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich +organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die +sich von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, daß sie mit +Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles +weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der +freiwilligen Entschließung jener überlassen -- es wird von ihnen erwartet, +aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern, +die sich zu assoziieren wünschten, die erforderlichen Mittel dazu auf +dem Wege der Kreditgewährung vorstrecken. + +Die Assoziationen einer bestimmten Industrie würden also, solange sie +nicht diese ganze Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen +ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen +dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche +Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der Assoziationen +Sonderinteressen herausentwickeln mußten, daß jede Assoziation danach +streben mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu steigern, sei es auch +auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit +Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen +von mehr oder minder großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle +Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glückschancen mußten +daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn +und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie für andre +Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gestützt darauf, +daß 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr +stark war --, daß sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter +Industrien an den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation +zusammentun würden, und sprach sich zweitens im „Bastiat-Schulze” +später sogar dahin aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur einer +Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil +werden” lassen würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in +dieselbe offen haltend”, aber selbst solche örtlich einheitlich +organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. +Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch große Assekuranz- und +Kreditverbände der Assoziationen untereinander in ihren ökonomischen +Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, daß diese +Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war +für nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie. +Sonst mußte die Überproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft +sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie +es oben heißt, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die +Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte sich da, von seinem +sozialistischen Gewissen getrieben, in einen großen Widerspruch. „Den +Eintritt offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme jedes sich +meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem „Offenen Antwortschreiben” +sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber vollkommen unabhängig +sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle +der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit +obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhängigen in ein +öffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhältnissen staatliches +Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt +hätte scheitern müssen. + +Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist +folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen +eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, unterstanden sie den +Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja +gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion im Auge hatte, die +zugleich die großen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz +besteht, besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den +Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder +eine Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, daß sein Produkt +jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht +gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird. +Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und +Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine +Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur möglich +nach Maßgabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar +durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz in der heutigen +Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor +Übervorteilung zu schützen und die Produktionskosten beständig zu +senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten +der Monopolinhaber zu überteuern und den Fortschritt der Technik, wenn +nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn +die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die +Aufhebung des geschäftlichen Risikos für die Assoziationen würde also im +Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn überhaupt zu +verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich +gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenüber die große +Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wäre ein +unlösbarer Antagonismus. + +In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das natürlich leicht zu +verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der +subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der +Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der +Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf +gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische +Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen +so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die +Lassalleschen Produktivgenossenschaften würden sich von den +Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe, +nicht dem Wesen nach unterschieden haben. + +Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu +durchgebildeter Ökonom war, als daß ihm diese schwache Seite der +Lassalleschen Assoziationen hätte entgehen können. Wir haben bereits aus +dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus +sich in seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern wollen, und die +auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich +deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war. +Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an +Rudolph Meyer hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, einige +der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen. + +Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus: + +„... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, daß +dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen, +das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel +schlechteres, zu weit größeren Ungerechtigkeiten führendes Grund- und +Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen +hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich überführt, zu welchen +Absurditäten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen müsse +und (was ihm besonders unangenehm war) daß er gar nicht der Schöpfer +dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la Révolution +entlehnt habe.”[25] + +Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe +ich gegen diese Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am +Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie +Settegast mit Recht sagt -- und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale +Frage nicht gelöst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem +Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich zu einem +Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum +liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis würde +mich zu weit führen, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon +in unserer Korrespondenz getrieben, daß er mir in einem seiner +letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen denn, daß ich will, daß +der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehören_ soll!’ +(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter +an den einzelnen Betrieben wäre ein weit übleres Eigentum, als das +individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer +Kapitalistenassoziation.” ... + +Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur +Veröffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber +kaum anzunehmen, daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt haben +würde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er +gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht +nämlich dagegen, daß Lassalle sich nicht in der Tat einmal so +ausgedrückt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von +den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat für das +vorgeschossene Kapital zu zahlen hätten. Es liegt also in dem Satz noch +nicht einmal ein Zugeständnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein +solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich in eine -- +unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlägt, +findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai +1863. Dort heißt es: + +„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, wenn dem Arbeiter Boden, +Kapital und Arbeitsprodukt gehört[26], von einer Lösung der sozialen +Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch +annähernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung +geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. Bei der ländlichen +Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein +Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der +Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich +genau und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk schreibe, sehr +explizit nachweisen.” + +Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der +vorstehenden Sätze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die +Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier +gleichgültigen Zwischensatz lasse ich fort): + +„Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation wird dann der +Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’, +ist jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu verstehen. Ich +verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz +stattfinden könnte. + +Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw. +Äckern würden doch zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die +Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen +Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben. + +Allein schon daraus allein, daß einer in der Gesellschaft mehr hat als +sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, daß ein andrer weniger haben muß, +als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns +dieselbe übereinstimmend (vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen +Briefes) denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen würde. + +Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgültigen +Lösung der sozialen Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier +immer als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem ‚mehr oder weniger’ +unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich ländlich oder industriell +unter beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen kann, +während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen mit derselben +Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungünstigeren mit derselben +Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wäre +der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivität, der +bestimmt wird durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum +zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht. + +Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes können Sie das unmöglich +bestreiten. + +Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation +Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall +sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes +Arbeitsprodukt.” + +Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier gar nicht mehr möglich. Die +„Idee”, welche Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt, +ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der +Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen +oder der Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich durchaus dessen +bewußt, daß, solange der letztere den Verteilungsmaßstab bildet, ein +Bruchteil der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise +weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten +Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter +Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen zunächst +eine neue Ungleichheit schaffen würden. Gerade mit Rücksicht darauf +habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines +Vorschlages das Wort „Lösung der sozialen Frage” sorgfältig vermieden +-- „nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern +aus jenen theoretischen Gründen”. + +Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, daß die +Ungleichheit bei den ländlichen Assoziationen durch eine +differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden könne, welche „die +ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hände des Staats bringen, den +Arbeitern nur den wirklich gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll -- +die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer würde die +Bezahlung bilden für die Überlassung der Bodenfläche an die +assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heißt -- „schon aus +Gerechtigkeit und Neid” von den ländlichen Assoziationen +„leidenschaftlich begünstigt werden”. Der Staat aber hätte an dieser +Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, öffentliche +Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen +solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, daß sobald die +Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer großen +Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhören +und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden +würde. „Würde hiermit nicht zugleich getötet werden, was man heut +Überproduktion und Handelskrise nennt?” + +Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der +Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthält keinen +Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr +wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung +irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der +Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfüllung gehen +kann, aber nicht notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht, +solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt +wird. Und selbst wenn sie in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus +nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder der einzelnen +Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine größere oder +unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts +erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. Es +stände immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse. + +Hören wir noch einmal Rodbertus. + +Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel +des „Neuen Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß Lassalle der +„weitgehendsten Richtung des Sozialismus” angehört habe, und meint, +das sei wohl richtig, es sei + + „aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und der (Neue) + ‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine Produktivassoziation angestrebt + haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher der + Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören sollte, nur daß + Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu + sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es + ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar). + Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt, + setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ voraus. Wie soll also + jene ‚weitgehendste Richtung’ mit einer solchen Assoziation + vermittelt werden können?” + +Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation +als „provisorische Institution” gedacht werden könne, und +fährt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die +Produktivassoziation, die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ in der +Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als Übergangszustand zu jenem +‚weitgehendsten’ Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gemäß, +würde er nicht zu allgemeiner Brüderlichkeit, sondern zu dem +schärfsten Korporationseigentum zurückführen, in welchem nur die +Personen der Besitzenden gewechselt hätten, und das sich tausendmal +verhaßter machen würde, als das heutige individuale Eigentum. Der +Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben +niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt +ziemlich über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale +Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum. +Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die +Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei +Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die +Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum +zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen +gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem +Führer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ Ziel +anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” (Briefe usw. von +Rodbertus-Jagetzow.) + +Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen lassen, weil er Lassalle +vielleicht am objektivsten gegenüberstand und in seiner Auffassung vom +Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl +niemand so eingehend mit Lassalle über die Produktivgenossenschaften +diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch +nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der „Lösung der +sozialen Frage” hatte, nämlich den Normalwerksarbeitstag und den +verhältnismäßigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der +Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet, +wenn er sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle +wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel, +und weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem „Mob” -- worunter er +den ganzen Troß der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits +zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte, +stellte er das ihm ungefährlicher scheinende Postulat der +Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf. + +Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz über Franz +von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er +„listete” mit der „Idee”, wie es in jenem Aufsatz heißt, und +täuschte die Freunde mehr, als die Feinde. Aber er tat es, wie +Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenüber +Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu +verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel +zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schluß ziehen, +daß Lassalle nicht von der Güte seines Mittels durchaus überzeugt +war. Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so +eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie +sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung in bezug +auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: „Kurz, ich begreife nicht, +wie man nicht sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat ausgehend, +der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren führt.” -- +Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser +Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen +Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel +schwerwiegender wäre, als der eines theoretischen Irrtums. + +Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit +der Zweck, dem diese dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der +sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzügen bereits +enthalten, daß hier in der Tat -- worauf er so großes Gewicht legte -- +„das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen” +sei. Nun ist ja auch tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück +Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit, +und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die +Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen Befreiung der +Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den +Zusammenhang mit dem großen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation +verlorenging, möglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht +nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr die Einheitlichkeit des +Gedankens bei ihm im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen, +welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser für ihn nicht der +jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände +war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch +jeweilige historische Einflüsse zwar beeinträchtigt, dessen ewige +„wahre Natur” aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher +Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der +Staatshilfe mehr als eine bloße praktische Maßregel zu erblicken +und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des +Sozialismus, eine selbständige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29]. +Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in +engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen +Lohngesetzes. Sie fußt auf denselben ökonomischen Voraussetzungen. +Kurz, es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß. + +Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an die Richtigkeit seines +Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so +unbestimmt wie nur möglich äußerte. Er, der in dem schon zitierten +Aufsatz über den „Franz von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte, +welche Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten Zwecke der Bewegung +andern (‚und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim +zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen +„sittliche Schuld” erblickt hatte, die seinen Untergang herbeiführen +mußte, den Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm +vertretenen Idee, ein „Abweichen von seinem Prinzip”, ein „halbes +Gebrochensein” -- er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen +dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck +zuzuspitzen. Die Entschuldigung, daß man diesen Zweck dem „Mob” noch +nicht sagen durfte, oder daß die Massen für ihn noch nicht zu +gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen für das wirkliche +Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese +überhaupt verfrüht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn +erlangt, nicht zum Ziele führen. In den Händen einer Arbeiterschaft, +die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag, +konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als nützen und mußten +die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden +Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer liefern. War aber die +Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen, +dann mußte dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit +noch nicht als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes Ziel +hingestellt zu werden, aber nicht nur der Führer, sondern auch jeder +der Geführten mußte wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß es +nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wäre dadurch nicht +mehr vor den Kopf gestoßen worden, als es durch den Kampf um das +Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der +Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz +handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung mit Recht, „sind +zu täuschen, Klassen niemals.” + +Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär erscheint, der sei auf die +Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit +will ich zum Schluß auf dieses Thema übergehen. + + +Fußnoten: + + [24] „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des ehernen + Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung ist von mir später + gesondert in das Buch „Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes” + (erster Teil der Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des + Sozialismus”, Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden. + + [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc + „entlehnt” -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner + Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung + zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit dem ersteren + hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbständigkeit der + Assoziation gemein. + + [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen + Briefe heißt es „nicht gehört”. Das „nicht” beruht aber, wie + sich im folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem + Abdruck des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463). + + [27] D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über einen gewissen + Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt nicht bewirtschaftet wird, + weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte + Arbeit abwirft. + + [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen von Henry George, + Flürscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der + Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir früher gesehen haben, + jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern + müßte. + + [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle + z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur Arbeiterfrage” den sogenannten + Manchestermännern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß + sie, wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden in der + Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, daß + die Manchestermänner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft + untergehen lassen wollen. + + + + +Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. + + +Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation können hier nicht +dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen +Werkes annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, vorderhand +nur die allgemeinen Züge der Bewegung hervorzuheben. + +Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst nur zum Teil die Wirkung, +die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in +Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze liest sich mit solcher +Leichtigkeit, daß es dem Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon +jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk, +sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu +verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben. +Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden +bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft +ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen +in Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und Industrieorten am +Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge +eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie +namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus +der Zeit vor und während der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das +Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf +längere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt und +betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Führer der +Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion. + +Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen und außerhalb Preußens +anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen +wahren Sturm erregt -- nämlich einen wahren Sturm der Entrüstung, der +leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so groß vorgekommen, so +erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und +nun wurde ihnen plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen +Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, das ihnen das +Volk bisher entgegengebracht, unwürdig erwiesen hätten und daß daher +jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder +Arbeiter, ihnen den Rücken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung +verträgt keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in +einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die +Feindseligkeiten zwischen ihr und der preußischen Regierung hatten +allmählich einen Höhegrad erreicht, daß eine gewaltsame Lösung des +Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mußte man sich auf das +Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, daß +die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe, +hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten können, das Volk, das +politisch denke, stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht +hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. Denn wenn die +Fortschrittler auch keine große Lust hatten, Revolution zu machen, an +Drohungen mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen[30]. + +Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne, +der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen, +man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser +Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte? +Das hieß ihnen Unmenschliches zumuten. + +Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr +Möglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu +lassen, und die nachträgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser +Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist, +um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. Die Art der Gegenwehr +nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. Daß +die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion +hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf +gemacht werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal nicht bestreiten, +daß Lassalles „Antwortschreiben” zunächst Wasser auf die Mühle der +preußischen Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu beschränken, +Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine +starke Position, oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken +Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner +Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und +entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit +hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht zugleich mit einer so +riesigen Dosis von Selbstüberhebung gepaart gewesen wäre. Lassalles +einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte +getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des +Staats gegenüber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil +unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die +platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen +Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaßen sie so sehr +alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst früher in bezug auf die +nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben +hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die +Übertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen +Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen +über Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten +Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszüge aus der 1858 +erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausführungen Schulzes in +seinem „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” -- eine +Zusammenstellung von sechs Vorträgen, die letzten davon bestimmt, +Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Während +dort es als eine der schönsten Wirkungen der selbsthilflerischen +Assoziationen bezeichnet wurde, daß sie den Unternehmergewinn +herunterdrücken hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft ein +solches Ding wie Unternehmergewinn” gar nicht kenne und also +auch natürlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und +Unternehmergewinn. Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und b) +Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenüber +solcher „Wissenschaft” brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu +sein, um mit ihr fertig zu werden. + +Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz seiner packenden +Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenüber nicht den +Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des „Offenen +Antwortschreibens” gleich der der von Luther an die Wittenberger +Schloßkirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits +erwähnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunächst +auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in +Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen +„Arbeitertag des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, in einer +zum Abschluß derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer +Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, für +das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne +Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in +Anwesenheit von Delegierten aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln, +Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und +Frankfurt a. M.), der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet, +auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten +demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte. +Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische, +was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den +Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an die Gründung eines allgemeinen +Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen +gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der +Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich +die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten für +die Person des Präsidenten, der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar +sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten +konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche +Präsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenüber Lassalles +ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte Annahme der Statuten nicht +durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde +Lassalle zum Präsidenten erwählt, und nachdem man ihm noch die Befugnis +zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen +Vizepräsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an. +Er war somit anerkannter Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber +blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhängerschaft +beschränkt. Drei Monate nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des +Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wäre das ein gar +nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz +andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer +Propagandagesellschaft, sondern der Führer einer Massenbewegung sein. +Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern. + +Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine +wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war +das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht +sechs Wochen alt, da trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige +Erholungsreise an -- zunächst in die Schweiz, dann an die Nordsee. +Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine +rege Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für den Verein zu +gewinnen, wobei er übrigens nicht sehr wählerisch vorging, aber gerade +das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ er ruhen. +Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafür, daß der Verein +wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, obwohl es +ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begnügte sich mit +gelegentlichen Subventionen an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten +Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” und den in Leipzig von +einem Eigenbrödler, Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”, +womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten wurden, ohne +jedoch deshalb aufzuhören beständig zwischen Leben und Sterben zu +schweben. + +Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der +vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den bürgerlichen +Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem +Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute war, wie bereits erwähnt, +stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium, +andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches Mißtrauen gegen +Lassalle davon abgehalten, sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder +andere hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei +von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein +beitraten, ließen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und +verhielten sich im übrigen durchaus passiv. Dafür agitierten zwar andere +Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse +hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretär des Vereins, Jul. +Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für +den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den +Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit der +unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des +Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem +Verfassungskampf in Preußen als ein fast unübersteigbares Hindernis, so +daß an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft +die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel +unpolitischer Natur, Gründung von Unterstützungskassen usw., das +Werbegeschäft fördern solle. + +Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser +Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den +Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation +usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, daß der +Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ändern mußte. Er würde +aufgehört haben, eine jederzeit disponible politische Maschine +abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert. + +Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit +der er bei seiner Rückkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und +zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm am günstigsten erwiesen +hatte. Es ist dies die Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter +Abgeordnetentag”. + +Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in +Barmen, Solingen und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in +seiner Agitation. Welche Einflüsse während der Sommermonate auf ihn +eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden können, indes wird +man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin Hatzfeldt und ihre +Verbindungen schließt. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein +noch größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als +dieser selbst; für sie ging das Interesse am Sozialismus vollständig auf +im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie überhaupt erst +zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre +große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet, +die wohl versprachen, seinem persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu +verschaffen, die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade +kompromittieren konnten. Für sie war eben die Bewegung Lassalle und +Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille +der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigennützigen Freunde +sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber +obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen +Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbständigen +Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie +bestärken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und +Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf +jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als +der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache für dieses +Unrecht, sie hetzen und schüren und intrigieren -- alles in bester +Absicht, aber zum größten Schaden dessen, für den es vermeintlich +geschieht. + +Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so +sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf +Erfahrung überlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab +er viel auf ihren Rat; er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen +Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schluß seiner Laufbahn +geschriebenen Briefe an die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die +Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des +Präsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe. +Das ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle hätte wohl auch +ohne die Gräfin das Präsidium angenommen. Aber in solchen Situationen +läßt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was +man selbst möchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. +Die Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es +liegt der Schluß mehr als nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge +getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preußens damals +vorbereiteten. Es sei nur an die Erklärung Lassalles in seiner +Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon vom ersten +Tage, wo er seine Agitation begann, gewußt habe, daß Bismarck das +allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklärung, +daß, als er das „Offene Antwortschreiben” erließ, ihm „klar” war, +daß „große auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es +unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. Er stellt es zwar dort so +hin, als ob dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse mit +sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber +gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die +„Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus „diplomatischen +Quellen” über die Vorgänge in Regierungskreisen zugingen. + +Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als Lassalle +selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und +stillen Diplomatie abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf verfallen, +hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich +als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an +Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um +jeden Preis zu erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament und +seinem hochgradigen Selbstgefühl nur zu bereitwillige Unterstützung. +Inwieweit damals schon die Fäden angeknüpft waren, die später Lassalle +ins Palais des Herrn von Bismarck führten, läßt sich heute nicht mehr +feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede +„Die Feste, die Presse usw.” für den Druck niederschrieb, an seinen +Freund Levy richtete: „Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein +paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst +beweisen, daß an diesen Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die +Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die +teilweise sehr übertrieben sind, während dagegen dem Minister Bismarck +unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und +der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so +meistert hier der Demagoge die ersteren. + +Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, nachdem sie den Landtag +nach Hause geschickt, die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche +die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger zweimaliger +Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inländischen Zeitung oder +Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche Wohlfahrt +gefährdender Haltung zeitweise oder dauernd” zu verbieten. Die +liberale Presse, ausschließlich in den Händen von Privatunternehmern, +hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der Dauer der +Preßordonnanzen überhaupt nichts mehr über die innere Politik zu +schreiben. Das war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es war auch +nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es +hinstellt. Lassalle übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht +beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaßten +Blätter der Opposition geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene +oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der +Begründung der Preßordonnanz hatte es ausdrücklich geheißen: + + „Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse derselben (d. h. der + liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon + deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die + meisten der oppositionellen Organe durch eine langjährige Gewöhnung + des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden + Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu + bekämpfen ist.” + +Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf ankommen ließen, +verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Möglichkeit, +andere Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen +abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maßregel wurde also gerade +durch dies zeitweilige Schweigen über die innere Politik vereitelt. +Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. Lassalle +meint in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich hätte verbieten +lassen, wenn der Spießbürger nicht mehr beim Frühstück seine gewohnte +Zeitung bekommen hätte, dann würde die Erbitterung über die +Preßordonnanzen im Volke aufs höchste gesteigert worden sein und die +Regierung sich gezwungen gesehen haben, nachzugeben. Indes, die +Erbitterung war nicht minder groß, wenn der Spießer zwar seine gewohnte +Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben +vordemonstriert wurde, daß seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er +zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt. + +Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, die nicht aufrechtzuerhalten +war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein +Provisorium, und die liberalen Blätter hatten gar keine Ursache, während +desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrückt -- „mit Ehren +zu sterben”. + +Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe +spiegelten diese Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle drückt das +so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die reaktionären Blätter wußten +damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren kaum +hinreichenden Ausdruck zu geben.” Und er zitiert als Beweis die +„Berliner Revue”, das Organ des reaktionärsten Muckertums. + +Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, ihren Angriffen auf die +liberale Presse ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, sich zu +gebärden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen. +Statt jedoch gegen diese Fälschung des sozialistischen Gedankens zu +protestieren und jede Solidarität mit ihren Urhebern zurückzuweisen, +leistete Lassalle dem Spiel der Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre +Blechmünzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab. + +Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute ein Geldgeschäft ist, ein +großer Übelstand, ein mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen +Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das kapitalistische +Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten +durch beschränkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten +Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die +Freiheit der Presse ermöglicht. Davon aber wollte die preußische +Regierung nichts wissen, und Lassalle unterstützte ihren Widerstand +noch, indem er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber zugleich +erklärte, daß diese ohnmächtig sein würde, das Wesen der Presse +umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen würde, +Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde die Presse nämlich aufhören, +eine lukrative Geldspekulation zu sein, und würden wieder nur solche +Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl und das geistige +Interesse des Volkes kämpfen. + +Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos +dieses Mittel wäre? Lassalle hätte nur seine Blicke über den +Grenzbereich des preußischen Staates hinaus nach England und Frankreich +zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu +überzeugen. In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen +eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, während in Frankreich +den Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber +durch eine hohe Steuer fast unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert +war. War deshalb die französische Presse besser als die englische? +Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit +nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem +Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse für seine Zwecke +zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse +Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel höherem Grade +dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war. + +Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine +Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen +Lebens bezeichnet werden muß. War der Zeitpunkt auch schlecht gewählt, +war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und für sich bleibt +die Tatsache, daß die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein +kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die +Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden muß, soll sie sich vom +Einfluß der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber +war, was Lassalle über die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863 +Bismarck zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß die Feste weiter +nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die +Regierung, wie sie in Frankreich und England unter ähnlichen +Verhältnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren, +so mußte er hervorheben, daß mit den Festen allein noch nichts getan +war, daß, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die +Regierung um keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte er +sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse über die Feste zu +wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen suchte, +noch zu überbieten. Niemand, der die Geschichte der preußischen +Verfassungskämpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der +Lassalleschen Rede lesen können, ohne sie zu mißbilligen. + +Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu +Frankfurt a. M. zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wäre +berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo +er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den +deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen -- +wir haben gesehen, wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” das +„Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen und Preußen als den +reaktionärsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn +Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel +getrieben hätte, wie die Fortschrittler, nur daß er nach der andern +Seite hin liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe gegen +Bismarck und die preußische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe +direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie +„mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” über die +Beschlüsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis +aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler alte Weiber seien. +Noch ein Passus der Rede zeugt von der veränderten Frontrichtung +Lassalles. + +Der Führer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den +Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut, +wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft der Volkspartei und +die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionären +Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk sei nicht bloß einmütig, +sondern auch so gemäßigt bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche +nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann, +keine Verantwortung dafür habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, +welche, weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung greife.” + +Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung eine zwar recht +lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. „Wir +wollen keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen unsere Hände in +Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und +dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, wenn man wirklich die +ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider +zugleich auch sehr gebräuchliche Art zu drohen -- so gebräuchlich, daß, +wie gesagt, über den Sinn der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich +war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht +verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die +Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern +um ihnen zu drohen für den Fall, daß es zu einer Revolution oder einem +Staatsstreich kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn +von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen: +„Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals +dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege käme, es den +Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis +zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution! +Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor.” + +Und „die ganze Versammlung erhebt in großer Aufregung ihre Hände”, +heißt es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht über die +Rede. + +Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” bedeuten? Es war kaum eine +andre Auslegung möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn nicht +direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es „auf diesem +oder jenem Wege” zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. Eine solche +Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die +Fortschrittler, statt sie vorwärtszutreiben, erst recht kopfscheu zu +machen. + +In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten. +Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu +unterbrechen, wurden von exaltierten Anhängern desselben mit +Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse löste der +Bürgermeister eine halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf +Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das andere ausbringenden +Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck +aufgab, das mit den Worten beginnt: „Fortschrittlicher Bürgermeister hat +soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen +und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene +Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst”, und mit +der „Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß. + +Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung +angeführt werden kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten der +Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttäuschung über die +verhältnismäßig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen +Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige, +aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre +-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt, +so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend +geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- daß Lassalle, als er +nach Deutschland zurückkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich +so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches +Telegramm hätte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn +einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, und der +seiner inneren Überzeugung nach sicherlich sich noch für einen solchen +hielt. Wenn nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste Taktgefühl +Lassalle verbieten müssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt +herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann. + +Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflösung +der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, so +folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung unternommene Schritte, +die ebenfalls den politischen Grundsätzen, als deren Vertreter Lassalle +auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem +in enger Verbindung mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht. + +Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch +gemacht haben sollten, waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen +Gefängnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen +Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, +unterstützt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an +den König von Preußen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige +Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu +seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, „wie wenig entmonarchisiert” +das Volk in Preußen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen +hatte: „Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als +zu Demokraten”, er, der als Führer der neuen Bewegung doch vor allem die +Pflicht hatte, seinen Anhängern das Beispiel demokratischen Stolzes zu +geben, ermuntert sie, vom König von Preußen Begnadigung zu erbetteln. +Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am 20. +April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte Klings, daß gegen +Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Sämtliche +Hauptmitglieder des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. „Die +beiden von hier Verurteilten gehören zu der entschiedensten +Arbeiterpartei und würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht zu +bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen +widerstreitet, Sr. Majestät verpflichtet zu sein.” + +Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er +schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem Stolz. +Aber den Gedanken der Adresse an den König gab er noch immer nicht auf, +sondern suchte nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch der +Verurteilten von großem Nutzen sein könne. Es kann, heißt es wörtlich, +„vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn die Adresse +von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte +oben eine -- für uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche +man sich um so mehr ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an die +Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein +Schritt, den man, wie Ihnen der beigefügte Leitartikel der +ministeriellen Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) zeigt, +oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. Indes auch diese +Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des +empfohlenen Schrittes zu überzeugen, und so blieb der Bewegung diese +Bloßstellung erspart. + +Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurückkehrte, ging er +zunächst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt für seine Sache zu +erobern. Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter Berlins”, ließ ihn +in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter +den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam +geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte +der Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” und „Reform”) +über die rheinischen Versammlungen anknüpft, war der Erfolg doch +zunächst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in +Berlin fanden in kleineren Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött +Anlaß, und als in der ersten größeren Versammlung Lassalle auf +Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde, +klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der +Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der +Vorträge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen +bald wieder ab, so daß der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis +auf über 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 +kaum noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein ein großer +Teil Nichtarbeiter waren. + +Neben der Agitation beschäftigten Lassalle auch sehr stark seine +Prozesse und sonstigen Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm dem +Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen +die Fortschrittspartei kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in +Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges Werkzeug +gebrauchen ließ. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren +Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu überschütten. +Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen +Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch „mürbe” zu bekommen. +Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede +„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und erhob gegen Lassalle +Anklage auf Verletzung der §§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches +(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung +von Anordnungen der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle +unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster +Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, +mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefängnis. +Wegen der Flugschrift „An die Arbeiter Berlins” erhob die +Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle +und ließ auch, wie bereits erwähnt, Lassalle in Untersuchungshaft +nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides, +Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persönlichen Rachsucht des +Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr +vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bös zerzaust +hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. März 1864 vor dem +Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht +weniger als drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen +Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat +lautete, auf Freisprechung und überwies die Behandlung der +untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verstöße gegen +das Strafgesetz der zuständigen Gerichtsabteilung. + +Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist ein wichtiges Dokument für +die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie +eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen Arbeit Lassalles +zu erwähnen, die Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein +propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden muß. Es ist dies die +Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische +Julian, oder Kapital und Arbeit”. + +Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, die +Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und +unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” als +Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation veröffentlichte. Diese, +aus den plattesten Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie +zusammengesetzten Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe, +den auf der Höhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei, +die in ihm ihren ökonomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu +vernichten. Berücksichtigt man, daß Lassalle zu systematischen +ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment, +wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk machen wollte, +durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man +außerdem in Betracht, daß Lassalle, während er den „Bastiat-Schulze” +schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten für die Leitung des +Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin, +in diesem Buch einen neuen Beweis für das außergewöhnliche Talent, die +staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des Lassalleschen Geistes +zu erblicken. Freilich trägt der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs +deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik +der Popularität der Schrift zugute kommt, sind die Umstände, unter denen +diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so +größer war, als Lassalle wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine +falsche Position geriet -- die Enttäuschung einerseits, und das +Bestreben, sich über diese Enttäuschung selbst hinwegzutäuschen, +andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. Aber auch +inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Höhe des Gegenstandes, +sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein +nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche +und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht +frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen hat der „Bastiat-Schulze” +jedoch das große Verdienst, den historischen Sinn und das Verständnis +für die tieferen Probleme der Ökonomie unter den deutschen Arbeitern in +hohem Grade gefördert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung +auf die Höhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen +Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf. + + +Fußnoten: + + [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war, + noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen + Eindrücke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- überall wurde + in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir Knaben nur + in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer + Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschüler gehörten den + bürgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber + die einen wie die andern waren gleich fest davon überzeugt, daß eine + Revolution „kommen muß”, denn „mein Vater hat es auch gesagt”. + Jede Äußerung der Wortführer der Fortschrittspartei, die als + ein Hinweis auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde + triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse + auf den König und seine Minister. + + [31] So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles gegen + Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach Befriedigung” + seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen für dieselbe Sache” + falsch. Beides fällt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs + dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber lustig, + daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und + tierischer Arbeit darin erblicke, daß die erstere Arbeit für künftige + Bedürfnisse sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren + Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, daß der Mensch mit + Bewußtsein, das Tier ohne solches tätig sei. Und ähnlich an anderen + Stellen. + + + + +Lassalle und Bismarck. + + +Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen und geschrieben +hat, trägt immer deutlicher die Züge der inneren Ermattung, der +geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprüngliche, +das natürliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die +Stärke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man +vergleiche das „Arbeiterprogramm” mit der Ronsdorfer Rede, die +Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter” mit der +Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, und man wird das hier Gesagte +verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke treten an +ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische +Beweisführung, und statt zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer +mehr auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern +vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten +Erfolgen. + +Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die +Behauptung der Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation die +schließliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit großem Geschick +das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt +zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von +„Wallensteins Tod”: + + „Wär's möglich? -- könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte? + Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?” + +Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation +um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser +jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, wie der Friedländer -- um +sein eigenes Bild zu brauchen -- „Dinge getan, welche er à deux mains +verwenden konnte”. Er hatte sich nicht damit begnügt, die Vorgänge in +der inneren und äußeren Politik objektiv zu studieren, um den günstigen +Moment zur Aktion für seine Pläne auszunützen, er war bereits dazu +übergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen die er +kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte +Unterhandlung getreten. Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein +sagen: + + „Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam + Nicht über diese Schwelle noch!” + +Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch +innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu +treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht die Versuchung von +sich wies”? + +Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende +Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck +hatte, ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die langjährige +Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer +1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche +Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern +derselben unter Hinzufügung der näheren Umstände mitgeteilt, und als +August Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom 16. September 1878 die +Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags +darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte +nur in Abrede zu stellen, daß es sich dabei um politische +Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen +der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es drehte sich bei diesen +Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um +Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die +Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Fürst +Bismarck war für diesen Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er +weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung +des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der +schleswig-holsteinische Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei. +Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen +zwischen Lassalle und dem Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der +letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich +ausdrücklich konstatieren muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte +und erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu +können.” Darauf antwortete nun Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten +sich gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umständen +aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so +ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung +einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht gekommen.” Er habe es „mit +einem gewissen Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert. +Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er „von deren +Unzweckmäßigkeit noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die damals +eingetretenen politischen Ereignisse die Fortführung der in dieser +Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht er, +sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, ihn brieflich darum +gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu +herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren. „Was hätte mir +Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In +allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du +gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man +anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, was +kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als +Minister hätte geben können.” + +Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der „offiziell noch nie gelogen” +hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloßen +Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und +würde dieser nicht den „revolutionären Juden” wiederholt -- er selbst +gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, während Sophie Hatzfeldt +behauptet hatte, daß es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche +gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert +haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in +der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche +nachzulesen, um sich zu überzeugen, wie stark sich das Ministerium +Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht +einzuführen, und dazu gab es unter den obwaltenden Umständen kaum +einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert +in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige +Äußerungen und knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten +Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte mit Bismarck +bekannt geworden, richtig gewürdigt werden können: + +„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte +Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen! + +Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich +Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es +vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt! + +Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust +zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr +mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine +und direkte Wahlrecht oktroyiert. + +Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf +dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen +mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene +Notwendigkeit gegründet sind. + +Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird +vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die +Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht +ist oktroyiert!” + +Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewußt, „schon +an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erlaß meines +Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand +entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffaßte”. Aber wenn es +auch zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter 1862/63 in +Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es möglich sei, durch +eine Änderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu +sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32], +so würde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer +bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben +und immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn er nicht aus seinen +Unterhaltungen mit Bismarck die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun +vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, diese Oktroyierung +beschlossene Sache sei. + +Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, daß es +zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen +schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen überzeugt hatte, +daß Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt +unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer +möglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die +Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, geht schon daraus +hervor, daß Lassalle fortfuhr, von allen seinen Veröffentlichungen usw. +durch das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” ein +Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift +„persönlich” an Bismarck übersenden zu lassen. + +Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß seine Verhandlungen mit +Lassalle wegen des „do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen führen +konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachträglich +protzenhaft mit der Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel geben? Er +hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Bismarck +hatte es zu jener Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe +brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache +war nur die, daß es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles +Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, daß +Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: „Sie +können unsre Bevollmächtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. Sie +können sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen, +während wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen über diesen +Punkt, aber lügen schickt sich für uns nicht” -- nach seiner Rückkehr +nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge übertrieb. Er +wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit +wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre +Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie es +in Wirklichkeit mit der Bewegung stand. + +Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst seine eigne Bewandtnis. +Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren +darüber, daß er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen +politischen Verbündeten haben würde, solange dieses Bündnis im +Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern +Worten, daß Lassalle genau so mit ihm verfahren würde, wie er mit +ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald er das +von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mußte ihn die erste +Unterredung mit Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie +Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein Fisch ohne Gräten” +war, sondern ganz gehörige Gräten und Stacheln hatte. Mit der +Aussicht auf ein Pöstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da +nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle +leicht sehr unbequem werden, also warum sich übereilen? Die Agitation +Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger +gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck +brauchte. + +In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter”, +gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklärt: + +„Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die Einführung des +Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, daß sie dem deutschen +Bürgertum zur Last falle?... Die preußische Regierung ist es, nicht die +besitzenden Klassen in Preußen, welche für alle Zeiten und vor allem +Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten +Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: „Bourgeoisie und Arbeiter +sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre +Unterdrücker” -- d. h. also gegen die Regierung. + +Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. März 1864 -- ist ihm der +Verfassungskonflikt in Preußen nur noch der Kampf zwischen dem +Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” könne das Königtum +nicht weichen, „vollkommen wohl” aber könne es „das Volk auf die +Bühne rufen und sich auf es stützen. Es brauche sich hierzu nur +seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich +Volkskönigtum gewesen.” + +„Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der +Bourgeoisie könnte dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch aus +seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des +Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen +ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.” + +Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im weiteren Verlaufe seiner +Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung +als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt. +Niemand lasse aber „gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband +drehen, an welchem er erwürgt wird, und das ist niemand zu verdenken, +und daher auch dem Königtum nicht”. Beständig auf das angebliche +„Recht” hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, daß es mehr +in seiner Stellung läge, sich auf das wirkliche Recht zurückzuziehen +und das Volk auf die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen und +von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband +winden zu lassen, an dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle, +sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung gestürzt und das +allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der +intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte. + +Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur durch die Tatsache seiner +Agitation -- was unter Umständen nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion +vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die +Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch immer mit +Wallenstein ausrufen: + + „Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht + Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!” + +Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar +machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck +abschütteln zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal der +Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck seinen „Bevollmächtigten”. Aber +er vergaß, daß es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker ist als +selbst der stärkste individuelle Wille, und daß, indem er überhaupt +um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu +vertrauen und ausschließlich ihr seine Energie zu widmen, er nach +seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab. + +In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles +über die Grundidee seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: mit +der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen Schwenkung war +Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz +als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es +ist merkwürdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal +vorgezeichnet hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende +Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke durch diplomatische +Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen +Gegner -- die preußische Regierung -- zu täuschen, aber er täuschte +tatsächlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er +nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp +persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie Lassalle von Sickingen +schreibt, daß „dieser große Diplomat und Realist, der alles sorgsam +vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen will, gerade dadurch +zuletzt gezwungen ist, dem zufälligsten Zufall alles anheim zu +geben”, und, „während die Rechnung auf jene Täuschung durch den +Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen an der bewußten Natur des +Bestehenden zugrunde gehen muß, die Entscheidung, statt wie er +wollte, aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus denen des +ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen muß”[33] -- so sieht +auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit dem Zufall +zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen in der inneren und +äußeren Politik abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine +realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, daß beim +Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler +lahmzulegen, der die meisten Trümpfe in der Hand -- beim politischen +Spiel, der über die meisten tatsächlichen Machtfaktoren zu gebieten +hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war, +konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich mehr Bismarcks, als +dieser sein „Bevollmächtigter” wurde. + +Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, „die +Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen +des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine +schwächste Agitationsrede, ausschließlich auf den äußeren Effekt +berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede bewußt war, +zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den überall +eingestreuten Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze -- Krücken, +deren ein Vortrag, der an Hand und Fuß gesund ist, durchaus entbehren +kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar +beeinträchtigen würden. Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der +Vorzüge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen +deren Fehler. + +Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz +nach tadelnswerter als alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen. + +Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die +Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin +geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe gegen die Übelstände, +unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da +es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte, +auf Veranlassung Bismarcks vom König empfangen worden und hatten auf +ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König habe seine Minister +angewiesen, „eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig +und mit allem Ernst vorzubereiten”. + +Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang +der Deputation von Seiten des Königs als einen Erfolg seiner +Agitation hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich war, +niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere Übertreibungen in +der Ansprache, erklärte sich auch diese aus der Situation Lassalles. +Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der +Deputation durch den König und den Worten des letzteren eine +Auslegung, die zunächst nur als eine Reklame für jenen und dessen +Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der +offiziösen „Zeidlerschen Korrespondenz” über den Empfang der +Deputation beim König und liest gerade die dem Königtum günstigste +Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrücklich +verzeichnet, „mit dem höchsten Nachdruck der Stimme und begleitet +sie mit der eindringlichsten Handbewegung”[34]. + +In den Worten des Königs liege, erklärt er, „die Anerkennung des +Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” -- +nämlich, daß eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung +notwendig sei -- ferner, „das Versprechen des Königs, daß diese +Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die +Gesetzgebung erfolgen soll”, und drittens, da „eine +Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz +erwählte Kammer, dem Könige niemals die zu diesem Zwecke +erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn die +Sache ohne Geld zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu einem +solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in dem königlichen +Versprechen, „innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen” +auch „das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden”. + +Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, welche diesem +ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ... +zugehört” habe, in einen „nicht zu beschreibenden Jubel” ausbrechen, +der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu +sprechen versuchte. + +War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, daß die Arbeiter Lassalles +Auslegung des königlichen Versprechens für bare Münze nahmen, das +schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte. + +Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in +Betracht kamen, diese nur durch möglichst glänzende Ausmalung der +bisher erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit für den +Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere +Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine +in der „Kreuzzeitung” erschienene Rezension des „Bastiat-Schulze”, +die nach Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, als daß die in +ihr an Lassalle gerichteten Fragen hätten unbeantwortet bleiben +dürfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes +ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und läßt die Erwiderung und zwei +Exemplare der Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck senden. +Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck +zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche +Jubel” sollte Köder für Bismarck und den König sein. Aber niemand +kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu +gestalten, daß sie den gewünschten Effekt nach oben mache, bewirkte, +daß sie tatsächlich einen durch und durch cäsaristischen Charakter +erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus: +Cäsarismus in den Reihen der Partei, und Cäsarismus in der Politik +der Partei. + +„Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres, +nichts Unintelligenteres,” heißt es in der Einsendung an die +„Kreuzzeitung”, „als der unruhige, nörgelnde liberale +Individualismus, diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser +unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit, +sondern wurzelt notwendig und naturgemäß nur in den Viertels- und +Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie. + +Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage +angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die +Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner würden hier in +diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehört zu werden. Der +oligarchische Boden allein ist der homogene, mütterliche Boden für den +negativen, ätzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und +ihre subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.” + +Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen: + +„Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe +ich zu erwähnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit +und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser +Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein +epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte, +da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen +Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines +Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt +oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis +zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein ‚Nein’ +gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut +habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit +beruhende!... Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den +Arbeitern Worte gehört, die sich in den Satz zusammenfassen: +Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer +zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen, +zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige +Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit dem Hammer! + +Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar +betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten, +Freiheit und Autorität, -- die höchsten Gegensätze, sie sind auf das +innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im +kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen darstellt. Nicht +eine Spur ist in uns von jenem nörgelnden Geiste des Liberalismus, von +jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von +welchem der Körper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...” + +Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der +nämlich, daß in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen +Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf +die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und daß in der Tat schon die +Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist +der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, während umgekehrt der +Bourgeois nur unter anormalen Verhältnissen, nicht aber durch die bloße +Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion +sich veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt aber durch die +obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion +heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; wo die Masse ihren +Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus +einem revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden. Die persönliche +Diktatur ist in den Kämpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der +Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionären +Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den „negativen, ätzenden +Individualismus” aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein +Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefährdet erscheint. In +solchen Momenten wird das Schlagwort von der „einen reaktionären +Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung sich +verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich +unfähig fühlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern +unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persönlichkeit +ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser +Persönlichkeit entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden +Individualismus”. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den +letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die +Partei, die tatsächlich am konsequentesten deren Klassenforderungen +vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren +Interessen, weil sie durch ihre „Nörgelei” die staatserhaltende +Tätigkeit der Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre 1851 +die französische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter +jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum +Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten +usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der +Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloßen Hüters +der Ruhe und Ordnung für die Bourgeoisie zu begnügen. + +Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat absolut keinen Anlaß, +ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das +„Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber zu verzichten. Und wir +haben bei der Solinger Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle +den Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz pochte, er +gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und +kräftiges „Nein” hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum +Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten +Anlaß ein ebensolches „Nein” gehört -- er sprach, wenn er sich +rühmte, in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und Freiheit” in +der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen +Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus. + +Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß er von Anfang an die +persönliche Spitze für unerläßlich gehalten hatte. Zu diesem bloßen +Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis hinzu. Die Politik, die +er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder +und Anhänger der Bewegung kritiklos dem Führer folgten und ohne Murren +taten, was er von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen +des Königs von Preußen gegenüber den schlesischen Webern in einer Weise +behandelte, daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt den +Demokraten -- man möchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das +übrige aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so mußten auch sie +bereit sein, auf Kommando das Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn +eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag, +so ist es die Tatsache, daß sie für Lassalle unter den gegebenen +Verhältnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die +Arbeiter je nach Bedürfnis für seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu +haben, und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, um nach oben hin +als eine bündnisfähige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige +Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr +möglich. + + +Fußnoten: + + [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert. + Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schlußwort einer + Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck + und tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer Sitzung des + konservativen preußischen Volksvereins vom 2. November 1862: „Meine + Herren, täuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn + sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu + lösen, so ist all Euer Laufen und Mühen umsonst. Ich schließe deshalb + mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und + Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch + mehr Energie, treiben wir es nicht bloß für die Zeit der Wahlen.” + + [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen + Schriften dem für das große Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum + Franz von Sickingen angefügt (vgl. Bd. I). + + [34] Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst baldigen + gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhülfe ihrer Not + entließen Seine Majestät die Deputation. Das königliche Versprechen + wird erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges + widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue + Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.” + + + + +Lassalles letzte Schritte und Tod. + + +Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere +Vereinsleitung als auch was die geplante nächste äußere Aktion des +Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. Im +Verein drang er auf die Ausstoßung Vahlteichs, der in bezug auf die +Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei +nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so daß den Vereinsmitgliedern +kaum etwas anderes übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn +Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit +höchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich +gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise +zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens +erst kennenlernen mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder bereits +gegen ihn beeinflußt waren. + +Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge zur Abänderung der +Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken +an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache +hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst +bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein +letzter Versuch, „einen Druck auf die Ereignisse auszuüben”, +mißglücken sollte. + +Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in +Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben +von Dänemark eroberten Herzogtümer Schleswig-Holstein. + +Als im Winter 1863 der Tod des Königs von Dänemark die +schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrängt hatte, hatte +Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung +stand und deshalb ein großes Interesse daran hatte, je nach derjenigen +Politik, für die die preußische Regierung sich entschloß, den Verein +Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den +„Schleswig-Holstein-Dusel” Stimmung gemacht[35] und eine Resolution +ausgearbeitet und überall annehmen lassen, in der erklärt wurde: + + „Die einheitliche Gestaltung Deutschlands würde die + schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser + großen Aufgabe gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in + Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben ein ausländischer + Fürst ist, von verhältnismäßig sehr untergeordnetem Interesse.” + +Im übrigen enthält die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine +Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die +Einverleibung der Herzogtümer in Deutschland „nötigenfalls mit +Waffengewalt” durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der +Hut zu sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen +Aufgaben abziehen”. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird +der Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit +benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage +abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen +sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember +1863. + +Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es handelte sich um die Frage, +was mit ihnen geschehen solle. Ein großer Teil der Fortschrittler trat +für die legitimen Ansprüche des Herzogs von Augustenburg ein, während +man in maßgebenden Kreisen Preußens auf die Annexion der Herzogtümer in +Preußen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien +hatten, zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in Deutschland noch +einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache, +der zur Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs +zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches +Taktgefühl verloren, daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine +große Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution +beschließen zu lassen, des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die +Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und der übrigen deutschen +Staaten an Preußen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte +bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu +welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs +gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung +entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausführung des Vorhabens +gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer +demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren +Führer glücklicherweise erspart. + +Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch einen Prozeß ausgefochten, +in die Schweiz gegangen. Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad, +und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Fräulein Helene von +Dönniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht +und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen +hatte. Es entwickelte sich im Anschluß an den Besuch jene Liebesaffäre, +deren Schlußresultat der frühzeitige Tod Lassalles war. + +Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre sind heute so bekannt und +die für Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affäre so +über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine Wiedererzählung des +ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte +sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er +entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen +gelernt haben -- man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre im kleinen und +auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen +Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dönniges +das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, +das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den +mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner Persönlichkeit gelingen +muß, diese Schwierigkeit zu überwinden. Selbstbewußt, und zugleich mit +umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er +seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern +und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie +mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines, +unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der +jungen Dame erfahren die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung +und erklären, Lassalle unter keinen Umständen als Schwiegersohn annehmen +zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph +wird nur um so größer sein, je größer der Widerstand der Eltern. Von +diesem Selbstbewußtsein getragen, begeht er einen Schritt, der die +Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum +Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen selbst +an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein +anderer. Und ohne Rücksicht darauf, was er sich und seiner politischen +Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es für ihn +nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das +Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges +beobachten und über jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch die +Vermittlung Hans von Bülows wird Richard Wagner ersucht, den König von +Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dönniges zu +intervenieren, während dem Bischof Ketteler von Mainz der Übertritt +Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen +Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht +die geringsten Gedanken darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen +Mission war, die er übernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu +antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch +kümmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten würdig +erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur +Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er hätte stolz sein +dürfen, wo er stolz sein mußte, war er es nicht. + +Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts +tun, weil Helene von Dönniges protestantisch war, und der +Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswärtigen an +den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm, +führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, daß er durch die Art +seines Vorgehens sich und das Weib, für das er kämpfte, in eine total +falsche Position gebracht hatte. Obwohl er gewußt hatte, daß Helene +jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug für sein +zukünftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- „erhalten Sie mir +Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist”, hatte +er am 2. August an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr +jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste Willensstärke erforderte, +und war empört darüber, daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen +suchte. Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, die Dinge +ausschließlich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen +zu betrachten, hatte er ganz außer Erwägung gelassen, daß gerade die +unterwürfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ändern, +und sah den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste Spiel” einer +„verworfenen Dirne”, wo weiter nichts vorlag, als die Unbeständigkeit +eines verwöhnten Weltkindes. + +Indes, er war nervös total heruntergekommen und besaß längst nicht mehr +die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu +Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und +Hölle in Bewegung zu setzen, die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen +oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft, +sondern eines hochgradigen Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel +von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach den übereinstimmenden +Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich +auf ein stark zerrüttetes Nervensystem. + +In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die erlittene Niederlage +ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu +verschaffen für die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So töricht +das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden +Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affäre spielte, +ist das Duell das reinigende Bad für allen Schmutz und allen Schimpf, +und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besaß, sich im Kampf um +irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschränken, welche sich für den +Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft +schicken, so war es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich +erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu +verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell +gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der +verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der +erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit +die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte. + + +Fußnoten: + + [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten Dr. Dammer, + an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus + widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wörtlich geheißen: + „Die erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der ganze + Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht höchst unangenehm ist.” + Der Widerspruch in den Telegrammen erklärt sich jetzt durch die + widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war, + ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei. + + + + +Schlußbetrachtung. + + +So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles, +seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so, +vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein +Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt, +war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit +hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr +problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der +er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben. + +Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl +getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen +wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert +worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt. + +Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt +hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich +seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst +anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl +hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent +weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf +diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen +lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß +genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz +hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte, +ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten +Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu +Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel, +geben?” + +Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen +ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland +niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen, +bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”, +selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution +beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts +geändert haben würde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht +war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges +genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt +des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen +an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „... Ich muß noch vorher in +Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich +wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage +und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel” +von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses +Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige +Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck +kommen. Sie lautet: + +„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich +nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur +genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben. + +Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher, +als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft +und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde +ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste +Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel +sähe, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich für mich schickt; +denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber +bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium +übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig. +Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre, +mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!) + +Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam +entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und +chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane +Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus +besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse +auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht +versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon! + +Ach könnte ich mich zurückziehen!” -- + +In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig +und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte +Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die +jene resignierten Sätze diktierten. + +Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am +3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorläufigen +Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph. +Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung für „Mr. Ferdinand +Lassalle professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte +Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk +von der Hand des alten Freiheitsveteranen: + +„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhängnisvollen Jahre +1864 hier mitteilte, er fühle seine Kraft aufgerieben, müsse Einhalt +machen; er habe geglaubt, er vermöge die sozialistische Bewegung in +etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, daß +es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht +hinreichend fühle, namentlich werde er die bevorstehenden +Gefängnisstrafen nicht überdauern können. Hierauf gab ich ihm den Rat, +sich unter bewandten Umständen irgendwo einen festen Wohnsitz zu +gründen, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er +dem Gesetz gemäß einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das +Bürgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden hätte. +In der Zwischenzeit könnte er natürlich beliebige Reisen machen. +Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11. +August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.” + +Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate. + +Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an +ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um +Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend +des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und +setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente +von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von +jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen +Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten +Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den +Arbeiterstand zum Siege führen”. + +Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles +Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken +zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre +gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den +Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu +räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen +politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich +zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die +Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen, +sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei, +wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So +liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch +sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in +seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit +stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich +in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür +gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht +darüber im „Nordstern” erschien. + +In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten +-- so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte, +er stets das Ich hatte vorangehen lassen. + +Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte +es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber +ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit +wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus. + +Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser +Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im +hohen Grade fördernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten +Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so +mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind, +gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht +ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob +Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein +anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß +zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer +Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über +diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener +hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers +in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte +anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen +Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und +konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen, +aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur +großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende +entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte, +während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung, +die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit. + +Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr +begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für +den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent +geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte +hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große +agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene +Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende +für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen +Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der +Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie +in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verständiger +Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der +aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in +ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon +Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in +seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen +hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche +Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten +zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des +Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das +äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen +aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine +Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare +Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die +Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug +auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben. + +Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre +Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen +doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug, +zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer +Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst +aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch. +Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die +er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in +dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die +Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche +anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik +fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen +irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der +Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent +im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft; +kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines +Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß +von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner +sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die +bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war +unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an +Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner +bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit +den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch +konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus +Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle +nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die +verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter +denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden, +einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie +getan. + +Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat +langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden +wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich +oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie +heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen +sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der +Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften +von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne +Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der +Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das +Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb. + +Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende +Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl +Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und +Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da +sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten, +ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und +dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so +bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der +Arbeiterbewegung. + +Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne +Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung +darunter litt, und darum sei es hier erwähnt. + +Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher +von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute +hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht +in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu +untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des +einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht, +und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat +keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre +Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher +auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt +darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in +Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich +gefördert haben. + +Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße, +als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders +gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für +die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben +Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit +andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht +wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein. + +Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der +Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele +Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab +sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die +Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung +und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft. + +Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig +wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es +bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und +brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber +wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so +gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat, +-- so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur +erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er +hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen +Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen +politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den +Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein +eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein +vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung +des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der +Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins +für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun +gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der +Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als +nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen +Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime +Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes +und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war +freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da. +Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen. +Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich +gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land +geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen +zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen +ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine +politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten +auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. +Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es +im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen +deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen _organischen_ Weg +gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden +Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das große, das unvergängliche +Verdienst Ferdinand Lassalles. + + + + + +--------------------------------------------------------------------+ + | Anmerkungen zur Transkription | + | | + | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide | + | Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: | + | | + | anderm -- anderem | + | andern -- anderen | + | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein | + | eigne -- eigene | + | garnicht -- gar nicht | + | heut -- heute | + | Testamentrecht -- Testamentsrecht | + | Vermittelung -- Vermittlung | + | Verständniß -- Verständnis | + | | + | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: | + | | + | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. | + | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. | + | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert. | + | S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert. | + | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert. | + | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert. | + | S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert. | + | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert | + | (Fußnote). | + | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert. | + | S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt. | + | S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt. | + | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert. | + | S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt. | + | S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote). | + | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert. | + | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert. | + | S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14). | + | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert. | + | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert. | + | S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt. | + | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert. | + | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert. | + | S. 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt. | + | S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert. | + | S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht. | + | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert. | + | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert. | + | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert. | + | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert. | + | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert. | + | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert. | + +--------------------------------------------------------------------+ + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE *** + +***** This file should be named 44722-0.txt or 44722-0.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/7/2/44722/ + +Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +(This book was produced from scanned images of public +domain material from the Google Print project.) + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Ferdinand Lassalle + Eine Wrdigung des Lehrers und Kmpfers + +Author: Eduard Bernstein + +Release Date: January 20, 2014 [EBook #44722] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE *** + + + + +Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +(This book was produced from scanned images of public +domain material from the Google Print project.) + + + + + + +--------------------------------------------------------------------+ + | Anmerkungen zur Transkription | + | | + | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ markiert. | + | Informationen zu Korrekturen befinden sich am Ende des Texts. | + +--------------------------------------------------------------------+ + + + + + FERDINAND LASSALLE + + EINE WRDIGUNG + DES LEHRERS UND + KMPFERS + + VON + + EDUARD BERNSTEIN + + + VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN + 1919 + + + ALLE RECHTE VORBEHALTEN + COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN + + + _DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_ + + + + +Inhalt. + + + Seite + + Vorwort 5 + + Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7 + + Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, die Assisenrede + und der Franz von Sickingen 27 + + Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66 + + Das System der erworbenen Rechte 114 + + Der preuische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden + und das Arbeiterprogramm 145 + + Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das + Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186 + + Der konomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. + Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften + mit Staatskredit 213 + + Grndung und Fhrung des Allgemeinen Deutschen + Arbeitervereins 235 + + Lassalle und Bismarck 263 + + Lassalles letzte Schritte und Tod 285 + + Schlubetrachtung 293 + + + + +Vorwort. + + +Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre +1891 verfat, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung +Vorwrts veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften +Lassalles. Der Umstand, da ich zu jener Zeit noch in London lebte, +dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und da +aus buchhndlerischen Grnden die Ausarbeitung der Schrift in einer +ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mute, hatte verschiedene +Mngel zur Folge, die ich spter oft bedauert habe. + +Da nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte +Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen +berzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik +vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der +Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an +und ber Lassalle bercksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das +Bild des groen Lehrers und Kmpfers ganz wesentlich einheitlicher zu +gestalten, als es frher vor uns stand. + +Lassalle als Vorkmpfer zu wrdigen war die besondere Aufgabe der +Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer +Begrnder verehrt, _fr_ die Partei, also namentlich auch fr +bildungsdrstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf +zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Fhrer der von ihm 1863 +neu ins Leben gerufenen Partei in mglichster Klarheit zur Anschauung zu +bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschrnkung zur Folge, als das +literarhistorische Moment ziemlich zurcktreten mute. Die Schrift +beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der +Warte des auenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen +behandeln. Aber dafr glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur +Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des +Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen +und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer +Fhrer der sozialistischen Demokratie. + +_Berlin-Schneberg_, im September 1919. + + _Ed. Bernstein._ + + + + +FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE + + + + +Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung. + + +Seit es herrschende und unterdrckte, ausbeutende und ausgebeutete +Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren +gegeben, haben sich Staatsmnner und Philosophen, Ehrgeizige und +Schwrmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder +Beseitigung des Ausbeutungsverhltnisses in Vorschlag brachten. Will man +alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so +ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hlt man sich jedoch an +bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloe Verlangen nach einem +Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so +hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner +frheren Epoche nur soviel gemein, da er wie jener der geistige +Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen gefhrten Klassenkmpfe +seiner Zeit ist. berall drckt die Struktur der Gesellschaft, auf deren +Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf. + +Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der +kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz +zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der +schon verhltnismig frh in der Geschichte in wirklichen Kmpfen zum +Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kmpfenden selbst +in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen +die privilegierten Stnde der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem +Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Brgertum +zunchst veranlat, sich als den Anwalt der Interessen aller +Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die +Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Krfte notwendiger Einrichtungen +jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange +Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit +diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgeme, +vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das +aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den +zunftbrgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheiungen der +brgerlichen Wortfhrer so lange fr bare Mnze, als das Brgertum +ausschlielich Opposition gegen die Vertreter der stndischen +Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch +soweit zurckgedrngt, um an die Verwirklichung seiner eigenen +Bestrebungen gehen zu knnen, so stellt sich bald heraus, da die +hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen +Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und +Beschtzer, und es kommt zu Zusammensten, die um so heftiger +ausfallen, je grer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist +jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es +wird mit rcksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf +lange Zeit wieder vom Schauplatz zurck. + +Dies war der Fall in allen brgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. +und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche +Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhltnisse in +diesem Jahrhundert nahm, nderte jedoch auch das Verhalten des +Proletariats gegenber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr +auergewhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und +Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den +vorgeschrittenen Lndern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen +an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die +brgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom +proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine +antibrgerliche sozialistische Literatur. Verhltnismig unbedeutende +Reibereien im Schoe der Bourgeoisie, ein bloer Konflikt eines ihrer +Flgel gegen einen andern aber gengten, um die tatkrftigeren Elemente +des Proletariats als selbstndige Partei mit eigenen Forderungen in die +Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Brgertums in +England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in +Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber +sozialistische und proletarisch-revolutionre Bewegungen ein, die +zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation +zurckbleiben. + +Literarisch und propagandistisch schlgt die Bewegung in den vierziger +Jahren nach Deutschland hinber. Schriftsteller und Politiker, die +entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat fr eine +Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des +Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche +Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, +bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurck und kolportieren +sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionre +Propagandagesellschaften gegrndet und schlielich, am Vorabend des +Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem +Programm, das mit unbertroffener revolutionrer Schrfe und +Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie +kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, da die besonderen +Verhltnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunchst noch die +Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute +Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionre Kleinbrgerei +zu kmpfen. + +Die Februarrevolution in Frankreich und die Mrzrevolution in +Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch +unterwhlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ groen +Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort +lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhltnis, bereits +die tatkrftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhltnisse waren +in Frankreich, trotz seiner politischen und konomischen berlegenheit, +der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel gnstiger als in +Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbuerliche Grundsatz vor, +whrend in den Stdten und Industriebezirken zwar die groe Industrie +bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die +Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in +Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere +Handwerk, wenn es auch aufgehrt hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon +meist fr den Groindustriellen arbeitete, noch eine verhltnismig +groe Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk. +Dementsprechend hatte der franzsische Sozialismus selbst dort, wo er +sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen +einen stark kleinbrgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und +die furchtbare Lehre der Junischlacht nderten daran nichts. Sie gaben +dem utopistischen Sozialismus bei den franzsischen Arbeitern den +Todessto, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der +Proudhonismus. + +In dieser relativen Unreife der konomischen Verhltnisse liegt die +Erklrung fr die sonst unbegreifliche Tatsache, da, whrend es damals +in Frankreich von Sozialisten wimmelte, whrend ber 200 Mitglieder der +Deputiertenkammer sich Sozialdemokraten nannten, die bonapartistische +Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte. + +In Deutschland war die Unreife natrlich noch grer. Die groe Masse +der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbrgerlichen, sondern +teilweise sogar in direkt zunftbrgerlichen Anschauungen. Auf +verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief, +wurden die reaktionrsten Vorschlge diskutiert. Nur eine +verhltnismig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits +die revolutionre Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese +berall in den vordersten Reihen der Volksparteien kmpfte, wenn sie, wo +immer sie konnte, die brgerliche Demokratie vorwrtszutreiben suchte, +so zahlte sie die Kosten dafr an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten +des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in +Baden, sie fllten die Gefngnisse, oder muten, als die Reaktion auf +der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein groer Teil von +ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das +Frhjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen +unterschiedlos aufgelst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten +noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung gnstigerer Zeiten +ganz von der ffentlichkeit zurck, oder verphilisterte und schlo sich +an die ihm adquate Fraktion des brgerlichen Liberalismus an. Letzteres +gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schngeistigen, +halb sansculottischen wahren Sozialismus, der mit so vielem Lrm +aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger +eingeschchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse +mit selbstndigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der +radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender +Bourgeoisphilantropen. + +Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten +mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umstnden vor +sich gegangenen Wandlungen bereinstimmt. Der Fehlschlag der +erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England +die Wirkung, da der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley, +Ludlow sich in den Vordergrund drngte und einen Teil der Arbeiter +veranlate, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu +suchen -- nicht nur ihre konomische, sondern auch ihre +moralische, ihre Befreiung vom Egoismus, vom Klassenha߫ +usw. Wenn nun diese >christlichen Sozialisten< auch mit ihren +Bestrebungen weder selbstschtige, persnliche Zwecke verbanden, noch +die Geschfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen +besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern, +soweit ihr Einflu reichte, doch zunchst die der Ablenkung derselben +von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische +Entmannung. Soweit es gelang, den Klassenegoismus zu vertreiben, +trat in den meisten Fllen an seine Stelle ein philistrser +Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes +Bildungs-Pharisertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits +verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernchstliegenden +Interessen, whrend die Reste der Oweniten sich meist auf die +sogenannte freidenkerische Propaganda werfen. + +In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen, +welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionren Bhne +drngte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. Der rege politische +Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderla +nicht sofort erttet werden. Es versucht sich, wie Marx im 18. +Brumaire schreibt, jedesmal wieder vorzudrngen, sobald die Bewegung +einen neuen Anlauf zu nehmen scheint. Indes seine Kraft war gebrochen, +es konnte selbst nicht einmal mehr vorbergehend siegen. Sobald eine +der hher ber ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionre +Grung gert, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle +Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber +diese nachtrglichen Schlge schwchen sich immer mehr ab, je mehr sie +sich auf die ganze Oberflche der Gesellschaft verteilen. Seine +bedeutenderen Fhrer in der Versammlung und in der Presse fallen der +Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren +treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinre +Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine +Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen +groen Gesamtmitteln umzuwlzen, vielmehr hinter dem Rcken der +Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschrnkten +Existenzbedingungen, seine Erlsung zu vollbringen sucht, also notwendig +scheitert. (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.) + +In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der +Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer greren +Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben +ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in +nennenswerter Weise selbstndig zu bettigen. Whrend die brgerliche +Philanthropie in Vereinen fr das Wohl der arbeitenden Klasse sich +mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen +harmlosen Dingen beschftigte, nahm sich ein kleinbrgerlicher +Demokrat, der preuische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der +selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur +Lsung der sozialen Frage zu gelangen, bei welchem lblichen +Unternehmen ihm gerade die konomische Rckstndigkeit Deutschlands +in ermunterndster Weise zustatten kam. + +Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften +weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; +diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt +werden, mit der Groindustrie zu konkurrieren. Da nun die Groindustrie +in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafr aber eine groe +Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister +der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die groe Industrie +angepat hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr +ausschauten, so mute bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden +fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die +Groindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemchtigt +hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproten denn die Kredit- und +Rohstoffvereine frhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von +Kleinbrgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone +des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern +als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom +Kapital. + +Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband +Schulze-Delitzsch ursprnglich mit der Propaganda fr die +selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische +Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem +Klasseninstinkt vertrglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der +Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehrte, die +Linke der preuischen Nationalversammlung, von der ffentlichen Bhne +zurckgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten +Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte +sie, als die preuische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte, +bis auf weiteres das Feld gerumt. Sie ballte die Faust in der Tasche +und lie die Reaktion sich selbst abwirtschaften. + +Kleinbrger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbrger mit liberalen +Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, +als er von der Reaktion gemaregelt worden war, eine Idee aufgegriffen, +die damals allgemein in der Luft lag. Assoziation hatte der Ruf der +Sozialisten in den dreiiger und vierziger Jahren gelautet, +Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegrndet, Assoziation +dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der +liberale Kreisrichter Schulze nicht auch fr Assoziationen sich +erwrmen? + +Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben +werden, so seien hier nur aus einer 1858 verffentlichten Schrift +Schulze-Delitzschs einige Stze zitiert ber die Wirkungen, die er von +den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der +Arbeiter erwartete: + +Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die +Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschfte ihrer bisherigen Genossen +den Unternehmern machen, auch fr sie von den gnstigsten Folgen. Denn +mu nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer +zum Vorteil der Arbeiter rcksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen? +Sind nicht die Inhaber der groen Etablissements dadurch gentigt, ihren +Arbeitern mglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst +riskieren, da dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen +bertreten, oder gar selbst eine dergleichen grnden, wozu natrlich die +geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden? +-- Gewi, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den +Arbeitgebern Konkurrenz bieten, lt sich ein dauernder Einflu auf die +Lohnerhhung, auf eine gnstigere Stellung der Arbeiter im ganzen +ausben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir frher +gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanitt niemals +allgemein und mit Sicherheit erreicht ... + +Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den +Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Grounternehmer +hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, da sich die enormen +Gewinne derselben, welche sie frher ausschlielich zogen, vermindern, +weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen mssen. Whrend +also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen +annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und +mehr, und die Zustnde beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen +Wohlstandes zu nhern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem +Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswchsen unserer +Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mchte wahrer Kultur +erblicken ... + +Nur darauf kommen wir immer wieder zurck: da ehe nicht die Arbeiter +sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen +Unternehmungen wagen und tatschlich die Mglichkeit dartun, da sie es +allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der brigen Klassen, +durchzusetzen vermgen, man sich von seiten dieser wohl hten wird, +ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert +ist, sie in der bisherigen Abhngigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser +Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fhlbaren Grade von ihnen +geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als +Unternehmer entgegengetreten sind, drfen sie auf Beachtung ihrer +Wnsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der +Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten +anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzhlen, whrend sie ihnen bis +dahin fr bloe Nullen galten, die beim Exempel selbstndig fr sich gar +nicht in Ansatz kamen. Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das +Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprche und +Strebungen, mgen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann +erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, da sie in +tatschlichen, lebenskrftigen Gestaltungen sich unabweisbar +hervordrngen. ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und +das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.) + +Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongre, der im Sommer 1862 +tagte, mute Schulze eingestehen, da noch fast gar keine +Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen +bestnden. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschftsleuten +zusammengesetzten Kredit- und Vorschuvereine gediehen, neben ihnen, +aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften. + +Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848 +bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und +nehmen jetzt deren Faden wieder auf. + +Bereits der Krimkrieg hatte der europischen Reaktion einen +empfindlichen Sto versetzt, indem er die Solidaritt der +Regierungen, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. +Die Rivalitt zwischen Preuen und sterreich trat in dem verschiedenen +Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Ruland von neuem zutage, +whrend der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am +Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres strksten +Hortes beraubte. Ruland hatte vorlufig so viel mit seinen inneren +Angelegenheiten zu tun, da es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war, +sich fr die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des +Prinzips halber zu interessieren, es kam fr die innere Politik der +Nachbarstaaten vor der Hand auer Betracht. Zunchst jedoch beschrnkte +sich die Rivalitt zwischen Preuen und sterreich auf kleinliche +Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenber blieben beide +Regierungen vorderhand noch solidarisch. + +Einen zweiten Sto gab der Reaktion die allgemeine Geschftsstockung, +die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperitt 1850 +die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die +Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgngerinnen an Ausdehnung und +Intensitt bertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. berall +grte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, berall +schpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue +Kraft, berall erhoben die Mchte des Umsturzes von neuem ihr +Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am +wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. mit +drakonischen Gewaltmaregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den +Vorwand lieferte; aber als er merkte, da er dadurch seine Position +eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern +Mittel. Er versuchte durch einen populren auswrtigen Krieg sein +Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen +der Carbonari zu beschtzen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer +Verschwrung durch Orsini wissen lassen, da, wenn er sein ihnen +gegebenes Wort nicht einlse, sich immer neue Rcher gegen ihn erheben +wrden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um +dieselbe Zeit nimmt in Preuen mit der Regentschaft Wilhelms I. die +Neue ra ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen +Wunsch beherrscht, sterreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen, +sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Brgertum zu +gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging +auch alles gut. Gerhrt, da er so ganz ohne sein Zutun wieder +Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, berbot sich der brgerliche +Liberalismus in allen mglichen Loyalittsbeteuerungen. Der +Nationalverein wurde gegrndet mit dem Programm: Deutschlands +Einigung unter Preuens Spitze. Preuen wurde die ehrenvolle Rolle +zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen +Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Vlkerfrhling schien +angebrochen und ein viel schnerer als der von 1848, denn er versprach +die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionren Erhebung ist man +nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem +Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte +Masse aufzurufen, alles versprach sich hbsch parlamentarisch +abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem uersten kommen +sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und +Konsumvereine, der Vorschu- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter +von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis +geliefert, welche groe Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten +htten, sie berzeugt, da sie nichts, aber auch gar nichts als die +liberalen Freiheiten brauchten? + +Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus +jener Tage wieder nachliest, dem fllt nichts so sehr auf als die +kolossale Naivett, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die +ber den engen Horizont des aufgeklrten Gewrzkrmers hinausgehen. Man +war sehr gebildet, sehr belesen, man wute sehr viel von altathenischer +Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzhlen, aber die +Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, da der aufgeklrte +deutsche Gewrzkrmer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und +da, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, da es zugrunde gehe. +Mit dieser selbstgeflligen Naivett trieb man es im preuischen +Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den +Sattel gesetzt, und mit dieser Naivett entfremdete man sich die +Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu +Veranlassung gab. Man wute erschrecklich viel Geschichte, aber man +hatte auch wirklich nichts aus ihr gelernt. + +Auf die Ursachen und den Gegenstand des preuischen Verfassungskonflikts +braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der +Liberalismus sah sich pltzlich, er wute selbst nicht wie, im +heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schne Rolle der +Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in +Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorlufig nur Pech, aber +kein Unglck. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden, +da sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten +Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die +nationale Strmung hatte alle Klassen der Bevlkerung erfat; von der +kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrder abgesehen, +berlieen sie namentlich der inzwischen konstituierten +Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preuischen +Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch +immer ihre Elemente, wie unzulnglich auch ihr Programm, in jenem +Zeitpunkt vertrat sie, gegenber der aufs neue ihr Haupt erhebenden +Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr +Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das +Budgetrecht der Volksvertretung. + +Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heit +noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenber auf +jede Selbstndigkeit verzichten. Das fhlten auch die entwickelteren +Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der +Statisten, die ihnen die liberalen Wortfhrer zumuteten, die Kost, die +ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen +dargeboten wurde, unmglich auf die Dauer gengen. Noch waren die alten +kommunistischen und revolutionren Traditionen nicht vllig +ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst +Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von +Mitgliedern ber deren Grundstze aufgeklrt, von ihnen mit +kommunistischen Schriften versehen worden war. Unter diesen, und durch +sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die +Frage zu errtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine +eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch +wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als +eine bloe Kreatur der liberalen Partei. + +Htten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig +aus der Geschichte anderer Lnder gelernt gehabt, es wre ihnen ein +Leichtes gewesen, zu verhindern, da diese Bewegung sich ihnen +feindselig gegenberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der +preuischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem +Gefhl durchdrungen, da sie, da sie ja die Volkssache vertraten, +_das_ Volk, und als Volk der Denker ber die Einseitigkeiten +-- nmlich die Klassenkmpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so +begriffen sie denn auch nicht, da es sich hier um eine Strmung +handelte, die frher oder spter eintreten mute, und da es +nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verstndige Weise +auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, da sie gar nicht +zu fassen vermochten, da die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten, +als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das +Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein +zu erleichtern: Die Arbeiter sollen sich als die geborenen +Ehrenmitglieder des Vereins betrachten -- d. h. hbsch drauen +bleiben -- war in der Tat typisch fr das Unvermgen der +Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als +den denkenden Spiebrger -- ihr Ebenbild, ihren Gott. + +So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger +Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur +Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge +die Anknpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war. + + + + +Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, die Assisenrede und der Franz +von Sickingen. + + +Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in +seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner krperlichen und +geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich, +sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunchst +innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt +Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst, +verfgte ber ansehnliche Geldmittel und einflureiche Freunde -- kurz, +nach landlufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher +vllig unbekannten Persnlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im +Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon +hatte. Trotzdem ging er mit der grten Bereitwilligkeit auf dessen +Wnsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige +Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. +Von anderen Rcksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders +zu ihr hin, da die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte, +da sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse +darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem +Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden +Plnen, das war berhaupt eine Aufgabe, die seinen natrlichen Neigungen +ungemein sympathisch sein mute. Die Einladung traf ihn nicht nur bei +seiner sozialistischen berzeugung, sondern auch bei seinen Schwchen. +Und so ging er denn mit groer Bereitwilligkeit auf sie ein. + +Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie +Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der +Lebensbeschreibungen des Grnders des Allgemeinen Deutschen +Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der fr sie zur +Verfgung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer +Biographie gehrte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die +Persnlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit +seine politisch-literarische und agitatorische Ttigkeit in Betracht +kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rckblick auf den Lebenslauf Lassalles +unerllich, da er erst den Schlssel zum Verstndnis seines politischen +Handelns liefert. + +Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine groe, +man kann sogar sagen verhngnisvolle Wirkung ausgebt zu haben. Wir +sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder +Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, da das +Bewutsein, von jdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaen +noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und da es ihm trotz seines +eifrigen Bemhens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemhens nie +gelang, sich tatschlich ber seine Abstammung hinwegzusetzen, eine +innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, da +Lassalles Wiege im stlichen Teil der preuischen Monarchie gestanden +hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum +Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell vllig emanzipiert waren. Die +Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwrtigkeiten, +unter denen die rmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schtzte +ihn nicht vor den allerhand kleinen Krnkungen, denen die Angehrigen +jeder fr untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter +Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so +selbstbewuten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunchst einen +trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann spter oft in +das Gegenteil umschlgt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen +Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Verffentlichung +gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am +1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein +Tagebuch: + +... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer +der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu +achten. Ich knnte, wie jener Jude in Bulwers >Leila< mein Leben +wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drckenden Lage zu reien. Ich +wrde selbst das Schafott nicht scheuen, knnte ich sie wieder zu +einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Trumen +nachhnge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der +Juden mit den Waffen in der Hand sie selbstndig zu machen. Die +Mihandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den +Ausruf: Ein Volk, das dies ertrgt, ist schrecklich, es rche oder +dulde die Behandlung. Und an den Satz eines Berichterstatters: Die +Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen +Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden knnen, +knpft er die von Brne bernommene Betrachtung an: Also sogar die +Christen wundern sich ber unser trges Blut, da wir uns nicht +erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur +sterben wollen. Waren die Bedrckungen, um deren willen sich die +Schweizer einst erhoben, grer?... Feiges Volk, du verdienst kein +besseres Los. Noch leidenschaftlicher uert er sich einige Monate +spter (30. Juli): Wieder die abgeschmackten Geschichten, da die +Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, +auch in Rhodos und Lemberg. Da aber aus allen Winkeln der Erde man +mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, da +die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns +helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. Die Wrfel liegen, es +kommt auf den Spieler an. + +Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert, +aber die Wirkung, die solche Jugendeindrcke auf die geistigen +Dispositionen ausben, bleibt. Zunchst wurde der frhreife Lassalle +durch den Stachel der Torturen, von denen er schreibt, um so mehr +angetrieben, sich fr seine Person um jeden Preis Anerkennung und +Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die +Unterdrckung der Juden durch die Christen bald politischer +Revolutionr. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen, +folgende, von merkwrdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: Ich +wei nicht, trotzdem ich jetzt revolutionr-demokratisch-republikanische +Gesinnungen habe wie einer, so fhle ich doch, da ich an der Stelle des +Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begngt htte, +Genuas erster Brger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand +ausgestreckt htte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte +betrachte, da ich blo Egoist bin. Wre ich als Prinz oder Frst +geboren, ich wrde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich +blo ein schlichter Brgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat +sein. + +Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den +sechzehnjhrigen Lassalle veranlat, den vorbergehend gefaten +Entschlu, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und +von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universittsstudium +vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle +von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig +geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, +Lassalle hat selbst seine bersiedelung vom Gymnasium auf die +Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorbergehender Vorliebe fr +den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen +Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater +nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu mssen, welche er -- nach seiner +Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der +Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer +Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem +mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je +radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der +Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule +bezogen, und schon am 3. August hofft er, da der Zufall ihn +eines Tages aus dem Kontor herausreien und auf einen Schauplatz +werfen werde, auf dem er ffentlich wirken knne. Ich traue auf den +Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den +Haupt- und Strazzabchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als +mit Indigo und Runkelrben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als +mit Krmern und ihren Kommis zu beschftigen, mich mehr um die +Freiheit, als um die Warenpreise zu bekmmern, heftiger die Hunde von +Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, hchstes Gut wegnehmen, +als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwnschen. +Aber beim Verwnschen soll's nicht bleiben, setzt er noch hinzu. Zu +dem Radikalismus kommt der immer strkere Drang, den Juden in sich +abzuschtteln, und dieser Drang ist schlielich so energisch, da, +als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen unwiderruflichen +Entschlu mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin +oder Jura zu studieren, weil der Arzt wie der Advokat Kaufleute +sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben. Er aber wolle studieren +des Wirkens wegen. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht +einverstanden, er willigte aber ein, da Lassalle sich zum Studium +vorbereite. + +Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so +weit, sein Maturittsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, +geht aber dann zur Philosophie ber und entwirft den Plan zu einer +greren philologisch-philosophischen Arbeit ber den Philosophen +Herakleitos von Ephesus. Da er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand +der Untersuchung auswhlte, von dem selbst die grten Philosophen +Griechenlands bekannt hatten, da sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz +richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen der Dunkle erhielt, +ist wiederum in hohem Grade bezeichnend fr Lassalle. Mehr noch als die +Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorlufer anerkannt hatte, +reizte ihn das Bewutsein, da hier nur durch glnzende Leistungen +Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwhnten Trieb, jedermann +durch auergewhnliche Leistungen zu verblffen, hatte Lassalle zugleich +das Bewutsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lsen zu knnen. +Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat +ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende fhren lassen, vor denen +tausend andere zurckgeschreckt wren, selbst wenn sie ber die +intellektuellen Fhigkeiten Lassalles verfgt htten, es ist aber auf +der andern Seite zum Anla verhngnisvoller Fehlgriffe und schlielich +zur Ursache seines jhen Endes geworden. + +Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und spter +nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um +die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche, +kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen +Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843 +schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit +Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt +wurde -- Karl Marx war, nachdem die Deutsch-franzsischen +Jahrbcher eingegangen und der Vorwrts sistiert worden war, im +Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brssel bersiedelt +--, darber fehlen zuverlssige Angaben. Wir wissen nur, da er viel +mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in +milichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) groe Dienste +leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjhrigen +Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt. +Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles +Selbstbewutsein auf Heine gemacht hat. + +Nach Deutschland zurckgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die +Bekanntschaft der Grfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren +vergeblich bemhte, von ihrem Manne, einem der einflureichsten +Aristokraten, der sie allen Arten von Demtigungen und Krnkungen +ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermgens +zu erlangen. Man hat ber die Motive, welche Lassalle veranlaten, die +Fhrung der Sache der Grfin zu bernehmen, vielerlei Vermutungen +aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhltnis mit der zwar nicht +mehr jugendlichen, aber noch immer schnen Frau zurckfhren wollen, +whrend Lassalle selbst sich im Kassettenproze mit groer +Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen +Beweggrund dazu veranlat worden zu sein, als den des Mitleids mit +einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem +Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines +bermtigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser +Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den +folgenden Jahren vorbergehend in ein intimeres Verhltnis als das der +Freundschaft zur Grfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist +aber schon aus psychologischen Grnden unwahrscheinlich, da ein solches +Verhltnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Proze +bernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher ist es, da neben der +vielleicht etwas romantisch bertriebenen, aber doch durchaus +anerkennenswerten Parteinahme fr eine verfolgte Frau und dem Ha gegen +den hochgestellten Adligen gerade das Bewutsein, da es sich hier um +eine Sache handelte, die nur mit Anwendung auergewhnlicher Mittel und +Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen groen Reiz auf Lassalle ausgebt +hat. Was andere abgeschreckt htte, zog ihn unbedingt an. + +Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, da der +hochmtige Aristokrat vor ihm, dem dummen Judenjungen kapitulieren +mute. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf +hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich auergewhnliche +Mittel aufwenden mssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur +die Mittel auergewhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen, +auergewhnlicher Schlagfertigkeit und Schrfe in der Widerlegung der +gegnerischen Finten; es waren auch die auergewhnlichen Mittel des +unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Whlen im +ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewhnlicher +Genumensch, scheute vor keinem Mittel zurck, seine Ziele zu erreichen, +und um seine schmutzigen Manver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu +Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die +Aktenstcke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen +von dem Schmutz, der dabei aufgewhlt und immer wieder herangeschleppt +wurde, von der Qualitt der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen. + +Und von den Rckwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im +Hatzfeldt-Proze hat sich Lassalle nie ganz freimachen knnen. Wir +meinen das nicht im spiebrgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine +spteren Liebesaffren, sondern mit Bezug auf seine von nun an +wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheien und zu +benutzen, das ihm fr seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir +meinen den Verlust jenes Taktgefhls, das dem Mann von berzeugung +selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm +vertretenen Grundstzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an +wiederholt und am strksten in der tragischen Schluepisode seines +Lebens sich offenbarende Einbue an gutem Geschmack und moralischem +Unterscheidungsvermgen. Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich +in den Hatzfeldtschen Proze gestrzt, -- er selbst gebraucht in der +Kassettenrede das Bild des Schwimmers: Welcher Mensch, der ein starker +Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes +fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, fr einen guten +Schwimmer hielt ich mich, unabhngig war ich, so sprang ich in den +Strom -- gewi, aber leider war es ein recht trber Strom, in den er +sich gestrzt, ein Strom, der sich in eine groe Pftze verlief, und als +Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft, +mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprnglichen +besseren Instinkte kmpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes, +drngten sie auch wiederholt siegreich zurck, aber schlielich ist er +ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen, +aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, da es nur +gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben, +sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis +einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklren[1]. + +Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunchst noch der Rolle zu +gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat. + +Beim Ausbruch der Mrz-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen +des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, da er sich ursprnglich fast +zur politischen Unttigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der +Proze wegen Verleitung zum Kassettendiebstahl gegen ihn statt und +er hatte alle Hnde voll zu tun, sich auf diesen zu rsten. Erst als +er nach siebentgiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann +er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit +direkten Anteil zu nehmen. + +Lassalle, der damals in Dsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte, +stand natrlich als Republikaner und Sozialist auf der uersten Linken +der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx +redigierte Neue Rheinische Zeitung. Karl Marx gehrte ferner eine +Zeitlang dem Kreisausschu der rheinischen Demokraten an, der in Kln +seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in +nhere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mndlich und +schriftlich mit dem erwhnten Kreisausschu, sandte wiederholt +Mitteilungen und Korrespondenzen an die Neue Rheinische Zeitung und +erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. So +bildete sich allmhlich ein freundschaftlicher persnlicher Verkehr +zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch spter noch, als Marx im +Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde. +Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf +einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes +herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhltnis zwischen +den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. +Was sonst noch einer ber die politische Kampfgenossenschaft +hinausgehenden Intimitt im Wege stand, soll spter errtert werden. + +Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenber nahm +Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der Neuen +Rheinischen Zeitung und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich +ihr forderte er, als die preuische Regierung im November 1848 den +Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Brgerwehr aufgelst +und den Belagerungszustand ber Berlin verhngt hatte, und die +Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums +in Anklagezustand, sowie mit der Erklrung geantwortet hatte, da +dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur +Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung +auf. Gleich dem Ausschu der rheinischen Demokraten ward auch +Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die knigliche +Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen +freigesprochen, aber die immer rcksichtsloser auftretende Reaktion +stellte auerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur +Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben, +um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat +verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre +Berufsrichter -- Lassalle schlielich auch zu sechs Monaten +Gefngnis. + +Lassalles Antwort auf die ersterwhnte Anklage ist unter dem Titel +Assisen-Rede im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich +gehalten worden, und alles, was in verschiedenen lteren Biographien +ber den tiefen Eindruck erzhlt wird, den sie auf die Geschworenen +und das Publikum gemacht habe, gehrt daher in das Bereich der Fabel. +Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben, +und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt +worden waren, beschlo der Gerichtshof, die ffentlichkeit +auszuschlieen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklrung, die +Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja +hchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der +Bestechung veranlat worden, der Gerichtshof den Beschlu aufrecht +erhielt, verzichtete Lassalle berhaupt darauf, sich zu verteidigen, +wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen. + +Ob aber gehalten oder nicht, die Assisen-Rede bleibt jedenfalls ein +interessantes Dokument fr das Studium der politischen Entwicklung +Lassalles. Er steht in ihr fast durchgngig auf dem von Karl Marx drei +Monate vorher in dessen Rede vor den Klner Geschworenen vertretenen +Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste, +ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und +Lassalle. Marx enthlt sich aller oratorischen Ausschmckung, er geht +direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrngter +Sprache, Satz fr Satz, scharf und mit rcksichtsloser Logik seinen +Standpunkt und schliet ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik +der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe +ganz auer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen +politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von +Anfang bis zu Ende, er erschpft sich in -- oft sehr schnen -- Bildern +und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen +Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den +Geschworenen, sondern zu den Tribnen, zu einer imaginren +Volksversammlung, und schliet, nach Verkndigung einer Rache, die so +vollstndig sein wird wie die Schmach, die man dem Volke antut, +mit einer Rezitation aus Tell. + +Noch im Gefngnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnckigkeit +Vergnstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden +pflegten -- so erhielt er, was er spter selbst fr ungesetzlich +erklrte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Grfin Hatzfeldt zu +pldieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Ttigkeit +wieder fast vollstndig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in +Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus fr +politische Freunde und versammelte lngere Zeit einen Kreis +vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vortrge hielt. +Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Proze der +Friedensschlu. Die Grfin erhielt ein bedeutendes Vermgen ausbezahlt +und Lassalle eine Rente von jhrlich siebentausend Talern +sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen +Wnschen einzurichten. + +Zunchst behielt er seinen Wohnsitz in Dsseldorf bei und arbeitete hier +an seinem Heraklit weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen, +u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese +Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der +das politische Leben erloschen war, ausshnen. Es verlangte ihn nach +einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder +erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persnlichkeiten, nach einem +greren Wirkungskreis. So erwirkt er sich denn 1857 durch die +Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preuen von der +Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu +drfen. + +Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle +hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die schmachvolle und +unertrgliche Gewaltherrschaft gebrandmarkt, die ber Preuen +hereingebrochen; er hatte ausgerufen: Warum zu soviel Gewalt noch +soviel Heuchelei? Doch das ist preuisch und vergessen wir nichts, +nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfltig +auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der +Racheschwur, der sich an diese Knochen knpft. (Assisenrede.) Wie kam +er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der +Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim +zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr +rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt, +da Wilhelm Liebknecht fr die grodeutsch-konservative Augsburger +Allgemeine Zeitung schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die +wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschftigten, fr sein gutes +Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewutsein der +Festigkeit seines politischen Wollens fr reine Formsache, da er seine +betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich +da um verschiedene Antrge, der erste 1855 an den Berliner +Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den +damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darber Dokumente des +Sozialismus, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten +machte er Karl Marx gegenber kein Geheimnis. + +Es ist zudem nicht unmglich, da Lassalle durch Verbindungen der Grfin +Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, da sich +in den oberen Regionen Preuens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit +diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle +bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach +London gelangen lie. So teilt er Marx unterm 10. Februar 1854 den +Wortlaut einer Erklrung mit, die einige Tage vorher vom Berliner +Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustnde im +Berliner Kabinett -- der Knig und fast alle Minister fr Ruland, nur +Manteuffel und der Prinz von Preuen fr England -- und die fr gewisse +Eventualitten vom Kabinett beschlossenen Maregeln, worauf es heit: +Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als +wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde httest! Vier +Wochen spter machte er wieder allerhand Mitteilungen ber beabsichtigte +Schritte des Kabinetts, gesttzt auf Mitteilungen zwar nicht aus meiner +>offiziellen<, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle. Am 20. Mai +1854 klagt er, da seine diplomatische Quelle eine weite Reise +angetreten habe. Eine so vorzgliche Quelle, durch die man +kabinettsmig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit +wieder verlieren, ist beraus rgerlich. Aber er hat immer noch +Nebenquellen, die ihn ber Interna des Berliner Kabinetts unterrichten, +und ist u. a. zeitig vorher von Bonins Entlassung usw. benachrichtigt +worden. + +Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre +Berichte mgen auch Lassalles Schritt veranlat haben. Die geistige +Zerrttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit +vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hter der +monarchischen Idee sie noch nicht fr gengend erachteten, des Knigs +Regierungsunfhigkeit auszusprechen, so wute man doch in allen +unterrichteten Kreisen, da der Regierungsantritt des Prinzen von +Preuen nur noch eine Frage von Monaten sei. + +In Berlin vollendete Lassalle zunchst den Heraklit, der Ende 1857 im +Verlage von Franz Duncker erschien. + +ber dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk +gehen die Meinungen der Sachverstndigen auseinander. Die einen stellen +es als epochemachend hin, die andern behaupten, da es in der Hauptsache +nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, da +Lassalle hier fast durchgngig auf althegelschem Standpunkt steht -- die +Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens +als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die +Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende +Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, da sie eine +sehr tchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der +wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen. + +Fr die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges +ist sein Werk ber Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht blo +darin von Bedeutung, da es Lassalle als eben entschiedenen Anhnger +Hegels zeigt. Man kann auch dem bekannten dnischen Literarhistoriker G. +Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer +Ausschmckung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie ber +Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit ber Heraklit als +Schlssel zum Verstndnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es +gilt dies namentlich von Lassalles groem Kultus des Staatsgedankens -- +auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf +Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer +Hinsicht: + +Heraklits Ethik, sagt Lassalle, fat sich in den einen Gedanken +zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: +>Hingabe an das Allgemeine.< Das ist zugleich griechisch und modern; +aber Lassalle kann sich das Vergngen nicht versagen, in der speziellen +Ausfhrung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die bereinstimmung +mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: >Wie in der Hegelschen +Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefat werden als die Realisation +des allgemeinen substantiellen Willens, ohne da bei dieser Bestimmung +im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zhlung +gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der +Kategorie der empirischen Allheit entfernt.< (Vgl. a. a. O. S. 40.) + +Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei +Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie +und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des formellen +Willens der Subjekte darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man +nicht ungestraft in seinem Gemte hegt, und der in der Welt der +Prinzipien das Gegenstck zu dem Kontrast darstelle, der rein +uerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten +Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wsche und seinen Lackstiefeln in +und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit ruiger Haut und +schwieligen Hnden sprach. + +Das ist belletristisch ausgedrckt. Tatschlich hat Lassalles +althegelsche Staatsidee ihn spter im Kampf gegen den Liberalismus weit +ber das Ziel hinausschieen lassen. + +ber Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes: + +Noch eine bereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und +Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefhls und des Stolzes so +leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und +dem Lobe anderer. Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: >Die +greren Schicksale erlangen das grere Los.< Und er hat gesagt, was +das rechte Licht auf diesen Satz wirft: >Da die Menge und die sich +weise Dnkenden den Sngern der Vlker folgen und die Gesetze um Rat +fragen, nicht wissend, da die Menge schlecht, wenige nur gut, die +Besten aber dem Ruhme nachfolgen. >Denn,< fgt er hinzu, >es whlen +die Besten eins statt allem, den immerwhrenden Ruhm der +Sterblichen.< Ruhm war fr Heraklit also gerade jenes grere Los, +welches das grere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre +war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein +durch Reflexion und Philosophie begrndetes. >Der Ruhm<, sagt +Lassalle, >ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das +Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins +berhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in +ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz +selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit +des Menschen<, und mit Wrme fgt er hinzu: >Wie dies der Grund ist, +weshalb der Ruhm seit je die groen Seelen so mchtig ergriffen und +ber alle kleinen und beschrnkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das +der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, da er erst annahen kann +>Hand in Hand mit dem prfenden Todesengel<, so ist es auch der +Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines +spekulativen Prinzips erblickte.< + +Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst +Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begngen. Im Gegensatz zu der +Heraklitischen Verachtung der Menge war er fr den Beifall durchaus +nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr +Hflichkeitsform war, unter Umstnden mit fast naiver Genugtuung fr die +Sache selbst auf. Die Vorliebe fr das Pathos, die sich bei Lassalle in +so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur +Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz +freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, da er aus +dem, was Brandes seine unselige Vorliebe fr den Lrm und +Trommelschall der Ehre, fr ihre Pauken und Trompeten nennt, je +einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt +sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivett etwas +Vershnendes hat. Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift +erzhlt, da Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als +volkserwhlter Prsident der Republik von sechs Schimmeln gezogen +seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder +an eine bertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, da +Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so +fester in dem Herzen seiner Erwhlten festzusetzen hoffte. Indes, die +bekannte schriftliche Seelenbeichte an Sophie von Sontzew beweist, +da es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei +einer migen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte, +sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte, +dessen Zauber einen mchtigen Reiz auf ihn ausbte. Er nennt sich -- +im Jahre 1860 -- das Haupt einer Partei, in bezug auf das sich +fast unsere ganze Gesellschaft in zwei Parteien teile, deren eine +-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle achtet, liebt, +sogar nicht selten verehrt, fr die er ein Mann von grtem Genie +und von einem fast bermenschlichen Charakter ist, von dem sie die +grten Taten erwarten. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie +und der grte Teil der Bourgeoisie -- frchtet ihn mehr als irgend +jemand anders und hat ihn daher unbeschreiblich. Werde die +Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew +nicht verzeihen, da sie einen solchen Menschen heiratete, so werden +auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, da ein +solcher Mensch sie heiratete, sie eines Glckes halber beneiden, das +ihre Verdienste bersteige. Und freilich, ich verhehle es Ihnen +nicht, es knnte wohl sein, da, wenn gewisse Ereignisse eintreten, +eine Flut von Bewegung, Gerusch und Glanz auf Ihr Leben fallen +wrde, wenn Sie mein Weib werden. + +So bertrieben alle diese uerungen erscheinen, so wenig sie +der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer +sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle +vielmehr gesellschaftlich mit den brgerlichen Liberalen und Demokraten +auf bestem Fue stand und soeben eine Broschre verffentlicht hatte, +deren Inhalt mit Aspirationen bereinstimmte, die in Regierungskreisen +gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine groe subjektive Wahrheit inne +-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die +in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorlufig blo aus ihm bestand +und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein fhrte. Die +Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Plne. Jedes Wort der +Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafr hielt, war +fr ihn Besttigung seiner Mission, und nicht selten nahm er +Schmeichelei fr aufrichtige Huldigung. Es ist merkwrdig, welcher +Widersprche die menschliche Natur fhig ist. Lassalle war, wie aus den +Berichten seiner nheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht, +mit schmeichelhaften Adjektiven uerst freigebig, aber sie waren +allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn +selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht fr echtes Gold. + +So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst +verwachsen, da, als er spter wirklich an der Spitze einer Partei +stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen +Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten +vermochte und danach behandelte. Man miverstehe uns nicht. Es wre +absurd, etwa zu sagen, da Lassalle den Allgemeinen deutschen +Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frnen, da der +Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war +berzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wre +nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr +seine Persnlichkeit -- ich sage ausdrcklich nicht sein Leben, +aufzuopfern. + +Soviel an dieser Stelle hierber. + +Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem +der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Dsseldorf +entworfenes historisches Drama und lie es, nachdem eine anonym +eingereichte Bhnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele +abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen. + +Da der Franz von Sickingen als Bhnenwerk verfehlt war, hat +Lassalle spter selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafr +den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht +das Drama, trotz einzelner hchst wirkungsvoller Szenen und der +gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die +Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es +werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft +von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzhlt, da ein +Freund Lassalles, den dieser, whrend er am Franz von Sickingen +arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewhrter metrischer +Knstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das +Stck lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, da +ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. Denn die +Lassallesche Prosa hat wirklich eine Reihe groer Vorzge, und selbst +die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische zu verfallen, +htte in einem Drama wie der Sickingen nichts verschlagen. Aber +Lassalle lie sich nicht von seiner Idee abbringen, da die Versform +fr das Drama unentbehrlich sei, und so stolpern nicht nur seine +Ritter und Helden auf oft recht geschraubten fnffigen Jamben +einher, selbst die aufstndischen Bauern bedienen sich der Stelzen +des Blankverses. Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten +Losungsworten: + + Loset, sagt an: Was ist das fr ein Wesen? + Wir knnen vor Pfaffen und Adel nicht genesen, + +die denn auch wahrhaft erfrischend wirken. + +Indes diese technischen Fragen treten fr uns zurck vor der Frage nach +Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem Franz von +Sickingen ber das historische Drama, wie es Schiller und Goethe +geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen +Kmpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden +liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, whrend die +eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen +und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse +der Zeiten und Vlker zum eigentlichen Subjekt der Tragdie werden, so +da sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die +vielmehr nur die Trger und Verkrperungen der kmpfenden Gegenstze +sind, sondern um jene grten und gewaltigsten Geschicke der Nationen +selbst -- Schicksale, welche ber das Wohl und Wehe des gesamten +allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit +der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu +ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es +mglich, meint Lassalle, den Individuen aus der Bestimmtheit der +Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus +markige und feste, selbst derbe und realistische Individualitt zu +geben. (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit +Lassalle die so gestellte Aufgabe gelst hat und inwieweit sie +berhaupt lsbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die groen +Kmpfe der Menschheit und der Vlker so in Individuen verkrpern +lassen, da nicht das eine oder das andere, die Gre und umfassende +Bedeutung jener Kmpfe oder die lebendige Persnlichkeit der +Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir +hier unerrtert lassen knnen. Es gengt, da Lassalle bei der +Durchfhrung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun +zum Stoff des Dramas selbst. + +Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens +gegen die deutschen Frsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund +und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist +eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in +Anspruch nimmt, der militrische und staatsmnnische oder der +theoretische Reprsentant des niederen deutschen Adels. +Merkwrdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem +letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. Lesen Sie mein +Trauerspiel, schreibt er an Sophie von Sontzew. Alles, was ich Ihnen +hier sagen knnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte +alle Verleumdungen, alle Arten von Ha, jede Feindseligkeit zu ertragen. +Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies, +da sein Schicksal und das meinige einander vollstndig gleich und von +berraschender hnlichkeit sind. Es wrde selbst Lassalle schwer +geworden sein, diese berraschende hnlichkeit zu beweisen, namentlich +um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er fhrte in Berlin ein +luxurises Leben, verkehrte mit Angehrigen aller Kreise der besser +situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt +eines hnlichen Hasses wie der frnkische Ritter, der Urheber der +leidenschaftlichen Streitschriften wider die rmische Pfaffenherrschaft. +Nur in einigen uerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle +und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen, +was tatschlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei +seinem Werke geistig leiten lie. Menschen mit so ausgeprgtem +Selbstgefhl sind in der Regel leicht Tuschungen ber sich selbst +ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns, +wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund +legt, erhalten dadurch fr das Verstndnis des Lassalleschen +Ideenkreises eine besondere Bedeutung. + +Hierher gehrt namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des +kolampadius gegen den geplanten Aufstand: + + Ehrwrd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte. + Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt, + +ein echt Hegelscher Satz, + + Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt! + +Und dann, als kolampadius von der Entweihung der Liebeslehre durch das +Schwert gesprochen: + + Ehrwrd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert! + Ein Schwert, geschwungen fr die Freiheit, ist + Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt, + Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren. + Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet, + Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft, + Den wir noch heut den Groen staunend nennen. + Es ward durchs Schwert das Heidentum gestrzt, + Durchs Schwert befreit des Welterlsers Grab! + Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben, + Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht + Und Wissenschaft und Knste uns geboren. + Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon! + So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet + Das Herrliche, das die Geschichte sah, + Und alles Groe, was sich jemals wird vollbringen, + Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen! + +Es liegt in den Stzen doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt +ewig die Gewalt, und da alles Groe, was sich jemals wird +vollbringen, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde, +unzweifelhaft viel bertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, da das +fr die Freiheit geschwungene Schwert das fleischgewordene Wort +sei, da, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein mu, fr sie +mit dem Schwert zu kmpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche, +wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr +darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr +zeitgem, und nicht nur fr die damalige Epoche, sind auch die +Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slr Sickingen im letzten Akt +zurufen lt: + + O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht + Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten + In groen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_ + Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht, + Wo im Gewhl die Vlker dich nur an + Der Rstung und dem Abzeichen erkennen; + Drum hlle stets vom Scheitel bis zur Sohle + Dich khn in deines eig'nen Banners Farbe. + Dann probst du aus im ungeheuren Streit + Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens, + Und stehst und fllst mit deinem ganzen Knnen! + +Auch der Ausspruch Sickingens: + + Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg. + Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel, + Da eines sich stets ndert mit dem andern, + Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt. + +ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider +hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen +Laufbahn unbeachtet gelassen. + +Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das +Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz. + +Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind +beide Vertreter des sptmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit +der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist +diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das +notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur +beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz +ihre Klasse weit berragen, so ist hier in der Tat das Material zu +einer echten Tragdie gegeben, der vergebliche Kampf markiger +Persnlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit. +Merkwrdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen +Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so +bedeutungsvoll sie doch gerade fr die -- wir wollen nicht einmal sagen, +sozialistische, sondern berhaupt die moderne wissenschaftliche +Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche +Unternehmen an tausend Zuflligkeiten -- Unberlegtheit, Migriffe in +den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schliet mit +den Worten: Knft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache, was +unwillkrlich an den recht unhistorischen Schlu in Gtz von +Berlichingen erinnert: Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stie! +Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt! Begreift man aber, warum +der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des +untergehenden Rittertums zum Helden whlen konnte, so ist es schon +schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre spter, zu einer Zeit, +wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur +Beurteilung der Kmpfe des Reformationszeitalters erffnet hatte, ein +Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin +als die Reprsentanten eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt, +auf dessen Resultaten, wie er sich in der Vorrede ausdrckt, unsere +ganze Wirklichkeit lebt. Ich wollte, sagt er an der betreffenden +Stelle weiter, wenn mglich, diesen kulturhistorischen Proze noch +einmal in bewuter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch +die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu +erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschlo ich mich zu +diesem Drama. + +Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache +des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und fr die +Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des +untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der +aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung +der Verhltnisse in Deutschland nach berwindung der unmittelbaren +Wirkungen des Dreiigjhrigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrngt +und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen +Brgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der +Grndung des neudeutschen Reiches daran erinnert, da er einmal eine so +anstndige Persnlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat -- +den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fnfziger Jahren +und noch spter feierte der Gartenlauben-Liberalismus Hutten und +Sickingen als Vorkmpfer der nationalen und Aufklrungsbewegung und +ignorierte ihre Klassenbestrebungen. + +Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten +und Franz von Sickingen kmpfen lediglich um der geistigen Freiheit +willen gegen den rmischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen +Sache gegen die Einzelfrsten. Was wir wollen, sagt Sickingen im +Zwiegesprch mit Hutten, -- + + das ist ein ein'ges groes, mcht'ges Deutschland, + Zertrmmerung alles Pfaffenregiments, + Vollstnd'ger Bruch mit allem rm'schen Wesen, + Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche, + Wiedergeburt, zeitmige der alten, + Der urgermanischen gemeinen Freiheit, + Vernichtung unsrer Frstenzwergherrschaft + Und usurpierten Zwischenregiments, + Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang + Gesttzt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd, + Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze + Des groen Reichs. + +Und Hutten antwortet: Treu ist das Bild. + +Da Lassalle ausdrcklich den Franz von Sickingen als ein +Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg fr die +Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorlufig ideale -- +Stellungnahme zu den politischen Strmungen der Zeit vollzogen. Es +sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine +Annherung an die Auffassungsweise der norddeutschen brgerlichen +Demokratie, auch gegenber einer konkreten Frage des Tages offenbaren +sollte[3]. + +Der Franz von Sickingen war im Winter 1857/58 vollendet worden. +Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und +begonnen, whrend er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein +Bedrfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in +die er sich bei jener Arbeit einspintisieren mute, mit einem +Gegenstand zu beschftigen, der in direkterer Beziehung zu den groen +Kmpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und +Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich +von Huttens berauscht, als ihn die Lektre eines gerade erschienenen +elenden modernen Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf +Huttens -- wre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne +ursprnglich an sich als ausfhrenden Dichter zu denken, den Plan des +Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, da er es auch selbst +fertig machen msse. Es sei wie eine Eingebung ber ihn gekommen. +Man sprt es dem Drama auch an, da es mit warmem Herzblut +geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich, +dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch ber die ganze +Dramenliteratur jener Zeit. Es htte es keiner der deutschen Dichter +damals besser gemacht als Lassalle. + + +Funoten: + + [1] Auf Vorgnge, die mit Fhrung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses + in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im + Jahre 1855 eine von Dsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach + London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und + Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx + an Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten. + + [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild. + Berlin 1877. + + [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich + durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachla von + Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die + seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W. + Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels + adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschlielich vom + Franz von Sickingen. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im + Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels + geschickt, worauf ihm diese, die damals noch rtlich getrennt lebten, + eingehend ihre Urteile ber es mitteilten, und der erwhnte Brief + Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in + einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrckt, Eure + beiderseitigen Einwrfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der + Hauptsache dieselben Punkte berhren. + + Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, da die Kritik von + Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen + kritisieren zu mssen glaubte. Ihr stimmt beide darin berein, + schreibt Lassalle an einer Stelle, da auch Sickingen noch zu + abstrakt gezeichnet ist. In diesem Satze ist in nuce dasselbe + gesagt, was ich oben ausgefhrt habe. Der Lassallesche Sickingen ist + nicht der streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten + Jahrhunderts, er ist der in des letzteren Rstung gesteckte Liberale + des neunzehnten Jahrhunderts, das heit der liberale Ideologe. Seine + Reden fallen gewhnlich vollstndig aus der Epoche, in der sie + gehalten sein sollen, heraus. Ihr begegnet Euch Beide, schreibt + Lassalle an einer andern Stelle, da ich die Bauernbewegung >zu + sehr zurckgesetzt<, >nicht genug hervorgehoben habe<. Du (Marx) + begrndest dies so: Ich htte Sickingen und Hutten daran untergehen + lassen mssen, da sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer + Einbildung revolutionr waren, in der Tat aber ein reaktionres + Interesse vertraten. >Die adligen Reprsentanten der Revolution<, + sagst Du, >hinter deren Stichwrtern von Einheit und Freiheit immer + noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert + -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es + bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser, + und der revolutionren Elemente in den Stdten muten einen ganz + bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du httest dann auch in + viel hherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten + Form sprechen lassen knnen, whrend jetzt in der That, auer der + religisen Freiheit, die brgerliche Einheit die Hauptidee bleibt<. + >Bist Du nicht selbst<, rufst Du aus, >gewissermaen wie Dein + Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die + lutherisch-ritterliche Opposition ber die plebejisch-brgerliche zu + stellen?< + + Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen + fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende + Ausfhrungen beziehen, hier also unverstndlich wren. Im + wesentlichen verteidigt sich Lassalle damit, da er nachzuweisen + sucht, die ritterliche Beschrnktheit, soweit sie berhaupt im + historischen Sickingen vorhanden, damit gengend zum Ausdruck + gebracht zu haben, da Sickingen, statt sich an die ganze Nation + zu wenden, statt alle revolutionren Krfte im Reich zum Aufstand + aufzurufen und sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand + als einen ritterlichen beginnt und fortfhrt, bis er an der + Beschrnktheit seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht. Gerade + darin, da Sickingen unterliegt, weil er nicht weit genug gegangen, + liege die tragische und zugleich die revolutionre Idee des Dramas. + Der Bauernbewegung aber habe er in der einen Szene des Stckes, + in der er die Bauern selbst auf die Bhne bringe, und in den + verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars usw., vollauf + die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt + habe und noch darber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung + ebenso reaktionr gewesen, wie die des Adels. + + Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in + verschiedenen seiner spteren Schritten verfochten, so u. a. im + Arbeiterprogramm. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Da + die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit + zurckgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionren, + die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs, + wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionre in ihren + Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das bersieht + Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfllt, + die Geschichte aus den Ideen abzuleiten, so vollstndig, da er + zu der Marxschen Bemerkung: Du httest dann auch in viel hherem + Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen + lassen knnen, ein doppeltes Fragezeichen, verstrkt durch ein + Ausrufungszeichen, macht. + + Der andere Teil seiner Verteidigung htte dann seine Berechtigung, + wenn im Stck auch nur die leiseste Andeutung gegeben wre, da + Sickingens Beschrnkung auf seine ritterlichen Mittel seiner + ritterlichen Beschrnktheit geschuldet war. Das ist aber nicht + der Fall. Im Stck wird sie lediglich als ein taktischer Fehler + behandelt. Das reicht aus fr die tragische Idee des Dramas, aber + nicht fr die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an + dem das Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen + ist. + + + + +Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg. + + +Anfang 1859 erschien der Franz von Sickingen als Buchdrama. Gerade +als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die +Entwicklung der Dinge in Deutschland eine groe Rckwirkung ausben +sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und +Cavour in Plombires verabredete franzsisch-sardinische Feldzug +behufs Losreiung der Lombardei von sterreich und der Beseitigung +der sterreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien. + +sterreich gehrte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich +natrlich die Frage, welche Haltung die brigen Bundesstaaten in diesem +Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des brigen Deutschland, sich +gegenber Frankreich mit sterreich zu identifizieren oder nicht? + +Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, da der Krieg einen +zwieschlchtigen Charakter trug. Fr die ihn betreibenden Italiener war +er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und +Befreiung Italiens einen Schritt vorwrts bringen sollte. Von seiten +Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die +Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu strken und +die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhhen. Soviel stand auf +jeden Fall fest. Auerdem pfiffen es die Spatzen von den Dchern, da +Napoleon sich von seinem Verbndeten, dem Knig von Sardinien, fr seine +Bundesgenossenschaft einen hbschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen +(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und da die Einigung Italiens +in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den +Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem +Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer +Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombires zwischen +Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloe +dynastische Intrige. Soviel war sicher, da, wer diesen Krieg +untersttzte, zunchst Napoleon III. und dessen Plne untersttzte. + +Napoleon III. brauchte aber Untersttzung. Gegen sterreich allein +konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die +brigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preuen sterreich +zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So lie er denn +durch seine Agenten und Geschftstrger bei den deutschen Regierungen, +in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteifhrern mit allen +Mitteln dagegen agitieren, da der Krieg als eine Sache behandelt werde, +die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk fr ein +Interesse, die Gewaltherrschaft, die sterreich in Italien ausbe, +aufrechtzuerhalten, berhaupt einem so urreaktionren Staat wie +sterreich Hilfe zu leisten? sterreich sei der geschworene Feind der +Freiheit der Vlker; werde sterreich zertrmmert, so wrde auch fr +Deutschland ein schnerer Morgen anbrechen. + +Auf der anderen Seite entwickelten die sterreichischen Federn, da, +wenn die Napoleonischen Plne im Sden sich verwirklichten, der Rhein in +direkte Gefahr geriete. Ihm wrde der nchste Angriff gelten. Wer das +linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Hnden sicherstellen wolle, +msse dazu beitragen, da sterreich seine militrischen Positionen in +Oberitalien unbeeintrchtigt erhalte, der Rhein msse am Po verteidigt +werden. + +Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen +wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei +(Einigung Deutschlands unter Preuens Spitze, unter Hinauswerfung +sterreichs aus dem deutschen Bund) berein, war direkt auf es +zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine groe Anzahl kleindeutscher +Politiker nicht dazu entschlieen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache +sterreichs von der des brigen Deutschland zu trennen. Dies erschien +ihnen um so weniger zulssig, als es weiterhin bekannt war, da Napoleon +den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg +fhrte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im +Sdosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin, +jetzt kme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons +abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, knne man weiter reden. Bis +es geschehen, mten sich aber die Italiener gefallen lassen, da man +sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kmpften, einfach +als dessen Verbndete behandelte. + +Es lt sich nun nicht leugnen, da man vom kleindeutschen Standpunkt +aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der +vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. Wenn +sterreich, und namentlich dessen auerdeutsche Besitzungen, um so eher +je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum +nicht mit Vergngen ein Ereignis begren, das sich als ein Schritt zur +Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon +erklrt, da er nur sterreich und nicht Deutschland bekriege? Warum +also sterreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen +werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch fr die gerechteste +Sache von der Welt kmpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er +angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, da ein Angriff auf +ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit sterreichs +und die Beschftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der +Einigung Deutschlands unter Preuens Fhrung auch durch positive +Manahmen einen weiteren Schritt zu frdern? + +Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus +konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 +erschienenen Schrift Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preuens +das Wort. Mit groer Energie bekmpft er die in den beiden Berliner +Organen des norddeutschen Liberalismus, der National-Zeitung und der +Volks-Zeitung, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles +nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von +Bonaparte ausgehenden Angriff gegenber msse Preuen sterreich als +Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, da Preuen den +Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenber seine +deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte +Europas im Sden nach dem Prinzip der Nationalitten revidiere, dasselbe +im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie, +seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen, +whrend die Demolierung sterreichs sich schon von selbst vollzieht, +fr die Erhhung Preuens in der Deutschen Achtung zu sorgen. +Und, fgt Lassalle schlielich hinzu, mge die Regierung dessen +gewi sein. In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des +deutschen Volks als Preuens ist, wrde die deutsche Demokratie +selbst Preuens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden +werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende +Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fhig ist, welche seit fnfzig +Jahren komprimiert in dem Herzen eines groen Volkes zuckt und +zittert. + +Man hat Lassalle spter auf Grund dieser Broschre zu einem Advokaten +der deutschen Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es lt +sich nicht bestreiten, da das in ihr entwickelte nationale Programm +als solches eine groe hnlichkeit mit dem des im Sommer 1859 +gegrndeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der +Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen +Einheit unter preuischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all +seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark +im Preuentum stecken geblieben. Nicht da er bornierter preuischer +Partikularist gewesen wre -- wir werden gleich sehen, wie weit er +davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf +die auswrtige Politik bezglichen Angelegenheiten im wesentlichen +durch die Brille des preuischen Demokraten an, sein Ha gegen +sterreich war in dieser Hinsicht ebenso bertrieben, wie der +Preuenha vieler sddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten. +sterreich ist ihm der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa +aufzuweisen hat, er mchte den Neger kennen lernen, der, neben +sterreich gestellt, nicht ins Weiliche schimmerte; sterreich ist +ein reaktionres Prinzip, der gefhrlichste Feind aller +Freiheitsideen; der Staatsbegriff sterreich mu zerfetzt, +zerstckt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut +werden, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen +knne, habe sterreich auch auf dem Gewissen, und wenn die Rechnung +sonst ziemlich gleichstehen mchte -- das rmische Konkordat hat +Louis Napoleon trotz seiner Begnstigung des Klerus nicht +geschlossen. Selbst Ruland kommt noch besser weg, als sterreich. +Ruland ist ein naturwchsig-barbarisches Reich, welches von seiner +despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit +ihren despotischen Interessen vertrglich ist. Die Barbarei hat hier +die Entschuldigung, da sie nationales Element ist. Ganz anders aber +mit sterreich. Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Vlkern, die +Regierung das barbarische Prinzip, knstlich und gewaltsam seine +Kulturvlker unter dasselbe beugend. + +In dieser einseitigen und relativ -- d. h. wenn man die brigen Staaten +in Vergleich zieht -- damals auch bertriebenen Schwarzmalerei +sterreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die +Lassallesche Broschre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor +ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu +ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie +Hand zu lassen und der Zertrmmerung sterreichs zu applaudieren. Es war +dies die Schrift Karl Vogts Studien zur gegenwrtigen Lage Europas, +ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder +indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich +wrde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange +mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus ber +jeden Verdacht der Komplizitt mit Vogt oder dessen Einblsern erhaben, +da die Mglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der +mir aus sachlichen Grnden notwendig erscheint, ein falsches Licht auf +Lassalle zu werfen. Zum berflu will ich aber noch einen Passus aus der +Vorrede zum Herr Vogt von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die +den Beweis lieferte, da Vogt damals im bonapartistischen Interesse +schrieb und agitierte, und deren Beweisfhrung neun Jahre spter durch +die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente besttigt wurde -- ein +Passus, der schon deshalb hierher gehrt, weil er zweifelsohne gerade +auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt: + + Von Mnnern, die schon vor 1848 miteinander darin bereinstimmten, + die Unabhngigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein + Recht dieser Lnder, sondern als das Interesse Deutschlands und + Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten + aufgestellt ber die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des + italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenber + auszufhren habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegenstzlichen + Urteilen ber tatschliche Voraussetzungen, ber die zu entscheiden + einer spteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich fr meinen Teil habe es + in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu + tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der + Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fllt in der Tat + auerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten, + die er wirklich vertrat. (K. Marx Herr Vogt. Vorwort V, VI.) + +Trotzdem war es natrlich nicht zu vermeiden, da dort, wo Vogt mit +Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der +Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was brigens Lassalle nicht +verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. Januar 1861 zu +erklren, da er nach der Lektre des Herr Vogt Marx' +berzeugung, da Vogt von Bonaparte bestochen sei, ganz +gerechtfertigt und in der Ordnung finde, der innere Beweis dafr[4] +sei mit einer immensen Evidenz gefhrt. Das Buch sei in jeder +Hinsicht ein meisterhaftes Ding. + +Jedenfalls ist der Herr Vogt ein uerst instruktives Buch zum +Verstndnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet +enthlt eine Flle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen +Dutzend Abhandlungen ausreichen wrde. + +Fr unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse. + +Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so +lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein groer Teil davon +handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenber +einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierber an Lassalle noch +erhalten sind und wenn, in welchen Hnden sie sich befinden, ist bis +jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu verffentlichen +bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die +Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre +Begrndung, da sich Lassalle, wie brigens ganz natrlich, meist darauf +beschrnkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwnde gegen +dieselbe mglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des +weiteren dargelegt zu werden, warum in einer fr Sozialisten +geschriebenen Abhandlung ber Lassalle nicht nur dessen persnliche +Beziehung zu den Begrndern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, +sondern auch sein Verhltnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer +Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse +ist. + +Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhltnis lange Zeit seine +fertige Schablone. Fr die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete +sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht +international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren +vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die +Revolution gekmmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgltig. + +Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene +Gegenberstellung aufgegeben werden mssen. + +Noch ehe Lassalles Italienischer Krieg erschien, war in demselben +Verlage, wie spter diese, eine Broschre erschienen, die dasselbe Thema +behandelte. Sie war betitelt: Po und Rhein. Der Verfasser, der sich +ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift, +suchte militrwissenschaftlich nachzuweisen, da die von den Organen der +sterreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedrfe zu +seiner Verteidigung im Sdwesten der italienischen Provinzen, falsch +sei, da auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition +in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhngiges +Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund, +mit Deutschland zu hadern, wohl aber hufig genug Anla haben werde, +Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen. +Oberitalien sei ein Anhngsel, das Deutschland hchstens im Kriege +nutzen, im Frieden immer nur schaden knne. Und auch der militrische +Vorteil im Kriege wrde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25 +Millionen Italienern. Aber, fhrte der Verfasser alsdann aus, die Frage +um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und +Italien, und nicht eine zwischen sterreich und Louis Napoleon. +Gegenber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in +anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte, +handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur +gezwungen abtritt, einer militrischen Position, die man nur rumt, wenn +man sie nicht mehr halten kann ... Werden wir angegriffen, so wehren +wir uns. Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhngigkeit +auftreten wolle, so mge er erst bei sich anfangen und den Italienern +Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber +die Karte von Europa revidiert werden, so haben wir Deutsche das +Recht, zu fordern, da es grndlich und unparteiisch geschehe, und da +man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle +Opfer bringen. Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber +ist, heit es schlielich, da wir Deutsche einen ganz +ausgezeichneten Handel machen wrden, wenn wir den Po, den Mincio, +die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen knnten +gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und auen stark +machen kann. + +Der Verfasser dieser Broschre war kein anderer als -- Friedrich Engels. +Unntz zu sagen, da Engels sie im Einverstndnis mit Karl Marx +verffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle +hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung +ihres Inhalts an die -- damals noch unabhngige -- Wiener Presse +geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. Er kannte also ihren +Inhalt ganz genau, als er seinen Italienischen Krieg schrieb, +polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekmpft, da, da +der Krieg durch Napoleons Fhrung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen +Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit +einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als +solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwhnt, +Lassalles Schrift im Herr Vogt mitkritisiert, und zwar in dem +Abschnitt VIII D-d-Vogt und seine Studien[5]. + +Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen +bereinstimmten, dafr nur ein Beispiel. sterreichischerseits war auf +die Vertrge von 1815 hingewiesen worden, durch welche sterreich der +Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun: + + Vogt: + + Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen + Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in + frecher Weise die Vertrge gebrochen hat. Von allen andern sind sie + bis jetzt respektiert worden, nur sterreich hat sie gebrochen, + indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand + gegen die durch diese Vertrge garantirte Republik Krakau + ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres + einverleibte. (Studien, S. 58.) + + Lassalle: + + Die Vertrge von 1815 knnen nicht einmal mehr diplomatisch + ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung + Belgiens, mit Fen getreten und zerrissen gerade von sterreich + durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die + europischen Kabinette zu protestieren nicht unterlieen, haben sie + jede rechtliche Gltigkeit fr jedes Mitglied der europischen + Staatenfamilie verloren. (Der Ital. Krieg usw. Ges. Schriften + Bd. I S. 43.) + +Hren wir nun Marx gegen Vogt: + +Nikolaus natrlich vernichtete Konstitution und Selbstndigkeit des +Knigreich Polen, durch die Vertrge von 1815 garantiert, aus +>Achtung< vor den Vertrgen von 1815. Ruland achtete nicht minder +die Integritt Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit +moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder +besetzt von Russen, sterreichern und Preuen, wurde vllig als +erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter +Berufung auf die Vertrge von 1815, vergebens an England und +Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen, +sterreicher und Preuen abermals Krakau, um es sterreich +einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen +Mchte, und die sterreichische Konfiskation von 1846 war nur das +letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831. (Herr Vogt, S. +73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet +Palmerston and Poland hin, wo nachgewiesen sei, da Palmerston seit +1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes +das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, +wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, da Vogt +auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von +bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb. +In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen +bonapartistischen Pamphlete, La vraie question, France, -- Italie -- +Autriche, hatte es wrtlich geheien: + +Mit welchem Rechte brigens wrde die sterreichische Regierung die +Unverletzbarkeit der Vertrge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben +verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhngigkeit +diese Vertrge garantierten? + +Vogt hatte in seiner Manier berall noch einen Extratrumpf +aufgesetzt. Phrasen wie die einzige Regierung, in frecher +Weise, frevelnde Hand sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am +Schlu des obenzitierten Satzes pathetisch die politische Nemesis +gegen sterreich anruft. + +Lassalle hatte, als er seine Broschre schrieb, das Vogtsche Machwerk +noch nicht zu Gesicht bekommen, aber da seine Schrift durch die von +Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanle in die Presse des In- +und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflut war, das unterliegt +nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe hnlicher an die Seite +gesetzt werden knnen, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen +Bismarckanbeter sich spter darauf beriefen, da die Politik ihres Heros +sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so bersahen sie dabei nur +die eine Tatsache, da das von Lassalle der preuischen Regierung +vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in +den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener +Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen lie, um sie fr seine damalige +Politik zu gewinnen. Alle die Ausfhrungen Lassalles in dieser Schrift, +die spter von brgerlichen Schriftstellern als ungewhnliche +Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts +Studien und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten +Pamphleten. Gerade Vogt wute z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor +der preuischen Heeresreform, da, wenn Preuen einen deutschen +Brgerkrieg fr die Herstellung einer einheitlichen deutschen +Zentralgewalt ins Werk setzen wrde, dieser Krieg nicht so viel Wochen +kosten wrde, als der italienische Feldzug Monate. (Studien +S. 155.) Des weiteren wute Vogt, da das Berliner Kabinett sterreich +im Stich lassen werde, es mute nach ihm dem Kurzsichtigsten klar +geworden sein, da ein Einverstndnis zwischen Preuens Regierung und +der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; da Preuen nicht zur +Verteidigung der auerdeutschen Provinzen sterreichs zum Schwerte +greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder +fr sterreich verhindern wird, um ... seinen Lohn fr diese +Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. (Studien S. +19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht +verlangen. + +Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausfhrung gekommen. +Bismarck, der dazu bereit gewesen wre, war dem Prinzregenten von +Preuen noch zu sehr Strmer, um ihm als Minister des Auswrtigen genehm +zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurck, +sterreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine +Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine +Truppen zurck. So drauf und dran sterreich zu helfen, wie +Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht. + +Meine Broschre >Der italienische Krieg und die Aufgabe +Preuens< -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und +Engels -- wird Euch zugekommen sein. Ich wei nicht, ob Ihr dort +hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese +annhernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein. +Absolute Franzosenfresserei, Franzosenha (Napoleon nur Vorwand, die +revolutionre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund), +das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die +Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der +untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gieen +suchen, und leider mit Erfolg genug. So ntzlich ein gegen den Willen +des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich fr +unsere revolutionre Entwicklung sein wrde, so schdlich mte ein +von verblendeter Volkspopularitt getragener Krieg auf unsre +demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner +Broschre in dieser Hinsicht exponierten Grnden kommt dazu, da man +schon jetzt den Ri, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und +gar zuwachsen lt. Solchem drohenden Unheil fand ich fr Pflicht, +mich entgegenzuwerfen ... Natrlich gebe ich mich keinen Augenblick +der Tuschung hin, als knnte und wrde die Regierung den sub III +eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr +fhlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er +sofort in einen Vorwurf umschlgt. Er kann wie ein Eisblock wirken, +an dem sich die Wogen dieser falschen Popularitt zu brechen +anfangen. + +Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die +revolutionre als die nationale Bewegung zu frdern, die letztere der +ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage +war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale +Bewegung, ber deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle +einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine +Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mute. Marx +und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunchst darauf +an, den gegen Deutschland als Ganzes gefhrten Streich durch eine +gemeinsame Aktion aller Deutschen zurckzuschlagen, und nicht in dem +Moment, wo ein solcher Schlag gefhrt wurde, eine Politik selbst nur +scheinbar zu untersttzen, die zur Zerreiung Deutschlands fhren mute. +Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage +beruht im wesentlichen darauf, da sie sie mehr in ihrem weiteren +historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, whrend +Lassalle sich mehr durch die Rcksicht auf die augenblicklichen +Verhltnisse in der inneren Politik leiten lie. Daher beging er auch +die Inkonsequenz, whrend er in bezug auf Frankreich streng zwischen +Volk und Regierung unterschied, sterreich und das Haus Habsburg ohne +weiteres zu identifizieren und die Zertrmmerung sterreichs zu +proklamieren, wo es sich zunchst doch nur um die Zertrmmerung des +habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe +an Rodbertus knpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben: + + Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die trkische + Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten + oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen + +und sagt: + +Es hat mich zu eigentmlich berhrt, als ich in Ihrem letzten +Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese +Ansicht meinen besten Freunden gegenber vergeblich vertreten und +mich dafr von ihnen einen Trumer nennen lassen mssen! Die ganze +Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen +orientalischen Frage hat fr mich immer nur den vernnftigen Sinn und +Zusammenhang gehabt, da die Frage so lange hinausgeschoben werden +mu, bis der naturgeme Anwrter, die deutsche Revolution, sie lst! +Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrder zur Welt +gekommen zu sein. (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl +Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. Mai +1863.) + +Wie Deutschland die trkische Erbschaft antreten sollte, nachdem +vorher sterreich zerfetzt, zerstckt, vernichtet, zermalmt, Ungarn +und die slawischen Landesteile von Deutsch-sterreich losgerissen +worden, ist schwer verstndlich. + +Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehrt hierher: + +Wenn ich etwas in meinem Leben gehat habe, ist es die kleindeutsche +Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem +>Staatsmann< der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor +1 Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner +Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir mssen alle wollen: +Grodeutschland moins les dynasties. + +Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen +Partei zugute kme, betrachte sie als das Produkt der bloen Furcht vor: +Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stck +Nationalverrat. (Brief vom 2. Mai 1863.) + +Es ist klar, da, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er +es in Der Italienische Krieg usw. entwickelte, ernst gewesen wre, +er unmglich die obigen Stze htte schreiben knnen, denn jenes ist +ganz gewi kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm fr +seine viel weitergehenden politischen Zwecke, fr die Herbeifhrung +der Revolution, die die nationale Frage im grodeutschen Sinne lsen +sollte, zweckmig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai +1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer +bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausfhrlichen +Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so +knnen wir uns hier auf einige Auszge und kurze Zusammenfassungen +beschrnken. + +Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne +Datum, so da dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mute) schreibt +Lassalle an Marx: Nur in dem populren Kriege gegen Frankreich ... +sehe ich ein Unglck. In dem bei der Nation unpopulren Kriege aber ein +immenses Glck fr die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so, +da unsere Regierungen den Krieg machen mssen (und sie werden dies tun) +und wir ihn unpopularisieren mssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre +fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig +entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit +Leidwesen gesehen ... Kme nun noch hinzu, da dem Volk die berzeugung +beigebracht wird[6], die Regierung fhre diesen Krieg als einen +nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet +Ihr sehen, wie vollstndig die Vershnung wrde und wie, gerade bei +Unglcksfllen, das Band der >deutschen Treue< das Volk an seine +Regierungen binden wrde ... Was in unserm Interesse liegt, ist +offenbar etwa folgendes: + +1. da der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere +Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter +Quelle zukommen, besagen, da der Prinz drauf und dran sei, fr +sterreich einzutreten. + +Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend. + +2. da er schlecht gefhrt wird. (Dies werden unsere Regierungen +gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das +Volksinteresse fr den Sieg sie untersttzt.) + +3. da das Volk der berzeugung sei, der Krieg werde im +volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionren Sinne, also +gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein knnen wir besorgen, +und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht. + +Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben knne, +einen populren Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen. +Auch hier aber sind es lediglich zwei Rcksichten, die er als +magebend anerkennt: 1. die Rckwirkung auf die Aussichten der +revolutionren Parteien hben und drben, und 2. die Rckwirkung auf +die Beziehungen der deutschen Demokratie zur franzsischen und +italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als +Nation berhrt er gar nicht. Auf den Vorhalt, da er dieselbe Politik +empfehle wie Vogt, der im franzsischen Solde schreibe, antwortet er: +Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad +absurdum fhren? Dann knnte ich Dir das Kompliment zurckgeben, da +Du das Unglck hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu +sein. Alsdann rhmt er sich, da seine Broschre immens gewirkt +habe, Volks-Zeitung und National-Zeitung htten zum Rckzug +geblasen, die letztere in einer Serie von sechs Leitartikeln eine +vollstndige Schwenkung gemacht. Da Lassalle gar nicht darauf kam, +sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich +so schnell bekehren lieen! + +In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heit +es: Es ist ganz selbstredend, da zwischen uns nicht das Prinzip, +sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffate, die +>passendste Politik< ... streitig war. Und um wieder keinen Zweifel +darber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: d. h. +also doch die zur revolutionren Entwicklung passendste Politik. + +Anfang 1860 an Fr. Engels: Nur zur Vermeidung von Miverstndnissen +mu ich bemerken, da ich brigens auch im vorigen Jahre, als ich +meine Broschre schrieb, sehnlichst wnschte, da Preuen den Krieg +gegen Napoleon mache. Aber ich wnschte ihn nur unter der Bedingung, +da die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulr und +verhat wie mglich sei. Dann freilich wre er ein groes Glck +gewesen. Aber dann mute die Demokratie gegen, nicht fr diesen Krieg +schreiben und propagieren ... Fr die gegenwrtige Lage sind wir +wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr fr die +zuknftige. + +In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade +eingebrachte Militrreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich +spter zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen +Bourgeoisie fhrte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preuische Regierung +berzeugt, wie wenig schlagfertig die preuische Armee noch war und da +durchgreifende nderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu +setzen, sei es nun gegen Frankreich oder sterreich, mit einiger +Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rcken. Wer es also mit Preuens +deutschem Beruf ernst nahm, der mute auch in die Heeresreorganisation +einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was +ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hren wir nun Lassalle: Das +Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- vllige, nur verkappte -- der +Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schpfung +eines immensen Machtmittels fr Absolutismus und Junkertum ist in zwei +Worten der evidente Zweck desselben. Nie wrde Manteuffel gewagt haben, +so etwas vorzuschlagen! Nie htte er es durchgesetzt. Wer jetzt in +Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am rger +sterben! + +Schlielich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus +Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem +Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in +der ausgefhrt worden war, da, wenn Preuen sterreich gegen Frankreich +zu Hilfe kme, Ruland seinerseits fr Frankreich intervenieren, d. h. +Preuen _und_ sterreich den Krieg erklren wrde. Diese Note sei, +hatte Marx ausgefhrt, erstens ein Beweis, da es sich um einen Anschlag +gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die +Schwchung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei +zweitens eine unverschmte Einmischung Rulands in deutsche +Angelegenheiten, die nicht geduldet werden drfe. Darauf erwidert nun +Lassalle, er knne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber +selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur +die deutschen Regierungen. Denn, diable! was geht Dich und mich +die Machtstellung des Prinzen von Preuen an? Da alle seine Tendenzen +und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes +gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen +Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach auen so gering wie +mglich ist. Man msse sich also eher solcher Demtigungen freuen und +sie hchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die +Franzosen unter Louis Philipp getan htten. + +Man kann sich wohl nicht hochverrterischer ausdrcken, als es hier +berall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster +eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der +Sozialdemokratie von heute gegenberstellten, haben nach +Verffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach +einpacken mssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des +Italienischen Krieges leiteten, sind alles andere, nur nicht eine +Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, da +hier, wie es in den meisten brgerlichen Biographien heit, bei Lassalle +der Parteimann hinter den Patrioten zurcktritt, kann man im Gegenteil +eher sagen, da der Parteimann, der republikanische Revolutionr, den +Patrioten zurckdrngt. + +Man knnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage +aufwerfen: Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an +Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der +Broschre vertritt, wer garantiert dann, da der erstere der wirklich +von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle +nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhllt, dies Marx +gegenber getan haben? Gegen diese Annahme sprechen aber so viele +Grnde, da es kaum der Mhe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der +wichtigste ist der, da der Widerspruch zwischen Broschre und Briefen +schlielich doch nur ein scheinbarer ist. Wo Lassalle in der Broschre +etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen +deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem groen Wenn, +und diesem Wenn stellt er am Schlu ein Wenn aber nicht, dann +gegenber, und formuliert dieses Dann so: So wird damit nur aber +und aber bewiesen sein, da die Monarchie in Deutschland einer +nationalen Tat nicht mehr fhig ist. Die positiven Behauptungen in +der Broschre hlt er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint +es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschre +ausmachenden Darlegung, da die Demokratie -- worunter er die +Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg +gegen Frankreich nicht gutheien drfe, weil sie sich dadurch mit den +Unterdrckern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus +ernst mit dem Wunsche der Zertrmmerung sterreichs. Bis soweit ist +denn auch die Broschre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt +fr richtig hlt oder nicht, als subjektive Meinungsuerung +vollkommen berechtigt. + +Anders mit dem Schlukapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die +gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich +bekmpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem +Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht +an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er fr eine Politik +eintritt, von der er nicht auch will, da sie befolgt werde. Das jedoch +tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mute glauben, er +wnsche nichts sehnlicher, als da die preuische Regierung die darin +von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen, +da er sicher war, die preuische Regierung werde diese Politik nicht +befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht +gerechtfertigt. Das Advokatenstck, eine Sache nur deshalb zu +empfehlen, weil man zu wissen glaubt, da sie doch nicht geschieht, ist +ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen +Anhnger irrezufhren, was ja spter auch in diesem Falle eingetreten +ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich fr seine Taktik beruft, ist +das denkbar unglcklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition +in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom National, +auswrtige Politik machten, ebnete spter dem Mrder der Republik, dem +Bonapartismus, die Bahn. Wie die reinen Republikaner die +napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die +friderizianische Legende gegen die damalige preuische Regierung +ausspielen zu knnen. Aber die friderizianische Tradition, wenigstens +soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preuischen +Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der +Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda fr sie. + +Wie diese spter, sobald Preuen sich dazu militrisch stark genug +fhlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunchst zum Brgerkrieg +zwischen Nord- und Sddeutschland fhrte, wie sterreich glcklich +aus dem deutschen Bund herausgedrngt und die Einigung +Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, +aber diese Realisierung des im Italienischen Krieg entwickelten +Programms verhlt sich zu der Lsung, die Lassalle vorschwebte, wie +in der Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7]. + +[Wohin hat uns die preuische Lsung der deutschen Frage gebracht? +sterreichs Verdrngung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische +Propaganda im hchsten Grade gefrdert, die sterreichische Regierung +mu heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese +traten infolgedessen mit immer greren Ansprchen auf. Wo sie frher +mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalitt zufrieden gewesen wren, +wollen sie heute herrschen und unterdrcken; in Prag, heute eine +tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und franzsische +Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die +Angliederung der deutschen Landesteile sterreichs an Deutschland wird +frher oder spter freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach +ungnstigeren Verhltnissen als vor der glorreichen Herauswerfung +sterreichs aus dem deutschen Bunde. Vorlufig mu das Deutsche Reich +ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter +um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat +Ruland so stark gemacht, da die deutsche Politik wieder das grte +Interesse an der Erhaltung selbst dieses sterreichs hatte. Etwas ist +immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Ruland der +Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange +mag das heutige sterreich als Staat noch eine Berechtigung haben.] + +Lassalle wollte natrlich ganz etwas anderes als die bloe +Herausdrngung sterreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrmmerung, +die Vernichtung sterreichs, dessen deutsche Lnder einen integrierenden +Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber +um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen, +dessen unmittelbare Folge der Brgerkrieg in Deutschland sein mute, ein +Krieg von Norddeutschland gegen Sddeutschland, dessen Bevlkerung 1859 +ganz entschieden auf seiten sterreichs stand. Nur Lassalles starke +Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle auer ihm liegenden +Rcksichten zu opfern, erklrt dieses Zurckgreifen auf eine Diplomatie, +die er noch soeben im Franz von Sickingen aufs schrfste verurteilt +hatte. + +Hinzu kam bei Abfassung der Broschre der leidenschaftliche Drang, in +die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer +wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung +an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen +Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem +Vorbehalt: Aber wenn sich eine Mglichkeit bietet, unmittelbar auf die +revolutionre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die +Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. Mrz 1859 an Fr. Engels +geschrieben: + +Vielmehr werde ich beim nationalkonomischen und +geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von +sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht, +was freilich sehr zu hoffen wre, der endliche Beginn praktischer +Bewegungen alle grere theoretische Ttigkeit sistiert. + +Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa wei, wenn es +dafr gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) knnen. + +Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins +monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine +Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die +Revolution fr die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist +gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt: +Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Gtter -- +die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den Acheron -- +das Volk -- in Bewegung setzen. + + * * * * * + +Die nchste Publikation, die Lassalle dem Italienischen Krieg usw. +folgen lie, war ein Beitrag fr eine Zeitschrift in Buchform, die der +demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel +Demokratische Studien im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der +spter als Broschre herausgegebene Aufsatz: Fichtes politisches +Vermchtnis und die neueste Gegenwart. Man knnte ihn als ein +Nachwort zu Der italienische Krieg usw. bezeichnen, in welchem +Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhllen fr gut +befunden. Das politische Vermchtnis Fichtes ist, wie Lassalle unter +Vorfhrung eines im Fichteschen Nachla vorgefundenen Entwurfs zu +einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit +Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung +der Einheit Deutschlands berhaupt nicht mglich. Bei einer Eroberung +Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten wrde +nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stmme durch +die gewaltsame Aufdrngung des spezifischen Hausgeistes unter die +Besonderheit desselben gebracht, preuifiziert, verbayert, +versterreichert! ... Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung +fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen +Besonderheiten liegt, schreibt er, wrde gerade dadurch das deutsche +Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben. + +Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern +mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke, +wre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealitt dieser Entschlieung +ist es geradezu tricht von Mnnern zu verlangen -- es ist von den +deutschen Frsten, speziell vom Knig von Preuen, die Rede -- deren +geistige Persnlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes +Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte +ist und die dies daher ebensowenig leisten knnen, als es einer von uns +anderen leisten wrde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschlielich +durch dieselben Faktoren bestimmt worden wre. + +Dies sind die letzten eigenen Ausfhrungen Lassalles in dem Aufsatze. Es +folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, da und warum die Einheit +Deutschlands nur mglich sei auf Grundlage der ausgebildeten +persnlichen Freiheit, und da gerade deshalb die Deutschen im +ewigen Weltenplane berufen seien, ein wahrhaftes Reich des Rechts +darzustellen, ein Reich der Freiheit, gegrndet auf Gleichheit alles +dessen, was Menschenantlitz trgt. Und ferne sei es von uns, die +unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufgungen +abschwchen zu wollen, schliet Lassalle. Dann, zum Verleger +gewendet: Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche -- einen +Artikel ber eine brennende Tagesfrage zu schreiben -- nicht +buchstblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfllt -- +wie der meinige. + +Welches aber war Lassalles Zweck bei der Verffentlichung des Aufsatzes, +der das Datum: Januar 1860, trgt? Auch darber gibt ein Brief an Marx +uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum +er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines groen Werkes in +Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens +habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und +tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschre Politische +Totenschau zeige, wohl verdiene, da man etwas fr ihn tue. Dann aber +heit es weiter: + +Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht einigen entwickelnden +Einflu auf unsere deutschen Philister ausben, und schlug ich aus, so +kam der Auftrag jedenfalls an einen weit weniger entschiedenen, ja ganz +unbedingt an einen mit monarchischem oder hnlichem Demokratismus oder +klein-deutschen Ideen Liebugelnden, whrend mir der Auftrag die +Mglichkeit bot, wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf +ertnen zu lassen und so im Namen unserer Partei von einem Buche Besitz +zu ergreifen, welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen +Inhalt, obgleich ich weder ber diesen noch seine Mitarbeiter Nheres +wei, schwerlich zur Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses +unserer Partei beigetragen htte. + +So schreiben-wollend und nicht wollend entstand ein Artikel, von dem +ich mir, speziell um ihn Dir zu berschicken, einen besonderen Abzug +kommen lie. (Das Buch erscheint erst zur Oktobermesse.) Ich schicke ihn +gleichzeitig mit diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann an +Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, ob er Dir gefallen. + +Ich glaube, da er mitten in diesem widrigen gothaischen Gesumme doch +immerhin den erfrischenden Eindruck macht, da hinter den Bergen auch +noch Leute, da eine republikanische Partei noch lebt, den Eindruck +eines Trompetenstoes. + +Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle damals arbeitete, war das +System der erworbenen Rechte. Drollig und doch wieder fr jeden, der +sich mit greren Arbeiten beschftigt, ungemein verstndlich klingt die +Klage Lassalles, die Arbeit ziehe sich so lange hin, da er bereits +einen intensiven Ha gegen sie bekommen habe. Aber das verm-- +Werk, wie er es an einer anderen Stelle in demselben Briefe nennt, +sollte auch in den drei Monaten, die er sich nun als Termin stellt, +noch nicht fertig werden. + +Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfllen jener chronischen +Krankheit, von der er bereits in der Dsseldorfer Assisenrede spricht, +und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. Ich war und bin noch +recht krank, fngt ein Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein +mu, ich war von neuem krank und schlimmer als frher, beginnt der +obenzitierte Brief. Habe ich mich in der letzten Zeit berarbeitet oder +rcht sich nun zu lange Vernachlssigung, heit es weiter, kurz, +es scheint als ob meine Gesundheit aufgehrt habe, der unverwstliche +Fels zu sein, auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte. Um +sich grndlich zu heilen, ging Lassalle im Sommer desselben Jahres +nach Aachen. Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin, +Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedrftig +war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so fr +sich ein, da er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den +aber Frulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte. + +Es sind ber diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die +Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Frulein von Sontzew, +spter die Gattin eines Gutsbesitzers in Sdruland, im Jahre 1877 in +der Petersburger Revue Der Europische Bote verffentlicht hat, und +von denen eine bersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von +F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffre ist +nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie +von Sontzew schreibt, da Lassalle zwar einen groen Eindruck auf sie +gemacht, da sie auch vorbergehend geglaubt habe, ihn lieben zu knnen, +es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie +sich schlielich darber klar geworden sei, da eine Liebe, die +zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie +unter Hinweis auf die Kmpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen +werde. Vielleicht, da auch die Aussicht gerade auf diese Kmpfe die +junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgestndnisse und +Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite +scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Frulein von Sontzew +beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu +sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame +hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch +wute Lassalle sich, so strmisch seine Werbungen gewesen, ber den +Mierfolg bald zu trsten. + +Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffre sind die aus Anla +dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor +allem der schon frher erwhnte, als Seelenbeichte bezeichnete, +mehr als 35 Druckseiten ausfllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines +der interessantesten Dokumente fr die Charakteristik Lassalles. Sehen +wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jngling heranreifenden Knaben, +so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jngling sein Ich +blolegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen +Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzge +Lassalles ist seine -- man knnte fast sagen, unbewute +Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine bestndige Neigung, +ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte +Natur. Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr +Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die +Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu +verbergen. Aber es war ihm doch nicht mglich, sich als Mensch anders +zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften +waren viel zu stark, als da sie sich nicht berall verraten htten, +seine Persnlichkeit viel zu ausgeprgt, um nicht durch jedes Gewand, +in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem +Bilde, das Lassalle fr Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl +es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mdchen erscheinen wollte, +der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzgen und seinen Fehlern. + +Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und +seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzhlt, wie er in +diesem Manuskript sich im Glanze seines zuknftigen Ruhmes sonnt, sich +als der Fhrer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar +nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn frchten und +hassen lt, wo zur Furcht und zum Ha damals jeder Anla fehlte. Ebenso +bertreibt er seine schon erzielten Triumphe. Nichts, Sophie, +schreibt er ber den Erfolg der Kassettenrede, kann Ihnen auch nur +annhernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den +ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevlkerung der ganzen Provinz +schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen, +die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag +verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen +und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen +diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte +mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren +Hauptfhrer an. Dann schreibt er vom Dsseldorfer Proze, da er aus +diesem mit nicht weniger Glanz hervorging. Ich werde Ihnen meine +Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie +wird Sie amsieren. Da er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt +er nicht. + +Neben diesen Zgen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit +fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundstzen, +statt auf ueren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief +hindurch klingt der Ton einer echten berzeugung. Selbst wenn Lassalle +von dem Glanz spricht, mit dem der Eintritt gewisser Ereignisse +-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zuknftigen Frau +ausstatten wrde, setzt er sofort hinzu: Aber, nicht wahr, Sophie, +mit so groen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen +Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloe Spekulation auf +individuelles Glck machen? -- und bemerkt weiter: Deshalb darf man +in keiner Weise darauf rechnen. + +Noch in einer anderen Hinsicht ist die Seelenbeichte Lassalles von +Interesse. Er spricht sich darin sehr ausfhrlich ber sein Verhltnis +zur Grfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine +frheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel +sicher, da Lassalle keinen Grund hatte, einem Mdchen, um das er gerade +warb und das als Gattin heimzufhren er so groe Anstrengungen machte, +seine derzeitigen Empfindungen fr die Grfin, soweit sie ber die der +Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, strker zu schildern, als sie +wirklich waren. Tatschlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in +Ausdrcken geradezu leidenschaftlicher Zrtlichkeit fr die Grfin. Er +liebe sie mit der zrtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert +hat, noch dreimal mehr wie seine zrtlich geliebte Mutter. Er +verlangt von Sophie, da sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Grfin +mit der wahren Zrtlichkeit einer Tochter liebe, und hofft, obwohl +die Grfin auerordentlich zartfhlend sei und, ehe sie nicht +wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar +werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu knnen, -- um alle +drei glcklich und vereint zu leben[9]. + +Daraus geht hervor, da diejenigen, die die Sache so hinstellen, als +habe sich die Grfin Hatzfeldt damals in Berlin und spter Lassalle +einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls malos bertrieben haben. +Die Hatzfeldt hatte ihre groen Fehler und ihre Freundschaft ist +Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin uerst +verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten +wir es fr unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem +entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen +Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene +Behauptung, Lassalle habe sich spter in die Dnniges-Affre gestrzt, +um die Hatzfeldt loszuwerden. + +Sophie Sontzew spricht sich brigens ber den Eindruck, den die Grfin +Hatzfeldt persnlich auf sie gemacht habe, nur gnstig aus. + +Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen +Aufenthalts in Aachen. Natrlich ist in keinem von der Liebesaffre mit +der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe ber +die Verhltnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle +schlieen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des +Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders +bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er +in Berlin noch mit den Fhrern der liberalen Opposition auf bestem Fue +stand, ber die damalige liberale Presse und ber den von den Liberalen +in den Himmel gehobenen preuischen Richterstand dachte. Da sie ebenso +kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden. + +Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn, +unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der +infamierendsten Handlungen verdchtigt hatte, wegen Verleumdung zur +Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum +Proze kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht, +am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nmlich, da wenn +Zabel alle diese Verleumdungen Vogts ber Marx wiederholt und sie dabei +noch bertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben +konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx +selbst in Preuen fr unmglich gehalten, und er schrieb das auch an +Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Proze abgeraten +hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete: + +Du schreibst, nun wtest Du, da es von den Richtern abhngt bei +uns, ob es ein Individuum berhaupt nur bis zum Proze bringen kann! +Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in +einem meiner Briefe sagte, da Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz +reuig an meine Brust und nehme das gnzlich zurck. Die preuische +Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte +betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an +diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise fr diesen +Satz, und noch ganz anders starke Flle berhaupt an ihnen erlebt, und +zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in +reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich mu die Erinnerung daran gewaltsam +unterdrcken. Denn wenn ich an diesen zehnjhrigen tglichen +Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie +Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom +ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewltigt und +niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darber zu +werden, aber nie wlbt sich meine Lippe zu einem Lcheln tieferer +Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen hre. +Galeerenstrflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhltnis zu +unsern Richtern zu sein. + +Nun aber, Du wirst sie fassen dafr, schreibst Du. >Jedenfalls,< +sagst Du, >liefern mir die Preuen so ein Material in die Hand, dessen +angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!< Nein, +lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, +da Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst. +Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als +wenn Du gar nicht geschrieben httest. Denn englische Bltter liest +man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen +wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein +armseliges Wrtchen davon bringen. Sie werden sich hten! Und unsere +liberalen Bltter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbskpfe ein +Wrtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den >preuischen +Richterstand< bringen, bei dessen bloer Erwhnung sie vor Entzcken +schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei +vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde +schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis +zum Rhein und soweit sonst nur immer >die deutsche Zunge reicht<, +ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preverschwrung zu machen? +O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel +liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel! +ich wei wirklich keinen anderen Ausdruck fr sie -- es ist die +reine ...... + +Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck +wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergnzen. + +Im Jahre 1861 verffentlichte Lassalle im zweiten Band der +Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz ber Lessing, den er +bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: Lessings Leben und +Werke geschrieben, und lie endlich sein groes rechtsphilosophisches +Werk Das System der erworbenen Rechte erscheinen. + +Der Aufsatz ber Lessing ist verhltnismig unbedeutend. Er ist noch +vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich +sehr stark an die Ausfhrungen an, die Heine in ber Deutschland +mit Bezug auf Lessings Bedeutung fr die Literatur und das ffentliche +Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing +als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schlu des +Aufsatzes unter Hinweis auf die groe hnlichkeit der Situation des +derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: hnliche +Situationen erzeugen hnliche Charaktere, so mag ihm da wohl Heines +Ausspruch vorgeschwebt haben: Ja, kommen wird auch der dritte Mann, +der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und +dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier! +War es doch sein hchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu +werden. Wie im Hutten des Franz von Sickingen, so spiegelt sich auch +im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es +fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. Allein wenn wir den +Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte +durchgefhrt haben, wie ist es mit der Politik? fragt Lassalle, und +um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwhnten +Gebieten darber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu +lsen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum Spartakus eine +Stelle, wo Spartakus auf die hhnende Frage des Konsuls: Ich hre, +du philosophierst, Spartakus, zurckgibt: + + Wo du nicht willst, da ich philosophieren soll -- Philosophieren, + es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten! + +Zwei Dezennien darauf sei in der franzsischen Revolution diese +Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr +wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus +und dem Konsul der Zukunft. + + +Funoten: + + [4] Da Vogt verdchtig war, hatte Lassalle, der ursprnglich Vogt in + Schutz genommen, schon frher zugegeben. + + [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschre von Engels Savoyen, + Nizza und der Rhein. Lassalle hatte in seiner Broschre die Annexion + Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverstndliche und, wenn + Deutschland eine dieser Vergrerung aufwiegende Kompensation + erhielte, ganz unanstige Sache hingestellt. Engels weist nun + nach, welche auerordentlich starke militrische Position der Besitz + Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenber verschaffe, + was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen + preis, weil es im Moment mehr dafr eintauschte, die Schweizer waren + aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmnner, + Stmpfli, Frey-Heros u. a., taten ihr mglichstes, die berlieferung + des bisher neutralen Savoyer Gebiets in franzsische Hnde zu + verhindern. Im Herr Vogt kann man nachlesen, durch welche Manver + die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemhungen + hintertrieben. Alles brige sagt ein einfacher Blick auf die + Landkarte. + + [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: Nur da zum + Glck auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum + erscheint mir der revolutionre Nutzen allerdings als gesichert. + Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschre? + + [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in + griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die + russische Revolution mit der Auflsung des russischen Imperiums den + grten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die + auch Wendungen enthlt, zu denen ich mich grundstzlich nicht mehr + bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, + weil sie immerhin erkennen lt, wie sich zur Zeit, wo sie + geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866 + geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte. + + In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle + Abnderung erfahren, die mir deshalb der Erwhnung wert erscheint, + weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurckzufhren ist, der, + wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins + Deutsche zurckbersetzt lautet die Einleitung dort: + + Wohin hat die preuische Lsung der nationalen Frage Deutschland + gebracht? Lassen wir die Frage Elsa-Lothringen beiseite -- die + Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und + betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenber Ruland + und dem Panslawismus. sterreichs Verdrngung aus dem Deutschen Bund + (weiter, wie im Original). + + Obwohl bei mir die Annexion Elsa-Lothringens mit keiner Silbe + erwhnt war und sie fr Englnder damals noch kein spezielles + Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, + ihrer zu erwhnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu + bezeichnen -- an additional blunder heit es im Englischen. Ein + Beweis, wie wenig Engels diese Annexion fr endgltig ansah. + + Da im Englischen statt uns gebracht gesagt wird: Deutschland + gebracht, war durch die Rcksicht auf das andre Lesepublikum von + selbst geboten. Ich wrde aber heute auch aus stilistischen Grnden + diese przisere Ausdrucksweise vorziehen. + + [8] Unter dem Titel Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand + Lassalles. Die Verfasserin ist nun auch lngst aus dem Leben + geschieden. + + [9] Noch hinreiender schildert Lassalle sein seelisches Verhltnis + zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine + ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkndigt, weil die + Dame ihm erklrt hatte, sie knne es nicht vertragen, neben sich + noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine + ganze Abhandlung ber seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand + Lassalles, Nachtrag.) + + + + +Das System der erworbenen Rechte. + + +Das System der erworbenen Rechte, Lassalles wissenschaftliches +Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur fr den Rechtstheoretiker +geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den +praktischen Kmpfen der Gegenwart wesentlich nher als die Materie des +Heraklit, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die +Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht +gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein Riesenwerk +menschlichen Fleies. Darber herrscht bei Sachverstndigen so +ziemlich Einstimmigkeit, da das System der erworbenen Rechte +zugleich von der auerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem +groen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus +allen diesen Grnden wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei +diesem Buche etwas lnger aufhalten. + +Es liegt auerhalb der Zustndigkeit des Schreibers dieser Abhandlung, +ein Urteil darber zu fllen, welche positive Bereicherung die +Rechtswissenschaft dem System der erworbenen Rechte verdankt. Das +vermag nur der Kenner der gesamten einschlgigen Literatur, der +theoretisch gebildete Jurist. Wir beschrnken uns hier darauf, die +Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die +Art, wie er sie lst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner +Lsung zugrunde liegt. + +Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile +zerfallende Gesamtwerk trgt. Eine Vershnung des positiven Rechts und +der Rechtsphilosophie. Lassalle fhrt in der Vorrede aus, da trotz +Hegels Versuch, eine Vershnung zwischen dem positiven Recht und dem +Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen +und Rechtsphilosophen zurzeit grer sei, als sie selbst vor Hegel +gewesen. Die Schuld daran trgen aber weniger die ersteren als die +letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials +einzudringen, htten sie sich begngt, im Himmel ihrer allgemeinen +Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie mglich +zu bleiben. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche +ein wahrer horror pleni, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran +indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermdlich hervorgehoben +habe, da die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in +die Erfahrungswissenschaften. Hegels Rechtsphilosophie konnte, fhrt +Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe +erschien, als der erste Versuch, das Recht als einen vernnftigen, sich +aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen +Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhltnis einnehmen, als etwa die +allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst. +Htten nun die Philosophen sich nicht darauf beschrnkt, bei den +dnnen, allgemeinen Grundlinien derselben -- Eigentum, Familie, +Vertrag usw. -- stehenzubleiben, wren sie dazu bergegangen, eine +Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen +Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu +schreiben, so wrde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen +positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, da mit den +abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag, +Familie usw. berhaupt nichts getan ist, da der rmische Eigentumsbegriff +ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der rmische +Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der +rmische Familienbegriff ein anderer als der germanische +Familienbegriff usw., d. h. da die Rechtsphilosophie, als in das +Reich des historischen Geistes gehrend, es nicht mit logisch-ewigen +Kategorien zu tun hat, sondern da die Rechtsinstitute nur +Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des +geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und +Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind. Eingehend +und erschpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des +vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem +Beispiel desselben der Beweis geliefert, da jene Hegelsche +Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der +Hegelschen Rechtsphilosophie vollstndig aufgegeben werden mu und +nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre +Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu +erzeugen ... Das gelte aber auch von dem Verhltnis des Hegelschen +Systems zur Geistesphilosophie berhaupt, und wenn die Zeit +theoretischer Mue fr die Deutschen niemals aufhren sollte, -- man +kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas +(ein seltenes Glck) nennen, fgt Lassalle mit berechtigter +Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies +in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von +ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im +Grunde nur dieselbe von Hegel getragene Fahne darstellen, die nur +auf einem anderen Wege zum Siege gefhrt werden soll. Es sind immer +die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die +nur gegen Hegel selbst Recht behalten. Hegel habe, wegen +unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht +hufig greres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin. +Wenn er die rmischen Juristen als die Ttigkeit des abstrakten +Verstandes auffate, so werden wir auf das Positivste im ganzen +Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von +unseren Juristen, von den rmischen aber das strikte Gegenteil gilt. +Wir werden sehen, wie ihre Ttigkeit vielmehr schlechterdings nur die +des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht +durchsichtige und bewute, wie dies ganz ebenso bei der Ttigkeit des +religisen und knstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit +wird dann immer nur erwiesen sein, da die Hegelsche Philosophie noch +weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wute, und da der spekulative +Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als +Hegel selbst erkannt hatte. (Vorwort zum System der erworbenen +Rechte.) + +Aus diesen Ausfhrungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem +Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fut. Er steht Hegel bereits +viel unabhngiger gegenber als im Heraklit, aber er hlt doch +nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der +Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen +Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form +der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der +Zurckfhrung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung +und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen +Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem +Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, da es sich bei den +Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische +Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die +Realisationen historischer Geistesbegriffe, lt dagegen die Frage +nach den Umstnden, unter denen diese Geistesbegriffe sich +entwickelten, nach den materiellen Verhltnissen, deren Ausdruck sie +sind, ganz unberhrt. Ja, er dreht das Verhltnis sogar um und will +im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich +rein Positive und Historische nur notwendiger Ausflu des +jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist. So mu er +naturgem, auch bei dem grten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen +Folgerungen gelangen. + +Als das groartigste Beispiel, an welchem diese urschliche +Abhngigkeit des angeblich rein Positiven und Historischen von den +historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet +Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des +Werkes, der den Titel trgt: Das Wesen des rmischen und germanischen +Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung. Die Strke dieser +Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchfhrung +des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glnzenden Darstellung. +Durch alle hierhergehrigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den +Gedanken zu verfolgen, dem rmischen Erbrecht liege der Gedanke der +Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde, +whrend im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne +Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade +das sei, was vom rmischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: wahres +Familienrecht. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt +die Schwche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie +ist, bleibt an der Oberflche haften, durchwhlt diese zwar wieder und +immer wieder, lt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter +liegt, bleibt total unberhrt. Woher kommt es, da das rmische Erbrecht +die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrckt? Von der rmischen +Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt +es, da das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der Idee der +germanischen Familie. Welches ist die rmische Unsterblichkeitsidee? +Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der +germanischen Familie? Die sittliche Identitt der Personen, die zu +ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes +oder die Liebe hat. Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns +im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklrung, warum +diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen +konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die +Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Rmer und Germanen aus +deren wirklichen Lebensverhltnissen selbst zu erklren, als die letzte +Quelle des Rechts erscheint berall der Volksgeist. Dabei verfllt +denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit +Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er +unterscheidet zwar zwischen rmischem und germanischem Volksgeist, aber +er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoe des rmischen Volkes +und konstruiert einen, ein fr allemal -- das ganze Jahrtausend von der +Grndung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des rmischen Weltreichs +-- magebenden rmischen Volksgeist, der sich zum -- ebenso +konstruierten -- germanischen Volksgeiste etwa verhalte, wie Wille +zu Liebe. + +Allerdings darf nicht bersehen werden, da zur Zeit, wo Lassalle sein +System der erworbenen Rechte schrieb, die eigentliche +Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der +rmischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen +lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen +Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, da +er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, da er sie nicht +einmal richtig stellte. + +Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich +durch Morgans epochemachende Untersuchungen ber die Gens (Sippe) ist +gengend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der +verschiedenen Vlker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die +Rmer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als +die germanischen Stmme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit +eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der +Barbarei durchzumachen; der bergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von +der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten +noch in Gentilverbnden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden +Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor: +ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein +Ding der Unmglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat +die Liebe -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem +altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Rmern war dagegen schon vor +Abschaffung des sogenannten Knigtums die alte, auf persnlichen +Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf +Gebietseinteilung und Vermgensunterschied begrndete, wirkliche +Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an +Boden und Auflsung der blutsverwandtschaftlichen Verbnde als +wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das rmische Testament +erwchst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen +rmischen Volksgeists, sondern als ein Produkt derselben +Entwicklung, die den besonderen rmischen Volksgeist schuf, der das +Rmertum zur Zeit der Zwlftafelgesetzgebung[12] erfllte. Wenn die +Rmer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt +das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem +die symbolische Handlung -- die Willensbertragung -- die Hauptsache, +der substantielle Inhalt derselben -- die Vermgensbertragung -- +reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch +weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Vlker berhaupt alle +wichtigen konomischen Handlungen in religise Akte; es sei nur an die +Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der +Grenzmarken usw. erinnert. Was wrde man von einem Historiker sagen, +der den rmischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausflu der +besonderen Natur des rmischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer +speziell rmischen Idee hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten +cker Nebensache, der Begriff der Endlichkeit die Hauptsache gewesen +sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des +Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes +Terminus zurckfhren wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den +Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der +Testamente bei den Rmern bezeichnet, in der rmischen Mythologie den +letzten Grund dieser Rechtsschpfung erblickt.[13] + +Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie +unlogischen Behauptung, da, wenn das rmische Zwlftafelgesetz fr den +Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem +nchsten Agnaten (Verwandte mnnlicher Linie) und, falls kein Agnat +vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, da das Testament +auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das +Intestaterbe aber erst nachtrglich, subsidir, eingefhrt worden sei. +Tatschlich zeigt gerade das Zwlftafelgesetz, obwohl es die +Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung +an. Es konstatiert zuerst den neueingefhrten Rechtsgrundsatz der +Testierfreiheit, da derjenige erben soll, dem der Erblasser +testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein +Testament da, so tritt das frhere Erbrecht wieder in Kraft, die +urwchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nchste Agnat und dann die +Gens, der ursprngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut +erscheint auf den zwlf Tafeln als letztes, weil es als das lteste das +umfassendste ist, und als solches naturgem die letzte Instanz bildet. +Wie erknstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus +hervor, da er sich, um seine Theorie von dem, auf den Begriff des +Willens aufgebauten rmischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal +gezwungen sieht, zu behaupten, da den Agnaten nicht die Idee der +Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde +liegt und die Agnaten als die durch das Band der Gewalt vermittelte +Personengemeinschaft bezeichnet. Als glubige Althegelianer haben die +alten Rmer mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz den tiefen +Satz der spekulativen Logik verwirklicht, da der nicht ausgedrckte +Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat +den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen +Organisation derselbe verwirklicht ist. Das Testament, die +Testierfreiheit, ist danach lter als der rmische Staat, aber das +Intestaterbe ist vom Staat eingefhrt, der Staat hat eines schnen +Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidirerben eingesetzt, +und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentitt, sondern in ihrer +Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der +Willensidentitt. + +Wir wissen heute, da sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben, +da es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat, +die sie vorher nicht besa, sondern da er ihr vielmehr eines der +Rechte, eines der mter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen, +ihre Funktionen immer mehr eingeschrnkt hat, da erst mit der Lockerung +des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat mglich +wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit. + +Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mute er, wie alle +Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm ber das Wesen des +ursprnglichen rmischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu +falschen Schlssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit nherzukommen, +als seine Vorgnger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. +Bemht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren, +schneidet er sich jede Mglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu +erkennen. Der berhmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beilufig ebenfalls +Hegelianer -- hatte rmisches Intestaterbe und Testamentserbe als +miteinander kmpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei +Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine +historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu +erklren versucht. So fehlerhaft diese Erklrung, so richtig ist der ihr +zugrunde liegende Gedanke, da es sich hier um einen grundstzlichen +Gegensatz handelt und da die gegenstzlichen Rechtsbegriffe auf +verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt +gerade in ihm einen Rckfall in den Fehler der historischen Schule, +das aus dem Gedanken Abzuleitende als ein uerlich und +historisch Gegebenes vorauszusetzen. Und auf der andern Seite erklrt +er es als einen Grundirrtum, wenn andere Rechtsphilosophen von der +Auffassung ausgehen, da das rmische Intestaterbrecht seinem +Gedanken nach wahres Familienrecht sei. Tatschlich ist es wirklich +nichts anderes. Nur da die hier in Betracht kommende Familie sich +nicht mit der rmischen Familie deckt, sondern den weiteren +Geschlechtsverband umfat[14]. + +Wir knnen auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber +aus dem Bisherigen schon, da der so kunstvoll ausgefhrte Bau +Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. So geschlossen und +streng folgerichtig daher die Beweisfhrung, und so geistreich auch die +Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er +mit dem ganzen Buch ber das rmische Erbrecht beweisen wollte, hat er +nicht bewiesen. Die rmische Unsterblichkeitsidee ist nicht die +Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des rmischen Testaments, +sie erklrt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt +bestehen, auch wenn der religise Hintergrund verschwindet. Und gerade +in den vielen Formen und Formalitten, von denen die Rmer die +Rechtsgltigkeit der Testamente abhngig machten, liegt unseres +Erachtens ein weiterer Beweis, da das Testament nicht, wie Lassalle +meint, die frhere, sondern umgekehrt die sptere Einrichtung gewesen +ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das +rmische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme +bildete, whrend das Intestaterbe noch die Regel war. + +Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie +zieht, da das Testament nur aus der rmischen Unsterblichkeitsidee -- +der Fortdauer der Willenssubjektivitt nach dem Tode -- zu begreifen +sei, da es mit dieser begrifflich stehe und falle? Da das moderne +Testamentsrecht, nachdem die rmische Willensunsterblichkeit der +christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des +nicht mehr auf die Auenwelt bezogenen, sondern des in sich +zurckgezogenen Geistes gewichen sei, nichts als ein groes +Miverstndnis, eine kompakte theoretische Unmglichkeit sei? Dies +fhrt uns zurck auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite, +trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist. + +Der erste Teil des Systems der erworbenen Rechte fhrt den +Untertitel Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der +Gesetze. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen +Grundsatz zu ermitteln, der ein fr allemal die Grenze anzeigen soll, +unter welchen Umstnden und wie weit Gesetze rckwirkende Kraft haben +drfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoen. Mit anderen +Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder +Recht aufeinanderstoen (kollidieren), das erstere und wann das +letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als erworbenes zu +respektieren, wann es ohne weiteres der Rckwirkung unterworfen sein +soll. + +Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gergte Fehler der +Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, whrend alle ihre +Vorzge: die Schrfe des begrifflichen Denkens, das Verstndnis -- +innerhalb der bezeichneten Grenzen -- fr das geschichtliche Moment, +verbunden mit revolutionrer Khnheit in der Verfolgung eines Gedankens +bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung +gelangen. So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als +bei der Untersuchung ber das Wesen des rmischen Erbrechts. Wie hoch +oder gering man immer die Errterung solcher rechtsphilosophischen +Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, da +Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise lst, da sowohl der +Jurist wie der Revolutionr dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist +gewi eine respektable Leistung. + +Lassalle stellt zunchst folgende zwei Stze als Normen auf: + +a) Kein Gesetz darf rckwirken, welches ein Individuum nur durch die +Vermittelung seiner Willensaktionen trifft. + +b) Jedes Gesetz darf rckwirken, welches das Individuum ohne +Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das +Individuum also unmittelbar in seinen unwillkrlichen, allgemein +menschlichen oder natrlichen oder von der Gesellschaft ihm bertragenen +Qualitten trifft, oder es nur dadurch trifft, da es die Gesellschaft +selbst in ihren organischen Institutionen ndert. + +Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbrgerlichen +Befugnisse der Angehrigen des Landes ndert, tritt sofort in Kraft, +lt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher +ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberhrt, auch wenn diese +Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das +zur Volljhrigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhht, +so verlieren alle Personen ber 21 und unter 25 Jahren sofort die an die +Volljhrigkeit geknpfte Handlungsfhigkeit, die sie bisher besaen, +denn sie besaen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die +Rechtsgeschfte, die sie vor Erla des Gesetzes, gesttzt auf die ihnen +bisher zuerkannte Volljhrigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue +Gesetz nicht zurck. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch +individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein +erworbenes Recht. + +Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist +nicht unter allen Umstnden der Rckwirkung entzogen. Das Individuum +kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern, +insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen +Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen. Jedem Vertrage sei von +Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das +in demselben fr sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange +Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht +berhaupt als zulssig betrachten wird. Die alleinige Quelle des +Rechts, fhrt Lassalle aus, ist das gemeinsame Bewutsein des +ganzen Volks, der allgemeine Geist. Durch Erwerbung eines Rechts +knne sich daher das Individuum niemals der Einwirkung des +allgemeinen Rechtsbewutseins entziehen wollen. Nur ein solches +Individuum wrde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten knnen, +welches, wenn dies denkbar wre, nun und niemals ein Recht weder +erwerben noch ausben und haben wollte. Es lt sich vom +Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst +desselben fr selbstherrlich fr alle Zeiten und gegen alle knftigen +zwingenden und prohibitiven Gesetze erklren. Nichts andres als +diese verlangte Selbstsouvernitt des Individuums liege in der +Forderung, da ein erworbenes Recht auch fr solche Zeiten fortdauern +soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulssigkeit ausschlieen. Wenn +also der ffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt +ist, den Fortbestand eines frheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft, +Hrigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und +Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, +fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschlieen, so +knne dabei von irgendwelcher Krnkung erworbener Rechte ... gar +nicht die Rede sein. So seien denn auch die Dekrete der berhmten +Nacht vom 4. August 1789, durch welche die franzsische +konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft +herflieenden Rechte aufhob, von jeder Rechtsverletzung und +Rckwirkung frei gewesen. Es gab da nichts zu entschdigen. Ein +Recht der Entschdigung, fhrt Lassalle treffend aus, auch da noch +anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom ffentlichen +Bewutsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist, +heie vermge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als +Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem ffentlichen +Geiste einen Tribut fr seine Fortentwicklung aufzuerlegen. +Von einer Entschdigung knne nur da die Rede sein, wo nicht das +Rechtsverhltnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung +aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von +Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphre +des Privatrechts in die des ffentlichen Rechts bergefhrt werden. +Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die franzsischen Versammlungen +nach 1789 durchgngig mit der wahrhaften Logik des Begriffs +innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preuische Gesetz vom +2. Mrz 1850 ber die Regulierung und Ablsung der gutsherrlichen +und buerlichen Verhltnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts +als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewutsein +verordnete Vermgensverletzung der rmsten Klassen zugunsten der +adeligen Grundbesitzer, d. h. logisch-konsequent nichts als ein +Raub[15]. + +Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte, +keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten ber die Vergangenheit und die +aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil ber die +Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle, +der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. Was +aus dem ersteren folge, sei vielmehr, da jede Zeit autonom sei, keine +Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine +rechtlich verpflichtet sein knne, in ihr selbst noch fortwirken zu +lassen, was ihrem Rechtsbewutsein widerspricht, und von ihr also von +jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut +wrde. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, fhrt er +weiterhin aus, da ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen, +in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrckt +habe. Denn zum Begriff des Rechts gehrt nur, da der Volksgeist einen +geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphre, +d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umstnden +nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatschliche +Zertrmmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt. +Diesen Grundsatz finde man schon bei den rmischen Juristen, und die +franzsische Gesetzgebung whrend und nach der franzsischen Revolution +habe ihn von neuem besttigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent +recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionre, es +ratifizieren mssen, wenn er die franzsische Revolution in ihren +rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms, +datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgnge in +Preuen und weist nach, wie im Gegensatz zur franzsischen Jurisprudenz +das preuische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen ber das +durch die Mrzrevolution von 1848 geschaffene und in der preuischen +Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrcklich anerkannte neue +Rechtsbewutsein, da alle Preuen vor dem Gesetze gleich sind und +Standesvorrechte nicht stattfinden, durch Wortknste hinweggesetzt, +Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer +Reaktionskonvent bettigt habe. Vier Jahre, nachdem das System +erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation +des Artikel 84 der preuischen Verfassung auch den liberalen +Kalbskpfen, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel +Anspruch hatte. + +Wir haben gesehen, erworbene Rechte mssen erstens durch individuelle +Willensaktion vermittelt und zweitens in bereinstimmung sein mit dem +erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die +Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der franzsische Konvent im +Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, da die +Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. +Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die +seit dem 14. Juli 1789 erffnet worden, so verstie er damit nach +Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im +Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. Ventose desselben Jahres in +Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, da das Gesetz +nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem groen +Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien +entwickelt habe, aber das Prinzip der Nichtrckwirkung nicht einmal +auch nur in Frage stelle, da unstatthafte Rckwirkung jedoch dann +eintrete, wenn man diese Grenze berschritte, d. h. das Gesetz auch auf +die vor dem 14. Juli 1789 erffneten Erbschaften ausdehnte. + +Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts +zurckzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen ber rmisches +und germanisches Erbrecht hinaus will. Das rmische, auf Testamente und +Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der Reihen, in welche die +Willensgemeinschaft sich gliedert, beruhende Erbrecht war danach in Rom +erworbenes Recht, denn es entsprach dem rmischen Volksgeist, der +Substanz des rmischen Volkes, nmlich der Idee der Unsterblichkeit +des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht -- +Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer +Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der sittlichen Identitt +der Personen beruhenden Familie, die zu ihrer substantiellen +Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe +hat. Die Familie erbt, weil das Eigentum berhaupt nur +Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber, +nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, nicht mehr +auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der +Familie als durch den prsumierten Willen des Toten berufen, +sondern auf der Familie als Staatsinstitution, auf dem die +Vermgenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des +Staates. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht, +von dem wir jetzt gesehen haben, da es heutzutage eine kompakte +theoretische Unmglichkeit sei. Weder Intestaterbfolge noch +Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern Regelung der +Hinterlassenschaft von Sozietts wegen. Und Lassalle schliet +sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das +Testament nicht in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen +Satz ausgesprochen habe: Testamenta vero mero jure nullius essent +momenti, nisi anima esset immortalis -- Testamente aber wren +mit vollem Recht durchaus null und nichtig, wenn die Seele nicht +unsterblich wre. + +Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklrung, was Lassalle meint, +wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den +Satz ausbricht: Und es wird sich vielleicht bald zeigen, da sich aus +unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere +Folgerungen ber das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben? Was +auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, knnen +der Staat oder die Soziett auch jederzeit ndern, einschrnken oder +ganz aufheben, wie es dem Bedrfnis der Soziett angemessen erscheint. +Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der +erworbenen Rechte nicht eine Zeile gefunden haben, welche auf eine +Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so +kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das +ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrcken wrde -- nach +dieser Umsetzung schreit. + +Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den +Worten beginnt, da, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft +gelst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein +knne und drfe, als die rechtswissenschaftliche Herausringung des +unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen +Gedankens? + +Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelst? + +Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr +zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu +sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die +Darlegung, da im allgemeinen der kulturhistorische Gang aller +Rechtsgeschichte darin bestehe, immer mehr die Eigentumssphre des +Privatindividuums zu beschrnken, immer mehr Objekte auerhalb des +Privateigentums zu setzen. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in +sehr feiner Entwicklung ausfhrt, mit Recht den grten Wert. Sie ist +ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk +begriffsscharfer Logik. + +Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn +sein Beispiel vom Wesen des rmischen und germanischen Erbrechts +magebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwche dieses +Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu +rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen +Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen +Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser +Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem +und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben +tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in +letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen +Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ndern +sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird gendert, sobald es mit den +materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unvertrglich wird. +Dann entdeckt der Volksgeist, da dieses Erbrecht seinem +Rechtsbewutsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen brigen +Rechtseinrichtungen. Der Volksgeist erscheint nur als die letzte +Instanz, die ber ihren Bestand entscheidet, tatschlich ist er so +etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind +die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die +Verhltnisse, unter denen es die Gegenstnde seines Bedarfs +produziert[16]. + +Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtmer der +alten Juristen und Rechtsphilosophen noch berbietenden Theorie? Der +Fehler liegt daran, da er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto +greren Schaden fr seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der +Sphre des juristischen und philosophischen Begriffs bleibt. Aus der +begrifflichen Ableitung sollen sich die Dinge erklren, die +begriffliche Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung blolegen. Die +Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre +eigenen Entwicklungsgesetze. + +Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tchtiger Jurist. Er brachte von +Hause aus auergewhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf +mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affre hatte diese Eigenschaft noch +strker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen +Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu +verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft +Glnzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwche. +Die juristische Seite berwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die +sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt +sich schon hier im System der erworbenen Rechte, es bildet die +Schwche dieses Werkes, es sollte sich aber auch spter in seiner +sozialistischen Agitation zeigen. + +Das System usw. sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der +Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in +Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwrts, bleibt dagegen +in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. Das ist +um so merkwrdiger, als der Schritt, der geschehen mute, um die +Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, lngst +angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle smtlich kannte. +1844 hatte Karl Marx in den deutsch-franzsischen Jahrbchern in einem +Aufsatz, der obendrein den Titel fhrt: Zur Kritik der Hegelschen +Rechtsphilosophie, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift La +misre de la philosophie ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx +und Engels im Kommunistischen Manifest das Beispiel seiner Anwendung +geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859 +erschienenen Schrift Zur Kritik der politischen konomie unter +ausdrcklichem Hinweis auf den ersterwhnten Aufsatz, geschrieben: +Meine Untersuchung -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung +bildete -- mndete in dem Ergebnis, da Rechtsverhltnisse wie +Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der +sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern +vielmehr in den materiellen Lebensverhltnissen wurzeln ... Es ist +nicht das Bewutsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr +gesellschaftliches Sein, das ihr Bewutsein bestimmt. Und obgleich +Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am System arbeitete, +obwohl er sich Marx gegenber in den begeistertesten Ausdrcken ber +es uerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die +im Sinne des Vorstehenden zu deuten wre. Soll damit ein Vorwurf +gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wre im hchsten Grade +abgeschmackt. Wir fhren es an zur Kritik seines Standpunktes, +seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die +ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen +Auseinandersetzung mit Marx ber die im System der erworbenen Rechte +aufgestellten Theorien des Erbrechts. + +Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, da sich Marx sofort gegen diese +auflehnen mute, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im +direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen +Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor, +da die, brigens nicht lange, brieflich gefhrte Debatte sich im +wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, da das Testament +nur aus der rmischen Mythologie, der rmischen Unsterblichkeitsidee, zu +begreifen sei, und da die konomische Bourgeoisentwicklung niemals fr +sich allein das Testament habe entwickeln knnen, wenn sie es nicht +schon im rmischen Recht vorgefunden htte. Und es ist ganz +charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die +konomische Entwicklung beziehen, Lassalle schlielich immer wieder mit +juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. Die grundstzliche +Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in +dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen knnen, zum +sprechendsten Ausdruck. + +Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen +geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das System der erworbenen +Rechte eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst fr denjenigen, +der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, hchst anregende und +genureiche Lektre. + + +Funoten: + + [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit + derjenigen Rechtsgrundstze, die durch die philosophische + Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der + Rechtsverhltnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen + angeborenes, ihr natrliches Recht gelten sollen. Es werden daher + vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende + Begriffe gebraucht. + + [11] Vgl. Fr. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums + und des Staats. Im Anschlu an Lewis H. Morgans Forschungen. 1. + Aufl. S. 93. + + [12] Um das Jahr 450 v. Chr. + + [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, da das Aufkommen des + Ahnenkultus bei allen Vlkern mit dem bergang vom Mutterrecht zum + Vaterrecht zusammentrifft. + + [14] brigens brauchen auch die Rmer das Wort familia nicht blo + zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden + Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls fr den mehr oder + minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des rmischen + Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrcklich zwischen + der familia im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im + weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle + diejenigen gehren ... die aus demselben Haus und derselben gens + hervorgegangen sind. Fr Lassalle ist die betreffende Stelle ein + weiterer Beweis, da das rmische Intestaterbe -- kein Familienerbe + gewesen sei. Denn, sagt er u. a., man wird doch ... das Erbrecht + der Gentilen nicht als ein >Familienrecht< ausgeben wollen! + + [15] Auch gegen die Art, wie in Preuen bei der Aufhebung von + Grundsteuerfreiheiten usw. Entschdigungen von der Volksvertretung + erpret wurden, sagt Lassalle manches krftige Wort. Wenn eine + Staatsregierung, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der + preuischen Regierung eingebrachten und solche Entschdigungen + stipulierenden Entwurf -- die unbegreifliche Schwche hat, einen + solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundstzlich + auf das Souvernittsrecht des Staates, und wenn eine Kammer + pflichtvergessen genug sein knnte, aus Rcksicht auf diese + Schwche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so wrde sie + wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hrigkeit + des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren. Was + htte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert htte, noch nach + dreiig Jahren werden in Preuen solche Schwchen und solche + Pflichtvergessenheit berechtigte nationale Institutionen sein! + Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, da, + als in England die Kornzlle aufgehoben wurden, die Tories nicht die + Schamlosigkeit gehabt haben, sich aus ihren jetzt unspekulativ + gewordenen Gterankufen ein Ersatzrecht gegen den ffentlichen + Geist zu drehen! Htte er dreiig Jahre lnger gelebt, so wrde er + erfahren haben, da was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war, + als das richtige praktische Christentum. + + Aber welche Ironie der Geschichte, da die Aufgabe, die Neuauflage + des Systems der erworbenen Rechte zu besorgen, gerade Lothar + Bucher zufallen mute. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten + Ausgabe, nur seine Berufsttigkeit habe ihn verhindert, den + Nachweis zu versuchen, wie das System in den Gesetzberatungen der + letztverflossenen zehn Jahre htte benutzt oder erprobt werden + knnen. Tatschlich schlagen die meisten der dafr in Betracht + kommenden Gesetze der ra Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins + Gesicht. + + [16] Man mu sich freilich das Verhltnis nicht gar zu mechanisch + vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen knnen die + religisen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem + Begriff des Volksgeistes zusammenfat, ihrerseits wiederum einen + groen Einflu auf die Gestaltung der Produktionsverhltnisse + ausben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung + hindern oder verlangsamen. Schlielich sind es doch immer die + Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich + hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung + zugrunde liegen. + + [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es ein + Meisterwerk, das ihn zur hchsten Bewunderung hingerissen habe. + + + + +Der preuische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das +Arbeiterprogramm. + + +Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee, +in Berlin ein demokratisches Blatt im groen Stil zu grnden. Wie er +ber die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie +er danach drstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in +Deutschland einwirken zu knnen. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV. +eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle +daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt +wren, nach Deutschland zurckzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches +Blatt herauszugeben. In meinem vorletzten Brief, schreibt er unterm +11. Mrz an Marx, fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der Knig strbe +und Amnestie eintrte, zurckkommen wrdet, hier ein Blatt +herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nmlich fr +diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden +Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein groes Blatt +herauszugeben. Wrdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein, +herzukommen? Und wieviel Kapital wre zu einem groen Blatte +erforderlich? Wrde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu +aufbringen knnte? Oder wieviel? Es wre mir lieb, wenn Du mir +darber schriebst, denn ich denke gern an dies chteau en Espagne! +In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurck, und +am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preuen in der Tat eine +Amnestie herbeigefhrt hatte, schreibt er dringender: Noch einmal +stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist ntig, um hier ein +Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der Neuen +Rheinischen Zeitung wrde eventuell zu solchem Zweck hierher +zurckkehren? + +Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frhjahr 1861 in +Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die +ganz merkwrdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben +und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja stets +in der Minoritt! Dann aber legte die preuische Regierung die +Amnestie so aus, da diejenigen politischen Flchtlinge, die durch +mehr als zehnjhrigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehrigkeit zum +preuischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs +ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Antrge +genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von +Auslndern berhaupt. Das heit, da das erstere fr die meisten +Flchtlinge zutraf, da es von dem Belieben der Regierung abhngen +sollte, jeden davon wieder abschieben zu knnen, dessen Rckkehr +ihr unbequem war. Ein von Lassalle fr Marx eingereichtes +Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen +abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. November 1861 datierten +Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hie, +zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Grnde vorhanden sind, +welche fr die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen +knnten. Damit war natrlich jeder Gedanke an eine bersiedelung von +Marx nach Berlin ausgeschlossen. + +Im Sptsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Grfin Hatzfeldt +eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, sehr +instruktiv fr ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf +Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er fast alle +leitenden Persnlichkeiten in den verschiedenen Stdten, die er +besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift +Enthllungen ber das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles +zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr. +Engels vom 30. Juli 1862 besttigt wird, hat Lassalle bei jenem +Besuch Garibaldi zu einem militrischen Unternehmen in groem Stil +gegen sterreich zu berreden gesucht und den Plan dann in London +auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum +Diktator aufwerfen, eine groe Armee bilden und mit dieser ber +Padua noch weiter vordringen, whrend zugleich ein an die adriatische +Kste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrcken und die +Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb +interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener +Zeit die Schaffung einer revolutionren Situation vorstellte, die +unter anderm die erstrebte Lsung der deutschen Frage bringen sollte. +Zu erwhnen ist noch, da Marx Lassalle fr diese Reise nach Italien +einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischrler +Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungnstige, aber zweifelsohne +auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener ber Becker Lassalle +jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. Die meisten kennen ihn +gar nicht -- schreibt er ber Becker an Marx zu seiner +Information -- die, die ihn kennen, halten ihn fr einen Blagueur +und Bummelfritz, fr einen Humbug ... Gut steht er nur mit Trr, der +eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche +liegt. Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' +Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. Du weit, wie oft wir in +die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hten als vor +unseren Landsleuten. Nun, der wackere Jean Philipp war doch +jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Grosprecher, sondern +hatte wiederholt fr die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden, +auf eine Zusammenkunft mit ihm htte es Lassalle also schon ankommen +lassen knnen. Als er spter den Allgemeinen deutschen +Arbeiter-Verein ins Leben rief, wute er auch Beckers Adresse zu +finden[18] und stellte diesem gegenber, der auf irgendeine Weise +erfahren hatte, welche Redereien ber ihn im Umlauf seien, die Sache +so dar, als habe Marx aus einer Mcke einen Elefanten gemacht und +einer harmlosen gelegentlichen uerung ber Beckers Verkehr mit Trr +eine so schlimme Deutung gegeben. + +Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin zurck. Er fand die +politische Situation wesentlich verndert vor. Der Gegensatz zwischen +dem Knig von Preuen und dem liberalen Brgertum hatte sich zum +offenen Konflikt verschrft; bei den Neuwahlen zur Kammer Anfang +Dezember 1861 war die schwachmtige konstitutionelle Partei durch die, +eine etwas schrfere Tonart anschlagende Fortschrittspartei verdrngt +worden. Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres aus der bis dahin +eine kleine Minderheit in der Kammer ausmachenden Fraktion +Jung-Litauen entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber die +Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene Partei. Sie bestand +aus den verschiedenartigsten Elementen, liberalisierende +Grobourgeois saen in ihr neben kleinbrgerlichen Demokraten, +ehemalige Republikaner mit verschwommenen sozialistischen Tendenzen +neben Mnnern, die beinahe noch kniglicher waren als der Knig +selbst. In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es Wilhelm I. eben +mit allen verdorben; nur die Partei der Junker und Mucker und die +eigentliche Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. Die +Fortschrittspartei verfgte ber die groe Mehrheit der Kammer und +ber fast die ganze ffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die +das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten +hegten, um sich ihr anschlieen zu knnen, hielten es fr gut, ihr +zunchst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren +Kampf mit der preuischen Regierung zu Ende fhren werde. + +Lassalle war mit denjenigen Mnnern, die den Mittelpunkt der +Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit +zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit groer Emphase in einem +Brief an Marx fr die kleinbrgerlich-demokratische Berliner +Volkszeitung eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das, +wenn auch hufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit +viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Prefesseln zur +Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im +allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter +verteidigt, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der +Neuen Rheinischen Zeitung gegenber den blau-revolutionren +Blttern und Parteien eingenommene fr ebenso theoretisch falsch wie +praktisch verderblich erklrt. Wir mssen, schrieb er, in +bezug auf die vulgr-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen +Nancen ebensosehr die Identitt, als den Unterschied unsres +sozial-revolutionren Standpunktes mit ihnen festhalten. Blo den +Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben. +Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt +haben, alle blo blau-revolutionren Bltter und Parteien den +reaktionren gleichzustellen, dann erklre ich entschieden, da ich +diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr berall outrance +bekmpfen werde. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx +mit, da er die Weigerung der Volkszeitung, eine lngere Einsendung +von ihm gegen die Nationalzeitung abzudrucken, als Anla benutzt +habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. Umgang +meine ich, denn andres bestand berhaupt nicht. Ich benutze den +Anla, sage ich. Denn es ist mir eine erwnschte Gelegenheit noch +mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, da +ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen +Gesindel gar kein Verhltnis mglich, und so werde ich denn dies +benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natrliche +Gutmtigkeit schon lange getan, aufzuheben. In der vom 27. Mrz +1861 datierten Vorrede zum System der erworbenen Rechte finden wir +denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten +Angriff auf die Wortfhrer der liberalen Bourgeoisie, die den +Begriff des Politischen in einer geistlosen Verflachung und +Oberflchlichkeit, in einer Isoliertheit fassen, die sie zwingt, +sich an bloe Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und +fr Worte zu kmpfen. Indes blieb Lassalle doch mit andern +Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin +selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, da +politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten. +Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewhnliche +Salonlwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder +radikaltuende Knstler, wie Hans von Blow usw., sich der intimen +Freundschaft Lassalles rhmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der +Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar +unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum +Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich +Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862). +Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft +zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen reizende +blondlockige Frau jener Lassalle als einen der intimsten Freunde +ihres Mannes bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate +darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: Beilufig, mit dem ganz +gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen und fgt +recht bezeichnend hinzu: Glaube etwa nicht, da seine Frau die +Veranlassung davon bildet. + +Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher, +der nach Erla der Amnestie nach Deutschland zurckgekehrt war und sich +in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern +gehrte einer zahmeren zoologischen Gruppe an. + +Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit besttigen, da +dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plnen heimgekehrt war, +die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknpften. +Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. +Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den +Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rstow schrieb, in +langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen +fr seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf +eine am Abend vorher gefhrte Debatte mit Lassalle Bezug und fhrt aus, +da er es zwar fr mglich halte, die bestehende Ordnung -- oder +Unordnung -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht, +sie niederzuhalten; mit andern Worten, da die Zeit fr eine +sozialistische Revolution noch nicht reif sei. Bedenken Sie dazu noch +eins: da jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit +hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns +eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine hnliche Bewegung +wachrufen wrde. Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er +nur die lahme Antwort Machiavellis: Politik ist die Wahl unter +beln. Ein Sieg des Militrs -- d. h. der preuischen Regierung!! +-- wre ein bel, aber ein Sieg des heutigen sterreich wre +kein Sieg des reaktionren Prinzips. Dafr stelle er Lassalle als +Zeugen die Berliner Revue usw. usw. Diese als Einwand gegen +Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schlu zu, da +Lassalle eine Revolution erzwingen zu knnen glaubte und im Hinblick +hierauf sterreich fr den Vorsto ausersehen hatte. Damit war der +obenerwhnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu +gewinnen, hinlnglich erklrt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der +fr gewhnlich in politischen Dingen ein sehr nchterner Rechner war, +zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von +franzsischen, ungarischen oder italienischen Revolutionren angeregt +worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien +kennengelernt, mu dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rstow um ihn +wute und, wie Lassalle Marx erzhlte, ihn gebilligt habe, mag er +auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militrs +zurckzufhren sein. Es ist schwer zu glauben, da er Lassalles +eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles +bereinstimmte. + +Jedenfalls berzeugte sich Lassalle daheim, da zu einer Revolution in +Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionre fehlten. Indes +war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rckkehr zum +Studiertisch ntige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an +die groe national-konomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen, +verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen, +was bei dem tglich lebhafter pulsierenden ffentlichen Leben brigens +nur durchaus erklrlich war. + +Die erste Leistung, mit der er zunchst an die ffentlichkeit trat, war +das gemeinsam mit Bucher verfate Pamphlet Julian Schmidt, der +Literarhistoriker. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt +zusammengeschriebenen Geschichte der deutschen Literatur ist, zeigt +das Vorwort, da mit ihr die liberale Presse berhaupt getroffen werden +sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm +mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte Julian der +Grabowite fglich der Ausdruck werden knnen, welcher den geistigen +Hhepunkt dieser Partei kennzeichnet. Eine etwas bertriebene Logik, +wie es berhaupt in der Schrift an bertreibungen nicht fehlt. Auch war +der Zeitpunkt fr sie nicht sehr gnstig gewhlt, da gerade in jenen +Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelst und Wilhelm I. ein +Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War +nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der +Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese +zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage +gemeinsame Sache mit ihr, so da der Hieb sie in einem Augenblick traf, +wo sie zufllig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die +Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe +Geielung der bei ihm oft in gespreizter Bildungssprache sich +wichtig machenden Oberflchlichkeit durchaus berechtigt. +Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schrfe die grten +Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft flschende und +tendenzis-gehssige Schmidtsche berkritik. Wo der Setzer das +Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, whrend Lothar Bucher +als das Setzerweib vorgefhrt wird. + +Eine Einladung, die er im Frhjahr 1862 erhielt, in einem Berliner +liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwnschte +Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht mglich war --, den Fhrern +der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mndlich +gegenberzutreten. Als Thema whlte er die Frage des Tages: den +ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung +hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er ber Verfassungswesen +betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er +entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm +ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind +Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten +Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhltnisse ist; ein Volk +besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkr der +Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch +ohne die Verfassung sich gegen sie zu schtzen. Es sei daher der grte +Fehler gewesen, da man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu +ndern und vor allen Dingen das Heer aus einem kniglichen in ein +Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung +so lange vertrdelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschpft +hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder +einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, mge man diese +Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten +Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen -- +d. h. als dem Bestreben entsprungen, die tatschlichen Verhltnisse +weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. Das Frstentum, meine +Herren, heit es am Schlu, hat praktische Diener, nicht +Schnredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wnschen +wren. + +Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar +richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie +trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die +bersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hie, die +Partei aber -- ein Teil der Fhrer berhaupt nur, der andere jedenfalls +zunchst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu fhren wnschte. +Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der +Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im groen +und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den +Zeitpunkt fr eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch +Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen +Grnde, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen, +dieser Ansicht. Fr den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion, +da man fr die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese +verletzte, fr das Recht gegen die Macht kmpfte, eine viel +gnstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene +Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen +Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich +wenigstens alle moralischen sichern. + +Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder +Fortschrittler -- ja, jeder vernnftige Mensch berhaupt unterschreiben +konnte, war er daher doch den Fhrern der Fortschrittspartei hchst +unangenehm, whrend die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hnde +rieb. Ganz offen bejubelte ihn die Kreuz-Zeitung, das Organ der +Junker und Mucker. Nicht nur, da es ihr berhaupt angenehm war, wenn +der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch +deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage +zwischen Knigtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil +dadurch ihre Position als einzig zuverlssige Sttze des Thrones eine +um so befestigtere wurde. Man mu nicht vergessen, da die +Neue ra Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron +der Hohenzollern von der allzu lstig gewordenen Vormundschaft der +ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenber +dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mute diese dagegen dem +Knig als das unbedingt kleinere bel erscheinen. + +Lassalle lie den Vortrag, den er noch in drei weiteren +fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, da die +fortschrittliche Whlerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- auf +mehrfaches Andringen in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die +Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei ber +die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich +unter diesen Verhltnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter +entwickeln werde. + +Ebenfalls im Frhjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im +Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel +Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: ber den +besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der +gegenwrtigen Geschichtsperiode. Auch diesen Vortrag hatte er vorher +sorgfltig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht +einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus -- +unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen +Reden. Eine ebenso klare wie schne Sprache, gedrungene, flssige, +nirgends berladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz +fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre +formellen Vorzge, whrend sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit +einigen Einschrnkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die +Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte +nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umstnden, unter denen +sie gehalten wurde, angepate Umschreibung des Kommunistischen +Manifestes bezeichne; sie fhrt in der Hauptsache an der Hand konkreter +Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in groen Zgen +bereits vorgezeichnet ist. + +Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische +Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch +auch, wie das brigens im Vortrag ber Verfassungswesen gleichfalls +geschieht, die Betonung der konomischen Grundlagen der Bewegung der +Geschichte in den Vordergrund. Da die Arbeiter vermge ihrer +Klassenlage in der modernen brgerlichen Gesellschaft die eigentliche +revolutionre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die +Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des +kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des +Arbeiterprogramms, unter welchem Namen der Vortrag spter in Druck +erschienen ist. Nur da sich fr Lassalle die Sache sofort wieder in +juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen +verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgngig im Vortrage +selbst vom Arbeiterstand spricht, so knnte man darin eine bloe +Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie +Ansto nehmen mchte. Indes es mu Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt +werden, da er in der Wahl seiner Ausdrcke durchaus nicht leichtfertig +zu Werke ging; es ist kein bloes Zugreifen nach einer populren +Redewendung, die ihn vom Arbeiterstand, von einem vierten Stand +sprechen lt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen +Vorstellungen. Es ist derselbe Rckfall, der ihn den Begriff des +Bourgeois nicht etwa von der tatschlichen Machtstellung herleiten +lt, die der Kapitalbesitz rein vermge seiner konomischen Wirkungen +und Krfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen +Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes geniet oder +beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen +Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, +verwischt er ihn auf solche Weise und lt den Kapitalbesitzer nur dann +einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung +eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des Arbeiterprogramm.) +Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als +bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal +der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin. +Das preuische Dreiklassenwahlsystem, eingefhrt von der +feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die brgerliche +Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des +modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man +den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Grokapitalisten +beschrnkt, aber was wird dann aus dem vierten Stand? + +Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet +Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel +der Abwlzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Da +jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern +mglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den +Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhngig +macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache +umgestoen, da gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte +Wahlrecht am lngsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem +am strksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, da von den 97 +Millionen Talern, die der preuische Staat im Jahre 1855 aus Steuern +einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist +brigens gleichfalls anfechtbar. Er erklrt die 10 Millionen Taler +Grundsteuer einfach fr eine indirekte Steuer, da sie nicht von den +Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis +abgewlzt werde. Das Abwlzen war aber keineswegs eine so leichte Sache, +solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzlle gegen die Zufuhr von +auen abgesperrt waren. Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als +eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche +von den Grundbesitzern empfunden und bei Veruerungen behandelt worden. +9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mgen als eine indirekte +Steuer bezeichnet werden, da aber die rmste Klasse keineswegs die +meisten Prozesse fhrt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur +Entlastung des groen Kapitals sprechen, wie immer man sonst ber die +Justizgebhren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des groen +Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. +Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, da +sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden +ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht. + +Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von +Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafr +anfhrt, da die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen +Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer +Konsequenz durchfhre, als dies der Adel im Mittelalter mit dem +Grundbesitz getan hatte. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in +Preuen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der +halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte blo den +Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten +Entfaltung gediehen war, um sich zu berzeugen, wie auch ohne die +kleinen Mittel eines rckstndigen Regierungssystems die Presse, und +obendrein in noch viel hherem Mae als in Preuen, Privilegium des +groen Kapitalbesitzes werden kann. So richtig es natrlich war, gegen +diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es +wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, da, wo er die +Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Prewesen darstellen +will, er hier ausschlielich formal-rechtliche Einrichtungen anfhrt, +den Einflu der konomischen Faktoren dagegen gnzlich ignoriert. + +Und schlielich fhrt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der +Staatsidee, einen Dithyrambus anzustimmen. Der vierte Stand hat +eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck +des Staates als die Bourgeoisie. + +Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der +liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates +einzig darin bestehe, die persnliche Freiheit des einzelnen und sein +Eigentum zu schtzen. + +Das sei aber eine Nachtwchteridee. Die Geschichte sei ein Kampf +mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der +Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns +befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte +auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das +ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt. +Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu +vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei +die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, sein Zweck +sei, durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, +solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie +als einzelne niemals erreichen knnten, sie zu befhigen, eine Summe +von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen smtlich als +einzelnen schlechthin unersteiglich wre. Und weiter sei sein Zweck, +das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden +Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche +Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fhig +ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten. Er sei die Erziehung und +Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit. So sehr sei dies +die wahre und hhere Aufgabe des Staates, da sie deshalb seit +allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch +ohne seinen Willen, auch unbewut, auch gegen den Willen seiner +Leiter, mehr oder weniger ausgefhrt wurde. + +Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft berhaupt +haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als +einzelne befnden, den tiefen Instinkt, da eben dies die Bestimmung +des Staates sei und sein msse. Ein unter die Herrschaft der Idee des +Arbeiterstandes gesetzter Staat aber wrde sich diese sittliche +Natur des Staates mit hchster Klarheit und vlligem Bewutsein +zu seiner Aufgabe machen und einen Aufschwung des Geistes, die +Entwicklung einer Summe von Glck, Bildung, Wohlsein und Freiheit +herbeifhren, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte. + +So schn das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an +einem groen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen +Vernderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem +Begriff und Wesen nach als ein fr alle Zeit gleicherweise Gegebenes, +als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner Idee +zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft +erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen +Anerkennung verholfen werden msse. Der Staatsbegriff ist sozusagen +ein ewiger. In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer +Festrede von Boeckh, wo der berhmte Altertumskenner gegen die +Staatsidee des Liberalismus an die antike Bildung appelliert, +welche nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes +geworden sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff +des Staates sei dahin zu erweitern, da der Staat die Einrichtung +sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen +solle. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus +berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie +des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so +weit schiet Lassalle hier selbst ber das Ziel. Der Staat der Alten +beruhte auf Gesellschaftszustnden, so grundverschieden von denen der +Gegenwart, da die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig fr die +Gegenwart magebend sein knnen, wie etwa die Ideen der Alten ber +die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike +Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs +eine auf die Neuzeit bertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die +Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer modernen Barbarei in +sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige +Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt +es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates +sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene +gewesen. Groartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein +Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfllt worden, ohne den +jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat +unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit +gefrdert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen. + +Natrlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff +der Alten unverndert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag +ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten +Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der +Kultus des Staates schlechthin heit der Kultus jedes Staates, und +wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein +direktes Eintreten fr den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so +verhinderte diese doch nicht, da jener Kultus spter von den +Anwlten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten +ausgebeutet wurde. Das ist berhaupt die Achillesferse aller auf +abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, da sie, so revolutionr +sie auch gedacht ist, tatschlich immer in Gefahr ist, in eine +Verklrung bestehender oder vergangener Zustnde umzuschlagen. +Lassalles Staatsidee war die Brcke, die den Republikaner Lassalle +eines Tages mit den Streitern fr das absolute Knigtum und den +Revolutionr Lassalle mit den eingefleischten Reaktionren +zusammenfhrte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten +eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte. + +So enthlt dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen +Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der spteren +Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind. + +Zum Schlu ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an +die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus +ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. Es ziemen +Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrckten, noch die migen +Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn +der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der +Gegenwart gebaut werden soll! + +Lassalle lie, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so +vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare +politische Schlufolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei, +zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch +sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie lie die ganze, bei einem +Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen +und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die +Broschre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862 +reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen +Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der +Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen Aufreizung der besitzlosen +Klassen zu Ha und Verachtung gegen die Besitzenden. Am 17. November +beschlo das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am +16. Januar 1863 kam der Proze in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz +einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem +Staatsanwalt und dem Gerichtsprsidenten gleich berlegen zeigte, und +namentlich den ersteren Spieruten laufen lie, wurde Lassalle doch zu +vier Monaten Gefngnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens +den Erfolg, da das Kammergericht die Gefngnisstrafe in eine +verhltnismig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme +der Broschre blieb allerdings aufrechterhalten, indes lie Lassalle den +Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zrich in Neuauflage erscheinen. + +Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschren ber den +Proze in der ersten Instanz -- von denen die erste die +Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: Die Wissenschaft +und die Arbeiter), die zweite den stenographischen Bericht ber die +mndlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des +erstinstanzlichen Urteils enthlt -- und schlielich auch unter dem +Titel: Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen, die +eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende +Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste +Verteidigungsrede eine auerordentlich geschickte und wirkungsvolle +Beweisfhrung dafr, da der Satz in der preuischen Verfassung die +Wissenschaft und ihre Lehre sind frei sinnlos wre, wenn er nicht das +Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien +den breiten Volkskreisen vorzutragen, und da gerade die Arbeiterklasse +infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natrliche Verbndete der fr +ihre Freiheit kmpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede ber die +indirekte Steuer eine ganze konomische Abhandlung mit sehr vielem +geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit +Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das +System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch +kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem +brgerlichen Liberalismus zu schrfstem Ausdruck, whrend in der ersten +Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmchte +betont wurde. Eine eingehendere Wrdigung dieser Reden findet man in den +Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier mssen wir vorerst wieder auf +die Zeit zurckgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war, +das Frhjahr 1862. + +Es ist begreiflich, da der Vortrag als solcher zunchst kein +besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von +der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den +Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der ueren, politischen Tendenz +nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf +eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte +Steuer usw. lieen es auch die fortschrittlich-demokratischen +Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfllen gegen +die Regierung spickten, hrten sich diese gewhnlich viel radikaler an +als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der +Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Grospurigkeit der +Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hrer, ob Arbeiter +oder Brger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von +auergewhnlichem Radikalismus. + +So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der Philosophischen +Gesellschaft in Berlin war, noch in demselben Frhjahr von dieser dazu +ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum +hundertjhrigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu +halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen +Radikalismus, der natrlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen +die leitenden Persnlichkeiten damals Ansto. Da das Brgertum in seiner +groen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch +Ideologie treiben. + +Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den Demokratischen Studien +Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm +jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu +halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes +Aufsatzes. Und Lassalle lie sich denn auch die Gelegenheit nicht +entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen. + +Die Rede trgt den Titel: Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des +deutschen Volksgeistes. Sie ist glnzend, soweit sie Fichtes Stellung +in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt. +Weiterhin aber verfllt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche +Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und +seine Bedeutung besteht darin, da die Deutschen die hohe +weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem reinen Geist heraus diesem +nicht blo eine reale Wirklichkeit, sondern sogar die bloe +Sttte seines Daseins, sein Territorium, erst zu schaffen. Indem +hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts +Geschichtlichem, nichts Naturwchsigem und Besonderem verwachsen, +kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trgt +hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur hchsten und +vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt. Und +was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt +habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen +bewahrheitend, bereits zur Religion geworden und durchbebe unter +dem populren und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes +edlere deutsche Herz. + +Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des reinen, mit +nichts Geschichtlichem verwachsenen Geistes hinstellen -- das ging noch +ber die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit +groer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgefhrte +Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie +einige Bltter schadenfroh berichteten, verlieen die Hrer zum groen +Verdru Lassalles allmhlich das Zimmer der Festrede, um sich nach dem +Zimmer des leckeren Mahles zu verfgen. Sie vergaen aber +hinzuzusetzen, da die Hrerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der +philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gsten +zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen +lediglich des guten Tons halber besuchen. + +Lassalle lie auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie, +zusammen mit dem Julian Schmidt, und dem Vortrag ber +Verfassungswesen durch Lothar Bucher an Marx. Er habe etwas +politisch-praktische Agitation beginnen wollen, schreibt er unter dem +9. Juni an letzteren. So habe ich den Verfassungsvortrag in vier +Vereinen gehalten. Auerdem einen weit lngeren Vortrag ber den +Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten. +Es ist dies das Arbeiterprogramm. Ich habe mich jetzt auch +entschlossen, setzt er hinzu, ihn drucken zu lassen; er ist bereits +unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir. Im +weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurck, da +durch die intensivere Beschftigung mit anderen Dingen in den letzten +drei Jahren die nationalkonomische Materie in seinem Kopf gleichsam +fossil geworden sei. Erst wenn alles wieder flssig geworden, +werde er an die zweite Lektre des Marxschen Buches Zur Kritik der +politischen konomie gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen +Besprechung und die Ausfhrung seines eigenen konomischen Werkes -- +welch letztere freilich sehr lange dauern wird. Dieses Programm +werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im +Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der +Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz +gehen. + +Er entschied sich fr das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal +an Marx, und zwar: + +Lieber Marx! Der berbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit +Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rstow +gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlssigste Kerl von der Welt. +C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er +von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort +Geldmittel fr 3000 Gewehre aufzutreiben, die er fr die Wehrvereine +braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wnschenswert dies +wre. Habe also die Gte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von +denen er Geld fr diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem +Ziel fhrenden Vorschub zu tun. Tue Dein Mglichstes. + +Die Wahrscheinlichkeit, da ich nach London komme, nimmt zu. + + Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle. + +Die von Coburg aus organisierten Wehrvereine standen im Lager des +Nationalvereins, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rstow wollte +sie offenbar fr Aktionen verwendbar machen, die zeitgem werden +konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des homme +d'action, und das groe Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre +sind eine weitere Besttigung fr das weiter oben von den +Revolutionsplnen Lassalles Gesagte. + +Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und +einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schlieen die mir +vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wre aber falsch, daraus +den Schlu zu ziehen, da es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den +beiden gekommen wre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber +wissen wir von Marx, da in den mndlichen Auseinandersetzungen zwischen +ihm und Lassalle er dem letzteren die grundstzliche Verschiedenheit der +beiderseitigen Standpunkte rckhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen +dessen Plne erklrt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach +Berlin zurckgekehrt war, schlief die Korrespondenz gnzlich ein. Um so +enger schlo sich Lassalle an Bucher an, der ihn spter auch mit +Rodbertus in Verbindung brachte. + +Im Sptsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preuische +Regierung der Volksvertretung gegenber eine nachgiebigere Haltung +einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis pltzlich der +Knig in schroffer Weise der Kammer erklren lie, da er sich auf keine +Konzessionen in bezug auf die Verkrzung der Militrdienstpflicht +einlasse und auch keine Neigung verspre, um Indemnitt fr die +verfassungswidrige Durchfhrung der Armeeorganisation einzukommen. Die +Kammer antwortete damit, da sie die Forderung der Regierung, die Kosten +der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben +aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der +Mehrheit zu brechen, berief der Knig an Stelle des Herrn v. d. Heydt +den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preuens am franzsischen +Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe +Betonung der kniglichen Vorrechte war bereits im Einverstndnis mit +Bismarck erfolgt. + +Bismarck, der 1847 im Vereinigten Landtag und 1849 in der +Preuischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heisporn +aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum modernen Staatsmann +entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien ber Bord geworfen, +um desto wirksamer die Interessen des befestigten Grundbesitzes +wahrzunehmen, er hatte den vormrzlichen Absolutismus aufgegeben, um +dem Knigtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, +da die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die +Verantwortung fr die Bedrfnisse und die Politik der Monarchie +bernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus +bekannten Regierungssystems bernommen, das, wenn es von Demokratie +spricht, Regierungsgewalt meint, und von Frsorge fr das Wohl der +Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der +Arbeiter im Schilde fhrt. Von der zarischen Diplomatie hatte er +gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit +Revolutionren Geschfte machen kann, von der bonapartistischen, wie +man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpnten Handlung +beschuldigen mu, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im +Begriff ist. Als Spezialitt bte er auerdem die Gepflogenheit aller +geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblffende Aufrichtigkeit an +den Tag zu legen, um bei der nchsten Gelegenheit mit desto mehr +Erfolg die Sprache gebrauchen zu knnen, um die Wahrheit nicht zu +sagen. + +Mit dieser Aufrichtigkeit trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem +wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklrung +in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch Blut und +Eisen gelst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das +Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschlu bestehen, der Regierung +nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmiges Recht von ihr +anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklrung, die +Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde. + +Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die +Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, whrend +die Kammer vorlufig nichts als die ffentliche Meinung auf ihrer +Seite hatte. Indes, er wute ganz gut, da er sich auf die preuischen +Bajonette nicht setzen konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der +auswrtigen Politik, geeignet, die ehemaligen Gothaer, d. h. die +schwachliberalen Kleindeutschen, fr die Regierung zurckzugewinnen, war +vorderhand nicht zu rechnen. Er mute also anderwrts Verbndete gegen +die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen. + +Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, da man in Berlin in +Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen +Arbeiterkongresses zur Errterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls +ernsthaft zu betreiben, und da in Zusammenknften, die dieser Frage +galten, ein beschftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer +Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die +Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts ntzten. +Mit der Selbsthilfe, von der die Liberalen soviel Geschrei machten, +sei es nichts, nur der Staat knne den Arbeitern helfen. Eichler, der +behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden +uerungen ber die Schulzesche Selbsthilfe gemaregelt zu sein, fand +die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein +Vorwrts gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen +Arbeiterkongresses und die Grndung einer selbstndigen +Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das +Leipziger Zentralkomitee fr die Einberufung des Kongresses nach +Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn +fhlte, rckte er schlielich in der Hitze des Gefechtes mit der +Erklrung heraus, er wisse ganz genau, da die preuische Regierung +den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der +Grndung von Produktivgenossenschaften; er knne mitteilen, da Herr +von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Grndung einer +Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die +Maschinenbauer waren damals, und noch lange spter, in Berlin die +Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natrlich mten sich die Arbeiter +dazu entschlieen, der Fortschrittspartei den Rcken zu kehren, die +eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei. + +Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig +den Arbeiterkongre betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so +geringe Lust hatten sie, ihnen der preuischen Regierung zuliebe in den +Rcken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch +in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner +auffllig flotten Lebensweise, die zu seiner Arbeitslosigkeit so gar +nicht pate, auf den Pelz rckte, machte er mysterise Anspielungen auf +eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da +er ein hbscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders +Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildflche und +tauchte spter als -- preuischer Polizeibeamter auf. + +Als 16 Jahre spter, in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878, +August Bebel die Eichlersche Mission dem inzwischen zum Frsten +avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von +sich abzuschtteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung +fr sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die +Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen +auf die Wirkung dieses Kunstgriffs lie er sich zu dem Gestndnis +verleiten, Eichler habe spterhin Forderungen an mich gestellt fr +Dienste, die er mir nicht geleistet hatte, und da ihm bei der +Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, da Herr Eichler im Dienste der +Polizei gewesen ist und da er Berichte geliefert hat. (Vgl. die unter +dem Titel Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage +verffentlichten amtlichen Stenogramme ber die Beratung des +Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche +vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger Volksstaat seinerzeit +einmal drastisch ausdrckte, die aristokratische Vettel entpuppte +sich als -- das Berliner Polizeiprsidium. + +Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag +vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: Was +nun? Er beruft sich dort darauf, da die Ereignisse den Ausfhrungen +in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die Kreuzzeitung, der +Kriegsminister von Roon und der gegenwrtige Ministerprsident von +Bismarck htten seine Theorie, da Verfassungsfragen Machtfragen sind, +besttigt. Gesttzt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich +ber die Beschlsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun +weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer +Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar +kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht +der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur +Wahrheit zu machen sei, da in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden +wahrhaft konstitutionellen Regierung bestehe. Soll man zu dem Mittel +der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als +solche ein wirksames Mittel nur in den Hnden eines Volkes, das, wie das +englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner +Seite habe. Sie htte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte, +einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen werde +unter den jetzigen Umstnden hoffentlich wohl niemand denken. Das +einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer msse, sobald sie +wieder zusammentrete, aussprechen das, was ist. Das sei das +gewaltigste politische Mittel. Die Kammer msse es der Regierung +unmglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren. +Sobald sie wieder zusammentrete, msse sie unverzglich einen Beschlu +fassen, da sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze, +es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschlieen der Regierung behilflich +zu sein, den Schein eines verfassungsmigen Zustandes aufrechtzuhalten, +und da sie daher ihre Sitzungen auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so +lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, da die +verweigerten Ausgaben nicht lnger fortgesetzt werden. Sobald die +Kammer diesen Beschlu gefat habe, sei die Regierung besiegt. Auflsung +nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten wrden mit derselben +Parole wiedergewhlt werden. Ohne Kammer knne sie aber auch nicht +regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach auen wrden +so gewaltig darunter leiden, da sie ber kurz oder lang gezwungen sein +werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gbe es +aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller +Ausgaben der Regierung wrden nur Volk und Regierung an die se +Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlssen gewhnt. Noch +schlimmer wrde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromi +einlassen, etwa fr den Preis der Bewilligung der zweijhrigen +Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um +die es sich jetzt handle. Je hartnckiger sich die Regierung stelle, um +so grer werde alsdann ihre Demtigung sein, wenn sie sich gezwungen +sehen werde, nachzugeben. Um so mehr erkennt sie dann die +gesellschaftliche Macht des Brgertums als die ihr berlegene Macht an, +wenn sie erst spter umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen mu. +Dann aber keinen Vershnungsdusel, meine Herren. Keinen neuen +Kompromi mit dem alten Absolutismus, sondern den Daumen aufs Auge und +das Knie auf die Brust. + +Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine vershnliche Haltung +gegenber der Fortschrittspartei ein. Er will der Einigkeit zuliebe +alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe, +unterdrcken. Nur die Volkszeitung und ihre Hintermnner, deren +Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese +Geistesrmsten trgen durch ihre Versuche, die Regierung in eine +konstitutionelle umzulgen, einen sehr groen Teil der +Verantwortung fr den jetzigen Stand der Dinge. Aber Friede, meine +Herren, der Vergangenheit! + +Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und +wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler wrden auf seinen +Vorschlag eingehen, oder ob diese Vershnlichkeit nur oratorische +Floskel war, um ihm spter eine desto schrfere Position gegen die +Fortschrittler zu verleihen, lt sich schwer feststellen. Es mag beides +zutreffen. Da er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den +Fortschrittlern grundstzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher +gesehen, viele persnliche Beziehungen lieen ihm das sogar als +wnschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt lie sich bei +der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen +Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler +sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einflu auf ihre Taktik +einrumen wrden, auf den er Anspruch zu haben glaubte. + + +Funoten: + + [18] Da die Fhrer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht + aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die + Verffentlichungen R. Reggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im + Jahrgang 1888 der Neuen Zeit, S. 458 usf. + + [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Blow sind Mitte der achtziger + Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.) + So dnn das Bndchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im + Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines ber Lassalle dem + Frsten Pckler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht + einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten + Lassalles den Vorwand liefern mu, obwohl bei den meisten aus dem + Inhalt das ungefhre Datum leicht festzustellen war. In einem der + Briefe ist von Salingers genialer Komposition die Rede. Der + Herausgeber, der die Briefe von Hans von Blow selbst erhalten, macht + dazu die Note Arbeiterhymne von Herwegh. Da der Name Salinger bzw. + Solinger Pseudonym fr Hans von Blow war, wird dagegen nicht einmal + angedeutet. Blow hatte die Komposition des Herweghschen Gedichts + unter dem Namen Solinger verffentlicht. + + + + +Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene +Antwortschreiben, politischer Teil. + + +Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle +vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem +Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut, +wenn man es so schnell als mglich zum uersten treiben wollte, wenn +man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn +weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts brig -- mit einer +Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch +nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne +Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf +die Tribne in der Kammer auf den famosen passiven Widerstand +hinaus, ber den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. Durch +beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und +drastisch aussprechen, was ist, die ffentliche Meinung ebenso +wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der +Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein +von Recht fr die Auerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war +ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung +vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenber dem Recht +hinzustellen. Ihre Hauptwortfhrer, sagt B. Becker sehr gut, +waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an +juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewhnt und den Streit +der Kammermajoritt mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit +zu betrachten geneigt. + +Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, da er, +gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach +der ersten Verfassungs-Broschre, wie es bei Becker heit, schrieb +Lassalle den Aufsatz Macht und Recht, in welchem er der +Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm +ein leichtes, die ganze Lcherlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar +Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den +Beweis zu liefern, da ihr Abgott Schwerin, dessen Erklrung, da in +Preuen Recht vor Macht gehe, sie so laut bejubelten, an einem +ganzen Dutzend Rechtsbrchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen +hatte. Es hat kein Mensch im preuischen Staat das Recht, vom +>Recht< zu sprechen -- ruft er aus -- als die Demokratie, die +alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht +festgehalten und sich zu keinem Kompromi mit der Macht erniedrigt +hat. Und: Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr +allein wird die Macht sein! + +Dieser Kriegserklrung, in Form einer Berichtigung an die radikale +Berliner Reform eingesandt, verschlo letztere -- fr die Lassalle +noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre +Spalten, desgleichen die Vossische Zeitung. Die letztere lehnte auch +die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn +als Offenes Sendschreiben in Zrich erscheinen lie. Da die Wahl +dieses Verlagsortes die pregesetzlichen Bedenken der Vossischen +Zeitung eigentlich rechtfertigte, kmmerte ihn nicht weiter. + + * * * * * + +Zwischen der Verffentlichung des Vortrages Was nun? (Dezember 1862) +und der Abfassung des Sendschreibens (Februar 1863) liegen wiederum +zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei +Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter +F. W. Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin +gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit fhrenden Mitgliedern des +Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen +Fortschrittsfhrern am 2. November einer groen Arbeiterversammlung +beigewohnt, in der mit berwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das +Mandat fr die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu +bertragen. Der Besuch berzeugte sie, die selbst schon Sozialisten +waren, da die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen, +dieser aber und die brigen Fhrer der Fortschrittspartei von einer +selbstndigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Sptere +Anfragen bestrkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des +Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwhnte klassische +Antwort, die Arbeiter sollten sich als Ehrenmitglieder des +Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren +die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch +auerdem fr keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so +vortreffliche Kammer zusammengebracht, man knne es also schon noch eine +Weile mitansehen. Da die vortreffliche, d. h. die oppositionelle +Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhltnisse war, kam +den guten Leuten nicht zum Bewutsein. + +Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem spteren +Fortschrittsabgeordneten Ludwig Lwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand +Lassalle und dessen Vortrag Das Arbeiterprogramm aufmerksam gemacht +und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht +denken, wie sehr dies dessen Entschlu bestrken mute, nunmehr das +Friede der Vergangenheit, meine Herren zurckzunehmen. Als er das +Sendschreiben Macht und Recht erlie, war bereits zwischen ihm und +dem Leipziger Komitee verabredet, da dieses ihn in einem offiziellen +Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten ber die Aufgaben der +Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend +erscheinenden Form darzulegen, und da diese Form eben die einer +Flugschrift sein sollte. Die uerst interessanten damaligen Briefe +Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in +Grnbergs Archiv fr die Geschichte des Sozialismus verffentlicht +worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, da Lassalle, so froh +er ber die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem +doch in keiner Weise aufdrngte. Die Leipziger, d. h. die treibenden +Elemente im Arbeiterverein, wuten sehr gut, worauf sie +hinauswollten; worber man noch unentschlossen war, das war weniger +das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es +war durchaus nicht das Bewutsein seiner eigenen Unklarheit, wie +Bernh. Becker in seiner Die Wahrheit ber alles stellenden +Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das +Komitee veranlate, in einem vom 10. Februar datierten Aufruf an die +deutschen Arbeiter gleichzeitig fr Beschleunigung, aber gegen +bereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen. +Der Kongre sollte mglichst bald stattfinden, aber nicht so bald, +da nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan +haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwhnten Aufruf +erlie, beschlo das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu +schicken, der auch tags darauf abging: + +Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin. + + Sehr geehrter Herr! + +Ihre Broschre: >ber den besonderen Zusammenhang der gegenwrtigen +Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes< ist hier berall von +den Arbeitern mit groem Beifall aufgenommen worden und das +Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung +ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche +Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen +Assoziationen der groen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt, +gengend helfen knnen, ob namentlich durch dieselben die Stellung der +Arbeiter im Staat in der Art verndert werden kann, wie es notwendig +erscheinen mu. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) +hierber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der berzeugung, da das +Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhltnissen nicht genug +leisten knne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von +Schulze-Delitzsch als magebend fr den Arbeiterstand, unter dem wir die +gedrckteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch +wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch +vorgeschlagenen, denkbar wren, um die Ziele der Arbeiterbewegung: +Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und +geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner +Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen: + + Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form + Ihre Ansichten ber die Arbeiterbewegung und ber die Mittel, deren + dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch ber den Wert + der Assoziationen fr die ganz unbemittelte Volksklasse, + auszusprechen. + + Wir legen den grten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der + angefhrten Broschre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch + Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu wrdigen wissen. Wir + ersuchen Sie schlielich nur noch um mglichst baldige Erfllung + unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der + Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gru und Handschlag! + + Leipzig, 11. Februar 63. + + Fr das Zentralkomitee zur Berufung eines + Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses + + Otto Dammer. + +Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. Mrz 1863 datierte +Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines +allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand +Lassalle. + +Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger +Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation +Lassalles und die Geschichte des Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins. + + * * * * * + +Das Offene Antwortschreiben Lassalles tritt zunchst der Ansicht +entgegen, da die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekmmern +htten. Im Gegenteil, sie htten sich durchaus an der Politik zu +beteiligen, blo drften sie dies nicht in der Weise tun, da sie sich +als den selbstlosen Chor und Resonanzboden der Fortschrittspartei +betrachteten. Der Nachweis dafr, da die Fortschrittspartei den +Anspruch darauf verwirkt habe, sttzt sich im wesentlichen auf das von +dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern +nicht berall von gleichmiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf +Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, da sie nur .... +das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes +habe, so verga er, da er selbst es noch im Vortrage Was nun? +als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des +Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei +auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Snde +anrechnete, da sie + + sich durch ihr Dogma von der preuischen Spitze zwingt, in der + preuischen Regierung den berufenen Messias fr die deutsche + Wiedergeburt zu sehen, whrend es, mit Einschlu Hessens, nicht + eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preuischen + in politischer Beziehung zurckstnde, whrend es, und zwar mit + Einschlu sterreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung + gibt, welche der preuischen nicht noch bedeutend voraus wre. + +Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natrlich recht. Die +Organisation der Arbeiter als selbstndige politische Partei mit eigenem +Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung +der politischen Zustnde Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen +konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom +Heerbann der gegen den Absolutismus kmpfenden Fortschrittspartei +abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser +Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hie die selbstndige +Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeintrchtigung der +Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Da sie diese in der Tat zur +Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei +selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenber der neuen +Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches +Lassalle dieser Bewegung gab. + +Wir haben bei Besprechung des Arbeiterprogramms gesehen, welch +abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff +Staat verband. Es ist keine bertreibung zu sagen, da er einen +wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. Das uralte Vestafeuer +aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene +modernen Barbaren -- nmlich die Manchesterpartei -- ruft er in der +Rede Die indirekte Steuer den Richtern des Berliner Kammergerichts +zu, und hnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor. +Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin, +die Ursache von allerhand verhngnisvollen Fehlgriffen. Die +althegelisch-ideologische Vorstellung vom Staat veranlate +Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische +Verehrung des Staats einzuprgen, wo es sich fr sie zunchst noch +darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst +loszuwerden. Es hrt sich sehr hbsch an, wenn er im Offenen +Antwortschreiben den Arbeitern zuruft: Wie, Sie wollten ber +Freizgigkeit debattieren? Ich wei Ihnen hierauf nur mit dem +Distichon Schillers zu antworten: + + Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen, + Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht? -- + +Freizgigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem +gesetzgebenden Krper stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr +debattiert. Tatschlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die +Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, whrend die Arbeiter sie +unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizgigkeit und +Gewerbefreiheit einen verhltnismig untergeordneten Rang auf einem +Arbeiterkongre einzunehmen hatten, war der, da sie zugleich in hohem +Grade Forderungen des brgerlichen Liberalismus waren; aber berflssig +war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in +Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit ber ihre Bedeutung herrschte. + +Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die +Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen, +zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig +wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse fr die politische Aktion +aufzurtteln, sie zugleich von der Vormundschaft der brgerlichen +Parteien zu emanzipieren und doch fr die Erkmpfung der demokratischen +Forderungen zu erwrmen. Und kein Zweifel, da ihm zu jener Zeit diese +zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge +selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er +diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren. + +Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu berzeugen, +wie sie von brgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf +das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den +Klassikern der politischen konomie, insbesondere und am schrfsten von +Ricardo formuliert worden war, das eherne und grausame Gesetz, wonach +unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche +Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, +der in einem Volke gewohnheitsmig zur Fristung der Existenz und zur +Fortpflanzung erforderlich ist. Steige er zeitweilig ber diesen Satz, +so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung +der Arbeiterbevlkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen +der Lohn wieder auf den frheren Lohnsatz zurckfalle. Falle er aber +unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, grere Sterblichkeit +unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine +Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Lhne wieder +stiegen. So tanzten Arbeiter und Arbeitslohn immer um den uersten +Rand dessen herum, was nach dem Bedrfnis jeder Zeit zu dem +notwendigsten Lebensunterhalt gehrt, und dies ndert sich nie. + +Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen +Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise +zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der +Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese +vereinzelt blieben, knnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile +verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein wrden, wrden +die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie +als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewnnen. Die Lage +der Arbeiterklasse knne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes +konomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des +Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr +eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Grndung +selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die +erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal +verfielen, da in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die +Mitglieder in die widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln +und Unternehmergesinnungen verwandelte. Die groen Fragen lieen sich +nur mit groen Mitteln lsen, und darum mten die Assoziationen in +groartigem Mastabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmige +Groindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das ntige +Kapital, bzw. der ntige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei +durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. Nichts ist weiter entfernt +von dem sogenannten Kommunismus oder Sozialismus als diese Forderung, +bei welcher die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle +Freiheit, individuelle Lebensweise und individuelle Arbeitsvergtung +beibehalten und zu dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, als da +ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, resp. der erforderliche +Kredit zu ihrer Assoziation vermittelt wird. Der Beruf des Staates sei +es aber gerade, die groen Kulturfortschritte der Menschheit zu +erleichtern und zu vermitteln. Dazu existiert er, hat immer dazu +gedient und dienen mssen. Was aber ist denn der Staat? Und +Lassalle fhrt die Zahlen der preuischen Einkommensstatistik von +1851 an, wonach in jenem Jahre 89 Prozent der Bevlkerung ein +Einkommen unter 200 Talern gehabt hatten, dazu 7 Prozent der +Bevlkerung ein solches von 200 bis 400 Talern, so da also 96 +Prozent der Bevlkerung in elender, gedrckter Lage sich befnden. +Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehrt der +Staat, nicht uns, den hheren Stnden, denn aus Ihnen besteht er! Was +ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen, +handgreiflicher als aus dicken Bchern, die Antwort: Ihre, der +rmeren Klassen, groe Assoziation -- das ist der Staat. Und wie +den Staat zu der geforderten Intervention vermgen? Dies werde nur +durch das allgemeine und direkte Wahlrecht mglich sein. Nur wenn die +gesetzgebenden Krper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten +Wahlrecht hervorgehen -- dann und nur dann werden Sie den Staat +bestimmen knnen, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen. Das +allgemeine und direkte Wahlrecht ... ist nicht nur Ihr politisches, +es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller +sozialen Hilfe. Darum mgen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen +deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die +Einfhrung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen +Lndern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der +Bevlkerung als Magenfrage aufgefat und daher auch mit der +Magenwrme durch den ganzen nationalen Krper hin verbreitet, so +werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen wrde. +Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder +Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren +und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach +rechts noch links, seien Sie taub fr alles, was nicht allgemeines +und direktes Wahlrecht heit oder damit in Zusammenhang steht und +dazu fhren kann. + +Dies in mglichst knapper Form der Gedankeninhalt des Offenen +Antwortschreibens und zugleich der Lassalleschen Agitation berhaupt. +Denn wenn natrlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen +Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest, +die Bewegung auf diesen einen Punkt: Allgemeines Wahlrecht behufs +Erlangung von Staatshilfe fr Produktionsgenossenschaften zu +beschrnken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, da die +Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf +einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu +behalten, wenn man an die agitatorische Ttigkeit Lassalles den +richtigen Mastab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn, +auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen. +Ausdrcklich verweist Lassalle im Offenen Antwortschreiben auf die +Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso +scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu +haben, wie der Satz von der Magenfrage beweist, der an die Erklrung +des Chartistenpredigers Stephens erinnert: Der Chartismus, meine +Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und +Gabelfrage. + +Wenn wir uns nun zunchst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer +praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation berhaupt nach Lage der +damaligen Verhltnisse mglich war, so glaube ich die Frage unbedingt +bejahen zu mssen. Da spter Bismarck, wenn auch freilich nur zum +Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einfhrte, +ist fr mich dabei nicht magebend. Allerhand Umstnde htten das +verhindern knnen, ohne da dadurch die Tatsache umgestoen worden wre, +da Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt, +obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preuischen Landtag beibehalten +wurde, bleibt der Lassallesche Kalkl doch richtig; er entsprach +durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wute ganz genau, +da, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele +Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafr in den Kreisen der +Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmhlich mit immer scheeleren +Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Bltter sprachen sich +bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und auerdem fehlte es, +wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch +die er genau ber die Strmungen in den Hof- und Regierungskreisen +unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht +nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswrtiger Krieg -- der +ihr aber auch verhngnisvoll werden konnte -- schlielich kaum etwas +anderes brig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulsen und +ein anderes, demokratischeres Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem +Schritt mute sie sich um so mehr veranlat fhlen, je mehr eine starke, +von der Fortschrittspartei unabhngige Bewegung bestand, die die +Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte. +Gerade im Hinblick auf einen mglichen Krieg mute ihr dies als der +beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig +gegen sich im Rcken zu haben[21]. + +Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also +Lassalle unzweifelhaft recht. Es war mglich, das allgemeine Wahlrecht +auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen +Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht +nachgeben zu mssen, so wurde damit die Lsung des Verfassungskonflikts +mindestens noch weiter hinausgeschoben. Seien Sie taub fr alles, was +nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heit oder damit im +Zusammenhang steht und dazu fhren kann, heit es im Offenen +Antwortschreiben. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, wrde +dieses, das mu man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrcklich +ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage +lsen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie +berhaupt die Erwartungen, die er an es knpfte, in der Sache selbst +gerechtfertigt? + +Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur +Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus +nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar whrend der +Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung +gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrckt worden durch +die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das +allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig +verhindert, da im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen knnen als +Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts. Und dabei war die +Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat +proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine +Epoche sozialistischer Propaganda von groartigster Ausdehnung, so da +nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafr gegeben waren, da sie +im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik htte +werden knnen. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch +das Kaiserreich gestrzt werden? + +Wenn Lassalle am Schlu des Arbeiterprogramms sagt, was am +2. Dezember 1851 gestrzt worden, das sei nicht die Republik +gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz +vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten +Zensus zur Ausschlieung der Arbeiter eingefhrt hatte; die Republik +des allgemeinen Wahlrechts aber wrde an der Brust der franzsischen +Arbeiter einen unbersteiglichen Wall gefunden haben, so wiederholt +er damit ein Schlagwort der kleinbrgerlichen Revolutionre la +Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur +verschiebt. Wo war dieser unbersteigliche Wall, als die auf Grund +des allgemeinen Wahlrechts gewhlte Kammer dieses aufhob? Warum +hatten die Pariser Arbeiter diesen Staatsstreich der Bourgeoisie +nicht verhindert? + +Htte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so wrde er auf die Tatsache +gestoen sein, da die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht +halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche htte +sttzen mssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht +entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne +industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, fr einen +Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge ber den Haufen zu werfen, +aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem +Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf +die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgnge einzugehen sucht, +hlt ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite +wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das konomische packt er +gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrcken darf, +juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklren, da er, um den +Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevlkerung des +Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung, +und zwar ausschlielich an sie hlt. Der Streit, der sich damals an +diese Stelle des Offenen Antwortschreibens knpfte, ist ein +verhltnismig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentstze +nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde +wenig an, die Tatsache, da die groe Masse der Bevlkerung in drftigen +Verhltnissen lebt, whrend nur eine kleine Minderheit im berflu +schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle +damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht +aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, da Lassalle gar nicht +bercksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89 +Prozent der Bevlkerung zusammensetzten, als deren groe +Assoziation er den Staat bezeichnete. Welch groen Bruchteil davon +Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter +bildeten, die noch groenteils vllig unter der geistigen +Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, lt er ganz unerrtert. +ber die Hlfte der Bevlkerung Preuens entfiel damals auf den +Ackerbau, die greren Stdte spielten bei weitem nicht die Rolle, +die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung +betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wste mit +vereinzelten Oasen[22]. + +Was konnte unter solchen Umstnden das allgemeine Wahlrecht an der +Zusammensetzung der Kammer ndern? War von ihm ein besseres Resultat zu +erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848 +und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von +Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich +gewi sehr zu wnschen. Aber im brigen mute es, gerade je mehr es die +Wirkung erfllte, die Lassalle von ihm versprach -- nmlich einen +Volksvertretungskrper zusammenbringen, der das genaue, treue Ebenbild +ist des Volkes, das ihn gewhlt hat (Arbeiterprogramm) -- die +Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. +Denn so jmmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch +wenigstens brgerlich-liberal. Lassalle verga, da die drftigen +Klassen zwar unter Umstnden smtlich revolutionre Truppen stellen, +aber keineswegs samt und sonders revolutionre Klassen sind, er verga, +da die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern +bestanden. + +Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen mglich war, so ist doch +damit noch keineswegs gesagt, da es das, wozu es selbst wieder als +Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigefhrt haben wrde. +Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der groen Masse der +Bevlkerung konnte das Wahlrecht auch zunchst das Gegenteil bewirken, +statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rckschritts in grerer +Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren +aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen +Wahlrechts, es waren unter ihnen ein groer Teil Ideologen, welche +gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen +Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur +an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger +Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafr, da +das allgemeine Stimmrecht nicht notwendig dem Arbeiterstande die +Staatsgewalt in die Hnde spielt. Es sei gesagt worden, das allgemeine +Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber zu +verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar. +Sind Sie, fragt er, dessen gewi, da hier das Mittel mit +zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele fhren +mu? Ich glaube das nicht. Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus +geht auch hervor, da, beinahe mehr noch als Rodbertus' +gegenstzliches Urteil ber den Wert der Produktivgenossenschaften, +sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, da er +trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen +Arbeiterverein nicht beitrat[23]. + +Und wie man sonst auch ber Rodbertus denken mag, seine Motive werden +auf das Unzweifelhafteste durch den Schlusatz seines Briefes +charakterisiert, wo er den Arbeitern anrt, obwohl Lassalle recht habe, +da man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizgigkeit und +freie Wahl der Beschftigung als selbstverstndlich in ihr Programm +aufzunehmen, um jeden Reaktionr, der Ihnen schaden knnte, hchst +wirksam zurckzuscheuchen. + +Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus bertrieben, so +nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die +er spter tatschlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach +von vornherein in ihm. Hchst charakteristisch ist dafr eine Stelle aus +dem teilweise schon frher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20. +Juni 1859 ber die Frage des italienischen Krieges. Dort heit es: + + Im Anfang, als mit solcher Wut berall das nationale Geschrei + eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die >Volkszeitung< + (Bernstein, fr mich ein Urreaktionr, ist ihr Redakteur) in einem + Leitartikel triumphierend aus: >Will man wissen, was dies Geschrei + aller Vlker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine + welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von + der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.< -- + Habe ich erst ntig, den urreaktionren Inhalt dieses + Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewi nicht! Ein + populrer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbrgerlichen + Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller + Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs + auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution + hinein wrde die Wirkung dieser Strmung sich bemerklich machen. + Wir haben wahrhaftig nicht ntig, diesem gefhrlichsten Feind, den + wir haben, dem deutschen Spiebrgerindividualismus, durch einen + blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner + klassischen Form, in Frankreich, noch neue Krfte zuzufhren. + +So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der Volkszeitung verdiente in +gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt, +aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische +Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus, +whrend die Partei der Volkszeitung auf England, als ihr politisches +Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht +reaktionr, oder doch reaktionr nur insoweit, als es eben einseitig +war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus +Frankreichs ein Produkt des romanisch-sozialen Geistes sah, ihn mit +dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine +reaktionre Seite ganz unbeachtet lie, ist jedoch nicht minder +einseitig. + +So weit ber die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu +seiner konomischen. + + +Funoten: + + [20] Wohl ein Druckfehler. D. H. + + [21] Wir haben oben, bei Besprechung des Italienischen Krieges + gesehen, mit welchem khlen, gar nicht in die Schablone des guten + Patrioten passenden Blick Lassalle die Rckwirkung auswrtiger + Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend + dafr ist auch eine Stelle in der Schrift Was nun?, die schon + deshalb hierher gehrt, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag + tatschlich nur zwei Lsungen zulie: Entweder Staatsstreich oder + Revolution. Anknpfend daran, wie unmglich und unhaltbar die + auswrtige diplomatische Stellung der preuischen Regierung wre, + wenn sein Vorschlag befolgt wrde, fhrt Lassalle fort: + + Da Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein + unpatriotisches Rsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der + Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden + Krfte in Erwgung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter + einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den + diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und, + gleichviel ob gut oder schlimm, mte sie hiernach schon unbedingt + in Rechnung gezogen werden. berdies aber, meine Herren, wie oft + habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei + historischen Studien mir die groe Wahrheit auf das Genaueste zu + vergegenwrtigen, da fast garnicht abzusehen wre, auf welcher Stufe + der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen wrden, + wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen + unter einander ein wirksames Mittel gewesen wre, die Regierung zu + Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist + die Existenz der Deutschen nicht von so prekrer Natur, da bei ihnen + eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr fr die + Existenz der Nation in sich schlsse. Wenn Sie, meine Herren, die + Geschichte genau und mit innerem Verstndni betrachten, so werden + Sie sehen, da die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so + riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem brigen Europa + vorleuchtende sind, da an der Nothwendigkeit und Unverwstlichkeit + unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten + wir also in einen groen ueren Krieg, so knnen in demselben wohl + unsere einzelnen Regierungen, die schsische, preuische, bayerische + zusammenbrechen, aber wie ein Phnix wrde sich aus der Asche + derselben unzerstrbar erheben das, worauf es uns allein ankommen + kann -- das deutsche Volk! + + Es ist in diesen Stzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man + zweierlei nicht vergessen. Erstens, da, ein so wichtiger Faktor + des Fortschritts der Vlker die Rivalitt der Regierenden sein kann + und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein + Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des + Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des + heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, da ein uerer Krieg zwar + ein groes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslschen, es + aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schdigen kann, + da er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber + auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwhnten Beispiel tut + Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlusatz und seine Briefe + zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine brigens + weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekmpfende Tendenz. + + [22] Auf 3428457 selbstttige Personen in der Landwirtschaft + kamen damals in Preuen erst 766180 selbstttige Personen in der + Fabrikindustrie, die Geschftsleiter und Beamten eingeschlossen. + + [23] Ursprnglich hatte es in Rodbertus' Offenem Brief geheien: + Und ich wiederhole, da ich mir auch von den Produktivassoziationen + nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die + Lsung der sozialen Frage nennt. Auf Wunsch Lassalles wurden aber + diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine + Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen + Form aber notwendigerweise die Arbeiter, wenn sie so schroffen + Widerstreit zwischen ihren Fhrern sehen, entmutigen msse. + (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.) + + + + +Der konomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben. + +Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit. + + +Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das +Beiwort ehern gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24] +nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode -- +der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden +Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen +Groindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten +Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperitt, der rasch sich +vollziehenden Steigerung der Produktivitt der Arbeit usw. zum +mindesten berlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von +Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestrt +ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert +gegenbertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung +des Arbeitsverhltnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle +entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so +hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die +guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als +Lassalle. + +Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn +bestimmenden Gesetze, weil er den strksten Schlag gegen die moderne +Gesellschaft damit zu fhren meinte, da er nachwies, der Arbeiter +erhalte unter keinen Umstnden seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen +Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen +rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch hchst wirksam +erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der +Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den +frheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein ehernes +Gesetz es verhindert, da der Lohn dauernd unter ein bestimmtes +Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle +ausdrcklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam +hebt, aber doch hebt, so war der Beweis fr die Notwendigkeit der von +ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen. + +Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst spter, und nur +beilufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit +einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese +Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen +Existenz, die Abhngigkeit des Arbeiters von den in wechselnden +Zeitrumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von +bestndigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhltnisse -- der +schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden +Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die +wachsende Unmglichkeit fr den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten +Abhngigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfllen des industriellen +Zyklus sich zu befreien, die bestndige Bedrohung mit dem +Hinausgeworfenwerden aus einer Sphre der Industrie in eine andre, +tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die +Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unertrglich +macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum +Schlechteren unterscheidet. Die Abhngigkeit des Arbeiters ist mit der +scheinbaren Freiheit nur grer geworden. Sie ist es, die mit eherner +Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der +wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhhe dagegen wechselt +heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstblichen +Verhungerungslhnen bis zu Lhnen, die tatschlich einen gewissen +Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den +verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils hher, teils aber +auch geringer als in frheren Produktionsepochen. Beide hngen von sehr +vernderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu +Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den grten +Vernderungen unterworfen, und bestndig ist nur die Tendenz des +Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhhen, zustzliche Mehrarbeit auf die +eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen. + +Dadurch, da Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der +Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, +die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen +Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat +der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines +Abhilfemittels von vornherein angezeigt. Es ignoriert, oder, um Lassalle +auch nicht Unrecht zu tun, es unterschtzt die Strke und den Umfang der +Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale +Rckwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir mssen hier +wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. +Sein Ziel war natrlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel +aber lie sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich +organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die +sich von der Schulzeschen zunchst nur dadurch unterschied, da sie mit +Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles +weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der +freiwilligen Entschlieung jener berlassen -- es wird von ihnen erwartet, +aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern, +die sich zu assoziieren wnschten, die erforderlichen Mittel dazu auf +dem Wege der Kreditgewhrung vorstrecken. + +Die Assoziationen einer bestimmten Industrie wrden also, solange sie +nicht diese ganze Industrie umfaten, mit den bestehenden Unternehmungen +ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen +dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche +Folge auch gegeben, da sich im Schoe der Assoziationen +Sonderinteressen herausentwickeln muten, da jede Assoziation danach +streben mute, ihren Gewinn so hoch als mglich zu steigern, sei es auch +auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit +Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen +von mehr oder minder groen Gruppen von Arbeitern. Individuelle +Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glckschancen muten +daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn +und Verlust fr sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie fr andre +Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gesttzt darauf, +da 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr +stark war --, da sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter +Industrien an den einzelnen Orten zu je einer groen Assoziation +zusammentun wrden, und sprach sich zweitens im Bastiat-Schulze +spter sogar dahin aus, da der Staat in jeder Stadt immer nur einer +Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil +werden lassen wrde, allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in +dieselbe offen haltend, aber selbst solche rtlich einheitlich +organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. +Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch groe Assekuranz- und +Kreditverbnde der Assoziationen untereinander in ihren konomischen +Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, da diese +Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war +fr nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie. +Sonst mute die berproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft +sprengen. Und die berproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie +es oben heit, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die +Assoziationen offen hielt. Lassalle verwickelte sich da, von seinem +sozialistischen Gewissen getrieben, in einen groen Widerspruch. Den +Eintritt offen halten heit die Assoziation zur Aufnahme jedes sich +meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem Offenen Antwortschreiben +sollte aber die Assoziation dem Staat gegenber vollkommen unabhngig +sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle +der Geschftsfhrung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit +obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhngigen in ein +ffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhltnissen staatliches +Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt +htte scheitern mssen. + +Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist +folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehrigen +eines bestimmten Industriezweiges umfaten, unterstanden sie den +Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja +gerade die Betriebe fabrikmiger Groproduktion im Auge hatte, die +zugleich die groen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz +besteht, besteht auch geschftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den +Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder +eine Assoziation, sich der Mglichkeit auszusetzen, da sein Produkt +jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht +gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird. +Konkurrenz und berproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und +Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine +Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur mglich +nach Magabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar +durch das Monopol. Whrend aber die Konkurrenz in der heutigen +Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor +bervorteilung zu schtzen und die Produktionskosten bestndig zu +senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten +der Monopolinhaber zu berteuern und den Fortschritt der Technik, wenn +nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn +die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die +Aufhebung des geschftlichen Risikos fr die Assoziationen wrde also im +Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn berhaupt zu +verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich +gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenber die groe +Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wre ein +unlsbarer Antagonismus. + +In einem sozialistischen Gemeinwesen wre das natrlich leicht zu +verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der +subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der +Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der +Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf +gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische +Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen +so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die +Lassalleschen Produktivgenossenschaften wrden sich von den +Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Gre, +nicht dem Wesen nach unterschieden haben. + +Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu +durchgebildeter konom war, als da ihm diese schwache Seite der +Lassalleschen Assoziationen htte entgehen knnen. Wir haben bereits aus +dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus +sich in seinem Offenen Brief ber sie hatte uern wollen, und die +auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich +deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war. +Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an +Rudolph Meyer hervor, und es drfte nicht uninteressant sein, einige +der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen. + +Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus: + +... Hieran lt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, da +dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen, +das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel +schlechteres, zu weit greren Ungerechtigkeiten fhrendes Grund- und +Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen +hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich berfhrt, zu welchen +Absurditten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen msse +und (was ihm besonders unangenehm war) da er gar nicht der Schpfer +dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Ide gnrale de la Rvolution +entlehnt habe.[25] + +Brief vom 24. Mai 1872: Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe +ich gegen diese Lhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am +Geschftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie +Settegast mit Recht sagt -- und mit >Biergeldern< wird die soziale +Frage nicht gelst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem +Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schlielich zu einem +Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum +liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis wrde +mich zu weit fhren, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon +in unserer Korrespondenz getrieben, da er mir in einem seiner +letzten Briefe schrieb: >Aber, wer sagt Ihnen denn, da ich will, da +der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehren_ soll!< +(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter +an den einzelnen Betrieben wre ein weit bleres Eigentum, als das +individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer +Kapitalistenassoziation. ... + +Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur +Verffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber +kaum anzunehmen, da Rodbertus sich so bestimmt ausgedrckt haben +wrde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt htte. Mglich, da er +gerade diesen Brief spter verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht +nmlich dagegen, da Lassalle sich nicht in der Tat einmal so +ausgedrckt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von +den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat fr das +vorgeschossene Kapital zu zahlen htten. Es liegt also in dem Satz noch +nicht einmal ein Zugestndnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein +solches, und zwar ein so starkes, da es zugleich in eine -- +unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlgt, +findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai +1863. Dort heit es: + +Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, da, wenn dem Arbeiter Boden, +Kapital und Arbeitsprodukt gehrt[26], von einer Lsung der sozialen +Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch +annhernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung +geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehrt. Bei der lndlichen +Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein +Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der +Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses wei ich +genau und wrde es, wenn ich mein konomisches Werk schreibe, sehr +explizit nachweisen. + +Im nchsten Brief erklrt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der +vorstehenden Stze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die +Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier +gleichgltigen Zwischensatz lasse ich fort): + +Meine uerung: >bei der lndlichen Assoziation wird dann der +Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben<, +ist jedenfalls in bezug auf das >mehr< doch leicht zu verstehen. Ich +verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz +stattfinden knnte. + +Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw. +ckern wrden doch zunchst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die +Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen +Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben. + +Allein schon daraus allein, da einer in der Gesellschaft mehr hat als +sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, da ein andrer weniger haben mu, +als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns +dieselbe bereinstimmend (vgl. den Schlu Ihres dritten sozialen +Briefes) denken, auf die Vergtung seiner Arbeit kommen wrde. + +Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgltigen +Lsung der sozialen Frage, also im Sinne der >Idee<, die ich hier +immer als Norm und Vergleichungsmastab bei dem >mehr oder weniger< +unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich lndlich oder industriell +unter beliebigen Verhltnissen individuell hervorbringen kann, +whrend ein anderer unter gnstigeren Verhltnissen mit derselben +Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungnstigeren mit derselben +Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wre +der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivitt, der +bestimmt wird durch das Verhltnis, in welchem mein Arbeitsquantum +zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht. + +Nach dem Schlu Ihres dritten sozialen Briefes knnen Sie das unmglich +bestreiten. + +Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation +Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall +sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes +Arbeitsprodukt. + +Soweit Lassalle. Ein Miverstndnis ist hier gar nicht mehr mglich. Die +Idee, welche Lassalle bei dem mehr oder weniger unterstellt, +ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der +Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen +oder der Gruppe ins Auge fat, und Lassalle war sich durchaus dessen +bewut, da, solange der letztere den Verteilungsmastab bildet, ein +Bruchteil der Bevlkerung mehr, der andere aber notwendigerweise +weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten +Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter +Verteilung, zukommen sollte, d. h. da die Assoziationen zunchst +eine neue Ungleichheit schaffen wrden. Gerade mit Rcksicht darauf +habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines +Vorschlages das Wort Lsung der sozialen Frage sorgfltig vermieden +-- nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern +aus jenen theoretischen Grnden. + +Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, da die +Ungleichheit bei den lndlichen Assoziationen durch eine +differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden knne, welche die +ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hnde des Staats bringen, den +Arbeitern nur den wirklich gleichmigen Arbeitsertrag lassen soll -- +die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer wrde die +Bezahlung bilden fr die berlassung der Bodenflche an die +assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heit -- schon aus +Gerechtigkeit und Neid von den lndlichen Assoziationen +leidenschaftlich begnstigt werden. Der Staat aber htte an dieser +Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, ffentliche +Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen +solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, da sobald die +Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer groen +Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhren +und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden +wrde. Wrde hiermit nicht zugleich gettet werden, was man heut +berproduktion und Handelskrise nennt? + +Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der +Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthlt keinen +Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr +wahrscheinlich, da er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung +irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der +Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfllung gehen +kann, aber nicht notwendigerweise in Erfllung zu gehen braucht, +solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt +wird. Und selbst wenn sie in Erfllung ginge, wrde damit noch durchaus +nicht schlechthin verhindert sein, da die Mitglieder der einzelnen +Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine grere oder +unter Umstnden geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts +erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukme. Es +stnde immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse. + +Hren wir noch einmal Rodbertus. + +Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel +des Neuen Sozialdemokrat Bezug, wo ausgefhrt war, da Lassalle der +weitgehendsten Richtung des Sozialismus angehrt habe, und meint, +das sei wohl richtig, es sei + + aber auch ebenso richtig, da Lassalle und der (Neue) + >Sozialdemokrat< ursprnglich eine Produktivassoziation angestrebt + haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nmlich in welcher der + Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehren sollte, nur da + Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu + sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es + ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar). + Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt, + setzt ja das Kapitaleigentum, das >Gehren< voraus. Wie soll also + jene >weitgehendste Richtung< mit einer solchen Assoziation + vermittelt werden knnen? + +Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation +als provisorische Institution gedacht werden knne, und +fhrt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: Genug, die +Produktivassoziation, die Lassalle und der >Sozialdemokrat< in der +Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als bergangszustand zu jenem +>weitgehendsten< Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gem, +wrde er nicht zu allgemeiner Brderlichkeit, sondern zu dem +schrfsten Korporationseigentum zurckfhren, in welchem nur die +Personen der Besitzenden gewechselt htten, und das sich tausendmal +verhater machen wrde, als das heutige individuale Eigentum. Der +Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben +niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt +ziemlich ber eins heraus); weit eher ist gerade das individuale +Eigentum der bergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum. +Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die +Lassalles), nmlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei +Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die +Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum +zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen +gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem +Fhrer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes >weitgehendste< Ziel +anstrebte) und das wei Marx sehr gut. (Briefe usw. von +Rodbertus-Jagetzow.) + +Ich habe Rodbertus so ausfhrlich sprechen lassen, weil er Lassalle +vielleicht am objektivsten gegenberstand und in seiner Auffassung vom +Staat usw. sehr viel Berhrungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl +niemand so eingehend mit Lassalle ber die Produktivgenossenschaften +diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch +nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der Lsung der +sozialen Frage hatte, nmlich den Normalwerksarbeitstag und den +verhltnismigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der +Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet, +wenn er sagt, da diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle +wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel, +und weil er es fr unzeitgem hielt, das dem Mob -- worunter er +den ganzen Tro der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits +zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte, +stellte er das ihm ungefhrlicher scheinende Postulat der +Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf. + +Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz ber Franz +von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er +listete mit der Idee, wie es in jenem Aufsatz heit, und +tuschte die Freunde mehr, als die Feinde. Aber er tat es, wie +Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenber +Rodbertus erklrt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu +verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel +zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schlu ziehen, +da Lassalle nicht von der Gte seines Mittels durchaus berzeugt +war. Solche Erklrungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so +eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie +sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte uerung in bezug +auf die Assoziationen Rodbertus gegenber: Kurz, ich begreife nicht, +wie man nicht sehen knnte, da die Assoziation, vom Staat ausgehend, +der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren fhrt. -- +Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser +Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen +Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel +schwerwiegender wre, als der eines theoretischen Irrtums. + +Lassalle glaubte, da in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit +der Zweck, dem diese dienen sollten, nmlich die Verwirklichung der +sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzgen bereits +enthalten, da hier in der Tat -- worauf er so groes Gewicht legte -- +das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen +sei. Nun ist ja auch tatschlich die Assoziation im kleinen ein Stck +Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit, +und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die +Staatsmaschinerie als Mittel der konomischen Befreiung der +Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den +Zusammenhang mit dem groen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation +verlorenging, mglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht +nur keinen Vorwurf machen, sondern mu vielmehr die Einheitlichkeit des +Gedankens bei ihm im hchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen, +welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser fr ihn nicht der +jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustnde +war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch +jeweilige historische Einflsse zwar beeintrchtigt, dessen ewige +wahre Natur aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher +Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der +Staatshilfe mehr als eine bloe praktische Maregel zu erblicken +und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des +Sozialismus, eine selbstndige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29]. +Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in +engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen +Lohngesetzes. Sie fut auf denselben konomischen Voraussetzungen. +Kurz, es ist hier alles, mchte ich sagen, aus einem Gu. + +Aber es gengt noch nicht, da Lassalle an die Richtigkeit seines +Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, da er ber sein Ziel sich so +unbestimmt wie nur mglich uerte. Er, der in dem schon zitierten +Aufsatz ber den Franz von Sickingen so trefflich dargelegt hatte, +welche Gefahr darin liegt, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung +andern (>und beilufig eben dadurch hufig sogar sich selbst<) geheim +zu halten, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen +sittliche Schuld erblickt hatte, die seinen Untergang herbeifhren +mute, den Ausflu eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm +vertretenen Idee, ein Abweichen von seinem Prinzip, ein halbes +Gebrochensein -- er gerade zuletzt htte sich darauf verlegen +drfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck +zuzuspitzen. Die Entschuldigung, da man diesen Zweck dem Mob noch +nicht sagen durfte, oder da die Massen fr ihn noch nicht zu +gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen fr das wirkliche +Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese +berhaupt verfrht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn +erlangt, nicht zum Ziele fhren. In den Hnden einer Arbeiterschaft, +die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag, +konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als ntzen und muten +die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden +Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prtorianer liefern. War aber die +Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen, +dann mute dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit +noch nicht als unmittelbares, ber Nacht zu verwirklichendes Ziel +hingestellt zu werden, aber nicht nur der Fhrer, sondern auch jeder +der Gefhrten mute wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und da es +nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wre dadurch nicht +mehr vor den Kopf gestoen worden, als es durch den Kampf um das +Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der +Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz +handelt. Individuen, sagt er in dieser Beziehung mit Recht, sind +zu tuschen, Klassen niemals. + +Wem das im Vorstehenden Ausgefhrte doktrinr erscheint, der sei auf die +Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit +will ich zum Schlu auf dieses Thema bergehen. + + +Funoten: + + [24] Neue Zeit, Jahrgang 1890/91: Zur Frage des ehernen + Lohngesetzes. Die so betitelte Abhandlung ist von mir spter + gesondert in das Buch Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes + (erster Teil der Sammelschrift Zur Theorie und Geschichte des + Sozialismus, Berlin, Ferd. Dmmler) bernommen worden. + + [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc + entlehnt -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner + Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung + zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlgen ein; mit dem ersteren + hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbstndigkeit der + Assoziation gemein. + + [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen + Briefe heit es nicht gehrt. Das nicht beruht aber, wie sich im + folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck + des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463). + + [27] D. h. als der berschu des Bodenertrags ber einen gewissen + Mindestsatz, unter dem Boden berhaupt nicht bewirtschaftet wird, + weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung fr die in ihn gesteckte + Arbeit abwirft. + + [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlgen von Henry George, + Flrscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der + Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir frher gesehen haben, + jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern + mte. + + [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle + z. B. in seiner Leipziger Rede Zur Arbeiterfrage den sogenannten + Manchestermnnern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, da + sie, wenn sie knnten, den Staat untergehen lassen wrden in der + Gesellschaft. Tatschlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, da + die Manchestermnner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft + untergehen lassen wollen. + + + + +Grndung und Fhrung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. + + +Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation knnen hier nicht +dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen +Werkes annehmen; ich mu mich vielmehr darauf beschrnken, vorderhand +nur die allgemeinen Zge der Bewegung hervorzuheben. + +Das Offene Antwortschreiben hatte zunchst nur zum Teil die Wirkung, +die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in +Dsseldorf und andere schreiben: Das Ganze liest sich mit solcher +Leichtigkeit, da es dem Arbeiter sofort sein mu, als wte er es schon +jahrelang! Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk, +sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu +verfallen, voller Wrme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben. +Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst berhaupt nicht; nur wo der Boden +bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft +ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen +in Frankfurt a. M., in einigen greren Stdten und Industrieorten am +Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurckgekehrte politische Flchtlinge +eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie +namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus +der Zeit vor und whrend der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das +Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf +lngere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberhrt und +betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Fhrer der +Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion. + +Was nmlich die Fortschrittspartei in Preuen und auerhalb Preuens +anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das Antwortschreiben einen +wahren Sturm erregt -- nmlich einen wahren Sturm der Entrstung, der +leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so gro vorgekommen, so +erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und +nun wurde ihnen pltzlich von links her zugerufen, da sie keinen +Anspruch auf diesen Titel, da sie sich des Vertrauens, das ihnen das +Volk bisher entgegengebracht, unwrdig erwiesen htten und da daher +jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder +Arbeiter, ihnen den Rcken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung +vertrgt keine kmpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in +einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die +Feindseligkeiten zwischen ihr und der preuischen Regierung hatten +allmhlich einen Hhegrad erreicht, da eine gewaltsame Lsung des +Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mute man sich auf das +uerste gefat machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, da +die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe, +hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten knnen, das Volk, das +politisch denke, stehe einmtig hinter ihr, und in dieser Zuversicht +hatte sie eine immer drohendere Sprache gefhrt. Denn wenn die +Fortschrittler auch keine groe Lust hatten, Revolution zu machen, an +Drohungen mit ihr lieen sie es darum doch nicht fehlen[30]. + +Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne, +der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen, +man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser +Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte? +Das hie ihnen Unmenschliches zumuten. + +Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr +Mglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu +lassen, und die nachtrgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser +Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist, +um zu irgendwelcher Betrachtung Anla zu bieten. Die Art der Gegenwehr +nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: klglich. Da +die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion +hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf +gemacht werden knnte. Denn es lt sich nun einmal nicht bestreiten, +da Lassalles Antwortschreiben zunchst Wasser auf die Mhle der +preuischen Regierung sein mute. Statt sich aber darauf zu beschrnken, +Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine +starke Position, oder, wie die Englnder es nennen, einen starken +Fall ihm gegenber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner +Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und +entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit +htte Mitleid erregen knnen, wenn sie nicht zugleich mit einer so +riesigen Dosis von Selbstberhebung gepaart gewesen wre. Lassalles +einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte +getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des +Staats gegenber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil +unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die +platteste Verherrlichung der brgerlich-kapitalistischen +Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaen sie so sehr +alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst frher in bezug auf die +nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben +hatten, da sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die +bertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbrgerlichen +Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen +ber Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten +Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszge aus der 1858 +erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausfhrungen Schulzes in +seinem Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus -- eine +Zusammenstellung von sechs Vortrgen, die letzten davon bestimmt, +Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Whrend +dort es als eine der schnsten Wirkungen der selbsthilflerischen +Assoziationen bezeichnet wurde, da sie den Unternehmergewinn +herunterdrcken hlfen, heit es hier, da die Wissenschaft ein +solches Ding wie Unternehmergewinn gar nicht kenne und also +auch natrlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und +Unternehmergewinn. Sie kenne nur a) Unternehmerlohn und b) +Kapitalgewinn (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenber +solcher Wissenschaft brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu +sein, um mit ihr fertig zu werden. + +Aber trotz seiner geistigen berlegenheit, trotz seiner packenden +Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenber nicht den +Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des Offenen +Antwortschreibens gleich der der von Luther an die Wittenberger +Schlokirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits +erwhnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunchst +auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in +Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen +Arbeitertag des Maingaues eine vierstndige Rede gehalten, in einer +zum Abschlu derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer +Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, fr +das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne +Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in +Anwesenheit von Delegierten aus 11 Stdten (Hamburg, Harburg, Kln, +Dsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und +Frankfurt a. M.), der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegrndet, +auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten +demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte. +Gem diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische, +was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den +Umstand erklrt, da ursprnglich auch an die Grndung eines allgemeinen +Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen +gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der +Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich +die persnlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten fr +die Person des Prsidenten, der obendrein auf fnf Jahre unabsetzbar +sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten +konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche +Prsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenber Lassalles +ausgesprochenem Wunsch auf unvernderte Annahme der Statuten nicht +durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde +Lassalle zum Prsidenten erwhlt, und nachdem man ihm noch die Befugnis +zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen +Vizeprsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an. +Er war somit anerkannter Fhrer der neuen Bewegung; diese selbst aber +blieb auf lngere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhngerschaft +beschrnkt. Drei Monate nach der Grndung betrug die Mitgliederzahl des +Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wre das ein gar +nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz +andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer +Propagandagesellschaft, sondern der Fhrer einer Massenbewegung sein. +Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern. + +Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine +wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war +das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht +sechs Wochen alt, da trat der neue Prsident bereits eine mehrmonatige +Erholungsreise an -- zunchst in die Schweiz, dann an die Nordsee. +Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht unttig. Er unterhielt eine +rege Korrespondenz, suchte alle mglichen Gren fr den Verein zu +gewinnen, wobei er brigens nicht sehr whlerisch vorging, aber gerade +das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, lie er ruhen. +Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafr, da der Verein +wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfgung hatte, obwohl es +ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begngte sich mit +gelegentlichen Subventionen an Bltter, wie den in Hamburg von dem alten +Freischrler Bruhn herausgegebene Nordstern und den in Leipzig von +einem Eigenbrdler, Dr. Ed. Lwenthal, herausgegebene Zeitgeist, +womit diese Bltter zeitweise ber Wasser gehalten wurden, ohne +jedoch deshalb aufzuhren bestndig zwischen Leben und Sterben zu +schweben. + +Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der +vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den brgerlichen +Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem +Verein fern. Ein groer Teil dieser Leute war, wie bereits erwhnt, +stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium, +andere wurden durch ein unbestimmtes persnliches Mitrauen gegen +Lassalle davon abgehalten, sich ffentlich fr ihn zu erklren, wieder +andere hielten den Zeitpunkt fr sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei +von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein +beitraten, lieen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und +verhielten sich im brigen durchaus passiv. Dafr agitierten zwar andere +Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse +hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretr des Vereins, Jul. +Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Ttigkeit Anhnger fr +den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den +Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgltigkeit der +unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des +Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem +Verfassungskampf in Preuen als ein fast unbersteigbares Hindernis, so +da an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft +die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel +unpolitischer Natur, Grndung von Untersttzungskassen usw., das +Werbegeschft frdern solle. + +Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser +Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den +Vereinssekretr (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation +usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, da der +Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ndern mute. Er wrde +aufgehrt haben, eine jederzeit disponible politische Maschine +abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert. + +Noch in den Bdern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit +der er bei seiner Rckkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und +zwar zunchst am Rhein, wo der Boden sich ihm am gnstigsten erwiesen +hatte. Es ist dies die Rede Die Feste, die Presse und der Frankfurter +Abgeordnetentag. + +Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in +Barmen, Solingen und Dsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in +seiner Agitation. Welche Einflsse whrend der Sommermonate auf ihn +eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden knnen, indes wird +man nicht fehlgehen, wenn man auf die Grfin Hatzfeldt und ihre +Verbindungen schliet. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein +noch greres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als +dieser selbst; fr sie ging das Interesse am Sozialismus vollstndig auf +im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie berhaupt erst +zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre +groe Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet, +die wohl versprachen, seinem persnlichen Ehrgeiz Befriedigung zu +verschaffen, die aber die Bewegung selbst im hchsten Grade +kompromittieren konnten. Fr sie war eben die Bewegung Lassalle und +Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille +der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigenntzigen Freunde +sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber +obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen +Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbstndigen +Wirkungskreis, so wirkt ihre Frsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie +bestrken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und +Schwchen, sie reizen bestndig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf +jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als +der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache fr dieses +Unrecht, sie hetzen und schren und intrigieren -- alles in bester +Absicht, aber zum grten Schaden dessen, fr den es vermeintlich +geschieht. + +Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so +sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf +Erfahrung berlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab +er viel auf ihren Rat; er mute doppelt auf ihn wirken, wo er seinen +Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schlu seiner Laufbahn +geschriebenen Briefe an die Grfin macht Lassalle dieser gegenber die +Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des +Prsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlat habe. +Das ist sicherlich nicht wrtlich zu nehmen. Lassalle htte wohl auch +ohne die Grfin das Prsidium angenommen. Aber in solchen Situationen +lt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was +man selbst mchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. +Die Grfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es +liegt der Schlu mehr als nahe, da sie es mit Verweisung auf die Dinge +getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preuens damals +vorbereiteten. Es sei nur an die Erklrung Lassalles in seiner +Verteidigungsrede im Hochverratsproze erinnert, da er schon vom ersten +Tage, wo er seine Agitation begann, gewut habe, da Bismarck das +allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklrung, +da, als er das Offene Antwortschreiben erlie, ihm klar war, +da groe auswrtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es +unmglich machen, das Volk zu ignorieren. Er stellt es zwar dort so +hin, als ob dies jeder htte wissen mssen, der die Ereignisse mit +sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber +gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die +Informationen beeinflussen lie, die ihm aus diplomatischen +Quellen ber die Vorgnge in Regierungskreisen zugingen. + +Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttuscht worden, als Lassalle +selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und +stillen Diplomatie abgerichtet, mute sie auch jetzt darauf verfallen, +hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich +als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an +Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um +jeden Preis zu erzwingen, an seinem rcksichtslosen Temperament und +seinem hochgradigen Selbstgefhl nur zu bereitwillige Untersttzung. +Inwieweit damals schon die Fden angeknpft waren, die spter Lassalle +ins Palais des Herrn von Bismarck fhrten, lt sich heute nicht mehr +feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede +Die Feste, die Presse usw. fr den Druck niederschrieb, an seinen +Freund Levy richtete: Was ich da schreibe, schreibe ich blo fr ein +paar Leute in Berlin, als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst +beweisen, da an diesen Fden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die +Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die +teilweise sehr bertrieben sind, whrend dagegen dem Minister Bismarck +unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und +der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so +meistert hier der Demagoge die ersteren. + +Im Juni 1863 hatte die preuische Regierung, nachdem sie den Landtag +nach Hause geschickt, die berchtigten Preordonnanzen erlassen, welche +die Verwaltungsbehrden ermchtigten, nach vorheriger zweimaliger +Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inlndischen Zeitung oder +Zeitschrift wegen fortdauernder, die ffentliche Wohlfahrt +gefhrdender Haltung zeitweise oder dauernd zu verbieten. Die +liberale Presse, ausschlielich in den Hnden von Privatunternehmern, +hatte daraufhin meist es vorgezogen, whrend der Dauer der +Preordonnanzen berhaupt nichts mehr ber die innere Politik zu +schreiben. Das war gewi nichts weniger als tapfer, aber es war auch +nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es +hinstellt. Lassalle bersah geflissentlich, da Bismarcks Absicht +beim Erla der Preordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaten +Bltter der Opposition geschftlich zu ruinieren, um seine eigene +oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der +Begrndung der Preordonnanz hatte es ausdrcklich geheien: + + Die positive Gegenwirkung gegen die Einflsse derselben (d. h. der + liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon + deshalb den wnschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die + meisten der oppositionellen Organe durch eine langjhrige Gewhnung + des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden + Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu + bekmpfen ist. + +Wenn also die liberalen Bltter es nicht darauf ankommen lieen, +verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Mglichkeit, +andere Bltter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen +abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maregel wurde also gerade +durch dies zeitweilige Schweigen ber die innere Politik vereitelt. +Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. Lassalle +meint in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich htte verbieten +lassen, wenn der Spiebrger nicht mehr beim Frhstck seine gewohnte +Zeitung bekommen htte, dann wrde die Erbitterung ber die +Preordonnanzen im Volke aufs hchste gesteigert worden sein und die +Regierung sich gezwungen gesehen haben, nachzugeben. Indes, die +Erbitterung war nicht minder gro, wenn der Spieer zwar seine gewohnte +Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag fr Tag am Inhalt derselben +vordemonstriert wurde, da seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er +zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt. + +Zudem war die Preordonnanz eine Maregel, die nicht aufrechtzuerhalten +war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein +Provisorium, und die liberalen Bltter hatten gar keine Ursache, whrend +desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrckt -- mit Ehren +zu sterben. + +Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe +spiegelten diese Wut natrlich entsprechend wieder. Lassalle drckt das +so aus, da er sagt: Selbst (!) die reaktionren Bltter wuten +damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrstung ber dieses Gebaren kaum +hinreichenden Ausdruck zu geben. Und er zitiert als Beweis die +Berliner Revue, das Organ des reaktionrsten Muckertums. + +Natrlich benutzten die Reaktionre die Finte, ihren Angriffen auf die +liberale Presse ein sozialistisches Mntelchen umzuhngen, sich zu +gebrden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen. +Statt jedoch gegen diese Flschung des sozialistischen Gedankens zu +protestieren und jede Solidaritt mit ihren Urhebern zurckzuweisen, +leistete Lassalle dem Spiel der Bismrcker noch Vorschub, indem er ihre +Blechmnzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab. + +Gewi ist die Tatsache, da die Presse heute ein Geldgeschft ist, ein +groer belstand, ein mchtiger Faktor der Korruption des ffentlichen +Lebens. Dem ist aber, solange berhaupt das kapitalistische +Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten +durch beschrnkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten +Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die +Freiheit der Presse ermglicht. Davon aber wollte die preuische +Regierung nichts wissen, und Lassalle untersttzte ihren Widerstand +noch, indem er zwar fr volle Prefreiheit eintrat, aber zugleich +erklrte, da diese ohnmchtig sein wrde, das Wesen der Presse +umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen wrde, +Annoncen zu bringen. Mit letzterem wrde die Presse nmlich aufhren, +eine lukrative Geldspekulation zu sein, und wrden wieder nur solche +Mnner Zeitungen schreiben, welche fr das Wohl und das geistige +Interesse des Volkes kmpfen. + +Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos +dieses Mittel wre? Lassalle htte nur seine Blicke ber den +Grenzbereich des preuischen Staates hinaus nach England und Frankreich +zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu +berzeugen. In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen +eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, whrend in Frankreich +den Blttern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber +durch eine hohe Steuer fast unmglich gemacht, auf ein Minimum reduziert +war. War deshalb die franzsische Presse besser als die englische? +Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit +nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem +Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse fr seine Zwecke +zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse +Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel hherem Grade +dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war. + +Immerhin berhrte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine +Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen ffentlichen +Lebens bezeichnet werden mu. War der Zeitpunkt auch schlecht gewhlt, +war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und fr sich bleibt +die Tatsache, da die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein +kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die +Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden mu, soll sie sich vom +Einflu der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber +war, was Lassalle ber die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863 +Bismarck zum Trotz abhielten. Er wute doch wohl, da die Feste weiter +nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die +Regierung, wie sie in Frankreich und England unter hnlichen +Verhltnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren, +so mute er hervorheben, da mit den Festen allein noch nichts getan +war, da, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die +Regierung um keinen Schritt gefrdert wurde. Statt dessen beschrnkte er +sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse ber die Feste zu +wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren rger zu verbergen suchte, +noch zu berbieten. Niemand, der die Geschichte der preuischen +Verfassungskmpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der +Lassalleschen Rede lesen knnen, ohne sie zu mibilligen. + +Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu +Frankfurt a. M. zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wre +berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo +er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, da sie mit den +deutschen Frsten liebugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen -- +wir haben gesehen, wie er ihnen im Offenen Antwortschreiben das +Dogma von der preuischen Spitze vorgeworfen und Preuen als den +reaktionrsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn +Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel +getrieben htte, wie die Fortschrittler, nur da er nach der andern +Seite hin liebugelte. Seine ganze Rede enthlt keine Silbe gegen +Bismarck und die preuische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe +direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er lt sie +mit dem ruhigen Lcheln tatschlicher Verachtung ber die +Beschlsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis +aus, er sei ein Mann, whrend die Fortschrittler alte Weiber seien. +Noch ein Passus der Rede zeugt von der vernderten Frontrichtung +Lassalles. + +Der Fhrer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den +Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut, +wieder einmal daran zu erinnern: Die Leidenschaft der Volkspartei und +die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionren +Umwlzungen gefhrt. Aber das deutsche Volk sei nicht blo einmtig, +sondern auch so gemigt bei seinen Ansprchen, da die deutsche +nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann, +keine Verantwortung dafr habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, +welche, weil keine Reform mehr mglich, zu der Umwlzung greife. + +Fr jeden, der lesen kann, ist diese Erklrung eine zwar recht +lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. Wir +wollen keine Revolution, o Gott behte, wir waschen unsere Hnde in +Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und +dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben. Eine, wenn man wirklich die +ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider +zugleich auch sehr gebruchliche Art zu drohen -- so gebruchlich, da, +wie gesagt, ber den Sinn der Erklrung gar kein Miverstndnis mglich +war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht +verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die +Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern +um ihnen zu drohen fr den Fall, da es zu einer Revolution oder einem +Staatsstreich kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn +von Bennigsen und lt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen: +Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals +dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege kme, es den +Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, da sie bis +zum letzten Augenblicke erklrt haben: sie wollen keine Revolution! +Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hnde empor. + +Und die ganze Versammlung erhebt in groer Aufregung ihre Hnde, +heit es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht ber die +Rede. + +Was sollte diese Drohung, dieses Gedenken bedeuten? Es war kaum eine +andre Auslegung mglich, ab da man die Fortschrittler, wenn nicht +direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es auf diesem +oder jenem Wege zum gewaltsamen Zusammensto kommen sollte. Eine solche +Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die +Fortschrittler, statt sie vorwrtszutreiben, erst recht kopfscheu zu +machen. + +In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten. +Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu +unterbrechen, wurden von exaltierten Anhngern desselben mit +Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse lste der +Brgermeister eine halbe Stunde spter die Versammlung auf, worauf +Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch ber das andere ausbringenden +Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck +aufgab, das mit den Worten beginnt: Fortschrittlicher Brgermeister hat +soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen +und mehreren Polizisten mit gezogenem Sbel von mir einberufene +Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelst, und mit +der Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung schlo. + +Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung +angefhrt werden kann: seine Erbitterung ber die ihm von seiten der +Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttuschung ber die +verhltnismig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen +Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige, +aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre +-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt, +so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend +geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- da Lassalle, als er +nach Deutschland zurckkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich +so ausdrcken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches +Telegramm htte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn +einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionr genannt, und der +seiner inneren berzeugung nach sicherlich sich noch fr einen solchen +hielt. Wenn nicht andre Erwgungen, so htte das einfachste Taktgefhl +Lassalle verbieten mssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt +herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann. + +Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflsung +der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen knnte, so +folgten ihm bald andre, bei kltester berlegung unternommene Schritte, +die ebenfalls den politischen Grundstzen, als deren Vertreter Lassalle +auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem +in enger Verbindung mit den vorerwhnten Vorkommnissen steht. + +Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch +gemacht haben sollten, waren im Frhjahr 1864 zu mehrmonatigen +Gefngnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen +Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, +untersttzt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an +den Knig von Preuen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige +Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu +seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, wie wenig entmonarchisiert +das Volk in Preuen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen +hatte: Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als +zu Demokraten, er, der als Fhrer der neuen Bewegung doch vor allem die +Pflicht hatte, seinen Anhngern das Beispiel demokratischen Stolzes zu +geben, ermuntert sie, vom Knig von Preuen Begnadigung zu erbetteln. +Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Fhrer. Am 20. +April 1864 meldet der Solinger Bevollmchtigte Klings, da gegen +Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Smtliche +Hauptmitglieder des Vereins htten sich dagegen ausgesprochen. Die +beiden von hier Verurteilten gehren zu der entschiedensten +Arbeiterpartei und wrden, selbst wenn es vier Jahre wren, nicht zu +bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen +widerstreitet, Sr. Majestt verpflichtet zu sein. + +Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er +schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erflle ihn mit groem Stolz. +Aber den Gedanken der Adresse an den Knig gab er noch immer nicht auf, +sondern suchte nachzuweisen, da diese auch ohne das Gnadengesuch der +Verurteilten von groem Nutzen sein knne. Es kann, heit es wrtlich, +vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, da, wenn die Adresse +von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte +oben eine -- fr uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche +man sich um so mehr ermutigt fhlt, bei kommender Gelegenheit an die +Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein +Schritt, den man, wie Ihnen der beigefgte Leitartikel der +ministeriellen Zeitung (die damals verffentlichte Sternzeitung) zeigt, +oben jetzt gerade wieder hin und her berlegt. Indes auch diese +Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des +empfohlenen Schrittes zu berzeugen, und so blieb der Bewegung diese +Blostellung erspart. + +Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurckkehrte, ging er +zunchst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt fr seine Sache zu +erobern. Er verfate einen Aufruf An die Arbeiter Berlins, lie ihn +in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter +den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam +geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte +der Berliner fortschrittlichen Presse (Volkszeitung und Reform) +ber die rheinischen Versammlungen anknpft, war der Erfolg doch +zunchst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in +Berlin fanden in kleineren Slen statt und gaben zu allerhand Gesptt +Anla, und als in der ersten greren Versammlung Lassalle auf +Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde, +klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der +Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der +Vortrge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen +bald wieder ab, so da der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis +auf ber 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 +kaum noch drei Dutzend Mitglieder zhlte, wovon obendrein ein groer +Teil Nichtarbeiter waren. + +Neben der Agitation beschftigten Lassalle auch sehr stark seine +Prozesse und sonstigen Kmpfe mit den Behrden. Denn so angenehm dem +Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen +die Fortschrittspartei kehrte, so wute es doch sehr gut, da es in +Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfhriges Werkzeug +gebrauchen lie. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren +Behrden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu berschtten. +Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen +Drnger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch mrbe zu bekommen. +Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Dsseldorf lie die Rede +Die Feste, die Presse usw. konfiszieren und erhob gegen Lassalle +Anklage auf Verletzung der 100, 101 des Preuischen Strafgesetzbuches +(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung +von Anordnungen der Obrigkeit). Der Proze verursachte Lassalle +unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster +Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefngnis verurteilt worden war, +mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefngnis. +Wegen der Flugschrift An die Arbeiter Berlins erhob die +Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle +und lie auch, wie bereits erwhnt, Lassalle in Untersuchungshaft +nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides, +Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persnlichen Rachsucht des +Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr +vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bs zerzaust +hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. Mrz 1864 vor dem +Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht +weniger als drei Jahre Zuchthaus und fnf Jahre Polizeiaufsicht gegen +Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat +lautete, auf Freisprechung und berwies die Behandlung der +untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verste gegen +das Strafgesetz der zustndigen Gerichtsabteilung. + +Die Verteidigungsrede in diesem Proze ist ein wichtiges Dokument fr +die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie +eingehen, haben wir noch der groen sozialpolitischen Arbeit Lassalles +zu erwhnen, die Ende Januar 1864 die Presse verlie und als sein +propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden mu. Es ist dies die +Streitschrift Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der konomische +Julian, oder Kapital und Arbeit. + +Es wurde gelegentlich bereits der Vortrge erwhnt, die +Schulze-Delitzsch im Frhjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und +unter dem Titel Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus als +Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation verffentlichte. Diese, +aus den plattesten Gemeinpltzen der liberalen konomie +zusammengesetzten Vortrge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe, +den auf der Hhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei, +die in ihm ihren konomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu +vernichten. Bercksichtigt man, da Lassalle zu systematischen +konomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment, +wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem konomischen Werk machen wollte, +durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man +auerdem in Betracht, da Lassalle, whrend er den Bastiat-Schulze +schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten fr die Leitung des +Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin, +in diesem Buch einen neuen Beweis fr das auergewhnliche Talent, die +staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizitt des Lassalleschen Geistes +zu erblicken. Freilich trgt der Bastiat-Schulze daneben auch aufs +deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik +der Popularitt der Schrift zugute kommt, sind die Umstnde, unter denen +diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so +grer war, als Lassalle wohl selbst fhlte, da er immer mehr in eine +falsche Position geriet -- die Enttuschung einerseits, und das +Bestreben, sich ber diese Enttuschung selbst hinwegzutuschen, +andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhngnisvoll gewesen. Aber auch +inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Hhe des Gegenstandes, +sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein +nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche +und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht +frei von Widersprchen. Als Ganzes genommen hat der Bastiat-Schulze +jedoch das groe Verdienst, den historischen Sinn und das Verstndnis +fr die tieferen Probleme der konomie unter den deutschen Arbeitern in +hohem Grade gefrdert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung +auf die Hhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen +Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf. + + +Funoten: + + [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war, + noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen + Eindrcke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- berall wurde + in jenen Tagen politisiert, und natrlich gaben wir Knaben nur + in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer + Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschler gehrten den + brgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber + die einen wie die andern waren gleich fest davon berzeugt, da eine + Revolution kommen mu߫, denn mein Vater hat es auch gesagt. Jede + uerung der Wortfhrer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis + auf die Revolution gedeutet werden knnte, wurde triumphierend von + Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse auf den Knig und + seine Minister. + + [31] So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles gegen + Schulze-Delitzsch, Bedrfnis und Trieb nach Befriedigung seien + nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen fr dieselbe Sache + falsch. Beides fllt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs + dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darber lustig, + da Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und + tierischer Arbeit darin erblicke, da die erstere Arbeit fr knftige + Bedrfnisse sei, verfllt aber seinerseits in den noch greren + Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, da der Mensch mit + Bewutsein, das Tier ohne solches ttig sei. Und hnlich an anderen + Stellen. + + + + +Lassalle und Bismarck. + + +Was Lassalle nach dem Bastiat-Schulze gesprochen und geschrieben +hat, trgt immer deutlicher die Zge der inneren Ermattung, der +geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprngliche, +das natrliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die +Strke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man +vergleiche das Arbeiterprogramm mit der Ronsdorfer Rede, die +Verteidigungsrede Die Wissenschaft und die Arbeiter mit der +Verteidigungsrede im Hochverratsproze, und man wird das hier Gesagte +verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrcke treten an +ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische +Beweisfhrung, und statt zu berzeugen, verlegt sich Lassalle immer +mehr auf das berschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern +vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten +Erfolgen. + +Im Hochverratsproze braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die +Behauptung der Anklage, da der Hintergedanke seiner Agitation die +schlieliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit groem Geschick +das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen bertritt +zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von +Wallensteins Tod: + + Wr's mglich? -- knnt' ich nicht mehr, wie ich wollte? + Nicht mehr zurck, wie mir's beliebt? + +Es ist merkwrdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation +um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser +jene Worte sprach, hnlich war. Auch er hatte, wie der Friedlnder -- um +sein eigenes Bild zu brauchen -- Dinge getan, welche er deux mains +verwenden konnte. Er hatte sich nicht damit begngt, die Vorgnge in +der inneren und ueren Politik objektiv zu studieren, um den gnstigen +Moment zur Aktion fr seine Plne auszuntzen, er war bereits dazu +bergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mchte, gegen die er +kmpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte +Unterhandlung getreten. Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein +sagen: + + Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam + Nicht ber diese Schwelle noch! + +Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch +innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu +treiben, die Tat zu vollbringen, weil er nicht die Versuchung von +sich wies? + +Da Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende +Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck +hatte, ist heute ber jeden Zweifel sichergestellt. Die langjhrige +Vertraute Lassalles, die Grfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer +1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche +Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern +derselben unter Hinzufgung der nheren Umstnde mitgeteilt, und als +August Bebel in der schon erwhnten Sitzung vom 16. September 1878 die +Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags +darauf zu, Zusammenknfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte +nur in Abrede zu stellen, da es sich dabei um politische +Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gesttzt auf die Mitteilungen +der Grfin Hatzfeldt, gesagt: Es drehte sich bei diesen +Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um +Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die +Gewhrung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Frst +Bismarck war fr diesen Plan von Lassalle vollstndig gewonnen, er +weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung +des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der +schleswig-holsteinische Krieg glcklich zu Ende gefhrt worden sei. +Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen +zwischen Lassalle und dem Frsten Bismarck, und es war nicht etwa der +letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich +ausdrcklich konstatieren mu, Lassalle, der den Bruch herbeifhrte +und erklrte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu +knnen. Darauf antwortete nun Bismarck: Unsre Unterhaltungen drehten +sich gewi auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umstnden +aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so +ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung +einzufhren, bin ich in meinem Leben nicht gekommen. Er habe es mit +einem gewissen Widerstreben, als Frankfurter Tradition akzeptiert. +Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er von deren +Unzweckmigkeit noch heute nicht berzeugt. Nur htten die damals +eingetretenen politischen Ereignisse die Fortfhrung der in dieser +Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. brigens habe nicht er, +sondern Lassalle diese Zusammenknfte gewnscht, ihn brieflich darum +gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu +herbeigelassen, Lassalles Wnschen zu willfahren. Was htte mir +Lassalle bieten und geben knnen? Er hatte nichts hinter sich. In +allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du +gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man +anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen mu, was +kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als +Minister htte geben knnen. + +Es liegt auf der Hand, da der Mann, der offiziell noch nie gelogen +hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloen +Unterhaltung willen wre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und +wrde dieser nicht den revolutionren Juden wiederholt -- er selbst +gesteht, da es viermal gewesen sein knne, whrend Sophie Hatzfeldt +behauptet hatte, da es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche +gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert +haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in +der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche +nachzulesen, um sich zu berzeugen, wie stark sich das Ministerium +Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht +einzufhren, und dazu gab es unter den obwaltenden Umstnden kaum +einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert +in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige +uerungen und knpft daran im weiteren Verlauf die bekannten +Erklrungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenknfte mit Bismarck +bekannt geworden, richtig gewrdigt werden knnen: + +Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte +Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung strzen zu wollen! + +Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich +Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung strzen, sondern es +vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestrzt! + +Aber wie? Ohne da ein Tropfen Blutes geflossen, ohne da eine Faust +zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr +mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine +und direkte Wahlrecht oktroyiert. + +Die starken Spiele, meine Herren, knnen gespielt werden, Karten auf +dem Tisch! Es ist die strkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen +mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene +Notwendigkeit gegrndet sind. + +Und so verkndige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird +vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die +Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht +ist oktroyiert! + +Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewut, schon +an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erla meines +Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand +entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffate. Aber wenn es +auch zweifelsohne richtig ist, da man schon im Winter 1862/63 in +Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es mglich sei, durch +eine nderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu +sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32], +so wrde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer +bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben +und immer wieder darauf zurckgekommen sein, wenn er nicht aus seinen +Unterhaltungen mit Bismarck die berzeugung gewonnen htte, da, ob nun +vor oder nach Beendigung des dnischen Feldzuges, diese Oktroyierung +beschlossene Sache sei. + +Mehr glaubwrdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, da es +zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen +schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drngen berzeugt hatte, +da Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt +unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer +mglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber da die +Verbindung noch nicht endgltig abgebrochen war, geht schon daraus +hervor, da Lassalle fortfuhr, von allen seinen Verffentlichungen usw. +durch das Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins ein +Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift +persnlich an Bismarck bersenden zu lassen. + +Ebenso kann man Bismarck auch glauben, da seine Verhandlungen mit +Lassalle wegen des do ut des zu keinen bestimmten Abmachungen fhren +konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachtrglich +protzenhaft mit der Phrase abtut: Was kannst du armer Teufel geben? Er +hatte nichts, was er mir als Minister htte geben knnen. Bismarck +hatte es zu jener Zeit gar nicht so ppig, da er nicht jede Hilfe +brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache +war nur die, da es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles +Drngen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Grnde, da +Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: Sie +knnen unsre Bevollmchtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. Sie +knnen sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen, +whrend wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen ber diesen +Punkt, aber lgen schickt sich fr uns nicht -- nach seiner Rckkehr +nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge bertrieb. Er +wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit +wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre +Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darber informiert, wie es +in Wirklichkeit mit der Bewegung stand. + +Und dann hatte es mit dem Geben auch sonst seine eigne Bewandtnis. +Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren +darber, da er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen +politischen Verbndeten haben wrde, solange dieses Bndnis im +Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern +Worten, da Lassalle genau so mit ihm verfahren wrde, wie er mit +ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden wrde, sobald er das +von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mute ihn die erste +Unterredung mit Lassalle berzeugt haben, da dieser nicht, wie +Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, ein Fisch ohne Grten +war, sondern ganz gehrige Grten und Stacheln hatte. Mit der +Aussicht auf ein Pstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da +nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle +leicht sehr unbequem werden, also warum sich bereilen? Die Agitation +Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger +gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck +brauchte. + +In seiner Verteidigungsrede Die Wissenschaft und die Arbeiter, +gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklrt: + +Kann man bei uns selbst nur sagen, da die Einfhrung des +Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, da sie dem deutschen +Brgertum zur Last falle?... Die preuische Regierung ist es, nicht die +besitzenden Klassen in Preuen, welche fr alle Zeiten und vor allem +Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten +Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird. Und: Bourgeoisie und Arbeiter +sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre +Unterdrcker -- d. h. also gegen die Regierung. + +Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. Mrz 1864 -- ist ihm der +Verfassungskonflikt in Preuen nur noch der Kampf zwischen dem +Knigtum und einer Clique. Dieser Clique knne das Knigtum +nicht weichen, vollkommen wohl aber knne es das Volk auf die +Bhne rufen und sich auf es sttzen. Es brauche sich hierzu nur +seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Knigtum ist ursprnglich +Volksknigtum gewesen. + +Ein Louis-Philippsches Knigtum, ein Knigtum von der Schpfung der +Bourgeoisie knnte dies freilich nicht; aber ein Knigtum, das noch aus +seinem ursprnglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des +Schwertes gesttzt, knnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen +ist, wahrhaft groe, nationale und volksgeme Ziele zu verfolgen. + +Das ist die Sprache des Csarismus, und im weiteren Verlaufe seiner +Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung +als eine vom Knigtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt. +Niemand lasse aber gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband +drehen, an welchem er erwrgt wird, und das ist niemand zu verdenken, +und daher auch dem Knigtum nicht. Bestndig auf das angebliche +Recht hingedrngt, habe sich das Knigtum erinnert, da es mehr +in seiner Stellung lge, sich auf das wirkliche Recht zurckzuziehen +und das Volk auf die Bhne zu fhren, als einer Clique zu weichen und +von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband +winden zu lassen, an dem es erwrgt wird. So wrde er, Lassalle, +sprechen an dem Tage, wo das Knigtum die Verfassung gestrzt und das +allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der +intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte. + +Lassalle war bereits so weit, da er nicht nur durch die Tatsache seiner +Agitation -- was unter Umstnden nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion +vorbergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die +Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewi konnte er noch immer mit +Wallenstein ausrufen: + + Beim groen Gott des Himmels! Es war nicht + Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie! + +Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar +machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck +abschtteln zu knnen. In diesem Sinne nannte er auch einmal der +Grfin Hatzfeldt gegenber Bismarck seinen Bevollmchtigten. Aber +er verga, da es eine Logik der Tatsachen gibt, die strker ist als +selbst der strkste individuelle Wille, und da, indem er berhaupt +um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu +vertrauen und ausschlielich ihr seine Energie zu widmen, er nach +seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab. + +In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles +ber die Grundidee seines Franz von Sickingen zurckzugreifen: mit +der seit seiner Rckkehr aus den Bdern vollzogenen Schwenkung war +Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz +als die sittliche Schuld Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es +ist merkwrdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal +vorgezeichnet hat. Auch er war auf die sich realistisch dnkende +Verstndigkeit verfallen, revolutionre Zwecke durch diplomatische +Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen +Gegner -- die preuische Regierung -- zu tuschen, aber er tuschte +tatschlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er +nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp +persnlicher Anhnger beschrnkt. Und wie Lassalle von Sickingen +schreibt, da dieser groe Diplomat und Realist, der alles sorgsam +vorherberechnet und den Zufall ganz ausschlieen will, gerade dadurch +zuletzt gezwungen ist, dem zuflligsten Zufall alles anheim zu +geben, und, whrend die Rechnung auf jene Tuschung durch den +Anschein des Zuflligen und Unwesentlichen an der bewuten Natur des +Bestehenden zugrunde gehen mu, die Entscheidung, statt wie er +wollte, aus den Hnden des vorbereiteten, vielmehr aus denen des +ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen mu߫[33] -- so sieht +auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr blo noch mit dem Zufall +zu rechnen, alles von zuflligen Konstellationen in der inneren und +ueren Politik abhngig zu machen. Im Vertrauen auf seine +realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, da beim +Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler +lahmzulegen, der die meisten Trmpfe in der Hand -- beim politischen +Spiel, der ber die meisten tatschlichen Machtfaktoren zu gebieten +hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war, +konnte es nicht ausbleiben, da er schlielich mehr Bismarcks, als +dieser sein Bevollmchtigter wurde. + +Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, die +Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen +des Knigs von Preuen hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine +schwchste Agitationsrede, ausschlielich auf den ueren Effekt +berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwche dieser Rede bewut war, +zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den berall +eingestreuten Vermerken ber den Effekt der einzelnen Stze -- Krcken, +deren ein Vortrag, der an Hand und Fu gesund ist, durchaus entbehren +kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar +beeintrchtigen wrden. Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der +Vorzge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen +deren Fehler. + +Die Rede ist nicht blo inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz +nach tadelnswerter als alle Migriffe, die Lassalle bis dahin begangen. + +Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die +Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin +geschickt, um beim Knig von Preuen um Abhilfe gegen die belstnde, +unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schlielich, da +es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte, +auf Veranlassung Bismarcks vom Knig empfangen worden und hatten auf +ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der Knig habe seine Minister +angewiesen, eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie mglich ist, schleunig +und mit allem Ernst vorzubereiten. + +Da Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang +der Deputation von Seiten des Knigs als einen Erfolg seiner +Agitation hinstellt, wird ihm, so bertrieben es tatschlich war, +niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere bertreibungen in +der Ansprache, erklrte sich auch diese aus der Situation Lassalles. +Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der +Deputation durch den Knig und den Worten des letzteren eine +Auslegung, die zunchst nur als eine Reklame fr jenen und dessen +Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der +offizisen Zeidlerschen Korrespondenz ber den Empfang der +Deputation beim Knig und liest gerade die dem Knigtum gnstigste +Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrcklich +verzeichnet, mit dem hchsten Nachdruck der Stimme und begleitet +sie mit der eindringlichsten Handbewegung[34]. + +In den Worten des Knigs liege, erklrt er, die Anerkennung des +Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen -- +nmlich, da eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung +notwendig sei -- ferner, das Versprechen des Knigs, da diese +Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch +die Gesetzgebung erfolgen soll, und drittens, da eine +Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz +erwhlte Kammer, dem Knige niemals die zu diesem Zwecke +erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn +die Sache ohne Geld zu machen wre, auch nur ihre Zustimmung zu +einem solchen Gesetz erteilen wrde, so sei in dem kniglichen +Versprechen, innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen +auch das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden. + +Bei diesen Worten lt der Bericht die Versammlung, welche diesem +ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ... +zugehrt habe, in einen nicht zu beschreibenden Jubel ausbrechen, +der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu +sprechen versuchte. + +War der Jubel wirklich so gro, so bewies er, da die Arbeiter Lassalles +Auslegung des kniglichen Versprechens fr bare Mnze nahmen, das +schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte. + +Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in +Betracht kamen, diese nur durch mglichst glnzende Ausmalung der +bisher erzielten Erfolge zur hchsten, begeisterten Ttigkeit fr den +Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere +Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine +in der Kreuzzeitung erschienene Rezension des Bastiat-Schulze, +die nach Lassalle von zu beachtenswerter Seite kam, als da die in +ihr an Lassalle gerichteten Fragen htten unbeantwortet bleiben +drfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes +ausdrcklich auf die Ronsdorfer Rede und lt die Erwiderung und zwei +Exemplare der Rede unter Kuvert persnlich an Bismarck senden. +Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck +zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der unbeschreibliche +Jubel sollte Kder fr Bismarck und den Knig sein. Aber niemand +kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu +gestalten, da sie den gewnschten Effekt nach oben mache, bewirkte, +da sie tatschlich einen durch und durch csaristischen Charakter +erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Csarismus: +Csarismus in den Reihen der Partei, und Csarismus in der Politik +der Partei. + +Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfhigeres, +nichts Unintelligenteres, heit es in der Einsendung an +die Kreuzzeitung, als der unruhige, nrgelnde liberale +Individualismus, diese groe Krankheit unserer Zeit! Aber dieser +unruhige, nrgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit, +sondern wurzelt notwendig und naturgem nur in den Viertels- und +Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie. + +Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage +angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die +Stimmen unruhiger, persnlichkeitsschtiger Einzelner wrden hier in +diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehrt zu werden. Der +oligarchische Boden allein ist der homogene, mtterliche Boden fr den +negativen, tzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und +ihre subjektive, eigenwillige Persnlichkeitssucht. + +hnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheien: + +Noch ein anderes hchst merkwrdiges Element unseres Erfolges habe +ich zu erwhnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit +und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser +Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein +epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte, +da! Dieser groe Verein, sich erstreckend ber fast alle deutschen +Lnder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines +Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persnlich bekannt +oder jemals persnlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis +zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein >Nein< +gehrt, und gleichwohl ist die Autoritt, die ihr mir anvertraut +habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten hchsten Freiwilligkeit +beruhende!... Wohin ich gekommen bin, berall habe ich von den +Arbeitern Worte gehrt, die sich in den Satz zusammenfassen: +Wir mssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer +zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hnde eines Mannes legen, +zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das ntige +Zutrauen haben, damit er aufschlagen knne mit dem Hammer! + +Die beiden Gegenstze, die unsere Staatsmnner bisher fr unvereinbar +betrachteten, deren Vereinigung sie fr den Stein der Weisen hielten, +Freiheit und Autoritt, -- die hchsten Gegenstze, sie sind auf das +innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im +kleinen unserer nchsten Gesellschaftsform im groen darstellt. Nicht +eine Spur ist in uns von jenem nrgelnden Geiste des Liberalismus, von +jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von +welchem der Krper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ... + +Es liegt diesen Stzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der +nmlich, da in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen +Verhltnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf +die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und da in der Tat schon die +Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist +der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, whrend umgekehrt der +Bourgeois nur unter anormalen Verhltnissen, nicht aber durch die bloe +Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion +sich veranlat sieht. Dieser richtige Gedanke empfngt aber durch die +obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion +heit noch lange nicht die persnliche Diktatur; wo die Masse ihren +Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus +einem revolutionren ein reaktionrer Faktor zu werden. Die persnliche +Diktatur ist in den Kmpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der +Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionren +Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den negativen, tzenden +Individualismus aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein +Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefhrdet erscheint. In +solchen Momenten wird das Schlagwort von der einen reaktionren +Masse zur Wahrheit und blht, sobald die Strmung sich +verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich +unfhig fhlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern +unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persnlichkeit +ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser +Persnlichkeit entgegenzutreten, als unruhigen, nrgelnden +Individualismus. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den +letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die +Partei, die tatschlich am konsequentesten deren Klassenforderungen +vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren +Interessen, weil sie durch ihre Nrgelei die staatserhaltende +Ttigkeit der Regierung beeintrchtige, und so griff im Jahre 1851 +die franzsische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter +jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum +Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten +usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der +Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloen Hters +der Ruhe und Ordnung fr die Bourgeoisie zu begngen. + +Eine aufsteigende, revolutionre Klasse hat absolut keinen Anla, +ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das +Besserwissen-Wollen ihren Fhrern gegenber zu verzichten. Und wir +haben bei der Solinger Affre gesehen, da, wie sehr auch Lassalle +den Arbeitern gegenber auf seine hhere Intelligenz pochte, er +gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und +krftiges Nein hatte hren mssen, und sicherlich nicht zum +Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten +Anla ein ebensolches Nein gehrt -- er sprach, wenn er sich +rhmte, in dem von ihm geleiteten Verein Autoritt und Freiheit in +der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen +Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus. + +Zur Ehre Lassalles mu gesagt werden, da er von Anfang an die +persnliche Spitze fr unerllich gehalten hatte. Zu diesem bloen +Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedrfnis hinzu. Die Politik, die +er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzufhren, wenn die Mitglieder +und Anhnger der Bewegung kritiklos dem Fhrer folgten und ohne Murren +taten, was er von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen +des Knigs von Preuen gegenber den schlesischen Webern in einer Weise +behandelte, da nur noch ein kleiner, ganz beilufiger Vorbehalt den +Demokraten -- man mchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das +brige aber auf den reinen Csarismus hinauslief, so muten auch sie +bereit sein, auf Kommando das Loyalittsmntelchen umzuhngen. Wenn +eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag, +so ist es die Tatsache, da sie fr Lassalle unter den gegebenen +Verhltnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die +Arbeiter je nach Bedrfnis fr seine jeweiligen Zwecke zur Verfgung zu +haben, und er brauchte die Besttigung der Diktatur, um nach oben hin +als eine bndnisfhige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige +Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr +mglich. + + +Funoten: + + [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert. + Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schluwort einer + Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck + und tonangebenden Leiter der Kreuz-Zeitung, in einer Sitzung des + konservativen preuischen Volksvereins vom 2. November 1862: Meine + Herren, tuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn + sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu + lsen, so ist all Euer Laufen und Mhen umsonst. Ich schliee deshalb + mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und + Bedrfnisse der nchsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch + mehr Energie, treiben wir es nicht blo fr die Zeit der Wahlen. + + [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen + Schriften dem fr das groe Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum + Franz von Sickingen angefgt (vgl. Bd. I). + + [34] Die Stelle lautet: Mit dem Trost einer mglichst baldigen + gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhlfe ihrer Not + entlieen Seine Majestt die Deputation. Das knigliche Versprechen + wird erhebend und ermuthigend in allen Thlern des Riesengebirges + widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue + Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben. + + + + +Lassalles letzte Schritte und Tod. + + +Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere +Vereinsleitung als auch was die geplante nchste uere Aktion des +Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. Im +Verein drang er auf die Ausstoung Vahlteichs, der in bezug auf die +Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei +nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so da den Vereinsmitgliedern +kaum etwas anderes brig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn +Prsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit +hchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich +gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise +zirkulieren zu lassen, da Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens +erst kennenlernen mute, nachdem die brigen Vorstandsmitglieder bereits +gegen ihn beeinflut waren. + +Wie man nun auch ber Vahlteichs Vorschlge zur Abnderung der +Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken +an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache +hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst +bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein +letzter Versuch, einen Druck auf die Ereignisse auszuben, +miglcken sollte. + +Dieser Versuch oder Coup, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in +Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben +von Dnemark eroberten Herzogtmer Schleswig-Holstein. + +Als im Winter 1863 der Tod des Knigs von Dnemark die +schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrngt hatte, hatte +Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung +stand und deshalb ein groes Interesse daran hatte, je nach derjenigen +Politik, fr die die preuische Regierung sich entschlo, den Verein +Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den +Schleswig-Holstein-Dusel Stimmung gemacht[35] und eine Resolution +ausgearbeitet und berall annehmen lassen, in der erklrt wurde: + + Die einheitliche Gestaltung Deutschlands wrde die + schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser + groen Aufgabe gegenber erscheint die Frage, ob, solange in + Deutschland 33 Frsten bestehen, einer derselben ein auslndischer + Frst ist, von verhltnismig sehr untergeordnetem Interesse. + +Im brigen enthlt die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine +Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die +Einverleibung der Herzogtmer in Deutschland ntigenfalls mit +Waffengewalt durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der +Hut zu sein; es lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen +Aufgaben abziehen. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird +der Vorwurf erhoben, da sie Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit +benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage +abzulenken und der Lsung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen +sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen. Dies im Dezember +1863. + +Jetzt waren die Herzogtmer erobert, und es handelte sich um die Frage, +was mit ihnen geschehen solle. Ein groer Teil der Fortschrittler trat +fr die legitimen Ansprche des Herzogs von Augustenburg ein, whrend +man in magebenden Kreisen Preuens auf die Annexion der Herzogtmer in +Preuen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien +hatten, zu den vorhandenen 33 souvernen Frsten in Deutschland noch +einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache, +der zur Zeit reaktionrsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs +zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches +Taktgefhl verloren, da er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine +groe Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution +beschlieen zu lassen, des Inhalts, da Bismarck verpflichtet sei, die +Herzogtmer gegen den Willen sterreichs und der brigen deutschen +Staaten an Preuen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte +bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu +welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs +gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung +entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausfhrung des Vorhabens +gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer +demokratischen berzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren +Fhrer glcklicherweise erspart. + +Lassalle war, nachdem er in Dsseldorf noch einen Proze ausgefochten, +in die Schweiz gegangen. Er nahm zunchst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad, +und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Frulein Helene von +Dnniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht +und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen +hatte. Es entwickelte sich im Anschlu an den Besuch jene Liebesaffre, +deren Schluresultat der frhzeitige Tod Lassalles war. + +Die Einzelheiten der Lassalle-Dnniges-Affre sind heute so bekannt und +die fr Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affre so +ber alle Zweifel sichergestellt, da auf eine Wiedererzhlung des +ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte +sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er +entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen +gelernt haben -- man kann sagen, da die Dnniges-Affre im kleinen und +auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen +Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dnniges +das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, +das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den +mindesten Zweifel, da es dem Einflu seiner Persnlichkeit gelingen +mu, diese Schwierigkeit zu berwinden. Selbstbewut, und zugleich mit +umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er +seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern +und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie +mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich pltzlich ein kleines, +unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der +jungen Dame erfahren die Eltern frher als sie sollen von der Verlobung +und erklren, Lassalle unter keinen Umstnden als Schwiegersohn annehmen +zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph +wird nur um so grer sein, je grer der Widerstand der Eltern. Von +diesem Selbstbewutsein getragen, begeht er einen Schritt, der die +Situation so gestaltet, da jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum +Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mdchen selbst +an ihm irre werden lt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein +anderer. Und ohne Rcksicht darauf, was er sich und seiner politischen +Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es fr ihn +nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das +Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dnniges +beobachten und ber jeden ihrer Schritte rapportieren mssen. Durch die +Vermittlung Hans von Blows wird Richard Wagner ersucht, den Knig von +Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dnniges zu +intervenieren, whrend dem Bischof Ketteler von Mainz der bertritt +Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen +Einflu zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht +die geringsten Gedanken darber, wie wenig wrdig es der geschichtlichen +Mission war, die er bernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu +antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch +kmmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten wrdig +erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur +Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er htte stolz sein +drfen, wo er stolz sein mute, war er es nicht. + +Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts +tun, weil Helene von Dnniges protestantisch war, und der +Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswrtigen an +den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm, +fhrte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, da er durch die Art +seines Vorgehens sich und das Weib, fr das er kmpfte, in eine total +falsche Position gebracht hatte. Obwohl er gewut hatte, da Helene +jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug fr sein +zuknftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- erhalten Sie mir +Helene in den unterwrfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist, hatte +er am 2. August an die Grfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr +jetzt eine Rolle zugemutet, welche die hchste Willensstrke erforderte, +und war emprt darber, da das junge Mdchen sich ihr zu entziehen +suchte. Getragen von seinem Selbstgefhl und gewohnt, die Dinge +ausschlielich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen +zu betrachten, hatte er ganz auer Erwgung gelassen, da gerade die +unterwrfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ndern, +und sah den bodenlosen Verrat und das unerhrteste Spiel einer +verworfenen Dirne, wo weiter nichts vorlag, als die Unbestndigkeit +eines verwhnten Weltkindes. + +Indes, er war nervs total heruntergekommen und besa lngst nicht mehr +die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu +Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und +Hlle in Bewegung zu setzen, die Unfhigkeit, Widerspruch zu ertragen +oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft, +sondern eines hochgradigen Schwchezustandes. Auch der schnelle Wechsel +von Zornesausbrchen und Trnen, der sich nach den bereinstimmenden +Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrglich +auf ein stark zerrttetes Nervensystem. + +In dieser Verfassung war es ihm unmglich, die erlittene Niederlage +ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu +verschaffen fr die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So tricht +das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden +Verhltnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affre spielte, +ist das Duell das reinigende Bad fr allen Schmutz und allen Schimpf, +und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besa, sich im Kampf um +irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschrnken, welche sich fr den +Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft +schicken, so war es auch nur konsequent, da er fr den vermeintlich +erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu +verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell +gegenberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der +verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der +erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so shnte er damit +die Schuld, da er jenem die Macht ber sich eingerumt hatte. + + +Funoten: + + [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Prsidenten Dr. Dammer, + an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus + widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wrtlich geheien: + Die erste Depesche ... erlie ich sofort, weil mir der ganze + Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht hchst unangenehm ist. + Der Widerspruch in den Telegrammen erklrt sich jetzt durch die + widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war, + ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei. + + + + +Schlubetrachtung. + + +So machte ein frhzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles, +seinen Plnen und Hoffnungen ein jhes Ende. Vielleicht war es gut so, +vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein +Unglck empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu knnen geglaubt, +war wieder in die Ferne gerckt, und fr die ruhige Organisationsarbeit +hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nchste Zukunft sehr +problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der +er sich in die Dnniges-Affre gestrzt hatte, viel beigetragen haben. + +Es ist eigentlich mig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl +getan htte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen +wre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise errtert +worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt. + +Gewhnlich wird nmlich gesagt, es wrde Lassalle, wenn er weiter gelebt +htte, nach Lage der Dinge nichts brig geblieben sein, als gleich +seinem Freunde Bucher eine Stelle im preuischen Staatsdienst +anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl +htte die von ihm schlielich eingeschlagene Politik, wenn konsequent +weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager fhren mssen, aber auf +diesen letzten Schritt htte es Lassalle eben fr sich nicht ankommen +lassen. Er htte nie den preuischen Beamtenrock angezogen. Er besa +genug, um nach seinen Bedrfnissen leben zu knnen, und seinem Ehrgeiz +htte eine Stelle, wie die preuische Regierung sie ihm bieten konnte, +ebensowenig gengt, wie sie seiner im Innersten stets unvernderten +Gesinnung entsprochen htte. In dieser Hinsicht htte eher er zu +Bismarck, als dieser zu ihm sagen knnen: Was kannst du, armer Teufel, +geben? + +Das Wahrscheinliche ist vielmehr, da Lassalle sich, sobald die gegen +ihn erkannten Strafen rechtskrftig geworden, dauernd im Ausland +niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhltnisse in Preuen, +bzw. Deutschland abgewartet htte. Denn da der Hamburger Coup, +selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution +beschlossen wurde, an den tatschlichen Verhltnissen zunchst nichts +gendert haben wrde, liegt auf der Hand. Wie gering diese Aussicht +war, geht daraus hervor, da das bloe Jawort Helenes von Dnniges +gengt hatte, um Lassalles Ansicht ber den voraussichtlichen Effekt +des Coup erheblich zu erschttern. Am 27. Juli hatte er ber diesen +an die Grfin Hatzfeldt geschrieben: ... Ich mu noch vorher in +Hamburg sein, wo ich einen groen, sehr groen, vielleicht tatschlich +wichtigen Coup schlagen will. Tags darauf erhlt er Helenes Zusage +und schreibt nun an die Grfin, da er sich selbst nicht zu viel +von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses +Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber fr Lassalles damalige +Stimmung uerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck +kommen. Sie lautet: + +Wie Sie mich doch miverstehen, wenn Sie schreiben: >Knnen Sie sich +nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schner Natur +gengen?< Sie meinen, ich msse Politik haben. + +Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wnsche nichts sehnlicher, +als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft +und Natur zurckzuziehen. Ich bin der Politik mde und satt. Zwar wrde +ich so leidenschaftlich wie je fr dieselbe entflammen, wenn ernste +Ereignisse da wren, oder wenn ich die Macht htte, oder ein Mittel +she, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich fr mich schickt; +denn ohne hchste Macht lt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber +bin ich zu alt und zu gro. Darum habe ich hchst ungern das Prsidium +bernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drckt es mich jetzt gewaltig. +Wenn ich es los wre, jetzt wre der Moment, wo ich entschlossen wre, +mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!) + +Denn die Ereignisse werden sich, frcht' ich, langsam, langsam +entwickeln, und meine glhende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und +chronischen Prozessen keinen Spa. Politik heit aktuelle momentane +Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus +besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse +auszuben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht +versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon! + +Ach knnte ich mich zurckziehen! -- + +In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei lustig +und voller Lebenskraft und nun, die alte Kraft ist noch da, das alte +Glck auch noch. Es waren also lediglich politische Erwgungen, die +jene resignierten Stze diktierten. + +Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dnniges in Bern am +3. August 1864 in Genf eintraf, scheint Lassalle bereits zur vorlufigen +Expatriierung entschlossen gewesen zu sein. In den Papieren Joh. Ph. +Beckers befindet sich eine von der Genfer Regierung fr Mr. Ferdinand +Lassalle professeur, wohnhaft chez Mr. Becker, ausgestellte +Aufenthaltsbewilligung, und auf dem Umschlag derselben folgender Vermerk +von der Hand des alten Freiheitsveteranen: + +Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft im verhngnisvollen Jahre +1864 hier mitteilte, er fhle seine Kraft aufgerieben, msse Einhalt +machen; er habe geglaubt, er vermge die sozialistische Bewegung in +etwa einem Jahre zum Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, da +es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche Kraft nicht +hinreichend fhle, namentlich werde er die bevorstehenden +Gefngnisstrafen nicht berdauern knnen. Hierauf gab ich ihm den Rat, +sich unter bewandten Umstnden irgendwo einen festen Wohnsitz zu +grnden, zu diesem Behufe sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn er +dem Gesetz gem einen Aufenthalt von zwei Jahren nachweise, sich das +Brgerrecht zu erwerben, was damals gar keinen Anstand gefunden htte. +In der Zwischenzeit knnte er natrlich beliebige Reisen machen. +Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11. +August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung. + +Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorlufig sechs Monate. + +Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an +ihn gelangten, hat Lassalle whrend der vier Wochen seines Kampfes um +Helene von Dnniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend +des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und +setzte dem Sekretr desselben, Willms, auf fnf Jahre hinaus eine Rente +von jhrlich 500 Talern fr Agitationszwecke aus und eine ebensolche von +jhrlich 150 Talern fr seinen persnlichen Bedarf. Als seinen +Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmchtigten +Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, sie wird den +Arbeiterstand zum Siege fhren. + +Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles +Tod nicht geringe Bestrzung. Es war ihnen lange unmglich den Gedanken +zu fassen, da Lassalle wirklich nur in einer gewhnlichen Liebesaffre +gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den +Gegnern angezettelt sei, um den gefhrlichen Agitator aus dem Wege zu +rumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswrdigen +politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich +zunchst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die +Grfin Hatzfeldt, aus brigens menschlich durchaus erklrlichen Grnden, +sich angelegen sein lie. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei, +wie Lassalle den Arbeitern persnlich gegenbergetreten war. So +liebenswrdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch +sorgfltig darauf geachtet, in seiner ueren Erscheinung sowohl wie in +seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige berlegenheit +stets vor Augen zu halten. Mit grtem Wohlbehagen hatte er ferner sich +in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafr +gesorgt, da ein die wirklichen Vorgnge noch bertreibender Bericht +darber im Nordstern erschien. + +In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten +-- so stark, da, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte, +er stets das Ich hatte vorangehen lassen. + +Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoen, auf die Masse hatte +es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen groen Zauber +ausgebt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persnlichkeit +wob, um so strkere Wirkung bte der Zauber nachtrglich aus. + +Es wre brigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, da dieser +Kultus der Persnlichkeit Lassalles sich fr die Agitation lange Zeit im +hohen Grade frdernd erwiesen hat. Es liegt nun einmal in den meisten +Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so +mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind, +gern in einer Person verkrpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht +ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob +Charlatane oder Illusionre, und sie ist in England und Amerika ein +anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, da +zuweilen die bloe Tatsache, da eine Persnlichkeit aus einer +Krperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, gengt, sie ber +diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener +hartnckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers +in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte +anderer Lnder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der franzsischen +Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter berlegen und +konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen, +aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenber herab, whrend er zur +groen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende +entflammte. Warum? Weil sich pltzlich in ihm eine Idee verkrperte, +whrend die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung, +die sie reprsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit. + +Der Name Lassalle wurde zum Banner, fr das sich die Massen immer mehr +begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Fr +den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem auergewhnlichen Talent +geschrieben, populr und doch die theoretischen Gesichtspunkte +hervorhebend, bten sie und ben sie zum Teil noch heute eine groe +agitatorische Wirkung aus. Das Arbeiterprogramm, das Offene +Antwortschreiben, das Arbeiterlesebuch usw. haben Hunderttausende +fr den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der berzeugung, die in diesen +Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf fr die Rechte der +Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie +in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verstndiger +Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der +aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in +ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon +Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in +seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Ma dessen +hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche +Sozialdemokratie den Wert einer krftigen Organisation zu allen Zeiten +zu schtzen gewut hat, wenn sie von der Notwendigkeit des +Zusammenfassens der Krfte so durchdrungen ist, da sie auch ohne das +uere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen +aufrechtzuerhalten gewut hat, so ist das zum groen Teil eine +Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare +Tatsache, da diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die +Traditionen der Lassalleschen Agitation am strksten waren, in bezug +auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben. + +Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre +Nachteile in den Kauf nehmen zu mssen. Wir haben gesehen, welchen +doppelt zwieschlchtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug, +zwieschlchtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlchtig in ihrer +Praxis. Das blieb natrlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst +aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch. +Festhalten an Lassalles Taktik hie Festhalten an der Schwenkung, die +er whrend der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in +dem Bewutsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die +Maske abwerfen zu knnen. Aber, um einen seiner eignen Aussprche +anzuwenden: Individuen knnen sich verstellen, Massen nie. Seine Politik +fortfhren hie, wenn es buchstblich genommen wurde, die Massen +irrefhren. Und die Massen wurden irregefhrt. Es kam die Zeit der +Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent +im buchstblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft; +kein Zweifel aber kann bestehen, da seine Politik zeitweise der eines +Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, da +von Agitatoren des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins Republikaner +sein fr gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklrt wurde, weil die +bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war +unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an +Talent nahezu erreichte, so bertraf er ihn zugleich in einigen seiner +bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit +den preuischen Hof-Sozialdemagogen geliebugelt. Da er dies jedoch +konnte, ohne je um einen, seine Politik untersttzenden Satz aus +Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle +nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die +verfassungsmigen Rechte der Volksvertretung kmpfenden Parteien, unter +denen sich Mnner wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden, +einfach als eine Clique zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie +getan. + +Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat +langwierige und schwere Kmpfe gekostet, bis sie vllig berwunden +wurden. Was die theoretischen Irrtmer Lassalles anbetrifft, die ich +oben ausfhrlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie +heftige Kmpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen +sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschtzung der +Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften +von einem groen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das eherne +Lohngesetz bekmpft wurden. Die persnliche Frbung, die Lassalle der +Bewegung gab, hatte zur Folge, da diese nach seinem Tode in das +Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb. + +Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende +Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine groe Anzahl +Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und +Achtels-Lassalle sproten nach seinem Tode frhlich aus dem Boden. Da +sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschrnken muten, +ihm nachzuahmen wie er sich geruspert und wie er gespuckt, und +dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so +bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der +Arbeiterbewegung. + +Heute ist das alles berwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne +Bitterkeit darber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung +darunter litt, und darum sei es hier erwhnt. + +Damit indes genug. Es mchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher +von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute +hinterlassen, wiederum abgeschwcht werden, und das liegt durchaus nicht +in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu +untersuchen hatte, mute ich scharf sein; denn hher als der Ruhm des +einzelnen steht das Interesse der groen Sache, fr die der Kampf geht, +und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat +keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre +Vorkmpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher +auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie wrdigt +darum nicht weniger ihre Verdienste und hlt das Andenken derer in +Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich +gefrdert haben. + +Und das hat Lassalle in hohem Mae getan. Vielleicht in hherem Mae, +als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders +gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, fr +die er im Frhjahr 1863 das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben +Ziele, fr die sie heute kmpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit +andern Forderungen kmpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht +wieder in andrer Weise kmpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein. + +Kein Mensch, und sei er der grte Denker, kann den Weg der +Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand wei, wie viele +Kmpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kmpfer noch werden ins Grab +sinken mssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die +Leichensteine ihrer Toten erzhlen von den Fortschritten der Bewegung +und erfllen ihre Kmpfer mit Siegesgewiheit fr die Zukunft. + +Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig +wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es +bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands grte und +brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber +wenn er auch nicht als Schpfer der Partei bezeichnet werden darf, so +gebhrt Lassalle doch der Ruhm, da er Groes fr sie ausgerichtet hat, +-- so Groes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur +erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewutes Streben verbreitet, er +hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen +Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbstndigen +politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den +Entwicklungsproze der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein +eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf fr es war kein +vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne fr die Erkmpfung +des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der +Agitation des von ihm gegrndeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins +fr diese Forderung wurden die Fortschrittler gentigt, sich nun +gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der +Tagesordnung und mute die Berliner Regierung in sie einwilligen, als +nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen +Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime +Wahlrecht wurde wenigstens fr den Reichstag des Norddeutschen Bundes +und spter des Deutschen Reiches verfassungsmiges Volksrecht. Noch war +freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da. +Aber um siegen zu knnen, mute die Arbeiterschaft erst kmpfen lernen. +Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich +gehuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land +geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen +zu allen Gesetzgebungskrpern und den Selbstverwaltungsvertretungen +ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine +politische Machtstellung erlangt, die ihr die glnzendsten Aussichten +auf Durchsetzung tiefgreifender Manahmen sozialer Befreiung erffnet. +Sie zum Kampf einexerziert, ihr fr ihn und ihre weiteren Ziele, wie es +im Liede heit, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen +deutscher Arbeiter Sinn und Verstndnis fr diesen _organischen_ Weg +gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden +Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das groe, das unvergngliche +Verdienst Ferdinand Lassalles. + + + + + +--------------------------------------------------------------------+ + | Anmerkungen zur Transkription | + | | + | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide | + | Schreibweisen blich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: | + | | + | anderm -- anderem | + | andern -- anderen | + | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein | + | eigne -- eigene | + | garnicht -- gar nicht | + | heut -- heute | + | Testamentrecht -- Testamentsrecht | + | Vermittelung -- Vermittlung | + | Verstndni -- Verstndnis | + | | + | Im Text wurden folgende nderungen vorgenommen: | + | | + | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. | + | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. | + | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" gendert. | + | S. 19 "Kulter" in "Kultur" gendert. | + | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" gendert. | + | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" gendert. | + | S. 37 "Hatzfeldtproze" in "Hatzfeldt-Proze" gendert. | + | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" gendert | + | (Funote). | + | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" gendert. | + | S. 49 > vor "Denn" eingefgt. | + | S. 55 vor "Bei alledem" entfernt. | + | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" gendert. | + | S. 72 vor "zerfetzt" eingesetzt. | + | S. 80 "Frei-Herros" in "Frey-Heros" gendert (Funote). | + | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" gendert. | + | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" gendert. | + | S. 128 vor "..." eingesetzt (Funote 14). | + | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" gendert. | + | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" gendert. | + | S. 138 am Beginn von Leibniz Zitat eingefgt. | + | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" gendert. | + | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" gendert. | + | S. 206 hinter "Bourgeoisie" eingefgt. | + | S. 209 "sonderns" in "sonders" gendert. | + | S. 217 "mute" und "muten" vertauscht. | + | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" gendert. | + | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" gendert. | + | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" gendert. | + | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" gendert. | + | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" gendert. | + | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" gendert. | + +--------------------------------------------------------------------+ + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE *** + +***** This file should be named 44722-8.txt or 44722-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/7/2/44722/ + +Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +(This book was produced from scanned images of public +domain material from the Google Print project.) + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose +such as creation of derivative works, reports, performances and +research. They may be modified and printed and given away--you may do +practically ANYTHING with public domain eBooks. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation information page at www.gutenberg.org + + +Section 3. 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Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For forty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/old/44722-8.zip b/old/44722-8.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..9278fb6 --- /dev/null +++ b/old/44722-8.zip diff --git a/old/44722-h.zip b/old/44722-h.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..061c651 --- /dev/null +++ b/old/44722-h.zip diff --git a/old/44722-h/44722-h.htm b/old/44722-h/44722-h.htm new file mode 100644 index 0000000..36ebb14 --- /dev/null +++ b/old/44722-h/44722-h.htm @@ -0,0 +1,10870 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" /> + <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein. + </title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" /> + <style type="text/css"> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; +} + + h1,h2,h3 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both; +} + +h1 { + margin-top: 5em; + margin-bottom: 7em; +} + +h2 { + letter-spacing: 0.2em; + font-size: 120%; + font-style: normal; +} + +h1,h2 { + page-break-before: always; +} + +p { + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em; +} + +.pagebreak { + page-break-before: always; +} + +.nopagebreak { + page-break-before: always; +} + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both; +} + +hr.tb { + width: 45%; + margin-left: 27.5%; + margin-right: 27.5%; +} +hr.chap { + width: 65%; + margin-left: 17.5%; + margin-right: 17.5%; +} +hr.full { + width: 95%; + margin-left: 2.5%; + margin-right: 2.5%; + margin-bottom: 0em; +} + +ul.index { list-style-type: none; } + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto; +} + + .tdl {text-align: left; text-indent: -1em; } + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: smaller; + text-align: right; +} /* page numbers */ + +.blockquote { + margin-left: 5%; + margin-right: 10%; +} + +.center {text-align: center;} +.right {text-align: right;} + +.gesperrt +{ + letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em; +} + +@media handheld +{ + .gesperrt + { + font-weight: bold; + letter-spacing: 0; + margin-right: 0; + } +} + +em.gesperrt +{ + font-style: normal; +} + +/* Footnotes */ + +.footnote {margin-left: 10%; margin-right: 10%; font-size: 0.9em;} + +.footnote .label {position: absolute; right: 84%; text-align: right;} + +.fnanchor { + vertical-align: super; + font-size: .6em; + text-decoration: + none; +} + +/* Poetry */ +.poem { + margin-left:10%; + margin-right:10%; + text-align: left; +} + +.poem br {display: none;} + +.poem .stanza {margin: 1em 0em 1em 0em;} + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:smaller; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif; } + .poem span.i0 {display: block; margin-left: 0em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + </style> + </head> +<body> + + +<pre> + +The Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Ferdinand Lassalle + Eine Wrdigung des Lehrers und Kmpfers + +Author: Eduard Bernstein + +Release Date: January 20, 2014 [EBook #44722] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE *** + + + + +Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +(This book was produced from scanned images of public +domain material from the Google Print project.) + + + + + + +</pre> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[S. 1]</a></span></p> + + + + +<h1>FERDINAND LASSALLE</h1> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[S. 2]</a></span></p> +<p> </p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[S. 3]</a></span></p> + + +<p class="center pagebreak"><big><big><big><br /><br />FERDINAND LASSALLE</big></big></big></p> + +<p class="center"><br /><big><big>EINE WRDIGUNG<br /> +DES LEHRERS UND<br /> +KMPFERS<br /><br /><br /></big></big></p> + +<p class="center">VON</p> + +<p class="center"><big>EDUARD BERNSTEIN<br /><br /><br /><br /><br /><br /></big></p> + + +<hr class="full" /> +<p class="center">VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN<br /> +1 9 1 9 +</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[S. 4]</a></span></p> + + +<p class="center pagebreak"><br /><br /> +<br /><br /><br /><br /><br /><br /> +ALLE RECHTE VORBEHALTEN<br /> +COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN +<br /><br /> +<br /><br /><br /><br /><br /><br /></p> + + +<p class="center"><em class="gesperrt">DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG</em> +</p> + +<hr class="chap" /> + + + + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span></p> +<h2><a name="Inhalt" id="Inhalt">Inhalt.</a></h2> + + + +<div class="center" style="margin-left: 1em;"> +<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary="Inhalt"> +<tr><td align="left"></td><td align="right">Seite</td></tr> +<tr><td class="tdl">Vorwort</td><td align="right"><a href="#Seite_5">5</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung</td><td align="right"><a href="#Seite_7">7</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, die Assisenrede und der Franz von Sickingen</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">27</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Ferdinand_Lassalle">66</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Das System der erworbenen Rechte</td><td align="right"><a href="#Das_System_der_erworbenen_Rechte">114</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Der preuische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Der_preussische_Verfassungskonflikt">145</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Lassalle">186</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Der konomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_213">213</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Grndung und Fhrung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins</td><td align="right" valign="bottom"><a href="#Seite_235">235</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalle und Bismarck</td><td align="right"><a href="#Lassalle_und_Bismarck">263</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Lassalles letzte Schritte und Tod</td><td align="right"><a href="#Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">285</a></td></tr> +<tr><td class="tdl">Schlubetrachtung</td><td align="right"><a href="#Schlussbetrachtung">293</a></td></tr> +</table></div> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span></p> + + + + +<h2><a name="Vorwort" id="Vorwort">Vorwort.</a></h2> + + +<p>Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer +ersten Gestalt im Jahre 1891 verfat, als eine +Einleitung zu der damals von der Buchhandlung +„Vorwrts” veranstalteten Sammelausgabe von +Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand, +da ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen +Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, +und da aus buchhndlerischen Grnden +die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich +kurz bemessenen Frist geschehen mute, hatte +verschiedene Mngel zur Folge, die ich spter oft +bedauert habe.</p> + +<p>Da nun eine Neuausgabe notwendig geworden +ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier +zu bessern, was nach meiner eigenen berzeugung +und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten +Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere +aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen, +teilweise recht bedeutsamen Briefe +von, an und ber Lassalle bercksichtigt worden, +die dazu beigetragen haben, das Bild des groen +Lehrers und Kmpfers ganz wesentlich einheitlicher +zu gestalten, als es frher vor uns stand.</p> + +<p>Lassalle als Vorkmpfer zu wrdigen war die +besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mit<span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span>glied +der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begrnder +verehrt, <em class="gesperrt">fr</em> die Partei, also namentlich +auch fr bildungsdrstige Arbeiter geschrieben, +hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die +Bedeutung Lassalles als Lehrer und Fhrer der +von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in +mglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen. +Das hatte insofern eine gewisse Beschrnkung zur +Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich +zurcktreten mute. Die Schrift beansprucht +nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die +Lassalle von der Warte des auenstehenden Geschichtsschreibers +oder Literaturpsychologen behandeln. +Aber dafr glaubt sie dasjenige Moment +um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade +in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses +steht und an dem Lassalle am meisten gelegen +war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender +Lehrer des Sozialismus und als politischer +Fhrer der sozialistischen Demokratie.</p> + +<p> +<span> <em class="gesperrt">Berlin-Schneberg</em>, im September 1919.</span><br /> +</p> +<p class="right"><em class="gesperrt">Ed. Bernstein</em>. +</p> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p> + + + + +<p class="center pagebreak"><big><big>FERDINAND LASSALLE UND DIE<br /> +DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE<br /><br /></big></big></p> + + +<h2 class="nopagebreak"><a name="Deutschland_am" id="Deutschland_am">Deutschland am +Vorabend der Lassalleschen Bewegung.</a></h2> + + +<p>Seit es herrschende und unterdrckte, ausbeutende +und ausgebeutete Klassen gibt, hat es +auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren +gegeben, haben sich Staatsmnner und Philosophen, +Ehrgeizige und Schwrmer gefunden, +welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung +oder Beseitigung des Ausbeutungsverhltnisses in +Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen +unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, +so ist der Sozialismus so alt wie die +Zivilisation. Hlt man sich jedoch an bestimmtere +Erkennungsmerkmale als das bloe Verlangen +nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie +und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der +Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit +dem irgendeiner frheren Epoche nur soviel gemein, +da er wie jener der geistige Niederschlag +der besonderen, von den Besitzlosen gefhrten +Klassenkmpfe seiner Zeit ist. berall drckt +die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden +er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche +ihren Stempel auf.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span></p> + +<p>Der moderne Sozialismus ist das Produkt des +Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft, +er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen +Bourgeoisie und modernem Proletariat, +einem Gegensatz, der schon verhltnismig frh +in der Geschichte in wirklichen Kmpfen zum +Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang +von den Kmpfenden selbst in seiner vollen +Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf +gegen die privilegierten Stnde der feudalen +Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem +absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Brgertum +zunchst veranlat, sich als den Anwalt der +Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen, +die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung +ihm behufs Entfaltung seiner Krfte notwendiger +Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen +Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit +im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die +es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint +ihm als deren vernunftgeme, vor dem +gesunden Menschenverstand Bestand habende +Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber, +soweit es sich selbst bereits von den zunftbrgerlichen +Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheiungen +der brgerlichen Wortfhrer so lange +fr bare Mnze, als das Brgertum ausschlielich +Opposition gegen die Vertreter der stndischen +Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die +letzteren besiegt oder doch soweit zurckgedrngt, +um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen<span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span> +gehen zu knnen, so stellt sich bald +heraus, da die hinter ihm stehenden Plebejer +ganz andere Begriffe von dem versprochenen +Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen +Freunde und Beschtzer, und es kommt zu Zusammensten, +die um so heftiger ausfallen, je +grer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat +ist jedoch noch nicht stark genug, seinen +Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit +rcksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht +und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz +zurck.</p> + +<p>Dies war der Fall in allen brgerlichen Erhebungen +des 16., 17. und 18. und selbst noch +der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die +rasche Entwicklung, welche die Revolution der +Produktionsverhltnisse in diesem Jahrhundert +nahm, nderte jedoch auch das Verhalten des +Proletariats gegenber der Bourgeoisie. Es bedurfte +nicht mehr auergewhnlicher Veranlassungen, +um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen +der beiden an den Tag treten zu lassen, +er kam in den vorgeschrittenen Lndern auch +ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an, +sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, +die brgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung +wurde vom proletarischen Standpunkt +aus der Kritik unterworfen, es entstand eine +antibrgerliche sozialistische Literatur. Verhltnismig +unbedeutende Reibereien im Schoe +der Bourgeoisie, ein bloer Konflikt eines ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> +Flgel gegen einen andern aber gengten, um +die tatkrftigeren Elemente des Proletariats als +selbstndige Partei mit eigenen Forderungen in +die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung +des liberalen Brgertums in England wurde das +Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution +in Frankreich leitete erst eine rein republikanische +Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionre +Bewegungen ein, die zusammen +an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation +zurckbleiben.</p> + +<p>Literarisch und propagandistisch schlgt die +Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland +hinber. Schriftsteller und Politiker, die +entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch +in der Heimat fr eine Zeitlang zu entgehen, sich +ins Ausland begeben, werden Proselyten des +Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland +zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer +Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, +bringen die sozialistische Lehre in die Heimat +zurck und kolportieren sie auf den Herbergen. +Es werden geheime sozialistisch-revolutionre +Propagandagesellschaften gegrndet und schlielich, +am Vorabend des Revolutionsjahres 1848, +tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem +Programm, das mit unbertroffener revolutionrer +Schrfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen +Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet, +aber zugleich auch ausspricht, da die besonderen +Verhltnisse in Deutschland dort dem Proletariat<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> +zunchst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam +mit der Bourgeoisie gegen die absolute +Monarchie, das feudale Grundeigentum und die +reaktionre Kleinbrgerei zu kmpfen.</p> + +<p>Die Februarrevolution in Frankreich und die +Mrzrevolution in Deutschland fanden das erstere +in seinen Zentren stark sozialistisch unterwhlt, +das letztere gleichfalls schon mit einer relativ +groen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter +durchsetzt. Hier wie dort lieferten die Arbeiter, +wenn auch nicht in gleichem Verhltnis, bereits +die tatkrftigsten Elemente der Revolution. Aber +die Verhltnisse waren in Frankreich, trotz seiner +politischen und konomischen berlegenheit, der +Verwirklichung des Sozialismus nicht viel gnstiger +als in Deutschland. Auf dem Lande herrschte +der kleinbuerliche Grundsatz vor, whrend in +den Stdten und Industriebezirken zwar die groe +Industrie bereits um sich gegriffen, aber doch +noch lange nicht die Alleinherrschaft erobert +hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in +Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das +kleinere und mittlere Handwerk, wenn es auch +aufgehrt hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon +meist fr den Groindustriellen arbeitete, noch +eine verhltnismig groe Rolle, ganz besonders +auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend +hatte der franzsische Sozialismus +selbst dort, wo er sich vom eigentlichen Utopismus +freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen +einen stark kleinbrgerlichen Zug. Und auch<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span> +die Februarrevolution und die furchtbare Lehre +der Junischlacht nderten daran nichts. Sie gaben +dem utopistischen Sozialismus bei den franzsischen +Arbeitern den Todessto, aber an seine +Stelle trat auf Jahre hinaus — der Proudhonismus.</p> + +<p>In dieser relativen Unreife der konomischen +Verhltnisse liegt die Erklrung fr die sonst unbegreifliche +Tatsache, da, whrend es damals in +Frankreich von Sozialisten wimmelte, whrend +ber 200 Mitglieder der Deputiertenkammer sich +„Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische +Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten +abzuspeisen vermochte.</p> + +<p>In Deutschland war die Unreife natrlich noch +grer. Die groe Masse der Arbeiter steckte +nicht nur noch tief in kleinbrgerlichen, sondern +teilweise sogar in direkt zunftbrgerlichen Anschauungen. +Auf verschiedenen der Arbeiterkongresse, +die das Jahr 1848 ins Leben rief, +wurden die reaktionrsten Vorschlge diskutiert. +Nur eine verhltnismig kleine Minderheit der +deutschen Arbeiter hatte bereits die revolutionre +Mission der Arbeiterklasse begriffen. Wenn diese +berall in den vordersten Reihen der Volksparteien +kmpfte, wenn sie, wo immer sie konnte, die +brgerliche Demokratie vorwrtszutreiben suchte, +so zahlte sie die Kosten dafr an ihrem eigenen +Leibe. Die Kommunisten des Jahres 1848 fielen +auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in +Baden, sie fllten die Gefngnisse, oder muten, +als die Reaktion auf der ganzen Linie gesiegt,<span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span> +das Exil aufsuchen, wo ein groer Teil von ihnen +im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, +die das Frhjahr 1848 ins Leben +gerufen, wurden von den Regierungen unterschiedlos +aufgelst oder zu Tode drangsaliert. Was +an Sozialisten noch im Lande blieb, zog sich entweder +in Erwartung gnstigerer Zeiten ganz von +der ffentlichkeit zurck, oder verphilisterte und +schlo sich an die ihm adquate Fraktion des +brgerlichen Liberalismus an. Letzteres gilt +namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des +halb schngeistigen, halb sansculottischen „wahren” +Sozialismus, der mit so vielem Lrm aufgetreten +war. Die Arbeiter selbst aber, mehr +oder weniger eingeschchtert, lassen von dem Gedanken +ihrer Organisation als Klasse mit selbstndigen +Zielen ab und verfallen der Vormundschaft +der radikalen Bourgeoisparteien oder +der Protektion wohlmeinender Bourgeoisphilantropen.</p> + +<p>Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen +wesentlichen Punkten mit den in England und +Frankreich unter den gleichen Umstnden vor +sich gegangenen Wandlungen bereinstimmt. Der +Fehlschlag der erneuerten Agitation der Chartisten +im Jahre 1848 hatte in England die Wirkung, +da der christliche Sozialismus der Maurice, +Kingsley, Ludlow sich in den Vordergrund drngte +und einen Teil der Arbeiter veranlate, in selbsthilflerischen +Genossenschaften ihre Befreiung zu +suchen — nicht nur ihre konomische, sondern<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> +auch ihre „moralische”, ihre Befreiung vom +„Egoismus”, vom „Klassenha” usw. Wenn nun +diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren +Bestrebungen weder selbstschtige, persnliche +Zwecke verbanden, noch die Geschfte irgendeiner +besonderen Partei der besitzenden Klassen +besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda +unter den Arbeitern, soweit ihr Einflu reichte, +doch zunchst die der Ablenkung derselben von +den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. +politische Entmannung. Soweit es gelang, den +„Klassenegoismus” zu vertreiben, trat in den +meisten Fllen an seine Stelle ein philistrser +Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder +philisterhaftes „Bildungs”-Pharisertum. Die +Gewerkvereinsbewegung ihrerseits verliert sich +fast ganz in der Verfolgung der allernchstliegenden +Interessen, whrend die Reste der Oweniten +sich meist auf die sogenannte freidenkerische +Propaganda werfen.</p> + +<p>In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion +gewesen, welche die Arbeiterklasse +in den Hintergrund der revolutionren Bhne +drngte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. +Der rege politische Geist des Pariser Proletariats +konnte selbst durch diesen Riesenaderla nicht +sofort erttet werden. „Es versucht sich”, wie +Marx im 18. Brumaire schreibt, „jedesmal wieder +vorzudrngen, sobald die Bewegung einen neuen +Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft +war gebrochen, es konnte selbst nicht einmal mehr<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span> +vorbergehend siegen. „Sobald eine der hher +ber ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionre +Grung gert, geht es eine Verbindung +mit ihr ein und teilt so alle Niederlagen, die die +verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. +Aber diese nachtrglichen Schlge schwchen sich +immer mehr ab, je mehr sie sich auf die ganze +Oberflche der Gesellschaft verteilen. Seine bedeutenderen +Fhrer in der Versammlung und in +der Presse fallen der Reihe nach den Gerichten +zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren +treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich +auf doktrinre Experimente, Tauschbanken und +Arbeiter-Assoziationen, also in eine Bewegung, +worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren +eigenen groen Gesamtmitteln umzuwlzen, vielmehr +hinter dem Rcken der Gesellschaft, auf +Privatweise, innerhalb seiner beschrnkten Existenzbedingungen, +seine Erlsung zu vollbringen +sucht, also notwendig scheitert.” (Der achtzehnte +Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)</p> + +<p>In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen +Niederlage der Arbeiter keine Rede sein +konnte, weil diese sich zu einer greren Aktion +als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, +unterblieben ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche +von Arbeitern, sich in nennenswerter Weise +selbstndig zu bettigen. Whrend die brgerliche +Philanthropie in Vereinen „fr das Wohl der +arbeitenden Klasse” sich mit der Frage der +Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> +harmlosen Dingen beschftigte, nahm sich ein +kleinbrgerlicher Demokrat, der preuische Abgeordnete +Schulze-Delitzsch, der selbsthilflerischen +Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur +„Lsung der sozialen Frage” zu gelangen, bei +welchem lblichen Unternehmen ihm gerade die +konomische Rckstndigkeit Deutschlands in ermunterndster +Weise zustatten kam.</p> + +<p>Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei +seinen Genossenschaften weniger die Arbeiter, als +die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; +diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine +in den Stand gesetzt werden, mit der Groindustrie +zu konkurrieren. Da nun die Groindustrie +in Deutschland noch wenig entwickelt +war, es dafr aber eine groe Anzahl von Handwerksmeistern +gab, die sich noch nicht, wie die +Meister der kleinen Industrie in Frankreich und +England, an die groe Industrie angepat hatten, +sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr +ausschauten, so mute bei diesen seine Idee auf +einen fruchtbaren Boden fallen, die geschilderten +Genossenschaften ihnen auch, solange sich die +Groindustrie ihres besonderen Produktionszweiges +noch nicht bemchtigt hatte, wirklich von +Nutzen sein. So sproten denn die Kredit- und +Rohstoffvereine frhlich auf, neben ihnen auch +Konsumvereine von Kleinbrgern und Arbeitern, +und im Hintergrunde winkten — als die Krone +des Ganzen erscheinend — die Produktivgenossenschaften +von Arbeitern als die Verwirklichung<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> +des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom +Kapital.</p> + +<p>Ebensowenig wie die englischen christlichen +Sozialisten verband Schulze-Delitzsch ursprnglich +mit der Propaganda fr die selbsthilflerischen +Genossenschaften spezifische politische Parteizwecke, +sondern folgte, gleich jenen, nur einer +mit seinem Klasseninstinkt vertrglichen Philanthropie. +Zur Zeit, als er sich der Bewegung zuwandte, +war die politische Partei, zu der er gehrte, +die Linke der preuischen Nationalversammlung, +von der ffentlichen Bhne zurckgetreten. +Nachdem sie sich von der Krone und deren +geliebten Krautjunkern nach allen Regeln der +Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte sie, als die +preuische Regierung das Dreiklassenwahlsystem +oktroyierte, bis auf weiteres das Feld gerumt. +Sie ballte die Faust in der Tasche und lie die +Reaktion sich selbst abwirtschaften.</p> + +<p>Kleinbrger vom Scheitel bis zur Sohle, aber +Kleinbrger mit liberalen Anschauungen, dabei in +seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, +als er von der Reaktion gemaregelt worden war, +eine Idee aufgegriffen, die damals allgemein in +der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der +Sozialisten in den dreiiger und vierziger Jahren +gelautet, Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr +gegrndet, Assoziation dozierte der +konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum +sollte der liberale Kreisrichter Schulze nicht auch +fr „Assoziationen” sich erwrmen?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span></p> + +<p>Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer +Stelle einzugehen haben werden, so seien hier nur +aus einer 1858 verffentlichten Schrift Schulze-Delitzschs +einige Stze zitiert ber die Wirkungen, +die er von den selbsthilflerischen Genossenschaften +in bezug auf die Lage der Arbeiter +erwartete:</p> + +<p>„Und was die im Lohndienst verbleibenden +Arbeiter anbelangt, so ist die Konkurrenz, welche +die Assoziationsgeschfte ihrer bisherigen Genossen +den Unternehmern machen, auch fr sie +von den gnstigsten Folgen. Denn mu nicht die +solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der +Unternehmer zum Vorteil der Arbeiter rcksichtlich +der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht +die Inhaber der groen Etablissements dadurch +gentigt, ihren Arbeitern mglichst gute Bedingungen +zu bieten, weil sie sonst riskieren, da +dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen +bertreten, oder gar selbst eine dergleichen grnden, +wozu natrlich die geschicktesten und strebsamsten +Arbeiter am ersten geneigt sein werden? +— Gewi, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter +selbst den Arbeitgebern Konkurrenz bieten, +lt sich ein dauernder Einflu auf die Lohnerhhung, +auf eine gnstigere Stellung der Arbeiter +im ganzen ausben, den man mittelst gesetzlicher +Zwangsmittel, wie wir frher gesehen +haben, oder durch die Appellation an die Humanitt +niemals allgemein und mit Sicherheit erreicht ...</p> + +<p>„Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements<span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span> +von den Arbeitern errichtet und +das bisherige Monopol der Grounternehmer hierbei +durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, +da sich die enormen Gewinne derselben, welche +sie frher ausschlielich zogen, vermindern, weil +sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen +mssen. Whrend also der Reichtum von der +einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen +wird, schwindet auf der andern Seite der +Notstand mehr und mehr, und die Zustnde beginnen +sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes +zu nhern. Damit ist sowohl dem Mammonismus +wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen, +diesen unseligen Auswchsen unserer Industrie, +in denen wir zwei gleich feindliche Mchte +wahrer Kultur erblicken ...</p> + +<p>„Nur darauf kommen wir immer wieder zurck: +da ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft +und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen +wagen und tatschlich die Mglichkeit +dartun, da sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung +der brigen Klassen, durchzusetzen vermgen, +man sich von seiten dieser wohl hten +wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man +viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen +Abhngigkeit zu erhalten. Erst wenn +dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz +fhlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem +sie den Unternehmern einmal selbst als +Unternehmer entgegengetreten sind, drfen sie +auf Beachtung ihrer Wnsche, auf das Entgegenkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> +des Publikums, insbesondere der Kapitalisten +rechnen, welche sie erst dann als Leute +zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr +auch mitzhlen, whrend sie ihnen bis dahin +fr bloe Nullen galten, die beim Exempel selbstndig +fr sich gar nicht in Ansatz kamen. Auf +dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse +die unbestrittene Herrschaft, und Ansprche +und Strebungen, mgen sie noch so gerecht +und billig sein, finden nur dann erst Geltung, +wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, +da sie in tatschlichen, lebenskrftigen Gestaltungen +sich unabweisbar hervordrngen.” ... +(Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen +und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig +1858, S. 58, 61 und 63.)</p> + +<p>Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongre, +der im Sommer 1862 tagte, mute Schulze eingestehen, +da noch fast gar keine Produktivgenossenschaften +und nur eine winzige Anzahl +von Konsumvereinen bestnden. Nur die aus +Handwerksmeistern und kleinen Geschftsleuten +zusammengesetzten Kredit- und Vorschuvereine +gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl, +die Rohstoffgenossenschaften.</p> + +<p>Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges +der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der +Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und +nehmen jetzt deren Faden wieder auf.</p> + +<p>Bereits der Krimkrieg hatte der europischen +Reaktion einen empfindlichen Sto versetzt, indem<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span> +er die „Solidaritt der Regierungen”, die +eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken +brachte. Die Rivalitt zwischen Preuen und +sterreich trat in dem verschiedenen Verhalten +des Wiener und Berliner Kabinetts zu Ruland +von neuem zutage, whrend der Tod Nikolaus I. +und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende +des Krieges befand, die Reaktionsparteien in +Europa ihres strksten Hortes beraubte. Ruland +hatte vorlufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten +zu tun, da es auf Jahre hinaus +nicht in der Lage war, sich fr die Sache der +Ordnung in irgendeinem andern Lande des „Prinzips” +halber zu interessieren, es kam fr die +innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand +auer Betracht. Zunchst jedoch beschrnkte sich +die Rivalitt zwischen Preuen und sterreich +auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern +gegenber blieben beide Regierungen +vorderhand noch „solidarisch”.</p> + +<p>Einen zweiten Sto gab der Reaktion die allgemeine +Geschftsstockung, die 1857 und 1858 +sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperitt +1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht +hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die +alle ihre Vorgngerinnen an Ausdehnung und +Intensitt bertraf, die stehenden Throne wieder +ins Wanken. berall grte es in den unter der +Krisis leidenden Volkskreisen, berall schpfte +die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der +Massen neue Kraft, berall erhoben die „Mchte<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span> +des Umsturzes” von neuem ihr Haupt. Am +drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich +am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte +es Napoleon III. mit drakonischen Gewaltmaregeln, +zu denen das Attentat Orsinis ihm den +Vorwand lieferte; aber als er merkte, da er +dadurch seine Position eher verschlimmerte als +sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel. +Er versuchte durch einen populren auswrtigen +Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen +und sein Leben vor den Dolchen der +Carbonari zu beschtzen. Diese hatten das einstige +Mitglied ihrer Verschwrung durch Orsini wissen +lassen, da, wenn er sein ihnen gegebenes Wort +nicht einlse, sich immer neue Rcher gegen ihn +erheben wrden. Der italienische Feldzug wurde +also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in +Preuen mit der Regentschaft Wilhelms I. die +„Neue ra” ihren Anfang. Von dem vorderhand +noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, sterreichs +Hegemonie in Deutschland zu brechen, +sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das +liberale Brgertum zu gewinnen und ernennt ein +diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch +alles gut. Gerhrt, da er so ganz ohne sein Zutun +wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, +berbot sich der brgerliche Liberalismus in allen +mglichen Loyalittsbeteuerungen. Der „Nationalverein” +wurde gegrndet mit dem Programm: +Deutschlands Einigung unter Preuens Spitze. +Preuen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span> +politischen und nationalen Aspirationen der liberalen +Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer +Vlkerfrhling schien angebrochen und ein viel +schnerer als der von 1848, denn er versprach +die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionren +Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt +macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe +entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht +die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach +sich hbsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn +es jedoch wider Erwarten zu jenem uersten +kommen sollte — hatte nicht das Beispiel der +Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine, +der Vorschu- und Rohstoffgenossenschaften die +Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt +und ihnen den Beweis geliefert, welche groe +Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten htten, +sie berzeugt, da sie nichts, aber auch gar nichts +als die liberalen „Freiheiten” brauchten?</p> + +<p>Wer heute die sozialpolitische Literatur des +deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest, +dem fllt nichts so sehr auf als die kolossale +Naivett, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, +die ber den engen Horizont des aufgeklrten +Gewrzkrmers hinausgehen. Man war +sehr gebildet, sehr belesen, man wute sehr viel +von altathenischer Verfassung und englischem +Parlamentarismus zu erzhlen, aber die Nutzanwendung, +die man aus allem zog, war immer +die, da der aufgeklrte deutsche Gewrzkrmer +oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und<span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span> +da, was diesem nicht in den Kram passe, wert +sei, da es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgeflligen +Naivett trieb man es im preuischen +Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch +ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit +dieser Naivett entfremdete man sich die Arbeiterklasse, +lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz +dazu Veranlassung gab. Man wute +erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte +„auch wirklich nichts” aus ihr gelernt.</p> + +<p>Auf die Ursachen und den Gegenstand des +preuischen Verfassungskonflikts braucht hier +nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach +aus, und der Liberalismus sah sich pltzlich, er +wute selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit +eben der Regierung, die er die schne Rolle der +Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, +die Hegemonie in Deutschland zugesprochen +hatte. Indes das war vorlufig nur +Pech, aber kein Unglck. Die liberale Partei war +mittlerweile so stark geworden, da sie den Streit +eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem +bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast +das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strmung +hatte alle Klassen der Bevlkerung erfat; +von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen +Feudalen und Betbrder abgesehen, berlieen +sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei +die Ausfechtung des Kampfes mit +der preuischen Regierung. Welche Fehler diese +Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> +Elemente, wie unzulnglich auch ihr Programm, +in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenber der aufs +neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum +und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der +ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente +lag: das Budgetrecht der Volksvertretung.</p> + +<p>Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe +zuerkennen, heit noch nicht, sich ihr mit +Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenber auf +jede Selbstndigkeit verzichten. Das fhlten auch +die entwickelteren Elemente unter den deutschen +Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten, +die ihnen die liberalen Wortfhrer zumuteten, die +Kost, die ihnen in den von diesen patronisierten +Bildungs- usw. Vereinen dargeboten wurde, unmglich +auf die Dauer gengen. Noch waren die +alten kommunistischen und revolutionren Traditionen +nicht vllig ausgestorben, noch gab es gar +manchen Arbeiter, der entweder selbst Mitglied +irgendeiner der kommunistischen Verbindungen +gewesen oder von Mitgliedern ber deren Grundstze +aufgeklrt, von ihnen mit kommunistischen +Schriften versehen worden war. Unter diesen, +und durch sie angeregt, fing man an, in immer +weiteren Kreisen der Arbeiter die Frage zu errtern, +ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht +sofort eine eigne Arbeiterpartei mit einem eignen +Arbeiterprogramm, so doch wenigstens einen +Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei +als eine bloe Kreatur der liberalen Partei.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span></p> + +<p>Htten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler +nur ein wenig aus der Geschichte anderer +Lnder gelernt gehabt, es wre ihnen ein +Leichtes gewesen, zu verhindern, da diese Bewegung +sich ihnen feindselig gegenberstellte, solange +sie selbst im Kampf mit der preuischen +Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel +von dem Gefhl durchdrungen, da sie, da sie +ja die Volkssache vertraten, <em class="gesperrt">das</em> „Volk”, und +als „Volk der Denker” ber die Einseitigkeiten — +nmlich die Klassenkmpfe — des Auslandes +erhaben seien; und so begriffen sie denn auch +nicht, da es sich hier um eine Strmung handelte, +die frher oder spter eintreten mute, und da +es nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verstndige +Weise auseinanderzusetzen. So verliebt +waren sie in sich, da sie gar nicht zu fassen +vermochten, da die Arbeiter noch nach mehr +geizen konnten, als nach der Ehre, durch sie vertreten +zu sein. Die Antwort auf das Gesuch, den +Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein +zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich +als die geborenen Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” +— d. h. hbsch drauen bleiben — war +in der Tat typisch fr das Unvermgen der Parteigenossen +des braven Schulze, etwas anderes zu +begreifen, als den denkenden Spiebrger — ihr +Ebenbild, ihren Gott.</p> + +<p>So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen +in Leipziger Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis +die Bildung eines Komitees zur Einberufung<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span> +eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer +Folge die Anknpfung von Verhandlungen +mit Ferdinand Lassalle war.</p> + + + +<hr class="chap" /> +<h2><a name="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess" id="Lassalles_Jugend_der_Hatzfeldt_Prozess">Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Proze, +die Assisenrede und der +Franz von Sickingen.</a></h2> + + +<p>Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle +wandte, stand dieser in seinem 37. Lebensjahre, +in der Vollkraft seiner krperlichen und geistigen +Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben +hinter sich, sich politisch und wissenschaftlich — +beides allerdings zunchst innerhalb bestimmter +Kreise — einen Namen gemacht, er unterhielt +Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der +Literatur und Kunst, verfgte ber ansehnliche +Geldmittel und einflureiche Freunde — kurz, +nach landlufigen Begriffen konnte ihm das +Komitee, eine aus bisher vllig unbekannten Persnlichkeiten +zusammengesetzte Vertretung einer +im Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts +bieten, was er nicht schon hatte. Trotzdem ging +er mit der grten Bereitwilligkeit auf dessen +Wnsche ein und traf die einleitenden Schritte, +der Bewegung diejenige Richtung zu geben, die +seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. +Von anderen Rcksichten abgesehen, zog +ihn gerade der Umstand besonders zu ihr hin, +da die Bewegung noch keine bestimmte Form +angenommen hatte, da sie sich ihm als eine ohne<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span> +Schwierigkeit zu modelnde Masse darstellte. Ihr +erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in +seinem Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur +seinen hochfliegenden Plnen, das war berhaupt +eine Aufgabe, die seinen natrlichen Neigungen ungemein +sympathisch sein mute. Die Einladung traf +ihn nicht nur bei seiner sozialistischen berzeugung, +sondern auch bei seinen Schwchen. Und +so ging er denn mit groer Bereitwilligkeit auf +sie ein.</p> + +<p>Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine +eigentliche Biographie Ferdinand Lassalles zu +geben, die sehr ansehnliche Zahl der Lebensbeschreibungen +des Grnders des Allgemeinen +Deutschen Arbeitervereins noch um eine weitere +zu vermehren. Der fr sie zur Verfgung stehende +Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer +Biographie gehrte. Was sie in erster Reihe will, +ist vielmehr die Persnlichkeit und Bedeutung +Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit seine +politisch-literarische und agitatorische Ttigkeit +in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist ein +Rckblick auf den Lebenslauf Lassalles unerllich, +da er erst den Schlssel zum Verstndnis +seines politischen Handelns liefert.</p> + +<p>Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung +Lassalles eine groe, man kann sogar +sagen verhngnisvolle Wirkung ausgebt zu haben. +Wir sprechen hier nicht schlechthin von vererbten +Eigenschaften oder Dispositionen, sondern von +der bedeutungsvollen Tatsache, da das Bewut<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span>sein, +von jdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaen +noch in vorgeschrittenen Jahren +peinlich war, und da es ihm trotz seines eifrigen +Bemhens oder vielleicht gerade wegen dieses +Bemhens nie gelang, sich tatschlich ber seine +Abstammung hinwegzusetzen, eine innerliche Befangenheit +loszuwerden. Aber man darf nicht +vergessen, da Lassalles Wiege im stlichen Teil +der preuischen Monarchie gestanden hatte — er +wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren —, +wo bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal +formell vllig emanzipiert waren. Die Wohlhabenheit +seiner Eltern ersparte Lassalle viele +Widerwrtigkeiten, unter denen die rmeren Juden +damals zu leiden hatten, aber sie schtzte ihn nicht +vor den allerhand kleinen Krnkungen, denen die +Angehrigen jeder fr untergeordnet gehaltenen +Rasse, auch wenn sie sich in guter Lebensstellung +befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so +selbstbewuten Natur, wie Lassalle von Jugend +auf war, zunchst einen trotzigen Fanatismus des +Widerstandes erzeugen, der dann spter oft in +das Gegenteil umschlgt. Wie stark dieser Fanatismus +bei dem jungen Lassalle war, geht aus +seinem durch Paul Lindau zur Verffentlichung +gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und +1841 hervor. Am 1. Februar 1840 schreibt der +noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein Tagebuch:</p> + +<p>„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich +glaube, ich bin einer der besten Juden, die es<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span> +gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten. +Ich knnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ +mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen +drckenden Lage zu reien. Ich wrde selbst das +Schafott nicht scheuen, knnte ich sie wieder zu +einem geachteten Volke machen. O, wenn ich +meinen kindischen Trumen nachhnge, so ist es +immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der +Juden mit den Waffen in der Hand sie selbstndig +zu machen.” Die Mihandlungen der Juden in +Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den Ausruf: +„Ein Volk, das dies ertrgt, ist schrecklich, +es rche oder dulde die Behandlung.” Und an +den Satz eines Berichterstatters: „Die Juden +dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur +von diesen Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion +ertragen werden knnen”, knpft er die +von Brne bernommene Betrachtung an: „Also +sogar die Christen wundern sich ber unser trges +Blut, da wir uns nicht erheben, nicht lieber auf +dem Schlachtfeld, als auf der Tortur sterben +wollen. Waren die Bedrckungen, um deren willen +sich die Schweizer einst erhoben, grer?... +Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los.” +Noch leidenschaftlicher uert er sich einige Monate +spter (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten +Geschichten, da die Juden Christenblut +brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, +auch in Rhodos und Lemberg. Da aber +aus allen Winkeln der Erde man mit diesen Beschuldigungen +hervortritt, scheint mir anzudeuten,<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> +da die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat +durch Christenblut uns helfen werden. Aide-toi +et le ciel t'aidera. Die Wrfel liegen, es kommt +auf den Spieler an.”</p> + +<p>Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich +der Blick erweitert, aber die Wirkung, die solche +Jugendeindrcke auf die geistigen Dispositionen +ausben, bleibt. Zunchst wurde der frhreife +Lassalle durch den Stachel der „Torturen”, von +denen er schreibt, um so mehr angetrieben, sich +fr seine Person um jeden Preis Anerkennung +und Geltung zu verschaffen. Auf der anderen +Seite wird der Rebell gegen die Unterdrckung +der Juden durch die Christen bald politischer +Revolutionr. Dabei macht er einmal, als er +Schillers Fiesko gesehen, folgende, von merkwrdig +scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: +„Ich wei nicht, trotzdem ich jetzt revolutionr-demokratisch-republikanische +Gesinnungen habe +wie einer, so fhle ich doch, da ich an der Stelle +des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich +nicht damit begngt htte, Genuas erster Brger +zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand +ausgestreckt htte. Daraus ergibt sich, wenn ich +die Sache bei Lichte betrachte, da ich blo +Egoist bin. Wre ich als Prinz oder Frst geboren, +ich wrde mit Leib und Leben Aristokrat +sein. So aber, da ich blo ein schlichter Brgerssohn +bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat +sein.”</p> + +<p>Sein politischer Radikalismus ist es auch, der<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> +1841 den sechzehnjhrigen Lassalle veranlat, +den vorbergehend gefaten Entschlu, sich zum +Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben +und von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, +sich zum Universittsstudium vorzubereiten. Die +lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle +von seinem Vater wider seinen Willen auf die +Handelsschule nach Leipzig geschickt worden, ist +durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, +Lassalle hat selbst seine bersiedelung vom Gymnasium +auf die Handelsschule betrieben. Freilich +nicht aus vorbergehender Vorliebe fr den +Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer +Reihe von leichtsinnigen Streichen zu entgehen, +die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem +Vater nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu +mssen, welche er — nach seiner Ansicht unverdient +— zu erhalten pflegte. Als es ihm aber +auf der Leipziger Handelsschule nicht besser erging +als auf dem Breslauer Gymnasium, als er +auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor +allem mit dem Direktor in Konflikte geriet, die +sich immer mehr zuspitzten, je radikaler Lassalles +Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der +Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat +er die Handelsschule bezogen, und schon am +3. August „hofft” er, da der „Zufall” ihn eines +Tages aus dem Kontor herausreien und auf einen +Schauplatz werfen werde, auf dem er ffentlich +wirken knne. „Ich traue auf den Zufall und +auf meinen festen Willen, mich mehr mit den<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> +Musen als den Haupt- und Strazzabchern, mich +mehr mit Hellas und dem Orient, als mit Indigo +und Runkelrben, mehr mit Thalien und ihren +Priestern, als mit Krmern und ihren Kommis +zu beschftigen, mich mehr um die Freiheit, als +um die Warenpreise zu bekmmern, heftiger die +Hunde von Aristokraten, die dem Menschen sein +erstes, hchstes Gut wegnehmen, als die Konkurrenten, +die den Preis verschlechtern, zu verwnschen.” +„Aber beim Verwnschen soll's nicht +bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu dem Radikalismus +kommt der immer strkere Drang, den Juden +in sich abzuschtteln, und dieser Drang ist schlielich +so energisch, da, als Lassalle im Mai 1841 +dem Vater seinen „unwiderruflichen” Entschlu +mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, +Medizin oder Jura zu studieren, weil „der Arzt +wie der Advokat Kaufleute sind, die mit ihrem +Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren +„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der +Vater zwar nicht einverstanden, er willigte aber +ein, da Lassalle sich zum Studium vorbereite.</p> + +<p>Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war +im Jahre 1842 schon so weit, sein Maturittsexamen +abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, +geht aber dann zur Philosophie ber und entwirft +den Plan zu einer greren philologisch-philosophischen +Arbeit ber den Philosophen Herakleitos +von Ephesus. Da er sich gerade diesen +Denker zum Gegenstand der Untersuchung auswhlte, +von dem selbst die grten Philosophen<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> +Griechenlands bekannt hatten, da sie nie sicher +seien, ob sie ihn ganz richtig verstanden, und +der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt, +ist wiederum in hohem Grade bezeichnend fr +Lassalle. Mehr noch als die Lehre Heraklits, +den Hegel selbst als seinen Vorlufer anerkannt +hatte, reizte ihn das Bewutsein, da hier nur +durch glnzende Leistungen Lorbeeren zu erlangen +waren. Neben dem schon erwhnten Trieb, +jedermann durch auergewhnliche Leistungen zu +verblffen, hatte Lassalle zugleich das Bewutsein, +jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lsen +zu knnen. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen +war das Fatum seines Lebens. Es hat ihn in +der Tat Dinge unternehmen und zu Ende fhren +lassen, vor denen tausend andere zurckgeschreckt +wren, selbst wenn sie ber die intellektuellen +Fhigkeiten Lassalles verfgt htten, es ist aber +auf der andern Seite zum Anla verhngnisvoller +Fehlgriffe und schlielich zur Ursache seines +jhen Endes geworden.</p> + +<p>Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 +an den Rhein und spter nach Paris, teils um +dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um +die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens +der Epoche, kennenzulernen. In Paris gingen damals +die Wogen der sozialistischen Bewegung +sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, +der 1843 schon sein sozialistisches Damaskus gefunden +hatte. Ob und inwieweit Lassalle mit +den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> +wurde — Karl Marx war, nachdem die +„Deutsch-franzsischen Jahrbcher” eingegangen +und der „Vorwrts” sistiert worden war, im +Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und +nach Brssel bersiedelt —, darber fehlen zuverlssige +Angaben. Wir wissen nur, da er +viel mit Heinrich Heine verkehrte, an den er +empfohlen war, und dem er in milichen Geldangelegenheiten +(einem Erbschaftsstreit) groe +Dienste leistete. Die Briefe, in denen der kranke +Dichter dem zwanzigjhrigen Lassalle seine Dankbarkeit +und Bewunderung aussprach, sind bekannt. +Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken +Eindruck Lassalles Selbstbewutsein auf Heine +gemacht hat.</p> + +<p>Nach Deutschland zurckgekehrt, machte Lassalle +im Jahre 1846 die Bekanntschaft der Grfin +Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren vergeblich +bemhte, von ihrem Manne, einem der einflureichsten +Aristokraten, der sie allen Arten von +Demtigungen und Krnkungen ausgesetzt hatte, +gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermgens +zu erlangen. Man hat ber die Motive, +welche Lassalle veranlaten, die Fhrung der +Sache der Grfin zu bernehmen, vielerlei Vermutungen +aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhltnis +mit der zwar nicht mehr jugendlichen, +aber noch immer schnen Frau zurckfhren +wollen, whrend Lassalle selbst sich im Kassettenproze +mit groer Leidenschaftlichkeit dagegen +verwahrt hat, durch irgendeinen anderen Beweggrund<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span> +dazu veranlat worden zu sein, als den des +Mitleids mit einer verfolgten, von allen helfenden +Freunden verlassenen Frau, dem Opfer ihres +Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen +eines bermtigen Aristokraten. Es liegt +absolut kein Grund vor, dieser Lassalleschen Beteuerung +nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in +den folgenden Jahren vorbergehend in ein intimeres +Verhltnis als das der Freundschaft zur +Grfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es +ist aber schon aus psychologischen Grnden unwahrscheinlich, +da ein solches Verhltnis gleich +am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den +Proze bernahm, bestanden habe. Viel wahrscheinlicher +ist es, da neben der vielleicht etwas +romantisch bertriebenen, aber doch durchaus anerkennenswerten +Parteinahme fr eine verfolgte +Frau und dem Ha gegen den hochgestellten +Adligen gerade das Bewutsein, da es sich hier +um eine Sache handelte, die nur mit Anwendung +auergewhnlicher Mittel und Kraftentfaltung zu +gewinnen war, einen groen Reiz auf Lassalle +ausgebt hat. Was andere abgeschreckt htte, zog +ihn unbedingt an.</p> + +<p>Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph +gehabt, da der hochmtige Aristokrat vor ihm, +dem „dummen Judenjungen” kapitulieren mute. +Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem +Kampf hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte +er freilich auergewhnliche Mittel aufwenden +mssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> +nur die Mittel auergewhnlicher Vertiefung in +die rechtlichen Streitfragen, auergewhnlicher +Schlagfertigkeit und Schrfe in der Widerlegung +der gegnerischen Finten; es waren auch die auergewhnlichen +Mittel des unterirdischen Krieges: +die Spionage, die Bestechung, das Whlen im +ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf +Hatzfeldt, ein gewhnlicher Genumensch, scheute +vor keinem Mittel zurck, seine Ziele zu erreichen, +und um seine schmutzigen Manver zu durchkreuzen, +nahm die Gegenseite zu Mitteln ihre +Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. +Wer die Aktenstcke des Prozesses nicht gelesen, +kann sich keine Ahnung machen von dem +Schmutz, der dabei aufgewhlt und immer wieder +herangeschleppt wurde, von der Qualitt der +beiderseitigen Anklagen und — Zeugen.</p> + +<p>Und von den Rckwirkungen der umgekehrten +Augiasarbeit im Hatzfeldt-Proze hat sich Lassalle +nie ganz freimachen knnen. Wir meinen das +nicht im spiebrgerlichen Sinne, etwa im Hinblick +auf seine spteren Liebesaffren, sondern +mit Bezug auf seine von nun an wiederholt bewiesene +Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheien +und zu benutzen, das ihm fr seine jeweiligen +Zwecke dienlich erschien; wir meinen den Verlust +jenes Taktgefhls, das dem Mann von berzeugung +selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt +verbietet, der mit den von ihm vertretenen Grundstzen +in Widerspruch steht, wir meinen die +von da an wiederholt und am strksten in der<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span> +tragischen Schluepisode seines Lebens sich offenbarende +Einbue an gutem Geschmack und moralischem +Unterscheidungsvermgen. Als jugendlicher +Enthusiast hatte Lassalle sich in den Hatzfeldtschen +Proze gestrzt, — er selbst gebraucht +in der Kassettenrede das Bild des Schwimmers: +„Welcher Mensch, der ein starker Schwimmer +ist, sieht einen andern von den Wellen eines +Stromes fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? +Nun wohl, fr einen guten Schwimmer hielt ich +mich, unabhngig war ich, so sprang ich in den +Strom” — gewi, aber leider war es ein recht +trber Strom, in den er sich gestrzt, ein Strom, +der sich in eine groe Pftze verlief, und als +Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen +Moral der Gesellschaft, mit der er sich zu befassen +gehabt, angesteckt. Seine ursprnglichen +besseren Instinkte kmpften lange gegen die Wirkungen +dieses Giftes, drngten sie auch wiederholt +siegreich zurck, aber schlielich ist er ihnen +doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu +scharf erscheinen, aber wir werden im weiteren +Verlauf unserer Skizze sehen, da es nur gerecht +gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine +Apologie zu schreiben, sondern eine kritische Darstellung +zu geben, und das erste Erfordernis einer +solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu +erklren<a name="FNAnker_1_1" id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a>.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p> + +<p>Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunchst +noch der Rolle zu gedenken, die Lassalle +im Jahre 1848 gespielt hat.</p> + +<p>Beim Ausbruch der Mrz-Revolution war +Lassalle so tief in den Maschen des Hatzfeldtschen +Prozesses verwickelt, da er sich ursprnglich +fast zur politischen Unttigkeit verurteilt +sah. Im August 1848 fand der Proze +wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen +ihn statt und er hatte alle Hnde voll zu tun, sich +auf diesen zu rsten. Erst als er nach siebentgiger +Verhandlung freigesprochen worden war, gewann +er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen +jener bewegten Zeit direkten Anteil zu nehmen.</p> + +<p>Lassalle, der damals in Dsseldorf, der Geburtsstadt +Heines, lebte, stand natrlich als Republikaner +und Sozialist auf der uersten Linken +der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war +die von Karl Marx redigierte „Neue Rheinische +Zeitung”. Karl Marx gehrte ferner eine Zeitlang +dem Kreisausschu der rheinischen Demokraten +an, der in Kln seinen Sitz hatte. So war +eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in +nhere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte +mndlich und schriftlich mit dem erwhnten +Kreisausschu, sandte wiederholt Mitteilungen und +<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span> +Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” +und erschien auch gelegentlich selbst auf +der Redaktion dieses Blattes. So bildete sich +allmhlich ein freundschaftlicher persnlicher Verkehr +zwischen Lassalle und Marx heraus, der +auch spter noch, als Marx im Exil lebte, in +Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt +wurde. Lassalle besuchte Marx 1862 in +London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf einer +Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht +hatte. Indes herrschte zu keiner Zeit ein tieferes +Freundschaftsverhltnis zwischen den beiden, dazu +waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. +Was sonst noch einer ber die politische +Kampfgenossenschaft hinausgehenden Intimitt im +Wege stand, soll spter errtert werden.</p> + +<p>Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 +gegenber nahm Lassalle genau dieselbe Haltung +ein, wie die Redaktion der „Neuen Rheinischen +Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. +Gleich ihr forderte er, als die preuische Regierung +im November 1848 den Sitz der Nationalversammlung +verlegt, die Brgerwehr aufgelst und +den Belagerungszustand ber Berlin verhngt hatte, +und die Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung +des Ministeriums in Anklagezustand, sowie +mit der Erklrung geantwortet hatte, da dieses +Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, +zur Organisierung des bewaffneten Widerstandes +gegen die Steuererhebung auf. Gleich dem +Ausschu der rheinischen Demokraten ward auch<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span> +Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen +die knigliche Gewalt unter Anklage gestellt, gleich +ihm von den Geschworenen freigesprochen, aber +die immer rcksichtsloser auftretende Reaktion +stellte auerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, +zur Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte +aufgefordert zu haben, um ihn vor das +Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat +verurteilte dieses — die Regierung kannte unzweifelhaft +ihre Berufsrichter — Lassalle schlielich +auch zu sechs Monaten Gefngnis.</p> + +<p>Lassalles Antwort auf die ersterwhnte Anklage +ist unter dem Titel „Assisen-Rede” im Druck +erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich gehalten +worden, und alles, was in verschiedenen lteren +Biographien ber den „tiefen” Eindruck erzhlt +wird, den sie auf die Geschworenen und das Publikum +gemacht habe, gehrt daher in das Bereich +der Fabel. Lassalle hatte die Rede noch vor der +Verhandlung in Druck gegeben, und da einzelne +der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf +gesetzt worden waren, beschlo der Gerichtshof, +die ffentlichkeit auszuschlieen. Als trotz +Lassalles Protest und der Erklrung, die Verbreitung +der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen +erfolgt, ja hchstwahrscheinlich von seinen Feinden +durch das Mittel der Bestechung veranlat +worden, der Gerichtshof den Beschlu aufrecht +erhielt, verzichtete Lassalle berhaupt darauf, sich +zu verteidigen, wurde aber nichtsdestoweniger +freigesprochen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span></p> + +<p>Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” +bleibt jedenfalls ein interessantes Dokument +fr das Studium der politischen Entwicklung Lassalles. +Er steht in ihr fast durchgngig auf dem +von Karl Marx drei Monate vorher in dessen +Rede vor den Klner Geschworenen vertretenen +Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden +zeigt dies aufs deutlichste, ebenso aber auch die +Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und +Lassalle. Marx enthlt sich aller oratorischen +Ausschmckung, er geht direkt auf die Sache ein, +entwickelt in einfacher und gedrngter Sprache, +Satz fr Satz, scharf und mit rcksichtsloser Logik +seinen Standpunkt und schliet ohne jede Apostrophe +mit einer Charakteristik der politischen +Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person +stehe ganz auer Frage, und er habe nur die Aufgabe, +den Geschworenen einen politischen Vortrag +zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast +von Anfang bis zu Ende, er erschpft sich in — +oft sehr schnen — Bildern und in Superlativen. +Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen +Sache oder von seiner Person die Rede ist, er +spricht nicht zu den Geschworenen, sondern zu +den Tribnen, zu einer imaginren Volksversammlung, +und schliet, nach Verkndigung einer +Rache, die „so vollstndig” sein wird wie „die +Schmach, die man dem Volke antut”, mit einer +Rezitation aus Tell.</p> + +<p>Noch im Gefngnis, wo er sich durch seine +Energie und Hartnckigkeit Vergnstigungen ertrotzte,<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span> +die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden +pflegten — so erhielt er, was er spter selbst +fr ungesetzlich erklrte, wiederholt Urlaub, um +in den Prozessen der Grfin Hatzfeldt zu pldieren +— und in den darauffolgenden Jahren wurde +Lassalles Ttigkeit wieder fast vollstndig durch +die Hatzfeldtsche Angelegenheit in Anspruch genommen. +Daneben hielt Lassalle ein gastliches +Haus fr politische Freunde und versammelte +lngere Zeit einen Kreis vorgeschrittener Arbeiter +um sich, denen er politische Vortrge hielt. Endlich +erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen +Proze der Friedensschlu. Die Grfin erhielt +ein bedeutendes Vermgen ausbezahlt und Lassalle +eine Rente von jhrlich siebentausend Talern +sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise +ganz nach seinen Wnschen einzurichten.</p> + +<p>Zunchst behielt er seinen Wohnsitz in +Dsseldorf bei und arbeitete hier an seinem +„Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand +Reisen, u. a. auch eine in den Orient. Auf +die Dauer aber konnten ihn diese Unterbrechungen +nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, +in der das politische Leben erloschen war, ausshnen. +Es verlangte ihn nach einem freieren, anregenderen +Leben, als es die rheinische Stadt bot +oder erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden +Persnlichkeiten, nach einem greren Wirkungskreis. +So erwirkt er sich denn 1857 durch die Vermittlung +Alexander von Humboldts beim Prinzen +von Preuen von der Berliner Polizei die Erlaubnis,<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> +seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu +drfen.</p> + +<p>Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen +Beachtung. Lassalle hatte im Mai 1849 +in flammenden Worten die „schmachvolle und unertrgliche +Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die +„ber Preuen hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: +„Warum zu soviel Gewalt noch soviel +Heuchelei? Doch das ist preuisch” und „vergessen +wir nichts, nie, niemals... Bewahren wir +sie auf, diese Erinnerungen, sorgfltig auf, wie +die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges +Erbe ist der Racheschwur, der sich an diese +Knochen knpft.” (Assisenrede.) Wie kam er +nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es +dem guten Willen der Regierung, die in der angegebenen +Weise angegriffen worden war, anheim +zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in +politischen Dingen sehr rigoros sein und hat es +1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt, +da Wilhelm Liebknecht fr die grodeutsch-konservative +„Augsburger Allgemeine Zeitung” +schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die +wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschftigten, +fr sein gutes Recht, die Aufenthaltsbewilligung +zu verlangen, und im Bewutsein der Festigkeit +seines politischen Wollens fr reine Formsache, +da er seine betreffenden Eingaben als Gesuche +abzufassen hatte. Denn es handelt sich da um verschiedene +Antrge, der erste 1855 an den Berliner +Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> +1856, direkt an den damaligen Prinzregenten gerichtet +(Vgl. darber „Dokumente des Sozialismus”, +Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus +diesen Schritten machte er Karl Marx gegenber +kein Geheimnis.</p> + +<p>Es ist zudem nicht unmglich, da Lassalle +durch Verbindungen der Grfin Hatzfeldt, die +ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, +da sich in den oberen Regionen Preuens ein +neuer Wind vorbereite. Wie weit diese Verbindungen +reichten, geht aus Informationen hervor, +die Lassalle bereits im Jahre 1854, beim +Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach London +gelangen lie. So teilt er Marx unterm 10. Februar +1854 den Wortlaut einer Erklrung mit, +die einige Tage vorher vom Berliner Kabinett nach +Paris und London abgegangen sei, schildert die +Zustnde im Berliner Kabinett — der Knig +und fast alle Minister fr Ruland, nur Manteuffel +und der Prinz von Preuen fr England — und +die fr gewisse Eventualitten vom Kabinett beschlossenen +Maregeln, worauf es heit: „Alle +die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so +betrachten, als wenn Du sie aus Manteuffels und +Aberdeens eigenem Munde httest!” Vier Wochen +spter machte er wieder allerhand Mitteilungen +ber beabsichtigte Schritte des Kabinetts, gesttzt +auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner ‚offiziellen’, +aber doch aus ziemlich glaubhafter +Quelle”. Am 20. Mai 1854 klagt er, da seine +„diplomatische Quelle” eine weite Reise angetreten<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span> +habe. „Eine so vorzgliche Quelle, durch die man +kabinettsmig informiert war, zu haben und dann +auf so lange Zeit wieder verlieren, ist beraus +rgerlich.” Aber er hat immer noch Nebenquellen, +die ihn ber Interna des Berliner Kabinetts +unterrichten, und ist u. a. „zeitig vorher von +Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt worden.</p> + +<p>Einige dieser Quellen standen dem Berliner +Hof sehr nahe, und ihre Berichte mgen auch +Lassalles Schritt veranlat haben. Die geistige +Zerrttung Friedrich Wilhelm IV. war um das +Jahr 1857 bereits sehr weit vorgeschritten, und +wenn auch die getreuen Minister und Hter der +monarchischen Idee sie noch nicht fr gengend +erachteten, des Knigs Regierungsunfhigkeit auszusprechen, +so wute man doch in allen unterrichteten +Kreisen, da der Regierungsantritt des +Prinzen von Preuen nur noch eine Frage von +Monaten sei.</p> + +<p>In Berlin vollendete Lassalle zunchst den +Heraklit, der Ende 1857 im Verlage von Franz +Duncker erschien.</p> + +<p>ber dieses beinahe mehr noch philologische +als philosophische Werk gehen die Meinungen der +Sachverstndigen auseinander. Die einen stellen +es als epochemachend hin, die andern behaupten, +da es in der Hauptsache nichts sage, was nicht +schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, da +Lassalle hier fast durchgngig auf althegelschem +Standpunkt steht — die Dinge werden aus den +Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span> +als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, +deren Bewegung die Geschichte erzeugt. +Aber auch diejenigen, welche die epochemachende +Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, +geben zu, da sie eine sehr tchtige Leistung ist. +Sie verschaffte Lassalle in der wissenschaftlichen +Welt einen geachteten Namen.</p> + +<p>Fr die Charakteristik Lassalles und seines +geistigen Entwicklungsganges ist sein Werk ber +Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht +blo darin von Bedeutung, da es Lassalle als +eben entschiedenen Anhnger Hegels zeigt. Man +kann auch dem bekannten dnischen Literarhistoriker +G. Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft +zugunsten belletristischer Ausschmckung mit den +Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie ber +Lassalle<a name="FNAnker_2_2" id="FNAnker_2_2"></a><a href="#Fussnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> auf verschiedene Stellen in der Arbeit +ber Heraklit als Schlssel zum Verstndnis von +Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es gilt +dies namentlich von Lassalles groem Kultus +des Staatsgedankens — auch in dieser Hinsicht +war Lassalle Althegelianer — und in bezug +auf Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. +Brandes schreibt in ersterer Hinsicht:</p> + +<p>„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, fat sich in +den einen Gedanken zusammen, der zugleich der +ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: +‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span> +griechisch und modern; aber Lassalle kann sich +das Vergngen nicht versagen, in der speziellen +Ausfhrung dieses Gedankens bei dem alten +Griechen die bereinstimmung mit Hegels Staatsphilosophie +nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen +Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefat +werden als die Realisation des allgemeinen +substantiellen Willens, ohne da bei dieser Bestimmung +im geringsten an den formellen Willen +der Subjekte und deren Zhlung gedacht wird, +so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr +von der Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” +(Vgl. a. a. O. S. 40.)</p> + +<p>Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen +dieser Staatsidee, die bei Lassalle immer wiederkehrt, +und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie +und zum allgemeinen Stimmrecht — die +doch die Herrschaft des „formellen Willens +der Subjekte” darstellen — einen Gegensatz erblickt, +den man „nicht ungestraft in seinem Gemte +hegt”, und der in der Welt der Prinzipien +das Gegenstck zu dem Kontrast darstelle, der +„rein uerlich zutage trat, wenn Lassalle mit +seiner ausgesucht eleganten Kleidung, seiner ausgesucht +feinen Wsche und seinen Lackstiefeln +in und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit +ruiger Haut und schwieligen Hnden sprach”.</p> + +<p>Das ist belletristisch ausgedrckt. Tatschlich +hat Lassalles althegelsche Staatsidee ihn spter +im Kampf gegen den Liberalismus weit ber das +Ziel hinausschieen lassen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span></p> + +<p>ber Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm +schreibt Brandes:</p> + +<p>„Noch eine bereinstimmung, die letzte zwischen +— Heraklit und Lassalle, bildet der trotz +des Selbstgefhls und des Stolzes so leidenschaftliche +Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung +und dem Lobe anderer. Heraklit hat +das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die greren +Schicksale erlangen das grere Los.’ +Und er hat gesagt, was das rechte Licht auf +diesen Satz wirft: ‚Da die Menge und die +sich weise Dnkenden den Sngern der Vlker +folgen und die Gesetze um Rat fragen, +nicht wissend, da die Menge schlecht, wenige +nur gut, die Besten aber dem Ruhme nachfolgen. +‚Denn,’ fgt er hinzu, ‚es whlen die Besten eins +statt allem, den immerwhrenden Ruhm der Sterblichen.’ +Ruhm war fr Heraklit also gerade jenes +grere Los, welches das grere Schicksal erlangen +kann; sein Trachten nach Ehre war nicht +nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern +ein durch Reflexion und Philosophie begrndetes. +‚Der Ruhm’, sagt Lassalle, ‚ist in der +Tat das Entgegengesetzte von allem, das Entgegengesetzte +gegen die Kategorie des unmittelbaren +realen Seins berhaupt und seiner einzelnen +Zwecke. Er ist Sein der Menschen in ihrem +Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen +Existenz selbst, er ist darum erreichte und +wirklich gewordene Unendlichkeit des Menschen”, +und mit Wrme fgt er hinzu: ‚Wie dies der<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> +Grund ist, weshalb der Ruhm seit je die groen +Seelen so mchtig ergriffen und ber alle kleinen +und beschrnkten Ziele hinausgehoben hatte, wie +das der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, +da er erst annahen kann ‚Hand in Hand mit dem +prfenden Todesengel’, so ist es auch der Grund, +weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung +seines spekulativen Prinzips erblickte.’”</p> + +<p>Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich +mit dem Ruhm, der erst Hand in Hand mit dem +Todesengel annaht, zu begngen. Im Gegensatz +zu der Heraklitischen Verachtung der Menge war +er fr den Beifall durchaus nicht unempfindlich +und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr Hflichkeitsform +war, unter Umstnden mit fast naiver +Genugtuung fr die Sache selbst auf. Die Vorliebe +fr das Pathos, die sich bei Lassalle in so +hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine +Neigung zur Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch +von einer Dosis davon nicht ganz freizusprechen, +so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, da +er aus dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe +fr den Lrm und Trommelschall der Ehre, +fr ihre Pauken und Trompeten” nennt, je einen +Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen +Briefen tritt sie mit einer Offenheit zutage, die +in ihrer Naivett etwas Vershnendes hat. Wenn +Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift +erzhlt, da Lassalle ihr in Bern ausgemalt +habe, wie er einst als volkserwhlter Prsident +der Republik „von sechs Schimmeln gezogen”<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> +seinen Einzug in Berlin halten werde, so +ist man versucht, entweder an eine bertreibung +der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, da +Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden +Zukunft um so fester in dem Herzen seiner +Erwhlten festzusetzen hoffte. Indes, die bekannte +schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie +von Sontzew beweist, da es sich bei diesem Zukunftsbild +keineswegs nur um die Spielerei einer +migen Stunde, um den Einfall eines Verliebten +handelte, sondern um einen Gedanken, +in dem Lassalle selbst sich berauschte, dessen +Zauber einen mchtigen Reiz auf ihn ausbte. Er +nennt sich — im Jahre 1860 — „das Haupt +einer Partei”, in bezug auf das sich „fast unsere +ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren +eine — ein Teil der Bourgeoisie und das Volk — +Lassalle „achtet, liebt, sogar nicht selten verehrt”, +fr die er „ein Mann von grtem Genie +und von einem fast bermenschlichen Charakter +ist, von dem sie die grten Taten erwarten”. +Die andere Partei — die ganze Aristokratie und +der grte Teil der Bourgeoisie — frchtet ihn +„mehr als irgend jemand anders” und hat ihn +daher „unbeschreiblich”. Werde die Frauenwelt +dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von +Sontzew nicht verzeihen, da sie einen solchen +Menschen heiratete, so werden auf der andern +Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, da +ein solcher Mensch sie heiratete, „sie eines +Glckes halber beneiden, das ihre Verdienste<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> +bersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen +nicht, es knnte wohl sein, da, wenn gewisse +Ereignisse eintreten, eine Flut von Bewegung, +Gerusch und Glanz auf Ihr Leben fallen wrde, +wenn Sie mein Weib werden.”</p> + +<p>So bertrieben alle diese uerungen erscheinen, +so wenig sie der Wirklichkeit entsprachen +zu einer Zeit, wo von einer sozialistisch-demokratischen +Partei gar keine Rede war, Lassalle +vielmehr gesellschaftlich mit den brgerlichen +Liberalen und Demokraten auf bestem Fue +stand und soeben eine Broschre verffentlicht +hatte, deren Inhalt mit Aspirationen bereinstimmte, +die in Regierungskreisen gehegt wurden, so wohnt +ihnen doch eine groe subjektive Wahrheit inne +— Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte +an die Partei, die in ihm ihr Haupt erblickte, +wenn sie auch vorlufig blo aus ihm bestand +und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes +Dasein fhrte. Die Partei, das war +er — seine Bestrebungen und seine Plne. Jedes +Wort der Anerkennung von seiten seiner Freunde +oder aber, was er dafr hielt, war fr ihn Besttigung +seiner Mission, und nicht selten nahm +er Schmeichelei fr aufrichtige Huldigung. Es +ist merkwrdig, welcher Widersprche die menschliche +Natur fhig ist. Lassalle war, wie aus den +Berichten seiner nheren Bekannten und aus +seinen Briefen hervorgeht, mit schmeichelhaften +Adjektiven uerst freigebig, aber sie waren allenfalls +Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span> +anderen auf ihn selbst angewendet, nahm er sie +dagegen leicht fr echtes Gold.</p> + +<p>So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung +mit ihm selbst verwachsen, da, als er spter +wirklich an der Spitze einer Partei stand, oder +wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen +Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel +seiner Person zu betrachten vermochte +und danach behandelte. Man miverstehe uns +nicht. Es wre absurd, etwa zu sagen, da Lassalle +den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein nur ins +Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frnen, da +der Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck +war. Lassalle war berzeugter Sozialist, das +unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wre nicht +imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung +aufzugehen, ihr seine Persnlichkeit — ich sage +ausdrcklich nicht sein Leben, aufzuopfern.</p> + +<p>Soviel an dieser Stelle hierber.</p> + +<p>Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher +Ritter. Kurz nachdem der Heraklit erschienen, +vollendete Lassalle ein bereits in Dsseldorf +entworfenes historisches Drama und lie +es, nachdem eine anonym eingereichte Bhnenbearbeitung +von der Intendantur der Kgl. Schauspiele +abgelehnt worden war, 1859 unter seinem +Namen im Druck erscheinen.</p> + +<p>Da der „Franz von Sickingen” als Bhnenwerk +verfehlt war, hat Lassalle spter selbst eingesehen, +und er hat als Hauptursache dafr den +Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> +der Tat macht das Drama, trotz einzelner hchst +wirkungsvoller Szenen und der gedankenreichen +Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, +die Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel +Reflexion da, und es werden vor allem viel zuviel +Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft von +einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzhlt, +da ein Freund Lassalles, den dieser, whrend +er am „Franz von Sickingen” arbeitete, um +seinen Rat ersuchte, und der ein bewhrter +metrischer Knstler gewesen, Lassalle den Vorschlag +gemacht habe, er solle das Stck lieber in +Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, +da ein besserer Rat gar nicht gegeben +werden konnte. Denn die Lassallesche Prosa hat +wirklich eine Reihe groer Vorzge, und selbst +die stark entwickelte Tendenz, ins Deklamatorische +zu verfallen, htte in einem Drama wie der +Sickingen nichts verschlagen. Aber Lassalle lie +sich nicht von seiner Idee abbringen, da die +Versform fr das Drama unentbehrlich sei, und +so stolpern nicht nur seine Ritter und Helden auf +oft recht geschraubten fnffigen Jamben einher, +selbst die aufstndischen Bauern bedienen +sich der Stelzen des Blankverses. Eine Ausnahme +machen sie nur bei den bekannten Losungsworten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Loset, sagt an: Was ist das fr ein Wesen?”<br /></span> +<span class="i0">„Wir knnen vor Pfaffen und Adel nicht genesen,”<br /></span> +</div></div> + +<p>die denn auch wahrhaft erfrischend wirken.</p> + +<p>Indes diese technischen Fragen treten fr uns +zurck vor der Frage nach Inhalt und Tendenz<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> +des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von +Sickingen” ber das historische Drama, wie es +Schiller und Goethe geschaffen, einen weiteren +Schritt hinaus machen. Die historischen Kmpfe +sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst +den Boden liefern, auf welchem sich der tragische +Konflikt bewegt, whrend die eigentliche dramatische +Handlung sich um rein individuelle Interessen +und Geschicke dreht, vielmehr sollten die +kulturhistorischen Prozesse der Zeiten und Vlker +zum eigentlichen Subjekt der Tragdie werden, +so da sich diese nicht mehr um die Individuen +als solche dreht, die vielmehr nur die Trger und +Verkrperungen der kmpfenden Gegenstze sind, +sondern um jene grten und gewaltigsten Geschicke +der Nationen selbst — „Schicksale, welche +ber das Wohl und Wehe des gesamten allgemeinen +Geistes entscheiden und von den dramatischen +Personen mit der verzehrenden Leidenschaft, +welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer +eigenen Lebensfrage gemacht werden. „Bei alledem +sei es mglich,” meint Lassalle, „den Individuen +aus der Bestimmtheit der Gedanken und +Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus +markige und feste, selbst derbe und realistische +Individualitt zu geben.” (Vgl. das Vorwort zum +Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit Lassalle +die so gestellte Aufgabe gelst hat und inwieweit +sie berhaupt lsbar ist, unter welchen Voraussetzungen +sich die groen Kmpfe der Menschheit +und der Vlker so in Individuen verkrpern<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> +lassen, da nicht das eine oder das andere, die +Gre und umfassende Bedeutung jener Kmpfe +oder die lebendige Persnlichkeit der Individuen +dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, +die wir hier unerrtert lassen knnen. Es gengt, +da Lassalle bei der Durchfhrung des Dramas +von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun +zum Stoff des Dramas selbst.</p> + +<p>Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen +Franz von Sickingens gegen die deutschen +Frsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein +Freund und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die +Helden des Dramas, und es ist eigentlich schwer +zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in +Anspruch nimmt, der militrische und staatsmnnische +oder der theoretische Reprsentant des +niederen deutschen Adels. Merkwrdigerweise +hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in +dem letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. +„Lesen Sie mein Trauerspiel,” schreibt er an +Sophie von Sontzew. „Alles, was ich Ihnen hier +sagen knnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. +Auch er hatte alle Verleumdungen, alle Arten +von Ha, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich +habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, +und ich konnte dies, da sein Schicksal und das +meinige einander vollstndig gleich und von berraschender +hnlichkeit sind.” Es wrde selbst +Lassalle schwer geworden sein, diese berraschende +hnlichkeit zu beweisen, namentlich um +die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er fhrte<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span> +in Berlin ein luxurises Leben, verkehrte mit Angehrigen +aller Kreise der besser situierten Gesellschaft +und erfreute sich als Politiker nicht +entfernt eines hnlichen Hasses wie der frnkische +Ritter, der Urheber der leidenschaftlichen Streitschriften +wider die rmische Pfaffenherrschaft. +Nur in einigen uerlichkeiten lassen sich Analogien +zwischen Lassalle und Hutten ziehen, aber +in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen, +was tatschlich war, sondern was Lassalle +glaubte und wovon er sich bei seinem Werke +geistig leiten lie. Menschen mit so ausgeprgtem +Selbstgefhl sind in der Regel leicht Tuschungen +ber sich selbst ausgesetzt. Genug, wir +haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor +uns, wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, +die er Hutten in den Mund legt, erhalten dadurch +fr das Verstndnis des Lassalleschen Ideenkreises +eine besondere Bedeutung.</p> + +<p>Hierher gehrt namentlich die Antwort Huttens +auf die Bedenken des kolampadius gegen den +geplanten Aufstand:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Ehrwrd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.<br /></span> +<span class="i0">Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,”<br /></span> +</div></div> + +<p>ein echt Hegelscher Satz,</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Doch ihre Form bleibt ewig — die Gewalt!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Und dann, als kolampadius von der „Entweihung +der Liebeslehre durch das Schwert” gesprochen:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span></p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Ehrwrd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!<br /></span> +<span class="i0">Ein Schwert, geschwungen fr die Freiheit, ist<br /></span> +<span class="i0">Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,<br /></span> +<span class="i0">Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren.<br /></span> +<span class="i0">Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,<br /></span> +<span class="i0">Den wir noch heut den Groen staunend nennen.<br /></span> +<span class="i0">Es ward durchs Schwert das Heidentum gestrzt,<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert befreit des Welterlsers Grab!<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht<br /></span> +<span class="i0">Und Wissenschaft und Knste uns geboren.<br /></span> +<span class="i0">Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!<br /></span> +<span class="i0">So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet<br /></span> +<span class="i0">Das Herrliche, das die Geschichte sah,<br /></span> +<span class="i0">Und alles Groe, was sich jemals wird vollbringen,<br /></span> +<span class="i0">Dem <em class="gesperrt">Schwert</em> zuletzt verdankt es sein Gelingen!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Es liegt in den Stzen „doch ihre — der Geschichte +— Form bleibt ewig die Gewalt”, und +„da alles Groe, was sich jemals wird vollbringen”, +dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken +werde, unzweifelhaft viel bertreibung. +Trotzdem hatte der Hinweis, da das fr die +Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene +Wort” sei, da, wer die Freiheit erwerben +will, bereit sein mu, fr sie mit dem +Schwert zu kmpfen, seine volle Berechtigung in +einer Epoche, wo man in weiten Kreisen der ehemaligen +Demokratie sich immer mehr darauf verlegte, +alles von der Macht des Wortes zu erwarten. +Sehr zeitgem, und nicht nur fr die +damalige Epoche, sind auch die Worte, die +Lassalle den alten Balthasar Slr Sickingen +im letzten Akt zurufen lt:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span></p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht<br /></span> +<span class="i0">Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten<br /></span> +<span class="i0">In groen Dingen schlau zu sein. <em class="gesperrt">Verkleidung</em><br /></span> +<span class="i0">Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,<br /></span> +<span class="i0">Wo im Gewhl die Vlker dich nur an<br /></span> +<span class="i0">Der Rstung und dem Abzeichen erkennen;<br /></span> +<span class="i0">Drum hlle stets vom Scheitel bis zur Sohle<br /></span> +<span class="i0">Dich khn in deines eig'nen Banners Farbe.<br /></span> +<span class="i0">Dann probst du aus im ungeheuren Streit<br /></span> +<span class="i0">Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,<br /></span> +<span class="i0">Und stehst und fllst mit deinem ganzen Knnen!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Auch der Ausspruch Sickingens:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.<br /></span> +<span class="i0">Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,<br /></span> +<span class="i0">Da eines sich stets ndert mit dem andern,<br /></span> +<span class="i0">Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”.<br /></span> +</div></div> + +<p>ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis +Lassalles. Leider hat er ihn jedoch gerade +in der kritischsten Periode seiner politischen Laufbahn +unbeachtet gelassen.</p> + +<p>Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten +auf, sondern nehmen wir das Ganze des Dramas, +ziehen wir seine Quintessenz.</p> + +<p>Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte +ist bekannt. Sie sind beide Vertreter +des sptmittelalterlichen Rittertums, einer um die +Zeit der Reformation im Untergehen begriffenen +Klasse. Was sie wollen, ist diesen Untergang +aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das notwendigerweise +scheitert und dasjenige, was es +verhindern will, nur beschleunigt. Da Hutten wie +Sickingen durch Charakter wie Intelligenz ihre +Klasse weit berragen, so ist hier in der Tat das<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span> +Material zu einer echten Tragdie gegeben, +der vergebliche Kampf markiger Persnlichkeiten +gegen die geschichtliche Notwendigkeit. Merkwrdigerweise +wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen +Bewegung im Lassalleschen Drama +am wenigsten behandelt, so bedeutungsvoll sie +doch gerade fr die — wir wollen nicht einmal +sagen, sozialistische, sondern berhaupt die moderne +wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ist. +Im Drama geht das Hutten-Sickingensche Unternehmen +an tausend Zuflligkeiten — Unberlegtheit, +Migriffe in den Mitteln, Verrat usw. — +zugrunde, und Hutten-Lassalle schliet mit den +Worten: „Knft'gen Jahrhunderten vermach' ich +unsere Rache”, was unwillkrlich an den recht +unhistorischen Schlu in Gtz von Berlichingen +erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von +sich stie! Wehe der Nachkommenschaft, die +dich verkennt!” Begreift man aber, warum der +junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich +einen Vertreter des untergehenden Rittertums zum +Helden whlen konnte, so ist es schon schwerer +zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre spter, +zu einer Zeit, wo die Geschichtsforschung bereits +ganz andere Gesichtspunkte zur Beurteilung der +Kmpfe des Reformationszeitalters erffnet hatte, +ein Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben +dieses Rittertums schlechthin als die Reprsentanten +„eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt, +auf dessen Resultaten”, wie er sich in der +Vorrede ausdrckt, „unsere ganze Wirklichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span> +lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden +Stelle weiter, „wenn mglich, diesen kulturhistorischen +Proze noch einmal in bewuter Erkenntnis +und leidenschaftlicher Ergreifung durch +die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen +solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie +gegeben — und darum entschlo ich mich zu +diesem Drama.”</p> + +<p>Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen +neben und mit der Sache des Rittertums noch +den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und +fr die Einheit des Reiches, zwei Forderungen, +welche ideologisch die des untergehenden Rittertums +waren, geschichtlich aber im Interesse der +aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn +auch durch die Entwicklung der Verhltnisse in +Deutschland nach berwindung der unmittelbaren +Wirkungen des Dreiigjhrigen Krieges wieder in +den Vordergrund gedrngt und im neunzehnten +Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen +Brgertum verfochten wurden. Der deutsche +Adel hat sich erst nach der Grndung des neudeutschen +Reiches daran erinnert, da er einmal +eine so anstndige Persnlichkeit wie Franz von +Sickingen hervorgebracht hat — den Hutten kann +er noch immer nicht verdauen; in den fnfziger +Jahren und noch spter feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus +Hutten und Sickingen als +Vorkmpfer der nationalen und Aufklrungsbewegung +und ignorierte ihre Klassenbestrebungen.</p> + +<p>Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span> +der Fall. Ulrich von Hutten und Franz von +Sickingen kmpfen lediglich um der geistigen +Freiheit willen gegen den rmischen Antichrist, +nur im Interesse der nationalen Sache gegen die +Einzelfrsten. „Was wir wollen,” sagt Sickingen +im Zwiegesprch mit Hutten, —</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„das ist ein ein'ges groes, mcht'ges Deutschland,<br /></span> +<span class="i0">Zertrmmerung alles Pfaffenregiments,<br /></span> +<span class="i0">Vollstnd'ger Bruch mit allem rm'schen Wesen,<br /></span> +<span class="i0">Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,<br /></span> +<span class="i0">Wiedergeburt, zeitmige der alten,<br /></span> +<span class="i0">Der urgermanischen gemeinen Freiheit,<br /></span> +<span class="i0">Vernichtung unsrer Frstenzwergherrschaft<br /></span> +<span class="i0">Und usurpierten Zwischenregiments,<br /></span> +<span class="i0">Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang<br /></span> +<span class="i0">Gesttzt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,<br /></span> +<span class="i0">Ein — evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze<br /></span> +<span class="i0">Des groen Reichs.”<br /></span> +</div></div> + +<p>Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.”</p> + +<p>Da Lassalle ausdrcklich den „Franz von +Sickingen” als ein Tendenzdrama bezeichnet, so +haben wir in ihm einen Beleg fr die Wandlung, +die sich in ihm in bezug auf seine — vorlufig +ideale — Stellungnahme zu den politischen Strmungen +der Zeit vollzogen. Es sollte indes gar +nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine +Annherung an die Auffassungsweise der norddeutschen +brgerlichen Demokratie, auch gegenber +einer konkreten Frage des Tages offenbaren +sollte<a name="FNAnker_3_3" id="FNAnker_3_3"></a><a href="#Fussnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a>.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span></p> + +<p>Der „Franz von Sickingen” war im Winter +1857/58 vollendet worden. Lassalle hatte ihn, +wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> +begonnen, whrend er noch am Heraklit arbeitete. +Es sei ihm ein Bedrfnis gewesen, sich zeitweilig +aus der abstrakten Gedankenwelt, in die er sich bei<span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span> +jener Arbeit „einspintisieren” mute, mit einem +Gegenstand zu beschftigen, der in direkterer Beziehung +zu den groen Kmpfen der Menschheit +stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und +Reformationszeit studiert und sich an den Werken +und dem Leben Ulrich von Huttens „berauscht”, +als ihn die Lektre eines gerade erschienenen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> +elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken +brachte: Das — der Kampf Huttens — wre +ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne +ursprnglich an sich als ausfhrenden Dichter zu +denken, den Plan des Dramas entworfen, wurde +sich aber alsbald klar, da er es auch selbst +fertig machen msse. Es sei „wie eine Eingebung” +ber ihn gekommen. Man sprt es dem +Drama auch an, da es mit warmem Herzblut +geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten +Fehler erhebt es sich, dank seines geistigen Gehalts, +immer noch himmelhoch ber die ganze +Dramenliteratur jener Zeit. Es htte es keiner +der deutschen Dichter damals besser gemacht als +Lassalle.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + +<h2><a name="Ferdinand_Lassalle" id="Ferdinand_Lassalle">Ferdinand Lassalle +und der italienische Krieg.</a></h2> + + +<p>Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” +als Buchdrama. Gerade als er herauskam, +stand Europa am Vorabend eines Krieges, der +auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland +eine groe Rckwirkung ausben sollte. Es war +der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis +Napoleon und Cavour in Plombires verabredete +franzsisch-sardinische Feldzug behufs Losreiung +der Lombardei von sterreich und der +Beseitigung der sterreichischen Oberherrschaft +in Mittelitalien.</p> + +<p>sterreich gehrte damals zum deutschen Bund,<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span> +und so erhob sich natrlich die Frage, welche +Haltung die brigen Bundesstaaten in diesem +Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des +brigen Deutschland, sich gegenber Frankreich +mit sterreich zu identifizieren oder nicht?</p> + +<p>Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, +da der Krieg einen zwieschlchtigen +Charakter trug. Fr die ihn betreibenden Italiener +war er ein nationaler Befreiungskampf, der die +Sache der Einigung und Befreiung Italiens einen +Schritt vorwrts bringen sollte. Von seiten Frankreichs +dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, +um die Herrschaft des bonapartistischen +Regimes in Frankreich zu strken und die Machtstellung +Frankreichs in Europa zu erhhen. Soviel +stand auf jeden Fall fest. Auerdem pfiffen +es die Spatzen von den Dchern, da Napoleon +sich von seinem Verbndeten, dem Knig von +Sardinien, fr seine Bundesgenossenschaft einen +hbschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen (Nizza +und Savoyen) ausbedungen hatte und da die +„Einigung” Italiens in jenem Moment nur soweit +stattfinden sollte, als sich mit den Interessen des +bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem +Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher +italienischer Patriot wie Mazzini bereits +Ende 1858 den in Plombires zwischen Napoleon +und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als +eine bloe dynastische Intrige. Soviel war sicher, +da, wer diesen Krieg untersttzte, zunchst +Napoleon III. und dessen Plne untersttzte.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span></p> + +<p>Napoleon III. brauchte aber Untersttzung. +Gegen sterreich allein konnte er im Bunde mit +Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber +die brigen Staaten des Deutschen Bundes und +namentlich Preuen sterreich zu Hilfe, so stand +die Sache wesentlich bedenklicher. So lie er +denn durch seine Agenten und Geschftstrger +bei den deutschen Regierungen, in der deutschen +Presse und unter den deutschen Parteifhrern +mit allen Mitteln dagegen agitieren, da der Krieg +als eine Sache behandelt werde, die Deutschland +etwas angehe. Was habe das deutsche Volk fr +ein Interesse, die Gewaltherrschaft, die sterreich +in Italien ausbe, aufrechtzuerhalten, berhaupt +einem so urreaktionren Staat wie sterreich +Hilfe zu leisten? sterreich sei der geschworene +Feind der Freiheit der Vlker; werde +sterreich zertrmmert, so wrde auch fr +Deutschland ein schnerer Morgen anbrechen.</p> + +<p>Auf der anderen Seite entwickelten die sterreichischen +Federn, da, wenn die Napoleonischen +Plne im Sden sich verwirklichten, der +Rhein in direkte Gefahr geriete. Ihm wrde der +nchste Angriff gelten. Wer das linke Rheinufer +vor Frankreichs gierigen Hnden sicherstellen +wolle, msse dazu beitragen, da sterreich seine +militrischen Positionen in Oberitalien unbeeintrchtigt +erhalte, der Rhein msse am Po verteidigt +werden.</p> + +<p>Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene +Parole stimmte in vielen wesentlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> +Punkten mit dem Programm der kleindeutschen +Partei (Einigung Deutschlands unter Preuens +Spitze, unter Hinauswerfung sterreichs aus dem +deutschen Bund) berein, war direkt auf es zugeschnitten. +Trotzdem konnten sich eine groe +Anzahl kleindeutscher Politiker nicht dazu entschlieen, +gerade in diesem Zeitpunkt die Sache +sterreichs von der des brigen Deutschland zu +trennen. Dies erschien ihnen um so weniger zulssig, +als es weiterhin bekannt war, da Napoleon +den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen +Regierung in Petersburg fhrte, dieser also den +weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen +im Sdosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr +ging ihre Meinung dahin, jetzt kme es vor +allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons +abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, knne +man weiter reden. Bis es geschehen, mten sich +aber die Italiener gefallen lassen, da man sie, +solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes +kmpften, einfach als dessen Verbndete behandelte.</p> + +<p>Es lt sich nun nicht leugnen, da man vom +kleindeutschen Standpunkt aus auch zu einer andern +Auffassung der Situation gelangen, in der vorentwickelten +Gedankenreihe eine Inkonsequenz +erblicken konnte. Wenn sterreich, und namentlich +dessen auerdeutsche Besitzungen, um so +eher je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen +werden sollten, warum nicht mit Vergngen +ein Ereignis begren, das sich als ein<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span> +Schritt zur Verwirklichung dieses Programms darstellte? +Hatte nicht Napoleon erklrt, da er +nur sterreich und nicht Deutschland bekriege? +Warum also sterreich gegen Frankreich beistehen, +zumal man dadurch gezwungen werde, +auch die Italiener zu bekriegen, die doch fr +die gerechteste Sache von der Welt kmpften? +Warum den Rhein verteidigen, ehe er angegriffen, +ehe auch nur eine Andeutung gefallen, da ein +Angriff auf ihn beabsichtigt sei? Warum nicht +lieber die Verlegenheit sterreichs und die Beschftigung +Napoleons in Italien benutzen, um die +Sache der Einigung Deutschlands unter Preuens +Fhrung auch durch positive Manahmen einen +weiteren Schritt zu frdern?</p> + +<p>Dieser — es sei wiederholt — vom kleindeutschen +Standpunkt aus konsequenteren Politik +spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 erschienenen +Schrift „Der Italienische Krieg und +die Aufgabe Preuens” das Wort. Mit groer +Energie bekmpft er die in den beiden Berliner +Organen des norddeutschen Liberalismus, der +„National-Zeitung” und der „Volks-Zeitung”, — +in der ersteren unter anderm auch von Lassalles +nachmaligem Freunde, Lothar Bucher — verfochtene +Ansicht, einem von Bonaparte ausgehenden +Angriff gegenber msse Preuen sterreich +als Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert +er dagegen, da Preuen den Moment benutzen +solle, den deutschen Kleinstaaten gegenber seine +deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> +Napoleon die Karte Europas im Sden nach dem +Prinzip der Nationalitten revidiere, dasselbe im +Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn +jener Italien befreie, seinerseits Schleswig-Holstein +zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen, +„whrend die Demolierung sterreichs sich schon +von selbst vollzieht, fr die Erhhung Preuens +in der Deutschen Achtung zu sorgen”. Und, fgt +Lassalle schlielich hinzu, „mge die Regierung +dessen gewi sein. In diesem Kriege, der ebensosehr +ein Lebensinteresse des deutschen Volks +als Preuens ist, wrde die deutsche Demokratie +selbst Preuens Banner tragen und alle Hindernisse +vor ihm zu Boden werfen mit einer Expansivkraft, +wie ihrer nur der berauschende Ausbruch +einer nationalen Leidenschaft fhig ist, welche +seit fnfzig Jahren komprimiert in dem Herzen +eines groen Volkes zuckt und zittert.”</p> + +<p>Man hat Lassalle spter auf Grund dieser Broschre +zu einem Advokaten der „deutschen” Politik +Bismarcks zu stempeln gesucht, und es lt +sich nicht bestreiten, da das in ihr entwickelte +nationale Programm als solches eine groe hnlichkeit +mit dem des im Sommer 1859 gegrndeten +Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit +der Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung +der deutschen Einheit unter preuischer +Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all seinem +theoretischen Radikalismus in der Praxis noch +ziemlich stark im Preuentum stecken geblieben. +Nicht da er bornierter preuischer Partikularist<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span> +gewesen wre — wir werden gleich sehen, +wie weit er davon entfernt war —, aber er sah +die nationale Bewegung und die auf die auswrtige +Politik bezglichen Angelegenheiten im wesentlichen +durch die Brille des preuischen Demokraten +an, sein Ha gegen sterreich war in dieser +Hinsicht ebenso bertrieben, wie der Preuenha +vieler sddeutscher Demokraten und selbst +Sozialisten. sterreich ist ihm „der kulturfeindlichste +Staatsbegriff, den Europa aufzuweisen +hat”, er mchte „den Neger kennen lernen, der, +neben sterreich gestellt, nicht ins Weiliche +schimmerte”; sterreich ist „ein reaktionres +Prinzip”, der „gefhrlichste Feind aller Freiheitsideen”; +„der Staatsbegriff sterreich” mu „zerfetzt, +zerstckt, vernichtet, zermalmt — in alle +vier Winde zerstreut werden”, jede politische +Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen +knne, habe sterreich auch auf dem Gewissen, +und „wenn die Rechnung sonst ziemlich gleichstehen +mchte — das rmische Konkordat hat +Louis Napoleon trotz seiner Begnstigung des +Klerus nicht geschlossen”. Selbst Ruland kommt +noch besser weg, als sterreich. „Ruland ist +ein naturwchsig-barbarisches Reich, welches von +seiner despotischen Regierung soweit zu zivilisieren +gesucht wird, als mit ihren despotischen +Interessen vertrglich ist. Die Barbarei hat hier +die Entschuldigung, da sie nationales Element +ist.” Ganz anders aber mit sterreich. „Hier +vertritt, im Gegensatz zu seinen Vlkern, die Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> +das barbarische Prinzip, knstlich und +gewaltsam seine Kulturvlker unter dasselbe beugend.”</p> + +<p>In dieser einseitigen und relativ — d. h. wenn +man die brigen Staaten in Vergleich zieht — +damals auch bertriebenen Schwarzmalerei sterreichs +und auch sonst in verschiedenen Punkten, +begegnet sich die Lassallesche Broschre mit einer +Schrift, die schon einige Wochen vor ihr erschienen +war und ebenfalls die Tendenz hatte, die +Deutschen zu ermahnen, Napoleon in Italien, solange +er den Befreier spiele, freie Hand zu lassen +und der Zertrmmerung sterreichs zu applaudieren. +Es war dies die Schrift Karl Vogts +„Studien zur gegenwrtigen Lage Europas”, ein die +bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und +direkt oder indirekt auch auf bonapartistischen +Antrieb geschriebenes Buch. Ich wrde Anstand +genommen haben, diese Schrift in irgendeinem +Zusammenhange mit der Lassalleschen zu zitieren, +indes Lassalle ist so durchaus ber jeden Verdacht +der Komplizitt mit Vogt oder dessen Einblsern +erhaben, da die Mglichkeit absolut +ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der mir +aus sachlichen Grnden notwendig erscheint, ein +falsches Licht auf Lassalle zu werfen. Zum +berflu will ich aber noch einen Passus aus +der Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx +hierhersetzen, jener Schrift, die den Beweis lieferte, +da Vogt damals im bonapartistischen Interesse +schrieb und agitierte, und deren Beweisfhrung<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> +neun Jahre spter durch die in den Tuilerien +vorgefundenen Dokumente besttigt wurde — +ein Passus, der schon deshalb hierher gehrt, weil +er zweifelsohne gerade auch auf Lassalle sich bezieht. +Marx schreibt:</p> + +<blockquote> + +<p>„Von Mnnern, die schon vor 1848 miteinander +darin bereinstimmten, die Unabhngigkeit +Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als +ein Recht dieser Lnder, sondern als das Interesse +Deutschlands und Europas zu vertreten, +wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt +ber die Taktik, die Deutschland bei +Gelegenheit des italienischen Krieges von 1859 +Louis Bonaparte gegenber auszufhren habe. +Dieser Gegensatz entsprang aus gegenstzlichen +Urteilen ber tatschliche Voraussetzungen, +ber die zu entscheiden einer spteren Zeit +vorbehalten bleibt. Ich fr meinen Teil habe +es in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts +und seiner Klique zu tun. Selbst die Ansicht, +die er zu vertreten vorgab, und in der Einbildung +eines urteilslosen Haufens vertrat, fllt +in der Tat auerhalb der Grenzen meiner Kritik. +Ich behandle die Ansichten, die er wirklich vertrat.” +(K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.)</p></blockquote> + +<p>Trotzdem war es natrlich nicht zu vermeiden, +da dort, wo Vogt mit Argumenten operiert, die +sich auch bei Lassalle finden, dieser in der Marxschen +Schrift mitkritisiert wird, was brigens +Lassalle nicht verhindert hat, in einem Briefe an<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span> +Marx vom 19. Januar 1861 zu erklren, da er +nach der Lektre des „Herr Vogt” Marx' berzeugung, +da Vogt von Bonaparte bestochen sei, +„ganz gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, +der innere Beweis dafr<a name="FNAnker_4_4" id="FNAnker_4_4"></a><a href="#Fussnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> sei „mit einer immensen +Evidenz gefhrt”. Das Buch sei „in jeder Hinsicht +ein meisterhaftes Ding”.</p> + +<p>Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein uerst +instruktives Buch zum Verstndnis der Geschichte +des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet +enthlt eine Flle von geschichtlichem Material, +das zu einem ganzen Dutzend Abhandlungen ausreichen +wrde.</p> + +<p>Fr unsere Betrachtung hat es aber noch ein +besonderes Interesse.</p> + +<p>Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle +war zu keiner Zeit so lebhaft, als in den Jahren +1859 und 1860, und ein groer Teil davon handelt +eben von dem italienischen Krieg und der +ihm gegenber einzunehmenden Haltung. Ob die +Briefe Marx' hierber an Lassalle noch erhalten +sind und wenn, in welchen Hnden sie sich befinden, +ist bis jetzt nicht bekannt, noch ob der +jetzige Besitzer sie zu verffentlichen bereit ist. +Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, +die Marx damals einnahm, nur unvollkommen +zu ersehen, und noch weniger ihre Begrndung, +da sich Lassalle, wie brigens ganz natrlich,<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span> +meist darauf beschrnkt, seine Stellungnahme zu +motivieren und die Einwnde gegen dieselbe mglichst +zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht +des weiteren dargelegt zu werden, warum in einer +fr Sozialisten geschriebenen Abhandlung ber +Lassalle nicht nur dessen persnliche Beziehung +zu den Begrndern des modernen wissenschaftlichen +Sozialismus, sondern auch sein Verhltnis +zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer Behandlung +der politischen und sozialen Fragen von +besonderem Interesse ist.</p> + +<p>Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhltnis +lange Zeit seine fertige Schablone. Fr +die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete +sie: Lassalle war national, Marx und Engels +waren in jeder Hinsicht international, Lassalle +war deutscher Patriot, Marx und Engels waren +vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die +Weltrepublik und die Revolution gekmmert, was +aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgltig.</p> + +<p>Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser +Schrift hat jene Gegenberstellung aufgegeben +werden mssen.</p> + +<p>Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, +war in demselben Verlage, wie spter +diese, eine Broschre erschienen, die dasselbe +Thema behandelte. Sie war betitelt: „Po und +Rhein.” Der Verfasser, der sich ebensowenig +nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner +Schrift, suchte militrwissenschaftlich nachzuweisen, +da die von den Organen der sterreichischen<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> +Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedrfe +zu seiner Verteidigung im Sdwesten der +italienischen Provinzen, falsch sei, da auch ohne +diese Deutschland noch eine starke Defensivposition +in den Alpen habe, namentlich sobald ein +einheitliches und unabhngiges Italien geschaffen +sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund, +mit Deutschland zu hadern, wohl aber hufig +genug Anla haben werde, Deutschlands Bundesgenossenschaft +gegen Frankreich zu suchen. Oberitalien +sei ein Anhngsel, das Deutschland hchstens +im Kriege nutzen, im Frieden immer nur +schaden knne. Und auch der militrische Vorteil +im Kriege wrde erkauft durch die geschworene +Feindschaft von 25 Millionen Italienern. Aber, +fhrte der Verfasser alsdann aus, die Frage um +den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen +Deutschland und Italien, und nicht eine zwischen +sterreich und Louis Napoleon. Gegenber +einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner +eigenen, in anderer Beziehung anti-deutschen Interessen +willen sich einmischte, handle es sich um +die einfache Behauptung einer Provinz, die man +nur gezwungen abtritt, einer militrischen Position, +die man nur rumt, wenn man sie nicht mehr +halten kann ... „Werden wir angegriffen, so +wehren wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin +der italienischen Unabhngigkeit auftreten wolle, +so mge er erst bei sich anfangen und den Italienern +Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie +ernst es ihm ist. Solle aber die Karte von Europa<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span> +revidiert werden, „so haben wir Deutsche das +Recht, zu fordern, da es grndlich und unparteiisch +geschehe, und da man nicht, wie es +beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein +solle Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser +ganzen Untersuchung aber ist,” heit es schlielich, +„da wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten +Handel machen wrden, wenn wir den Po, +den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen +Plunder vertauschen knnten gegen die Einheit ... +die allein uns nach innen und auen stark machen +kann.”</p> + +<p>Der Verfasser dieser Broschre war kein anderer +als — Friedrich Engels. Unntz zu sagen, +da Engels sie im Einverstndnis mit Karl Marx +verffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle +besorgt. Lassalle hatte auch, wie aus einem seiner +Briefe hervorgeht, eine Besprechung ihres Inhalts +an die — damals noch unabhngige — +Wiener „Presse” geschickt, deren Redakteur mit +ihm verwandt war. Er kannte also ihren Inhalt +ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” +schrieb, polemisiert somit auch gegen sie, wenn er +die Ansicht bekmpft, da, da der Krieg durch +Napoleons Fhrung aus einem Befreiungskrieg in +ein gegen Deutschland gerichtetes Unternehmen +verwandelt sei, das notgedrungen mit einem +Angriff auf den Rhein enden werde, er auch +deutscherseits nur als solches zu behandeln sei. +Auf der andern Seite wird, wie schon erwhnt, +Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert,<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> +und zwar in dem Abschnitt VIII „D-d-Vogt +und seine Studien”<a name="FNAnker_5_5" id="FNAnker_5_5"></a><a href="#Fussnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a>.</p> + +<p>Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit +den Vogtschen bereinstimmten, dafr nur ein +Beispiel. sterreichischerseits war auf die Vertrge +von 1815 hingewiesen worden, durch welche +sterreich der Besitz der Lombardei garantiert +worden war. Darauf antworten nun:</p> + + +<div class="center" style="font-size: 90%;"> +<table border="0" cellpadding="8" cellspacing="0" summary="Antworten Vogt - Lassalle"> +<col width="50%" /> +<col width="50%" /> +<tr><td>Vogt:</td><td>Lassalle:</td></tr> +<tr><td align="justify" valign="top"> +„Es ist sonderbar, eine +solche Sprache in dem +Munde der einzigen Regierung +(bei Vogt unterstrichen) +zu vernehmen, +die bis jetzt in frecher +Weise die Vertrge gebrochen +hat. Von allen andern +sind sie bis jetzt respektiert +worden, nur sterreich +hat sie gebrochen, indem +es mitten im Frieden, +ohne Ursache, seine frevelnde +Hand gegen die +durch diese Vertrge garantirte +Republik Krakau +ausstreckte und dieselbe +dem Kaiserstaat ohne weiteres +einverleibte.” („Studien”, +S. 58.) +</td><td align="justify" valign="top"> +„Die Vertrge von 1815 +knnen nicht einmal mehr +diplomatisch ernstlich aufgerufen +werden. Verletzt +durch die Konstituirung +Belgiens, mit Fen getreten +und zerrissen gerade +von sterreich durch die +gewaltsame Okkupation +Krakaus, gegen welche die +europischen Kabinette zu +protestieren nicht unterlieen, +haben sie jede rechtliche +Gltigkeit fr jedes +Mitglied der europischen +Staatenfamilie verloren.” +(„Der Ital. Krieg usw.” +Ges. Schriften Bd. I S. 43.) +</td></tr> +</table> +</div> + + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p> + +<p>Hren wir nun Marx gegen Vogt:</p> + +<p>„Nikolaus natrlich vernichtete Konstitution +und Selbstndigkeit des Knigreich Polen, durch +die Vertrge von 1815 garantiert, aus ‚Achtung’ +vor den Vertrgen von 1815. Ruland achtete +nicht minder die Integritt Krakaus, als es die +freie Stadt im Jahre 1831 mit moskowitischen +Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau +wieder besetzt von Russen, sterreichern und +Preuen, wurde vllig als erobertes Land behandelt +und appellierte noch im Jahre 1840, unter +Berufung auf die Vertrge von 1815, vergebens +an England und Frankreich. Endlich am 22. Februar +1846 besetzten Russen, sterreicher und +Preuen abermals Krakau, um es sterreich einzuverleiben. +Der Vertragsbruch geschah durch +die drei nordischen Mchte, und die sterreichische +Konfiskation von 1846 war nur das letzte Wort +des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr +Vogt”, S. 73/74.) In einer Note weist dann<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> +Marx noch auf sein Pamphlet „Palmerston and +Poland” hin, wo nachgewiesen sei, da Palmerston +seit 1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau +mitgearbeitet habe. Indes das letztere ist eine +Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, wohl +aber interessiert uns der andere Nachweis bei +Marx, da Vogt auch mit der Verweisung auf +das Beispiel Krakaus nur eine von bonapartistischer +Seite ausgehende Argumentation ab- und +umschrieb. In einem der Anfang 1859 bei Dentu +in Paris herausgekommenen bonapartistischen +Pamphlete, „La vraie question, France, — Italie +— Autriche”, hatte es wrtlich geheien:</p> + +<p>„Mit welchem Rechte brigens wrde die sterreichische +Regierung die Unverletzbarkeit der +Vertrge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben +verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, +dessen Unabhngigkeit diese Vertrge garantierten?”</p> + +<p>Vogt hatte in seiner Manier berall noch +einen Extratrumpf aufgesetzt. Phrasen wie „die +einzige Regierung”, „in frecher Weise”, „frevelnde +Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am +Schlu des obenzitierten Satzes pathetisch die +„politische Nemesis” gegen sterreich anruft.</p> + +<p>Lassalle hatte, als er seine Broschre schrieb, +das Vogtsche Machwerk noch nicht zu Gesicht +bekommen, aber da seine Schrift durch die von +Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanle +in die Presse des In- und Auslandes lancierten +Schlagworte beeinflut war, das unterliegt nach<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> +diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe +hnlicher an die Seite gesetzt werden knnen, +gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen +Bismarckanbeter sich spter darauf beriefen, da +die Politik ihres Heros sogar die Sanktion Lassalles +erhalten habe, so bersahen sie dabei nur die +eine Tatsache, da das von Lassalle der preuischen +Regierung vorgehaltene Programm, wie +immer es von Lassalle selbst gemeint war, in den +entscheidenden Punkten dem Programm glich, das +Bonaparte zu jener Zeit den deutschen Patrioten +vorsetzen lie, um sie fr seine damalige Politik +zu gewinnen. Alle die Ausfhrungen Lassalles in +dieser Schrift, die spter von brgerlichen Schriftstellern +als ungewhnliche Vorhersagungen bezeichnet +worden sind, finden sich auch in Vogts +„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen +gespeisten Pamphleten. Gerade Vogt wute z. B. +schon im Jahre 1859, also noch vor der preuischen +Heeresreform, da, wenn Preuen einen +deutschen Brgerkrieg fr die Herstellung einer +einheitlichen deutschen Zentralgewalt ins Werk +setzen wrde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen +kosten wrde, als der italienische Feldzug Monate.” +(„Studien” S. 155.) Des weiteren wute +Vogt, da das Berliner Kabinett sterreich im +Stich lassen werde, es mute nach ihm „dem Kurzsichtigsten” +klar geworden sein, da ein Einverstndnis +zwischen Preuens Regierung und der +kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; da +Preuen nicht zur Verteidigung der auerdeutschen<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> +Provinzen sterreichs zum Schwerte +greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner +Bundesglieder fr sterreich verhindern +wird, um ... seinen Lohn fr diese Anstrengungen +in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. +(„Studien” S. 19.) Mehr Vorhersagungen kann +man wirklich von einem Propheten nicht verlangen.</p> + +<p>Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur +Ausfhrung gekommen. Bismarck, der dazu bereit +gewesen wre, war dem Prinzregenten von +Preuen noch zu sehr Strmer, um ihm als +Minister des Auswrtigen genehm zu sein. Der +nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken +zurck, sterreich rundheraus die Bundeshilfe +zu versagen. Er stellte seine Bedingungen, +und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt +er seine Truppen zurck. So „drauf und dran” +sterreich zu helfen, wie Lassalle eine Zeitlang +annahm, war auch er nicht.</p> + +<p>„Meine Broschre ‚Der italienische Krieg und +die Aufgabe Preuens’” — schreibt Lassalle +unterm 27. Mai 1859 an Marx und Engels — „wird +Euch zugekommen sein. Ich wei nicht, ob Ihr +dort hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens +durch diese annhernd von der Stimmung +hier unterrichtet gewesen zu sein. Absolute Franzosenfresserei, +Franzosenha (Napoleon nur Vorwand, +die revolutionre Entwicklung Frankreichs +der wirkliche geheime Grund), das ist das Horn, +in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die +Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend,<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span> +ins Herz der untersten Volksklassen +und der demokratischen Kreise zu gieen suchen, +und leider mit Erfolg genug. So ntzlich ein gegen +den Willen des Volkes von der Regierung unternommener +Krieg gegen Frankreich fr unsere +revolutionre Entwicklung sein wrde, so schdlich +mte ein von verblendeter Volkspopularitt +getragener Krieg auf unsre demokratische Entwicklung +einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner +Broschre in dieser Hinsicht exponierten Grnden +kommt dazu, da man schon jetzt den Ri, der +uns von unsern Regierungen trennt, ganz und gar +zuwachsen lt. Solchem drohenden Unheil fand +ich fr Pflicht, mich entgegenzuwerfen ... Natrlich +gebe ich mich keinen Augenblick der Tuschung +hin, als knnte und wrde die Regierung den +sub III eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... +Aber eben um so mehr fhlte ich mich +gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade +weil er sofort in einen Vorwurf umschlgt. Er +kann wie ein Eisblock wirken, an dem sich die +Wogen dieser falschen Popularitt zu brechen +anfangen.”</p> + +<p>Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner +Schrift mehr darauf an, die revolutionre als die +nationale Bewegung zu frdern, die letztere der +ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich +war berechtigt, die Frage war eben nur, ob das +Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale +Bewegung, ber deren zeitweilige Berechtigung +zwischen Lassalle einerseits und Marx und Engels<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> +andererseits durchaus keine Meinungsverschiedenheit +bestand, in falsche Bahnen lenken mute. +Marx und Engels behaupteten das. Nach ihrer +Ansicht kam es zunchst darauf an, den gegen +Deutschland als Ganzes gefhrten Streich durch +eine gemeinsame Aktion aller Deutschen zurckzuschlagen, +und nicht in dem Moment, wo ein +solcher Schlag gefhrt wurde, eine Politik selbst +nur scheinbar zu untersttzen, die zur Zerreiung +Deutschlands fhren mute. Die Meinungsverschiedenheit +zwischen ihnen und Lassalle in +dieser Frage beruht im wesentlichen darauf, da +sie sie mehr in ihrem weiteren historischen und +internationalen Zusammenhang betrachteten, whrend +Lassalle sich mehr durch die Rcksicht auf +die augenblicklichen Verhltnisse in der inneren +Politik leiten lie. Daher beging er auch die +Inkonsequenz, whrend er in bezug auf Frankreich +streng zwischen Volk und Regierung unterschied, +sterreich und das Haus Habsburg ohne +weiteres zu identifizieren und die „Zertrmmerung +sterreichs” zu proklamieren, wo es sich +zunchst doch nur um die Zertrmmerung des +habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. +In einem seiner Briefe an Rodbertus knpft er +an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:</p> + +<blockquote> + +<p>„Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, +wo — die trkische Erbschaft an Deutschland +gefallen sein wird und deutsche Soldaten oder +Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen”</p></blockquote> + +<p>und sagt:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span></p> + +<p>„Es hat mich zu eigentmlich berhrt, als ich +in Ihrem letzten Schreiben diese Worte las! Denn +wie oft habe ich nicht gerade diese Ansicht meinen +besten Freunden gegenber vergeblich vertreten +und mich dafr von ihnen einen Trumer nennen +lassen mssen! Die ganze Verschiebung der seit +1839 so oft in Angriff genommenen orientalischen +Frage hat fr mich immer nur den vernnftigen +Sinn und Zusammenhang gehabt, da die Frage +so lange hinausgeschoben werden mu, bis der +naturgeme Anwrter, die deutsche Revolution, +sie lst! Wir scheinen im Geist als siamesische +Zwillingsbrder zur Welt gekommen zu sein.” +(Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus-Jagetzow, +herausgegeben von Ad. Wagner, Brief +vom 8. Mai 1863.)</p> + +<p>Wie Deutschland die trkische Erbschaft antreten +sollte, nachdem vorher sterreich „zerfetzt, +zerstckt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn +und die slawischen Landesteile von Deutsch-sterreich +losgerissen worden, ist schwer verstndlich.</p> + +<p>Noch eine andere Stelle aus den Briefen an +Rodbertus gehrt hierher:</p> + +<p>„Wenn ich etwas in meinem Leben gehat habe, +ist es die kleindeutsche Partei. Alles Kleindeutsche +ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem +‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und +reine Feigheit. Vor 1½ Jahren hielt ich hier einmal +bei mir eine Versammlung meiner Freunde<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span> +ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir +mssen alle wollen: Grodeutschland moins les +dynasties.”</p> + +<p>„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, +das der kleindeutschen Partei zugute +kme, betrachte sie als das Produkt der bloen +Furcht vor: Ernst, Krieg, Revolution, Republik +und als ein gutes Stck Nationalverrat.” (Brief +vom 2. Mai 1863.)</p> + +<p>Es ist klar, da, wenn es Lassalle mit dem +nationalen Programm, wie er es in „Der Italienische +Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen +wre, er unmglich die obigen Stze htte schreiben +knnen, denn jenes ist ganz gewi kleindeutsch. +Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm fr seine +viel weitergehenden politischen Zwecke, fr die +Herbeifhrung der Revolution, die die nationale +Frage im grodeutschen Sinne lsen sollte, zweckmig +erschien. In den, auf sein Schreiben vom +27. Mai 1859 folgenden Briefen an Marx und +Engels spricht er sich immer bestimmter in diesem +Sinne aus. Da die meist sehr ausfhrlichen Briefe +nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen +sind, so knnen wir uns hier auf einige +Auszge und kurze Zusammenfassungen beschrnken.</p> + +<p>Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen +Briefe sind sehr oft ohne Datum, so da dieses +aus dem Inhalt kombiniert werden mute) schreibt +Lassalle an Marx: „Nur in dem populren Kriege<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> +gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglck. In +dem bei der Nation unpopulren Kriege aber ein +immenses Glck fr die Revolution ... Die Aufgabe +verteilt sich also so, da unsere Regierungen +den Krieg machen mssen (und sie werden dies +tun) und wir ihn unpopularisieren mssen ... Ihr +scheint dort, zehn Jahre fern von hier, wirklich +noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig entmonarchisiert +unser Volk ist. Ich habe es auch +erst in Berlin mit Leidwesen gesehen ... Kme +nun noch hinzu, da dem Volk die berzeugung +beigebracht wird<a name="FNAnker_6_6" id="FNAnker_6_6"></a><a href="#Fussnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a>, die Regierung fhre diesen +Krieg als einen nationalen, sie habe sich zu einer +nationalen Tat erhoben, so solltet Ihr sehen, wie +vollstndig die Vershnung wrde und wie, gerade +bei Unglcksfllen, das Band der ‚deutschen +Treue’ das Volk an seine Regierungen binden +wrde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist +offenbar etwa folgendes:</p> + +<p>„1. da der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, +wie gesagt, unsere Regierungen schon von +selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter +Quelle zukommen, besagen, da der Prinz drauf +und dran sei, fr sterreich einzutreten.”</p> + +<p>Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt +zutreffend.</p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span></p> +<p>„2. da er schlecht gefhrt wird. (Dies werden +unsere Regierungen gleichfalls von selbst besorgen, +und um so mehr, je weniger das Volksinteresse +fr den Sieg sie untersttzt.)</p> + +<p>„3. da das Volk der berzeugung sei, der +Krieg werde im volksfeindlichen, im dynastischen, +im kontrerevolutionren Sinne, also gegen seine +Interessen, unternommen. — Dies allein knnen +wir besorgen, und dies zu besorgen ist daher +unsere Pflicht.”</p> + +<p>Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen +Zweck es haben knne, „einen populren Krieg +gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”. +Auch hier aber sind es lediglich zwei Rcksichten, +die er als magebend anerkennt: 1. die Rckwirkung +auf die Aussichten der revolutionren +Parteien hben und drben, und 2. die Rckwirkung +auf die Beziehungen der deutschen Demokratie +zur franzsischen und italienischen Demokratie. +Die Frage der Interessen Deutschlands +als Nation berhrt er gar nicht. Auf den Vorhalt, +da er dieselbe Politik empfehle wie Vogt, der +im franzsischen Solde schreibe, antwortet er: +„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, +die ich habe, ad absurdum fhren? Dann knnte +ich Dir das Kompliment zurckgeben, da Du +das Unglck hast, diesmal mit Venedey und +Waldeck einer Meinung zu sein.” Alsdann rhmt +er sich, da seine Broschre „immens” gewirkt +habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” +htten zum Rckzug geblasen, die letztere „in<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> +einer Serie von sechs Leitartikeln eine vollstndige +Schwenkung gemacht”. Da Lassalle gar nicht +darauf kam, sich zu fragen, warum denn diese +Organe kleindeutscher Richtung sich so schnell +bekehren lieen!</p> + +<p>In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 — +nach Villafranca — heit es: „Es ist ganz selbstredend, +da zwischen uns nicht das Prinzip, sondern, +wie Du sagst und wie ich es nie anders +auffate, die ‚passendste Politik’ ... streitig war.” +Und um wieder keinen Zweifel darber zu lassen, +wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h. +also doch die zur revolutionren Entwicklung +passendste Politik.”</p> + +<p>Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung +von Miverstndnissen mu ich bemerken, +da ich brigens auch im vorigen Jahre, +als ich meine Broschre schrieb, sehnlichst +wnschte, da Preuen den Krieg gegen Napoleon +mache. Aber ich wnschte ihn nur unter der Bedingung, +da die Regierung ihn mache, er aber +beim Volke so unpopulr und verhat wie mglich +sei. Dann freilich wre er ein groes Glck +gewesen. Aber dann mute die Demokratie gegen, +nicht fr diesen Krieg schreiben und propagieren +... Fr die gegenwrtige Lage sind wir +wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl +ebensosehr fr die zuknftige.”</p> + +<p>In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf +die damals gerade eingebrachte Militrreorganisations-Vorlage +zu sprechen, die bekanntlich spter<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span> +zum Konflikt zwischen der Regierung und der +liberalen Bourgeoisie fhrte. Die Mobilmachung +1859 hatte die preuische Regierung berzeugt, +wie wenig schlagfertig die preuische Armee noch +war und da durchgreifende nderungen notwendig +waren, um sie in den Stand zu setzen, sei +es nun gegen Frankreich oder sterreich, mit +einiger Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rcken. +Wer es also mit „Preuens deutschem Beruf” +ernst nahm, der mute auch in die Heeresreorganisation +einwilligen oder mindestens objektiv ihre +Berechtigung anerkennen, was ja auch die Fortschrittler +anfangs taten. Hren wir nun Lassalle: +„Das Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung — +vllige, nur verkappte — der Landwehr als letzten +demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schpfung +eines immensen Machtmittels fr Absolutismus +und Junkertum ist in zwei Worten der evidente +Zweck desselben. Nie wrde Manteuffel gewagt +haben, so etwas vorzuschlagen! Nie htte er es +durchgesetzt. Wer jetzt in Berlin lebt und nicht +am Liberalismus stirbt, der wird nie am rger +sterben!”</p> + +<p>Schlielich sei noch eine Stelle aus einem Briefe +Lassalles an Marx aus Aachen vom 11. September +1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem Briefe +an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs +hingewiesen, in der ausgefhrt worden war, da, +wenn Preuen sterreich gegen Frankreich zu +Hilfe kme, Ruland seinerseits fr Frankreich +<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> +intervenieren, d. h. Preuen <em class="gesperrt">und</em> sterreich den +Krieg erklren wrde. Diese Note sei, hatte Marx +ausgefhrt, erstens ein Beweis, da es sich um +einen Anschlag gehandelt habe, bei dem die Befreiung +Italiens nur Vorwand, die Schwchung +Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und +sie sei zweitens eine unverschmte Einmischung +Rulands in deutsche Angelegenheiten, die nicht +geduldet werden drfe. Darauf erwidert nun +Lassalle, er knne in der Note eine Beleidigung +nicht erblicken, aber selbst wenn eine solche darin +enthalten sei, so treffe sie ja doch nur „die deutschen +Regierungen”. „Denn, diable! was geht +Dich und mich die Machtstellung des Prinzen von +Preuen an? Da alle seine Tendenzen und Interessen +gegen die Tendenzen und Interessen des +deutschen Volkes gerichtet sind, so liegt es vielmehr +gerade im Interesse des deutschen Volkes, +wenn die Machtstellung des Prinzen nach auen +so gering wie mglich ist.” Man msse sich also +eher solcher Demtigungen freuen und sie hchstens +in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, +wie es die Franzosen unter Louis Philipp getan +htten.</p> + +<p>Man kann sich wohl nicht „hochverrterischer” +ausdrcken, als es hier berall geschieht, und diejenigen, +die ehedem Lassalle als das Muster eines +guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses +Wortes der Sozialdemokratie von heute gegenberstellten, +haben nach Verffentlichung der Lassalleschen +Briefe an Marx und Engels einfach einpacken +mssen. Die Motive, die Lassalle bei der<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span> +Abfassung des „Italienischen Krieges” leiteten, +sind alles andere, nur nicht eine Anerkennung der +nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, +da hier, wie es in den meisten brgerlichen +Biographien heit, bei Lassalle der Parteimann +hinter den Patrioten zurcktritt, kann man im +Gegenteil eher sagen, da der Parteimann, der +republikanische Revolutionr, den Patrioten zurckdrngt.</p> + +<p>Man knnte freilich mit einem gewissen Schein +von Recht die Frage aufwerfen: „Ja, wenn der +Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an +Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, +den er in der Broschre vertritt, wer garantiert +dann, da der erstere der wirklich von Lassalle +im Innersten seines Herzens eingenommene ist? +Kann Lassalle nicht, da er doch das eine Mal +sein wahres Gesicht verhllt, dies Marx gegenber +getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen +aber so viele Grnde, da es kaum der Mhe +lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der wichtigste +ist der, da der Widerspruch zwischen Broschre +und Briefen schlielich doch nur ein scheinbarer +ist. Wo Lassalle in der Broschre etwas sagt, +was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten +Ideen deckt, da spricht er immer nur +hypothetisch mit einem groen „Wenn”, und diesem +Wenn stellt er am Schlu ein „Wenn aber +nicht, dann” gegenber, und formuliert dieses +„Dann” so: „So wird damit nur aber und aber +bewiesen sein, da die Monarchie in Deutschland<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> +einer nationalen Tat nicht mehr fhig ist.” Die +positiven Behauptungen in der Broschre hlt er +aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint +es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt +der Broschre ausmachenden Darlegung, da die +Demokratie — worunter er die Gesamtheit der +entschiedenen Oppositionsparteien verstand — +den Krieg gegen Frankreich nicht gutheien drfe, +weil sie sich dadurch mit den Unterdrckern Italiens +identifiziere, und es war ihm ferner durchaus +ernst mit dem Wunsche der Zertrmmerung sterreichs. +Bis soweit ist denn auch die Broschre, +ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt +fr richtig hlt oder nicht, als subjektive Meinungsuerung +vollkommen berechtigt.</p> + +<p>Anders mit dem Schlukapitel. Dort treibt +Lassalle eine Diplomatie, die gerade er in seinem +Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich +bekmpft hatte. Auch der demokratische +Politiker braucht nicht in jedem Zeitpunkt seine +letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht +ihm nicht an und bringt ihn in eine falsche Lage, +wenn er fr eine Politik eintritt, von der er nicht +auch will, da sie befolgt werde. Das jedoch tut +Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift +mute glauben, er wnsche nichts sehnlicher, als +da die preuische Regierung die darin von ihm +entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich +darauf berufen, da er sicher war, die preuische +Regierung werde diese Politik nicht befolgen. Damit +war aber das Doppelspiel sicherlich nicht gerechtfertigt.<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span> +Das Advokatenstck, eine Sache nur +deshalb zu empfehlen, weil man zu wissen glaubt, +da sie doch nicht geschieht, ist ein durchaus +falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen +Anhnger irrezufhren, was ja spter auch +in diesem Falle eingetreten ist. Das Beispiel, auf +das Lassalle sich fr seine Taktik beruft, ist das +denkbar unglcklichste. Die Art, wie die republikanische +Opposition in Frankreich unter Louis +Philipp, die Herren vom „National”, auswrtige +Politik machten, ebnete spter dem Mrder der +Republik, dem Bonapartismus, die Bahn. Wie die +„reinen Republikaner” die napoleonische Legende +gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die +friderizianische Legende gegen die damalige +preuische Regierung ausspielen zu knnen. Aber +die friderizianische Tradition, wenigstens soweit +sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der +preuischen Regierung aufgegeben, und statt gegen +die Hauspolitik der Hohenzollern, machte Lassalle +Propaganda fr sie.</p> + +<p>Wie diese spter, sobald Preuen sich dazu +militrisch stark genug fhlte, energisch aufgenommen +wurde, wie sie zunchst zum Brgerkrieg +zwischen Nord- und Sddeutschland fhrte, wie +sterreich glcklich aus dem deutschen Bund herausgedrngt +und die „Einigung” Rumpf-Deutschlands +alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, +aber diese Realisierung des im „Italienischen +Krieg” entwickelten Programms verhlt +sich zu der Lsung, die Lassalle vorschwebte,<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> +wie in der Lessingschen Fabel das Kamel zum +Pferd<a name="FNAnker_7_7" id="FNAnker_7_7"></a><a href="#Fussnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a>.</p> + +<p>[Wohin hat uns die preuische Lsung der deutschen +Frage gebracht? sterreichs Verdrngung +aus dem deutschen Bund hat die panslawistische +Propaganda im hchsten Grade gefrdert, die +sterreichische Regierung mu heute den Slawen +eine Konzession nach der andern machen, und +diese traten infolgedessen mit immer greren +Ansprchen auf. Wo sie frher mit Anerkennung +ihrer Sprache und Nationalitt zufrieden gewesen +wren, wollen sie heute herrschen und unterdrcken; +in Prag, heute eine tschechische Stadt, +fraternisierten Tschechen und franzsische Chauvinisten<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span> +und toastierten auf den Kampf wider das +Deutschtum. Die Angliederung der deutschen +Landesteile sterreichs an Deutschland wird +frher oder spter freilich doch erfolgen, aber +unter zehnfach ungnstigeren Verhltnissen als +vor der glorreichen Herauswerfung sterreichs +aus dem deutschen Bunde. Vorlufig mu das +Deutsche Reich ruhig zusehen, wie in jenen +Landesteilen die Slawisierung immer weiter um +sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung +Deutschlands hat Ruland so stark gemacht, +da die deutsche Politik wieder das grte Interesse +an der Erhaltung selbst dieses sterreichs +hatte. Etwas ist immer noch besser als gar nichts. +Und freilich, solange in Ruland der Zarismus +mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht,<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span> +so lange mag das heutige sterreich als Staat +noch eine Berechtigung haben.]</p> + +<p>Lassalle wollte natrlich ganz etwas anderes +als die bloe Herausdrngung sterreichs aus +dem Reiche. Er wollte die Zertrmmerung, die +Vernichtung sterreichs, dessen deutsche Lnder +einen integrierenden Teil der einen und unteilbaren +deutschen Republik bilden sollten. Aber um +so weniger durfte er auch nur zum Schein ein +Programm aufstellen, dessen unmittelbare Folge +der Brgerkrieg in Deutschland sein mute, ein +Krieg von Norddeutschland gegen Sddeutschland, +dessen Bevlkerung 1859 ganz entschieden auf +seiten sterreichs stand. Nur Lassalles starke +Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle +auer ihm liegenden Rcksichten zu opfern, erklrt +dieses Zurckgreifen auf eine Diplomatie, +die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs +schrfste verurteilt hatte.</p> + +<p>Hinzu kam bei Abfassung der Broschre der +leidenschaftliche Drang, in die aktuelle Politik +einzugreifen. Er spricht sich immer und immer +wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um +jene Zeit die Beteiligung an irgendeiner Sache mit +dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen Arbeiten, +die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht +es mit dem Vorbehalt: Aber wenn sich eine Mglichkeit +bietet, unmittelbar auf die revolutionre +Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch +die Wissenschaft liegen. So hatte er auch am +21. Mrz 1859 an Fr. Engels geschrieben:</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p> + +<p>„Vielmehr werde ich beim nationalkonomischen +und geschichtsphilosophischen Fache — ich meine +Geschichte im Sinne von sozialer Kulturentwicklung +— von nun an wohl verbleiben, wenn nicht, +was freilich sehr zu hoffen wre, der endliche +Beginn praktischer Bewegungen alle grere +theoretische Ttigkeit sistiert.”</p> + +<p>„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was +ich etwa wei, wenn es dafr gelingt, einiges von +dem zu tun, was wir (Partei-Plural) knnen.”</p> + +<p>Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, +sollte Lassalle ins monarchistisch-kleindeutsche +Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine Diplomatie +war falsch, aber seine Absicht war die alte +geblieben: die Revolution fr die eine und unteilbare +deutsche Republik. Sie ist gemeint, wenn +er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt: +Flectere si nequeo superos acheronta movebo +— wenn ich die Gtter — die Regierung — +nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” +— das Volk — in Bewegung setzen.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p>Die nchste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen +Krieg usw.” folgen lie, war ein Beitrag +fr eine Zeitschrift in Buchform, die der +demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode +unter dem Titel „Demokratische Studien” im +Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der spter +als Broschre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span> +politisches Vermchtnis und die neueste Gegenwart.” +Man knnte ihn als ein Nachwort zu „Der +italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem +Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhllen +fr gut befunden. Das „politische Vermchtnis” +Fichtes ist, wie Lassalle unter Vorfhrung +eines im Fichteschen Nachla vorgefundenen Entwurfs +zu einer politischen Abhandlung darlegt, der +Gedanke der Einheit Deutschlands als unitarische +Republik. Anders sei die Verwirklichung der Einheit +Deutschlands berhaupt nicht mglich. Bei +einer Eroberung Deutschlands durch irgendeinen +der bestehenden deutschen Staaten wrde „nicht +Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen +Stmme durch die gewaltsame Aufdrngung des +spezifischen Hausgeistes unter die Besonderheit +desselben gebracht, preuifiziert, verbayert, versterreichert!” +... „Und indem so auch noch diejenige +Ausgleichung fortfiele, welche jetzt noch +in dem Dasein der verschiedenen Besonderheiten +liegt,” schreibt er, „wrde gerade dadurch das +deutsche Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel +aufgehoben.”</p> + +<p>„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen +Hausgeiste, sondern mit freiem Aufgehen +desselben in den nationalen Geist und seine +Zwecke, wre freilich ein ganz anderes! Aber +die Idealitt dieser Entschlieung ist es geradezu +tricht von Mnnern zu verlangen” — es ist von +den deutschen Frsten, speziell vom Knig von +Preuen, die Rede — „deren geistige Persnlichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span> +doch wie die aller anderen ein bestimmtes +Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, +Neigung und Geschichte ist und die dies daher +ebensowenig leisten knnen, als es einer von uns +anderen leisten wrde, wenn seine Bildung und +Erziehung ausschlielich durch dieselben Faktoren +bestimmt worden wre.”</p> + +<p>Dies sind die letzten eigenen Ausfhrungen +Lassalles in dem Aufsatze. Es folgen dann nur +noch Darlegungen Fichtes, da und warum die +Einheit Deutschlands nur mglich sei auf Grundlage +der „ausgebildeten persnlichen Freiheit”, +und da gerade deshalb die Deutschen „im ewigen +Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes +Reich des Rechts” darzustellen, ein Reich der +„Freiheit, gegrndet auf Gleichheit alles dessen, +was Menschenantlitz trgt”. Und „ferne sei es +von uns, die unerreichbare Gewalt dieser Worte +durch irgendwelche Hinzufgungen abschwchen +zu wollen,” schliet Lassalle. Dann, zum Verleger +gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, +auch Ihrem Wunsche” — einen Artikel ber eine +„brennende Tagesfrage” zu schreiben — „nicht +buchstblich entsprochen, so ist doch, denke ich, +Ihr Zweck erfllt — wie der meinige.”</p> + +<p>Welches aber war Lassalles Zweck bei der +Verffentlichung des Aufsatzes, der das Datum: +Januar 1860, trgt? Auch darber gibt ein Brief +an Marx uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 +legt Lassalle diesem dar, warum er, obwohl +seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines groen<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span> +Werkes in Anspruch genommen sei, Walesrodes +Einladung angenommen habe. Erstens habe er +in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, +der mutvoll und tapfer, wie auch seine verdienstliche +Broschre „Politische Totenschau” zeige, +wohl verdiene, da man etwas fr ihn tue. Dann +aber heit es weiter:</p> + +<p>„Endlich konnte das Taschenbuch doch vielleicht +einigen entwickelnden Einflu auf unsere +deutschen Philister ausben, und schlug ich aus, +so kam der Auftrag jedenfalls an einen weit +weniger entschiedenen, ja ganz unbedingt an einen +mit monarchischem oder hnlichem Demokratismus +oder klein-deutschen Ideen Liebugelnden, +whrend mir der Auftrag die Mglichkeit bot, +wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf +ertnen zu lassen und so im Namen unserer +Partei von einem Buche Besitz zu ergreifen, +welches, wie ich mir vorstelle, nach seinem sonstigen +Inhalt, obgleich ich weder ber diesen noch +seine Mitarbeiter Nheres wei, schwerlich zur +Verbreitung unserer Ideen und des Einflusses +unserer Partei beigetragen htte.</p> + +<p>„So schreiben-wollend und nicht wollend entstand +ein Artikel, von dem ich mir, speziell um +ihn Dir zu berschicken, einen besonderen Abzug +kommen lie. (Das Buch erscheint erst zur +Oktobermesse.) Ich schicke ihn gleichzeitig mit +diesem Brief, bitte Dich, ihn zu lesen und dann +an Engels zu senden und endlich mir zu schreiben, +ob er Dir gefallen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p> + +<p>„Ich glaube, da er mitten in diesem widrigen +gothaischen Gesumme doch immerhin den erfrischenden +Eindruck macht, da hinter den Bergen +auch noch Leute, da eine republikanische Partei +noch lebt, den Eindruck eines Trompetenstoes.”</p> + +<p>Das Werk, an dessen Fertigstellung F. Lassalle +damals arbeitete, war das „System der erworbenen +Rechte”. Drollig und doch wieder fr jeden, +der sich mit greren Arbeiten beschftigt, ungemein +verstndlich klingt die Klage Lassalles, +die Arbeit ziehe sich so lange hin, da er „bereits +einen intensiven Ha gegen sie bekommen habe”. +Aber das „verm— Werk”, wie er es an einer +anderen Stelle in demselben Briefe nennt, sollte +auch in den drei Monaten, die er sich nun als +Termin stellt, noch nicht fertig werden.</p> + +<p>Lassalle litt im Jahre 1860 wieder stark an Anfllen +jener chronischen Krankheit, von der er +bereits in der Dsseldorfer Assisenrede spricht, +und die ihn periodisch immer wieder heimsuchte. +„Ich war und bin noch recht krank”, fngt ein +Brief an, der Ende Januar 1860 geschrieben sein +mu, „ich war von neuem krank und schlimmer +als frher”, beginnt der obenzitierte Brief. „Habe +ich mich in der letzten Zeit berarbeitet oder rcht +sich nun zu lange Vernachlssigung”, heit es +weiter, „kurz, es scheint als ob meine Gesundheit +aufgehrt habe, der unverwstliche Fels zu sein, +auf den ich sonst so zuversichtlich pochen konnte.” +Um sich grndlich zu heilen, ging Lassalle im +Sommer desselben Jahres nach Aachen. Dort<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span> +machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin, +Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls +einer Kur bedrftig war, nach Aachen begleitet +hatte, und diese Dame nahm Lassalle so +fr sich ein, da er ihr noch in Aachen einen +Heiratsantrag machte, den aber Frulein von +Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte.</p> + +<p>Es sind ber diese Episode aus dem bewegten +Leben Lassalles fast nur die Aufzeichnungen bekannt +geworden, die das damalige Frulein von +Sontzew, spter die Gattin eines Gutsbesitzers in +Sdruland, im Jahre 1877 in der Petersburger +Revue „Der Europische Bote” verffentlicht hat, +und von denen eine bersetzung ins Deutsche ein +Jahr darauf im Verlage von F. A. Brockhaus in +Leipzig erschien<a name="FNAnker_8_8" id="FNAnker_8_8"></a><a href="#Fussnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a>. Die eigentliche Liebesaffre +ist nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein +korrekt zu. Sophie von Sontzew schreibt, +da Lassalle zwar einen groen Eindruck auf +sie gemacht, da sie auch vorbergehend geglaubt +habe, ihn lieben zu knnen, es seien aber stets +sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie +sich schlielich darber klar geworden sei, da +eine Liebe, die zweifelt, keine Liebe sei — vor +allem keine Liebe, wie Lassalle sie unter Hinweis +auf die Kmpfe beanspruchte, die die Zukunft +ihm bringen werde. Vielleicht, da auch die Aussicht<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> +gerade auf diese Kmpfe die junge Dame +mehr schreckte, als sie zugesteht — Tagebuchgestndnisse +und Memoiren sagen bekanntlich nie +die volle Wahrheit. Auf der andern Seite scheint +uns die Auffassung, die es dem damaligen Frulein +von Sontzew beinahe als ein Verbrechen anrechnet, +von Lassalle geliebt worden zu sein, ohne +seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. +Die Dame hatte ein unbestrittenes Recht, ihr +Herz nicht zu verschenken, auch wute Lassalle +sich, so strmisch seine Werbungen gewesen, ber +den Mierfolg bald zu trsten.</p> + +<p>Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffre +sind die aus Anla dieser geschriebenen +Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor +allem der schon frher erwhnte, als „Seelenbeichte” +bezeichnete, mehr als 35 Druckseiten +ausfllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines der +interessantesten Dokumente fr die Charakteristik +Lassalles. Sehen wir in dessen erstem Tagebuch +den zum Jngling heranreifenden Knaben, so +sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jngling +sein Ich blolegen. Freilich gilt auch in diesem +Falle das oben von solchen Bekenntnissen +Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzge +Lassalles ist seine — man knnte fast +sagen, unbewute Wahrhaftigkeit. Lassalle war, +wie schon seine bestndige Neigung, ins Pathetische +zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte +Natur. Er schauspielerte gern ein wenig +und war viel zu sehr Gesellschaftsmensch, um<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span> +darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die +Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, +seine Gedanken zu verbergen. Aber es +war ihm doch nicht mglich, sich als Mensch +anders zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen +und Leidenschaften waren viel zu stark, +als da sie sich nicht berall verraten htten, seine +Persnlichkeit viel zu ausgeprgt, um nicht durch +jedes Gewand, in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. +So schaut auch aus dem Bilde, +das Lassalle fr Sophie von Sontzew von sich +entwirft, obwohl es eine Schilderung gibt, wie er +dem jungen Mdchen erscheinen wollte, der richtige +Lassalle heraus, mit seinen Vorzgen und +seinen Fehlern.</p> + +<p>Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges +Selbstvertrauen und seine Einbildungskraft +zum Ausdruck. Es wurde schon erzhlt, +wie er in diesem Manuskript sich im Glanze seines +zuknftigen Ruhmes sonnt, sich als der Fhrer +einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch +gar nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie +ihn frchten und hassen lt, wo zur Furcht +und zum Ha damals jeder Anla fehlte. Ebenso +bertreibt er seine schon erzielten Triumphe. +„Nichts, Sophie,” schreibt er ber den Erfolg +der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur annhernd +eine Vorstellung von dem elektrischen +Eindruck geben, den ich hervorbrachte. Die ganze +Stadt, die Bevlkerung der ganzen Provinz +schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> +... alle Klassen, die ganze Bourgeoisie +war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag verschafft +mir in der Rheinprovinz den Ruf eines +Redners ohnegleichen und eines Mannes von unbegrenzter +Energie, und die Zeitungen trugen +diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit +diesem Tage erkannte mich die demokratische +Partei in der Rheinprovinz als ihren Hauptfhrer +an.” Dann schreibt er vom Dsseldorfer Proze, +da er aus diesem „mit nicht weniger Glanz” +hervorging. „Ich werde Ihnen meine Rede aus +diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt +ist; sie wird Sie amsieren.” Da er die +Rede gar nicht gehalten hat, schreibt er nicht.</p> + +<p>Neben diesen Zgen einer wahrhaft kindlichen +oder kindischen Eitelkeit fehlen aber auch nicht +solche eines berechtigten, weil auf Grundstzen, +statt auf ueren Ehren, beruhenden Stolzes, und +durch den ganzen Brief hindurch klingt der Ton +einer echten berzeugung. Selbst wenn Lassalle +von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt +„gewisser Ereignisse” — der erwarteten Revolution +— das Leben seiner zuknftigen Frau ausstatten +wrde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht +wahr, Sophie, mit so groen Dingen, die das +Ziel der Anstrengungen des ganzen Menschengeschlechts +bilden, darf man nicht eine bloe +Spekulation auf individuelles Glck machen?” — +und bemerkt weiter: „Deshalb darf man in keiner +Weise darauf rechnen.”</p> + +<p>Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte”<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span> +Lassalles von Interesse. Er spricht sich +darin sehr ausfhrlich ber sein Verhltnis zur +Grfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches +in bezug auf seine frheren Beziehungen zu dieser +Frau idealisiert sein, so ist doch soviel sicher, da +Lassalle keinen Grund hatte, einem Mdchen, um +das er gerade warb und das als Gattin heimzufhren +er so groe Anstrengungen machte, seine +derzeitigen Empfindungen fr die Grfin, soweit +sie ber die der Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, +strker zu schildern, als sie wirklich waren. +Tatschlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief +in Ausdrcken geradezu leidenschaftlicher Zrtlichkeit +fr die Grfin. Er liebe sie „mit der +zrtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert +hat”, noch „dreimal mehr wie seine zrtlich geliebte +Mutter”. Er verlangt von Sophie, da sie, +wenn sie ihn zum Mann nehme, die Grfin „mit +der wahren Zrtlichkeit einer Tochter” liebe, und +hofft, obwohl die Grfin „auerordentlich zartfhlend” +sei und, ehe sie nicht wisse, ob Sophie +Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar +werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen +zu knnen, — um „alle drei glcklich und vereint +zu leben”<a name="FNAnker_9_9" id="FNAnker_9_9"></a><a href="#Fussnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a>.</p> + +<p>Daraus geht hervor, da diejenigen, die die +Sache so hinstellen, als habe sich die Grfin Hatzfeldt<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> +damals in Berlin und spter Lassalle einer +Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls malos +bertrieben haben. Die Hatzfeldt hatte ihre groen +Fehler und ihre Freundschaft ist Lassalle unseres +Erachtens nach mehreren Richtungen hin uerst +verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser +Ansicht sind, halten wir es fr unsere Pflicht, da, +wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem entgegenzutreten. +Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen +Schriftstellern dem bekannten Beckerschen +Pamphlet nachgeschriebene Behauptung, +Lassalle habe sich spter in die Dnniges-Affre +gestrzt, um die Hatzfeldt loszuwerden.</p> + +<p>Sophie Sontzew spricht sich brigens ber den +Eindruck, den die Grfin Hatzfeldt persnlich auf +sie gemacht habe, nur gnstig aus.</p> + +<p>Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus +der Zeit seines damaligen Aufenthalts in Aachen. +Natrlich ist in keinem von der Liebesaffre mit +der Sontzew die Rede. Nur einige Bemerkungen +in einem der Briefe ber die Verhltnisse am +russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle +schlieen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich +viel des Interessanten, und eine Stelle in +einem davon ist ganz besonders bemerkenswert, +weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, +wo er in Berlin noch mit den Fhrern der liberalen<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span> +Opposition auf bestem Fue stand, ber die damalige +liberale Presse und ber den von den +Liberalen in den Himmel gehobenen preuischen +Richterstand dachte. Da sie ebenso kurz wie +drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden.</p> + +<p>Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, +Zabel, der ihn, unter Benutzung des +gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der infamierendsten +Handlungen verdchtigt hatte, wegen +Verleumdung zur Rechenschaft ziehen wollen, war +aber in drei Instanzen, noch ehe es zum Proze +kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter +am Stadtgericht, am Kammergericht und am Obertribunal +in Berlin fanden nmlich, da wenn Zabel +alle diese Verleumdungen Vogts ber Marx +wiederholt und sie dabei noch bertrumpft hatte, +er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben +konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren +nun hatte Marx selbst in Preuen fr +unmglich gehalten, und er schrieb das auch an +Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang +an vom Proze abgeraten hatte, weil doch +auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:</p> + +<p>„Du schreibst, nun wtest Du, da es von +den Richtern abhngt bei uns, ob es ein Individuum +berhaupt nur bis zum Proze bringen +kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal +Unrecht getan, als ich in einem meiner Briefe +sagte, da Du zu schwarz siehst! Ich schlage +ganz reuig an meine Brust und nehme das gnzlich<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span> +zurck. Die preuische Justiz wenigstens +scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte +betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz +andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht, +noch ganz anders starke Beweise fr diesen Satz, +und noch ganz anders starke Flle berhaupt an +ihnen erlebt, und zwar zu dreimal drei Dutzenden +und in Straf- wie besonders sogar in reinen Zivilprozessen +... Uff! Ich mu die Erinnerung daran +gewaltsam unterdrcken. Denn wenn ich an diesen +zehnjhrigen tglichen Justizmord denke, den ich +erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor +den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom +ersticken wollte! Nun, ich habe das alles +lange bewltigt und niedergelebt, es ist Zeit genug +seitdem verflossen, um kalt darber zu werden, +aber nie wlbt sich meine Lippe zu einem Lcheln +tieferer Verachtung, als wenn ich von Richtern +und Recht bei uns sprechen hre. Galeerenstrflinge +scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhltnis +zu unsern Richtern zu sein.</p> + +<p>„Nun aber, Du wirst sie fassen dafr, schreibst +Du. ‚Jedenfalls,’ sagst Du, ‚liefern mir die +Preuen so ein Material in die Hand, dessen angenehme +Folgen in der Londoner Presse sie bald +merken sollen!’ Nein, lieber Freund, sie werden +gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, da +Du sie in der Londoner Presse darstellen und +vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts +davon, gar nichts, es wird sein, als wenn Du gar +nicht geschrieben httest. Denn englische Bltter<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span> +liest man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren +deutschen Zeitungen wird auch keine einzige davon +Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein armseliges +Wrtchen davon bringen. Sie werden sich +hten! Und unsere liberalen Bltter am allermeisten! +Wo werden denn diese Kalbskpfe ein +Wrtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den +‚preuischen Richterstand’ bringen, bei dessen +bloer Erwhnung sie vor Entzcken schnalzen — +sie sprechen schon das Wort nie anders als mit +zwei vollen Pausbacken aus — und vor Respekt +mit dem Kopf auf die Erde schlagen! O, gar +nichts werden sie davon bringen, es von der Donau +bis zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die +deutsche Zunge reicht’, ruhig totschweigen! Was +ist gegen diese Preverschwrung zu machen? O, +unsere Polizei ist, man sage was man will, noch +immer ein viel liberaleres Institut als unsere Presse! +Es ist — hilf Himmel! ich wei wirklich keinen +anderen Ausdruck fr sie — es ist die reine ......”</p> + +<p>Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu +burschikos, um es im Druck wiederzugeben, der +Leser mag es nach Belieben selbst ergnzen.</p> + +<p>Im Jahre 1861 verffentlichte Lassalle im +zweiten Band der Demokratischen Studien einen +kleinen Aufsatz ber Lessing, den er bereits +1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: +„Lessings Leben und Werke” geschrieben, und +lie endlich sein groes rechtsphilosophisches +Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span></p> + +<p>Der Aufsatz ber Lessing ist verhltnismig +unbedeutend. Er ist noch vorwiegend in althegelianischer +Sprache gehalten und lehnt sich +sachlich sehr stark an die Ausfhrungen an, die +Heine in „ber Deutschland” mit Bezug auf +Lessings Bedeutung fr die Literatur und das +ffentliche Leben in Deutschland abgibt. Wie +Heine feiert auch Lassalle Lessing als den zweiten +Luther Deutschlands, und wenn er am Schlu des +Aufsatzes unter Hinweis auf die groe hnlichkeit +der Situation des derzeitigen Deutschland mit +der zur Zeit Lessings ausruft: „hnliche Situationen +erzeugen hnliche Charaktere”, so mag ihm +da wohl Heines Ausspruch vorgeschwebt haben: +„Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da +vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing +fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland +so sehr bedarf — der dritte Befreier!” War es +doch sein hchstes Streben, selbst dieser dritte +Befreier zu werden. Wie im Hutten des „Franz +von Sickingen”, so spiegelt sich auch im Lessing +dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt +wider. Es fehlt selbst die Apotheose des Schwertes +nicht. „Allein wenn wir den Begriff Lessings +durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte +durchgefhrt haben, wie ist es mit der Politik?” +fragt Lassalle, und um denjenigen, die nach +Lessings Stellungnahme auf den vorerwhnten +Gebieten darber noch nicht im klaren seien, die +letzten Zweifel zu lsen, zitiert er aus den Lessingschen +Fragmenten zum „Spartakus” eine Stelle,<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span> +wo Spartakus auf die hhnende Frage des Konsuls: +„Ich hre, du philosophierst, Spartakus”, +zurckgibt:</p> + +<blockquote> + +<p>„Wo du nicht willst, da ich philosophieren +soll — Philosophieren, es macht mich lachen! — +Nun wohlan! Wir wollen fechten!”</p></blockquote> + +<p>Zwei Dezennien darauf sei in der franzsischen +Revolution diese Prophezeiung Lessings eingetroffen. +Und dieser Ausgang werde nach Stahr „wohl +auch das Ende vom Liede sein in dem Handel +zwischen dem Spartakus und dem Konsul der Zukunft”.</p> + +<hr class="chap" /> + + + +<h2><a name="Das_System_der_erworbenen_Rechte" id="Das_System_der_erworbenen_Rechte">Das System der erworbenen Rechte.</a></h2> + + +<p>Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles +wissenschaftliches Hauptwerk, ist zwar in erster +Linie nur fr den Rechtstheoretiker geschrieben, +doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den +praktischen Kmpfen der Gegenwart wesentlich +nher als die Materie des „Heraklit”, und wir +wollen daher versuchen, wenigstens die Hauptgedanken +dieser Arbeit darzustellen, von der +Lassalle mit Recht gelegentlich den Ausdruck gebrauchen +durfte, ein „Riesenwerk menschlichen +Fleies”. Darber herrscht bei Sachverstndigen +so ziemlich Einstimmigkeit, da das „System der +erworbenen Rechte” zugleich von der auerordentlichen +geistigen Schaffenskraft, wie dem groen +juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis +ablegt. Aus allen diesen Grnden wird man es<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span> +berechtigt finden, wenn wir uns bei diesem Buche +etwas lnger aufhalten.</p> + +<p>Es liegt auerhalb der Zustndigkeit des Schreibers +dieser Abhandlung, ein Urteil darber zu +fllen, welche positive Bereicherung die Rechtswissenschaft +dem „System der erworbenen Rechte” +verdankt. Das vermag nur der Kenner der gesamten +einschlgigen Literatur, der theoretisch +gebildete Jurist. Wir beschrnken uns hier darauf, +die Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich +mit seinem Buche stellt, die Art, wie er sie lst, +und den theoretischen Standpunkt, der seiner +Lsung zugrunde liegt.</p> + +<p>Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, +den das in zwei Teile zerfallende Gesamtwerk +trgt. „Eine Vershnung des positiven +Rechts und der Rechtsphilosophie.” Lassalle +fhrt in der Vorrede aus, da trotz Hegels Versuch, +eine Vershnung zwischen dem positiven +Recht und dem Naturrecht<a name="FNAnker_10_10" id="FNAnker_10_10"></a><a href="#Fussnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> herzustellen, die +Entfremdung zwischen positiven Juristen und +Rechtsphilosophen zurzeit grer sei, als sie selbst +vor Hegel gewesen. Die Schuld daran trgen aber +weniger die ersteren als die letzteren; statt in<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> +den Reichtum des positiven Rechtsmaterials einzudringen, +htten sie sich begngt, „im Himmel +ihrer allgemeinen Redensarten der groben Erde +des realen Rechtsstoffs so fern wie mglich zu +bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen +Richtung herrsche ein wahrer „horror pleni”, +ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran indes +Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermdlich +hervorgehoben habe, da die Philosophie nichts +so sehr erfordere, als die Vertiefung in die Erfahrungswissenschaften. +Hegels „Rechtsphilosophie” +konnte, fhrt Lassalle aus, nach den gesamten +Grundbedingungen, unter denen dieselbe +erschien, „als der erste Versuch, das Recht als +einen vernnftigen, sich aus sich selbst entwickelnden +Organismus nachzuweisen, zur wirklichen +Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhltnis einnehmen, +als etwa die allgemeine logische Disposition +eines Werkes zu dem Werke selbst”. Htten +nun die Philosophen sich nicht darauf beschrnkt, +bei den „dnnen, allgemeinen Grundlinien” derselben +— „Eigentum, Familie, Vertrag usw.” — +stehenzubleiben, „wren sie dazu bergegangen, +eine Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne +einer philosophischen Entwicklung der konkreten +einzelnen Rechtsinstitute desselben zu schreiben, +so wrde sich an dem bestimmten Inhalt dieser +einzelnen positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt +haben, da mit den abstrakt-allgemeinen +Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag, +Familie usw. berhaupt nichts getan ist, da der<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> +rmische Eigentumsbegriff ein anderer ist, als +der germanische Eigentumsbegriff, der rmische +Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische +Erbtumsbegriff, der rmische Familienbegriff ein +anderer als der germanische Familienbegriff usw., +d. h. da die Rechtsphilosophie, als in das Reich +des historischen Geistes gehrend, es nicht mit +logisch-ewigen Kategorien zu tun hat, sondern da +die Rechtsinstitute nur Realisationen historischer +Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des geistigen +Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister +und Zeitperioden, und daher nur als solche zu +begreifen sind.” Eingehend und erschpfend sei +dies durch den ganzen zweiten Teil des vorliegenden +Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen +und an dem Beispiel desselben der Beweis geliefert, +da „jene Hegelsche Disposition selbst, +wie der gesamte Bau und die Architektonik der +Hegelschen Rechtsphilosophie vollstndig aufgegeben +werden mu und nichts von der Hegelschen +Philosophie bewahrt werden kann, als ihre +Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre +Rechtsphilosophie zu erzeugen ...” Das gelte +aber auch von dem Verhltnis des Hegelschen +Systems zur Geistesphilosophie berhaupt, und +wenn die Zeit theoretischer Mue fr die Deutschen +niemals aufhren sollte, — „man kann sie +heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum +felicitas (ein seltenes Glck) nennen”, fgt Lassalle +mit berechtigter Bitterkeit hinzu — so werde +er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies in einem<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span> +neuen System der Philosophie nachweisen. Indes +werde die von ihm verlangte totale Reformation +der Hegelschen Philosophie doch im Grunde nur +„dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, +die „nur auf einem anderen Wege zum Siege gefhrt +werden soll. Es sind immer die Grundprinzipien +und die Methode der Hegelschen Philosophie, +die nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. +Hegel habe, wegen unzureichender Bekanntschaft +mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht +hufig greres Unrecht getan, als irgendeiner +anderen Disziplin. „Wenn er die rmischen Juristen +als die Ttigkeit des abstrakten Verstandes auffate, +so werden wir auf das Positivste im ganzen +Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis +bringen, wie dies nur von unseren Juristen, von +den rmischen aber das strikte Gegenteil gilt. +Wir werden sehen, wie ihre Ttigkeit vielmehr +schlechterdings nur die des spekulativen Begriffs +ist, nur eine sich selbst nicht durchsichtige und +bewute, wie dies ganz ebenso bei der Ttigkeit +des religisen und knstlerischen Geistes der Fall +ist ... Allein hiermit wird dann immer nur erwiesen +sein, da die Hegelsche Philosophie noch +weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wute, +und da der spekulative Begriff noch weitere +Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als +Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System +der erworbenen Rechte.)</p> + +<p>Aus diesen Ausfhrungen geht bereits hervor, +wie weit Lassalle in dem Werke selbst noch auf<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> +Hegelschem Boden fut. Er steht Hegel bereits +viel unabhngiger gegenber als im „Heraklit”, +aber er hlt doch nicht nur an der Methode, sondern +auch noch an den Grundprinzipien der Hegelschen +Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen +Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, +der dialektischen Form der Untersuchung, +sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, +der Zurckfhrung der geschichtlichen Erscheinungen +auf die Entwicklung und Bewegung +der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der +materiellen Grundlage dieser Bewegung. Wie +Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem Wege +stehen. Er hebt ganz richtig hervor, da es sich +bei den Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, +sondern um historische Kategorien handelt, aber er +behandelt diese Kategorien nur als die „Realisationen +historischer Geistesbegriffe”, lt dagegen +die Frage nach den Umstnden, unter denen diese +Geistesbegriffe sich entwickelten, nach den materiellen +Verhltnissen, deren Ausdruck sie sind, +ganz unberhrt. Ja, er dreht das Verhltnis sogar +um und will „im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen +suchen, wie das angeblich rein Positive +und Historische nur notwendiger Ausflu des +jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. +So mu er naturgem, auch bei dem grten +Aufwand von Scharfsinn, zu falschen Folgerungen +gelangen.</p> + +<p>Als das „groartigste Beispiel”, an welchem +diese urschliche Abhngigkeit des „angeblich rein<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> +Positiven und Historischen” von den historischen +Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, +bezeichnet Lassalle die gesamte Darstellung des +Erbrechts im zweiten Bande des Werkes, der +den Titel trgt: „Das Wesen des rmischen und +germanischen Erbrechts in historisch-philosophischer +Entwickelung.” Die Strke dieser Arbeit +beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten +Durchfhrung des leitenden Gedankens und der +oft wahrhaft glnzenden Darstellung. Durch alle +hierhergehrigen Rechtsformen hindurch sucht +Lassalle den Gedanken zu verfolgen, dem rmischen +Erbrecht liege der Gedanke der Fortdauer +des subjektiven Willens des Erblassers im Erben +zugrunde, whrend im altgermanischen Erbrecht, +dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne Testament), +die Idee der Familie den leitenden Gedanken +bilde, es gerade das sei, was vom rmischen +Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres +Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen +richtig. Aber nun beginnt die Schwche der +Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf +sie ist, bleibt an der Oberflche haften, durchwhlt +diese zwar wieder und immer wieder, lt +keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter +liegt, bleibt total unberhrt. Woher kommt +es, da das rmische Erbrecht die Fortpflanzung +des subjektiven Willens ausdrckt? Von der +rmischen Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus +der Laren und Manen. Woher kommt es, da +das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> +der „Idee der germanischen Familie”. Welches +ist die rmische Unsterblichkeitsidee? Die Fortdauer +des subjektiven Willens. Welches ist die +Idee der germanischen Familie? Die „sittliche +Identitt der Personen, die zu ihrer substantiellen +Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes +oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug +wie vorher, wir drehen uns im Kreise der Ideen +und Begriffe, erhalten aber keine Erklrung, +warum diese Idee hier, jener Begriff dort die +ihm zugewiesene Rolle spielen konnten. Auch +mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die +Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der +Rmer und Germanen aus deren wirklichen +Lebensverhltnissen selbst zu erklren, als die +letzte Quelle des Rechts erscheint berall der +„Volksgeist”. Dabei verfllt denn Lassalle in +denselben Fehler, den er an einer andern Stelle +mit Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum +Vorwurf macht, er unterscheidet zwar zwischen +rmischem und germanischem Volksgeist, aber er +ignoriert alle historische Entwicklung im Schoe +des rmischen Volkes und konstruiert einen, ein +fr allemal — das ganze Jahrtausend von der +Grndung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung +des rmischen Weltreichs — magebenden +„rmischen Volksgeist”, der sich zum — +ebenso konstruierten — „germanischen Volksgeiste” +etwa verhalte, wie „Wille zu Liebe”.</p> + +<p>Allerdings darf nicht bersehen werden, da +zur Zeit, wo Lassalle sein „System der erworbenen<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> +Rechte” schrieb, die eigentliche Geschichtsforschung +in bezug auf die Entstehung und Entwicklung +der rmischen Gesellschaft und der +germanischen Vorzeit noch sehr im argen lag, +selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie +in wichtigen Punkten im Dunkeln tappten. Es +trifft ihn also weniger der Vorwurf, da er die +Frage nicht richtig beantwortete, als der, da er +sie nicht einmal richtig stellte.</p> + +<p>Erst durch die Fortschritte der vergleichenden +Ethnologie und namentlich durch Morgans epochemachende +Untersuchungen ber die Gens (Sippe) +ist gengend Licht in bezug auf die urgeschichtliche +Entwicklung der verschiedenen Vlker geschaffen +worden, um erkennen zu lassen, warum +die Rmer mit einem ganz andern Erbrecht in die +Geschichte eintraten, als die germanischen Stmme +zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit +eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe +zur Oberstufe der Barbarei durchzumachen; der +bergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von +der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht +ganz vollzogen, sie lebten noch in Gentilverbnden +— auf Blutsverwandtschaft beruhenden Genossenschaften +— und noch herrschte der Kommunismus +der Sippe vor: ein auf dem subjektiven Willen +beruhendes Erbrecht war daher einfach ein Ding +der Unmglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, +so wenig hat die „Liebe” — eine viel +modernere Erfindung — etwas mit dem altgermanischen +Erbrecht zu tun. Bei den Rmern<span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span> +war dagegen schon vor Abschaffung des sogenannten +Knigtums die alte, auf persnlichen Blutbanden +beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt +und eine neue, auf Gebietseinteilung und Vermgensunterschied +begrndete, wirkliche Staatsverfassung +an ihre Stelle gesetzt worden<a name="FNAnker_11_11" id="FNAnker_11_11"></a><a href="#Fussnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a>. Privateigentum +an Boden und Auflsung der blutsverwandtschaftlichen +Verbnde als wirtschaftliche +Einheit sind der Boden, auf dem das rmische +Testament erwchst, nicht als Produkt eines +von vornherein gegebenen besonderen rmischen +„Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben +Entwicklung, die den besonderen rmischen Volksgeist +schuf, der das Rmertum zur Zeit der Zwlftafelgesetzgebung<a name="FNAnker_12_12" id="FNAnker_12_12"></a><a href="#Fussnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a> +erfllte. Wenn die Rmer +dem Testament eine gewisse feierliche Weihe +gaben, so berechtigt das keineswegs dazu, das +Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem die +symbolische Handlung — die Willensbertragung +— die Hauptsache, der substantielle Inhalt derselben +— die Vermgensbertragung — reine +Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen +Kulturstufe, und noch weit in die Zivilisation +hinein, kleiden die Vlker berhaupt alle wichtigen +konomischen Handlungen in religise Akte; +es sei nur an die Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, +an die Einweihung der Grenzmarken<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span> +usw. erinnert. Was wrde man von einem Historiker +sagen, der den rmischen Kultus des Gottes +Terminus als den Ausflu der besonderen Natur +des rmischen Volksgeistes, als den Ausdruck +einer speziell rmischen „Idee” hinstellen wollte, +bei der die eingegrenzten cker Nebensache, +der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache +gewesen sei? Was von einem Rechtshistoriker, +der das Aufkommen des Privateigentums an Grund +und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes +Terminus zurckfhren wollte? Und genau dies +ist es, wenn Lassalle den Kultus der Manen und +Laren als die Ursache des Aufkommens der +Testamente bei den Rmern bezeichnet, in der +rmischen Mythologie den letzten Grund dieser +Rechtsschpfung erblickt.<a name="FNAnker_13_13" id="FNAnker_13_13"></a><a href="#Fussnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a></p> + +<p>Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso +unhistorischen wie unlogischen Behauptung, da, +wenn das rmische Zwlftafelgesetz fr den +Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die +Hinterlassenschaft dem nchsten Agnaten (Verwandte +mnnlicher Linie) und, falls kein Agnat +vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis +sei, da das Testament auch der geschichtlichen +Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das Intestaterbe +aber erst nachtrglich, subsidir, eingefhrt worden +sei. Tatschlich zeigt gerade das Zwlftafelgesetz,<span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span> +obwohl es die Reihenfolge umkehrt, den wirklichen +Gang der historischen Entwicklung an. Es +konstatiert zuerst den neueingefhrten Rechtsgrundsatz +der Testierfreiheit, da derjenige erben +soll, dem der Erblasser testamentarisch die Hinterlassenschaft +zugeschrieben hat. Ist aber kein +Testament da, so tritt das frhere Erbrecht wieder +in Kraft, die urwchsige Intestaterbschaft: zuerst +erbt der nchste Agnat und dann die Gens, der +ursprngliche Blutsverband. Das geschichtlich +erste Institut erscheint auf den zwlf Tafeln als +letztes, weil es als das lteste das umfassendste +ist, und als solches naturgem die letzte Instanz +bildet. Wie erknstelt dagegen Lassalles Konstruktion +ist, geht schon daraus hervor, da er +sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff +des Willens” aufgebauten rmischen Erbrecht +aufrechtzuerhalten, einmal gezwungen sieht, zu +behaupten, da „den Agnaten nicht die Idee +der Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen +Auffassung zugrunde liegt” und die +Agnaten als „die durch das Band der Gewalt +vermittelte Personengemeinschaft” bezeichnet. +Als glubige Althegelianer haben die alten Rmer +„mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” +den „tiefen Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, +da der nicht ausgedrckte Wille des +Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt +hat „den allgemeinen Willen des Volkes oder +den Staat, in dessen Organisation derselbe verwirklicht +ist”. Das Testament, die Testierfreiheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span> +ist danach lter als der rmische Staat, aber das +Intestaterbe ist vom Staat eingefhrt, der Staat +hat eines schnen Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft +als Subsidirerben eingesetzt, und +zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentitt, +sondern in ihrer Eigenschaft als Organe der +Staatsordnung, als Organe der Willensidentitt.</p> + +<p>Wir wissen heute, da sich die Dinge gerade +umgekehrt zugetragen haben, da es nicht der +Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet +hat, die sie vorher nicht besa, sondern da er ihr +vielmehr eines der Rechte, eines der mter, die +sie innegehabt, nach dem andern abgenommen, +ihre Funktionen immer mehr eingeschrnkt hat, +da erst mit der Lockerung des Gentilverbandes, +mit seiner inneren Zersetzung der Staat mglich +wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit.</p> + +<p>Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mute +er, wie alle Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit +ihm und vor ihm ber das Wesen des ursprnglichen +rmischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise +zu falschen Schlssen gelangen. Aber anstatt +der Wahrheit nherzukommen, als seine Vorgnger, +steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. +Bemht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff +zu konstruieren, schneidet er sich jede Mglichkeit +ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu erkennen. +Der berhmte Rechtslehrer Eduard Gans +— beilufig ebenfalls Hegelianer — hatte rmisches +Intestaterbe und Testamentserbe als miteinander<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> +kmpfende Gedanken hingestellt, die +keinerlei Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts +haben und sie als eine historische Stammesverschiedenheit +zwischen Patriziern und Plebejern +zu erklren versucht. So fehlerhaft diese Erklrung, +so richtig ist der ihr zugrunde liegende +Gedanke, da es sich hier um einen grundstzlichen +Gegensatz handelt und da die gegenstzlichen +Rechtsbegriffe auf verschiedenem historischen +Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt +gerade in ihm einen Rckfall in den „Fehler +der historischen Schule”, das „aus dem Gedanken +Abzuleitende” als ein „uerlich und historisch +Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern +Seite erklrt er es als einen „Grundirrtum”, wenn +andere Rechtsphilosophen von der Auffassung ausgehen, +da „das rmische Intestaterbrecht seinem +Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatschlich +ist es wirklich nichts anderes. Nur da +die hier in Betracht kommende Familie sich nicht +mit der rmischen Familie deckt, sondern den +weiteren Geschlechtsverband umfat<a name="FNAnker_14_14" id="FNAnker_14_14"></a><a href="#Fussnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a>.</p> + +<p>Wir knnen auf den Gegenstand hier nicht +weiter eingehen, man sieht aber aus dem Bisherigen<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> +schon, da der so kunstvoll ausgefhrte +Bau Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente +ruht. So geschlossen und streng folgerichtig +daher die Beweisfhrung, und so geistreich auch +die Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare +— gerade das, was er mit dem ganzen +Buch ber das rmische Erbrecht beweisen wollte, +hat er nicht bewiesen. Die rmische Unsterblichkeitsidee +ist nicht die Grundlage, sondern die ideologische +Umkleidung des rmischen Testaments, +sie erklrt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. +Dieser bleibt bestehen, auch wenn der religise +Hintergrund verschwindet. Und gerade in den +vielen Formen und Formalitten, von denen die +Rmer die Rechtsgltigkeit der Testamente abhngig +machten, liegt unseres Erachtens ein +weiterer Beweis, da das Testament nicht, wie +Lassalle meint, die frhere, sondern umgekehrt +die sptere Einrichtung gewesen ist und wahrscheinlich +— wie auch bei den Deutschen, nachdem +diese das rmische Recht bereits angenommen +hatten, — lange Zeit die Ausnahme bildete, +whrend das Intestaterbe noch die Regel war.</p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span></p> +<p>Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die +Lassalle aus seiner Theorie zieht, da das Testament +nur aus der rmischen Unsterblichkeitsidee — +der Fortdauer der Willenssubjektivitt nach dem +Tode — zu begreifen sei, da es mit dieser „begrifflich” +stehe und falle? Da das moderne +Testamentsrecht, nachdem die rmische Willensunsterblichkeit +der christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, +der Unsterblichkeit des nicht mehr +auf die Auenwelt bezogenen, sondern des „in +sich zurckgezogenen Geistes” gewichen sei, +nichts als ein groes Miverstndnis, eine „kompakte +theoretische Unmglichkeit” sei? Dies fhrt +uns zurck auf den ersten Teil seines Werkes, zu +dem der zweite, trotz seiner Abgeschlossenheit, +eben doch nur eine Art Anhang ist.</p> + +<p>Der erste Teil des „Systems der erworbenen +Rechte” fhrt den Untertitel „Die Theorie der +erworbenen Rechte und der Kollision der Gesetze”. +Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen +Grundsatz zu ermitteln, der ein fr +allemal die Grenze anzeigen soll, unter welchen +Umstnden und wie weit Gesetze rckwirkende +Kraft haben drfen, ohne gegen die Rechtsidee +selbst zu verstoen. Mit anderen Worten, wann +da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz +oder Recht aufeinanderstoen (kollidieren), das +erstere und wann das letztere entscheiden, wann +ein Recht wirklich als „erworbenes” zu respektieren, +wann es ohne weiteres der Rckwirkung +unterworfen sein soll.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p> + +<p>Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich +der oben gergte Fehler der Lassalleschen Untersuchungsmethode +weniger geltend, whrend alle +ihre Vorzge: die Schrfe des begrifflichen +Denkens, das Verstndnis — innerhalb der bezeichneten +Grenzen — fr das geschichtliche +Moment, verbunden mit revolutionrer Khnheit +in der Verfolgung eines Gedankens bis in seine +letzten Konsequenzen — zu ihrer vollen Entfaltung +gelangen. So ist das Resultat denn auch +ein viel befriedigenderes, als bei der Untersuchung +ber das Wesen des rmischen Erbrechts. Wie +hoch oder gering man immer die Errterung +solcher rechtsphilosophischen Fragen veranschlagen +mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, da +Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise +lst, da sowohl der Jurist wie der Revolutionr +dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist +gewi eine respektable Leistung.</p> + +<p>Lassalle stellt zunchst folgende zwei Stze als +Normen auf:</p> + +<p>a) „Kein Gesetz darf rckwirken, welches ein +Individuum nur durch die Vermittelung seiner +Willensaktionen trifft.”</p> + +<p>b) „Jedes Gesetz darf rckwirken, welches +das Individuum ohne Dazwischenschiebung eines +solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das Individuum +also unmittelbar in seinen unwillkrlichen, +allgemein menschlichen oder natrlichen oder +von der Gesellschaft ihm bertragenen Qualitten +trifft, oder es nur dadurch trifft, da es die Gesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span> +selbst in ihren organischen Institutionen +ndert.”</p> + +<p>Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen +oder staatsbrgerlichen Befugnisse der Angehrigen +des Landes ndert, tritt sofort in Kraft, lt +aber die Handlungen, welche die Individuen auf +Grund der vorher ihnen zustehenden Befugnisse +getroffen haben, unberhrt, auch wenn diese Befugnisse +selbst durch es aufgehoben werden. Wenn +heute ein Gesetz das zur Volljhrigkeit erforderliche +Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhht, +so verlieren alle Personen ber 21 und unter +25 Jahren sofort die an die Volljhrigkeit geknpfte +Handlungsfhigkeit, die sie bisher besaen, +denn sie besaen sie nicht durch individuellen +Willensakt. Aber auf die Rechtsgeschfte, +die sie vor Erla des Gesetzes, gesttzt auf die +ihnen bisher zuerkannte Volljhrigkeit, abgeschlossen +hatten, wirkt das neue Gesetz nicht zurck. +Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch +individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte +Recht ist ein erworbenes Recht.</p> + +<p>Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung +erworbene Recht ist nicht unter allen +Umstnden der Rckwirkung entzogen. „Das +Individuum kann sich und andern nur insoweit +und auf so lange Rechte sichern, insoweit und +solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen +Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” +Jedem Vertrage sei „von Anfang an die stillschweigende +Klausel hinzuzudenken, als solle das<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span> +in demselben fr sich oder andere stipulierte Recht +nur auf so lange Zeit Geltung haben, solange die +Gesetzgebung ein solches Recht berhaupt als zulssig +betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des +Rechts”, fhrt Lassalle aus, „ist das gemeinsame +Bewutsein des ganzen Volks, der allgemeine +Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts knne sich +daher das Individuum „niemals der Einwirkung des +allgemeinen Rechtsbewutseins entziehen wollen. +Nur ein solches Individuum wrde diese Einwirkung +wirklich von sich abhalten knnen, welches, +wenn dies denkbar wre, nun und niemals ein +Recht weder erwerben noch ausben und haben +wollte.” „Es lt sich vom Individuum kein +Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich +mittelst desselben fr selbstherrlich fr alle +Zeiten und gegen alle knftigen zwingenden und +prohibitiven Gesetze erklren.” Nichts andres +als „diese verlangte Selbstsouvernitt des Individuums” +liege in der Forderung, da „ein erworbenes +Recht auch fr solche Zeiten fortdauern +soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulssigkeit +ausschlieen”. Wenn also „der ffentliche Geist +in seiner Fortentwicklung dazu gelangt ist, den +Fortbestand eines frheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft, +Hrigkeit, Robotten, Bann- und +Zwanggerechtigkeiten, Dienste und Abgaben bestimmter +Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, +fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab +auszuschlieen”, so knne dabei „von irgendwelcher +Krnkung erworbener Rechte ... gar<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span> +nicht die Rede sein”. So seien denn auch die +Dekrete der berhmten Nacht vom 4. August 1789, +durch welche die franzsische konstituierende +Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft +herflieenden Rechte aufhob, von „jeder +Rechtsverletzung und Rckwirkung” frei gewesen. +Es gab da „nichts zu entschdigen”. Ein Recht +der Entschdigung, fhrt Lassalle treffend aus, +auch da noch anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen +Rechts vom ffentlichen Bewutsein +bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt +ist, heie „vermge der Kraft der Logik gar +nichts Geringeres, als Klassen oder Individuen +das Recht zusprechen, dem ffentlichen Geiste +einen Tribut fr seine Fortentwicklung aufzuerlegen”. +Von einer Entschdigung knne nur +da die Rede sein, wo nicht das Rechtsverhltnis +selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung +aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte +Klasse von Rechtsobjekten, sondern nur +einzelne ihrer Exemplare aus der Sphre des +Privatrechts in die des ffentlichen Rechts bergefhrt +werden. Diesen Grundsatz haben, weist +er nach, die franzsischen Versammlungen nach +1789 durchgngig mit der „wahrhaften Logik des +Begriffs” innegehalten. Dagegen sei beispielsweise +das preuische Gesetz vom 2. Mrz 1850 +ber die Regulierung und Ablsung der gutsherrlichen +und buerlichen Verhltnisse in einer Reihe +von Bestimmungen nichts als eine widerrechtlich +und wider das eigne Rechtsbewutsein verordnete<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> +Vermgensverletzung der rmsten Klassen +zugunsten der adeligen Grundbesitzer, d. h. +„logisch-konsequent” nichts als „ein Raub”<a name="FNAnker_15_15" id="FNAnker_15_15"></a><a href="#Fussnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a>.</p> + +<p>Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, +der geschrieben hatte, keine Zeit sei berufen, +Gericht zu halten ber die Vergangenheit und die +aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem +Urteil ber die Angemessenheit, anzuerkennen oder +zu vernichten, — erwidert Lassalle, der Vordersatz +sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr +falsch. Was aus dem ersteren folge, sei vielmehr, +da jede Zeit autonom sei, keine Zeit unter der +Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine +„rechtlich verpflichtet sein knne, in ihr selbst +noch fortwirken zu lassen, was ihrem Rechtsbewutsein +widerspricht, und von ihr also von<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span> +jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt +des Rechts, angeschaut wrde”. Es sei aber +durchaus nicht unbedingt erforderlich, fhrt er +weiterhin aus, da ein Volk seine neue Rechtsidee, +seinen neuen Willen, in Worten — durch +den Mund der Volksvertretung etwa — ausgedrckt +habe. „Denn zum Begriff des Rechts +gehrt nur, da der Volksgeist einen geistigen +Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphre, +d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies +kann aber unter Umstnden nicht weniger bestimmt +und energisch als durch Worte durch tatschliche +Zertrmmerung eines Rechtszustandes geschehen, +den ein Volk vornimmt.” Diesen Grundsatz +finde man schon bei den rmischen Juristen, +und die franzsische Gesetzgebung whrend und<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span> +nach der franzsischen Revolution habe ihn von +neuem besttigt. Die Geschichte selbst habe dem +Konvent recht gegeben, die Geschichtsschreibung, +auch die reaktionre, es ratifizieren mssen, wenn +er die franzsische Revolution in ihren rechtlichen +Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des +Bastillesturms, datierte. Und wieder exemplifiziert +Lassalle auf analoge Vorgnge in Preuen und +weist nach, wie im Gegensatz zur franzsischen +Jurisprudenz das preuische Obertribunal sich in +mehreren Erkenntnissen ber das durch die Mrzrevolution +von 1848 geschaffene und in der +preuischen Verfassung (selbst der oktroyierten) +ausdrcklich anerkannte neue Rechtsbewutsein, +da „alle Preuen vor dem Gesetze gleich sind +und Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch +Wortknste hinweggesetzt, Standesvorrechte wiederhergestellt, +kurz, sich als ein wahrer „Reaktionskonvent” +bettigt habe. Vier Jahre, nachdem +das „System” erschienen, bewies das genannte +Tribunal in der famosen Interpretation des +Artikel 84 der preuischen Verfassung auch den +„liberalen Kalbskpfen”, wie sehr es auf diesen, +ihm von Lassalle verliehenen Titel Anspruch hatte.</p> + +<p>Wir haben gesehen, erworbene Rechte mssen +erstens durch individuelle Willensaktion vermittelt +und zweitens in bereinstimmung sein mit dem +erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. +Das ist in kurzem die Theorie der erworbenen +Rechte. Wenn also der franzsische Konvent im +Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span> +1794) bestimmte, da die Vorschriften dieses +Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. Erbschaften +aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung +finden sollten, die seit dem 14. Juli 1789 erffnet +worden, so verstie er damit nach Lassalle durchaus +nicht gegen den Grundsatz der erworbenen +Rechte. Im Gegenteil durfte er mit vollem Recht +am 22. Ventose desselben Jahres in Beantwortung +mehrerer Petitionen sich darauf berufen, da das +Gesetz „nur die seit jenem Tage — eben dem +14. Juli 1789 — von einem groen Volke, das +seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien +entwickelt” habe, aber das Prinzip der +Nichtrckwirkung nicht einmal „auch nur in Frage +stelle”, da unstatthafte Rckwirkung jedoch dann +eintrete, wenn man diese Grenze berschritte, d. h. +das Gesetz auch auf die vor dem 14. Juli 1789 erffneten +Erbschaften ausdehnte.</p> + +<p>Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage +des Erbrechts zurckzukehren, worauf Lassalle +mit seinen Untersuchungen ber rmisches und +germanisches Erbrecht hinaus will. Das rmische, +auf Testamente und Intestaterbfolge nicht der +Familie, sondern der „Reihen, in welche die +Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende +Erbrecht war danach in Rom „erworbenes Recht”, +denn es entsprach dem rmischen Volksgeist, der +„Substanz” des rmischen Volkes, nmlich der +Idee der Unsterblichkeit des Willenssubjekts. +Ebenso war das altgermanische Erbrecht — +Intestatrecht der Familie — erworbenes Recht,<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> +denn es entsprach einer Idee des altgermanischen +Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identitt der +Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen +Grundlage die sich empfindende Einheit +des Geistes oder die Liebe hat”. Die Familie +erbt, weil das Eigentum berhaupt nur Familieneigentum +ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe +aber, nachdem das Eigentum rein individuelles +Eigentum geworden, „nicht mehr auf der Familie +als aus eigenem Recht erbender, auch nicht +auf der Familie als durch den prsumierten +Willen des Toten berufen, sondern auf der Familie +als Staatsinstitution”, auf dem „die Vermgenshinterlassenschaften +regelnden allgemeinen +Willen des Staates”. Und das letztere sei auch +der Fall mit dem Testamentrecht, von dem wir +jetzt gesehen haben, da es heutzutage „eine +kompakte theoretische Unmglichkeit” sei. Weder +Intestaterbfolge noch Testamentrecht sind heute +Naturrechte, sondern „Regelung der Hinterlassenschaft +von Sozietts wegen”. Und Lassalle schliet +sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, +trotzdem er das Testament nicht in seinem vollen +Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen +habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent +momenti, nisi anima esset immortalis” — „Testamente +aber wren mit vollem Recht durchaus null +und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wre.”</p> + +<p>Braucht es hiernach noch einer besonderen +Erklrung, was Lassalle meint, wenn er, gegen +Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend,<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span> +in den Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht +bald zeigen, da sich aus unseren objektiven +Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere +Folgerungen ber das moderne Testamentsrecht +von selbst ergeben?” Was auf keinem +Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution +ist, knnen der Staat oder die Soziett auch jederzeit +ndern, einschrnken oder ganz aufheben, +wie es dem Bedrfnis der Soziett angemessen erscheint. +Wenn daher G. Brandes und andere nach +ihm im ganzen System der erworbenen Rechte +„nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf +eine Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie +in die Praxis hinweise, so kann man ihnen +aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, +das ganze Werk ist es, das — wie Lassalle sich +ausdrcken wrde — nach dieser Umsetzung +schreit.</p> + +<p>Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, +wenn er die Vorrede mit den Worten beginnt, +da, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe +wahrhaft gelst haben soll, es in seinem letzten +Resultate nichts Geringeres sein knne und drfe, +als „die rechtswissenschaftliche Herausringung +des unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden +politisch-sozialen Gedankens”?</p> + +<p>Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelst?</p> + +<p>Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, +so scheint die ihr zugrunde liegende Auffassung +heut so ziemlich allgemein anerkannt zu +sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span> +abgesehen, die Darlegung, da im allgemeinen +„der kulturhistorische Gang aller Rechtsgeschichte” +darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphre +des Privatindividuums zu beschrnken, +immer mehr Objekte auerhalb des Privateigentums +zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo +er dies in sehr feiner Entwicklung ausfhrt, mit +Recht den grten Wert. Sie ist ein ganzes geschichtsphilosophisches +Programm, ein Meisterwerk +begriffsscharfer Logik.</p> + +<p>Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung +der Theorie, wenn sein Beispiel vom +Wesen des rmischen und germanischen Erbrechts +magebend sein soll. Wir haben die Ursache der +Schwche dieses Vergleichs bereits oben gekennzeichnet +und brauchen daher hier nur zu rekapitulieren. +Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen +Volksgeiste ab. Wenngleich nun ein intimer +Zusammenhang zwischen Erbsystem und +Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist +dieser Zusammenhang doch nicht der von letzter +Ursache und Wirkung. Erbsystem und Volksgeist +stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben +tieferliegenden Ursache oder Gruppe von +Ursachen an. Beide sind in letzter Instanz das +Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen +Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen +aus diesen heraus und ndern sich mit ihnen, d. h. +das Erbrecht wird gendert, sobald es mit den +materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unvertrglich +wird. Dann entdeckt der „Volksgeist”,<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span> +da dieses Erbrecht seinem Rechtsbewutsein +nicht mehr entspreche. Und so mit allen brigen +Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint +nur als die letzte Instanz, die ber ihren Bestand +entscheidet, tatschlich ist er so etwas wie Gerichtsvollzieher, +die wirklich bestimmende Instanz +sind die materiellen Lebensbedingungen des +Volkes, die Art, wie, und die Verhltnisse, unter +denen es die Gegenstnde seines Bedarfs produziert<a name="FNAnker_16_16" id="FNAnker_16_16"></a><a href="#Fussnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a>.</p> + +<p>Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, +die Irrtmer der alten Juristen und +Rechtsphilosophen noch berbietenden Theorie? +Der Fehler liegt daran, da er zwar mit eiserner +Konsequenz, aber zum desto greren Schaden +fr seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende +in der Sphre des juristischen und philosophischen +„Begriffs” bleibt. Aus der „begrifflichen” Ableitung +sollen sich die Dinge erklren, die „begriffliche” +Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung +blolegen. Die Dinge aber richten sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span> +nach den Begriffen, sie haben ihre eigenen Entwicklungsgesetze.</p> + +<p>Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tchtiger +Jurist. Er brachte von Hause aus auergewhnliche +Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf +mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affre hatte +diese Eigenschaft noch strker in ihm entwickelt. +Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen Rechtsgrundsatz +bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs +zu verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, +da leistet er wahrhaft Glnzendes. Aber seine +starke Seite ist zugleich auch seine Schwche. Die +juristische Seite berwuchert bei ihm. Und so +sieht er auch die sozialen Probleme vorwiegend +mit den Augen des Juristen an. Das zeigt sich +schon hier im „System der erworbenen Rechte”, +es bildet die Schwche dieses Werkes, es sollte +sich aber auch spter in seiner sozialistischen Agitation +zeigen.</p> + +<p>Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich +eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie +sein. Es kritisiert sie aber nur in Nebenpunkten, +macht nur einen halben Schritt vorwrts, bleibt +dagegen in der Hauptsache auf demselben Standpunkt +stehen, wie diese. Das ist um so merkwrdiger, +als der Schritt, der geschehen mute, +um die Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt +treffenden zu gestalten, lngst angegeben war, und +zwar in Schriften, die Lassalle smtlich kannte. +1844 hatte Karl Marx in den deutsch-franzsischen +Jahrbchern in einem Aufsatz, der obendrein den<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> +Titel fhrt: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie”, +auf ihn hingewiesen, 1846 in der +Schrift „La misre de la philosophie” ihn deutlich +vorgezeichnet, 1847 hatten Marx und Engels +im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner +Anwendung geliefert, und endlich hatte Karl +Marx in der Vorrede zu seiner 1859 erschienenen +Schrift „Zur Kritik der politischen konomie” +unter ausdrcklichem Hinweis auf den ersterwhnten +Aufsatz, geschrieben: „Meine Untersuchung” +— zu der jener Aufsatz nur die Einleitung bildete — „mndete +in dem Ergebnis, da Rechtsverhltnisse +wie Staatsformen weder aus sich selbst +zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen +Entwicklung des menschlichen Geistes, +sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhltnissen +wurzeln ... Es ist nicht das Bewutsein +der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt +ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewutsein bestimmt.” +Und obgleich Lassalle dieses Buch schon +kannte, als er noch am „System” arbeitete, obwohl +er sich Marx gegenber in den begeistertesten +Ausdrcken ber es uerte<a name="FNAnker_17_17" id="FNAnker_17_17"></a><a href="#Fussnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a>, findet sich in +seinem Werk auch nicht eine Zeile, die im Sinne +des Vorstehenden zu deuten wre. Soll damit ein +Vorwurf gegen Lassalle ausgesprochen werden? +Das wre im hchsten Grade abgeschmackt. Wir +fhren es an zur Kritik seines Standpunktes, seiner<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> +Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch +die ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch +in der brieflichen Auseinandersetzung mit Marx +ber die im „System der erworbenen Rechte” aufgestellten +Theorien des Erbrechts.</p> + +<p>Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, da +sich Marx sofort gegen diese auflehnen mute, +denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt +im direkten Widerspruch. Was er Lassalle +entgegenhielt, ist aus dessen Briefen nur unvollkommen +zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen +hervor, da die, brigens nicht lange, brieflich +gefhrte Debatte sich im wesentlichen um die +Lassallesche Behauptung drehte, da das Testament +nur aus der rmischen Mythologie, der rmischen +Unsterblichkeitsidee, zu begreifen sei, und +da die konomische Bourgeoisentwicklung niemals +fr sich allein das Testament habe entwickeln +knnen, wenn sie es nicht schon im rmischen +Recht vorgefunden htte. Und es ist ganz charakteristisch +zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die +sich auf die konomische Entwicklung beziehen, +Lassalle schlielich immer wieder mit juristisch-ideologischen +Wendungen antwortet. Die grundstzliche +Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte +beider Denker kommt in dieser +Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen +knnen, zum sprechendsten Ausdruck.</p> + +<p>Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz +des falschen geschichtstheoretischen Standpunktes +bleibt das „System der erworbenen Rechte” eine<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> +sehr bedeutende Leistung und eine, selbst fr denjenigen, +der Lassalles theoretischen Standpunkt +nicht teilt, hchst anregende und genureiche +Lektre.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Der_preussische_Verfassungskonflikt" id="Der_preussische_Verfassungskonflikt">Der preuische Verfassungskonflikt, +die Verfassungsreden +und das Arbeiterprogramm.</a></h2> + + +<p>Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 +sehr stark mit der Idee, in Berlin ein demokratisches +Blatt im groen Stil zu grnden. Wie er +ber die liberale Presse dachte, haben wir oben +gesehen, und ebenso, wie er danach drstete, +unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in +Deutschland einwirken zu knnen. Da beim Ableben +Friedrich Wilhelms IV. eine allgemeine +Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle +daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels +in diesem Falle geneigt wren, nach Deutschland +zurckzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches +Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten +Brief”, schreibt er unterm 11. Mrz an Marx, +„fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der Knig +strbe und Amnestie eintrte, zurckkommen +wrdet, hier ein Blatt herauszugeben? Antworte +doch darauf. Ich trage mich nmlich fr diesen +Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden +Hoffnung, dann mit Euch (hier in +Berlin) ein groes Blatt herauszugeben. Wrdet +Ihr also in solchem Falle geneigt sein, herzukommen?<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span> +Und wieviel Kapital wre zu einem groen +Blatte erforderlich? Wrde es hinreichen, wenn +man etwa 10000 Taler dazu aufbringen knnte? +Oder wieviel? Es wre mir lieb, wenn Du mir +darber schriebst, denn ich denke gern an dies +chteau en Espagne!” In den folgenden Briefen +kommt er wiederholt auf die Idee zurck, und am +19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preuen +in der Tat eine Amnestie herbeigefhrt hatte, +schreibt er dringender: „Noch einmal stelle ich +Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist ntig, um +hier ein Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen +Redakteuren der „Neuen Rheinischen +Zeitung” wrde eventuell zu solchem Zweck hierher +zurckkehren?”</p> + +<p>Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte +und ihn im Frhjahr 1861 in Berlin besuchte, zerschlug +sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die +ganz merkwrdige Bedingung, er solle in der +Redaktion eine Stimme haben und Marx und +Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei +er ja „stets in der Minoritt”! Dann aber legte +die preuische Regierung die Amnestie so aus, +da diejenigen politischen Flchtlinge, die durch +mehr als zehnjhrigen Aufenthalt im Auslande ihrer +Zugehrigkeit zum preuischen Staatsverband verlustig +gegangen seien, sie keineswegs ohne weiteres +wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden +Antrge genau so behandelt werden sollten, +wie die Naturalisationsgesuche von Auslndern +berhaupt. Das heit, da das erstere fr die meisten<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span> +Flchtlinge zutraf, da es von dem Belieben +der Regierung abhngen sollte, jeden davon wieder +„abschieben” zu knnen, dessen Rckkehr ihr +„unbequem” war. Ein von Lassalle fr Marx +eingereichtes Naturalisationsgesuch wurde denn +auch richtig in allen Instanzen abgelehnt, da, wie +es in einem vom 11. November 1861 datierten +Bescheid des — liberalen — Ministers Schwerin +an Lassalle hie, „zur Zeit wenigstens durchaus +keine besonderen Grnde vorhanden sind, welche +fr die Erteilung der Naturalisation an den +p. Marx sprechen knnten”. Damit war natrlich +jeder Gedanke an eine bersiedelung von Marx +nach Berlin ausgeschlossen.</p> + +<p>Im Sptsommer 1861 machte Lassalle zusammen +mit der Grfin Hatzfeldt eine Reise nach +Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr instruktiv” +fr ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei +Garibaldi auf Caprera sei sehr interessant gewesen, +auch habe er „fast alle leitenden Persnlichkeiten” +in den verschiedenen Stdten, die er +besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker +in seiner Schrift „Enthllungen ber das tragische +Lebensende Ferdinand Lassalles” zuerst bekannt +gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief +an Fr. Engels vom 30. Juli 1862 besttigt wird, +hat Lassalle bei jenem Besuch Garibaldi zu einem +militrischen Unternehmen in groem Stil gegen +sterreich zu berreden gesucht und den Plan +dann in London auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi +sollte sich danach in Neapel zum Diktator<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span> +aufwerfen, eine groe Armee bilden und mit +dieser ber Padua noch weiter vordringen, whrend +zugleich ein an die adriatische Kste geworfenes +detachiertes Korps nach Ungarn vorrcken +und die Ungarn insurgieren sollte. Ein +Plan, der namentlich deshalb interessant ist, weil +er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener Zeit +die Schaffung einer revolutionren Situation vorstellte, +die unter anderm die erstrebte Lsung der +deutschen Frage bringen sollte. Zu erwhnen ist +noch, da Marx Lassalle fr diese Reise nach +Italien einen Empfehlungsbrief an den deutschen +Sozialisten und Freischrler Johann Philipp Becker +gegeben hatte, ungnstige, aber zweifelsohne auf +Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener ber +Becker Lassalle jedoch bewogen, jenem aus dem +Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn gar +nicht” — schreibt er ber Becker an Marx zu +seiner „Information” — „die, die ihn kennen, +halten ihn fr einen Blagueur und Bummelfritz, +fr einen Humbug ... Gut steht er nur mit Trr, +der eine entschieden napoleonische Kreatur ist, +und dem er auf der Tasche liegt.” Infolgedessen +habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' Empfehlungsbrief +keinen Gebrauch zu machen. „Du +weit, wie oft wir in die Lage kommen, im Ausland +uns vor nichts mehr zu hten als vor unseren +Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp +war doch jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene +Grosprecher, sondern hatte wiederholt +fr die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span> +auf eine Zusammenkunft mit ihm htte es +Lassalle also schon ankommen lassen knnen. Als +er spter den „Allgemeinen deutschen Arbeiter-Verein” +ins Leben rief, wute er auch Beckers +Adresse zu finden<a name="FNAnker_18_18" id="FNAnker_18_18"></a><a href="#Fussnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> und stellte diesem gegenber, +der auf irgendeine Weise erfahren hatte, welche +Redereien ber ihn im Umlauf seien, die Sache +so dar, als habe Marx aus einer Mcke einen +Elefanten gemacht und einer harmlosen gelegentlichen +uerung ber Beckers Verkehr mit Trr +eine so schlimme Deutung gegeben.</p> + +<p>Erst im Januar 1862 kehrte Lassalle nach Berlin +zurck. Er fand die politische Situation wesentlich +verndert vor. Der Gegensatz zwischen dem +Knig von Preuen und dem liberalen Brgertum +hatte sich zum offenen Konflikt verschrft; bei +den Neuwahlen zur Kammer Anfang Dezember +1861 war die schwachmtige konstitutionelle Partei +durch die, eine etwas schrfere Tonart anschlagende +Fortschrittspartei verdrngt worden. +Diese hatte sich im Sommer desselben Jahres +aus der bis dahin eine kleine Minderheit in der +Kammer ausmachenden Fraktion „Jung-Litauen” +entwickelt oder vielmehr um sie geschart. Aber +die Fortschrittspartei war keineswegs eine homogene +Partei. Sie bestand aus den verschiedenartigsten<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> +Elementen, liberalisierende Grobourgeois +saen in ihr neben kleinbrgerlichen Demokraten, +ehemalige Republikaner mit verschwommenen +sozialistischen Tendenzen neben Mnnern, die beinahe +noch kniglicher waren als der Knig selbst. +In seinem Hohenzollernschen Eigensinn hatte es +Wilhelm I. eben mit allen verdorben; nur die +Partei der Junker und Mucker und die eigentliche +Bureaukratie mit ihrem Anhang hielten zur Regierung. +Die Fortschrittspartei verfgte ber die +groe Mehrheit der Kammer und ber fast die +ganze ffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, +die das innere Wesen dieser Partei durchschauten +und zu radikale Ansichten hegten, um sich ihr +anschlieen zu knnen, hielten es fr gut, ihr zunchst +nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, +wie sie ihren Kampf mit der preuischen Regierung +zu Ende fhren werde.</p> + +<p>Lassalle war mit denjenigen Mnnern, die den +Mittelpunkt der Fortschrittspartei in Berlin bildeten, +schon seit einiger Zeit zerfallen. Anfangs +1860 hatte er noch mit groer Emphase in einem +Brief an Marx fr die kleinbrgerlich-demokratische +Berliner „Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, +sie ein Blatt genannt, das, „wenn auch +hufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, +und mit viel weniger Konsequenz, als es sich trotz +der Prefesseln zur Pflicht machen sollte, doch +immerhin den demokratischen Standpunkt im allgemeinen +durch alle die Jahre hindurch verteidigt +hat und weiter verteidigt”, und hatte jede andere<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> +Politik, als die 1848 von der „Neuen Rheinischen +Zeitung” gegenber den „blau-revolutionren” +Blttern und Parteien eingenommene fr „ebenso +theoretisch falsch wie praktisch verderblich” erklrt. +„Wir mssen”, schrieb er, „in bezug auf +die vulgr-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen +Nancen ebensosehr die Identitt, +als den Unterschied unsres sozial-revolutionren +Standpunktes mit ihnen festhalten. Blo den +Unterschied herauskehren — wird Zeit sein, wenn +sie gesiegt haben.” Sollte die Partei in London +dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt haben, +alle blo blau-revolutionren Bltter und Parteien +den reaktionren gleichzustellen, dann „erklre +ich entschieden, da ich diese Wandlung nicht +mitmachen, sie vielmehr berall outrance bekmpfen +werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 +teilt er jedoch Marx mit, da er die Weigerung +der „Volkszeitung”, eine lngere Einsendung von +ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als +Anla benutzt habe, um mit ihrem Herausgeber, +Franz Duncker, zu brechen. „Umgang meine ich, +denn andres bestand berhaupt nicht. Ich benutze +den Anla, sage ich. Denn es ist mir eine erwnschte +Gelegenheit noch mehr als ein Grund. +Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, da +ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem +mattherzigen Gesindel gar kein Verhltnis mglich, +und so werde ich denn dies benutzen, um +alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine +natrliche Gutmtigkeit schon lange getan, aufzuheben.”<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span> +In der vom 27. Mrz 1861 datierten +Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” +finden wir denn auch schon einen an jener Stelle +sogar ziemlich unvermittelten Angriff auf die +„Wortfhrer der liberalen Bourgeoisie”, die den +Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung +und Oberflchlichkeit”, in einer „Isoliertheit” +fassen, die sie zwingt, „sich an bloe +Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten +und fr Worte zu kmpfen”. Indes blieb Lassalle +doch mit andern Fortschrittlern und Nationalvereinlern +in Verkehr, und in Berlin selbst hatte +der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, da +politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles +Umgang bildeten. Abgesehen von einigen wirklichen +Gelehrten, durften ganz gewhnliche Salonlwen, +wie der Baron Korff, Meyerbeers +Schwiegersohn, oder radikaltuende Knstler, wie +Hans von Blow usw., sich der intimen Freundschaft +Lassalles rhmen<a name="FNAnker_19_19" id="FNAnker_19_19"></a><a href="#Fussnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a>. In der Rechtfertigungsschrift +der Frau Helene von Racowitza wird +von der Schreiberin, zwar unabsichtlich aber desto +eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum Teil<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> +ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in +der sich Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft +machte (Anfang 1862). Vom Rechtsanwalt +Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft +zwischen Helene und Lassalle stattfand, +und dessen „reizende blondlockige Frau” +jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde +ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst +wenige Monate darauf — am 9. Juni 1862 — an +Marx: „Beilufig, mit dem ganz gemeinen Hecht +Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und +fgt recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, +da seine Frau die Veranlassung davon bildet.”</p> + +<p>Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles +mit Lothar Bucher, der nach Erla der +Amnestie nach Deutschland zurckgekehrt war +und sich in Berlin niedergelassen hatte. Bucher +war freilich kein Hecht, sondern gehrte einer +zahmeren zoologischen Gruppe an.</p> + +<p>Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus +jener Zeit besttigen, da dieser aus Italien mit +ziemlich abenteuerlichen Plnen heimgekehrt war, +die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> +anknpften. Einer der interessantesten +davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. Januar +1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht +ging und den Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 +an W. Rstow schrieb, „in langen, mit +rasender geistiger Anstrengung verbundenen +Unterredungen” fr seine Ideen zu gewinnen versucht +hatte, nimmt in jenem Brief auf eine am +Abend vorher gefhrte Debatte mit Lassalle +Bezug und fhrt aus, da er es zwar fr mglich +halte, die bestehende Ordnung — „oder Unordnung” +— der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, +aber noch nicht, sie niederzuhalten; mit andern +Worten, da die Zeit fr eine sozialistische Revolution +noch nicht reif sei. „Bedenken Sie dazu +noch eins: da jede sozialistische Bewegung in +Frankreich auf lange Zeit hinaus mit dem Kot +und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei +uns eine Menge gesunder und reiner Elemente +gegen eine hnliche Bewegung wachrufen wrde.” +Auf die Frage, was denn also geschehen solle, +habe er nur „die lahme Antwort Machiavellis”: +Politik ist die Wahl unter beln. „Ein Sieg des +Militrs” — d. h. der preuischen Regierung!! — +wre „ein bel”, aber „ein Sieg des heutigen +sterreich wre kein Sieg des reaktionren Prinzips”. +Dafr stelle er Lassalle als Zeugen die +„Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand +gegen Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen +nur den Schlu zu, da Lassalle eine Revolution +erzwingen zu knnen glaubte und im Hinblick<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span> +hierauf sterreich fr den Vorsto ausersehen +hatte. Damit war der obenerwhnte Versuch, +Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu +gewinnen, hinlnglich erklrt. Fraglich ist nur, +wie Lassalle, der fr gewhnlich in politischen +Dingen ein sehr nchterner Rechner war, zu einem +so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er +von franzsischen, ungarischen oder italienischen +Revolutionren angeregt worden war, die Lassalle +auf seiner Reise nach und durch Italien kennengelernt, +mu dahingestellt bleiben. Da Wilhelm +Rstow um ihn wute und, wie Lassalle Marx +erzhlte, ihn gebilligt habe, mag er auch auf Anregungen +dieses etwas phantasiereichen Militrs +zurckzufhren sein. Es ist schwer zu glauben, +da er Lassalles eignem Kopf entsprungen war, +so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles bereinstimmte.</p> + +<p>Jedenfalls berzeugte sich Lassalle daheim, da +zu einer Revolution in Deutschland vor allem noch +die deutschen Revolutionre fehlten. Indes war +die Situation doch zu bewegt, um die zu einer +Rckkehr zum Studiertisch ntige Ruhe in ihm +aufkommen zu lassen. Statt alsbald an die groe +national-konomische Arbeit zu gehen, die er sich +vorgenommen, verschob er sie immer wieder, um +sich den Fragen des Tages zu widmen, was bei +dem tglich lebhafter pulsierenden ffentlichen +Leben brigens nur durchaus erklrlich war.</p> + +<p>Die erste Leistung, mit der er zunchst an die +ffentlichkeit trat, war das gemeinsam mit Bucher<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span> +verfate Pamphlet „Julian Schmidt, der Literarhistoriker”. +Obwohl die Schrift formell Kritik +einer von Schmidt zusammengeschriebenen „Geschichte +der deutschen Literatur” ist, zeigt das +Vorwort, da mit ihr die liberale Presse berhaupt +getroffen werden sollte. Und auch die +liberale Partei. Da Schmidt deren Programm mitunterschrieben +hatte und eifrig verfocht, sollte +„Julian der Grabowite” fglich der Ausdruck +werden knnen, „welcher den geistigen Hhepunkt +dieser Partei kennzeichnet”. Eine etwas bertriebene +Logik, wie es berhaupt in der Schrift +an bertreibungen nicht fehlt. Auch war der +Zeitpunkt fr sie nicht sehr gnstig gewhlt, da +gerade in jenen Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus +aufgelst und Wilhelm I. ein Reskript +gegen die fortschrittlich-liberale Presse +erlassen hatte. War nun auch die Fraktion +Grabow — die altliberale Partei — nicht mit der +Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein +gutes Teil mehr als diese zu Kompromissen geneigt, +so machte sie doch in der Verfassungsfrage +gemeinsame Sache mit ihr, so da der Hieb sie +in einem Augenblick traf, wo sie zufllig sich +besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war +die Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, +die scharfe Geielung der bei ihm oft +in „gespreizter Bildungssprache” sich wichtig +machenden Oberflchlichkeit durchaus berechtigt. +Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schrfe +die grten Denker und Dichter Deutschlands<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span> +gegen die oft flschende und tendenzis-gehssige +Schmidtsche berkritik. Wo „der Setzer” das +Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, +whrend Lothar Bucher als „das Setzerweib” +vorgefhrt wird.</p> + +<p>Eine Einladung, die er im Frhjahr 1862 erhielt, +in einem Berliner liberalen Bezirksverein +einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwnschte +Gelegenheit — da es ihm in der Presse nicht mglich +war —, den Fhrern der Fortschrittspartei +vor ihren eignen Leuten mndlich gegenberzutreten. +Als Thema whlte er die Frage des +Tages: den ausgebrochenen Verfassungskonflikt. +Aber mit geschickter Berechnung hielt er sich +in dem ersten Vortrag, den er „ber Verfassungswesen” +betitelte, noch absolut auf dem Boden +akademischer Darlegung. Er entwickelt seinen +prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm +ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen +sind Machtfragen, eine Verfassung +hat nur dann und so lange gesicherten Bestand, +als sie der Ausdruck der realen Machtverhltnisse +ist; ein Volk besitzt nur dann in der Verfassung +einen Schutz gegen Willkr der Regierenden, +wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen +Fall auch ohne die Verfassung sich gegen +sie zu schtzen. Es sei daher der grte Fehler +gewesen, da man 1848, anstatt zuerst die realen +Machtfaktoren zu ndern und vor allen Dingen das +Heer aus einem kniglichen in ein Volksheer zu +verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> +Verfassung so lange vertrdelte, bis die Gegenrevolution +Kraft genug geschpft hatte, die Nationalversammlung +auseinanderzujagen. Wenn das +Volk wieder einmal in die Lage komme, eine Verfassung +zu machen, mge man diese Erfahrung +daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten +Heeresvorlagen seien ebenfalls aus +diesem Gesichtspunkt zu beurteilen — d. h. als +dem Bestreben entsprungen, die tatschlichen +Verhltnisse weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. +„Das Frstentum, meine Herren,” +heit es am Schlu, „hat praktische Diener, nicht +Schnredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen +zu wnschen wren.”</p> + +<p>Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, +ist unbestreitbar richtig. Auch die meisten +Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie +trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so +taten sie dies, weil die bersetzung des ersteren +in die Praxis einfach die Revolution hie, die +Partei aber — ein Teil der Fhrer berhaupt +nur, der andere jedenfalls zunchst — den Kampf +auf parlamentarischem Boden zu fhren wnschte. +Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener +Gegner der Revolution zu sein, als +wie Lassalle die Fortschrittler — und im groen +und ganzen auch durchaus mit Recht — damals +hinstellte, um den Zeitpunkt fr eine solche als +noch nicht gekommen zu erachten. Auch Lassalles +Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, +trotz der vielen Grnde, die er hatte, die bestehende<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span> +Ordnung der Dinge zu hassen, dieser +Ansicht. Fr den parlamentarischen Kampf bot +jedoch die Fiktion, da man fr die bestehende Verfassung +gegen die Regierung, die diese verletzte, +fr das „Recht” gegen die Macht kmpfte, eine +viel gnstigere, oder sagen wir lieber, bequemere +Position, als die offene Proklamierung des Kampfes +um die Macht selbst. Die materiellen Machtmittel +hatte die Regierung in der Hand, darum +wollte man sich wenigstens alle moralischen sichern.</p> + +<p>Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt +hatte, was nicht jeder Fortschrittler — ja, +jeder vernnftige Mensch berhaupt unterschreiben +konnte, war er daher doch den Fhrern der +Fortschrittspartei hchst unangenehm, whrend die +Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hnde +rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, +das Organ der Junker und Mucker. +Nicht nur, da es ihr berhaupt angenehm war, +wenn der Konflikt ins Herz des Feindes getragen +wurde, lag ihr auch deshalb daran, die Verfassungsfrage +als eine reine Machtfrage zwischen +Knigtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, +weil dadurch ihre Position als einzig zuverlssige +Sttze des Thrones eine um so befestigtere wurde. +Man mu nicht vergessen, da die „Neue ra” +Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, +den Thron der Hohenzollern von der allzu +lstig gewordenen Vormundschaft der ostelbischen +Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. +Gegenber dem Programm, wie es Lassalle formulierte,<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span> +mute diese dagegen dem Knig als das +unbedingt kleinere bel erscheinen.</p> + +<p>Lassalle lie den Vortrag, den er noch in drei +weiteren fortschrittlichen Versammlungen gehalten +hat — ein Beweis, da die fortschrittliche +Whlerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand — +„auf mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. +Inzwischen hatten die Neuwahlen zum Landtage +einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei ber +die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten +Blicks, wie sich unter diesen Verhltnissen +der Konflikt zwischen den beiden weiter entwickeln +werde.</p> + +<p>Ebenfalls im Frhjahr 1862 hielt Lassalle in +Berlin — im Handwerkerverein der Oranienburger +Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel Berlins — +noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel +gab: „ber den besonderen Zusammenhang der +Idee des Arbeiterstandes mit der gegenwrtigen +Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte +er vorher sorgfltig ausgearbeitet. Und er ist, +wenngleich in Einzelheiten nicht einwandfrei — +schon der Titel fordert zur Kritik heraus — unzweifelhaft +eine der besten, wenn nicht die beste +der Lassalleschen Reden. Eine ebenso klare wie +schne Sprache, gedrungene, flssige, nirgends +berladene und doch nie trockene Darstellung, von +Satz zu Satz fortschreitende systematische Entwicklung +des Grundgedankens, sind ihre formellen +Vorzge, whrend sie ihrem Inhalte nach — wie +gesagt, mit einigen Einschrnkungen — eine vortreffliche<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> +Einleitung in die Gedankenwelt des +Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem +Werte nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und +den Umstnden, unter denen sie gehalten wurde, +angepate Umschreibung des „Kommunistischen +Manifestes” bezeichne; sie fhrt in der Hauptsache +an der Hand konkreter Beispiele aus, was +im historischen Teil des Manifestes in groen +Zgen bereits vorgezeichnet ist.</p> + +<p>Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie +und die juristische Auffassungsweise in die +Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch +auch, wie das brigens im Vortrag ber Verfassungswesen +gleichfalls geschieht, die Betonung +der konomischen Grundlagen der Bewegung der +Geschichte in den Vordergrund. Da die Arbeiter +vermge ihrer Klassenlage in der modernen +brgerlichen Gesellschaft die eigentliche revolutionre +Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen +ist, die Gesellschaft auf eine neue Grundlage +zu stellen — die Grundidee des kommunistischen +Manifestes — ist auch der leitende Gedanke +des „Arbeiterprogramms”, unter welchem +Namen der Vortrag spter in Druck erschienen +ist. Nur da sich fr Lassalle die Sache sofort +wieder in juristische Begriffe kristallisiert und +mit ideologischen Vorstellungen verquickt wird. +Wenn Lassalle im Titel und durchgngig im Vortrage +selbst vom Arbeiterstand spricht, so knnte +man darin eine bloe Konzession an den Sprachgebrauch +erblicken, an der nur Pedanterie Ansto<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> +nehmen mchte. Indes es mu Lassalle zu +seinem Lobe nachgesagt werden, da er in der +Wahl seiner Ausdrcke durchaus nicht leichtfertig +zu Werke ging; es ist kein bloes Zugreifen +nach einer populren Redewendung, die ihn vom +„Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand” +sprechen lt, sondern eine Folge seiner wesentlich +juristischen Vorstellungen. Es ist derselbe +Rckfall, der ihn den Begriff des Bourgeois nicht +etwa von der tatschlichen Machtstellung herleiten +lt, die der Kapitalbesitz rein vermge +seiner konomischen Wirkungen und Krfte verleiht, +sondern — von den rechtlichen und staatlichen +Privilegien, die der Kapitalist auf Grund +seines Besitzes geniet oder beansprucht. Statt +den fundamentalen Unterschied zwischen dem +modernen Bourgeois und dem mittelalterlichen +Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, verwischt +er ihn auf solche Weise und lt den Kapitalbesitzer +nur dann einen Bourgeois sein, wenn +er staatlich und rechtlich die Stellung eines +Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des +„Arbeiterprogramm”.) Und, wie immer, konsequent +selbst in seinem Irrtum, stellt er als bezeichnendes +Merkmal — d. h. nicht als ein, sondern +als <em class="gesperrt">das</em> Merkmal der Bourgeoisie-Gesellschaft +— das Klassen- oder Zensuswahlsystem +hin. Das preuische Dreiklassenwahlsystem, +eingefhrt von der feudalistisch-absolutistischen +Reaktion gegen die brgerliche Revolution des +Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> +des modernen Bourgeoisiestaates. Das +hat allenfalls einen Sinn, wenn man den Begriff +Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Grokapitalisten +beschrnkt, aber was wird dann aus +dem „vierten Stand”?</p> + +<p>Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten +Bourgeoisiestaates bezeichnet Lassalle die Ausbildung +des Systems der indirekten Steuern als +Mittel der Abwlzung der Steuerlast auf die nicht +privilegierten Klassen. Da jeder privilegierten +Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den +Steuern mglichst zu befreien, kann unbestritten +bleiben. Aber wenn Lassalle den Begriff des +Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten +abhngig macht, dann wird seine Theorie schon +durch die einfache Tatsache umgestoen, da +gerade in dem Lande, wo das allgemeine und +direkte Wahlrecht am lngsten besteht, in Frankreich, +das indirekte Steuersystem am strksten +ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, da von +den 97 Millionen Talern, die der preuische Staat +im Jahre 1855 aus Steuern einnahm, nur etwa +13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, +ist brigens gleichfalls anfechtbar. Er erklrt die +10 Millionen Taler Grundsteuer einfach fr eine +indirekte Steuer, da sie nicht von den Grundbesitzern +bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis +abgewlzt werde. Das Abwlzen war +aber keineswegs eine so leichte Sache, solange die +Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzlle gegen die +Zufuhr von auen abgesperrt waren. Die Grundsteuer<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span> +hat vielmehr lange Zeit als eine reine Reallast +auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als +solche von den Grundbesitzern empfunden und +bei Veruerungen behandelt worden. 9 Millionen +Taler Einnahme aus dem Justizdienst mgen als +eine indirekte Steuer bezeichnet werden, da aber +die rmste Klasse keineswegs die meisten Prozesse +fhrt, so kann man hier nicht von einer +Steuer zur Entlastung des groen Kapitals +sprechen, wie immer man sonst ber die Justizgebhren +denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit +des groen Kapitals ist kein notwendiges +Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. Diese +unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft +dadurch, da sie nicht an gesetzliche +Statuierung der Klassenunterschiede gebunden ist, +vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung +aller fortbesteht.</p> + +<p>Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung +von Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer +als einen Beleg dafr anfhrt, da +„die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen +Privilegiums und Elementes — des Kapitals — +mit noch strengerer Konsequenz durchfhre, als +dies der Adel im Mittelalter mit dem Grundbesitz +getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel +waren in Preuen keineswegs Regierungsmittel +der Bourgeoisie, sondern der halb-feudalen +und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte +blo den Blick nach England zu wenden, wo die +Bourgeoisie zur weitesten Entfaltung gediehen<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span> +war, um sich zu berzeugen, wie auch ohne die +kleinen Mittel eines rckstndigen Regierungssystems +die Presse, und obendrein in noch viel +hherem Mae als in Preuen, „Privilegium des +groen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig +es natrlich war, gegen diese Mittel der politischen +Repression die Stimme zu erheben, so ist es +wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer +Denkweise, da, wo er die Wirkung der Herrschaft +der Bourgeoisie auf das Prewesen darstellen +will, er hier ausschlielich formal-rechtliche +Einrichtungen anfhrt, den Einflu der konomischen +Faktoren dagegen gnzlich ignoriert.</p> + +<p>Und schlielich fhrt ihn seine Ideologie dahin, +dem Staat, der „Staatsidee”, einen Dithyrambus +anzustimmen. Der „vierte Stand” hat „eine ganz +andere, ganz verschiedene Auffassung von dem +sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie”.</p> + +<p>Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle +die Auffassung der liberalen Freihandelsschule +hin, nach welcher die Aufgabe des Staates einzig +darin bestehe, die persnliche Freiheit des einzelnen +und sein Eigentum zu schtzen.</p> + +<p>Das sei aber eine „Nachtwchteridee”. Die +Geschichte sei „ein Kampf mit der Natur, mit +dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der +Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller +Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht +am Anfang der Geschichte auftrat. Die +fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit — +das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span> +Geschichte darstellt”. Diese Entwicklung des +Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen, +das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der +Staat sei „die Einheit der Individuen in einem +sittlichen Ganzen”, sein Zweck sei, „durch diese +Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, +solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu +erreichen, die sie als einzelne niemals erreichen +knnten, sie zu befhigen, eine Summe von Bildung, +Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen +smtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich +wre”. Und weiter sei sein Zweck, „das menschliche +Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden +Entwicklung zu bringen, mit anderen +Worten, die menschliche Bestimmung — d. i. die +Kultur, deren das Menschengeschlecht fhig ist — +zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei +„die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts +zur Freiheit”. So sehr sei dies „die +wahre und hhere Aufgabe” des Staates, da „sie +deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der +Dinge selbst von dem Staate, auch ohne seinen +Willen, auch unbewut, auch gegen den Willen +seiner Leiter, mehr oder weniger ausgefhrt +wurde”.</p> + +<p>Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der +Gesellschaft berhaupt haben schon durch die +hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als einzelne +befnden, den „tiefen Instinkt, da eben +dies die Bestimmung des Staates sei und sein +msse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span> +Arbeiterstandes gesetzter Staat aber wrde sich +diese „sittliche Natur” des Staates „mit hchster +Klarheit und vlligem Bewutsein” zu seiner Aufgabe +machen und „einen Aufschwung des Geistes, +die Entwicklung einer Summe von Glck, Bildung, +Wohlsein und Freiheit herbeifhren, wie +sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”.</p> + +<p>So schn das Ganze entwickelt ist, so leidet +diese Darstellung doch an einem groen Fehler: +Trotz aller Betonung der geschichtlichen Vernderungen +in Staat und Gesellschaft erscheint +der Staat hier seinem Begriff und Wesen nach +als ein fr alle Zeit gleicherweise Gegebenes, als +habe er von Anfang an einen bestimmten, einen +seiner „Idee” zugrunde liegenden Zweck gehabt, +der zeitweise verkannt, mangelhaft erkannt oder +ignoriert worden sei und dem daher zur vollen +Anerkennung verholfen werden msse. Der Staatsbegriff +ist sozusagen ein ewiger. In diesem Sinne +zitiert Lassalle eine Stelle aus einer Festrede von +Boeckh, wo der berhmte Altertumskenner „gegen +die Staatsidee des Liberalismus” an die „antike +Bildung” appelliert, welche „nun einmal die unverlierbare +Grundlage des deutschen Geistes geworden” +sei und von der aus sich die Ansicht +erzeuge, der Begriff des Staates sei dahin zu erweitern, +da „der Staat die Einrichtung sei, in +welcher die ganze Tugend der Menschheit sich +verwirklichen solle”. So begreiflich und innerhalb +gewisser Grenzen auch durchaus berechtigt +der Protest gegen die sich damals breitmachende<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span> +Theorie des absoluten sozialpolitischen Gehen- +und Geschehenlassens war, so weit schiet Lassalle +hier selbst ber das Ziel. Der Staat der Alten +beruhte auf Gesellschaftszustnden, so grundverschieden +von denen der Gegenwart, da die +Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig fr +die Gegenwart magebend sein knnen, wie etwa +die Ideen der Alten ber die Arbeit, das Geld, +die Familie. Gleich diesen ist die antike Staatsidee +nur Material der vergleichenden Forschung, +aber keineswegs eine auf die Neuzeit bertragbare +Theorie. Wenn nach Boeckh die Staatsidee des +Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” +in sich trug, so die Aufpfropfung der antiken +Staatsidee auf die heutige Gesellschaft die Gefahr +einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt +es auch durchaus nicht, was Lassalle von den +Wirkungen des Staates sagt. Diese sind vielmehr +zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene gewesen. +Groartige Kulturfortschritte sind vollzogen +worden, ehe ein Staat bestand, und wichtige +Kulturaufgaben erfllt worden, ohne den +jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; +der Staat hat unzweifelhaft im wesentlichen den +Fortschritt der Menschheit gefrdert, aber doch +auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen.</p> + +<p>Natrlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, +den Staatsbegriff der Alten unverndert wieder +herstellen zu wollen — auch Boeckh lag ein +solcher Gedanke fern —, aber mit dem schlechtweg +abgeleiteten Staatsbegriff wurde die Sache<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> +nicht besser, sondern schlimmer. Der Kultus des +Staates schlechthin heit der Kultus jedes Staates, +und wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer +Gesinnung ein direktes Eintreten fr +den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so verhinderte +diese doch nicht, da jener Kultus spter +von den Anwlten des bestehenden Staates weidlich +zu dessen Gunsten ausgebeutet wurde. Das +ist berhaupt die Achillesferse aller auf abgeleitete +Begriffe aufgebauten Theorie, da sie, so revolutionr +sie auch gedacht ist, tatschlich immer in +Gefahr ist, in eine Verklrung bestehender oder +vergangener Zustnde umzuschlagen. Lassalles +Staatsidee war die Brcke, die den Republikaner +Lassalle eines Tages mit den Streitern fr das +absolute Knigtum und den Revolutionr Lassalle +mit den eingefleischten Reaktionren zusammenfhrte. +Der philosophische Absolutismus hatte zu +allen Zeiten eine Ader, die ihn dem politischen +Absolutismus nahe brachte.</p> + +<p>So enthlt dieser Vortrag, trotz seiner sonst +vortrefflichen Eigenschaften, im Keim bereits alle +Fehler, welche in der spteren Lassalleschen Bewegung +zutage getreten sind.</p> + +<p>Zum Schlu ermahnt Lassalle die Arbeiter, +sich ganz von dem Gedanken an die hohe geschichtliche +Mission ihrer Klasse durchdringen +zu lassen, aus ihm die Pflicht zu einer ganz neuen +Haltung herzuleiten. „Es ziemen Ihnen nicht +mehr die Laster der Unterdrckten, noch die +migen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span> +selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden. +Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der +Gegenwart gebaut werden soll!”</p> + +<p>Lassalle lie, wie gesagt, auch diesen Vortrag +drucken. Aber so vorsichtig er auch gehalten +ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare politische +Schlufolgerung vermeidet, so witterte die Berliner +Polizei, zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen +sehr gut bekannt waren, doch sofort, worauf +der Vortrag hinauslief. Sie lie die ganze, bei +einem Berliner Drucker hergestellte Auflage von +3000 Exemplaren beschlagnahmen und gegen +Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni +war die Broschre im Druck vollendet und konfisziert +worden. Am 4. November 1862 reichte +der Staatsanwalt von Schelling — ein Sohn des +Philosophen Schelling — beim Berliner Stadtgericht +das Gesuch ein um Einleitung der Strafuntersuchung +gegen Lassalle wegen „Aufreizung +der besitzlosen Klassen zu Ha und Verachtung +gegen die Besitzenden”. Am 17. November beschlo +das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu +geben, und am 16. Januar 1863 kam der Proze +in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz einer +wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich +Lassalle dem Staatsanwalt und dem Gerichtsprsidenten +gleich berlegen zeigte, und namentlich +den ersteren Spieruten laufen lie, wurde +Lassalle doch zu vier Monaten Gefngnis verurteilt. +Er appellierte und hatte wenigstens den +Erfolg, da das Kammergericht die Gefngnisstrafe<span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span> +in eine verhltnismig unerhebliche Geldstrafe +umwandelte. Die Beschlagnahme der Broschre +blieb allerdings aufrechterhalten, indes lie +Lassalle den Vortrag nun bei Meyer & Zeller in +Zrich in Neuauflage erscheinen.</p> + +<p>Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die +drei Broschren ber den Proze in der ersten +Instanz — von denen die erste die Verteidigungsrede +Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die +Wissenschaft und die Arbeiter”), die zweite den +stenographischen Bericht ber die mndlichen +Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite +Kritik des erstinstanzlichen Urteils enthlt — und +schlielich auch unter dem Titel: „Die indirekte +Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die +eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten +Steuer darbietende Verteidigungsrede in der zweiten +Instanz. War die erste Verteidigungsrede eine +auerordentlich geschickte und wirkungsvolle Beweisfhrung +dafr, da der Satz in der preuischen +Verfassung „die Wissenschaft und ihre +Lehre sind frei” sinnlos wre, wenn er nicht das +Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft +und ihre Theorien den breiten Volkskreisen +vorzutragen, und da gerade die Arbeiterklasse +infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natrliche +Verbndete der fr ihre Freiheit kmpfenden +Wissenschaft sei, so ist die Rede ber die indirekte +Steuer eine ganze konomische Abhandlung +mit sehr vielem geschichtlichen und statistischen +Material, die man noch heute mit Frucht<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> +lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften +gegen das System der indirekten Steuern, die je +geschrieben wurden. Politisch kommt in dieser +zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit +dem brgerlichen Liberalismus zu schrfstem Ausdruck, +whrend in der ersten Rede noch die Gemeinsamkeit +des Kampfes beider wider die Reaktionsmchte +betont wurde. Eine eingehendere +Wrdigung dieser Reden findet man in den Vorworten +des Schreibers zu ihnen. Hier mssen +wir vorerst wieder auf die Zeit zurckgehen, in +welcher der Vortrag selbst gehalten worden war, +das Frhjahr 1862.</p> + +<p>Es ist begreiflich, da der Vortrag als solcher +zunchst kein besonderes Aufsehen machte. So +sehr er sich dem inneren Gehalt nach von der +Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern +damals von den Fortschrittsrednern vorgesetzt +wurde, der ueren, politischen Tendenz nach +wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, +Anspielungen auf eine Neuauflage der +1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte +Steuer usw. lieen es auch die fortschrittlich-demokratischen +Dutzendredner nicht fehlen. Ja, +da sie ihre Reden mit Ausfllen gegen die Regierung +spickten, hrten sich diese gewhnlich viel +radikaler an als der fast ganz akademisch gehaltene +Vortrag Lassalles. Wenn der Philister oppositionell +ist, nimmt er es in der Grospurigkeit +der Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit +seiner Hrer, ob Arbeiter oder Brger,<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span> +machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von +auergewhnlichem Radikalismus.</p> + +<p>So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der +„Philosophischen Gesellschaft” in Berlin war, +noch in demselben Frhjahr von dieser dazu ausersehen, +bei der auf den 19. Mai veranstalteten +Gedenkfeier zum hundertjhrigen Geburtstage des +Philosophen Fichte die Festrede zu halten. Weder +an seinem sozialen noch an seinem politischen +Radikalismus, der natrlich in diesen Kreisen wohl +bekannt war, nahmen die leitenden Persnlichkeiten +damals Ansto. Da das Brgertum in +seiner groen Mehrheit oppositionell war, durften +auch seine Gelehrten noch Ideologie treiben.</p> + +<p>Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den +„Demokratischen Studien” Fichte als Apostel der +deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm jetzt +den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine +Festrede zu halten, so war das im Grunde nichts +als eine Anerkennung jenes Aufsatzes. Und +Lassalle lie sich denn auch die Gelegenheit nicht +entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung +zu wiederholen.</p> + +<p>Die Rede trgt den Titel: „Die Philosophie +Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes.” +Sie ist glnzend, soweit sie Fichtes +Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie +zur Anschauung bringt. Weiterhin aber +verfllt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche +Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische +Volksidee, und seine Bedeutung besteht<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> +darin, da die Deutschen die hohe weltgeschichtliche +Aufgabe haben, aus dem „reinen +Geist” heraus diesem „nicht blo eine reale Wirklichkeit”, +sondern sogar „die bloe Sttte seines +Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. +„Indem hier das Sein aus dem reinen Geist selbst +erzeugt wird, mit nichts Geschichtlichem, nichts +Naturwchsigem und Besonderem verwachsen, +kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild +sein, und trgt hierin die Notwendigkeit +jener Bestimmung zur hchsten und vollendetsten +Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” +Und was Fichte philosophisch in der +Einsamkeit seines Denkens aufgestellt habe, das +sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen +bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” +und durchbebe „unter dem populren und dogmatischen +Namen der deutschen Einheit jedes edlere +deutsche Herz”.</p> + +<p>Das Streben nach der deutschen Einheit als +die Frucht des „reinen, mit nichts Geschichtlichem +verwachsenen” Geistes hinstellen — das ging noch +ber die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb +scheint auch der mit groer Konsequenz +und Einheitlichkeit des Gedankens durchgefhrte +Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total +verfehlt zu haben. Wie einige Bltter schadenfroh +berichteten, verlieen die Hrer zum groen +Verdru Lassalles allmhlich das Zimmer der +Festrede, „um sich nach dem Zimmer des leckeren +Mahles zu verfgen”. Sie vergaen aber<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span> +hinzuzusetzen, da die Hrerschaft sich nicht nur +aus Mitgliedern der philosophischen Gesellschaft, +sondern in der Mehrheit aus deren Gsten zusammensetzte +— meist also Leute, die solche +Festversammlungen lediglich des guten Tons halber +besuchen.</p> + +<p>Lassalle lie auch diese Rede im Separatdruck +erscheinen und sandte sie, zusammen mit dem +„Julian Schmidt”, und dem Vortrag „ber Verfassungswesen” +durch Lothar Bucher an Marx. +Er habe „etwas politisch-praktische Agitation beginnen” +wollen, schreibt er unter dem 9. Juni an +letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag +in vier Vereinen gehalten. Auerdem einen weit +lngeren Vortrag ber den Arbeiterstand geschrieben +und in einem Arbeiterverein gehalten.” +Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe +mich jetzt auch entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn +drucken zu lassen; er ist bereits unter der Presse. +Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im weiteren +Verlauf seines Briefes kommt er wieder +darauf zurck, da durch die intensivere Beschftigung +mit anderen Dingen in den letzten drei +Jahren die nationalkonomische Materie in seinem +Kopf „gleichsam fossil” geworden sei. Erst wenn +„alles wieder flssig geworden”, werde er an +die zweite Lektre des Marxschen Buches „Zur +Kritik der politischen konomie” gehen, und dann +ziemlich gleichzeitig an dessen Besprechung und +die Ausfhrung seines eigenen konomischen +Werkes — „welch letztere freilich sehr lange<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> +dauern wird”. Dieses Programm werde ohnehin +durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, +denn im Sommer halte er es in Berlin nicht aus. +Im Juli werde er nach der Schweiz reisen oder +erst nach London kommen und dann in die Schweiz +gehen.</p> + +<p>Er entschied sich fr das letztere. Vorher aber +schrieb er noch einmal an Marx, und zwar:</p> + +<p>„Lieber Marx! Der berbringer ist der Hauptmann +Schweigert, der mit Auszeichnung unter +Garibaldi und speziell unter meinem Freund +Rstow gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlssigste +Kerl von der Welt. C'est un homme +d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, +die er von Coburg aus organisiert und geht jetzt +nach London, um dort Geldmittel fr 3000 Gewehre +aufzutreiben, die er fr die Wehrvereine +braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, +wie wnschenswert dies wre. Habe also die +Gte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, +von denen er Geld fr diesen Zweck erhalten kann +oder sonstigen zu diesem Ziel fhrenden Vorschub +zu tun. Tue Dein Mglichstes.</p> + +<p>„Die Wahrscheinlichkeit, da ich nach London +komme, nimmt zu.</p> + +<p> +Berlin, 19. 6. 62. Dein F. Lassalle.”<br /> +</p> + +<p>Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” +standen im Lager des „Nationalvereins”, der +seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rstow wollte +sie offenbar fr Aktionen verwendbar machen,<span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span> +die zeitgem werden konnten, wenn Garibaldi +sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme +d'action”, und das groe Interesse an der Beschaffung +der 3000 Gewehre sind eine weitere +Besttigung fr das weiter oben von den Revolutionsplnen +Lassalles Gesagte.</p> + +<p>Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, +die sich auf Besuche und einen zu unternehmenden +gemeinsamen Ausflug beziehen, schlieen die +mir vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. +Es wre aber falsch, daraus den Schlu zu ziehen, +da es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen +den beiden gekommen wre. Ein solcher hat nie +stattgefunden. Wohl aber wissen wir von Marx, +da in den mndlichen Auseinandersetzungen zwischen +ihm und Lassalle er dem letzteren die +grundstzliche Verschiedenheit der beiderseitigen +Standpunkte rckhaltlos dargelegt, sich rundweg +gegen dessen Plne erklrt habe. Bald nachdem +Lassalle im Herbst 1862 nach Berlin zurckgekehrt +war, schlief die Korrespondenz gnzlich +ein. Um so enger schlo sich Lassalle an Bucher +an, der ihn spter auch mit Rodbertus in Verbindung +brachte.</p> + +<p>Im Sptsommer 1862 schien es einen Augenblick, +als wolle die preuische Regierung der +Volksvertretung gegenber eine nachgiebigere +Haltung einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, +bis pltzlich der Knig in schroffer +Weise der Kammer erklren lie, da er sich +auf keine Konzessionen in bezug auf die Verkrzung<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span> +der Militrdienstpflicht einlasse und auch +keine Neigung verspre, um Indemnitt fr die +verfassungswidrige Durchfhrung der Armeeorganisation +einzukommen. Die Kammer antwortete +damit, da sie die Forderung der Regierung, +die Kosten der Heeresorganisation in +den Etat der ordentlichen Ausgaben aufzunehmen, +mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den +Widerstand der Mehrheit zu brechen, berief der +Knig an Stelle des Herrn v. d. Heydt den gerade +in Berlin befindlichen Gesandten Preuens am +franzsischen Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. +Die vorhergegangene schroffe Betonung +der kniglichen Vorrechte war bereits im +Einverstndnis mit Bismarck erfolgt.</p> + +<p>Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” +und 1849 in der Preuischen Nationalversammlung +als feudal-junkerlicher Heisporn aufgetreten +war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann” +entwickelt. Er hatte die junkerlichen Ideologien +ber Bord geworfen, um desto wirksamer +die Interessen des „befestigten Grundbesitzes” +wahrzunehmen, er hatte den vormrzlichen Absolutismus +aufgegeben, um dem Knigtum dadurch +eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, da +die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch +nichts als die Verantwortung fr die Bedrfnisse +und die Politik der Monarchie bernehmen sollte. +Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus +bekannten Regierungssystems bernommen, +das, wenn es von Demokratie spricht, Regierungsgewalt<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span> +meint, und von Frsorge fr das Wohl +der Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug +auf die Taschen der Arbeiter im Schilde +fhrt. Von der zarischen Diplomatie hatte er +gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter +der Hand mit Revolutionren Geschfte machen +kann, von der bonapartistischen, wie man stets in +dem Augenblick den Gegner einer verpnten +Handlung beschuldigen mu, wo man selbst eben +diese Handlung zu begehen im Begriff ist. Als +Spezialitt bte er auerdem die Gepflogenheit +aller geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblffende +Aufrichtigkeit an den Tag zu legen, +um bei der nchsten Gelegenheit mit desto mehr +Erfolg die Sprache gebrauchen zu knnen, um +die Wahrheit nicht zu sagen.</p> + +<p>Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch +vor die Kammer, trotzdem wurde ihm jedoch sein +deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklrung +in der Budgetkommission, die deutsche +Frage werde nur durch „Blut und Eisen” gelst +werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. +Das Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschlu +bestehen, der Regierung nichts zu bewilligen, +bevor nicht sein verfassungsmiges Recht von +ihr anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus +vertagte mit der Erklrung, die Regierung werde +vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde.</p> + +<p>Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. +Wohl hatte er die Regierungsgewalt, d. h. +die organisierte Macht, hinter sich, whrend die<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> +Kammer vorlufig nichts als die „ffentliche Meinung” +auf ihrer Seite hatte. Indes, er wute ganz +gut, da er sich auf die preuischen Bajonette +nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge +in der auswrtigen Politik, geeignet, die +ehemaligen „Gothaer”, d. h. die schwachliberalen +Kleindeutschen, fr die Regierung zurckzugewinnen, +war vorderhand nicht zu rechnen. Er mute +also anderwrts Verbndete gegen die Fortschrittspartei +zu gewinnen suchen.</p> + +<p>Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, da +man in Berlin in Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung +eines Allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses +zur Errterung von besonderen Fragen +des Arbeiterwohls ernsthaft zu betreiben, und +da in Zusammenknften, die dieser Frage galten, +ein beschftigungsloser Arbeiter namens Eichler +mit besonderer Heftigkeit die Fortschrittspartei +der Lahmheit anklagte und gegen die Schulzeschen +Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts +ntzten. Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen +soviel Geschrei machten, sei es nichts, nur +der Staat knne den Arbeitern helfen. Eichler, +der behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner +absprechenden uerungen ber die Schulzesche +Selbsthilfe gemaregelt zu sein, fand die Mittel, +nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein +„Vorwrts” gleichfalls die Idee der Einberufung +eines allgemeinen Arbeiterkongresses und +die Grndung einer selbstndigen Arbeiterorganisation +lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span> +Leipziger Zentralkomitee fr die Einberufung des +Kongresses nach Berlin zu gewinnen, und als man +ihm etwas genauer auf den Zahn fhlte, rckte er +schlielich in der Hitze des Gefechtes mit der +Erklrung heraus, er wisse ganz genau, da die +preuische Regierung den guten Willen habe, den +Arbeitern zu helfen, namentlich bei der Grndung +von Produktivgenossenschaften; er knne mitteilen, +da Herr von Bismarck bereit sei, 30000 Taler +zur Grndung einer Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft +zu liefern — die Maschinenbauer +waren damals, und noch lange spter, in +Berlin die Kerntruppe der Fortschrittspartei! +Natrlich mten sich die Arbeiter dazu entschlieen, +der Fortschrittspartei den Rcken zu +kehren, die eine Partei der Bourgeoisie, der +Hauptfeindin der Arbeiter, sei.</p> + +<p>Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die +Leute, welche in Leipzig den Arbeiterkongre +betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so +geringe Lust hatten sie, ihnen der preuischen +Regierung zuliebe in den Rcken zu fallen. Eichler +zog unverrichteter Sache heim und scheint auch +in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man +ihm wegen seiner auffllig flotten Lebensweise, +die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar nicht +pate, auf den Pelz rckte, machte er mysterise +Anspielungen auf eine reiche vornehme Dame, die +Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da er +ein hbscher Bursche war, hatte das auch nichts +besonders Unwahrscheinliches. Eichler verschwand<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span> +dann von der Bildflche und tauchte spter +als — preuischer Polizeibeamter auf.</p> + +<p>Als 16 Jahre spter, in der Reichstagssitzung +vom 16. September 1878, August Bebel die +Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum +Frsten avancierten Bismarck vorhielt, suchte +dieser tags darauf den Eichler von sich abzuschtteln, +indem er ein Versehen Bebels in der +Zeitbestimmung fr sich ausnutzte — Bebel hatte +September statt Oktober 1862 als die Zeit des +Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; +aber im Vertrauen auf die Wirkung dieses Kunstgriffs +lie er sich zu dem Gestndnis verleiten, +Eichler habe spterhin „Forderungen an mich gestellt +fr Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, +und da ihm „bei der Gelegenheit erst in Erinnerung +gekommen, da Herr Eichler im Dienste +der Polizei gewesen ist und da er Berichte +geliefert hat”. (Vgl. die unter dem Titel „Die +Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage” +verffentlichten amtlichen Stenogramme ber die +Beratung des Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) +Mit andern Worten, die angebliche vornehme +Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” +seinerzeit einmal drastisch ausdrckte, die „aristokratische +Vettel” entpuppte sich als — das +Berliner Polizeiprsidium.</p> + +<p>Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am +13. Oktober Bismarck den Landtag vertagt hatte, +hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: +„Was nun?” Er beruft sich dort darauf, da<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span> +die Ereignisse den Ausfhrungen in seinem ersten +Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, +der Kriegsminister von Roon und der +gegenwrtige Ministerprsident von Bismarck +htten seine Theorie, da Verfassungsfragen +Machtfragen sind, besttigt. Gesttzt auf ihre +Macht habe die Regierung fortgefahren, sich ber +die Beschlsse der Kammer hinwegzusetzen. Es +handle sich nun weniger um die Frage, wie +der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer +Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen +das Volk zum Teil gar kein Interesse habe, sondern +einfach um die Frage, wie das Budgetrecht +der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische +Regime zur Wahrheit zu machen sei, +da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden +wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. +Soll man zu dem Mittel der Steuerverweigerung +greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei +als solche ein wirksames Mittel nur in den Hnden +eines Volkes, das, wie das englische, die vielen +Machtmittel der organisierten Macht auf seiner +Seite habe. Sie htte nur dann einen Sinn, wenn +sie dazu dienen sollte, einen allgemeinen Aufstand +zu entflammen. Aber an einen solchen +„werde unter den jetzigen Umstnden hoffentlich +wohl niemand denken”. Das einzige Mittel +sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer msse, +sobald sie wieder zusammentrete, „aussprechen +das, was ist”. Das sei „das gewaltigste politische +Mittel”. Die Kammer msse es der Regierung<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span> +unmglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus +weiter zu regieren. Sobald sie wieder zusammentrete, +msse sie unverzglich einen Beschlu +fassen, da sie, solange die Regierung +ihren Verfassungsbruch fortsetze, es ablehne, +durch Forttagen und Fortbeschlieen der Regierung +behilflich zu sein, den Schein eines verfassungsmigen +Zustandes aufrechtzuhalten, und +da sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte +Zeit, und zwar auf so lange aussetze, bis die +Regierung den Nachweis antritt, da die verweigerten +Ausgaben nicht lnger fortgesetzt werden”. +Sobald die Kammer diesen Beschlu gefat +habe, sei die Regierung besiegt. Auflsung +nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten +wrden mit derselben Parole wiedergewhlt +werden. Ohne Kammer knne sie aber auch nicht +regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung +nach auen wrden so gewaltig darunter +leiden, da sie ber kurz oder lang gezwungen +sein werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, +den Konflikt beizulegen, gbe es aber nicht. +Durch Forttagen und Verweigern anderer oder +auch aller Ausgaben der Regierung wrden nur +Volk und Regierung an die se Gewohnheit der +Nichtbeachtung von Kammerbeschlssen gewhnt. +Noch schlimmer wrde es sein, wollte die Kammer +sich auf einen Kompromi einlassen, etwa fr +den Preis der Bewilligung der zweijhrigen Dienstzeit. +Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen +Grundfrage, um die es sich jetzt handle.<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span> +Je hartnckiger sich die Regierung stelle, um so +grer werde alsdann ihre Demtigung sein, wenn +sie sich gezwungen sehen werde, nachzugeben. +„Um so mehr erkennt sie dann die gesellschaftliche +Macht des Brgertums als die ihr berlegene +Macht an, wenn sie erst spter umkehrend sich +vor Volk und Kammer beugen mu.” Dann +aber „keinen Vershnungsdusel, meine Herren”. +Keinen neuen Kompromi mit dem alten Absolutismus, +sondern „den Daumen aufs Auge und +das Knie auf die Brust”.</p> + +<p>Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen +eine vershnliche Haltung gegenber der Fortschrittspartei +ein. Er will „der Einigkeit zuliebe” +alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf +dem Herzen habe, unterdrcken. Nur die „Volkszeitung” +und ihre Hintermnner, deren Politik +das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. +Diese „Geistesrmsten” trgen durch ihre Versuche, +die Regierung in eine konstitutionelle „umzulgen”, +einen sehr groen Teil der Verantwortung +fr den jetzigen Stand der Dinge. Aber +„Friede, meine Herren, der Vergangenheit”!</p> + +<p>Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so +friedlich gesinnt war und wirklich sich dem +Glauben hingab, die Fortschrittler wrden auf +seinen Vorschlag eingehen, oder ob diese Vershnlichkeit +nur oratorische Floskel war, um ihm +spter eine desto schrfere Position gegen die +Fortschrittler zu verleihen, lt sich schwer feststellen. +Es mag beides zutreffen. Da er einem<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span> +zeitweiligen Zusammengehen mit den Fortschrittlern +grundstzlich nicht abgeneigt war, haben wir +vorher gesehen, viele persnliche Beziehungen +lieen ihm das sogar als wnschenswert erscheinen, +und vom prinzipiellen Standpunkt lie +sich bei der damaligen Sachlage auch nichts dagegen +einwenden. Auf der anderen Seite war es +aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler +sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen +Einflu auf ihre Taktik einrumen wrden, +auf den er Anspruch zu haben glaubte.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Lassalle" id="Lassalle">Lassalle +und das Leipziger Arbeiterkomitee. — +Das Offene Antwortschreiben, +politischer Teil.</a></h2> + + +<p>Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, +d. h. die von Lassalle vorgeschlagene Kampfesmethode, +nicht ein. Man kann ihnen auch von +ihrem Standpunkt aus nicht unrecht geben. +Lassalles Vorschlag war sehr gut, wenn man es +so schnell als mglich zum uersten treiben +wollte, wenn man entschlossen, sowie in der Lage +war, auf einen Staatsstreich — denn weiter blieb +der Regierung bei dieser Taktik nichts brig — mit +einer Revolution zu antworten. Soweit waren +aber die Fortschrittler noch nicht, und darum +zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne +Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige +Verzicht auf die Tribne in der Kammer<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span> +auf den famosen „passiven Widerstand” hinaus, +ber den Lassalle sich mit Recht selbst lustig +machte. Durch beharrliche Verweigerung des +Budgets konnte man ebenso laut und drastisch +„aussprechen, was ist”, die ffentliche Meinung +ebenso wirksam oder noch mehr in Erregung +halten, als durch das Mittel der Vertagung ins +Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen +Schein von Recht fr die Auerkraftsetzung der +Verfassung lieferte. Das war ja aber die Hauptidee +der Taktik der Fortschrittler, die Regierung +vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenber +dem Recht hinzustellen. „Ihre Hauptwortfhrer,” +sagt B. Becker sehr gut, „waren meist Leute +aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich +an juristisch-advokatorische <em class="gesperrt">Dehnbarkeit</em><a name="FNAnker_20_20" id="FNAnker_20_20"></a><a href="#Fussnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a> +gewhnt und den Streit der Kammermajoritt mit +der Regierung wie einen langen Rechtsstreit zu +betrachten geneigt.”</p> + +<p>Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle +den Vorwurf, da er, gleich der Regierung, Macht +vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach +der ersten Verfassungs-Broschre, wie es bei +Becker heit, schrieb Lassalle den Aufsatz „Macht +und Recht”, in welchem er der Fortschrittspartei +rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es +war ihm ein leichtes, die ganze Lcherlichkeit +jenes Vorwurfs mit ein paar Worten schlagend +nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe +den Beweis zu liefern, da ihr Abgott Schwerin,<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> +dessen Erklrung, da in Preuen „Recht vor +Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem +ganzen Dutzend Rechtsbrchen, wo Macht vor +Recht ging, teilgenommen hatte. „Es hat kein +Mensch im preuischen Staat das Recht, vom +‚Recht’ zu sprechen” — ruft er aus — „als die +Demokratie, die alte und wahre Demokratie. +Denn sie allein ist es, die stets am Recht festgehalten +und sich zu keinem Kompromi mit der +Macht erniedrigt hat.” Und: „Bei der Demokratie +allein ist alles Recht — und bei ihr allein +wird die Macht sein!”</p> + +<p>Dieser Kriegserklrung, in Form einer Berichtigung +an die radikale Berliner „Reform” eingesandt, +verschlo letztere — fr die Lassalle noch +im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt +hatte — ihre Spalten, desgleichen die „Vossische +Zeitung”. Die letztere lehnte auch die Aufnahme +des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf +Lassalle ihn als „Offenes Sendschreiben” in +Zrich erscheinen lie. Da die Wahl dieses +Verlagsortes die „pregesetzlichen Bedenken” +der „Vossischen Zeitung” eigentlich rechtfertigte, +kmmerte ihn nicht weiter.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p>Zwischen der Verffentlichung des Vortrages +„Was nun?” (Dezember 1862) und der Abfassung +des „Sendschreibens” (Februar 1863) +liegen wiederum zwei Monate. Noch vor dieser +Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei Mitglieder<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span> +des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter +F. W. Fritzsche und der Schuhmacher +Julius Vahlteich, nach Berlin gefahren und hatten +dort, nach Konferenzen mit fhrenden Mitgliedern +des Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch +und noch etlichen Fortschrittsfhrern +am 2. November einer groen Arbeiterversammlung +beigewohnt, in der mit berwiegender Mehrheit +beschlossen wurde, das Mandat fr die Einberufung +des Kongresses dem Leipziger Komitee +zu bertragen. Der Besuch berzeugte sie, die +selbst schon Sozialisten waren, da die Arbeiter +Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen, +dieser aber und die brigen Fhrer der Fortschrittspartei +von einer selbstndigen Arbeiterbewegung +sehr wenig wissen wollten. Sptere +Anfragen bestrkten diesen Eindruck noch. In +bezug auf die Frage des Beitritts zum Nationalverein +erhielt man die bereits erwhnte klassische +Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” +des Nationalvereins betrachten. In +bezug auf die Frage des Wahlrechts waren die +Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, +hielten sie auch auerdem fr keine brennende. +Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so vortreffliche +Kammer zusammengebracht, man knne +es also schon noch eine Weile mitansehen. Da +die vortreffliche, d. h. die oppositionelle Kammer, +lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhltnisse +war, kam den guten Leuten nicht zum Bewutsein.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p> + +<p>Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, +dem spteren Fortschrittsabgeordneten Ludwig +Lwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand +Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” +aufmerksam gemacht und setzten sich +nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich +leicht denken, wie sehr dies dessen Entschlu +bestrken mute, nunmehr das „Friede der Vergangenheit, +meine Herren” zurckzunehmen. Als +er das Sendschreiben „Macht und Recht” erlie, +war bereits zwischen ihm und dem Leipziger +Komitee verabredet, da dieses ihn in einem +offiziellen Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten +ber die Aufgaben der Arbeiterbewegung +und die Frage der Assoziationen in einer ihm +passend erscheinenden Form darzulegen, und da +diese Form eben die einer Flugschrift sein sollte. +Die uerst interessanten damaligen Briefe +Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von +Prof. H. Oncken in Grnbergs „Archiv fr die +Geschichte des Sozialismus” verffentlicht worden +(Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, da +Lassalle, so froh er ber die Verbindung mit dem +Leipziger Komitee war, sich diesem doch in keiner +Weise aufdrngte. Die Leipziger, d. h. die treibenden +Elemente im Arbeiterverein, wuten sehr +gut, worauf sie hinauswollten; worber man noch +unentschlossen war, das war weniger das Wesen +der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. +Es war durchaus nicht „das Bewutsein +seiner eigenen Unklarheit”, wie Bernh.<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span> +Becker in seiner „Die Wahrheit ber alles” +stellenden Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation +schreibt, die das Komitee veranlate, +in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an +die deutschen Arbeiter” gleichzeitig fr Beschleunigung, +aber gegen bereilung des zu berufenden +Arbeiterkongresses sich auszusprechen. +Der Kongre sollte mglichst bald stattfinden, +aber nicht so bald, da nicht inzwischen die +Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan haben +konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwhnten +Aufruf erlie, beschlo das Komitee, +folgenden Brief an Lassalle zu schicken, der auch +tags darauf abging:</p> + +<p> + „Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin.<br /> +<br /> + Sehr geehrter Herr!<br /> +</p> + +<p>Ihre Broschre: ‚ber den besonderen Zusammenhang +der gegenwrtigen Geschichtsperiode +mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier berall +von den Arbeitern mit groem Beifall aufgenommen +worden und das Zentralkomitee hat sich in +Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung ausgesprochen. +Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr +ernstliche Bedenken ausgesprochen worden, ob +die von Schulze-Delitzsch empfohlenen Assoziationen +der groen Mehrzahl der Arbeiter, die +gar nichts besitzt, gengend helfen knnen, ob +namentlich durch dieselben die Stellung der Arbeiter +im Staat in der Art verndert werden kann,<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span> +wie es notwendig erscheinen mu. Das Zentralkomitee +hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) hierber +seine Ansichten ausgesprochen; es ist der +berzeugung, da das Assoziationswesen unter +unsern jetzigen Verhltnissen nicht genug leisten +knne. — Da nun aber aller Orten die Ideen +von Schulze-Delitzsch als magebend fr den +Arbeiterstand, unter dem wir die gedrckteste +Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, +und da doch wohl noch andere Mittel und Wege, +als die von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen, +denkbar wren, um die Ziele der Arbeiterbewegung: +Verbesserung der Lage der Arbeiter +in politischer, materieller und geistiger Beziehung +zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner +Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen:</p> + +<blockquote> + +<p>Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend +erscheinenden Form Ihre Ansichten ber die +Arbeiterbewegung und ber die Mittel, deren +dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders +auch ber den Wert der Assoziationen fr die +ganz unbemittelte Volksklasse, auszusprechen.</p> + +<p>Wir legen den grten Wert auf Ihre Ansichten, +welche Sie in der angefhrten Broschre +ausgesprochen haben, und werden deshalb auch +Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu wrdigen +wissen. Wir ersuchen Sie schlielich nur +noch um mglichst baldige Erfllung unserer +Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span> +der Arbeiterbewegung zu beschleunigen. — +Mit Gru und Handschlag!</p> + +<p>Leipzig, 11. Februar 63.</p></blockquote> + +<p class="center"> +Fr das Zentralkomitee zur Berufung eines<br /> +Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses<br /> +<br /> + Otto Dammer.”<br /> +</p> + +<p>Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom +1. Mrz 1863 datierte „Offene Antwortschreiben +an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen +deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig +von Ferdinand Lassalle”.</p> + +<p>Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee +und im Leipziger Arbeiterverein selbst beginnt +die eigentlich sozialistische Agitation Lassalles +und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen +Arbeitervereins”.</p> + +<hr class="tb" /> + +<p>Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt +zunchst der Ansicht entgegen, da die Arbeiter +sich nicht um die Politik zu bekmmern htten. +Im Gegenteil, sie htten sich durchaus an der +Politik zu beteiligen, blo drften sie dies nicht +in der Weise tun, da sie sich als den „selbstlosen +Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei +betrachteten. Der Nachweis dafr, da +die Fortschrittspartei den Anspruch darauf verwirkt +habe, sttzt sich im wesentlichen auf das +von dieser im Verfassungskonflikt beobachtete<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span> +Verhalten und ist insofern nicht berall von gleichmiger +Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf +Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, +da sie „nur .... das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht +zum Inhalt ihres Kampfes habe”, +so verga er, da er selbst es noch im Vortrage +„Was nun?” als das eigentliche und mit aller +Energie zu vertretende Objekt des Kampfes bezeichnet +hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei +auf ihn selbst berufen, wenn er es +ihr als eine politische Snde anrechnete, da sie</p> + +<blockquote> + +<p>„sich durch ihr Dogma von der preuischen +Spitze zwingt, in der preuischen Regierung +den berufenen Messias fr die deutsche Wiedergeburt +zu sehen, whrend es, mit Einschlu +Hessens, nicht eine einzige deutsche Regierung +gibt, welche hinter der preuischen in politischer +Beziehung zurckstnde, whrend es, +und zwar mit Einschlu sterreichs (!!), fast +keine einzige deutsche Regierung gibt, welche der +preuischen nicht noch bedeutend voraus wre.”</p></blockquote> + +<p>Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natrlich +recht. Die Organisation der Arbeiter als +selbstndige politische Partei mit eigenem Programm +war eine geschichtliche Notwendigkeit, und +wenn die Entwicklung der politischen Zustnde +Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen +konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten +war, die Arbeiter vom Heerbann der gegen den +Absolutismus kmpfenden Fortschrittspartei abzutrennen,<span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span> +so lag von seiten der letzteren genug +vor, was zu dieser Abtrennung geradezu herausforderte. +Zudem hie die selbstndige Organisierung +der Arbeiter an sich noch nicht Beeintrchtigung +der Aggressivkraft der Fortschrittspartei. +Da sie diese in der Tat zur Folge hatte, +ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei +selbst — ihrer wahrhaft bornierten +Haltung gegenber der neuen Bewegung. Zum +Teil allerdings auch Schuld des Programms, +welches Lassalle dieser Bewegung gab.</p> + +<p>Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” +gesehen, welch abstrakte, rein ideologische +Vorstellung Lassalle mit dem Begriff +„Staat” verband. Es ist keine bertreibung zu +sagen, da er einen wahren Kultus mit dem Staatsbegriff +trieb. „Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation, +den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen +jene modernen Barbaren” — nmlich die Manchesterpartei +— ruft er in der Rede „Die +indirekte Steuer” den Richtern des Berliner +Kammergerichts zu, und hnliche Stellen finden +sich in fast allen seinen Reden vor. Dieser Staatskultus +ist die Achillesferse der Lassalleschen +Doktrin, die Ursache von allerhand verhngnisvollen +Fehlgriffen. Die althegelisch-ideologische +Vorstellung vom „Staat” veranlate Lassalle, in +einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische +Verehrung des Staats einzuprgen, wo es sich fr +sie zunchst noch darum handelte, die Bevormundungen +des Polizeistaats erst loszuwerden. Es<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span> +hrt sich sehr hbsch an, wenn er im „Offenen +Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, +Sie wollten ber Freizgigkeit debattieren? Ich +wei Ihnen hierauf nur mit dem Distichon Schillers +zu antworten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,<br /></span> +<span class="i0">Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” —<br /></span> +</div></div> + +<p>Freizgigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, +die man in einem gesetzgebenden Krper „stumm +und lautlos dekretiert, aber nicht mehr debattiert”. +Tatschlich jedoch waren diese Dinge und mit +ihnen die Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, +whrend die Arbeiter sie unbedingt brauchten. +Der wirkliche Grund, warum Freizgigkeit und +Gewerbefreiheit einen verhltnismig untergeordneten +Rang auf einem Arbeiterkongre einzunehmen +hatten, war der, da sie zugleich in +hohem Grade Forderungen des brgerlichen Liberalismus +waren; aber berflssig war ihre Diskutierung +schon deshalb nicht, weil selbst in Arbeiterkreisen +noch sehr viel Unklarheit ber ihre +Bedeutung herrschte.</p> + +<p>Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm +wichtiger als sie die Forderung der Staatshilfe +schien. Einmal der Sache selbst wegen, zweitens +aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe +das einzig wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse +fr die politische Aktion aufzurtteln, sie +zugleich von der Vormundschaft der brgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span> +Parteien zu emanzipieren und doch fr die Erkmpfung +der demokratischen Forderungen zu erwrmen. +Und kein Zweifel, da ihm zu jener +Zeit diese zweite Seite die wichtigere war. Sie +war es auch nach Lage der Dinge selbst. Es +handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, +durch die er diesen Zweck zu erreichen suchte, +richtig waren.</p> + +<p>Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der +Selbsthilfe zu berzeugen, wie sie von brgerlicher +Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle +auf das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, +wie es von den Klassikern der politischen +konomie, insbesondere und am schrfsten von +Ricardo formuliert worden war, das „eherne und +grausame Gesetz, wonach unter der Herrschaft +von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche +Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt +reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmig +zur Fristung der Existenz und +zur Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er +zeitweilig ber diesen Satz, so bewirkten leichtere +Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung +der Arbeiterbevlkerung und damit des +Arbeiterangebots, infolgedessen der Lohn wieder +auf den frheren Lohnsatz zurckfalle. Falle er +aber unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, +grere Sterblichkeit unter den Arbeitern, +Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine Verminderung +des Arbeiterangebots, infolgedessen +die Lhne wieder stiegen. So tanzten „Arbeiter<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span> +und Arbeitslohn immer um den uersten Rand +dessen herum, was nach dem Bedrfnis jeder +Zeit zu dem notwendigsten Lebensunterhalt gehrt”, +und dies „ndert sich nie”.</p> + +<p>Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, +durch die individuellen Anstrengungen ihrer Mitglieder +ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise +zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es +verfehlt, die Lage der Arbeiter durch Konsumvereine +verbessern zu wollen. So lange diese vereinzelt +blieben, knnten sie hier und da den Arbeitern +Vorteile verschaffen. Von dem Zeitpunkt +aber an, wo sie allgemein wrden, wrden die +Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder +verlieren, was sie als Konsumenten, beim Einkauf +ihrer Bedarfsartikel, gewnnen. Die Lage +der Arbeiterklasse knne vielmehr dauernd nur +von dem Druck jenes konomischen Gesetzes befreit +werden, wenn an die Stelle des Arbeitslohns +der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse +ihr eigener Unternehmer werde. Das sei +aber nicht durch die Grndung selbsthilflerischer +Assoziationen zu erreichen, da diesen die erforderlichen +Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft +dem Schicksal verfielen, da in ihnen der Unternehmergeist +seinen Einzug halte und die Mitglieder +in die „widrige Karikatur der Arbeiter +mit Arbeitermitteln und Unternehmergesinnungen” +verwandelte. Die groen Fragen lieen sich nur +mit groen Mitteln lsen, und darum mten die +Assoziationen in groartigem Mastabe und mit<span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span> +Ausdehnung auf die fabrikmige Groindustrie +ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber — das +ntige Kapital, bzw. der ntige Kredit — vom +Staat dargeboten werden. Das sei durchaus kein +Kommunismus oder Sozialismus. „Nichts ist weiter +entfernt von dem sogenannten Kommunismus oder +Sozialismus als diese Forderung, bei welcher +die arbeitenden Klassen ganz wie heute ihre individuelle +Freiheit, individuelle Lebensweise und +individuelle Arbeitsvergtung beibehalten und zu +dem Staat in keiner anderen Beziehung stehen, +als da ihnen durch ihn das erforderliche Kapital, +resp. der erforderliche Kredit zu ihrer Assoziation +vermittelt wird.” Der Beruf des Staates sei es +aber gerade, die groen Kulturfortschritte der +Menschheit zu erleichtern und zu vermitteln. +„Dazu existiert er, hat immer dazu gedient und +dienen mssen.” Was aber „ist denn der Staat”? +Und Lassalle fhrt die Zahlen der preuischen +Einkommensstatistik von 1851 an, wonach in +jenem Jahre 89 Prozent der Bevlkerung ein Einkommen +unter 200 Talern gehabt hatten, dazu +7¼ Prozent der Bevlkerung ein solches von +200 bis 400 Talern, so da also 96¼ Prozent +der Bevlkerung in elender, gedrckter Lage sich +befnden. „Ihnen also, meine Herren, den notleidenden +Klassen, gehrt der Staat, nicht uns, +den hheren Stnden, denn aus Ihnen besteht er! +Was ist der Staat? fragte ich, und Sie ersehen +jetzt aus wenigen Zahlen, handgreiflicher als aus +dicken Bchern, die Antwort: Ihre, der rmeren<span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span> +Klassen, groe Assoziation — das ist der Staat.” +Und wie den Staat zu der geforderten Intervention +vermgen? Dies werde nur durch das allgemeine +und direkte Wahlrecht mglich sein. Nur wenn +die gesetzgebenden Krper Deutschlands aus +dem allgemeinen und direkten Wahlrecht hervorgehen +— „dann und nur dann werden Sie den +Staat bestimmen knnen, sich dieser seiner Pflicht +zu unterziehen”. Das allgemeine und direkte +Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches, es +ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung +aller sozialen Hilfe”. Darum mgen +sich die Arbeiter zu einem allgemeinen deutschen +Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe +die Einfhrung des allgemeinen und direkten +Wahlrechts in allen deutschen Lndern. Werde +diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der +Bevlkerung als Magenfrage aufgefat und daher +auch mit der Magenwrme durch den ganzen +nationalen Krper hin verbreitet, so werde es keine +Macht geben, die sich dem lange widersetzen +wrde. „Alle Kunst praktischer Erfolge besteht +darin, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt — +auf den wichtigsten Punkt — zu konzentrieren +und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken +Sie nicht nach rechts noch links, seien Sie taub +fr alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht +heit oder damit in Zusammenhang steht +und dazu fhren kann.”</p> + +<p>Dies in mglichst knapper Form der Gedankeninhalt +des „Offenen Antwortschreibens” und zugleich<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span> +der Lassalleschen Agitation berhaupt. +Denn wenn natrlich hiermit nicht das letzte Wort +der Bestrebungen Lassalles gesagt war, so hielt +doch Lassalle bis zuletzt daran fest, die Bewegung +auf diesen einen Punkt: „Allgemeines +Wahlrecht behufs Erlangung von Staatshilfe fr +Produktionsgenossenschaften” zu beschrnken, +eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, +da die Kunst praktischer Erfolge darin besteht, +alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt zu +konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im +Auge zu behalten, wenn man an die agitatorische +Ttigkeit Lassalles den richtigen Mastab anlegen +will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn, +auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet +gewesen. Ausdrcklich verweist Lassalle +im „Offenen Antwortschreiben” auf die Agitation +und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, +und ebenso scheint ihm die Agitation der +englischen Chartisten vorgeschwebt zu haben, wie +der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an +die Erklrung des Chartistenpredigers Stephens +erinnert: „Der Chartismus, meine Freunde, ist +keine politische Frage, sondern eine Messer- und +Gabelfrage.”</p> + +<p>Wenn wir uns nun zunchst die Frage vorlegen, +ob denn ein unmittelbarer praktischer Erfolg der +so abgesteckten Agitation berhaupt nach Lage +der damaligen Verhltnisse mglich war, so glaube +ich die Frage unbedingt bejahen zu mssen. Da +spter Bismarck, wenn auch freilich nur zum<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span> +Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine +Wahlrecht einfhrte, ist fr mich dabei nicht +magebend. Allerhand Umstnde htten das verhindern +knnen, ohne da dadurch die Tatsache +umgestoen worden wre, da Lassalles Berechnung +ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt, +obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preuischen +Landtag beibehalten wurde, bleibt der +Lassallesche Kalkl doch richtig; er entsprach +durchaus der damaligen politischen Situation. +Lassalle wute ganz genau, da, wenn im Lager +der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht +viele Gegner und im ganzen nur laue Freunde +hatte, dafr in den Kreisen der Regierung das +Dreiklassenwahlsystem allmhlich mit immer +scheeleren Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen +Bltter sprachen sich bereits ganz unverhohlen +in diesem Sinne aus, und auerdem fehlte +es, wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht +an Verbindungen, durch die er genau ber die +Strmungen in den Hof- und Regierungskreisen +unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem +Verfassungskonflikt nicht nachgeben wollte, so +blieb ihr, kam nicht ein auswrtiger Krieg — der +ihr aber auch verhngnisvoll werden konnte — schlielich +kaum etwas anderes brig, als Napoleon +III. nachzuahmen: den Landtag aufzulsen +und ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht +zu oktroyieren. Zu diesem Schritt mute sie sich +um so mehr veranlat fhlen, je mehr eine starke, +von der Fortschrittspartei unabhngige Bewegung<span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span> +bestand, die die Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems +auf ihre Fahne geschrieben hatte. +Gerade im Hinblick auf einen mglichen Krieg +mute ihr dies als der beste Ausweg erscheinen, +gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig +gegen sich im Rcken zu haben<a name="FNAnker_21_21" id="FNAnker_21_21"></a><a href="#Fussnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a>.</p> +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p> +<p>Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen +Erfolgs hatte also Lassalle unzweifelhaft<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span> +recht. Es war mglich, das allgemeine Wahlrecht +auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. +Allerdings um einen Preis: wenn die Regierung +es gab, um der Fortschrittspartei nicht nachgeben +zu mssen, so wurde damit die Lsung des Verfassungskonflikts +mindestens noch weiter hinausgeschoben. +„Seien Sie taub fr alles, was nicht +allgemeines und direktes Stimmrecht heit oder +damit im Zusammenhang steht und dazu fhren +kann”, heit es im „Offenen Antwortschreiben”. +Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, +wrde dieses, das mu man bei Lassalle, wenn +er es auch nicht ausdrcklich ausspricht, logischerweise +als Voraussetzung annehmen, auch diese +Frage lsen. War aber diese Erwartung Lassalles +vom allgemeinen Wahlrecht, wie berhaupt die +Erwartungen, die er an es knpfte, in der Sache +selbst gerechtfertigt?</p> + +<p>Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und +direkte Wahlrecht lagen zur Zeit Lassalles nur +aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus +nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte +zwar whrend der Februarrepublik eine Reihe +von Sozialisten in die Volksvertretung gebracht, +aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrckt +worden durch die der Vertreter der verschiedenen +Bourgeoisparteien, und das allgemeine Wahlrecht +hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig verhindert, +da im Gegenteil Bonaparte ihn hatte +unternehmen knnen als „Wiederhersteller des +allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span> +Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom +Pariser Proletariat proklamiert worden als soziale +Republik, ihr war vorhergegangen eine Epoche +sozialistischer Propaganda von groartigster Ausdehnung, +so da nach dieser Seite hin die Voraussetzungen +dafr gegeben waren, da sie im Laufe +der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik +htte werden knnen. Warum wurde sie es nicht? +Warum konnte sie vielmehr durch das Kaiserreich +gestrzt werden?</p> + +<p>Wenn Lassalle am Schlu des „Arbeiterprogramms” +sagt, was am 2. Dezember 1851 gestrzt +worden, das sei „nicht die Republik” gewesen, +sondern die Bourgeoisrepublik, welche +durch das Wahlgesetz vom Mai 1850 das allgemeine +Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten +Zensus zur Ausschlieung der Arbeiter +eingefhrt hatte; die Republik des allgemeinen +Wahlrechts aber wrde „an der Brust der franzsischen +Arbeiter einen unbersteiglichen Wall +gefunden haben”, so wiederholt er damit ein Schlagwort +der kleinbrgerlichen Revolutionre la +Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, +sondern nur verschiebt. Wo war dieser „unbersteigliche +Wall”, als die auf Grund des allgemeinen +Wahlrechts gewhlte Kammer dieses aufhob? +Warum hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich +der Bourgeoisie” nicht verhindert?</p> + +<p>Htte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so +wrde er auf die Tatsache gestoen sein, da +die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span> +halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als +solche htte sttzen mssen, noch nicht entwickelt +genug war — d. h. nicht entwickelt genug im +sozialen Sinne dieses Wortes. Das moderne +industrielle Proletariat war da, es war stark genug +gewesen, fr einen Augenblick die bestehende +Ordnung der Dinge ber den Haufen zu werfen, +aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir +begegnen hier wieder dem Grundfehler der +Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo +Lassalle auf die tieferen Ursachen der geschichtlichen +Vorgnge einzugehen sucht, hlt ihn seine +mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen +Seite wirklich auf den Grund zu gehen, und auch +das konomische packt er gerade da an, wo es +sich bereits, wenn ich mich so ausdrcken darf, +juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklren, +da er, um den Arbeitern zu zeigen, aus +welchen Elementen sich die Bevlkerung des +Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der +Einkommensverteilung, und zwar ausschlielich an +sie hlt. Der Streit, der sich damals an diese +Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knpfte, +ist ein verhltnismig untergeordneter. Ob +Lassalle sich um einige Prozentstze nach der +einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf +kommt im Grunde wenig an, die Tatsache, da +die groe Masse der Bevlkerung in drftigen +Verhltnissen lebt, whrend nur eine kleine +Minderheit im berflu schwelgt, konnten die +Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span> +damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer +ganzen Rabulistik nicht aus der Welt leugnen. +Viel wichtiger ist es, da Lassalle gar nicht bercksichtigt, +aus wie verschiedenartigen Elementen +sich die 96 oder 89 Prozent der Bevlkerung zusammensetzten, +als deren „groe Assoziation” er +den Staat bezeichnete. Welch groen Bruchteil +davon Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie +vor allem die Landarbeiter bildeten, die noch +groenteils vllig unter der geistigen Vormundschaft +ihrer Arbeitsherren standen, lt er ganz +unerrtert. ber die Hlfte der Bevlkerung +Preuens entfiel damals auf den Ackerbau, die +greren Stdte spielten bei weitem nicht die +Rolle, die sie heute spielen, vom Standpunkt der +industriellen Entwicklung betrachtet, war der +ganze Osten der Monarchie nur eine Wste mit +vereinzelten Oasen<a name="FNAnker_22_22" id="FNAnker_22_22"></a><a href="#Fussnote_22_22" class="fnanchor">[22]</a>.</p> + +<p>Was konnte unter solchen Umstnden das allgemeine +Wahlrecht an der Zusammensetzung der +Kammer ndern? War von ihm ein besseres +Resultat zu erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht +im Frankreich der Jahre 1848 und 1849? +Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl +von Arbeitervertretern in die Volksvertretung +bringen, und das war an sich gewi sehr zu +wnschen. Aber im brigen mute es, gerade je<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span> +mehr es die Wirkung erfllte, die Lassalle von +ihm versprach — nmlich einen Volksvertretungskrper +zusammenbringen, der „das genaue, treue +Ebenbild ist des Volkes, das ihn gewhlt hat” +(„Arbeiterprogramm”) — die Zusammensetzung +der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. +Denn so jmmerlich immer die damalige +Volksvertretung war, sie war doch wenigstens +brgerlich-liberal. Lassalle verga, da die drftigen +Klassen zwar unter Umstnden smtlich +revolutionre Truppen stellen, aber keineswegs +samt und sonders revolutionre Klassen sind, +er verga, da die 89 Prozent nur erst zum Teil +aus modernen Proletariern bestanden.</p> + +<p>Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen +mglich war, so ist doch damit noch keineswegs +gesagt, da es das, wozu es selbst wieder +als Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit +herbeigefhrt haben wrde. Bei der politischen +und sonstigen Bildungsstufe der groen Masse +der Bevlkerung konnte das Wahlrecht auch zunchst +das Gegenteil bewirken, statt Vertreter +moderner Prinzipien, solche des Rckschritts in +grerer Anzahl als bisher in die Kammer bringen. +Nicht alle Fortschrittler waren aus Klasseninteresse +Gegner oder laue Freunde des allgemeinen +Wahlrechts, es waren unter ihnen ein groer Teil +Ideologen, welche gerade durch die Entwicklung +der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen Wert +skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten +dachten so. Es sei nur an Rodbertus erinnert,<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span> +der in seinem Offenen Brief an das Leipziger +Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als +ein Beispiel dafr, da das allgemeine Stimmrecht +„nicht notwendig dem Arbeiterstande die +Staatsgewalt in die Hnde spielt”. Es sei gesagt +worden, das allgemeine Wahlrecht solle nur Mittel +zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu verschiedenen +Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten +brauchbar”. „Sind Sie,” fragt er, „dessen gewi, +da hier das Mittel mit zwingender Notwendigkeit +zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele fhren +mu? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen +Lassalles an Rodbertus geht auch hervor, da, +beinahe mehr noch als Rodbertus' gegenstzliches +Urteil ber den Wert der Produktivgenossenschaften, +sein Gegensatz gegen das allgemeine +Stimmrecht der Grund war, da er trotz aller +dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen +Deutschen Arbeiterverein nicht beitrat<a name="FNAnker_23_23" id="FNAnker_23_23"></a><a href="#Fussnote_23_23" class="fnanchor">[23]</a>.</p> + +<p>Und wie man sonst auch ber Rodbertus denken +mag, seine Motive werden auf das Unzweifelhafteste<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span> +durch den Schlusatz seines Briefes +charakterisiert, wo er den Arbeitern anrt, obwohl +Lassalle recht habe, da man solche Fragen +nicht mehr debattiere, doch Freizgigkeit und freie +Wahl der Beschftigung als selbstverstndlich in +ihr Programm aufzunehmen, um „jeden Reaktionr, +der Ihnen schaden knnte, hchst wirksam +zurckzuscheuchen”.</p> + +<p>Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des +Bonapartismus bertrieben, so nahm Lassalle sie +seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, +die er spter tatschlich in dieser Richtung +machte, lag dem Ideengang nach von vornherein +in ihm. Hchst charakteristisch ist dafr eine +Stelle aus dem teilweise schon frher zitierten +Brief Lassalles an Marx vom 20. Juni 1859 ber +die Frage des italienischen Krieges. Dort heit es:</p> + +<blockquote> + +<p>„Im Anfang, als mit solcher Wut berall +das nationale Geschrei eines Krieges gegen +Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’ +(Bernstein, fr mich ein Urreaktionr, ist ihr +Redakteur) in einem Leitartikel triumphierend +aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei aller +Vlker gegen Frankreich bedeutet? Will man +seine welthistorische Bedeutung kennen? Die +Emanzipation Deutschlands von der politischen +Entwicklung Frankreichs — das bedeutet es.’ — +Habe ich erst ntig, den urreaktionren Inhalt +dieses Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? +Doch gewi nicht! Ein populrer +Krieg gegen Frankreich — und unsere kleinbrgerlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span> +Demokraten, unsere Dezentralisten, +die Feinde aller Gesellschaftsinitiative, +haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs auf +lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die +deutsche Revolution hinein wrde die Wirkung +dieser Strmung sich bemerklich machen. Wir +haben wahrhaftig nicht ntig, diesem gefhrlichsten +Feind, den wir haben, dem deutschen +Spiebrgerindividualismus, durch einen blutigen +Antagonismus gegen den romanisch-sozialen +Geist in seiner klassischen Form, in Frankreich, +noch neue Krfte zuzufhren.”</p></blockquote> + +<p>So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der +„Volkszeitung” verdiente in gewisser Hinsicht +zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier +beilegt, aber des zitierten Satzes wegen vielleicht +am wenigsten. Die politische Entwicklung Frankreichs +war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus, +whrend die Partei der „Volkszeitung” auf +England, als ihr politisches Vorbild, schwor. Das +war sicher sehr einseitig, aber noch nicht reaktionr, +oder doch reaktionr nur insoweit, als +es eben einseitig war. Lassalles Auffassung, die +in dem staatlichen Zentralismus Frankreichs ein +Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, +ihn mit dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, +dagegen seine reaktionre Seite ganz +unbeachtet lie, ist jedoch nicht minder einseitig.</p> + +<p>So weit ber die politische Seite des Lassalleschen +Programms, nun zu seiner konomischen.</p> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span></p> + + + + +<h2><a name="Der_oekonomische_Inhalt" id="Der_oekonomische_Inhalt">Der konomische Inhalt +des Offenen Antwortschreiben.</a></h2> + +<p>Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften +mit Staatskredit.</p> + + +<p>Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief +und dem er das Beiwort „ehern” gab, entspricht, +wie ich an anderer Stelle<a name="FNAnker_24_24" id="FNAnker_24_24"></a><a href="#Fussnote_24_24" class="fnanchor">[24]</a> nachgewiesen +zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode +— der Manufakturindustrie — und +einem auf ihr beruhenden Gesellschaftszustande, +ist also in der Gesellschaft der modernen Groindustrie, +der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten +Kreislaufes von Krisis, Stockung und +Prosperitt, der rasch sich vollziehenden Steigerung +der Produktivitt der Arbeit usw. zum mindesten +berlebt. Auch setzt es ein absolut freies +Walten von Angebot und Nachfrage auf dem +Arbeitsmarkt voraus, das schon gestrt ist, sobald +die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert +gegenbertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, +in die Regelung des Arbeitsverhltnisses +eingreifen. Wenn also die Liberalen +Lassalle entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme +nicht, es sei veraltet, so hatte das teilweise seine<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> +Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die +guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere +Fehler als Lassalle.</p> + +<p>Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter +der den Lohn bestimmenden Gesetze, weil +er den strksten Schlag gegen die moderne Gesellschaft +damit zu fhren meinte, da er nachwies, +der Arbeiter erhalte unter keinen Umstnden +seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen Anteil an +dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der +Frage einen rechtlichen Charakter, und agitatorisch +hat sich das auch hchst wirksam erwiesen. Aber +in der Sache selbst traf er damit keineswegs den +Kern der Frage. Den vollen Ertrag seiner Arbeit +hat der Arbeiter auch unter den frheren Produktionsformen +nicht erhalten, und wenn ein +„ehernes” Gesetz es verhindert, da der Lohn +dauernd unter ein bestimmtes Minimum sinkt, +dieses Minimum selbst aber — wie Lassalle ausdrcklich +zugab — im Laufe der Entwicklung +sich zwar langsam hebt, aber doch hebt, so war +der Beweis fr die Notwendigkeit der von ihm +geforderten Einmischung des Staates schwer zu +erbringen.</p> + +<p>Das, worauf es wirklich ankommt, ist von +Lassalle erst spter, und nur beilufig, hervorgehoben +worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters +mit einem Bruchteil des von ihm erzeugten +neuen Wertes, sondern diese Ablohnung in Verbindung +mit der Unsicherheit der proletarischen +Existenz, die Abhngigkeit des Arbeiters von den<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> +in wechselnden Zeitrumen einander folgenden +Kontraktionen des Weltmarktes, von bestndigen +Revolutionen der Industrie und der Absatzverhltnisse +— der schreiende Gegensatz zwischen dem +immer mehr gesellschaftlich werdenden Charakter +der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, +dabei die wachsende Unmglichkeit fr den einzelnen +Arbeiter, aus der doppelten Abhngigkeit +vom Unternehmertum und den Wechselfllen des +industriellen Zyklus sich zu befreien, die bestndige +Bedrohung mit dem Hinausgeworfenwerden +aus einer Sphre der Industrie in eine +andre, tieferstehende, oder in das Heer der +Arbeitslosen — das ist es, was die Lage der +Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unertrglich +macht, sie von der bei jeder vorhergehenden +Produktionsweise zum Schlechteren unterscheidet. +Die Abhngigkeit des Arbeiters ist mit +der scheinbaren Freiheit nur grer geworden. +Sie ist es, die mit eherner Wucht auf der Arbeiterklasse +lastet, und deren Druck zunimmt mit der +wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die +Lohnhhe dagegen wechselt heute, je nach den +verschiedenen Industriezweigen, von buchstblichen +Verhungerungslhnen bis zu Lhnen, die +tatschlich einen gewissen Wohlstand darstellen, +und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den verschiedenen +Industrien eine sehr verschiedene, teils +hher, teils aber auch geringer als in frheren +Produktionsepochen. Beide hngen von sehr vernderlichen +Faktoren ab, beide wechseln nicht nur<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span> +von Industrie zu Industrie, sondern sind auch in +jeder einzelnen Industrie den grten Vernderungen +unterworfen, und bestndig ist nur die +Tendenz des Kapitals, die Ausbeutungsrate zu +erhhen, zustzliche Mehrarbeit auf die eine +oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen.</p> + +<p>Dadurch, da Lassalle als die wesentliche Ursache +der Leiden der Arbeiterklasse in der heutigen +Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, die +gar nicht das charakterisierende Merkmal der +modernen Produktionsweise ist — denn, wie gesagt, +den vollen Arbeitsertrag hat der Arbeiter +zu keiner Zeit erhalten — war der Hauptfehler +seines Abhilfemittels von vornherein angezeigt. +Es ignoriert, oder, um Lassalle auch nicht Unrecht +zu tun, es unterschtzt die Strke und den +Umfang der Gesetze der Warenproduktion und +deren wirtschaftliche und soziale Rckwirkungen +auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir +mssen hier wieder genau unterscheiden zwischen +Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. Sein Ziel +war natrlich, die Warenproduktion aufzuheben, +sein Mittel aber lie sie unangetastet. Sein Ziel +war die gesellschaftlich organisierte Produktion, +sein Mittel die individuelle Assoziation, die sich +von der Schulzeschen zunchst nur dadurch unterschied, +da sie mit Staatskredit, mit Staatsmitteln +ausgestattet werden sollte. Alles weitere, der +Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm +der freiwilligen Entschlieung jener berlassen —<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span> +es wird von ihnen erwartet, aber ihnen nicht zur +Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern, +die sich zu assoziieren wnschten, die +erforderlichen Mittel dazu auf dem Wege der +Kreditgewhrung vorstrecken.</p> + +<p>Die Assoziationen einer bestimmten Industrie +wrden also, solange sie nicht diese ganze +Industrie umfaten, mit den bestehenden Unternehmungen +ihres Produktionszweigs in Konkurrenz +zu treten, sich den Bedingungen dieser Konkurrenz +zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche +Folge auch gegeben, da sich im Schoe der +Assoziationen Sonderinteressen herausentwickeln +muten, da jede Assoziation danach streben +mute, ihren Gewinn so hoch als mglich zu +steigern, sei es auch auf Kosten andrer Assoziationen +oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit +Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben +Privatunternehmungen von mehr oder minder +groen Gruppen von Arbeitern. Individuelle +Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle +Glckschancen muten daher bei ihnen eine hervorragende +Rolle spielen, die Frage von Gewinn +und Verlust fr sie dieselbe Bedeutung erhalten, +wie fr andre Privatunternehmungen. Lassalle +glaubte zwar erstens — gesttzt darauf, da 1848 +in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften +sehr stark war —, da sich sofort mindestens +alle Arbeiter bestimmter Industrien an +den einzelnen Orten zu je einer groen Assoziation +zusammentun wrden, und sprach sich<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span> +zweitens im „Bastiat-Schulze” spter sogar dahin +aus, da der Staat in jeder Stadt immer „nur +einer Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig +den Staatskredit zuteil werden” lassen +wrde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den +Eintritt in dieselbe offen haltend”, aber selbst +solche rtlich einheitlich organisierten Assoziationen +blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. +Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch +groe Assekuranz- und Kreditverbnde der Assoziationen +untereinander in ihren konomischen +Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der +Hand, da diese Assekuranz ein Unding war, +wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war +fr nationale Organisation und nationale Monopolisierung +der Industrie. Sonst mute die berproduktion +sehr bald die Assekuranzgesellschaft +sprengen. Und die berproduktion war unvermeidlich, +wenn der Staat, wie es oben heit, allen +Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die +Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte +sich da, von seinem sozialistischen Gewissen getrieben, +in einen groen Widerspruch. „Den Eintritt +offen halten” heit die Assoziation zur Aufnahme +jedes sich meldenden Arbeiters verpflichten. +Nach dem „Offenen Antwortschreiben” +sollte aber die Assoziation dem Staat gegenber +vollkommen unabhngig sein, ihm nur das Recht +der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle +der Geschftsfhrung zur Sicherung seiner Interessen +zustehen. Mit obiger Verpflichtung war<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span> +sie dagegen aus einem unabhngigen in ein ffentliches, +d. h. unter den gegebenen Verhltnissen +staatliches Institut umgewandelt — ein innerer +Gegensatz, an dem sie unbedingt htte scheitern +mssen.</p> + +<p>Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen +Produktivgenossenschaft ist folgender. Solange +die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehrigen +eines bestimmten Industriezweiges umfaten, +unterstanden sie den Zwangsgesetzen der +Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja +gerade die Betriebe fabrikmiger Groproduktion +im Auge hatte, die zugleich die groen Weltmarktsindustrien +bilden. Wo aber Konkurrenz besteht, +besteht auch geschftliches Risiko; die Konkurrenz +zwingt den Unternehmer, sei er eine einzelne +Person, eine Aktiengesellschaft oder eine +Assoziation, sich der Mglichkeit auszusetzen, +da sein Produkt jeweilig als unterwertig — d. h. +als Erzeugnis von nicht gesellschaftlich notwendiger +Arbeit — aus dem Markt geworfen wird. +Konkurrenz und berproduktion, Konkurrenz und +Stockung, Konkurrenz und Bankrotte sind in der +heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine Beherrschung +der Produktion durch die Produzenten +selbst ist nur mglich nach Magabe der Aufhebung +der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar +durch das Monopol. Whrend aber die Konkurrenz +in der heutigen Gesellschaft die wichtige +Mission hat, die Konsumenten vor bervorteilung +zu schtzen und die Produktionskosten bestndig<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span> +zu senken, hat das Monopol umgekehrt die +Tendenz, die Konsumenten zugunsten der Monopolinhaber +zu berteuern und den Fortschritt der +Technik, wenn nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. +Das letztere um so mehr, wenn die +beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols +sind. Die Aufhebung des geschftlichen +Risikos fr die Assoziationen wrde also im +Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, +wenn berhaupt zu verwirklichen, notwendigerweise +auf Kosten der Konsumenten vor sich +gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten +gegenber die groe Mehrheit ausmachen. Zwischen +Assoziations- und Gesamtinteresse wre +ein unlsbarer Antagonismus.</p> + +<p>In einem sozialistischen Gemeinwesen wre das +natrlich leicht zu verhindern, aber ein solches +wird nicht den Umweg von der subventionierten +Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung +der Produktion gehen, sondern die Produktion, +auch wenn sie sich dabei der Form der genossenschaftlichen +Betriebe bedient, von vornherein auf +gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die +kapitalistische Gesellschaft verpflanzt, wird gerade +die Produktivgenossenschaft dagegen so oder +so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. +Die Lassalleschen Produktivgenossenschaften +wrden sich von den Schulze-Delitzschschen nur +quantitativ, nicht qualitativ, nur der Gre, nicht +dem Wesen nach unterschieden haben.</p> + +<p>Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus,<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span> +der ein viel zu durchgebildeter konom +war, als da ihm diese schwache Seite der Lassalleschen +Assoziationen htte entgehen knnen. Wir +haben bereits aus dem oben zitierten Brief Lassalles +an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus sich in +seinem „Offenen Brief” ber sie hatte uern +wollen, und die auf jenen folgenden Briefe +Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich deutlich +durchblicken, welches der Haupteinwand von +Rodbertus war. Noch deutlicher aber geht dies +aus den Briefen von Rodbertus an Rudolph Meyer +hervor, und es drfte nicht uninteressant sein, +einige der betreffenden Stellen hier folgen zu +lassen.</p> + +<p>Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:</p> + +<p>„... Hieran lt sich, in weiterem Verfolg, +auch nachweisen, da dasjenige Kollektiveigentum, +das die Sozialdemokraten heute verfolgen, +das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, +ein viel schlechteres, zu weit greren +Ungerechtigkeiten fhrendes Grund- und Kapitaleigentum +ist, als das heutige individuelle. Die +Arbeiter folgen hier noch Lassalle. Ich hatte ihn +aber brieflich berfhrt, zu welchen Absurditten +und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen +msse und (was ihm besonders unangenehm +war) da er gar nicht der Schpfer dieser Idee +sei, sondern sie Proudhons Ide gnrale de la +Rvolution entlehnt habe.”<a name="FNAnker_25_25" id="FNAnker_25_25"></a><a href="#Fussnote_25_25" class="fnanchor">[25]</a></p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span></p> + +<p>Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten +Grund allgemeiner Natur habe ich gegen diese +Lhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am +Geschftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder +eine Gratifikation, wie Settegast mit Recht sagt — +und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale Frage nicht +gelst — oder sie entwickelt sich auch zu einem +Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schlielich +zu einem Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. +Dies Kollektiveigentum liegt aber nicht +auf dem sozialen Entwicklungswege. Der Beweis +wrde mich zu weit fhren, aber so weit hatte +ich Lassalle denn doch schon in unserer Korrespondenz +getrieben, da er mir in einem seiner +letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen +denn, da ich will, da der Produktivassoziation +der Fonds zum Betriebe <em class="gesperrt">gehren</em> soll!’ (sic!) +Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum +der Arbeiter an den einzelnen Betrieben wre +ein weit bleres Eigentum, als das individuale +Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum +einer Kapitalistenassoziation.” ...</p> + +<p>Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in +keinem der zur Verffentlichung gelangten Briefe +Lassalles an Rodbertus. Es ist aber kaum anzunehmen, +da Rodbertus sich so bestimmt ausgedrckt<span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span> +haben wrde, wenn er den Wortlaut +nicht vor sich gehabt htte. Mglich, da er +gerade diesen Brief spter verlegt hat. Kein +triftiger Grund spricht nmlich dagegen, da +Lassalle sich nicht in der Tat einmal so ausgedrckt +haben sollte. In allen Lassalleschen +Reden ist vielmehr von den Zinsen die Rede, +welche die Assoziationen dem Staat fr das vorgeschossene +Kapital zu zahlen htten. Es liegt +also in dem Satz noch nicht einmal ein Zugestndnis +an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein +solches, und zwar ein so starkes, da es zugleich +in eine — unbeabsichtigte — Verurteilung der +Produktivassoziationen umschlgt, findet sich dagegen +in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom +26. Mai 1863. Dort heit es:</p> + +<p>„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, da, +wenn dem Arbeiter Boden, Kapital und Arbeitsprodukt +gehrt<a name="FNAnker_26_26" id="FNAnker_26_26"></a><a href="#Fussnote_26_26" class="fnanchor">[26]</a>, von einer Lsung der sozialen +Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat +wird sich also auch annhernd herausstellen, +wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung geliefert +wird und ihm das Arbeitsprodukt gehrt. +Bei der lndlichen Assoziation wird dann der +Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span> +Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation +wird er in der Regel mehr erhalten als +seinen Arbeitsertrag. Alles dieses wei ich genau +und wrde es, wenn ich mein konomisches Werk +schreibe, sehr explizit nachweisen.”</p> + +<p>Im nchsten Brief erklrt Lassalle, da Rodbertus +entweder den Sinn der vorstehenden Stze nicht +genau verstanden hatte oder Lassalle in die Enge +jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt +(einen hier gleichgltigen Zwischensatz lasse ich +fort):</p> + +<p>„Meine uerung: ‚bei der lndlichen Assoziation +wird dann der Arbeiter entweder mehr +oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’, ist +jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu +verstehen. Ich verstehe gar nicht die Schwierigkeit, +die in bezug auf diesen Satz stattfinden +knnte.</p> + +<p>Die Assoziationen auf den besser beschaffenen +oder besser gelegenen usw. ckern wrden doch +zunchst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt +die Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr +als ihren wirklichen Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, +haben.</p> + +<p>Allein schon daraus allein, da einer in der +Gesellschaft mehr hat als sein legitimes Arbeitsprodukt, +folgt, da ein andrer weniger haben mu, +als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, +wie wir uns dieselbe bereinstimmend +(vgl. den Schlu Ihres dritten sozialen Briefes)<span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span> +denken, auf die Vergtung seiner Arbeit kommen +wrde.</p> + +<p>Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt +(im Sinne der endgltigen Lsung der sozialen +Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier immer +als Norm und Vergleichungsmastab bei dem +‚mehr oder weniger’ unterstelle)? Ist es das +Produkt, das ich lndlich oder industriell unter +beliebigen Verhltnissen individuell hervorbringen +kann, whrend ein anderer unter gnstigeren Verhltnissen +mit derselben Arbeit mehr, ein Dritter +unter noch ungnstigeren mit derselben Arbeit +weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein +Arbeitsprodukt wre der Anteil an der gesamten +gesellschaftlichen Produktivitt, der bestimmt wird +durch das Verhltnis, in welchem mein Arbeitsquantum +zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft +steht.</p> + +<p>Nach dem Schlu Ihres dritten sozialen Briefes +knnen Sie das unmglich bestreiten.</p> + +<p>Und folglich haben, solange die Arbeiter der +einen Assoziation Grundrente beziehen, die Arbeiter +der andern, die nicht in diesem Fall sind, +weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes +Arbeitsprodukt.”</p> + +<p>Soweit Lassalle. Ein Miverstndnis ist hier +gar nicht mehr mglich. Die „Idee”, welche +Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt, +ist die kommunistische, die das gesamte +Arbeitsprodukt der Gesellschaft und nicht den<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span> +individuellen Arbeitsertrag des einzelnen oder der +Gruppe ins Auge fat, und Lassalle war sich +durchaus dessen bewut, da, solange der letztere +den Verteilungsmastab bildet, ein Bruchteil +der Bevlkerung mehr, der andere aber notwendigerweise +weniger erhalten werde als ihm +auf Grund des von ihm verrichteten Anteils an +der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter +Verteilung, zukommen sollte, d. h. da die Assoziationen +zunchst eine neue Ungleichheit schaffen +wrden. Gerade mit Rcksicht darauf habe er, +so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung +seines Vorschlages das Wort „Lsung +der sozialen Frage” sorgfltig vermieden — „nicht +aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, +sondern aus jenen theoretischen Grnden”.</p> + +<p>Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt +Lassalle, da die Ungleichheit bei den lndlichen +Assoziationen durch eine differenzierende Grundsteuer +leicht beseitigt werden knne, welche „die +ganze Grundrente abolieren, d. h. in die Hnde +des Staats bringen, den Arbeitern nur den wirklich +gleichmigen Arbeitsertrag lassen” soll — die +Grundrente im Sinne Ricardos genommen<a name="FNAnker_27_27" id="FNAnker_27_27"></a><a href="#Fussnote_27_27" class="fnanchor">[27]</a>. Die +Grundsteuer wrde die Bezahlung bilden fr die +berlassung der Bodenflche an die assoziierten<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span> +Arbeiter und — wie es bei Lassalle heit — „schon +aus Gerechtigkeit und Neid” von den +lndlichen Assoziationen „leidenschaftlich begnstigt +werden”. Der Staat aber htte an dieser +Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, +Kunst, ffentliche Ausgaben aller Art zu +bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen +solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, +da sobald die Assoziationen jeder einzelnen +Branche sich zu je einer groen Assoziation +zusammengezogen haben, der private +Zwischenhandel aufhren und der Verkauf in +vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt +werden wrde. „Wrde hiermit nicht zugleich +gettet werden, was man heut berproduktion +und Handelskrise nennt?”</p> + +<p>Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung +der Grundrente<a name="FNAnker_28_28" id="FNAnker_28_28"></a><a href="#Fussnote_28_28" class="fnanchor">[28]</a> ist ein durchaus +rationeller, d. h. er enthlt keinen Widerspruch +in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens +sehr wahrscheinlich, da er auf einer gewissen +Stufe der Entwicklung irgendwie verwirklicht +werden wird. Die Idee der Zusammenziehung +der Assoziationen ist dagegen nur ein frommer +Wunsch, der in Erfllung gehen kann, aber nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span> +notwendigerweise in Erfllung zu gehen braucht, +solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen +Assoziationen gestellt wird. Und selbst wenn sie +in Erfllung ginge, wrde damit noch durchaus +nicht schlechthin verhindert sein, da die Mitglieder +der einzelnen Assoziation nicht in ihrem +Anteil an deren Ertrage eine grere oder +unter Umstnden geringere Quote des gesellschaftlichen +Gesamtprodukts erhalten, als ihnen +auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukme. +Es stnde immer wieder Assoziationsinteresse +gegen Gesamtinteresse.</p> + +<p>Hren wir noch einmal Rodbertus.</p> + +<p>Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August +1872 nimmt er auf einen Artikel des „Neuen +Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgefhrt war, da +Lassalle der „weitgehendsten Richtung des Sozialismus” +angehrt habe, und meint, das sei wohl +richtig, es sei</p> + +<blockquote> + +<p>„aber auch ebenso richtig, da Lassalle und +der (Neue) ‚Sozialdemokrat’ ursprnglich eine +Produktivassoziation angestrebt haben, wie +Schulze-Delitzsch sie wollte, nmlich in welcher +der Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehren +sollte, nur da Schulze-Delitzsch wollte, sie +sollten sich das Kapital selbst dazu sparen, und +Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, +sollte es ihnen liefern (ob leihen oder schenken, +ist wohl nicht ganz klar). Aber eine Produktivassoziation, +die den Kapitalgewinn einsackt,<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span> +setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehren’ +voraus. Wie soll also jene ‚weitgehendste Richtung’ +mit einer solchen Assoziation vermittelt +werden knnen?”</p></blockquote> + +<p>Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die +Produktivassoziation als „provisorische Institution” +gedacht werden knne, und fhrt nach einigen +allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die Produktivassoziation, +die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ +in der Tat angestrebt, kann auch nicht +einmal als bergangszustand zu jenem ‚weitgehendsten’ +Ziele dienen, denn, der menschlichen +Natur gem, wrde er nicht zu allgemeiner +Brderlichkeit, sondern zu dem schrfsten Korporationseigentum +zurckfhren, in welchem nur +die Personen der Besitzenden gewechselt htten, +und das sich tausendmal verhater machen wrde, +als das heutige individuale Eigentum. Der Durchgang +von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum +kann eben niemals das Korporations- oder +auch Kollektiveigentum sein (es kommt ziemlich +ber eins heraus); weit eher ist gerade das individuale +Eigentum der bergang vom Korporationseigentum +zum Staatseigentum. Und hierin liegt +die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die +Lassalles), nmlich bei jenem weitgehendsten Ziel +(das auch bei Lassalle noch kein praktisches Interesse +erregen sollte) doch die Produktivassoziation +mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum +zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr +hinter den Wagen gespannt worden, als von den<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span> +Berliner Sozialdemokraten (und ihrem Fhrer +Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ +Ziel anstrebte) und das wei Marx sehr gut.” +(Briefe usw. von Rodbertus-Jagetzow.)</p> + +<p>Ich habe Rodbertus so ausfhrlich sprechen +lassen, weil er Lassalle vielleicht am objektivsten +gegenberstand und in seiner Auffassung vom +Staat usw. sehr viel Berhrungspunkte mit Lassalle +hatte, auch wohl niemand so eingehend mit Lassalle +ber die Produktivgenossenschaften diskutiert hat, +wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich +auch nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie +von der „Lsung der sozialen Frage” hatte, nmlich +den Normalwerksarbeitstag und den verhltnismigen +Arbeitslohn. Aber den schwachen +Punkt in der Lassalleschen Assoziation hat er +in der Hauptsache richtig bezeichnet, wenn er +sagt, da diese die Pferde hinter den Wagen +spannt. Lassalle wollte die Vergesellschaftung +der Produktion und der Produktionsmittel, und +weil er es fr unzeitgem hielt, das dem +„Mob” — worunter er den ganzen Tro der +Gedankenlosen aller Parteien verstand — bereits +zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen +schleudern wollte, stellte er das ihm ungefhrlicher +scheinende Postulat der Produktivgenossenschaft +mit Staatskredit auf.</p> + +<p>Er beging damit denselben Fehler, den er in +seinem Aufsatz ber Franz von Sickingen als +die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, +er „listete” mit der „Idee”, wie es in jenem<span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span> +Aufsatz heit, und tuschte die Freunde mehr, +als die Feinde. Aber er tat es, wie Sickingen, +im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt +gegenber Rodbertus erklrt hat, er sei bereit, +auf die Assoziationen zu verzichten, sobald jener +ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel +zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus +nicht den Schlu ziehen, da Lassalle nicht von +der Gte seines Mittels durchaus berzeugt war. +Solche Erklrungen pflegt jeder abzugeben, und +kann sie um so eher abgeben, je mehr er seiner +Sache sicher zu sein glaubt. Und wie sehr dies +bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte uerung +in bezug auf die Assoziationen Rodbertus gegenber: +„Kurz, ich begreife nicht, wie man nicht +sehen knnte, da die Assoziation, vom Staat +ausgehend, der organische Entwicklungskeim ist, +der zu allem weiteren fhrt.” — Er ist also unbedingt +von dem Vorwurf freizusprechen, mit +dieser Forderung den Arbeitern etwas empfohlen +zu haben, von dessen Richtigkeit er nicht durchdrungen +war, ein Vorwurf, der viel schwerwiegender +wre, als der eines theoretischen Irrtums.</p> + +<p>Lassalle glaubte, da in dem Mittel der Assoziationen +mit Staatskredit der Zweck, dem diese +dienen sollten, nmlich die Verwirklichung der +sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen +Grundzgen bereits enthalten, da hier in der +Tat — worauf er so groes Gewicht legte — „das +Mittel von der eignen Natur des Zweckes +ganz und gar durchdrungen” sei. Nun ist ja auch<span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span> +tatschlich die Assoziation im kleinen ein Stck +Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der +Gemeinschaftlichkeit, und die Forderung der +Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die +Staatsmaschinerie als Mittel der konomischen +Befreiung der Arbeiterklasse in Anspruch zu +nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den Zusammenhang +mit dem groen Ganzen, der bei der +Schulzeschen Assoziation verlorenging, mglichst +zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht +nur keinen Vorwurf machen, sondern mu vielmehr +die Einheitlichkeit des Gedankens bei ihm +im hchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen, +welche Auffassung er vom Staat hatte, +wie dieser fr ihn nicht der jeweilige politische +Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustnde +war, sondern die Verwirklichung eines ethischen +Begriffs, der durch jeweilige historische Einflsse +zwar beeintrchtigt, dessen ewige „wahre Natur” +aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher +Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der +Forderung der Staatshilfe mehr als eine bloe +praktische Maregel zu erblicken und ihr, wie +Lassalle dies getan, als einem fundamentalen +Prinzip des Sozialismus, eine selbstndige prinzipielle +Bedeutung zuzuschreiben<a name="FNAnker_29_29" id="FNAnker_29_29"></a><a href="#Fussnote_29_29" class="fnanchor">[29]</a>. Und ebenso<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span> +steht die Forderung der Produktivgenossenschaften +in engster Ideenverbindung mit Lassalles +Theorie des ehernen Lohngesetzes. Sie fut auf +denselben konomischen Voraussetzungen. Kurz, +es ist hier alles, mchte ich sagen, aus einem Gu.</p> + +<p>Aber es gengt noch nicht, da Lassalle an +die Richtigkeit seines Mittels glaubte, um es zu +rechtfertigen, da er ber sein Ziel sich so unbestimmt +wie nur mglich uerte. Er, der in +dem schon zitierten Aufsatz ber den „Franz +von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte, welche +Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten +Zwecke der Bewegung andern (‚und beilufig +eben dadurch hufig sogar sich selbst’) geheim +zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei +Sickingen dessen „sittliche Schuld” erblickt hatte, +die seinen Untergang herbeifhren mute, den +Ausflu eines Mangels an Zutrauen in die Macht +der von ihm vertretenen Idee, ein „Abweichen +von seinem Prinzip”, ein „halbes Gebrochensein” +— er gerade zuletzt htte sich darauf verlegen +drfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt +auf den wirklichen Zweck zuzuspitzen. Die Entschuldigung, +da man diesen Zweck dem „Mob” +noch nicht sagen durfte, oder da die Massen +fr ihn noch nicht zu gewinnen waren, trifft nicht +zu. Waren die Massen fr das wirkliche Ziel der<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span> +Bewegung noch nicht zu interessieren, so war +diese berhaupt verfrht und dann konnte auch das +Mittel, selbst wenn erlangt, nicht zum Ziele fhren. +In den Hnden einer Arbeiterschaft, die ihre weltgeschichtliche +Mission noch nicht zu begreifen +vermag, konnte das allgemeine Wahlrecht mehr +schaden als ntzen und muten die Produktivgenossenschaften +mit Staatskredit nur der bestehenden +Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prtorianer +liefern. War aber die Arbeiterschaft +entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu +begreifen, dann mute dieses auch offen ausgesprochen +werden. Es brauchte damit noch nicht +als unmittelbares, ber Nacht zu verwirklichendes +Ziel hingestellt zu werden, aber nicht nur der +Fhrer, sondern auch jeder der Gefhrten mute +wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und da +es nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die +Masse wre dadurch nicht mehr vor den Kopf +gestoen worden, als es durch den Kampf um +das Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst +darauf hin, wie fein der Instinkt der herrschenden +Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz +handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung +mit Recht, „sind zu tuschen, Klassen niemals.”</p> + +<p>Wem das im Vorstehenden Ausgefhrte doktrinr +erscheint, der sei auf die Geschichte der +Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. +Und damit will ich zum Schlu auf dieses Thema +bergehen.</p> + +<hr class="chap" /> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span></p> + + + + +<h2><a name="Gruendung_und_Fuehrung" id="Gruendung_und_Fuehrung">Grndung und Fhrung +des Allgemeinen Deutschen +Arbeitervereins.</a></h2> + + +<p>Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation +knnen hier nicht dargestellt werden, soll diese +Schrift nicht den Umfang eines ganzen Werkes +annehmen; ich mu mich vielmehr darauf beschrnken, +vorderhand nur die allgemeinen Zge +der Bewegung hervorzuheben.</p> + +<p>Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunchst +nur zum Teil die Wirkung, die Lassalle sich von +ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy +in Dsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze +liest sich mit solcher Leichtigkeit, da es dem +Arbeiter sofort sein mu, als wte er es schon +jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches +Meisterwerk, sachlich und doch nicht +trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu verfallen, +voller Wrme und zugleich mit scharfer +Logik geschrieben. Aber — die Arbeiter lasen +sie vorerst berhaupt nicht; nur wo der Boden +bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen +der Arbeiterschaft ein. Dies war der Fall, wie +wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen in +Frankfurt a. M., in einigen greren Stdten und +Industrieorten am Rhein und in Hamburg. Teils +hatten zurckgekehrte politische Flchtlinge eine +sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils +lebten, wie namentlich am Rhein, die Traditionen +der sozialistischen Propaganda aus der Zeit vor<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span> +und whrend der 1848 er Revolution wieder auf. +Aber das Gros der Arbeiter, die an der politischen +Bewegung teilnahmen, blieb auf lngere Zeit +hinaus noch von dem ergangenen Appell unberhrt +und betrachtete Lassalle mit denselben Augen +wie die meisten Fhrer der Fortschrittspartei — als +einen Handlanger der Reaktion.</p> + +<p>Was nmlich die Fortschrittspartei in Preuen +und auerhalb Preuens anbetrifft, so hatte bei +dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen +wahren Sturm erregt — nmlich einen wahren +Sturm der Entrstung, der leidenschaftlichen Erbitterung. +Sie waren sich so gro vorgekommen, +so erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der +bedrohten Volksrechte, und nun wurde ihnen +pltzlich von links her zugerufen, da sie keinen +Anspruch auf diesen Titel, da sie sich des Vertrauens, +das ihnen das Volk bisher entgegengebracht, +unwrdig erwiesen htten und da daher +jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, +insbesondere jeder Arbeiter, ihnen den Rcken +zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung vertrgt +keine kmpfende Partei, am allerwenigsten, +wenn sie sich in einer Situation befindet, wie +damals die Fortschrittspartei. Die Feindseligkeiten +zwischen ihr und der preuischen Regierung +hatten allmhlich einen Hhegrad erreicht, da +eine gewaltsame Lsung des Konfliktes fast unvermeidlich +schien, jedenfalls mute man sich auf +das uerste gefat machen. Auf die Deduktionen +der Regierungsorgane, da die Fortschrittspartei<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span> +gar nicht das wirkliche Volk hinter sich +habe, hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten +knnen, das Volk, das politisch denke, +stehe einmtig hinter ihr, und in dieser Zuversicht +hatte sie eine immer drohendere Sprache gefhrt. +Denn wenn die Fortschrittler auch keine groe +Lust hatten, Revolution zu machen, an Drohungen +mit ihr lieen sie es darum doch nicht fehlen<a name="FNAnker_30_30" id="FNAnker_30_30"></a><a href="#Fussnote_30_30" class="fnanchor">[30]</a>.</p> + +<p>Und gerade in einem solchen Augenblick sollte +man sich von einem Manne, der als Demokrat, +als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen +lassen, man habe die Sache des Volkes preisgegeben, +ruhig mitansehen, wie dieser Mensch +die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich +zu scharen suchte? Das hie ihnen Unmenschliches +zumuten.</p> + +<p>Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern +ihr Mglichstes zu versuchen, die<span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span> +Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu lassen, +und die nachtrgliche Kritik hat es daher nur +mit dem Wie dieser Gegenwehr zu tun, nicht +mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist, +um zu irgendwelcher Betrachtung Anla zu bieten. +Die Art der Gegenwehr nun kann kaum anders +bezeichnet werden, als mit dem Wort: klglich. +Da die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger +der Reaktion hinstellten, ist eigentlich noch +das geringste, was ihnen zum Vorwurf gemacht +werden knnte. Denn es lt sich nun einmal +nicht bestreiten, da Lassalles „Antwortschreiben” +zunchst Wasser auf die Mhle der preuischen +Regierung sein mute. Statt sich aber darauf zu +beschrnken, Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, +in denen sie eine starke Position, +oder, wie die Englnder es nennen, „einen starken +Fall” ihm gegenber hatten, bissen sie gerade auf +diejenigen seiner Angriffe an, die sie bei ihrer +schwachen Seite trafen, und entwickelten dabei +eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit +htte Mitleid erregen knnen, wenn sie nicht +zugleich mit einer so riesigen Dosis von Selbstberhebung +gepaart gewesen wre. Lassalles einseitiger +Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte +getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen +Aufgaben des Staats gegenber, seinem, +wie wir gesehen haben, auf zum Teil unrichtigen +Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz +die platteste Verherrlichung der brgerlich-kapitalistischen +Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span> +Wut vergaen sie so sehr alle Wirklichkeit, alles, +was sie selbst frher in bezug auf die nachteiligen +Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben +hatten, da sie durch die Unsinnigkeit +ihrer Behauptungen selbst die bertreibungen +Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbrgerlichen +Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch +und Genossen ber Nacht zu dessen +Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten +Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen +Auszge aus der 1858 erschienenen Schrift des +ersteren mit den Ausfhrungen Schulzes in seinem +„Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” +— eine Zusammenstellung von sechs Vortrgen, +die letzten davon bestimmt, Lassalle vor +den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. +Whrend dort es als eine der schnsten Wirkungen +der selbsthilflerischen Assoziationen bezeichnet +wurde, da sie den Unternehmergewinn herunterdrcken +hlfen, heit es hier, da „die Wissenschaft +ein solches Ding wie Unternehmergewinn” +gar nicht kenne und also auch natrlich keinen +Gegensatz zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn. +Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und +b) Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel +S. 153). Gegenber solcher „Wissenschaft” +brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu sein, +um mit ihr fertig zu werden.</p> + +<p>Aber trotz seiner geistigen berlegenheit, trotz +seiner packenden Rhetorik hatte Lassalle doch +den Fortschrittlern gegenber nicht den Erfolg,<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span> +auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung +des „Offenen Antwortschreibens” gleich der der +von Luther an die Wittenberger Schlokirche genagelten +Thesen — wie sie Lassalle sich laut +dem bereits erwhnten Schreiben an seinen Freund +Levy versprach — konnte zunchst auch nicht +entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte +Lassalle in Frankfurt a. M., nachdem er zwei +Tage vorher auf dem dort abgehaltenen „Arbeitertag +des Maingaues” eine vierstndige Rede gehalten, +in einer zum Abschlu derselben anberaumten +Volksversammlung die Annahme einer Resolution +durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden +verpflichteten, fr das Zustandekommen eines +allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne +Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward +alsdann in Leipzig, in Anwesenheit von Delegierten +aus 11 Stdten (Hamburg, Harburg, Kln, +Dsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, +Leipzig, Dresden und Frankfurt a. M.), der +„Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegrndet, +auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein +mit dem ihm befreundeten demokratischen Fortschrittsabgeordneten +Ziegler ausgearbeitet hatte. +Gem diesen Statuten war die Organisation eine +streng zentralistische, was sich zum Teil durch +die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch +den Umstand erklrt, da ursprnglich auch an +die Grndung eines allgemeinen Arbeiterversicherungsverbandes +gedacht worden war. Der Plan +war fallen gelassen worden, aber Lassalle behielt<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span> +trotzdem die Bestimmungen der Statuten bei, die +sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich +die persnlicher Spitze und die geradezu diktatorischen +Vollmachten fr die Person des Prsidenten, +der obendrein auf fnf Jahre unabsetzbar +sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf +dieser ersten konstituierenden Versammlung Anzeichen +einer Opposition gegen solche Prsidialgewalt +bemerkbar, aber sie konnte gegenber +Lassalles ausgesprochenem Wunsch auf unvernderte +Annahme der Statuten nicht durchdringen. +Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) +wurde Lassalle zum Prsidenten erwhlt, und +nachdem man ihm noch die Befugnis zugestanden, +so oft und auf so lange als er wollte, einen Vizeprsidenten +zu ernennen, nahm er nach einigem +Zaudern die Wahl an. Er war somit anerkannter +Fhrer der neuen Bewegung; diese selbst aber +blieb auf lngere Zeit hinaus noch auf eine geringe +Anhngerschaft beschrnkt. Drei Monate +nach der Grndung betrug die Mitgliederzahl des +Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. +An sich wre das ein gar nicht zu verachtender +Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz +andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der +Leiter einer Propagandagesellschaft, sondern der +Fhrer einer Massenbewegung sein. Die Massen +aber blieben der neuen Organisation fern.</p> + +<p>Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, +er konnte zeitweise eine wahrhafte Riesenarbeit +leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span> +war das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. +Der Verein war noch nicht sechs Wochen alt, da +trat der neue Prsident bereits eine mehrmonatige +Erholungsreise an — zunchst in die Schweiz, +dann an die Nordsee. Freilich blieb Lassalle auch +unterwegs nicht unttig. Er unterhielt eine rege +Korrespondenz, suchte alle mglichen Gren fr +den Verein zu gewinnen, wobei er brigens nicht +sehr whlerisch vorging, aber gerade das, worauf +es ankam: die Agitation unter den Massen, lie +er ruhen. Ferner sorgte er unbegreiflicherweise +nicht einmal dafr, da der Verein wenigstens +ein ordentliches Wochenblatt zur Verfgung hatte, +obwohl es ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. +Er begngte sich mit gelegentlichen Subventionen +an Bltter, wie den in Hamburg von dem alten +Freischrler Bruhn herausgegebene „Nordstern” +und den in Leipzig von einem Eigenbrdler, +Dr. Ed. Lwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”, +womit diese Bltter zeitweise ber Wasser gehalten +wurden, ohne jedoch deshalb aufzuhren bestndig +zwischen Leben und Sterben zu schweben.</p> + +<p>Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch +die meisten der vorgeschrittenen Demokraten und +Sozialisten aus den brgerlichen Kreisen, an die +sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, +dem Verein fern. Ein groer Teil dieser Leute +war, wie bereits erwhnt, stark verphilistert oder +doch auf dem besten Wege zum Philisterium, +andere wurden durch ein unbestimmtes persnliches +Mitrauen gegen Lassalle davon abgehalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span> +sich ffentlich fr ihn zu erklren, wieder andere +hielten den Zeitpunkt fr sehr ungeeignet, die +Fortschrittspartei von links her zu attackieren. Und +selbst diejenigen, die dem Verein beitraten, lieen +es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden +und verhielten sich im brigen durchaus +passiv. Dafr agitierten zwar andere Mitglieder +des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse +hervorgegangenen, um so eifriger, und der +Sekretr des Vereins, Jul. Vahlteich, entwickelte +eine geradezu fieberhafte Ttigkeit Anhnger fr +den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen +durchaus nicht den Anstrengungen. Auf +der einen Seite erwies sich die Gleichgltigkeit +der unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der +andern die das Interesse des Augenblicks absorbierende +nationale Bewegung in Verbindung mit +dem Verfassungskampf in Preuen als ein fast +unbersteigbares Hindernis, so da an verschiedenen +Orten die Mitglieder des Vereins bereits +lebhaft die Frage diskutierten, ob man nicht durch +Anziehungsmittel unpolitischer Natur, Grndung +von Untersttzungskassen usw., das Werbegeschft +frdern solle.</p> + +<p>Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, +auf die Diskussion dieser Frage einzugehen — +vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den +Vereinssekretr (zitiert bei B. Becker, Geschichte +der Arbeiteragitation usw. S. 83) —, er kam aber +wieder davon ab, weil er einsah, da der Verein +damit notwendigerweise seinen Charakter ndern<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span> +mute. Er wrde aufgehrt haben, eine jederzeit +disponible politische Maschine abzugeben, und nur +als eine solche hatte er in den Augen Lassalles +Wert.</p> + +<p>Noch in den Bdern entwarf Lassalle die Grundgedanken +einer Rede, mit der er bei seiner Rckkehr +die Agitation wieder aufnehmen wollte, und +zwar zunchst am Rhein, wo der Boden sich ihm +am gnstigsten erwiesen hatte. Es ist dies die +Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter +Abgeordnetentag”.</p> + +<p>Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom +20. bis 29. September 1863 in Barmen, Solingen +und Dsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt +in seiner Agitation. Welche Einflsse whrend +der Sommermonate auf ihn eingewirkt hatten, wird +wohl kaum festgestellt werden knnen, indes wird +man nicht fehlgehen, wenn man auf die Grfin +Hatzfeldt und ihre Verbindungen schliet. Die +Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein noch +greres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben +zu sehen, als dieser selbst; fr sie ging +das Interesse am Sozialismus vollstndig auf im +Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung +sie berhaupt erst zum Sozialismus gekommen +war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre +groe Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie +ihm zu Schritten riet, die wohl versprachen, seinem +persnlichen Ehrgeiz Befriedigung zu verschaffen, +die aber die Bewegung selbst im hchsten Grade +kompromittieren konnten. Fr sie war eben die<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span> +Bewegung Lassalle und Lassalle die Bewegung, +sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille +der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche +uneigenntzigen Freunde sind indessen in der +Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie +aber obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung +usw. in besonderen Klassenvorurteilen befangen +und haben sie keinen eigenen selbstndigen +Wirkungskreis, so wirkt ihre Frsorge zuweilen +schlimmer als Gift. Sie bestrken den Gegenstand +ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und +Schwchen, sie reizen bestndig seine Empfindlichkeit, +indem sie ihn auf jedes Unrecht aufmerksam +machen, das ihm scheinbar geschehen; +mehr als der Beleidigte selbst verzehren sie sich +im Durst nach Rache fr dieses Unrecht, sie +hetzen und schren und intrigieren — alles in +bester Absicht, aber zum grten Schaden dessen, +fr den es vermeintlich geschieht.</p> + +<p>Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite +Frau, die Lassalle, so sehr sie ihm an Wissen +und Energie nachstand, doch in bezug auf Erfahrung +berlegen war. Wo seine Leidenschaft +nicht im Wege stand, gab er viel auf ihren Rat; +er mute doppelt auf ihn wirken, wo er seinen +Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am +Schlu seiner Laufbahn geschriebenen Briefe an +die Grfin macht Lassalle dieser gegenber die +Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die +ihn zur Annahme des Prsidiums des Allgemeinen +Deutschen Arbeitervereins veranlat habe. Das<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span> +ist sicherlich nicht wrtlich zu nehmen. Lassalle +htte wohl auch ohne die Grfin das Prsidium +angenommen. Aber in solchen Situationen lt +man sich besonders gern durch gute Freunde zu +dem bestimmen, was man selbst mchte, weil es +die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. Die +Grfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt +haben, und es liegt der Schlu mehr als +nahe, da sie es mit Verweisung auf die Dinge +getan haben wird, die sich in den oberen Regionen +Preuens damals vorbereiteten. Es sei nur an +die Erklrung Lassalles in seiner Verteidigungsrede +im Hochverratsproze erinnert, da er schon +vom ersten Tage, wo er seine Agitation begann, +gewut habe, da Bismarck das allgemeine Wahlrecht +oktroyieren werde, und an die weitere +Erklrung, da, als er das „Offene Antwortschreiben” +erlie, ihm „klar” war, da „groe +auswrtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, +welche es unmglich machen, das Volk zu ignorieren”. +Er stellt es zwar dort so hin, als ob +dies jeder htte wissen mssen, der die Ereignisse +mit sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen +an Marx haben wir aber gesehen, wie sehr er +sich bei seinen politischen Schritten durch die +„Informationen” beeinflussen lie, die ihm aus +„diplomatischen Quellen” ber die Vorgnge in +Regierungskreisen zugingen.</p> + +<p>Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum +des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins +sicherlich noch mehr enttuscht worden, als<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span> +Lassalle selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang +auf die Mittel der Intrige und stillen Diplomatie +abgerichtet, mute sie auch jetzt darauf +verfallen, hinten herum das zu erreichen, was +auf dem Wege des offenen Kampfes sich als +so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben +fand sie an Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er +sich einmal als Ziel gesetzt, um jeden Preis zu +erzwingen, an seinem rcksichtslosen Temperament +und seinem hochgradigen Selbstgefhl nur +zu bereitwillige Untersttzung. Inwieweit damals +schon die Fden angeknpft waren, die spter +Lassalle ins Palais des Herrn von Bismarck fhrten, +lt sich heute nicht mehr feststellen, aber +sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die +Rede „Die Feste, die Presse usw.” fr den Druck +niederschrieb, an seinen Freund Levy richtete: +„Was ich da schreibe, schreibe ich blo fr ein +paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der +Inhalt der Rede selbst beweisen, da an diesen +Fden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die +Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, +die teilweise sehr bertrieben sind, +whrend dagegen dem Minister Bismarck unumwunden +geschmeichelt wird. Hatten bis dahin +stets der Demokrat und der Sozialist in Lassalle +die demagogische Ader in ihm gemeistert, so +meistert hier der Demagoge die ersteren.</p> + +<p>Im Juni 1863 hatte die preuische Regierung, +nachdem sie den Landtag nach Hause geschickt, +die berchtigten Preordonnanzen erlassen, welche<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span> +die Verwaltungsbehrden ermchtigten, nach vorheriger +zweimaliger Verwarnung das fernere Erscheinen +irgendeiner inlndischen Zeitung oder +Zeitschrift „wegen fortdauernder, die ffentliche +Wohlfahrt gefhrdender Haltung zeitweise oder +dauernd” zu verbieten. Die liberale Presse, ausschlielich +in den Hnden von Privatunternehmern, +hatte daraufhin meist es vorgezogen, whrend der +Dauer der Preordonnanzen berhaupt nichts +mehr ber die innere Politik zu schreiben. Das +war gewi nichts weniger als tapfer, aber es +war auch nicht so schlimmer Verrat an der eigenen +Sache als wie Lassalle es hinstellt. Lassalle +bersah geflissentlich, da Bismarcks Absicht +beim Erla der Preordonnanz eben gewesen +war, die ihm verhaten Bltter der Opposition +geschftlich zu ruinieren, um seine eigene oder +eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. +In der Begrndung der Preordonnanz hatte es +ausdrcklich geheien:</p> + +<blockquote> + +<p>„Die positive Gegenwirkung gegen die Einflsse +derselben (d. h. der liberalen Presse) +vermittelst der konservativen Presse kann schon +deshalb den wnschenswerten Erfolg nur teilweise +haben, weil die meisten der oppositionellen +Organe durch eine langjhrige Gewhnung +des Publikums und durch die industrielle +Seite der betreffenden Unternehmungen eine +Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu +bekmpfen ist.”</p></blockquote> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span></p> + +<p>Wenn also die liberalen Bltter es nicht darauf +ankommen lieen, verboten zu werden, so erhielt +die Regierung auch keine Mglichkeit, andere +Bltter an deren Stelle einzuschmuggeln oder +jenen die Annoncen abspenstig zu machen. Der +eine Zweck der Maregel wurde also gerade +durch dies zeitweilige Schweigen ber die innere +Politik vereitelt. Nicht minder aber auch der +zweite, direkt politische Zweck. Lassalle meint +in seiner Rede, wenn die liberale Presse sich +htte verbieten lassen, wenn der Spiebrger nicht +mehr beim Frhstck seine gewohnte Zeitung bekommen +htte, dann wrde die Erbitterung ber +die Preordonnanzen im Volke aufs hchste gesteigert +worden sein und die Regierung sich gezwungen +gesehen haben, nachzugeben. Indes, die +Erbitterung war nicht minder gro, wenn der +Spieer zwar seine gewohnte Zeitung forterhielt, +aber ihm zugleich Tag fr Tag am Inhalt derselben +vordemonstriert wurde, da seinem Organ +ein Knebel angelegt war, wenn er zwar sein Blatt, +aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt.</p> + +<p>Zudem war die Preordonnanz eine Maregel, +die nicht aufrechtzuerhalten war, sobald der Landtag +wieder zusammentrat. Es handelte sich um +ein Provisorium, und die liberalen Bltter hatten +gar keine Ursache, whrend desselben, Bismarck +zuliebe — wie Lassalle es ausdrckt — „mit +Ehren zu sterben”.</p> + +<p>Die Wut der Regierung war denn auch eine +nicht geringe, und ihre Organe spiegelten diese<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span> +Wut natrlich entsprechend wieder. Lassalle +drckt das so aus, da er sagt: „Selbst (!) die +reaktionren Bltter wuten damals ihrem Erstaunen +und ihrer Entrstung ber dieses Gebaren +kaum hinreichenden Ausdruck zu geben.” +Und er zitiert als Beweis die „Berliner Revue”, +das Organ des reaktionrsten Muckertums.</p> + +<p>Natrlich benutzten die Reaktionre die Finte, +ihren Angriffen auf die liberale Presse ein sozialistisches +Mntelchen umzuhngen, sich zu gebrden, +als ob sie ihres kapitalistischen Charakters +halber angriffen. Statt jedoch gegen diese Flschung +des sozialistischen Gedankens zu protestieren +und jede Solidaritt mit ihren Urhebern +zurckzuweisen, leistete Lassalle dem Spiel der +Bismrcker noch Vorschub, indem er ihre Blechmnzen +den Arbeitern als echtes Gold ausgab.</p> + +<p>Gewi ist die Tatsache, da die Presse heute +ein Geldgeschft ist, ein groer belstand, ein +mchtiger Faktor der Korruption des ffentlichen +Lebens. Dem ist aber, solange berhaupt das +kapitalistische Privateigentum besteht, schwerlich +abzuhelfen, — am allerwenigsten durch beschrnkende +Gesetze des selbst noch kapitalistisch +geleiteten Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen +werden kann, wird sie durch die Freiheit +der Presse ermglicht. Davon aber wollte +die preuische Regierung nichts wissen, und +Lassalle untersttzte ihren Widerstand noch, indem +er zwar fr volle Prefreiheit eintrat, aber +zugleich erklrte, da diese ohnmchtig sein<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span> +wrde, das Wesen der Presse umzuwandeln, wenn +nicht zugleich der Presse das Recht entzogen +wrde, Annoncen zu bringen. Mit letzterem wrde +die Presse nmlich aufhren, eine lukrative Geldspekulation +zu sein, und wrden wieder nur solche +Mnner Zeitungen schreiben, welche fr das Wohl +und das geistige Interesse des Volkes kmpfen.</p> + +<p>Braucht es noch eines besonderen Nachweises, +wie absolut wirkungslos dieses Mittel wre? +Lassalle htte nur seine Blicke ber den Grenzbereich +des preuischen Staates hinaus nach England +und Frankreich zu richten brauchen, um sich +von der Verkehrtheit seiner Idee zu berzeugen. +In England bildete und bildet heute noch das +Annoncenwesen eine sehr wesentliche Einnahmequelle +der Presse, whrend in Frankreich den +Blttern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht +direkt verboten, aber durch eine hohe Steuer fast +unmglich gemacht, auf ein Minimum reduziert +war. War deshalb die franzsische Presse besser +als die englische? Weniger im Dienst des Kapitalismus, +weniger korrumpiert als jene? Mit +nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte +es im Gegenteil dem Bonapartismus sehr wesentlich +erleichtert, die Presse fr seine Zwecke zu +korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische +Presse Frankreichs nicht verhindert, der +hohen Finanz in viel hherem Grade dienstbar +zu sein, als es die politische Presse Englands war.</p> + +<p>Immerhin berhrte Lassalle in diesem Teil +seiner Rede wenigstens eine Frage, die in der<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> +Tat ab ein wunder Punkt des modernen ffentlichen +Lebens bezeichnet werden mu. War der +Zeitpunkt auch schlecht gewhlt, war das Heilmittel +auch von problematischem Wert, an und +fr sich bleibt die Tatsache, da die Presse, ob +mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein kapitalistisches +Institut wird, ein Krebsschaden, auf +den die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt +werden mu, soll sie sich vom Einflu der +Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend +aber war, was Lassalle ber die Feste +sagt, welche die Fortschrittler 1863 Bismarck +zum Trotz abhielten. Er wute doch wohl, da +die Feste weiter nichts waren, als Agitationsversammlungen, +als Demonstrationen gegen die +Regierung, wie sie in Frankreich und England +unter hnlichen Verhltnissen auch veranstaltet +worden waren. Wollte er sie kritisieren, so mute +er hervorheben, da mit den Festen allein noch +nichts getan war, da, wenn es bei ihnen blieb, +die Sache des Volks gegen die Regierung um +keinen Schritt gefrdert wurde. Statt dessen beschrnkte +er sich darauf, die Redensarten der +Regierungspresse ber die Feste zu wiederholen, +den Hohn, unter dem diese ihren rger zu verbergen +suchte, noch zu berbieten. Niemand, +der die Geschichte der preuischen Verfassungskmpfe +des Jahres 1863 genauer kennt, wird +diese Stelle der Lassalleschen Rede lesen knnen, +ohne sie zu mibilligen.</p> + +<p>Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im<span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span> +Sommer 1863 zu Frankfurt a. M. zusammengetretenen +Deutschen Abgeordnetentages, wre +berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in +demselben Augenblick, wo er den Fortschrittlern +einen Vorwurf daraus machte, da sie mit den +deutschen Frsten liebugelten, um Herrn von +Bismarck bangezumachen — wir haben gesehen, +wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” +das „Dogma von der preuischen Spitze” vorgeworfen +und Preuen als den reaktionrsten +der deutschen Staaten hingestellt hatte — wenn +Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits +ein gleiches Spiel getrieben htte, wie die Fortschrittler, +nur da er nach der andern Seite hin +liebugelte. Seine ganze Rede enthlt keine Silbe +gegen Bismarck und die preuische Regierung, +wohl aber eine ganze Reihe direkter und indirekter +Schmeicheleien an deren Adresse. Er lt sie +„mit dem ruhigen Lcheln tatschlicher Verachtung” +ber die Beschlsse der Kammer hinweggehen, +und er stellt Bismarck das Zeugnis +aus, er sei „ein Mann”, whrend die Fortschrittler +alte Weiber seien. Noch ein Passus der Rede +zeugt von der vernderten Frontrichtung Lassalles.</p> + +<p>Der Fhrer des Nationalvereins, Herr von +Bennigsen, hatte den Abgeordnetentag mit folgenden +Worten geschlossen, und es ist ganz gut, +wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft +der Volkspartei und die Verstocktheit der +Regierenden habe schon oft zu revolutionren +Umwlzungen gefhrt. Aber das deutsche Volk<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span> +sei nicht blo einmtig, sondern auch so gemigt +bei seinen Ansprchen, da die deutsche nationale +Partei, die keine Revolution wolle und keine +machen kann, keine Verantwortung dafr habe, +wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, welche, +weil keine Reform mehr mglich, zu der Umwlzung +greife.”</p> + +<p>Fr jeden, der lesen kann, ist diese Erklrung +eine zwar recht lendenlahme Drohung, aber doch +eine Drohung mit der Revolution. „Wir wollen +keine Revolution, o Gott behte, wir waschen +unsere Hnde in Unschuld, aber wenn ihr nicht +nachgebt, dann wird sie doch kommen, und dann +habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, +wenn man wirklich die ganze Nation hinter sich +hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider zugleich +auch sehr gebruchliche Art zu drohen — so +gebruchlich, da, wie gesagt, ber den Sinn +der Erklrung gar kein Miverstndnis mglich +war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als +ob er die Drohung nicht verstanden habe, und +er stellt sich so, nicht etwa, um die Fortschrittler +zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, +sondern um ihnen zu drohen fr den Fall, da +es zu einer Revolution oder einem Staatsstreich +kommen sollte. Er zitiert den obigen Ausspruch +des Herrn von Bennigsen und lt ihm das nachstehende +Pronunziamento folgen: „Erheben wir +also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn +jemals dieser Umschwung, sei es auf diesem, +sei es auf jenem Wege kme, es den Fortschrittlern<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span> +und Nationalvereinlern gedenken zu +wollen, da sie bis zum letzten Augenblicke erklrt +haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet +euch dazu, hebt eure Hnde empor.”</p> + +<p>Und „die ganze Versammlung erhebt in groer +Aufregung ihre Hnde”, heit es in dem, von +Lassalle selbst redigierten Bericht ber die Rede.</p> + +<p>Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” +bedeuten? Es war kaum eine andre Auslegung +mglich, ab da man die Fortschrittler, wenn +nicht direkt angreifen, so doch im Stich lassen +wollte, wenn es „auf diesem oder jenem Wege” +zum gewaltsamen Zusammensto kommen sollte. +Eine solche Drohung in diesem Moment konnte +aber nur die eine Wirkung haben, die Fortschrittler, +statt sie vorwrtszutreiben, erst recht +kopfscheu zu machen.</p> + +<p>In einer der Versammlungen, in Solingen, kam +es zu blutigen Konflikten. Eine Anzahl Fortschrittler, +die versucht hatten, Lassalle zu unterbrechen, +wurden von exaltierten Anhngern desselben +mit Messerstichen bedacht. Auf Grund +dieser Vorkommnisse lste der Brgermeister eine +halbe Stunde spter die Versammlung auf, worauf +Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch ber das +andere ausbringenden Menge zum Telegraphenbureau +eilte und das bekannte Telegramm an +Bismarck aufgab, das mit den Worten beginnt: +„Fortschrittlicher Brgermeister hat soeben an +der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten +Gendarmen und mehreren Polizisten<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span> +mit gezogenem Sbel von mir einberufene Arbeiterversammlung +ohne jeden gesetzlichen Grund +aufgelst”, und mit der „Bitte um strengste, +schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schlo.</p> + +<p>Auch wenn man alles in Betracht zieht, was +zu Lassalles Entschuldigung angefhrt werden +kann: seine Erbitterung ber die ihm von seiten +der Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine +Enttuschung ber die verhltnismig geringen +Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen Widerwillen +gegen die feige Taktik der Fortschrittler, +seine einseitige, aber doch aufrichtige Gegnerschaft +gegen die liberale Wirtschaftslehre — kurz, +wenn man sich noch so sehr in seine damalige +Lage hineindenkt, so geht doch aus diesem Telegramm, +in Verbindung mit der vorstehend geschilderten +Rede, eines unbestreitbar hervor — +da Lassalle, als er nach Deutschland zurckkam, +bereits seinen inneren Halt — wenn ich mich +so ausdrcken darf: seinen Standpunkt verloren +hatte. Ein solches Telegramm htte man keinem +Konservativen verziehen, geschweige denn einem +Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionr genannt, +und der seiner inneren berzeugung nach +sicherlich sich noch fr einen solchen hielt. Wenn +nicht andre Erwgungen, so htte das einfachste +Taktgefhl Lassalle verbieten mssen, sich zu +einem Appell an die Staatsgewalt herbeizulassen, +der mit einer politischen Denunziation begann.</p> + +<p>Und wenn man selbst dieses Telegramm noch +mit der durch die Auflsung der Versammlung<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span> +hervorgerufenen Erregung entschuldigen knnte, +so folgten ihm bald andre, bei kltester berlegung +unternommene Schritte, die ebenfalls den +politischen Grundstzen, als deren Vertreter +Lassalle auftrat, schnurstracks entgegenstanden. +Hier nur ein Beispiel, das zudem in enger Verbindung +mit den vorerwhnten Vorkommnissen steht.</p> + +<p>Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung +vom Messer Gebrauch gemacht haben sollten, +waren im Frhjahr 1864 zu mehrmonatigen Gefngnisstrafen +verurteilt worden. Und da war es +Lassalle, der allen Ernstes und wiederholt den +Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, untersttzt +durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein +Gnadengesuch an den Knig von Preuen richten. +Man denke, Lassalle, der noch einige Jahre zuvor +geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er +habe zu seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, +„wie wenig entmonarchisiert” das Volk in Preuen +sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen +hatte: „Ich habe keine Lust und keinen +Beruf, zu andern zu sprechen, als zu Demokraten”, +er, der als Fhrer der neuen Bewegung +doch vor allem die Pflicht hatte, seinen Anhngern +das Beispiel demokratischen Stolzes zu +geben, ermuntert sie, vom Knig von Preuen +Begnadigung zu erbetteln. Indes, die Arbeiter +zeigten sich hier taktfester als ihr Fhrer. Am +20. April 1864 meldet der Solinger Bevollmchtigte +Klings, da gegen Lassalles Vorschlag allgemeine<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span> +Abneigung herrsche. Smtliche Hauptmitglieder +des Vereins htten sich dagegen ausgesprochen. +„Die beiden von hier Verurteilten +gehren zu der entschiedensten Arbeiterpartei und +wrden, selbst wenn es vier Jahre wren, nicht +zu bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, +weil es ihren Gesinnungen widerstreitet, Sr. Majestt +verpflichtet zu sein.”</p> + +<p>Dieser Widerstand erweckte das demokratische +Gewissen Lassalles, und er schrieb an Klings, +die Weigerung der Leute erflle ihn mit groem +Stolz. Aber den Gedanken der Adresse an den +Knig gab er noch immer nicht auf, sondern suchte +nachzuweisen, da diese auch ohne das Gnadengesuch +der Verurteilten von groem Nutzen sein +knne. Es kann, heit es wrtlich, „vielleicht +auch noch folgender Nutzen eintreten, da, wenn +die Adresse von mehreren tausend Arbeitern +unterschrieben ist, man diesem Schritte oben +eine — fr uns ganz unverbindliche — Auslegung +gibt, durch welche man sich um so mehr +ermutigt fhlt, bei kommender Gelegenheit an +die Oktroyierung des allgemeinen und direkten +Wahlrechts zu gehen: ein Schritt, den man, wie +Ihnen der beigefgte Leitartikel der ministeriellen +Zeitung (die damals verffentlichte Sternzeitung) +zeigt, oben jetzt gerade wieder hin und her berlegt”. +Indes auch diese Perspektive vermochte +die Solinger nicht von der Richtigkeit des empfohlenen +Schrittes zu berzeugen, und so blieb +der Bewegung diese Blostellung erspart.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span></p> + +<p>Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin +zurckkehrte, ging er zunchst mit allem Eifer +daran, die Hauptstadt fr seine Sache zu erobern. +Er verfate einen Aufruf „An die Arbeiter +Berlins”, lie ihn in 16000 Exemplaren abziehen +und einen Teil davon unentgeltlich unter +den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der +Aufruf sehr wirksam geschrieben ist und namentlich +geschickt an die entstellten Berichte der +Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” +und „Reform”) ber die rheinischen Versammlungen +anknpft, war der Erfolg doch zunchst +ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen +Lassalles in Berlin fanden in kleineren +Slen statt und gaben zu allerhand Gesptt Anla, +und als in der ersten greren Versammlung +Lassalle auf Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft +verhaftet wurde, klatschten fanatisierte +Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit +der Personen, die sich als Neugierige oder +unter dem Eindruck der Vortrge Lassalles in +die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen bald +wieder ab, so da der Verein, der Anfang +Dezember 1863 es bis auf ber 200 Mitglieder +in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 kaum +noch drei Dutzend Mitglieder zhlte, wovon obendrein +ein groer Teil Nichtarbeiter waren.</p> + +<p>Neben der Agitation beschftigten Lassalle +auch sehr stark seine Prozesse und sonstigen +Kmpfe mit den Behrden. Denn so angenehm +dem Ministerium Bismarck auch seine Agitation<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span> +war, soweit diese sich gegen die Fortschrittspartei +kehrte, so wute es doch sehr gut, da es in +Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfhriges +Werkzeug gebrauchen lie. Es konnte +ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren +Behrden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. +zu berschtten. Dadurch kam es in die Lage, +entweder zur rechten Zeit einen unbequemen +Drnger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch +„mrbe” zu bekommen. Wie dem jedoch sei, +die Staatsanwaltschaft in Dsseldorf lie die Rede +„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und +erhob gegen Lassalle Anklage auf Verletzung der + 100, 101 des Preuischen Strafgesetzbuches +(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen +behufs Herabsetzung von Anordnungen +der Obrigkeit). Der Proze verursachte Lassalle +unendlich viel Scherereien und endete, nachdem +Lassalle in erster Instanz in contumaciam zu +einem Jahr Gefngnis verurteilt worden war, mit +seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs +Monaten Gefngnis. Wegen der Flugschrift „An +die Arbeiter Berlins” erhob die Staatsanwaltschaft +in Berlin Anklage wegen Hochverrats +gegen Lassalle und lie auch, wie bereits erwhnt, +Lassalle in Untersuchungshaft nehmen, aus +der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. +Beides, Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten +indes der persnlichen Rachsucht des Staatsanwalts +von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein +Jahr vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span> +so bs zerzaust hatte. In der Gerichtsverhandlung, +die am 12. Mrz 1864 vor dem +Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte +der Staatsanwalt nicht weniger als drei Jahre +Zuchthaus und fnf Jahre Polizeiaufsicht gegen +Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit +die Anklage auf Hochverrat lautete, auf Freisprechung +und berwies die Behandlung der untergeordneteren, +von der Staatsanwaltschaft behaupteten +Verste gegen das Strafgesetz der +zustndigen Gerichtsabteilung.</p> + +<p>Die Verteidigungsrede in diesem Proze ist +ein wichtiges Dokument fr die Geschichte der +Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf +sie eingehen, haben wir noch der groen sozialpolitischen +Arbeit Lassalles zu erwhnen, die +Ende Januar 1864 die Presse verlie und als sein +propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden +mu. Es ist dies die Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze +von Delitzsch, der konomische Julian, +oder Kapital und Arbeit”.</p> + +<p>Es wurde gelegentlich bereits der Vortrge erwhnt, +die Schulze-Delitzsch im Frhjahr 1863 im +Berliner Arbeiterverein hielt und unter dem Titel +„Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” +als Gegenschrift gegen die Lassallesche +Agitation verffentlichte. Diese, aus den plattesten +Gemeinpltzen der liberalen konomie zusammengesetzten +Vortrge nun boten Lassalle eine willkommene +Handhabe, den auf der Hhe seines +Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span> +Partei, die in ihm ihren konomischen Heros +verehrte, jetzt auch theoretisch zu vernichten. Bercksichtigt +man, da Lassalle zu systematischen +konomischen Arbeiten nicht gekommen war, +sondern gerade in dem Moment, wo er sich an +die Vorarbeiten zu seinem konomischen Werk +machen wollte, durch die praktische Agitation +davon abgelenkt wurde, und zieht man auerdem +in Betracht, da Lassalle, whrend er den +„Bastiat-Schulze” schrieb, durch seine Prozesse +und die Arbeiten fr die Leitung des Vereins +fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann +man nicht umhin, in diesem Buch einen neuen +Beweis fr das auergewhnliche Talent, die +staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizitt des +Lassalleschen Geistes zu erblicken. Freilich trgt +der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs deutlichste +die Spuren seines Entstehens. So sehr +die Form der Polemik der Popularitt der Schrift +zugute kommt, sind die Umstnde, unter denen +diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit +Lassalles, die um so grer war, als Lassalle +wohl selbst fhlte, da er immer mehr in eine +falsche Position geriet — die Enttuschung einerseits, +und das Bestreben, sich ber diese Enttuschung +selbst hinwegzutuschen, andererseits, +dem Ton der Polemik sehr verhngnisvoll gewesen. +Aber auch inhaltlich ist sie keineswegs +immer auf der Hhe des Gegenstandes, sondern +verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die +obendrein nicht einmal immer in der Sache zutrifft<a name="FNAnker_31_31" id="FNAnker_31_31"></a><a href="#Fussnote_31_31" class="fnanchor">[31]</a>.<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span> +Dazu ist der sachliche und theoretische +Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht +frei von Widersprchen. Als Ganzes genommen +hat der „Bastiat-Schulze” jedoch das groe Verdienst, +den historischen Sinn und das Verstndnis +fr die tieferen Probleme der konomie unter +den deutschen Arbeitern in hohem Grade gefrdert +zu haben. Stellenweise erhebt sich die +Darstellung auf die Hhe des Besten, was Lassalle +je geschrieben hat, an diesen Stellen leuchtet sein +Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Lassalle_und_Bismarck" id="Lassalle_und_Bismarck">Lassalle und Bismarck.</a></h2> + + +<p>Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen +und geschrieben hat, trgt immer deutlicher +die Zge der inneren Ermattung, der +geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr +die ursprngliche, das natrliche Produkt des +Glaubens an die eigene Kraft und die Strke<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span> +der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine +erzwungene. Man vergleiche das „Arbeiterprogramm” +mit der Ronsdorfer Rede, die Verteidigungsrede +„Die Wissenschaft und die Arbeiter” +mit der Verteidigungsrede im Hochverratsproze, +und man wird das hier Gesagte verstehen. +Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrcke +treten an ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt +die zwingende logische Beweisfhrung, und statt +zu berzeugen, verlegt sich Lassalle immer mehr +auf das berschreien. Was er vor kurzem noch +den Fortschrittlern vorgeworfen, tut er jetzt +selbst — er berauscht sich in erdichteten Erfolgen.</p> + +<p>Im Hochverratsproze braucht Lassalle zu +seiner Verteidigung gegen die Behauptung der +Anklage, da der Hintergedanke seiner Agitation +die schlieliche Anwendung der physischen Gewalt +sei, mit groem Geschick das Bild des Schillerschen +Wallenstein am Vorabend von dessen bertritt +zu den Schweden und zitiert die Verse des +Monologs im ersten Akt von „Wallensteins Tod”:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Wr's mglich? — knnt' ich nicht mehr, wie ich wollte?<br /></span> +<span class="i0">Nicht mehr zurck, wie mir's beliebt?”<br /></span> +</div></div> + +<p>Es ist merkwrdig, wie sehr diese Verse auf +Lassalles eigene Situation um jene Zeit passen, +wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser +jene Worte sprach, hnlich war. Auch er hatte, +wie der Friedlnder — um sein eigenes Bild zu +brauchen — „Dinge getan, welche er deux<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span> +mains verwenden konnte”. Er hatte sich nicht +damit begngt, die Vorgnge in der inneren und +ueren Politik objektiv zu studieren, um den +gnstigen Moment zur Aktion fr seine Plne +auszuntzen, er war bereits dazu bergegangen, +mit dem Vertreter der einen der Mchte, gegen +die er kmpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn +von Bismarck in direkte Unterhandlung getreten. +Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein +sagen:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Noch ist sie rein — noch! das Verbrechen kam<br /></span> +<span class="i0">Nicht ber diese Schwelle noch!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. +Aber war er auch innerlich noch frei? Konnte +nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu +treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht +die Versuchung von sich wies”?</p> + +<p>Da Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte +und eingehende Besprechungen unter vier Augen +mit dem damaligen Herrn von Bismarck hatte, +ist heute ber jeden Zweifel sichergestellt. Die +langjhrige Vertraute Lassalles, die Grfin +Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer 1878, +als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die +deutsche Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner +Initiative Vertretern derselben unter Hinzufgung +der nheren Umstnde mitgeteilt, und als August +Bebel in der schon erwhnten Sitzung vom +16. September 1878 die Sache im deutschen +Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck +tags darauf zu, Zusammenknfte mit Lassalle gehabt<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span> +zu haben, und suchte nur in Abrede zu stellen, +da es sich dabei um politische Verhandlungen +gedreht habe. Bebel hatte, gesttzt auf die Mitteilungen +der Grfin Hatzfeldt, gesagt: „Es +drehte sich bei diesen Unterhaltungen und Unterhandlungen +um zweierlei, erstens um Oktroyierung +des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um +die Gewhrung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. +Frst Bismarck war fr diesen +Plan von Lassalle vollstndig gewonnen, er +weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort +mit der Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts +vorzugehen, bevor nicht der schleswig-holsteinische +Krieg glcklich zu Ende gefhrt worden sei. +Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden +tiefe Differenzen zwischen Lassalle und dem +Frsten Bismarck, und es war nicht etwa der +letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, +sondern es war, wie ich ausdrcklich konstatieren +mu, Lassalle, der den Bruch herbeifhrte und +erklrte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht +einlassen zu knnen.” Darauf antwortete nun +Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten sich +gewi auch um das allgemeine Wahlrecht, unter +keinen Umstnden aber jemals um eine Oktroyierung +desselben. Auf einen so ungeheuerlichen Gedanken, +das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung +einzufhren, bin ich in meinem Leben nicht +gekommen.” Er habe es „mit einem gewissen +Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert. +Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe,<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span> +so sei er „von deren Unzweckmigkeit +noch heute nicht berzeugt”. Nur htten die +damals eingetretenen politischen Ereignisse die +Fortfhrung der in dieser Hinsicht angebahnten +Versuche nicht gestattet. brigens habe nicht +er, sondern Lassalle diese Zusammenknfte gewnscht, +ihn brieflich darum gebeten, und er, +Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu +herbeigelassen, Lassalles Wnschen zu willfahren. +„Was htte mir Lassalle bieten und geben +knnen? Er hatte nichts hinter sich. In allen +politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich +gebe, damit du gibst) eine Sache, die im Hintergrunde +steht, auch wenn man anstandshalber nicht +davon spricht. Wenn man sich aber sagen mu, +was kannst du armer Teufel geben? — Er hatte +nichts, was er mir als Minister htte geben knnen.”</p> + +<p>Es liegt auf der Hand, da der Mann, der +„offiziell noch nie gelogen” hat, hier mit der +Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer +bloen Unterhaltung willen wre Lassalle nicht +zum Minister gegangen, und wrde dieser nicht +den „revolutionren Juden” wiederholt — er +selbst gesteht, da es viermal gewesen sein knne, +whrend Sophie Hatzfeldt behauptet hatte, da +es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche +gewesen sei — zu sich gebeten und mit ihm +stundenlang disputiert haben. Weiter braucht man +nur die Reden der Regierungsvertreter in der +Kammer und die Artikel in der Regierungspresse +aus jener Epoche nachzulesen, um sich zu berzeugen,<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span> +wie stark sich das Ministerium Bismarck +damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine +Wahlrecht einzufhren, und dazu gab es unter +den obwaltenden Umstnden kaum einen anderen +Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst +zitiert in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof +einige derartige uerungen und +knpft daran im weiteren Verlauf die bekannten +Erklrungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenknfte +mit Bismarck bekannt geworden, +richtig gewrdigt werden knnen:</p> + +<p>„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine +und direkte Wahlrecht herstellen und +somit die Verfassung strzen zu wollen!</p> + +<p>Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher +Privatmann, kann ich Ihnen sagen: ich will nicht +nur die Verfassung strzen, sondern es vergeht +vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie +gestrzt!</p> + +<p>Aber wie? Ohne da ein Tropfen Blutes geflossen, +ohne da eine Faust zur Gewalt sich +geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr +mehr, so ist in der friedlichsten Weise von +der Welt das allgemeine und direkte Wahlrecht +oktroyiert.</p> + +<p>Die starken Spiele, meine Herren, knnen gespielt +werden, Karten auf dem Tisch! Es ist +die strkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen +mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil +sie auf erzene Notwendigkeit gegrndet sind.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p> + +<p>Und so verkndige ich Ihnen denn an diesem +feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr +vergehen — und Herr von Bismarck hat die Rolle +Robert Peels gespielt, und das allgemeine und +direkte Wahlrecht ist oktroyiert!”</p> + +<p>Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von +Anfang an gewut, „schon an dem ersten Tage, +an welchem ich durch den Erla meines Antwortschreibens +diese Agitation begann, und es +konnte niemand entgehen, der mit klarem Blick +die Situation auffate”. Aber wenn es auch +zweifelsohne richtig ist, da man schon im Winter +1862/63 in Regierungskreisen die Frage in Betracht +zog, ob es mglich sei, durch eine nderung +des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit +zu sprengen, und zu diesem Behufe in +sozialer Frage zu machen begann<a name="FNAnker_32_32" id="FNAnker_32_32"></a><a href="#Fussnote_32_32" class="fnanchor">[32]</a>, so wrde +Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit +von einer bevorstehenden Oktroyierung des<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span> +allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben und +immer wieder darauf zurckgekommen sein, wenn +er nicht aus seinen Unterhaltungen mit Bismarck +die berzeugung gewonnen htte, da, ob nun +vor oder nach Beendigung des dnischen Feldzuges, +diese Oktroyierung beschlossene Sache sei.</p> + +<p>Mehr glaubwrdig ist es dagegen, wenn Bismarck +bestreitet, da es zwischen ihm und Lassalle zu +einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen +schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drngen +berzeugt hatte, da Bismarck noch abwarten +wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt +unternahm — und darum spricht Lassalle auch +immer nur von einer mglicherweise binnen Jahresfrist +erfolgenden Oktroyierung. Aber da die +Verbindung noch nicht endgltig abgebrochen war, +geht schon daraus hervor, da Lassalle fortfuhr, +von allen seinen Verffentlichungen usw. durch +das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” +ein Doppelexemplar in verschlossenem +Kuvert und mit der Aufschrift „persnlich” +an Bismarck bersenden zu lassen.</p> + +<p>Ebenso kann man Bismarck auch glauben, da +seine Verhandlungen mit Lassalle wegen des +„do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen +fhren konnten. Zwar stand die Sache nicht so, +wie Bismarck sie nachtrglich protzenhaft mit der +Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel +geben? Er hatte nichts, was er mir als Minister +htte geben knnen.” Bismarck hatte es zu jener +Zeit gar nicht so ppig, da er nicht jede Hilfe<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span> +brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm +immerhin geben. Die Sache war nur die, da +es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen +Lassalles Drngen nachzugeben. Vielleicht ist das +auch mit einer der Grnde, da Lassalle, der +noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben +hatte: „Sie knnen unsre Bevollmchtigten keine +Unwahrheiten sagen lassen. Sie knnen sie also +nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu +sprechen, whrend wir vielleicht nicht 1000 haben. +Man kann schweigen ber diesen Punkt, aber +lgen schickt sich fr uns nicht” — nach seiner +Rckkehr nach Berlin in geradezu krankhafter +Weise seine Erfolge bertrieb. Er wollte um +jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht +gelang, mit wirklichen Massen aufzumarschieren. +Aber Bismarck war durch andre Berichterstatter +wahrscheinlich hinreichend darber informiert, wie +es in Wirklichkeit mit der Bewegung stand.</p> + +<p>Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst +seine eigne Bewandtnis. Bismarck war sich schwerlich +auch nur einen Augenblick im unklaren darber, +da er an Lassalle nur so lange und nur +insoweit einen politischen Verbndeten haben +wrde, solange dieses Bndnis im Interesse +Lassalles und seiner politischen Zwecke lag — +mit andern Worten, da Lassalle genau so mit +ihm verfahren wrde, wie er mit ihm, d. h. sich +unbarmherzig gegen ihn wenden wrde, sobald +er das von ihm erreicht hatte, was er brauchte. +Davon mute ihn die erste Unterredung mit<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span> +Lassalle berzeugt haben, da dieser nicht, wie +Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein +Fisch ohne Grten” war, sondern ganz gehrige +Grten und Stacheln hatte. Mit der Aussicht auf +ein Pstchen — von Geld gar nicht zu reden — +war da nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht +gegeben, konnte Lassalle leicht sehr unbequem +werden, also warum sich bereilen? Die Agitation +Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer +schroffer und einseitiger gegen die liberale Partei, +und das war vorderhand alles, was Bismarck +brauchte.</p> + +<p>In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft +und die Arbeiter”, gehalten am 16. Januar 1863, +hatte Lassalle erklrt:</p> + +<p>„Kann man bei uns selbst nur sagen, da die +Einfhrung des Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden +Klassen, da sie dem deutschen Brgertum +zur Last falle?... Die preuische Regierung +ist es, nicht die besitzenden Klassen in Preuen, +welche fr alle Zeiten und vor allem Volk die +Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten +Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: +„Bourgeoisie und Arbeiter sind wir die Glieder +eines Volkes und ganz einig gegen unsre Unterdrcker” +— d. h. also gegen die Regierung.</p> + +<p>Vor dem Staatsgerichtshof aber — am 12. Mrz +1864 — ist ihm der Verfassungskonflikt in +Preuen nur noch der Kampf zwischen dem +Knigtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” +knne das Knigtum nicht weichen, „vollkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span> +wohl” aber knne es „das Volk auf die Bhne +rufen und sich auf es sttzen. Es brauche sich +hierzu nur seines Ursprungs zu erinnern, denn +alles Knigtum ist ursprnglich Volksknigtum +gewesen.”</p> + +<p>„Ein Louis-Philippsches Knigtum, ein Knigtum +von der Schpfung der Bourgeoisie knnte +dies freilich nicht; aber ein Knigtum, das noch +aus seinem ursprnglichen Teige geknetet dasteht, +auf den Knauf des Schwertes gesttzt, knnte +das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist, +wahrhaft groe, nationale und volksgeme Ziele +zu verfolgen.”</p> + +<p>Das ist die Sprache des Csarismus, und im +weiteren Verlaufe seiner Rede steigert Lassalle +sie noch, indem er die bestehende Verfassung +als eine vom Knigtum der Bourgeoisie erwiesene +Gunst hinstellt. Niemand lasse aber „gern aus +seiner eigenen Gunst ein Halsband drehen, an +welchem er erwrgt wird, und das ist niemand +zu verdenken, und daher auch dem Knigtum +nicht”. Bestndig auf das angebliche „Recht” +hingedrngt, habe sich das Knigtum „erinnert, +da es mehr in seiner Stellung lge, sich auf das +wirkliche Recht zurckzuziehen und das Volk auf +die Bhne zu fhren, als einer Clique zu weichen +und von einer Handvoll Personen sich aus seiner +eignen Gunst ein Halsband winden zu lassen, an +dem es erwrgt wird”. So wrde er, Lassalle, +sprechen an dem Tage, wo das Knigtum die Verfassung +gestrzt und das allgemeine Wahlrecht<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span> +oktroyiert haben werde, wenn man ihn der +intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes +anklagte.</p> + +<p>Lassalle war bereits so weit, da er nicht nur +durch die Tatsache seiner Agitation — was unter +Umstnden nicht zu vermeiden ist — der Reaktion +vorbergehend einen Dienst erwies, er verfiel +auch immer mehr darin, die Sprache der +Reaktion zu sprechen. Gewi konnte er noch +immer mit Wallenstein ausrufen:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">„Beim groen Gott des Himmels! Es war nicht<br /></span> +<span class="i0">Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!”<br /></span> +</div></div> + +<p>Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen +Zwecken dienstbar machen, sie selbst aber im +gegebenen Moment mit einem Ruck abschtteln +zu knnen. In diesem Sinne nannte er auch einmal +der Grfin Hatzfeldt gegenber Bismarck +seinen „Bevollmchtigten”. Aber er verga, da +es eine Logik der Tatsachen gibt, die strker +ist als selbst der strkste individuelle Wille, und +da, indem er berhaupt um den Erfolg spielte, +statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu vertrauen +und ausschlielich ihr seine Energie zu +widmen, er nach seiner eignen Theorie die Bewegung +selbst zum Teil bereits aufgab.</p> + +<p>In der Tat, um noch einmal auf den schon +zitierten Aufsatz Lassalles ber die Grundidee +seines „Franz von Sickingen” zurckzugreifen: +mit der seit seiner Rckkehr aus den Bdern vollzogenen +Schwenkung war Lassalle genau zu derselben +Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span> +als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens +hingestellt hatte. Es ist merkwrdig, wie genau +Lassalle dort sein eignes Schicksal vorgezeichnet +hat. Auch er war auf die „sich realistisch dnkende +Verstndigkeit” verfallen, revolutionre Zwecke +durch diplomatische Mittel erreichen zu wollen, er +hatte eine Maske vorgenommen, seinen Gegner — +die preuische Regierung — zu tuschen, aber +er tuschte tatschlich nicht diese, sondern die +Massen des Volkes, ohne die er nichts war; die +Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp +persnlicher Anhnger beschrnkt. Und wie +Lassalle von Sickingen schreibt, da „dieser +groe Diplomat und Realist, der alles sorgsam +vorherberechnet und den Zufall ganz ausschlieen +will, gerade dadurch zuletzt gezwungen ist, dem +zuflligsten Zufall alles anheim zu geben”, und, +„whrend die Rechnung auf jene Tuschung durch +den Anschein des Zuflligen und Unwesentlichen +an der bewuten Natur des Bestehenden zugrunde +gehen mu, die Entscheidung, statt wie er wollte, +aus den Hnden des vorbereiteten, vielmehr aus +denen des ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen +mu”<a name="FNAnker_33_33" id="FNAnker_33_33"></a><a href="#Fussnote_33_33" class="fnanchor">[33]</a> — so sieht auch er, +Lassalle, sich gezwungen, nunmehr blo noch mit +dem Zufall zu rechnen, alles von zuflligen Konstellationen +in der inneren und ueren Politik<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span> +abhngig zu machen. Im Vertrauen auf seine +realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte +nicht, da beim Spiel derjenige die meisten +Aussichten hat seinen Mitspieler lahmzulegen, +der die meisten Trmpfe in der Hand — beim +politischen Spiel, der ber die meisten tatschlichen +Machtfaktoren zu gebieten hat. Und da +das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck +war, konnte es nicht ausbleiben, da er schlielich +mehr Bismarcks, als dieser sein „Bevollmchtigter” +wurde.</p> + +<p>Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer +Ansprache, „die Agitation des Allgemeinen +deutschen Arbeitervereins und das Versprechen +des Knigs von Preuen” hielt. Es ist seine letzte +und zugleich seine schwchste Agitationsrede, ausschlielich +auf den ueren Effekt berechnet. +Wie sehr sich Lassalle der Schwche dieser Rede +bewut war, zeigt ihre von ihm selbst redigierte +gedruckte Ausgabe mit den berall eingestreuten +Vermerken ber den Effekt der einzelnen Stze — Krcken, +deren ein Vortrag, der an Hand und +Fu gesund ist, durchaus entbehren kann, und die +den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar beeintrchtigen +wrden. Aber die Ronsdorfer Rede +weist keinen der Vorzge der ersten Agitationsreden +Lassalles auf, potenziert dagegen deren +Fehler.</p> + +<p>Die Rede ist nicht blo inhaltlich schwach, +sie ist auch ihrer Tendenz nach tadelnswerter als +alle Migriffe, die Lassalle bis dahin begangen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span></p> + +<p>Schlesische Weber hatten, durch die Not +getrieben und durch die Sozialdemagogie der +Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin +geschickt, um beim Knig von Preuen um Abhilfe +gegen die belstnde, unter denen sie litten, +zu petitionieren. Sie waren auch schlielich, da +es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen +Fabrikanten handelte, auf Veranlassung Bismarcks +vom Knig empfangen worden und hatten auf +ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der Knig +habe seine Minister angewiesen, „eine gesetzliche +Abhilfe, soweit sie mglich ist, schleunig und +mit allem Ernst vorzubereiten”.</p> + +<p>Da Lassalle diesen Schritt der schlesischen +Weber und den Empfang der Deputation von +Seiten des Knigs als einen Erfolg seiner Agitation +hinstellt, wird ihm, so bertrieben es tatschlich +war, niemand zum besonderen Vorwurf machen. +Wie andere bertreibungen in der Ansprache, erklrte +sich auch diese aus der Situation Lassalles. +Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab +dem Empfang der Deputation durch den Knig +und den Worten des letzteren eine Auslegung, +die zunchst nur als eine Reklame fr jenen und +dessen Regierung wirken konnte. Er verliest den +Arbeitern einen Bericht der offizisen „Zeidlerschen +Korrespondenz” ber den Empfang der +Deputation beim Knig und liest gerade die dem +Knigtum gnstigste Stelle daraus, wie er in +der gedruckten Rede ausdrcklich verzeichnet, +„mit dem hchsten Nachdruck der Stimme<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span> +und begleitet sie mit der eindringlichsten Handbewegung”<a name="FNAnker_34_34" id="FNAnker_34_34"></a><a href="#Fussnote_34_34" class="fnanchor">[34]</a>.</p> + +<p>In den Worten des Knigs liege, erklrt er, +„die Anerkennung des Hauptgrundsatzes, zu +dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” — nmlich, +da eine Regelung der Arbeiterfrage +durch die Gesetzgebung notwendig sei — ferner, +„das Versprechen des Knigs, da diese Regelung +der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot +durch die Gesetzgebung erfolgen soll”, und +drittens, da „eine Fortschrittskammer, eine nach +dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz erwhlte +Kammer, dem Knige niemals die zu diesem +Zwecke erforderlichen Gelder bewilligen und +ebensowenig, selbst wenn die Sache ohne Geld +zu machen wre, auch nur ihre Zustimmung zu +einem solchen Gesetz erteilen wrde”, so sei in +dem kniglichen Versprechen, „innerlich durch die +Kraft der Logik eingeschlossen” auch „das +allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen +worden”.</p> + +<p>Bei diesen Worten lt der Bericht „die Versammlung, +welche diesem ganzen letzten Teil der +Rede in einer unglaublichen Spannung ... zugehrt”<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span> +habe, in einen „nicht zu beschreibenden +Jubel” ausbrechen, der immer wieder von neuem +begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu sprechen +versuchte.</p> + +<p>War der Jubel wirklich so gro, so bewies er, +da die Arbeiter Lassalles Auslegung des kniglichen +Versprechens fr bare Mnze nahmen, das +schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt +werden konnte.</p> + +<p>Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit +die Arbeiter in Betracht kamen, diese nur +durch mglichst glnzende Ausmalung der bisher +erzielten Erfolge zur hchsten, begeisterten Ttigkeit +fr den Verein hingerissen werden. Aber +die Rede ist noch an eine andere Adresse als +die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung +auf eine in der „Kreuzzeitung” erschienene +Rezension des „Bastiat-Schulze”, die nach +Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, +als da die in ihr an Lassalle gerichteten Fragen +htten unbeantwortet bleiben drfen, verweist +Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes +ausdrcklich auf die Ronsdorfer Rede und +lt die Erwiderung und zwei Exemplare der +Rede unter Kuvert „persnlich” an Bismarck +senden. Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf +die Regierung Eindruck zu machen — ad +usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche +Jubel” sollte Kder fr Bismarck und den +Knig sein. Aber niemand kann zwei Herren +dienen, und das Bestreben, die Rede so zu gestalten,<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span> +da sie den gewnschten Effekt nach +oben mache, bewirkte, da sie tatschlich einen +durch und durch csaristischen Charakter erhielt. +Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Csarismus: +Csarismus in den Reihen der Partei, und +Csarismus in der Politik der Partei.</p> + +<p>„Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfhigeres, +nichts Unintelligenteres,” heit es +in der Einsendung an die „Kreuzzeitung”, „als +der unruhige, nrgelnde liberale Individualismus, +diese groe Krankheit unserer Zeit! Aber dieser +unruhige, nrgelnde Individualismus ist keineswegs +Massenkrankheit, sondern wurzelt notwendig und +naturgem nur in den Viertels- und Achtels-Intelligenzen +der Bourgeoisie.</p> + +<p>Der Grund ist klar: Der Geist der Massen +ist, ihrer Massenlage angemessen, immer auf +objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die +Stimmen unruhiger, persnlichkeitsschtiger Einzelner +wrden hier in diesem Stimmenakkord verklingen, +ohne nur gehrt zu werden. Der oligarchische +Boden allein ist der homogene, mtterliche +Boden fr den negativen, tzenden Individualismus +unserer liberalen Bourgeoisie und ihre +subjektive, eigenwillige Persnlichkeitssucht.”</p> + +<p>hnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheien:</p> + +<p>„Noch ein anderes hchst merkwrdiges Element +unseres Erfolges habe ich zu erwhnen. Es +ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit und +Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht!<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span> +Auch in dieser Hinsicht, und in dieser Hinsicht +vor allem, steht unser Verein epochemachend, +und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte, +da! Dieser groe Verein, sich erstreckend +ber fast alle deutschen Lnder, regt +sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit +eines Individuums! In den wenigsten Gemeinden +bin ich persnlich bekannt oder jemals +persnlich gewesen, und dennoch habe ich vom +Rhein bis zur Nordsee, und von der Elbe bis +zur Donau noch niemals ein ‚Nein’ gehrt, und +gleichwohl ist die Autoritt, die ihr mir anvertraut +habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten hchsten +Freiwilligkeit beruhende!... Wohin ich gekommen +bin, berall habe ich von den Arbeitern Worte +gehrt, die sich in den Satz zusammenfassen: Wir +mssen unserer aller Willen in einen einzigen +Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer +in die Hnde eines Mannes legen, zu dessen +Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das +ntige Zutrauen haben, damit er aufschlagen knne +mit dem Hammer!</p> + +<p>Die beiden Gegenstze, die unsere Staatsmnner +bisher fr unvereinbar betrachteten, deren +Vereinigung sie fr den Stein der Weisen hielten, +Freiheit und Autoritt, — die hchsten Gegenstze, +sie sind auf das innigste vereinigt in unserem +Verein, welcher so nur das Vorbild im kleinen +unserer nchsten Gesellschaftsform im groen +darstellt. Nicht eine Spur ist in uns von jenem +nrgelnden Geiste des Liberalismus, von jener<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span> +Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, +von welchem der Krper unserer +Bourgeoisie durchfressen ist ...”</p> + +<p>Es liegt diesen Stzen formell ein richtiger +Gedanke zugrunde, der nmlich, da in der +modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen +Verhltnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse +auf die gemeinsame Aktion angewiesen +sind, und da in der Tat schon die +Existenzbedingungen des modernen industriellen +Proletariers den Geist der Gemeinschaftlichkeit +in ihm entwickeln, whrend umgekehrt der Bourgeois +nur unter anormalen Verhltnissen, nicht +aber durch die bloe Art seiner gesellschaftlichen +Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion sich +veranlat sieht. Dieser richtige Gedanke empfngt +aber durch die obige Verallgemeinerung +eine total falsche Deutung. Die Massenaktion +heit noch lange nicht die persnliche Diktatur; +wo die Masse ihren Willen aus der Hand gibt, +ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus einem +revolutionren ein reaktionrer Faktor zu werden. +Die persnliche Diktatur ist in den Kmpfen der +modernen Gesellschaft jedesmal der Rettungsanker +der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden +reaktionren Klassen gewesen, niemand ist mehr +geneigt, den „negativen, tzenden Individualismus” +aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald +sein Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft +gefhrdet erscheint. In solchen Momenten wird +das Schlagwort von der „einen reaktionren<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span> +Masse” zur Wahrheit und blht, sobald die Strmung +sich verallgemeinert, der Bonapartismus. +Die zur Selbstregierung sich unfhig fhlenden +Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern +unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne +Persnlichkeit ab und verdammen jeden +Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser Persnlichkeit +entgegenzutreten, als „unruhigen, nrgelnden +Individualismus”. So beschuldigte die deutsche +Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts +immer wieder gerade die Partei, die tatschlich +am konsequentesten deren Klassenforderungen +vertritt — die deutschfreisinnige Partei — des +Verrats an ihren Interessen, weil sie durch +ihre „Nrgelei” die staatserhaltende Ttigkeit der +Regierung beeintrchtige, und so griff im Jahre +1851 die franzsische Bourgeoisie ihre eigenen +parlamentarischen Vertreter jedesmal, wenn diese +daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel +zum Staatsstreich zu verweigern, solange als +Unruhestifter, Anarchisten usw. an, bis Napoleon +stark genug war, sich zum Diktator der Bourgeoisie +aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des +bloen Hters der Ruhe und Ordnung fr die +Bourgeoisie zu begngen.</p> + +<p>Eine aufsteigende, revolutionre Klasse hat +absolut keinen Anla, ihren Willen aus der Hand +zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das +„Besserwissen-Wollen” ihren Fhrern gegenber +zu verzichten. Und wir haben bei der Solinger +Affre gesehen, da, wie sehr auch Lassalle den<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span> +Arbeitern gegenber auf seine hhere Intelligenz +pochte, er gerade aus den Reihen der Arbeiter +heraus ein sehr deutliches und krftiges „Nein” +hatte hren mssen, und sicherlich nicht zum +Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er +bei einem bestimmten Anla ein ebensolches +„Nein” gehrt — er sprach, wenn er sich rhmte, +in dem von ihm geleiteten Verein „Autoritt und +Freiheit” in der oben geschilderten Weise verwirklicht +zu haben, mehr einen Wunsch, als eine +bereits verwirklichte Tatsache aus.</p> + +<p>Zur Ehre Lassalles mu gesagt werden, da +er von Anfang an die persnliche Spitze fr unerllich +gehalten hatte. Zu diesem bloen +Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedrfnis +hinzu. Die Politik, die er jetzt eingeschlagen +hatte, war nur durchzufhren, wenn die Mitglieder +und Anhnger der Bewegung kritiklos dem +Fhrer folgten und ohne Murren taten, was er +von ihnen verlangte. Wie Lassalle selbst das Versprechen +des Knigs von Preuen gegenber den +schlesischen Webern in einer Weise behandelte, +da nur noch ein kleiner, ganz beilufiger Vorbehalt +den Demokraten — man mchte sagen, +vor seinem Gewissen — salvierte, das brige +aber auf den reinen Csarismus hinauslief, so +muten auch sie bereit sein, auf Kommando das +Loyalittsmntelchen umzuhngen. Wenn eines +die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu +entschuldigen vermag, so ist es die Tatsache, da +sie fr Lassalle unter den gegebenen Verhltnissen<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span> +eine Notwendigkeit war. Er brauchte die +Diktatur, um die Arbeiter je nach Bedrfnis fr +seine jeweiligen Zwecke zur Verfgung zu haben, +und er brauchte die Besttigung der Diktatur, +um nach oben hin als eine bndnisfhige Macht +zu erscheinen. Die Rede war der notwendige +Schritt auf der einmal betretenen Bahn — ein +Halt war da nicht mehr mglich.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod" id="Lassalles_letzte_Schritte_und_Tod">Lassalles letzte Schritte und Tod.</a></h2> + + +<p>Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl +was die innere Vereinsleitung als auch was die +geplante nchste uere Aktion des Vereins anbetrifft, +bewegten sich denn auch in der gleichen +Richtung. Im Verein drang er auf die Ausstoung +Vahlteichs, der in bezug auf die Organisation +in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte +dabei nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, +so da den Vereinsmitgliedern kaum etwas anderes +brig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem +Herrn Prsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch +sonst in dieser Angelegenheit hchst illoyal, indem +er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich +gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben +in solcher Weise zirkulieren zu lassen, da Vahlteich +selbst den Inhalt des Schreibens erst kennenlernen +mute, nachdem die brigen Vorstandsmitglieder +bereits gegen ihn beeinflut waren.</p> + +<p>Wie man nun auch ber Vahlteichs Vorschlge +zur Abnderung der Organisation denken mochte,<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span> +die Art, wie Lassalle schon den Gedanken an +eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat +an der Sache hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, +als er, Lassalle, selbst bereits halb +entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, +wenn sein letzter Versuch, „einen Druck auf die +Ereignisse auszuben”, miglcken sollte.</p> + +<p>Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle +ihn selbst genannt, sollte in Hamburg in Szene +gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der +soeben von Dnemark eroberten Herzogtmer +Schleswig-Holstein.</p> + +<p>Als im Winter 1863 der Tod des Knigs von +Dnemark die schleswig-holsteinische Frage in +den Vordergrund gedrngt hatte, hatte Lassalle, +der in jenem Moment bereits mit Bismarck in +Unterhandlung stand und deshalb ein groes Interesse +daran hatte, je nach derjenigen Politik, fr +die die preuische Regierung sich entschlo, den +Verein Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern +gegen den „Schleswig-Holstein-Dusel” +Stimmung gemacht<a name="FNAnker_35_35" id="FNAnker_35_35"></a><a href="#Fussnote_35_35" class="fnanchor">[35]</a> und eine Resolution ausgearbeitet<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span> +und berall annehmen lassen, in der +erklrt wurde:</p> + +<blockquote> + +<p>„Die einheitliche Gestaltung Deutschlands +wrde die schleswig-holsteinische Frage ganz +von selbst erledigen. Dieser groen Aufgabe +gegenber erscheint die Frage, ob, solange in +Deutschland 33 Frsten bestehen, einer derselben +ein auslndischer Frst ist, von verhltnismig +sehr untergeordnetem Interesse.”</p></blockquote> + +<p>Im brigen enthlt die Resolution nur mehr +oder weniger allgemeine Wendungen; alle deutschen +Regierungen seien verpflichtet, die Einverleibung +der Herzogtmer in Deutschland +„ntigenfalls mit Waffengewalt” durchzusetzen, +aber das Volk wird aufgefordert, auf der Hut zu +sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen +zentralen Aufgaben abziehen”. Gegen +die Fortschrittler und Nationalvereinler wird der +Vorwurf erhoben, da sie „Schleswig-Holstein +als eine Gelegenheit benutzen zu wollen scheinen, +um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage +abzulenken und der Lsung eines Konfliktes, dem +sie nicht gewachsen sind, unter dem Schein +des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember +1863.</p> + +<p>Jetzt waren die Herzogtmer erobert, und es +handelte sich um die Frage, was mit ihnen geschehen +solle. Ein groer Teil der Fortschrittler +trat fr die legitimen Ansprche des Herzogs +von Augustenburg ein, whrend man in magebenden +Kreisen Preuens auf die Annexion der<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span> +Herzogtmer in Preuen hinarbeitete. So wenig +Interesse nun die demokratischen Parteien hatten, +zu den vorhandenen 33 souvernen Frsten in +Deutschland noch einen 34sten zu schaffen, so +hatten sie andrerseits auch keine Ursache, der zur +Zeit reaktionrsten Regierung in Deutschland einen +Machtzuwachs zuzusprechen. Lassalle aber hatte +bereits so sehr sein politisches Taktgefhl verloren, +da er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg +eine groe Volksversammlung abzuhalten und +von dieser eine Resolution beschlieen zu lassen, +des Inhalts, da Bismarck verpflichtet sei, die +Herzogtmer gegen den Willen sterreichs und +der brigen deutschen Staaten an Preuen zu +annektieren. Es braucht nicht durch Worte bezeichnet +zu werden, welche Rolle Lassalle damit +auf sich nahm und zu welcher Rolle er die sozialistisch +gesinnten Arbeiter Hamburgs gebrauchen +wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung +entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur +Ausfhrung des Vorhabens gekommen, es blieb +den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen +ihrer demokratischen berzeugung und der vermeintlichen +Pflicht gegen ihren Fhrer glcklicherweise +erspart.</p> + +<p>Lassalle war, nachdem er in Dsseldorf noch +einen Proze ausgefochten, in die Schweiz gegangen. +Er nahm zunchst Aufenthalt auf Rigi +Kaltbad, und dort besuchte ihn gelegentlich eines +Ausfluges Frulein Helene von Dnniges, deren +Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span> +gemacht und der er, nach ihrer Darstellung, schon +damals seine Hand angetragen hatte. Es entwickelte +sich im Anschlu an den Besuch jene +Liebesaffre, deren Schluresultat der frhzeitige +Tod Lassalles war.</p> + +<p>Die Einzelheiten der Lassalle-Dnniges-Affre +sind heute so bekannt und die fr Lassalle bezeichnenderen +Schritte desselben in dieser Affre +so ber alle Zweifel sichergestellt, da auf eine +Wiedererzhlung des ganzen Verlaufs der Sache +hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte sich +bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem +neuen Lichte; er entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, +die wir bereits bei ihm kennen gelernt +haben — man kann sagen, da die Dnniges-Affre +im kleinen und auf einem andern Gebiet +lediglich ein Abbild der Lassalleschen Agitationsgeschichte +darstellt. Lassalle glaubt in Helene +von Dnniges das Weib seiner Wahl gefunden +zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, das Jawort +der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht +den mindesten Zweifel, da es dem Einflu seiner +Persnlichkeit gelingen mu, diese Schwierigkeit +zu berwinden. Selbstbewut, und zugleich mit +umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden +Momente, entwirft er seinen Operationsplan. +Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern +erobern und ihnen die Einwilligung abringen, ehe +sie noch recht wissen, was sie mit ihrer Genehmigung +tun. Da stellt sich pltzlich ein kleines, +unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span> +eine Unvorsichtigkeit der jungen Dame erfahren +die Eltern frher als sie sollen von der Verlobung +und erklren, Lassalle unter keinen Umstnden +als Schwiegersohn annehmen zu wollen. Indes +noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein +Triumph wird nur um so grer sein, je grer +der Widerstand der Eltern. Von diesem Selbstbewutsein +getragen, begeht er einen Schritt, der +die Situation so gestaltet, da jede Hoffnung, +auf dem geplanten Wege zum Ziele zu gelangen, +ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mdchen +selbst an ihm irre werden lt. Indes, ist's nicht +dieser Weg, so ist's ein anderer. Und ohne Rcksicht +darauf, was er sich und seiner politischen +Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen +Kampf, bei dem es fr ihn nur einen Gesichtspunkt +gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, +das Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, +die die Familie Dnniges beobachten und ber +jeden ihrer Schritte rapportieren mssen. Durch +die Vermittlung Hans von Blows wird Richard +Wagner ersucht, den Knig von Bayern zu +veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn +v. Dnniges zu intervenieren, whrend dem Bischof +Ketteler von Mainz der bertritt Lassalles zum +Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof +seinen Einflu zugunsten Lassalles geltend mache. +Lassalle machte sich nicht die geringsten Gedanken +darber, wie wenig wrdig es der geschichtlichen +Mission war, die er bernommen +hatte, bei einem Minister von Schrenk zu antichambrieren,<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span> +damit dieser ihm zu seiner Geliebten +verhelfe, noch kmmerte er sich darum, wie wenig +er sich seines Vorbildes Hutten wrdig erwies, +wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms +um Hilfe zur Erlangung eines Weibes petitionierte. +Hier, wo er htte stolz sein drfen, wo +er stolz sein mute, war er es nicht.</p> + +<p>Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof +von Mainz konnte gar nichts tun, weil Helene +von Dnniges protestantisch war, und der Vermittlungsversuch, +den ein vom bayerischen Minister +des Auswrtigen an den Schauplatz des Konfliktes +entsandter Vertrauensmann unternahm, +fhrte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, +da er durch die Art seines Vorgehens sich und +das Weib, fr das er kmpfte, in eine total falsche +Position gebracht hatte. Obwohl er gewut hatte, +da Helene jeder Willensenergie entbehrte und +darin gerade einen Vorzug fr sein zuknftiges +Zusammenleben mit ihr erblickt hatte — „erhalten +Sie mir Helene in den unterwrfigen Gesinnungen, +in denen sie jetzt ist”, hatte er am 2. August an +die Grfin Hatzfeldt geschrieben —, hatte er ihr +jetzt eine Rolle zugemutet, welche die hchste +Willensstrke erforderte, und war emprt darber, +da das junge Mdchen sich ihr zu entziehen suchte. +Getragen von seinem Selbstgefhl und gewohnt, +die Dinge ausschlielich unter dem Gesichtswinkel +seiner Stimmungen und Interessen zu betrachten, +hatte er ganz auer Erwgung gelassen, +da gerade die unterwrfigsten Menschenkinder<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span> +am leichtesten ihre Empfindungen ndern, und sah +den „bodenlosen Verrat” und das „unerhrteste +Spiel” einer „verworfenen Dirne”, wo weiter +nichts vorlag, als die Unbestndigkeit eines verwhnten +Weltkindes.</p> + +<p>Indes, er war nervs total heruntergekommen +und besa lngst nicht mehr die Energie eines +gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu Gewaltmitteln, +das Bestreben, um jeder Kleinigkeit +wegen Himmel und Hlle in Bewegung zu setzen, +die Unfhigkeit, Widerspruch zu ertragen oder +sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise +geistiger Kraft, sondern eines hochgradigen +Schwchezustandes. Auch der schnelle Wechsel +von Zornesausbrchen und Trnen, der sich nach +den bereinstimmenden Berichten der Augenzeugen +bei Lassalle damals zeigte, deutet untrglich +auf ein stark zerrttetes Nervensystem.</p> + +<p>In dieser Verfassung war es ihm unmglich, die +erlittene Niederlage ruhig zu ertragen, und er +suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu verschaffen +fr die ihm nach seiner Ansicht angetane +Schmach. So tricht das Duell an sich +ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden +Verhltnissen. In den Gesellschaftskreisen, in +denen die Affre spielte, ist das Duell das +reinigende Bad fr allen Schmutz und allen +Schimpf, und wenn Lassalle nicht die moralische +Kraft besa, sich im Kampf um irgendeine Sache +auf solche Mittel zu beschrnken, welche sich +fr den Vertreter der Partei der sozialistischen<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span> +Umgestaltung der Gesellschaft schicken, so war +es auch nur konsequent, da er fr den vermeintlich +erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner +Umgebung Genugtuung zu verschaffen suchte. +Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im +Duell gegenberstellte, das war nicht der Sozialist +Lassalle, sondern der verjunkerte Kaufmannssohn +Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der +erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, +so shnte er damit die Schuld, da er jenem +die Macht ber sich eingerumt hatte.</p> + + +<hr class="chap" /> + + + + +<h2><a name="Schlussbetrachtung" id="Schlussbetrachtung">Schlubetrachtung.</a></h2> + + +<p>So machte ein frhzeitiger Tod der politischen +Laufbahn Lassalles, seinen Plnen und Hoffnungen +ein jhes Ende. Vielleicht war es gut +so, vielleicht hat er es selbst in seinen letzten +Stunden nicht als ein Unglck empfunden. Das +Ziel, das er im Sturm nehmen zu knnen geglaubt, +war wieder in die Ferne gerckt, und fr die +ruhige Organisationsarbeit hielt er sich nicht geschaffen. +So sah seine nchste Zukunft sehr +problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen +Hast, mit der er sich in die Dnniges-Affre +gestrzt hatte, viel beigetragen haben.</p> + +<p>Es ist eigentlich mig, sich die Frage vorzulegen, +was Lassalle wohl getan htte, wenn er +nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen +wre. Indes ist diese Frage bisher meist<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span> +in einer Weise errtert worden, die ein kurzes +Eingehen darauf rechtfertigt.</p> + +<p>Gewhnlich wird nmlich gesagt, es wrde +Lassalle, wenn er weiter gelebt htte, nach Lage +der Dinge nichts brig geblieben sein, als gleich +seinem Freunde Bucher eine Stelle im preuischen +Staatsdienst anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt +Lassalle absolut falsch. Wohl htte die +von ihm schlielich eingeschlagene Politik, wenn +konsequent weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager +fhren mssen, aber auf diesen +letzten Schritt htte es Lassalle eben fr sich nicht +ankommen lassen. Er htte nie den preuischen +Beamtenrock angezogen. Er besa genug, um +nach seinen Bedrfnissen leben zu knnen, und +seinem Ehrgeiz htte eine Stelle, wie die +preuische Regierung sie ihm bieten konnte, +ebensowenig gengt, wie sie seiner im Innersten +stets unvernderten Gesinnung entsprochen htte. +In dieser Hinsicht htte eher er zu Bismarck, als +dieser zu ihm sagen knnen: „Was kannst du, +armer Teufel, geben?”</p> + +<p>Das Wahrscheinliche ist vielmehr, da Lassalle +sich, sobald die gegen ihn erkannten Strafen rechtskrftig +geworden, dauernd im Ausland niedergelassen +und dort einen Umschwung der Verhltnisse +in Preuen, bzw. Deutschland abgewartet +htte. Denn da der Hamburger „Coup”, selbst +wenn die Versammlung zustande kam und die +Resolution beschlossen wurde, an den tatschlichen +Verhltnissen zunchst nichts gendert<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span> +haben wrde, liegt auf der Hand. Wie gering +diese Aussicht war, geht daraus hervor, da das +bloe Jawort Helenes von Dnniges gengt hatte, +um Lassalles Ansicht ber den voraussichtlichen +Effekt des „Coup” erheblich zu erschttern. Am +27. Juli hatte er ber diesen an die Grfin Hatzfeldt +geschrieben: „... Ich mu noch vorher in +Hamburg sein, wo ich einen groen, sehr groen, +vielleicht tatschlich wichtigen Coup schlagen will.” +Tags darauf erhlt er Helenes Zusage und schreibt +nun an die Grfin, da er sich selbst „nicht zu +viel” von dem Versuch in Hamburg verspreche. +Die betreffende Stelle dieses Briefes ist zwar +oft zitiert, da sie aber fr Lassalles damalige +Stimmung uerst charakteristisch ist, mag sie +auch hier zum Abdruck kommen. Sie lautet:</p> + +<p>„Wie Sie mich doch miverstehen, wenn Sie +schreiben: ‚Knnen Sie sich nicht auf einige Zeit +in Wissenschaft, Freundschaft und schner Natur +gengen?’ Sie meinen, ich msse Politik haben.</p> + +<p>Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich +wnsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik +loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft +und Natur zurckzuziehen. Ich bin der +Politik mde und satt. Zwar wrde ich so leidenschaftlich +wie je fr dieselbe entflammen, wenn +ernste Ereignisse da wren, oder wenn ich die +Macht htte, oder ein Mittel she, sie zu erobern — ein +solches Mittel, das sich fr mich +schickt; denn ohne hchste Macht lt sich nichts +machen. Zum Kinderspiel aber bin ich zu alt<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span> +und zu gro. Darum habe ich hchst ungern das +Prsidium bernommen! Ich gab nur Ihnen nach. +Darum drckt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich +es los wre, jetzt wre der Moment, wo ich entschlossen +wre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! +(Aber wie es los werden?!)</p> + +<p>Denn die Ereignisse werden sich, frcht' ich, +langsam, langsam entwickeln, und meine glhende +Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen +Prozessen keinen Spa. Politik heit +aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere +kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen! +Ich werde versuchen, in Hamburg einen +Druck auf die Ereignisse auszuben. Aber inwieweit +das wirken wird, das kann ich nicht versprechen +und verspreche mir selbst nicht zu viel +davon!</p> + +<p>Ach knnte ich mich zurckziehen!” —</p> + +<p>In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer +Stelle, er sei „lustig und voller Lebenskraft” +und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte +Glck auch noch”. Es waren also lediglich politische +Erwgungen, die jene resignierten Stze +diktierten.</p> + +<p>Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von +Dnniges in Bern am 3. August 1864 in Genf eintraf, +scheint Lassalle bereits zur vorlufigen Expatriierung +entschlossen gewesen zu sein. In den +Papieren Joh. Ph. Beckers befindet sich eine von der +Genfer Regierung fr „Mr. Ferdinand Lassalle +professeur”, wohnhaft „chez Mr. Becker”, ausgestellte<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span> +Aufenthaltsbewilligung, und auf dem +Umschlag derselben folgender Vermerk von der +Hand des alten Freiheitsveteranen:</p> + +<p>„Als mir Freund Lassalle nach seiner Ankunft +im verhngnisvollen Jahre 1864 hier mitteilte, +er fhle seine Kraft aufgerieben, msse Einhalt +machen; er habe geglaubt, er vermge die sozialistische +Bewegung in etwa einem Jahre zum +Durchbruch zu bringen, jetzt sehe er aber ein, da +es Jahrzehnte erheische, wozu er seine leibliche +Kraft nicht hinreichend fhle, namentlich werde +er die bevorstehenden Gefngnisstrafen nicht +berdauern knnen. Hierauf gab ich ihm den +Rat, sich unter bewandten Umstnden irgendwo +einen festen Wohnsitz zu grnden, zu diesem Behufe +sofort Domizil in Genf zu nehmen, und wenn +er dem Gesetz gem einen Aufenthalt von zwei +Jahren nachweise, sich das Brgerrecht zu erwerben, +was damals gar keinen Anstand gefunden +htte. In der Zwischenzeit knnte er natrlich beliebige +Reisen machen. Lassalle schlug ohne Bedenken +ein, und ich verschaffte ihm am 11. August +1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.”</p> + +<p>Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf +vorlufig sechs Monate.</p> + +<p>Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen +deutschen Arbeitervereins an ihn gelangten, hat +Lassalle whrend der vier Wochen seines Kampfes +um Helene von Dnniges gar nicht mehr beantwortet. +Erst als er am Vorabend des Duells +sein Testament machte, gedachte er wieder des<span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span> +Vereins und setzte dem Sekretr desselben, +Willms, auf fnf Jahre hinaus eine Rente von +jhrlich 500 Talern fr Agitationszwecke aus und +eine ebensolche von jhrlich 150 Talern fr seinen +persnlichen Bedarf. Als seinen Nachfolger empfahl +er dem Verein den Frankfurter Bevollmchtigten +Bernhard Becker. Er solle an der Organisation +festhalten, „sie wird den Arbeiterstand +zum Siege fhren”.</p> + +<p>Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die +Nachricht von Lassalles Tod nicht geringe Bestrzung. +Es war ihnen lange unmglich den Gedanken +zu fassen, da Lassalle wirklich nur in +einer gewhnlichen Liebesaffre gefallen sei. Sie +glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von +den Gegnern angezettelt sei, um den gefhrlichen +Agitator aus dem Wege zu rumen, und feierten +den Gefallenen als das Opfer einer nichtswrdigen +politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus +entwickelte sich zunchst, eine Art Lassalle-Religion, +deren Propagierung vor allem die Grfin +Hatzfeldt, aus brigens menschlich durchaus erklrlichen +Grnden, sich angelegen sein lie. Sehr +trug zu diesem Kultus auch die Art bei, wie +Lassalle den Arbeitern persnlich gegenbergetreten +war. So liebenswrdig er im Umgang +mit ihnen sein konnte, so hatte er doch sorgfltig +darauf geachtet, in seiner ueren Erscheinung +sowohl wie in seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche +und geistige berlegenheit stets vor +Augen zu halten. Mit grtem Wohlbehagen hatte<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span> +er ferner sich in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter +feiern lassen und selbst dafr gesorgt, da +ein die wirklichen Vorgnge noch bertreibender +Bericht darber im „Nordstern” erschien.</p> + +<p>In seinen Reden war seine Person immer mehr +in den Vordergrund getreten — so stark, da, +wenn er sich in Verbindung mit andern genannt +hatte, er stets das Ich hatte vorangehen lassen.</p> + +<p>Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoen, +auf die Masse hatte es, namentlich bei +der Jugend der Bewegung, einen groen Zauber +ausgebt, und je mehr sich ein Mythenkreis um +Lassalles Persnlichkeit wob, um so strkere +Wirkung bte der Zauber nachtrglich aus.</p> + +<p>Es wre brigens sehr falsch, die Tatsache zu +verkennen, da dieser Kultus der Persnlichkeit +Lassalles sich fr die Agitation lange Zeit im +hohen Grade frdernd erwiesen hat. Es liegt +nun einmal in den meisten Menschen der Zug, +eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment +um so mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender +ihre Ziele sind, gern in einer Person +verkrpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht +ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, +ob Charlatane oder Illusionre, und +sie ist in England und Amerika ein anerkannter +Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so +stark, da zuweilen die bloe Tatsache, da eine +Persnlichkeit aus einer Krperschaft Gleicher +oder selbst Besserer ausscheidet, gengt, sie ber +diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen,<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span> +die jener hartnckig verweigert wurde. +Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers in +Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele +in der Geschichte anderer Lnder ermangelt. +Dutzende von Mitgliedern der franzsischen +Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung +und Charakter berlegen und konnten auf die +ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik +verweisen, aber sie sanken doch zu Nullen ihm +gegenber herab, whrend er zur groen Eins +emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende +entflammte. Warum? Weil sich pltzlich +in ihm eine Idee verkrperte, whrend die +Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen +und Erfahrung, die sie reprsentierte, nichts war +als eine anonyme Vielheit.</p> + +<p>Der Name Lassalle wurde zum Banner, fr +das sich die Massen immer mehr begeisterten, je +mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. +Fr den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem +auergewhnlichen Talent geschrieben, populr +und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend, +bten sie und ben sie zum Teil noch +heute eine groe agitatorische Wirkung aus. +Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene Antwortschreiben”, +das „Arbeiterlesebuch” usw. haben +Hunderttausende fr den Sozialismus gewonnen. +Die Kraft der berzeugung, die in diesen Schriften +weht, hat Hunderttausende zum Kampf fr +die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren +sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span> +Phrasengeklingel, — ein verstndiger +Realismus, der sich zwar gelegentlich in den +Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit +im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor +und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. +Wovon Lassalle in seiner Praxis eher +etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten +und besten Agitationsschriften das rechte Ma +dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung +brauchte. Wenn die deutsche Sozialdemokratie +den Wert einer krftigen Organisation zu allen +Zeiten zu schtzen gewut hat, wenn sie von der +Notwendigkeit des Zusammenfassens der Krfte +so durchdrungen ist, da sie auch ohne das uere +Band einer Organisation doch alle Funktionen +einer solchen aufrechtzuerhalten gewut hat, so +ist das zum groen Teil eine Erbschaft der Agitation +Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, +da diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft +die Traditionen der Lassalleschen Agitation +am strksten waren, in bezug auf die Organisation +in der Regel am meisten geleistet haben.</p> + +<p>Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht +haben, ohne auch ihre Nachteile in den Kauf +nehmen zu mssen. Wir haben gesehen, welchen +doppelt zwieschlchtigen Charakter die Lassallesche +Agitation trug, zwieschlchtig in ihrer theoretischen +Grundlage, zwieschlchtig in ihrer +Praxis. Das blieb natrlich lange noch bestehen, +nachdem Lassalle selbst aus dem Leben geschieden +war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span> +an Lassalles Taktik hie Festhalten an der +Schwenkung, die er whrend der letzten Monate +seiner Agitation vollzogen, er selbst in dem Bewutsein +und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick +umkehren, die Maske abwerfen zu knnen. +Aber, um einen seiner eignen Aussprche anzuwenden: +Individuen knnen sich verstellen, +Massen nie. Seine Politik fortfhren hie, wenn +es buchstblich genommen wurde, die Massen +irrefhren. Und die Massen wurden irregefhrt. +Es kam die Zeit der Schweitzerschen Diktatur. +Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent +im buchstblichen Sinne dieses Wortes war, +scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber +kann bestehen, da seine Politik zeitweise der +eines Regierungsagenten nahekam. Kam es doch +unter seiner Leitung dahin, da von Agitatoren +des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” +Republikaner sein fr gleichbedeutend mit Bourgeois +sein erklrt wurde, weil die bisherigen Republiken +Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer +war unzweifelhaft der begabteste Nachfolger +Lassalles. Aber wenn er ihn an Talent nahezu +erreichte, so bertraf er ihn zugleich in einigen +seiner bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger +Scheu als Lassalle hat er mit den preuischen +Hof-Sozialdemagogen geliebugelt. Da er dies +jedoch konnte, ohne je um einen, seine Politik +untersttzenden Satz aus Lassalles Reden in Verlegenheit +zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle +nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span> +um die verfassungsmigen Rechte der Volksvertretung +kmpfenden Parteien, unter denen sich +Mnner wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler +usw. befanden, einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, +hat selbst Schweitzer nie getan.</p> + +<p>Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in +der Bewegung fort, und es hat langwierige und +schwere Kmpfe gekostet, bis sie vllig berwunden +wurden. Was die theoretischen Irrtmer +Lassalles anbetrifft, die ich oben ausfhrlicher +behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie +heftige Kmpfe es gekostet hat, bis sich in der +deutschen sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige +Wertschtzung der Gewerkschaftsbewegung +Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften +von einem groen Teil der Sozialisten mit +dem Hinweis auf das „eherne Lohngesetz” bekmpft +wurden. Die persnliche Frbung, die +Lassalle der Bewegung gab, hatte zur Folge, +da diese nach seinem Tode in das Fahrwasser +der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in +ihm trieb.</p> + +<p>Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt +und auffallende Eigenschaften entwickelt haben, +pflegen alsbald eine groe Anzahl Nachahmer +zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und +Achtels-Lassalle sproten nach seinem Tode +frhlich aus dem Boden. Da sie aber in Ermangelung +seines Talents sich darauf beschrnken +muten, ihm nachzuahmen „wie er sich geruspert +und wie er gespuckt”, und dies, wie wir gesehen<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span> +haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so +bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen +der Arbeiterbewegung.</p> + +<p>Heute ist das alles berwunden, und die Sozialdemokratie +kann ohne Bitterkeit darber hinweggehen. +Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung +darunter litt, und darum sei es hier erwhnt.</p> + +<p>Damit indes genug. Es mchte sonst der Eindruck +dessen, was ich vorher von dem Erbe gesagt, +das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute +hinterlassen, wiederum abgeschwcht werden, und +das liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Solange +ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu +untersuchen hatte, mute ich scharf sein; denn +hher als der Ruhm des einzelnen steht das Interesse +der groen Sache, fr die der Kampf geht, +und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die +Sozialdemokratie hat keine Legenden und braucht +keine Legenden, sie betrachtet ihre Vorkmpfer +nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann +es daher auch vertragen, wenn sie als Menschen +kritisiert werden. Sie wrdigt darum nicht weniger +ihre Verdienste und hlt das Andenken derer +in Ehren, die das Werk der Befreiung der +Arbeiterklasse wesentlich gefrdert haben.</p> + +<p>Und das hat Lassalle in hohem Mae getan. +Vielleicht in hherem Mae, als er selbst am Vorabend +seines Todes geahnt hat. Es ist anders gekommen, +als wie er glaubte, aber die Bewegung +ist heute dieselbe, fr die er im Frhjahr 1863 +das Banner aufpflanzte. Es sind dieselben Ziele,<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span> +fr die sie heute kmpft, wenn sie auch in andrer +Weise und mit andern Forderungen kmpft. Nach +etlichen Jahren wird sie vielleicht wieder in +andrer Weise kmpfen, und es wird doch dieselbe +Bewegung sein.</p> + +<p>Kein Mensch, und sei er der grte Denker, +kann den Weg der Sozialdemokratie im einzelnen +vorherbestimmen. Niemand wei, wie viele +Kmpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kmpfer +noch werden ins Grab sinken mssen, bis das Ziel +der Bewegung erreicht ist; aber die Leichensteine +ihrer Toten erzhlen von den Fortschritten der +Bewegung und erfllen ihre Kmpfer mit Siegesgewiheit +fr die Zukunft.</p> + +<p>Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht +geschaffen, so wenig wie irgendein andrer sie +geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es bereits +unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands +grte und brodelte, als Lassalle sich an die +Spitze der Bewegung stellte. Aber wenn er auch +nicht als Schpfer der Partei bezeichnet werden +darf, so gebhrt Lassalle doch der Ruhm, da er +Groes fr sie ausgerichtet hat, — so Groes, wie +es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist +nur erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewutes +Streben verbreitet, er hat der deutschen +Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen +Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, +sich zur selbstndigen politischen Partei zu organisieren, +und er hat auf diese Weise den Entwicklungsproze +der Bewegung ganz erheblich<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span> +beschleunigt. Sein eigentliches Unternehmen +schlug fehl, aber der Kampf fr es war kein +vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die +Fahne fr die Erkmpfung des allgemeinen, +gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank +der Agitation des von ihm gegrndeten Allgemeinen +deutschen Arbeitervereins fr diese Forderung +wurden die Fortschrittler gentigt, sich nun gleichfalls +ihrer anzunehmen, und so verschwand sie +nicht mehr von der Tagesordnung und mute die +Berliner Regierung in sie einwilligen, als nach +dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung +des Norddeutschen Bundes geschaffen wurde. Das +allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht +wurde wenigstens fr den Reichstag des +Norddeutschen Bundes und spter des Deutschen +Reiches verfassungsmiges Volksrecht. Noch +war freilich die Zeit der Siege durch die Waffe +dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu +knnen, mute die Arbeiterschaft erst kmpfen +lernen. Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, +von Wahl zu Wahl haben sie sich gehuft, und +im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer +Form ins Land geht, hat die deutsche Arbeiterschaft +vermittelst des nun auf die Wahlen zu +allen Gesetzgebungskrpern und den Selbstverwaltungsvertretungen +ausgedehnten und in jeder +Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine politische +Machtstellung erlangt, die ihr die glnzendsten +Aussichten auf Durchsetzung tiefgreifender +Manahmen sozialer Befreiung erffnet. Sie zum<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span> +Kampf einexerziert, ihr fr ihn und ihre weiteren +Ziele, wie es im Liede heit, Schwerter gegeben, +zugleich aber auch in die Seelen deutscher +Arbeiter Sinn und Verstndnis fr diesen <em class="gesperrt">organischen</em> +Weg gepflanzt zu haben, der unter +allen Gesichtspunkten dem wilden Massenkampf +vorzuziehen ist, — bleibt das groe, das unvergngliche +Verdienst Ferdinand Lassalles.</p> + +<hr class="chap" /> + + + + + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span></p> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_1_1" id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Auf Vorgnge, die mit Fhrung und Ausgang +des Hatzfeldt-Prozesses in Verbindung stehen, bezieht +sich ein Teil der Anklagen, welche im Jahre 1855 eine +von Dsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, +nach London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten +bei Karl Marx und Freiligrath gegen Lassalle +erhob und die auf diese beiden, wie Marx an Engels +schrieb, einen <em class="gesperrt">entscheidenden Eindruck</em> machten.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_2_2" id="Fussnote_2_2"></a><a href="#FNAnker_2_2"><span class="label">[2]</span></a> G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches +Charakterbild. Berlin 1877.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_3_3" id="Fussnote_3_3"></a><a href="#FNAnker_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, +als ich durch die Freundlichkeit von Friedrich +Engels die im Nachla von Karl Marx vorgefundenen +Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die seitdem +von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, +J. H. W. Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 +datierter, an Marx und Engels adressierter Brief handelt +bis auf wenige Zeilen ausschlielich vom „Franz +von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald +es im Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl +Marx und Friedrich Engels geschickt, worauf ihm +diese, die damals noch rtlich getrennt lebten, eingehend +ihre Urteile ber es mitteilten, und der erwhnte +Brief Lassalles ist dessen Antwort auf diese +Urteile. Er verbindet sie in einem und demselben +Schreiben, weil, wie er sich ausdrckt, „Eure beiderseitigen +Einwrfe, ohne geradezu identisch zu sein, +doch in der Hauptsache dieselben Punkte berhren”. +</p> +<p> +Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, da +die Kritik von Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, +die auch ich im obigen kritisieren zu mssen +glaubte. „Ihr stimmt beide darin berein,” schreibt +Lassalle an einer Stelle, „da auch Sickingen noch +zu abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in +nuce dasselbe gesagt, was ich oben ausgefhrt habe. +Der Lassallesche Sickingen ist nicht der streitbare +Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts, +er ist der in des letzteren Rstung gesteckte +Liberale des neunzehnten Jahrhunderts, das heit der +liberale Ideologe. Seine Reden fallen gewhnlich vollstndig +aus der Epoche, in der sie gehalten sein sollen, +heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle +an einer andern Stelle, „da ich die Bauernbewegung +‚zu sehr zurckgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben +habe’. Du (Marx) begrndest dies so: Ich htte +Sickingen und Hutten daran untergehen lassen mssen, +da sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer Einbildung +revolutionr waren, in der Tat aber ein reaktionres +Interesse vertraten. ‚Die adligen Reprsentanten +der Revolution’, sagst Du, ‚hinter deren Stichwrtern +von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des +alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert — +durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie +sie es bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, +namentlich dieser, und der revolutionren Elemente in +den Stdten muten einen ganz bedeutend aktiveren +Hintergrund bilden. Du httest dann auch in viel +hherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer +naivsten Form sprechen lassen knnen, whrend jetzt +in der That, auer der religisen Freiheit, die brgerliche +Einheit die Hauptidee bleibt’. ‚Bist Du nicht +selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaen wie Dein Franz +von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, +die lutherisch-ritterliche Opposition ber die plebejisch-brgerliche +zu stellen?’” +</p> +<p> +Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen +fortgelassen, weil sie sich meist auf +im Brief vorhergehende Ausfhrungen beziehen, hier +also unverstndlich wren. Im wesentlichen verteidigt +sich Lassalle damit, da er nachzuweisen sucht, die +ritterliche Beschrnktheit, soweit sie berhaupt im +historischen Sickingen vorhanden, damit gengend zum +Ausdruck gebracht zu haben, da Sickingen, statt sich +an die ganze Nation zu wenden, statt alle revolutionren +Krfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und +sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen +ritterlichen beginnt und fortfhrt, bis er an der Beschrnktheit +seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht. +Gerade darin, da Sickingen unterliegt, weil er nicht +weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich +die revolutionre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung +aber habe er in der einen Szene des Stckes, in +der er die Bauern selbst auf die Bhne bringe, und in +den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars +usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, +welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt habe und noch +darber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung +ebenso reaktionr gewesen, wie die des Adels. +</p> +<p> +Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich +auch in verschiedenen seiner spteren Schritten verfochten, +so u. a. im „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber +m. E. keineswegs richtig. Da die Bauern mit Forderungen +auftraten, die auf die Vergangenheit zurckgriffen, +stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionren, +die Bauern waren zwar keine neue Klasse, +aber sie waren keineswegs, wie die Ritter, eine untergehende +Klasse. Das Reaktionre in ihren Forderungen +ist nur formell, nicht das Wesentliche. Das +bersieht Lassalle, der als Hegelianer hier wieder +in den Fehler verfllt, die Geschichte aus den „Ideen” +abzuleiten, so vollstndig, da er zu der Marxschen +Bemerkung: „Du httest dann auch in viel hherem +Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten +Form sprechen lassen knnen”, ein doppeltes Fragezeichen, +verstrkt durch ein Ausrufungszeichen, macht. +</p> +<p> +Der andere Teil seiner Verteidigung htte dann seine +Berechtigung, wenn im Stck auch nur die leiseste +Andeutung gegeben wre, da Sickingens Beschrnkung +auf seine ritterlichen Mittel seiner ritterlichen +Beschrnktheit geschuldet war. Das ist aber nicht +der Fall. Im Stck wird sie lediglich als ein taktischer +Fehler behandelt. Das reicht aus fr die tragische +Idee des Dramas, aber nicht fr die Veranschaulichung +des historischen Anachronismus, an dem das Sickingensche +Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen +ist.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_4_4" id="Fussnote_4_4"></a><a href="#FNAnker_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Da Vogt verdchtig war, hatte Lassalle, der +ursprnglich Vogt in Schutz genommen, schon frher +zugegeben.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_5_5" id="Fussnote_5_5"></a><a href="#FNAnker_5_5"><span class="label">[5]</span></a> Desgleichen auch in einer zweiten Broschre +von Engels „Savoyen, Nizza und der Rhein”. Lassalle +hatte in seiner Broschre die Annexion Savoyens an +Frankreich als eine ganz selbstverstndliche und, wenn +Deutschland eine dieser Vergrerung aufwiegende +Kompensation erhielte, „ganz unanstige” Sache hingestellt. +Engels weist nun nach, welche auerordentlich +starke militrische Position der Besitz Savoyens +Frankreich Italien und der Schweiz gegenber verschaffe, +was doch auch in Betracht zu ziehen war. +Sardinien gab Savoyen preis, weil es im Moment mehr +dafr eintauschte, die Schweizer waren aber durchaus +nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmnner, +Stmpfli, Frey-Heros u. a., taten ihr mglichstes, die +berlieferung des bisher neutralen Savoyer Gebiets +in franzsische Hnde zu verhindern. Im „Herr +Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manver +die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemhungen +hintertrieben. Alles brige sagt ein einfacher +Blick auf die Landkarte.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_6_6" id="Fussnote_6_6"></a><a href="#FNAnker_6_6"><span class="label">[6]</span></a> Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: +„Nur da zum Glck auch Ihr ihm dieselbe +nicht beibringen werdet, und darum erscheint mir der +revolutionre Nutzen allerdings als gesichert.” Wenn +dem aber so war, wozu dann erst die Broschre?</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_7_7" id="Fussnote_7_7"></a><a href="#FNAnker_7_7"><span class="label">[7]</span></a> Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage +die oben in griechische Klammern gesetzte Betrachtung, +die nicht nur durch die russische Revolution +mit der Auflsung des russischen Imperiums den +grten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, +sondern die auch Wendungen enthlt, zu denen ich +mich grundstzlich nicht mehr bekennen kann. Ich +habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, weil +sie immerhin erkennen lt, wie sich zur Zeit, wo +sie geschrieben wurde — 1891 — nach meiner Ansicht +die durch 1866 geschaffene Lage unter deutschem +Gesichtspunkt darstellte. +</p> +<p> +In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung +eine redaktionelle Abnderung erfahren, die mir deshalb +der Erwhnung wert erscheint, weil sie zweifelsohne +auf Friedrich Engels zurckzufhren ist, der, +wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe +durchgesehen hat. Ins Deutsche zurckbersetzt lautet +die Einleitung dort: +</p> + +<blockquote> + +<p>„Wohin hat die preuische Lsung der nationalen +Frage Deutschland gebracht? Lassen wir die Frage +Elsa-Lothringen beiseite — die Annexion dieser +Provinzen war ein weiterer Bockstreich — und betrachten +wir nur die Lage des deutschen Volkes +gegenber Ruland und dem Panslawismus. sterreichs +Verdrngung aus dem Deutschen Bund” +(weiter, wie im Original).</p></blockquote> + +<p> +Obwohl bei mir die Annexion Elsa-Lothringens +mit keiner Silbe erwhnt war und sie fr Englnder +damals noch kein spezielles Interesse hatte, nimmt +Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, ihrer +zu erwhnen, um sie als einen groben politischen Fehler +zu bezeichnen — „an additional blunder” heit es im +Englischen. Ein Beweis, wie wenig Engels diese +Annexion fr endgltig ansah. +</p> +<p> +Da im Englischen statt „uns gebracht” gesagt +wird: „Deutschland gebracht”, war durch die Rcksicht +auf das andre Lesepublikum von selbst geboten. +Ich wrde aber heute auch aus stilistischen Grnden +diese przisere Ausdrucksweise vorziehen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_8_8" id="Fussnote_8_8"></a><a href="#FNAnker_8_8"><span class="label">[8]</span></a> Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem +Leben Ferdinand Lassalles”. Die Verfasserin ist +nun auch lngst aus dem Leben geschieden.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_9_9" id="Fussnote_9_9"></a><a href="#FNAnker_9_9"><span class="label">[9]</span></a> Noch hinreiender schildert Lassalle sein seelisches +Verhltnis zu Sophie von Hatzfeldt in einem +Fragment gebliebenen Brief an eine ungenannte +Adressatin, der er darin die Liebe aufkndigt, weil +die Dame ihm erklrt hatte, sie knne es nicht vertragen, +neben sich noch Sophie von Hatzfeldt um +Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine ganze Abhandlung +ber seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe +Ferdinand Lassalles, Nachtrag.)</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_10_10" id="Fussnote_10_10"></a><a href="#FNAnker_10_10"><span class="label">[10]</span></a> Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht +man die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundstze, die +durch die philosophische Untersuchung vom Begriff +und Wesen des Rechts und der Rechtsverhltnisse +gewonnen werden und als den Menschen sozusagen +angeborenes, ihr natrliches Recht gelten sollen. Es +werden daher vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht +als Gleiches bezeichnende Begriffe gebraucht.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_11_11" id="Fussnote_11_11"></a><a href="#FNAnker_11_11"><span class="label">[11]</span></a> Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des +Privateigentums und des Staats. Im Anschlu an +Lewis H. Morgans Forschungen”. 1. Aufl. S. 93.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_12_12" id="Fussnote_12_12"></a><a href="#FNAnker_12_12"><span class="label">[12]</span></a> Um das Jahr 450 v. Chr.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_13_13" id="Fussnote_13_13"></a><a href="#FNAnker_13_13"><span class="label">[13]</span></a> Neuere Untersuchungen haben festgestellt, da +das Aufkommen des Ahnenkultus bei allen Vlkern +mit dem bergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht +zusammentrifft.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_14_14" id="Fussnote_14_14"></a><a href="#FNAnker_14_14"><span class="label">[14]</span></a> brigens brauchen auch die Rmer das Wort +familia nicht blo zur Bezeichnung der einzelnen, +unter einem Oberhaupt stehenden Hausgenossenschaft, +sondern bereits ebenfalls fr den mehr oder minder +gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des +rmischen Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird +ausdrcklich zwischen der „familia” im engeren Sinne +(jure proprio) und der familia im weiteren Sinne (communi +jure) unterschieden, zu welch letzterer alle diejenigen +gehren „... die aus demselben Haus und derselben +gens hervorgegangen sind.” Fr Lassalle ist die +betreffende Stelle ein weiterer Beweis, da das rmische +Intestaterbe — kein Familienerbe gewesen sei. +„Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht +der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben +wollen!”</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_15_15" id="Fussnote_15_15"></a><a href="#FNAnker_15_15"><span class="label">[15]</span></a> Auch gegen die Art, wie in Preuen bei der Aufhebung +von Grundsteuerfreiheiten usw. Entschdigungen +von der Volksvertretung erpret wurden, sagt +Lassalle manches krftige Wort. „Wenn eine Staatsregierung”, +schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von +der preuischen Regierung eingebrachten und solche +Entschdigungen stipulierenden Entwurf — „die unbegreifliche +Schwche hat, einen solchen Vorschlag +zu machen, so verzichtet sie dabei grundstzlich auf +das Souvernittsrecht des Staates, und wenn eine +Kammer pflichtvergessen genug sein knnte, aus Rcksicht +auf diese Schwche auf einen solchen Vorschlag +einzugehen, so wrde sie wenigstens weit logischer +handeln, gleich geradezu die Hrigkeit des Volkes +von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” +Was htte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert +htte, noch nach dreiig Jahren werden in Preuen +solche „Schwchen” und solche „Pflichtvergessenheit” +berechtigte nationale Institutionen sein! Freilich, Lassalle +war damals noch naiv genug, zu schreiben, da, +als in England die Kornzlle aufgehoben wurden, die +Tories nicht die „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich +aus ihren jetzt unspekulativ gewordenen Gterankufen +ein Ersatzrecht gegen den ffentlichen Geist zu drehen!” +Htte er dreiig Jahre lnger gelebt, so wrde er erfahren +haben, da was den Tories 1846 fehlte, weiter +nichts war, als das richtige „praktische Christentum”. +</p> +<p> +Aber welche Ironie der Geschichte, da die Aufgabe, +die Neuauflage des „Systems der erworbenen +Rechte” zu besorgen, gerade Lothar Bucher zufallen +mute. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten +Ausgabe, nur seine Berufsttigkeit habe ihn verhindert, +den Nachweis zu versuchen, wie das „System in den +Gesetzberatungen der letztverflossenen zehn Jahre htte +benutzt oder erprobt werden knnen”. Tatschlich +schlagen die meisten der dafr in Betracht kommenden +Gesetze der ra Bismarck dem Geist dieses Buches +direkt ins Gesicht.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_16_16" id="Fussnote_16_16"></a><a href="#FNAnker_16_16"><span class="label">[16]</span></a> Man mu sich freilich das Verhltnis nicht gar +zu mechanisch vorstellen. Nach dem Gesetz der +Wechselwirkungen knnen die religisen, Rechts- usw. +Anschauungen, kurz das, was man unter dem Begriff +des Volksgeistes zusammenfat, ihrerseits wiederum +einen groen Einflu auf die Gestaltung der Produktionsverhltnisse +ausben, innerhalb gewisser Grenzen +z. B. ihre Fortentwicklung hindern oder verlangsamen. +Schlielich sind es doch immer die Menschen, die ihre +eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich hier +um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung +zugrunde liegen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_17_17" id="Fussnote_17_17"></a><a href="#FNAnker_17_17"><span class="label">[17]</span></a> In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt +er es „ein Meisterwerk”, das ihn „zur hchsten Bewunderung +hingerissen” habe.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_18_18" id="Fussnote_18_18"></a><a href="#FNAnker_18_18"><span class="label">[18]</span></a> Da die Fhrer der Italiener Becker sehr gut +kannten, geht aus einem Briefe Mazzinis an Becker +vom Juni 1861 hervor. Vgl. die Verffentlichungen +R. Reggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im +Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_19_19" id="Fussnote_19_19"></a><a href="#FNAnker_19_19"><span class="label">[19]</span></a> Die Briefe Lassalles an Hans von Blow sind +Mitte der achtziger Jahre im Buchhandel erschienen. +(Dresden und Leipzig, H. Minden.) So dnn das +Bndchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im +Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines ber +Lassalle dem Frsten Pckler-Muskau zugeschrieben; +die Briefe selbst sind nicht einmal chronologisch geordnet, +wozu deren Nichtdatierung von seiten Lassalles +den Vorwand liefern mu, obwohl bei den meisten +aus dem Inhalt das ungefhre Datum leicht festzustellen +war. In einem der Briefe ist von „Salingers +genialer Komposition” die Rede. Der Herausgeber, +der die Briefe von Hans von Blow selbst erhalten, +macht dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. +Da der Name Salinger bzw. Solinger Pseudonym fr +Hans von Blow war, wird dagegen nicht einmal angedeutet. +Blow hatte die Komposition des Herweghschen +Gedichts unter dem Namen Solinger verffentlicht.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_20_20" id="Fussnote_20_20"></a><a href="#FNAnker_20_20"><span class="label">[20]</span></a> Wohl ein Druckfehler. +</p> +<p class="right">D. H. +</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_21_21" id="Fussnote_21_21"></a><a href="#FNAnker_21_21"><span class="label">[21]</span></a> Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen +Krieges” gesehen, mit welchem khlen, gar nicht +in die Schablone des „guten Patrioten” passenden +Blick Lassalle die Rckwirkung auswrtiger Verwicklungen +auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend +dafr ist auch eine Stelle in der Schrift +„Was nun?”, die schon deshalb hierher gehrt, weil +Lassalles dort entwickelter Vorschlag tatschlich nur +zwei Lsungen zulie: Entweder Staatsstreich oder +Revolution. Anknpfend daran, wie unmglich und +unhaltbar die auswrtige diplomatische Stellung der +preuischen Regierung wre, wenn sein Vorschlag befolgt +wrde, fhrt Lassalle fort: +</p> +<p> +„Da Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, +dies sei ein unpatriotisches Rsonnement. Einmal hat +der Politiker, wie der Naturforscher, Alles zu betrachten, +was ist, und also alle wirkenden Krfte in +Erwgung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten +unter einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der +Konflikt in den diplomatischen Beziehungen ist einmal +eine wirkende Kraft und, gleichviel ob gut oder +schlimm, mte sie hiernach schon unbedingt in Rechnung +gezogen werden. berdies aber, meine Herren, +wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille +meines Zimmers bei historischen Studien mir die groe +Wahrheit auf das Genaueste zu vergegenwrtigen, da +fast garnicht abzusehen wre, auf welcher Stufe der +Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch +stehen wrden, wenn nicht seit je die Eifersucht und +der Gegensatz der Regierungen unter einander ein +wirksames Mittel gewesen wre, die Regierung zu +Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, +meine Herren, ist die Existenz der Deutschen nicht +von so prekrer Natur, da bei ihnen eine Niederlage +ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr fr die Existenz +der Nation in sich schlsse. Wenn Sie, meine +Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verstndni +betrachten, so werden Sie sehen, da die +Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so +riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem +brigen Europa vorleuchtende sind, da an der Nothwendigkeit +und Unverwstlichkeit unserer nationalen +Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten +wir also in einen groen ueren Krieg, so knnen in +demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die +schsische, preuische, bayerische zusammenbrechen, +aber wie ein Phnix wrde sich aus der Asche derselben +unzerstrbar erheben das, worauf es uns allein +ankommen kann — das deutsche Volk!” +</p> +<p> +Es ist in diesen Stzen sehr viel Richtiges enthalten, +doch darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens, +da, ein so wichtiger Faktor des Fortschritts der Vlker +die Rivalitt der Regierenden sein kann und unzweifelhaft +oft gewesen ist, sie doch auch recht oft +als ein Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, +sich als ein Hemmnis des Fortschritts erwiesen hat. +Es sei nur an die beiden Gesichter des heutigen Militarismus +erinnert. Zweitens, da ein uerer Krieg +zwar ein groes Kulturvolk nicht aus der Reihe der +Nationen auslschen, es aber doch so wesentlich in +seinen Lebensinteressen schdigen kann, da er immer +eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber +auf die man nicht spekulieren soll. In dem erwhnten +Beispiel tut Lassalle nur das erstere, aber wie der +Schlusatz und seine Briefe zeigen, war er auch zu +dem Letzteren sehr geneigt — eine brigens weit verbreitete, +aber darum nicht minder zu bekmpfende +Tendenz.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_22_22" id="Fussnote_22_22"></a><a href="#FNAnker_22_22"><span class="label">[22]</span></a> Auf 3428457 selbstttige Personen in der Landwirtschaft +kamen damals in Preuen erst 766180 +selbstttige Personen in der Fabrikindustrie, die Geschftsleiter +und Beamten eingeschlossen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_23_23" id="Fussnote_23_23"></a><a href="#FNAnker_23_23"><span class="label">[23]</span></a> Ursprnglich hatte es in Rodbertus' „Offenem +Brief” geheien: „Und ich wiederhole, da ich mir +auch von den Produktivassoziationen nicht im Geringsten +einen Beitrag zu dem verspreche, was man +die Lsung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch +Lassalles wurden aber diese Worte beim Druck +fortgelassen, da er der Sache nach eine Wiederholung +des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen +Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn +sie so schroffen Widerstreit zwischen ihren Fhrern +sehen, entmutigen msse”. (Lassalles Brief an Rodbertus +vom 22. April 1863.)</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_24_24" id="Fussnote_24_24"></a><a href="#FNAnker_24_24"><span class="label">[24]</span></a> „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des +ehernen Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung +ist von mir spter gesondert in das Buch „Zur Theorie +des Lohngesetzes und Verwandtes” (erster Teil der +Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus”, +Berlin, Ferd. Dmmler) bernommen worden.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_25_25" id="Fussnote_25_25"></a><a href="#FNAnker_25_25"><span class="label">[25]</span></a> Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation +Louis Blanc „entlehnt” — richtiger, Louis Blancs +Assoziationsplan in seiner Weise umgearbeitet. Lassalles +Vorschlag nimmt eine Mittelstellung zwischen +Louis Blancs und Proudhons Vorschlgen ein; mit +dem ersteren hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren +die Selbstndigkeit der Assoziation gemein.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_26_26" id="Fussnote_26_26"></a><a href="#FNAnker_26_26"><span class="label">[26]</span></a> In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe +der Lassalleschen Briefe heit es „nicht gehrt”. +Das „nicht” beruht aber, wie sich im folgenden zeigt, +auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck +des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. +S. 463).</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_27_27" id="Fussnote_27_27"></a><a href="#FNAnker_27_27"><span class="label">[27]</span></a> D. h. als der berschu des Bodenertrags ber +einen gewissen Mindestsatz, unter dem Boden berhaupt +nicht bewirtschaftet wird, weil er nicht einmal +vollwertige Bezahlung fr die in ihn gesteckte Arbeit +abwirft.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_28_28" id="Fussnote_28_28"></a><a href="#FNAnker_28_28"><span class="label">[28]</span></a> Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlgen +von Henry George, Flrscheim usw., da Lassalle +die allgemeine Verwirklichung der Assoziationen voraussetzt, +ohne welche, wie wir frher gesehen haben, +jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen +Lohngesetz scheitern mte.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_29_29" id="Fussnote_29_29"></a><a href="#FNAnker_29_29"><span class="label">[29]</span></a> Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, +wenn Lassalle z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur +Arbeiterfrage” den sogenannten Manchestermnnern +u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, da sie, +wenn sie knnten, den Staat „untergehen lassen wrden +in der Gesellschaft”. Tatschlich liegt das Bezeichnende +jedoch darin, da die Manchestermnner +den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft untergehen +lassen wollen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_30_30" id="Fussnote_30_30"></a><a href="#FNAnker_30_30"><span class="label">[30]</span></a> Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein +Schulknabe war, noch sehr gut jener Epoche; aus +ihr datieren meine ersten politischen Eindrcke. In +der Schulklasse, auf dem Turnplatz — berall wurde +in jenen Tagen politisiert, und natrlich gaben wir +Knaben nur in unserer Art wieder, was wir im elterlichen +Hause, in unserer Umgebung, zu vernehmen +pflegten. Meine Mitschler gehrten den brgerlichen +Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, +aber die einen wie die andern waren gleich fest davon +berzeugt, da eine Revolution „kommen mu”, denn +„mein Vater hat es auch gesagt”. Jede uerung der +Wortfhrer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis +auf die Revolution gedeutet werden knnte, wurde +triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen +Spottverse auf den Knig und seine Minister.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_31_31" id="Fussnote_31_31"></a><a href="#FNAnker_31_31"><span class="label">[31]</span></a> So ist z. B. gleich der erste Einwurf Lassalles +gegen Schulze-Delitzsch, „Bedrfnis” und „Trieb nach +Befriedigung” seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen +fr dieselbe Sache” falsch. Beides fllt +in der Regel zusammen, ist aber keineswegs dasselbe. +Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darber +lustig, da Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen +menschlicher und tierischer Arbeit darin erblicke, +da die erstere Arbeit fr knftige Bedrfnisse +sei, verfllt aber seinerseits in den noch greren +Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, +da der Mensch mit Bewutsein, das Tier ohne solches +ttig sei. Und hnlich an anderen Stellen.</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_32_32" id="Fussnote_32_32"></a><a href="#FNAnker_32_32"><span class="label">[32]</span></a> Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers +erinnert. Ferner ist interessant folgende Stelle aus +dem Schluwort einer Ansprache des Herrn Herm. +Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck und +tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer +Sitzung des konservativen preuischen Volksvereins +vom 2. November 1862: „Meine Herren, tuschen +wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn +sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die +soziale Frage zu lsen, so ist all Euer Laufen und +Mhen umsonst. Ich schliee deshalb mit der Aufforderung, +treiben wir das, was wir als die Aufgaben +und Bedrfnisse der nchsten Zukunft erkennen, treiben +wir das mit noch mehr Energie, treiben wir es +nicht blo fr die Zeit der Wahlen.”</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_33_33" id="Fussnote_33_33"></a><a href="#FNAnker_33_33"><span class="label">[33]</span></a> Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der +Lassalleschen Schriften dem fr das groe Publikum +bestimmten Vorwort Lassalles zum Franz von Sickingen +angefgt (vgl. Bd. I).</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_34_34" id="Fussnote_34_34"></a><a href="#FNAnker_34_34"><span class="label">[34]</span></a> Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer mglichst +baldigen gesetzlichen Regelung der Frage und +dadurch Abhlfe ihrer Not entlieen Seine Majestt +die Deputation. Das knigliche Versprechen wird +erhebend und ermuthigend in allen Thlern des Riesengebirges +widerhallen und vielen hundert duldenden +redlichen Familien neue Hoffnung und neue Kraft +zum muthigen Ausharren geben.”</p></div> + +<div class="footnote"> + +<p><a name="Fussnote_35_35" id="Fussnote_35_35"></a><a href="#FNAnker_35_35"><span class="label">[35]</span></a> In einen Brief Lassalles an den Vize-Prsidenten +Dr. Dammer, an den Lassalle in der ersten +Aufregung zwei sich durchaus widersprechende Telegramme +gesandt, hatte es wrtlich geheien: „Die +erste Depesche ... erlie ich sofort, weil mir der +ganze Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht +hchst unangenehm ist.” Der Widerspruch in den +Telegrammen erklrt sich jetzt durch die widerspruchsvolle +Situation, in die Lassalle geraten war. Er war, +ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei.</p></div> + +<div class='transnote'><h3>Anmerkungen zur Transkription:</h3> +Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide +Schreibweisen blich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: + +<ul class="index"> +<li>anderm — anderem</li> +<li>andern — anderen</li> +<li>Arbeiterverein — Arbeiter-Verein</li> +<li>eigne — eigene</li> +<li>garnicht — gar nicht</li> +<li>heut — heute</li> +<li>Nothwendigkeit — Notwendigkeit</li> +<li>Testamentrecht — Testamentsrecht</li> +<li>Verstndni — Verstndnis</li> +<li>Vermittelung — Vermittlung</li> +</ul> + +Im Text wurden folgende nderungen vorgenommen: + +<ul class="index"> +<li>Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben.</li> +<li>S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" gendert.</li> +<li>S. 19 "Kulter" in "Kultur" gendert.</li> +<li>S. 30 "Schaffot" in "Schafott" gendert.</li> +<li>S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" gendert.</li> +<li>S. 37 "Hatzfeldtproze" in "Hatzfeldt-Proze" gendert.</li> +<li>S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" gendert (Funote).</li> +<li>S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" gendert.</li> +<li>S. 49 ‚ vor "Denn" eingefgt.</li> +<li>S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt.</li> +<li>S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" gendert.</li> +<li>S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt.</li> +<li>S. 80 "Frei-Herros" in "Frey-Heros" gendert (Funote).</li> +<li>S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" gendert.</li> +<li>S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" gendert.</li> +<li>S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Funote 14).</li> +<li>S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" gendert.</li> +<li>S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" gendert.</li> +<li>S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefgt.</li> +<li>S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" gendert.</li> +<li>S. 182 "anvancierten" in "avancierten" gendert.</li> +<li>S. 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefgt.</li> +<li>S. 209 "sonderns" in "sonders" gendert.</li> +<li>S. 217 "mute" und "muten" vertauscht.</li> +<li>S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" gendert.</li> +<li>S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" gendert.</li> +<li>S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" gendert.</li> +<li>S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" gendert.</li> +<li>S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" gendert.</li> +<li>Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" gendert.</li> +</ul> + +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Ferdinand Lassalle, by Eduard Bernstein + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FERDINAND LASSALLE *** + +***** This file should be named 44722-h.htm or 44722-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/7/2/44722/ + +Produced by Peter Becker, Odessa Paige Turner and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +(This book was produced from scanned images of public +domain material from the Google Print project.) + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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