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-The Project Gutenberg EBook of Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
-Poesie., by Wilhelm Bölsche
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.
- Prolegomena einer realistischen Aesthetik
-
-Author: Wilhelm Bölsche
-
-Release Date: April 22, 2016 [EBook #51835]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NATURWISSENSCHAFTLICHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was
-produced from images generously made available by The
-Internet Archive)
-
-
-
-
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-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-
- Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+.
-
- Im Original fetter Text ist =so ausgezeichnet=.
-
- Im Original kursiver Text ist _so ausgezeichnet_.
-
- Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des
- Buches.
-
-
-
-
- Die naturwissenschaftlichen
-
- Grundlagen der Poesie.
-
- Prolegomena
-
- einer realistischen Aesthetik
-
- von
-
- Wilhelm Bölsche.
-
- [Illustration]
-
- Leipzig,
- Verlag von Carl Reissner.
- 1887.
-
-
-
-
-Vorwort.
-
-
-Die nachfolgenden wissenschaftlichen Studien behandeln in
-selbstständiger Abrundung das, was nach meiner Ueberzeugung im
-ersten Buche jeder neuen, unserm modernen Streben gerecht werdenden
-Aesthetik seine Stelle finden müsste. Realistisch nenne ich diese
-Aesthetik, weil sie unserm gegenwärtigen Denken entsprechend nicht vom
-metaphysischen Standpuncte, sondern vom realen, durch vorurtheilsfreie
-Forschung bezeichneten ausgehen soll. Wie ich mir die Rolle des
-besonnenen Realismus in unserer Literatur denke, ist im ersten Capitel
-ausführlich entwickelt; die übrigen behandeln einzelne Probleme, an
-denen der Naturforscher und der Dichter gleich grossen Antheil nehmen.
-Zurückweisen muss ich im Voraus alle Uebertreibungen, die man von
-unberufener Seite an das Wort Realismus geknüpft hat. Der Realismus
-ist nicht gekommen, die bestehende Literatur in wüster Revolution zu
-zerstören, sondern er bedeutet das einfache Resultat einer langsamen
-Fortentwickelung, wie die gewaltige Machtstellung der modernen
-Naturwissenschaften es nicht mehr und nicht minder ist. Jene Utopien
-von einer Literatur der Kraft und der Leidenschaft, die in jähem
-Anprall unsere Literatur der Convenienz und der sanften Bemäntelung
-wegfegen soll, bedeuten mir gar nichts; was ich von dem aufwachsenden
-Dichtergeschlecht fordere und hoffe, ist eine geschickte Bethätigung
-besseren Wissens auf psychologischem Gebiete, besserer Beobachtung,
-gesunderen Empfindens, und die Grundlage dazu ist Fühlung mit den
-Naturwissenschaften. Leichte Plaudereien, wie sie der Spalte eines
-Feuilletons ziemen, wird der Leser vergebens auf diesen Blättern
-suchen, weder unfeines Schmähen noch kritiklose Verhimmelung rechne ich
-unter die nothwendigen Requisiten der neuen Sache. Die jungen Kräfte,
-die jetzt so viel Lärm machen, werden schon allein ihren Weg gehen;
-ich aber möchte durch eine anständige Polemik sowohl wie durch einen
-anständigen Vortrag überhaupt auch zu denen reden, die im Banne älterer
-Anschauungen jede Form realistischen Fortschritts mit zweifelndem Auge
-betrachten.
-
- +Berlin+, im Winter 1886.
-
- =Wilhelm Bölsche.=
-
-
-
-
-Erstes Capitel.
-
-Die versöhnende Tendenz des Realismus.
-
-
-Durch die gesammte -- und nicht zum Wenigsten die deutsche -- Literatur
-geht seit einiger Zeit eine lebhafte Bewegung. Die Schaufenster
-der Buchhandlungen wie die Spalten der Journale sind überfüllt mit
-Streitschriften und Streitartikeln, die bereits durch die Kühnheit
-der Titel von der Hitze der Kämpfenden Zeugniss ablegen. Aber auch
-abgesehen von diesen Kundgebungen der eigentlichen Ritter des Tourniers
-fühlt sich jeder Einzelne im grossen Publicum mehr oder weniger
-berufen, seinen Wahlzettel in die Urne zu werfen. Denn das Wort ist
-gefunden, welches in neun Buchstaben die Loosung des Ganzen enthüllen
-soll. Dieses schicksalsschwere Wort heisst Realismus.
-
-Für die eine Partei ein goldenes Wort, eins aus jener Reihe
-unvergänglicher Schlagwörter, die mit ihrer prächtigen Kürze gleichsam
-die Stenographie der Culturgeschichte darstellen, -- ist es der andern
-ein Gräuel, ein Hemmniss aller Fortentwicklung, der Name einer bösen,
-wenn auch glücklicherweise vergänglichen Krankheit.
-
-Revolution der Literatur für jene, Aufdämmern eines neuen Tages, weit
-heller und strahlender noch als der junge Morgen, der sich einst in dem
-klaren Auge Lessing's spiegelte und durch dessen weichende Frühnebel
-der rasselnde Schritt des eisernen Ritters von Berlichingen erklang,
-ist dieser die gleiche Erscheinung, die hässliche Brandröthe eines
-Zerstörungskampfes, das Blutmal am Himmel, das über der Stätte des
-Mordens und Brennens plündernder Vandalenhorden loht, es fehlt nicht an
-alten Fritzen, die im Sanssouci ihrer unerschütterlichen Kunsttheorieen
-zweifelnd die schönen, geraden Terrassen und Orangerieen abschreiten
-und sich kopfschüttelnd fragen: Was soll der Lärm?
-
-Verbrüderung aller nationalen Literaturen durch die Blutsgemeinschaft
-gleicher Methode für die Schwärmer, erscheint den Skeptikern der ganze
-Aufstand bei uns in Deutschland nur als der feige Abklatsch einer
-widerwärtigen Krankheitserscheinung im schlechteren, in alter Sünde
-absterbenden oder in unwissender Roheit der Halbbildung haltlos hin
-und her schwankenden Nachbarlande, und, dem Franzosen gleich, der das
-deutsche Bier als fremdes Gift verbannen möchte, wäre ihnen nichts
-lieber, als eine literarische Grenzsperre für alle fremden Einflüsse.
-
-Und endlich, was das Seltsamste ist: während die Einen glauben, der
-Reinheit ihrer Gesinnung und dem Genius poetischer Sittlichkeit nicht
-besser dienen zu können, als in dem Gewande der neuen Ritterschaft,
-meinen die Andern das Schwert gegen diese erheben zu müssen zum Schutze
-der unschuldigen Gemüther in der Welt, zum Schutze ihrer Söhne und
-Töchter, denen der weihende Tempel des dichterischen Ideals kein
-Sündenhaus werden soll und keine Schnapsschenke.
-
-Jeder Vernünftige sieht, dass unter dem einen Worte Realismus
-thatsächlich nicht immer das Gleiche verstanden wird und dass sich hier
-Begriffe mischen, die strenge Sonderung fordern. Es fehlt denn auch
-nicht an besonneneren Stimmen, die sich bemühen, Realismus in einer
-Weise zu definiren, die jeden gröberen Irrthum ausschliesst.
-
-Ich gebe diese Definition zunächst in möglichst allgemeiner Fassung
-wieder, um später den speciellen Punct herauszugreifen, dem ich eine
-eingehendere Betrachtung zu widmen gedenke.
-
-Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die
-Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die
-Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten, die
-Erscheinungen der Natur selbst haben uns allmählich das Bild einer
-unerschütterlichen Gesetzmässigkeit alles kosmischen Geschehens
-eingeprägt, dessen letzte Gründe wir nicht kennen, von dessen
-lebendiger Bethätigung wir aber unausgesetzt Zeuge sind. Das vornehmste
-Object naturwissenschaftlicher Forschung ist dabei selbstverständlich
-der Mensch geblieben, und es ist der fortschreitenden Wissenschaft
-gelungen, über das Wesen seiner geistigen und körperlichen Existenz
-ein ausserordentlich grosses Thatsachenmaterial festzustellen, das
-noch mit jeder Stunde wächst, aber bereits jetzt von einer derartigen
-beweisenden Kraft ist, dass die gesammten älteren Vorstellungen,
-die sich die Menschheit von ihrer eigenen Natur auf Grund weniger
-exacter Forschung gebildet, in den entscheidendsten Puncten über
-den Haufen geworfen werden. Da, wo diese ältern Ansichten sich
-während der Dauer ihrer langen Alleinherrschaft mit andern Gebieten
-menschlicher Geistesthätigkeit eng verknotet hatten, bedeutete dieser
-Sturz nothwendig eine gänzliche Umbildung und Neugestaltung auch
-auf diesen verwandten Gebieten. Das bekannteste Beispiel hierfür
-ist die Religion, deren einseitig dogmatischer Theil durch die
-Naturwissenschaften zersetzt und zu völliger Umwandlung gezwungen
-wurde. Ein zweites Gebiet aber, das auch wesentlich in Frage kommt,
-ist die Poesie. Welche besondern Zwecke diese auch immer verfolgen
-mag und wie sehr sie in ihrem innersten Wesen sich von den exacten
-Naturwissenschaften unterscheiden mag, -- eine Sonderung, die wir so
-wenig, wie die Sonderstellung einer vernünftigen Religion, antasten, --
-ganz unbezweifelbar hat sie unausgesetzt, um zu ihren besondern Zielen
-zu gelangen, mit Menschen und Naturerscheinungen zu thun und zwar, so
-fern sie im Geringsten gewissenhafte Poesie, also Poesie im echten und
-edeln Sinne und nicht ein Fabuliren für Kinder sein will, mit eben
-denselben Menschen und Naturerscheinungen, von denen die Wissenschaft
-uns gegenwärtig jenen Schatz sicherer Erkenntnisse darbietet.
-Nothwendig muss sie auch von letzteren Notiz nehmen und frühere irrige
-Grundanschauungen fahren lassen. Es kann ihr, was Jedermann einsieht,
-von dem Puncte ab, wo das Dasein von Gespenstern wissenschaftlich
-widerlegt ist, nicht mehr gestattet werden, dass sie zum Zwecke
-irgend welcher Aufklärung einen Geist aus dem Jenseits erscheinen
-lässt, weil sie sich sonst durchaus lächerlich und verächtlich machen
-würde. Es kann ihr, was zwar nicht so bekannt, aber ebenso wahr ist,
-auch nicht mehr ungerügt hingehen, wenn sie eine Psychologie bei
-den lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwerthet, die durch die
-Fortschritte der modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden
-als falsch dargethan ist. Eine Anpassung an die neuen Resultate der
-Forschung ist durchweg das Einfachste, was man verlangen kann. Der
-gesunde Realismus ermöglicht diese Anpassung. Indem er einerseits die
-hohen Güter der Poesie wahrt, ersetzt er andererseits die veralteten
-Grundanschauungen in geschicktem Umtausch durch neue, der exacten
-Wissenschaft entsprechende. Mit Genugthuung gewahrt er dabei, dass
-die neuen Stützen nicht nur relativ, sondern auch absolut besser
-sind, als die alten, und dass er bei Gelegenheit dieser Anpassung
-der Poesie ein frisches Lebensprincip zuführt, das nach vollkommener
-Eingewöhnung höchstwahrscheinlich ganz neue Blüthen am edeln Stamme
-des dichterischen Schaffens zeitigen wird, die vormals Niemand ahnen
-konnte. Das ist in abstracter Kürze die eigentlich verstandesgemässe
-Definition des Realismus.
-
-So rund ausgesprochen, hat die Forderung, die darin liegt, alle
-Eigenschaften, um den Kritiker oder Dichter, dem die Poesie als ein
-leuchtendes Palladium der Menschheit, das jede Zeit auf den höchsten
-Platz ihres intellectuellen Könnens zu stellen verpflichtet sein soll,
-eine wahre Herzenssache ist, zu ernstem, wohlwollendem Nachdenken zu
-zwingen.
-
-Angesichts der gestellten Wahl muss er die ganze, schwere Verantwortung
-empfinden, die in einem leichtsinnig heraufbeschworenen Streite
-zwischen Poesie und Naturwissenschaften läge. Er wird sich nicht stören
-an die werthlose Phrase, dass ein solcher Conflict nothwendig im
-Wesen der beiden Geistesgebiete begründet sei. Er wird vielmehr den
-Blick haften lassen auf den starken Meistern der Vergangenheit, auf
-dem heldenkühnen Ringen Schiller's, die Wahrheiten der Philosophie,
-die doch in der speciellen Form auch mit dem Wissen zusammen fiel, dem
-poetischen Ideal zu vermählen, auf dem unablässigen Forschen Göthe's,
-der in den Wahlverwandtschaften -- fehlerhaft vielleicht, aber doch
-in sicherem Ahnen der Methode -- die Arbeit des Forschers auf dem
-Gebiete der Seelenkunde im Dichterwerke zu verwerthen suchte, auf dem
-lichten Bau der physischen Weltbeschreibung des greisen Alexander von
-Humboldt, in deren kosmischem Rahmen unter der Form der dichterischen
-Naturanschauung die ganze Poesie mit Leichtigkeit eine Stelle gefunden
-hätte. Dürfen wir stehen bleiben, wo jene, denen die ganze Fülle
-unserer Offenbarung im Naturgebiete noch versagt war, unentwegt den
-Wanderstab zum Vorwärtsschreiten ansetzten? Gewiss steckt in den
-erhitzten Parteien des Tages die lebhafteste Neigung zu schwerem
-Kampfe; sollen wir die einzige noch mögliche Gelegenheit zur Versöhnung
-zurückweisen, -- zu einer Versöhnung, die vielleicht zugleich einen
-Fortschritt für die Poesie bedeutet?
-
-Ich meine, so, wie die Frage gestellt ist, giebt es nur eine Antwort.
-Es handelt sich nicht um Namen, um Nationalitäten, um Meister und
-Jünger einer Schule, sondern um zwei Dinge, die vor aller Augen sind:
-eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und neue Begriffe schafft,
-und eine Literatur, die zurückbleibt, und mit Begriffen arbeitet, die
-keinen Sinn und Verstand mehr haben. Thatsächlich hat denn auch ein
-beträchtlicher Theil unserer modernen Dichter die richtige Antwort
-gefunden, und es kommt hier nicht darauf an, ob Dieser ernste und
-wohlüberlegte Entschlüsse daran angeknüpft oder Jener bloss in
-kindlicher Freude ein polizeiwidrig lautes Jubelgeschrei über sein
-findiges Genie dazu ausgestossen hat. Man hat sich geeinigt über den
-Satz: Wir müssen uns dem Naturforscher nähern, müssen unsere Ideen auf
-Grund seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen.
-
-Das Erste, worauf man im Verfolgen dieses Gedankens kam, war ein Satz,
-der ebenso einfach und selbstverständlich war, wie er paradox klang.
-Jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des Natürlichen
-und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich
-entwickeln zu lassen, ist vom Standpuncte der Wissenschaft betrachtet
-nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie
-durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen,
-wissenschaftlichen Sinne genommen.
-
-Daher der Name »Experimental-Roman«, und daher eine ungeheuerliche
-Begriffsverwirrung bei allen Kritikern und Poeten, die weder wussten,
-was man unter einem wissenschaftlichen Experimente, noch was man unter
-dichterischer Thätigkeit verstand. Der Mann, der das Wort populär
-gemacht hat, Zola, ist selbst unschuldig an der Verwirrung der Geister.
-Nur hat auch er den Fehler nebenher begangen, die Definition eines
-Kunstwerks als Experiment nicht einzuschränken durch die Worte »vom
-wissenschaftlichen Standpuncte aus«, womit alles klarer und einfacher
-wird. Vom moralischen Standpuncte beispielsweise will die Definition
-gar nichts besagen, denn was ist moralisch ein »Experiment«? Aber
-wissenschaftlich passt die Sache. Sehen wir das unheimliche Wort näher
-an.
-
-Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich möglichst genau
-ausmalt, durch die Macht der Umstände in alle möglichen Conflicte
-gerathen und unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger oder
-Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin
-untergehen lässt, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der
-Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade
-bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen
-vor sich, keine Chemikalien. Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch
-diese Menschen fallen in's Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre
-Leidenschaften, ihr Reagiren gegen äussere Umstände, das ganze Spiel
-ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet
-hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten
-hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen werthlosen
-Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen
-muss, ehe er an's Werk geht und Stoffe combinirt.
-
-Wer sich die Mühe nehmen will, einen ganz flüchtigen Blick auf das
-Beste zu werfen, was Shakespeare oder Schiller oder Göthe geschaffen,
-der wird den Faden des psychologischen Experiments in jeder dieser
-Dichtungen klar durchschimmern sehen. Bloss jene Voraussetzungen
-waren vielfach etwas andere, und hier ist denn eben der Punct, wo der
-Einfluss der modernen Wissenschaft sich als ein neues Element geltend
-machen und der Realismus, dessen Theorie wir zugegeben haben, practisch
-werden soll. Es gilt, neue Prämissen für die weitern Experimente,
-die wir machen wollen, aufzustellen oder besser, sie uns von der
-Naturwissenschaft aufstellen zu lassen. Hier aber, beim Eintritt in
-die Praxis, wird die ganze Sache sehr schwierig. Wir haben bisheran
-einer allgemeinen Erörterung Raum gegeben. Der allgemeine Zustand
-des Denkens in unserer Zeit und des Verhältnisses von Poesie und
-Forschung zu einander hat uns ein Geständniss abgezwungen, indem er
-uns ein Dilemma zeigte, aus dem es nur einen Ausweg gab. Wir haben uns
-einverstanden erklärt mit der versöhnlichen Richtung eines gesunden
-Realismus und sind vorgedrungen bis an den Fleck, wo die Berührung der
-exacten Wissenschaften mit derjenigen Definition der Poesie, die von
-allen am wissenschaftlichsten klingt, endlich stattfinden soll. Alle
-Vorfragen sind damit erledigt, und ich trete jetzt an das heran, was
-eigentlich den Kern des Ganzen ausmacht und zugleich ein solches Gewebe
-ernster Schwierigkeiten aufweist, dass ich eine eingehende Betrachtung
-derselben für die nothwendige Basis jeder realistischen Dichtung
-sowohl, wie jeder realistischen Aesthetik halte.
-
-Die Prämissen des poetischen Experiments: das sagt in einem Worte
-alles. Hier verknoten sich Naturwissenschaft und Poesie.
-
-Wohlverstanden: diese Prämissen umschliessen nicht die Naturgeschichte
-des poetischen Genius selbst, eine Sache, die ja auch in die Aesthetik
-hineingehört, die aber mit dem, was ich meine, direct nichts zu
-schaffen hat. Geniale Anlage muss der Mensch besitzen, um überhaupt als
-Dichter auftreten zu können, und zwar eine ganz bestimmte Form genialer
-Anlage, die sich von der für andere Geistesgebiete individuell
-unterscheidet. Jene andern Prämissen, die erworbenes Wissen darstellen,
-verhelfen ihm bloss in zweiter Instanz dazu, sein schöpferisches Wollen
-nach vernünftigen Gesetzen zu regeln und auch andern, nicht dichterisch
-Beanlagten durch das Medium der Logik einigermassen verständlich zu
-machen. Aber auch wenn wir alle Missverständnisse ausschliessen,
-bleibt die Sache immer noch sehr schwierig. Es mangelt zunächst
-gänzlich an brauchbaren Büchern, die dem Dichter einen vollkommenen
-Einblick in das verschaffen könnten, was ihm aus dem ungeheuren
-Bereiche der wissenschaftlichen Forschung über den Menschen zu wissen
-Noth thut. Die in ihren Resultaten so sehr werthvolle psychologische
-und physiologische Fachliteratur zeigt den Bestand des Materials nur
-in seiner äussersten Zersplitterung. Weit entfernt, die Arbeit des
-einsichtigen Dichters unter der Rubrik des psychologischen Experimentes
-entsprechend zu würdigen, zieht sich die Fachwissenschaft in den
-allermeisten Fällen vornehm zurück und überlässt die Verarbeitung ihres
-Materials für poetische Zwecke dem Philosophen, der unter zehn Fällen
-neunmal die Thatsachen unter dem Vorwande der Ordnung einfach fälscht.
-Statt der Wissenschaft Rechnung zu tragen, suchen schaffende Poesie wie
-Aesthetik dann ihre Prämissen durch Studium philosophischer Systeme zu
-gewinnen, und der Erfolg ist, dass wir unter dem Vorwande realistischer
-Annäherung an die Resultate der Forschung allenthalben einer
-Verherrlichung Hegel'scher Phrasen, Schopenhauer'scher Verbohrtheiten
-oder Hartmann'scher Willkür begegnen, die mit echter Wissensbasis wenig
-mehr zu schaffen haben, als die alten religiösen Ideen, so geistvoll
-sie auch im Einzelnen ersonnen sein mögen.
-
-Eine Anzahl vorsichtiger Geister, besonders ausübender Poeten,
-verschmäht mit Recht diese schwankende Brücke und stürzt sich kühn
-in die Detailmasse des exacten Fachwissens. Der Erfolg zeigt eine
-ernstliche Gefahr auch bei diesem Unterfangen. Die wissenschaftliche
-Psychologie und Physiologie sind durch Gründe, die Jedermann kennt,
-gezwungen, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen,
-sie decken sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie. Der
-Dichter nun, der sich in berechtigtem Wissensdrange bei ihnen direct
-unterrichten will, sieht sich ohne sein Zuthun in die Atmosphäre der
-Clinic hineingezogen, er beginnt sein Augenmerk mehr und mehr von
-seinem eigentlichen Gegenstande, dem Gesunden, allgemein Menschlichen
-hinweg dem Abnormen zuzuwenden, und unversehends füllt er im Bestreben,
-die Prämissen seiner realistischen Kunst zu beachten, die Seiten seiner
-Werke mit den Prämissen dieser Prämissen, mit dem Beobachtungsmateriale
-selbst, aus dem er Schlüsse ziehen sollte, -- es entsteht jene
-Literatur des kranken Menschen, der Geistesstörungen, der schwierigen
-Entbindungen, der Gichtkranken, -- kurz, das, was eine nicht kleine
-Zahl unwissender Leute sich überhaupt unter Realismus vorstellt.
-
-Ich habe den Weg gezeigt, wie klar denkende Dichter auf diese Linie
-gerathen können, und bin weit davon entfernt, das blöde Gelächter
-der Menge bei Beurtheilung derselben zu theilen. Es sind keineswegs
-die kleinen, rasch zufriedenen Geister, die in solche heroischen
-Irrthümer verfallen, und der still vergnügte Poet, der im einsamen
-Kämmerlein von Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr
-problematische Kenntniss davon, welcher Riesenarbeit sich gerade der
-dichtende Genius unterzieht, der im treibenden Banne seiner Gedanken
-bis zum Unschönsten, was die Welt im gebräuchlichen Sinne hat, dem
-Krankensaale, vordringt. Ein Irrthum bleibt die Einseitigkeit darum
-doch. Die Krankheit kann nicht verlangen, den Raum der Gesundheit für
-sich in Anspruch nehmen zu wollen, das unausgesetzte Experimentiren mit
-dem Pathologischen, also dem ganz ausschliesslich Individuellen, das
-eine Ausnahme vom normalen Allgemeinzustande bildet, nimmt der Poesie
-ihren eigentlichsten Charakter und verführt den Leser zu Irrthümern
-aller Art, die hinterher den ganzen Realismus treffen.
-
-Ich halte es angesichts all' dieser Gefahren für durchaus an der Zeit,
-in einer übersichtlichen Darstellung diejenigen Puncte herauszuheben,
-die eigentlich in der Gesammtfülle des modernen naturwissenschaftlichen
-Materials als wahre Prämissen seiner Kunst den Dichter unmittelbar
-angehen. Ich möchte dabei ebensoweit von philosophischer Verwässerung
-wie von fachwissenschaftlicher Detailüberlastung entfernt bleiben.
-Was sich als Resultat der bisherigen objectiven Forschung ergiebt,
-möchte ich unter dem beständig beibehaltenen Gesichtspuncte der
-dichterischen Verwerthung klar darlegen. Das Metaphysische kann ich
-dabei nur streifen als nothwendigen Grenzbegriff des Physischen. Die
-Erkenntnisslehren der modernen Naturwissenschaft sind, wie schon
-gesagt, bisher in die weiten Kreise fast stets als Beiwerk in gewissen
-Systemen, als Stütze materialistischer oder pessimistischer oder sonst
-irgendwie auf einen Glauben getaufter Weltanschauungen verbreitet
-worden. All' diesen Bestrebungen stehe ich durchaus fern. Was der
-Poet sich über das innerste Wesen der kosmischen Erscheinungen denkt,
-ist seine Sache. Die Puncte, um die es sich für mich handelt, sind
-als Wissensgrundlagen massgebend für Alle, so gut wie das Wasser das
-Product zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, für
-jeden vernünftigen Menschen bleibt, mag er nun im Puncte des Gemüthes
-Christ oder Jude oder Mohammedaner sein oder die heilige Materie
-anbeten.
-
-Es giebt Dinge darunter, die den Dichter stärker machen werden, als
-seine Vorgänger waren, wenn er sie in der rechten Weise beachtet.
-Es giebt auch Dinge, die ein zweischneidiges Schwert sind und mit
-aller Vorsicht behandelt werden wollen. Im Grossen und Ganzen kann
-ich nur sagen: eine echte realistische Dichtung ist kein leichter
-Scherz, es ist eine harte Arbeit. Die grossen Dichter vor uns haben
-das sämmtlich empfunden, die kommende Generation wird es möglicher
-Weise noch mehr fühlen. Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich
-echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen,
-zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus
-mehr als einem Gesichtspuncte, -- das ist zugleich das Höchste und
-das Schwerste, was der Genius schaffen kann. Wie so der Mensch Gott
-wird, ist darin enthalten, -- aber es wird jederzeit auch darin sich
-offenbaren, wie so er Gottes Knecht ist. Das Erhebendste dabei ist
-der Gedanke, dass die Kunst mit der Wissenschaft empor steigt. Wenn
-das nicht werden sollte, wenn diese Beiden fortan im Kampfe beharren
-sollten, wenn Ideal und Wirklichkeit sich gegenseitig ermatten sollten
-in hoffnungslosem, versöhnungslosem Zwiste: dann wären die Gegenwart,
-wie die Zukunft ein ödes Revier und die Mystiker hätten Recht, die
-vom Aufleben der Vergangenheit träumen. Es ist in Wahrheit nicht so.
-Ein gesunder Realismus genügt zur Versöhnung, und er erwächst uns von
-selbst aus dem Nebeneinanderschreiten der beiden grossen menschlichen
-Geistesgebiete. Dichtung um Dichtung, ästhetische Arbeit um ästhetische
-Arbeit, alle nach derselben Richtung gestimmt, müssen den Sieg
-anbahnen. Die rohe Brutalität, von der hitzige Köpfe träumen, wollen
-wir dabei gern entbehren, -- ich meine, die Wissenschaft ist dazu viel
-zu ernst und die Kunst viel zu sehr der Liebe und des klaren, blauen,
-herzerwärmenden Frühlingshimmels bedürftig.
-
-
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-Zweites Capitel.
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-Willensfreiheit.
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-Ich will als Dichter einen Menschen, den ich in eine bestimmte Lage des
-Lebens gebracht habe, eine Handlung begehen lassen und zwar diejenige,
-welche ein wirklicher Mensch in gleicher Lage wahrscheinlich oder sogar
-sicher begehen würde.
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-Ich will als Kritiker einer Dichtung beurtheilen, ob eine bestimmte
-Handlung, die ein bestimmter Held dieser Dichtung unter bestimmten
-Umständen begeht, wirklich richtig, das heisst den Gesetzen der
-Wirklichkeit entsprechend, erfunden ist.
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-In beiden Fällen werde ich beim geringsten Nachdenken auf die
-allgemeine Frage der Willensfreiheit geführt.
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-Diese Frage aber ist weder eine dichterische, noch eine philosophische,
-sondern eine naturwissenschaftliche. In ihr kreuzen sich die
-sämmtlichen Grundfragen der wissenschaftlichen Psychologie, und sie ist
-meiner Ansicht nach die erste und wichtigste Frage, mit der sich die
-Prämissen der realistischen Poesie und Aesthetik zu befassen haben.
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-Die oberflächlichste Anschauung der wahren Dinge in der Welt lehrt,
-dass die menschliche Willensfreiheit nicht ist, was das Wort nahe
-legt: eine absolute Freiheit. Wir sehen nicht nur die Macht des
-Willens physikalisch beschränkt, sondern gewahren auch in dem
-eigenthümlichen Gefüge und Bau der Gedanken, die den Willen zu irgend
-etwas schliesslich als äussern Act entstehen lassen, beständig sehr
-eigenthümliche, subjective Factoren, die in uns sofort das Gefühl
-eines eingeschränkten Laufes der Gedankenketten entstehen lassen.
-Genau dieselbe Thatsache erweckt im Geiste verschiedener Menschen
-verschiedene Gedankenreihen, die oft den genau entgegengesetzten
-Willen hervorrufen. Eine unbewacht gelassene Casse ruft in einem
-Gewohnheitsdiebe den Gedanken und in directer Fortsetzung die Handlung
-des Stehlens, in einem seiner bisherigen Lebensbahn nach durchaus
-rechtlich gesinnten Menschen höchstens den Gedanken an eine Sicherung
-und Bewachung zur Verhütung eines Diebstahls hervor. Eine grosse Anzahl
-von Menschen ist zwar geneigt, gerade den Umstand hier für allgemeine
-Freiheit zu halten, dass der Eine so, der Andere anders handelt. Der
-Naturforscher wird sich sagen müssen, dass die gleiche äussere Sache
-nur einen verschiedenen innern Effect haben kann, weil sie offenbar
-in dem Innern der beiden geistigen Individuen auf eine ungleiche
-Disposition trifft, etwa wie in der Physik derselbe Funke, je nachdem
-er in eine Pulvertonne oder in ein Wasserfass fällt, sehr verschiedene
-Kräfte auslöst.
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-Damit ist ein erster, roher Anhaltspunct für die Auffassung
-psychologischer Vorgänge gewonnen. Wenn ich als Dichter Menschen in
-Berührung mit äusseren Erscheinungen bringe, so wechselt nicht nur
-der Wille in den Handlungen der Person je nach den äusser'n Impulsen,
-sondern er ist auch subjectiv bei den Einzelnen verschieden je nach der
-Disposition des Geistes, die der Impuls bei Jedem findet.
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-Die Physiologie giebt uns nun als nächsten Fortschritt über diesen
-ersten Punct weg die Thatsache an die Hand, dass jede Disposition des
-Geistes zugleich eine Disposition des stofflichen Untergrundes, des
-Gehirns, bedeutet.
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-Die Frage, in welchem Causalitätsverhältniss diese Doppelerscheinungen
-der geistigen und stofflichen Disposition unter sich wohl stehen
-möchten, ob der Geist als solcher existire oder bloss eine subjective
-Rückansicht desselben Dinges sei, das wir äusserlich als Stoff,
-respective mechanische Kraft uns gegenüber stellen, geht uns hier als
-eine erkenntniss-theoretische, wissenschaftlich nicht lösbare gar
-nichts an. Was wir mit Händen greifen können, ist das Zusammenfallen
-jeder psychischen Erscheinung mit einer molecularen, jedes Gedankens
-mit einem ganz bestimmten physiologischen Ereignisse innerhalb
-des nervösen Centralorgans. Dieses leugnen, hiesse rundweg das
-Gehirn leugnen und die ganze überwältigende Masse künstlicher wie
-unfreiwilliger Beeinflussungen des psychischen Apparats, die man bei
-vivisecirten Thieren und verwundeten oder gehirnkranken Menschen
-durch stoffliche Umwandlungen in der Gehirnmasse hat entstehen sehen.
-Die Thatsache steht also unbezweifelbar fest: wir können behaupten,
-wenn bei einer bestimmten Person ein bestimmter äusserer Impuls eine
-bestimmte Disposition im Gedankengange des Betreffenden vorfindet, so
-ist diese Disposition zugleich etwas Stoffliches, eine Curve, Furche,
-reihenweise Gruppirung kleiner Theilchen, Schwingung der Molecüle
-nach einer bestimmten Richtung oder was man sich sonst denken will in
-der greifbaren Masse des Gehirns. Das oben gebrauchte Beispiel mag
-das zur Deutlichkeit nochmals illustriren. Gleicher äusserer Impuls:
-eine offene Casse. Erfolg bei dem einen Menschen unmittelbar und ohne
-Wahl eine moralisch verwerfliche Gedankenkette, die endigt mit der
-Handlung des Stehlens, bei dem andern ebenso unmittelbar eine gute,
-die ausläuft in die Handlung des Bewachens. Grund: der erste Mensch
-ist gewöhnt, schlecht zu handeln, seine Gedankenkette schlägt sofort
-eine bestimmte Richtung ein, die körperlich einem durch Gewohnheit tief
-ausgefahrenen Geleise entspricht, in das ein neu ankommender Wagen
-stets mit mechanischer Nothwendigkeit wieder hineinrollt; umgekehrt bei
-dem gewohnheitsmässig moralischen Menschen geräth die Ideenverbindung
-unmittelbar in eine ganz entgegengesetzte Linie, die schliesslich den
-umgekehrten Effect auslöst.
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-Ich habe das Beispiel so nackt gewählt, wie möglich, -- ohne jeden
-Conflict, was nicht ausschliesst, dass es täglich so vorkäme. Wer oft
-gestohlen hat, stiehlt wieder; wer in moralischem Denken aufgewachsen
-ist, kommt für gewöhnlich gar nicht auf den Gedanken, zu stehlen;
-die Ideenkette lenkt ohne Ablenkungen besonderer Art, die ich hier
-vernachlässige, stets in dieselben Geleise ein. Das Wort Geleise
-dürfen wir unbedenklich anwenden, da ja ein stofflicher Vorgang stets
-mit unterläuft. Geschaffen hat die Geleise, wie sich Jeder schon zur
-einfachsten Erläuterung dazu sagt: die Gewohnheit. Jede Minute unseres
-Lebens bringt uns Beweise dafür, -- das Wort Gewohnheit, das uns
-beständig auf der Zunge schwebt, ist eben nur der Ausdruck des Factums,
-dass die mehrmals aufgestellten Gedankenketten sich ein derartig
-festes Bett in unserm Denkorgane graben, dass gewisse, nur entfernt
-daran gemahnende Impulse sie jedesmal mit zwingender Nothwendigkeit
-wieder hervorrufen und dieselbe Handlung als schliesslichen Effect
-daraus entstehen lassen. Je ausgefahrener die Geleise nach und nach
-werden, desto rascher und damit dem Bewusstsein desto undeutlicher
-saust der Gedanke hindurch, desto unmittelbarer lösen sich Impuls und
-Willenseffect ab, bis schliesslich der Gedanke gar nicht mehr bewusst
-wahrgenommen wird und die Handlung sich als rein mechanischer Reflex
-des Impulses darstellt, -- Erscheinungen, die wir täglich am Menschen
-beobachten können und die beim Thiere, dem die wenigen Eindrücke seines
-Lebens durch ihre regelmässige Wiederkehr fast alle in der genannten
-Weise constant und zur Quelle reiner Reflexhandlungen werden, die Regel
-bilden.
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-Wenn es auf Grund eines ungeheuren Fortschrittes mikroskopischer
-Forschung möglich wäre, ein vollkommenes Bild eines beliebigen
-menschlichen Gehirns, das zu seinen Lebzeiten Gedanken gehegt hat, zu
-entwerfen, so würde man, wie immer das wahre Antlitz der Sache sich
-gestaltete, stets auf das schematische Bild einer Ebene kommen, die von
-Linien ungleicher Dicke durchkreuzt wird, von denen eine Anzahl nur
-matt angedeutet und halbverwischt, eine gewisse Zahl dagegen äusserst
-scharf und deutlich erschiene, und der Beschauer würde unmittelbar das
-Gefühl haben, dass es sich hier um ein Strassensystem handle, bei dem
-dasselbe obgewaltet, wie bei menschlichen Verkehrswegen: irgend ein
-äusserer Umstand hat mehrmals die Verkehrenden auf dieselbe Strasse
-geführt und, einmal ausgetreten, hat diese nun Alle, die nur entfernt
-nach derselben Richtung wollten, veranlasst, ihrer Linie und keiner
-andern zu folgen.
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-Thatsächlich sind wir ja so weit nicht. Das Gehirn, welches wir kennen,
-bietet uns, was das unmittelbare Sehen anbelangt, ungefähr so viel
-Anhaltspuncte zur Kenntniss seiner innern Processe, wie dem Astronomen
-die Oberfläche des Planeten Mars. Wir erkennen auf dieser Länder
-und Meere, Canäle, die das Festland durchschneiden, atmosphärische
-Vorgänge, Wolken, Schnee, Eismassen am Pol; das Alles aber kommt so
-wenig über den groben Umriss hinaus, dass Objecte von der Grösse der
-Victoria-Nyanza noch gerade als Puncte wahrnehmbar sind.
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-Unsere Anschauungen vom Wesen der ganzen Gedankenthätigkeit müssen
-wir, unfähig, die Maschine in ihre Rädchen auseinander zu nehmen
-und im todten Material zu studiren, abstrahiren aus dem Erfolge,
-aus der regelmässigen, positiv zu beobachtenden Wiederkehr gewisser
-gewohnheitsmässiger Gedankenreihen in uns selbst und den Handlungen,
-die wir täglich bei uns als Folgen dieser zwangsweisen Ideenketten
-wahrnehmen und bei Andern als solche voraussetzen dürfen. Immerhin ist
-diese Art der Beobachtung ein vollkommen guter Ersatz für jene.
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-Für die Freiheit des Willens, von der wir ausgegangen sind, ist
-jedenfalls -- mögen wir nun physiologisch oder psychologisch zu unsern
-Resultaten gekommen sein -- in dem Bestehen der durch Gewohnheit
-gegrabenen Gedankenstrassen ein bedenkliches Hinderniss gegeben. Der
-Wille ist Endergebniss eines nicht gestörten, bis zu einer gewissen
-Intensität angeschwollenen Gedankens, -- wenn der Gedanke aber in
-seinem Flusse sich in den meisten Fällen einem gegrabenen Bette
-anschmiegen muss, so kann in allen diesen von einer Freiheit des
-endlichen Willens keine Rede mehr sein, und man braucht noch gar nicht
-auf jene oben erwähnten, ganz reflectorisch gewordenen Willensacte
-zurückzugehen, um auf Schritt und Tritt diesen einfacheren hemmenden
-Einflüssen zu begegnen.
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-Die wichtigste Frage scheint also, um hier Klarheit zu schaffen, die
-nach der Natur der Gewohnheit zu sein. Es gilt festzustellen, was sich
-unter diesem Begriffe, der die Willensfreiheit in so frappanter Weise
-bedroht, für einzelne Factoren verstecken und ob in dem einen Worte,
-das der Gebrauch selbst geschaffen, nicht Verschiedenartiges sich
-birgt. Gewohnheit ist, so haben wir physiologisch definirt, langsame
-Einprägung einer bestimmten Furche (psychologisch: Denkrichtung) im
-Gehirn, die durch eine längere Folge gleichartiger Wahrnehmungen
-erzeugt wird. Woher kommt eine derartige Gleichartigkeit der
-Wahrnehmungen? Zunächst aus der Einrichtung der Natur, die uns trotz
-der unendlichen Fülle ihrer Erscheinungen doch gewisse Phänomene in
-ewiger Regelmässigkeit wiederkehren lässt, die beständig gleiche
-Wahrnehmungen in uns hervorrufen. In zweiter Linie aber aus einem
-Umstande, der den Culturmenschen mit verschwindenden Ausnahmen fest
-und unerbittlich umklammert hält: der Erziehung. Wir sind nicht
-neu geschaffene Wesen, die bloss die Natur sich gegenüber haben.
-Wir gehören einer Gesellschaft an, die ebenfalls aus Menschen mit
-einem, dem unsern ähnlichen Denkapparate besteht. Wir sind jung,
-die Tafel unseres Gehirnes ist noch kaum beschrieben. Jene Menschen,
-die vielleicht unsere Erzeuger, jedenfalls als Erwachsene unsere
-Meister sind, sind in ihrem Denken bereits erfüllt mit jenen festen
-Linien, jenen Geleisen des Gewohnten, und sie fühlen sich wohl dabei.
-Ihr Bemühen geht dahin, in unser Gehirn dieselben Linien zu prägen.
-Unfähig, unmittelbar zu wirken, beschreiten sie den Umweg durch die
-wiederholten Wahrnehmungen, aber in der Weise, dass sie bestimmte
-Wahrnehmungen -- eben jene, die ihren Gedankenlinien die bequemen
-sind -- auswählen und uns so lange einseitig vorführen, bis sich in
-unserm Gehirn die gleiche Linie, wie bei ihnen, gebildet hat und wir
-ihre wahren geistigen Kinder sind. Mit andern Worten heisst das: wir
-erhalten die grosse Masse unserer gewohnheitsmässigen Gedanken durch
-Unterricht, durch Schulung. Der Werth dessen, was uns vermittelst
-derselben im Gehirn eingeritzt wird, ist dabei ganz gleichgiltig, es
-kann die höchste Moral oder die äusserste Unmoral sein: von einem
-gewissen Puncte ab ist die Gedankenübertragung gelungen, die Linie
-angelegt, und es bedarf fortan nur der leisesten Aehnlichkeit in einer
-Wahrnehmung mit jenen früheren, um sofort den ganzen Gedankenapparat
-nach der eingeprägten Richtung hin in Thätigkeit zu setzen.[1]
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- [1] Sehr lehrreich für das ganze Gebiet der Gedankenübertragung
- sind die _hypnotischen_ Experimente, die gewiss auch für
- den Dichter ein gewisses Interesse haben müssen. Ganz
- energisch aber ist zu verlangen, dass jeder Verwerthung
- derartiger Erscheinungen ein kritisches Verständniss und
- Studium vorausgehe. Es handelt sich hier durchaus nicht um
- ein Stück jener behaglichen Mystik, bei der alle Menschen,
- denen einmal etwas Unerklärliches vorgekommen, den Beruf
- fühlen, mitzusprechen, sondern um exacte wissenschaftliche
- Gegenstände, die, eben weil sie von der grössten Tragweite
- sind, auch die vorsichtigste Behandlung erfordern. Wen der
- Schleier des Unbegreiflichen allein verlocken sollte, der
- wird bei sorgfältiger Kenntnissnahme dann schon von selbst
- merken, wie wenig seine Neugier belohnt wird.
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-Je tiefer diese Schulung geht, je reflectorischer die Ideenlinien
-arbeiten, desto mehr scheinen sie später ursprünglich mit dem
-Individuellen verwachsen und erlangen in Wörtern, wie Gewissen, Tact
-und ähnlichen, Bezeichnungen, die uns im Leben sehr oft geneigt machen,
-sie angeborene zu nennen, obwohl sie allem Anscheine nach durchweg
-erworbene, von aussen eingeprägte sind.
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-Das Adjectivum »angeboren« aber, welches sich uns hier zwanglos in die
-Erörterung einmischt, führt uns unwillkürlich auf ein Zweites, das im
-Begriffe der Gewohnheit, wenn auch wahrscheinlich nicht dort, wo man es
-vermuthete, so doch anderswo steckt.
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-Ein Vogel, den man im Zimmer fern von Seinesgleichen aufgezogen, zeigt
-bei nahendem Winter ein Bestreben, zu wandern. Hier kann nicht mehr
-von individueller Aneignung, von einer durch Gewohnheit erzielten
-Gedankenlinie, in die jedesmal beim Anblick fallenden Laubes oder
-sonstiger Erscheinungen des Wechsels der Jahreszeiten der Gedanke
-einlenkt, um schliesslich den Willen des Wanderns auszulösen, die
-Rede sein. Eben haben wir gesehen, dass die Function, das beständige
-Wahrnehmen gleicher Dinge allmählich eine körperliche und geistige
-Disposition, ein Geleise gewissermassen, schafft, das dann beim
-Nachfolgenden wie ein Organ die Function bestimmt; bei diesem geborenen
-Zugvogel ist offenbar die Umwandlung einer bestimmten Stelle des
-Denkapparates schon bei der Geburt mit allen andern Organen, die im
-embryonalen Leben nicht durch, sondern für die Function entstehen,
-angelegt worden und tritt jetzt beim geringsten dahin zielenden Impuls
-mit voller Kraft in Thätigkeit, indem sie den Vogel zwingt, beim ersten
-Anzeichen des Herbstes -- und sei es auch sein allererster, den er im
-individuellen Leben mitmacht -- eine Gedankenreihe zu verfolgen, die
-ihm bei menschlich klarem Bewusstsein wie eine Vision vorkommen würde,
-indem er Bilder von einem warmen Lande, wohin er wandern soll, denkt,
-die keine eigene Erfahrung ihm eingeben kann.
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-Wir haben es hier mit einer Gewohnheit secundärer Art zu thun: --
-mit vererbten geistigen Linien. Jede geistige Gewohnheit bedingt
-etwas körperliches, einerlei, ob als Ursache oder als unvermeidliche
-Parallelerscheinung; dass körperliche Veränderungen sich vererben,
-wissen wir alle; es kann in Fällen wie dem genannten nicht anders
-sein, als dass sich hier eine Structurverschiebung des Gehirns, eine
-moleculare Disposition vererbt hat, deren unzertrennliche Begleiterin
-die psychische Erscheinung ist, die wir sehen. Zwischen dem Gehirn
-jenes Vogels und dem gewaltigen Verstandesapparate des Menschen aber
-besteht physiologisch wie psychologisch lediglich ein Unterschied des
-Grades, nicht der Art, -- es fragt sich: spielen auch beim Menschen
-ererbte Gedankenreihen eine Rolle, die sich unter dem allgemeinen
-Worte »Gewohnheit des Denkens« verbirgt? Bei der ungeheuren Masse
-von Eindrücken, die der Mensch im Gegensatz zu den meisten Thieren
-während der Dauer seiner individuellen Existenz empfängt und die trotz
-aller Macht der Gewohnheit gerade auf den höheren geistigen Gebieten
-durchweg nicht reflectorisch werden, nicht ganz aus dem Bewusstsein
-verschwinden, scheint es von vornherein nicht wahrscheinlich, dass
-hier sehr viel vererbt werden sollte. Jedenfalls bestätigt die
-Erfahrung, dass Vererbung überwiegend dann stattfindet, wenn gewisse
-Gedankenketten über das gewöhnliche Mass hinaus sich eingebohrt
-haben, also beispielsweise bei einseitigem Genie, bei krankhaft
-eingewurzelten fixen Ideen, also fast oder ganz abnormen Zuständen,
--- und es scheint selbst hier, als vererbten sich nicht eigentliche
-Gedankenlinien, sondern nur gewisse Stimmungen des Untergrundes, wenn
-ich so sagen soll, gewisse Weichheiten oder Härten der Fläche, die den
-später durch Erziehung herantretenden Geleisen einen ungewöhnlichen
-Widerstand oder ein ungewöhnliches Entgegenkommen bewiesen. In der
-Empfänglichkeit des Gehirns für einzugrabende Linien überhaupt liegt
-ganz unbezweifelbar die eigentliche grosse Erbschaft, die der Mensch,
-der als solcher geboren wird, vor dem Thiere voraus hat; wer das exact
-beobachten will, vergleiche ein lernendes Kind mit einem lernenden
-Papageien. Wahrscheinlich ist dem Vogel der absolute Fortschritt gerade
-deshalb so erschwert, weil sein Gehirn von Jugend auf mit einer Reihe
-ererbter Linien (Instincte nennt es ein geläufiges Wort) durchsetzt
-ist, die den Boden hart gemacht haben für alles Neue; die wenigen
-ererbten Geisteslinien des Menschen, der Mangel an Instincten, wäre im
-Lichte dieser Anschauung dann vielleicht die Wiege seiner geistigen
-Entwicklungsfähigkeit, indem es ihm die Tafel für das Lernen frei
-hielte. Dass darum gewisse Instincte, ganz oder beinah reflectorische
-Geisteslinien, auch beim Menschen und zwar bei allen ohne Ausnahme
-als Erbe früherer, mehr thierischer Verhältnisse sich -- wenn auch
-bisweilen gleichsam verschüttet und von den tausend Erziehungslinien
-überdeckt -- vorfinden, ist nicht zu leugnen. Stark erregte Momente,
-Revolutionen, Hungersnoth, beständiger Anblick von Blut, sexuelle
-Ueberreizung lassen diese Instincte gelegentlich in roher und
-erschreckender Weise durchbrechen, und der Mensch handelt in solchen
-Momenten im Banne einer dämonischen Gehirnmacht, einer entfesselten
-psychisch-molecularen Bewegungswelle, die unvergleichlich mächtiger
-fortreisst, als alle individuell durch Erziehung erworbenen Moral-
-oder Unmorallinien, er handelt mit dem Instincte von Thierformen, die
-weit unten an der Schwelle des Menschlichen stehen und für uns nur
-noch in analogen Erscheinungen der jetzigen höheren Säugethierwelt zu
-studiren sind. Der Dichter, wie der Historiker müssen gerade diesen
-geheimnissvollen Vererbungslinien, deren Rolle im einzelnen Leben wie
-in der Geschichte sehr gross ist, mit Interesse nachgehen. Wünschen
-möchte man, dass gewisse dauernde Errungenschaften der menschlichen
-Cultur -- beispielsweise die Basis der Moral, das Mitleid -- mit der
-Zeit bereits reine Instincte geworden wären, die der Einzelne mit auf
-die Welt brächte. Man ist mitunter versucht, dergleichen zu glauben.
-Wenn ein Mensch, ohne eine Secunde zu zögern, einem Kinde, das in's
-Wasser gefallen ist, nachspringt und es rettet, so scheint hier eine
-Geisteskette vorzuliegen, die bereits ganz reflectorisch wirkt und wohl
-als solche vererbt werden könnte.
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-Die Erfahrungen, die man andererseits an Kindern macht, die aus besten
-Bildungskreisen entspringen und doch, ehe sie durch Zucht selbst
-gebildet sind, nichts bethätigen als die alten thierischen Instincte,
-die mit ihrem roheren Egoismus dem Mitleid gerade zuwider laufen,
-verhindern alle derartigen optimistisch gefärbten Schlüsse.
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-Beschränkt, wie unsere Kenntnisse von dem ganzen Gewebe der
-Vererbungsfragen gegenwärtig noch sind, müssen sie dem Dichter, der in
-ihnen das Material tragischer oder versöhnender Verknotungen sucht,
-eine starke Resignation und scharfe Kritik als Grundbedingung an's Herz
-legen. Rechnen soll er mit der Vererbungsfrage als Ganzem, das ist
-sicher. Aber er soll nicht spielen damit, sich nicht muthwillig auf
-Gebiete begeben, die der Fackel des Forschers selbst noch verschlossen
-sind. Die Zukunft wird erst zeigen können, wie eigentlich diese Dinge
-eingreifen in's Leben des Einzelnen, wie die Sünden und Vorzüge der
-Ahnen sich unmittelbar im Gehirne des Enkels rächen. Immerhin mag heute
-schon der grandiose Romancyklus von Zola eine durchdachte Vorahnung
-für das Kommende darstellen. Wenn man sich aber vergegenwärtigen will,
-welche zahllosen dichterischen Vorwürfe in dem Spiel der Ideenketten,
-an die Schule und erste Bildung uns schmieden, enthalten sind,
-so kann man im Grunde nur warnen vor dem einseitigen Betonen der
-Vererbungsconflicte, so lange die Physiologie noch nicht in festen
-Gesetzen die nöthigen Prämissen aufgestellt. Man soll sie beachten,
-wo man durch den Stoff nothwendig auf sie geführt wird, aber sie noch
-nicht in den Vordergrund drängen, wo es nicht durchaus nöthig ist.
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-Die indirecte Vererbung, das unbrauchbare Alte, das uns in unserer
-Bildung, durch unsere Umgebung allenthalben belastend in's Gehirn
-gegraben wird, tausend begabte Köpfe im Kampfe mit dem lebendigen
-Neuen zu Tode hetzt, uns als unechte Religion, veraltete Moral,
-conventioneller Humbug, historische Entartung und was sonst noch
-alles, den Geist trübt und für die Ziele der Gegenwart blind macht:
-das ist durchschnittlich weit gefährlicher, als die dunklen chemischen
-und physikalischen Mächte, die hier oder dort eine Familie in allen
-Phasen des Wahnsinns untergehen lassen oder an den geschlechtlichen
-Fähigkeiten eines unschuldigen Nachkommen die sexuellen Verrücktheiten
-des Urgrossvaters rächen. Es sind harte, unerbittliche Gesetze im
-Einen, wie im Andern, aber im letztern Falle haben sie mehr von jener
-dunklen Tragic, die allem Geschehen der Natur geheimnissvoll zu Grunde
-liegt, im ersteren sehen wir den Kampf menschlich lebhafter und näher
-vor Augen, wir fühlen die Schmerzen, wie die Triumphe innerlich
-blutiger und siegesstolzer mit, weil wir mehr verstehen und stärker
-durchfühlen, dass die Sache auch einmal anders werden könnte durch
-unser Zuthun.
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-Ich kehre zur eigentlichen Frage zurück. Gewohnheit umschliesst, so
-haben wir jetzt gesehen, zweierlei: Ererbtes und Erworbenes. Da das
-Letztere wenigstens beim normalen Culturmenschen mit zunehmendem Alter
-unausgesetzt wächst, so gleicht das Gehirn dieses Menschen schliesslich
-einer über und über beschriebenen Tafel, auf der sich gewisse Striche
-mehr und mehr verdickt haben, und die am Ende gar nichts ganz Neues
-mehr aufzunehmen im Stande ist, so dass der Geist wie ein geschickter
-Seiltänzer mehr oder weniger nur noch die vorgeschriebenen Stangen
-abklettert, je nachdem dieser oder jener äussere Anlass bei einer der
-ewig bereiten Endstationen anklopft.
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-Eigentliches Leben in dieses an und für sich sehr einfache
-Gedankenspiel bringt aber nun eine Thatsache, die ich bisheran
-absichtlich vernachlässigt habe. Was wir durch Unterricht (sei es nun
-unmittelbarer durch das Leben oder mittelbarer in der Schule) an festen
-Gedankenlinien eingeprägt bekommen, steht weder immer im Einklange
-untereinander, noch mit dem, was durch die Vererbung an allgemeinen
-Instincten oder individuellen Neigungen in uns bereits bei der Geburt
-befestigt ist. Mit andern Worten: jene constanten Linien im Denkorgan
-kreuzen, hemmen, verwickeln sich vielfach, wodurch die einfachen
-Denkprocesse, die durch die Möglichkeit des Eingrabens fester Linien
-so bequem und bis zur Grenze des Reflectorischen glatt gemacht wurden,
-wiederum recht erschwert werden. Ich sehe ab von ganz krankhaften
-Erscheinungen. Man hat Fälle, wo eine Gedankenlinie eines Menschen
-von einem gewissen Puncte ab, ohne dass er sich dessen bewusst wurde,
-in eine ganz andere überging, so dass beim Versuche, den Gedankengang
-wieder zu geben, von einer Ecke ab jedesmal die Begriffe wie vertauscht
-waren. Hier waren offenbar zwei Linien in abnormer Weise verschmolzen,
-ein hochinteressanter, aber lediglich psychiatrischer Fall.
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-Ich will jetzt versuchen, an einem consequent durchgeführten Beispiele
-genau den normalen Fall von sich widersprechenden Gedankenlinien
-aufzudecken. Es ist das um so wichtiger, als man gerade hier, im
-Widerstreite der Gedankenlinien, den schärfsten Beweis für eine
-metaphysisch beeinflusste Willensfreiheit zu finden geglaubt hat.
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-Ich nehme an, einen Menschen trifft ein äusserer Sinneseindruck, --
-etwa der Anblick einer schönen Frau, die das Weib eines Andern ist,
-also ein Sinneseindruck, den das Auge in's Gehirn übermittelt, der dort
-zur geistigen Wahrnehmung wird und als solche gewisse Gedanken erregen
-muss, deren Lauf durch die vorhandenen Gewohnheitslinien bestimmt
-wird und deren endliches Resultat bei genügend starker Erregung ein
-Willensact, eine Handlung ist. Der Anblick einer körperlich reizenden
-Frau erweckt im Manne nothwendig zunächst die Gedankenketten,
-die um das Geschlechtliche gelagert sind. Diese können aber sehr
-verschiedener Art sein, von dem einen örtlichen Centrum können Furchen
-ganz entgegengesetzter Richtung und Tiefe ausstrahlen. Nehmen wir den
-Fall eines Menschen, der gar keine Bildung genossen hat, aber auch,
-vielleicht weil er eben erst geschlechtsreif geworden ist, im Bezug
-auf das Geschlechtliche noch durchaus keine feste Gewohnheitsfurche im
-Gehirn trägt. Bei ihm wird der erste Gedanke höchstwahrscheinlich die
-Vererbungsfurche, die den instinctiven Fortpflanzungstrieb als uraltes
-Erbe stets neu zeitigt, einschlagen, ein Kampf ist ausgeschlossen, da
-nur diese einzige Linie vorhanden ist, aber der aus der angeregten
-Gedankenkette hervorgehende Wille wird etwas Unklares, Reflectorisches
-haben, das sich dämonisch Bahn bricht, aber dem Bewusstsein selbst fast
-ganz entzogen ist.
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-Zweiter Fall: der Mensch ist ein geübter und geriebener Don Juan. Im
-Worte liegt schon enthalten, dass bei diesem Typus sich in der für
-das Geschlechtliche reservirten Gegend des Gehirns nicht bloss die
-instinctive Vererbungs-Furche, sondern daneben noch eine sehr tief
-ausgefahrene Aneignungs-Furche, ein durch Gewohnheit individuell
-scharf eingepflügtes Geleise findet, das beim Anblick des schönen
-Weibes eine grosse, aber dem Bewusstsein noch durchweg zugängliche
-Gedankenkette durchpassiren lässt, als deren Resultat ein sicherer,
-auf hundert Erfahrungen gestützter Wille entsteht, -- der Wille zur
-Verführung, der Wille zum geschlechtlichen Genuss, -- im Princip
-derselbe Wille, wie bei dem ersten Menschen, nur unendlich bewusster
-und dauernder. Ein Conflict findet -- moralische Bildung bei dem Typus
-des Don Juan ausgeschlossen -- auch hier nicht statt, die Wahrnehmung
-erregt nur eine einzige Ideenkette, die als Endresultat nur einen
-Willen kennt.
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-Der dritte Fall aber, an den ich jetzt herantrete, ist der weitaus
-interessanteste, dichterisch jedenfalls der werthvollste. Ein Mensch
-soll eine ordentliche moralische Bildung genossen haben, dabei aber
-dem Geschlechtlichen nicht so fern geblieben sein, dass es nicht
-auch, abgesehen von der stets vorhandenen ererbten Linie, eine
-gewisse Spur in seinem Gehirn zurückgelassen hätte, die im Stande
-wäre, den Gedanken bei völliger Unbeeinflussung in Don Juanartige
-Gelüste zu treiben. Eine Disposition, wie diese, ist unter allen die
-verbreitetste. Ihr Ergebniss ist im vorliegenden Falle ein innerer
-Kampf. Die Wahrnehmung erweckt zwei Gedankenlinien, die moralische und
-die schlechthin sexuelle, von denen die eine als Endergebniss einen
-Willen erzeugen muss, der dem der andern durchaus entgegengesetzt ist.
-Die Moral verbietet, was die geschlechtliche Neigung verlangt. Beide
-Gedankenketten erscheinen vor dem Bewusstsein, -- eine freie Wahl ist
-diesem aber absolut versagt; es steht als indifferenter Zuschauer
-vor dem Kampfe der Gedanken um den Willen. Nur ein Wille kann als
-Endresultat hervortreten. So lange beide Ideenketten vollkommen gleich
-stark sind, heben sie sich gegenseitig im Puncte des Willens auf wie
-Plus und Minus. Rollt der eine Gedankenzug glatt durch sein Geleise
-bis zur Willensstation, so ist inzwischen der andere ebenso glatt dort
-angekommen und die Beiden verschliessen sich gegenseitig den Ausgang.
-Die Entscheidung, welche Linie siegt, kann sehr lange ausstehen. Ueber
-ihre Veranlassung herrschen vielfach die irrigsten Vorstellungen.
-Man denkt sich unwillkürlich, das Bewusstsein selbst, welches doch
-keinerlei mechanische Macht besitzt, könne durch einen metaphysischen
-Druck diesen oder jenen Willen zum Durchschlag bringen. Das wäre
-die reinste Hexerei. Die Entscheidung kommt vielmehr daher, von wo
-überhaupt alles Motorische nur kommen kann: von aussen, durch neue
-Wahrnehmungen, die während der Hemmung jener beiden Ketten in's Gehirn
-eintreten. Es fragt sich bei diesen, in welche der beiden Linien sie
-einlenken. Sind es zufällig sexuelle Eindrücke, die mit dem Streite
-sonst nichts zu schaffen haben, aber nothwendig in die geschlechtliche
-Linie gerathen, so graben sie dort die Furche ebenso nothwendig ein
-Minimum tiefer, und dieses Minimum genügt, grob sinnlich gesprochen, um
-dem sexuellen Gedankenzuge im Wettlaufe zum Willensziel einen Vorsprung
-zu geben und damit das Resultat zu entscheiden. Umgekehrt: nahen sich
-zufällig bei schwebendem Streite neue, moralische Wahrnehmungen, so
-siegt die Moral auch in jenem offenen Falle. Unendlich geringe Factoren
-haben hier die weittragendste Bedeutung. Ein zufälliges Wort, ein
-lebhaftes Erinnerungsbild, der Anblick irgend einer Situation, die
-unmittelbar alle nicht das Mindeste mit dem obwaltenden Gedankenzwist
-in der kritischen Sache zu thun haben, entscheidet mit mathematischer
-Gewissheit über den Sieg. In mancher bedeutenden Dichtung will es
-uns bei oberflächlicher Betrachtung fast störend und unlogisch
-erscheinen, dass lange Seelenkämpfe plötzlich durch einen vielleicht
-sehr geringfügigen äusserlichen Umstand zur jähen Entscheidung
-gebracht werden. Wer sicherer beobachtet hat, sieht gerade hierin den
-echten Spiegel des Wahren, und er wird in der Wahl jenes scheinbar
-geringfügigen Umstandes bei schärferem Hinblick stets etwas entdecken,
-was indirect einem der streitenden Gedanken des Helden nicht zufällig,
-sondern nothwendig den Sieg verleihen musste, selbst wenn es gar
-nicht direct an die Objecte des Seelenkampfes heranreichte. Es ist
-nichts weiter als der Tropfen Oel, der die eine Wagenaxe in der Arena
-geschmeidiger macht; aber dieser Tropfen ist die weihende Spende der
-Nike.
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-Von diesem dritten Menschen giebt es tausend und abertausend Varianten.
-Die gegenseitige Hemmung und Beeinflussung der Gedankenketten ist es,
-die uns erst eigentlich das geistige Werden unserer Handlungen zum
-Bewusstsein bringt und verhindert, dass Impuls und Effect sich bloss
-reflectorisch auslösen. Man kann sagen, dass wir unserer Gedanken erst
-recht bewusst werden, wenn sie gehemmt sind und einander bekämpfen,
-etwa so, wie die Meeresfläche uns erst charakteristische Form gewinnt,
-wenn wir sie uns als ein Spiel sich brechender Wogen denken. Von einer
-freien Beeinflussung des Willens aber durch das Bewusstsein kann im
-buchstäblichen Sinne keine Rede sein. Wir erhalten äussere Eindrücke,
-wir denken in gewissen vorgezogenen Linien, dieses Denken wird uns
-unter gewissen Bedingungen durch einen Act, dessen innerste Natur wir
-nicht ergründen können, bewusst: das ist alles. In diesen Verhältnissen
-liegen die Wurzeln unseres Glückes und unserer Schmerzen, unserer
-Fortschritte und unserer Rückschritte. Naturwissenschaftlich sind wir
-als ehrliche Beobachter gezwungen, die Bedingtheit aller menschlichen
-Willensacte der Art des geistigen Apparates gemäss als eine Thatsache
-auszusprechen, die weder juristische noch theologische Forderungen
-irgendwie erschüttern können.
-
-Diese Forderungen müssen sich mit der Thatsache abfinden. Die Genesis
-seiner Gedanken und Handlungen zugestanden, bleibt ja praktisch der
-Mensch mit lauter Gedankenketten, die im Verbrechen gipfeln, schlecht
-und strafbar und der Mensch, der durch den Zwang seiner Gehirnfurchen
-zu moralischem Denken und Thun gezwungen wird, gut.
-
-Für den Dichter aber scheint mir in der Thatsache der Willensunfreiheit
-der höchste Gewinn zu liegen. Ich wage es auszusprechen: wenn sie nicht
-bestände, wäre eine wahre realistische Dichtung überhaupt unmöglich.
-Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im menschlichen Denken Gesetze
-zu ergründen, erst indem wir einsehen, dass eine menschliche Handlung,
-wie immer sie beschaffen sei, das restlose Ergebniss gewisser Factoren,
-einer äussern Veranlassung und einer innern Disposition, sein müsse und
-dass auch diese Disposition sich aus gegebenen Grössen ableiten lasse,
--- erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen
-Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und
-Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu lassen, die logisch sind, wie
-die Natur.
-
-Im Angesicht von Gesetzen können wir die Frage aufwerfen: Wie wird
-der Held meiner Dichtung unter diesen oder jenen Umständen handeln?
-Wir fragen zuerst: Wie wird er denken? Hier habe ich die äussere
-Ursache: was findet sie in ihm vor? Was liegt als Erbe in seinem
-Geistesapparate, was hat die Bildung und Uebung des Lebens darin
-angebahnt, welche fertigen Gedankenlinien wird jene äussere Thatsache
-erregen, wie werden diese sich hemmen oder befördern, welche wird
-siegen und den Willen schaffen, der die Handlung macht? Ich habe das
-Wort »mathematisch« gebraucht. Ja, eine derartige Dichtung wäre in der
-That eine Art von Mathematik, und indem sie es wäre, hätte sie ein
-Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen Namen eines psychologischen
-Experimentes zu bezeichnen.
-
-Ich glaube gezeigt zu haben, wie gross unsere Unkenntniss im Einzelnen
-besonders bei der Vererbungsfrage noch ist. Jene Dichtung, von der ich
-rede, ist in ihrer Vollendung noch ein Traum. Aber das soll uns nicht
-hindern, rüstig am grossen Bau mitzuschaffen. Einstweilen möge sich vor
-allem die Klarheit über die Hauptprobleme Bahn brechen. Der Dichter
-soll anfangen, sich bei der Unzahl von Phrasen etwas zu denken, die
-auf seinem Gebiete umherschwirren, die Sätze wie: »Es lag in ihm so zu
-handeln«, »Die Natur brach sich gewaltsam Bahn«, »Er fühlte etwas, was
-seinen Gedanken blitzschnell eine andere Richtung gab« und ähnliches,
-sollen ihm einen Inhalt bekommen, er soll einsehen, dass es im Geiste
-so wenig Sprünge giebt, wie bei einem festen Verkehrsnetz, wo jede
-alte Strasse so lange wie möglich benutzt wird und eine neue nicht
-von heute auf morgen gebaut wird, er soll endlich alle die grossen
-Namen: Schicksal, Erbsünde, Zufall und wie sie heissen mögen, im
-Einzelnen neu prüfen und auf die Principien hin modificiren, wo es Noth
-thut. Ich gebe hier keine Aesthetik, sondern beschränke mich auf die
-naturwissenschaftlichen Grundlagen, es liegt mir fern, in jene Fragen
-näher einzutreten, die sich daran anknüpfen. Man sagt wohl, die Poesie
-werde roh und alltäglich, wenn sie sich an die Fragen der Physiologie
-um Auskunft wende. Wenn ich die Probleme überblicke, auf die der Gang
-dieser Studie mich geführt hat, so weiss ich nicht, was das heissen
-soll. Diese Probleme sind die höchsten, die ich mir denken kann. Wir
-stehen dicht vor der Schwelle des Ewigen, des Unerreichten, und wandeln
-doch noch auf dem sicheren Boden der Wirklichkeit. Giebt es einen
-höheren Genuss?
-
-
-
-
-Drittes Capitel.
-
-Unsterblichkeit.
-
-
-Geheimnissvolles Wort, -- Unsterblichkeit! Wer die Geschichte der
-Menschheit anknüpfen wollte an die Geschichte ihrer tiefsten Träume,
-ihres bangesten, herzbewegtesten Sehnens, der müsste sie anknüpfen an
-dieses Wort.
-
-Es ist nicht wahr, dass dieses Wort nicht auch uns noch immer im
-Grunde all' unseres Denkens fortzitterte: -- die uralten Phantasieen
-des Volkes vom Nilstrande, in denen der Zauber desselben zuerst eine
-dämonische Macht geworden, sind von all' dem Alten, Verklungenen
-vielleicht noch das Lebendigste und greifbar Deutlichste, was mitten
-durch unsere junge Welt wandelt. Wir sind anders geworden, besser,
-freier, wir stehen nicht mehr im Morgenschein der Jahrtausende, der
-helle Mittag wölbt sich über uns, der grosse, helle Mittag, von dem wir
-noch kein Ende sehen, -- und doch -- und doch. Das Wort Unsterblichkeit
-ist nach wie vor eine zwingende Gewalt. Es ist die Basis aller
-Metaphysik in der Religion. Die Zeiten sind herum, wo die Menschheit
-einen Gott in Donnerwolken oder Knechtsgestalt zur Erklärung ihrer
-Sittengesetze brauchte: die Frage des ewigen Looses nach aller
-Zeitlichkeit fordert auch heute noch den kühnen Flug über die Grenzen
-des Erkannten, und wenn alle dogmatische Religion sich sonst zersetzen
-sollte, so wird ihre letzte lebenskräftige Ranke sich immer wieder
-emporwinden an der festen Säule des Trostes am Grabe unserer Todten.
-Aber wie die meisten Fragen, die eine religiöse Bedeutung besitzen,
-ist auch diese zugleich auf's Engste verwachsen mit der Dichtung. Ihre
-Behandlung unter den Prämissen realistischer Aesthetik und Poesie
-scheint mir um so dringender geboten, als die allgemeine Ansicht
-von der Stellung der exakten Naturwissenschaft zu ihr vielfach eine
-einseitige oder geradezu falsche ist. Dank einer gewissen Sorte von
-voreiligem und bei bestem Willen hochgradig ungeschicktem Popularisiren
-physiologischer Erkenntniss, hat man sich daran gewöhnt, ein Dilemma
-aufzustellen, das thatsächlich nicht stichhaltig ist. Man wiederholt
-unaufhörlich die beiden Sätze: Entweder unsere Seelen sind unsterblich,
--- -- oder mit dem Tode ist alles aus für ewige Zeiten und in jeder
-Bedeutung, -- wobei es dann als Folgerung der Wissenschaft nahe gelegt
-wird, dass die erste Möglichkeit in Wahrheit keine sei und die zweite
-als Kehrseite der andern die nothwendig richtige sein müsse. Der Fehler
-liegt in dem »entweder -- oder«. Ich will versuchen, das exact zu
-entwickeln. Die moderne Physiologie ist, um den ersten Punct zunächst
-allein in's Auge zu fassen, allerdings, sobald sie ehrlich sein
-will, gezwungen, die gewöhnlichen Vorstellungen von Unsterblichkeit
-sämmtlich zu vernichten. Die Seele im Volkssinne ist für sie lebend
-wie todt ganz gleichmässig ein Gespenst. Das, was wir so nennen,
-ist ein Complex von Erscheinungen höchst verwickelter Art, die wir
-unabänderlich als Parallelphänomene gewisser molecularer Vorgänge
-finden und zwar so parallel, dass jeder molecularen Verschiebung auch
-eine Verschiebung des Psychischen entspricht und das so genau, dass,
-wie ich es im vorigen Capitel für ein bestimmtes Gebiet durchgeführt
-habe, schematische Bilder des psychischen Mechanismus auf den
-molecularen passen und umgekehrt. Möglicherweise ist jede moleculare
-Erscheinung in der Welt von entsprechenden psychischen begleitet, doch
-werden letztere uns erst bemerkbar bei einer gewissen Summirung und
-Ordnung der Molecularphänomene, wie sie in der organischen und hier
-vor allem der höheren organischen, der thierischen und schliesslich
-der menschlichen Molecularstructur sich finden. Diese höhere Structur
-ist lediglich ein Anordnungsproblem, eine Constructionsaufgabe,
-bei der einfachste Bestandtheile schliesslich den complicirtesten
-Bau liefern. Obwohl durch gewisse, uns zur Zeit noch verschlossene
-Zeugungs- und Vererbungsgesetze mit der nächsten Generation ähnlicher
-Gebilde verknüpft, hat die einzelne Molecularpyramide, die in
-ihrer ungeheuren Massenanhäufung für bestimmte Zwecke auch die
-erstaunlichsten psychischen Parallelerscheinungen aufwies, die je
-geleistet worden waren, doch eine endliche Dauer und zerfällt nach
-einer gewissen Zeit wieder in ihre kleinen molecularen Bausteine.
-Letzteren Vorgang nennen wir Tod. Dass die psychischen Phänomene, die
-sich parallel mit den molecularen zu einer colossalen Gesammtleistung
-für die Dauer der molecularen Massenordnung vereinigt, im Momente
-des Zusammenbruchs der molecularen Pyramide ebenfalls als Ganzes
-verschwinden und sich in die problematischen geringsten Procentsätze
-auflösen, die möglicherweise an jedem Einzelmolecül haften, ist
-vollkommen selbstverständlich. Das Schema des physiologischen Todes:
-Zerfallen einer kunstvollen mathematischen Figur in lose, durch das
-Spiel neuer Kräfte bald nach allen Richtungen verschobene Puncte, muss
-sich nothwendig auch decken mit dem Schema des psychologischen Todes.
-Der Naturforscher muss als absolut sichere Thatsache constatiren, dass
-noch niemals an irgend einem Puncte der bekannten Welt psychische
-Erscheinungen ohne entsprechende moleculare beobachtet worden sind,
-und der Inductionsschluss vom Bekannten auf das Unbekannte tritt
-mit allem Rechte in Kraft. Das Suchen nach körperlosen Seelen, wie
-es in spiritistischen Kreisen als angebliches Problem behandelt
-wird, kann gerade vom methodologischen Standpuncte aus nur mit dem
-Eifer verglichen werden, mit dem jener berühmte Bürger der guten
-Stadt Schilda das Tageslicht vermittelst einer Mausefalle zu fangen
-versuchte, um es in das fensterlose Rathhaus zu überführen. Alles was
-in's Gebiet dieser theoretischen wie practischen Narrheiten gehört,
-kann physiologisch nicht scharf genug zurückgewiesen werden. Der
-Dichter, der hier pikante Stoffe zu finden glaubt, ist zu bedauern. Ich
-bin sogar der Ansicht, dass, abgesehen von den Geistererscheinungen,
-die keine Dichtung uns mehr im Ernste auftischen kann, der rechte
-Poet auf so manche kleinen Effecte verzichten soll, die man sich im
-Banne älterer Anschauungen noch gefallen liess. Wenn er einen Todten
-schildert, soll er nicht mehr die Reporterphrase verwenden: »Die Mienen
-des Entschlafenen bezeugten den tiefen Frieden, zu dem er eingegangen.«
-Die Gesichtsmuskeln werden nach eingetretenem Tode meist schlaff und
-geben den Zügen etwas Lächelndes. Aber man sollte das nicht mehr als
-Anhaltspunct benutzen, nachdem man weiss, dass es in Wahrheit nichts
-besagt und eine körperliche Erscheinung ganz gleicher Natur wie die
-nachfolgenden der Verwesung ist, die kein Mensch als Effecte ausspielen
-möchte.
-
-Die strenge Wissenschaft geht übrigens noch weiter. Sie verneint nicht
-nur die individuelle Fortdauer der psychischen Processe über den
-Tod hinaus, sondern sie bedroht auch ernstlich die letzte Zuflucht
-der Unsterblichkeitsträume, die bedingte Fortdauer der Väter in den
-Nachkommen. Es giebt gewisse nicht wohl anfechtbare Schlüsse, die das
-ewige Bestehen des Menschengeschlechts für die Zukunft ebenso unsicher
-machen, wie es auf Grund der paläontologischen Forschung für die
-Vergangenheit ist.
-
-Cosmologische Erscheinungen, die theils als Ergebniss unendlich
-kleiner, aber unablässig anwachsender Störungen, theils in Form
-gröberer Catastrophen eintreten können, sind möglich, die den Planeten,
-an dessen Existenz und Temperaturhöhe das organische Leben gebunden
-ist, gänzlich vernichten oder doch zum Bewohnen untauglich machen
-können. Auch jener Fortdauer durch Zeugung ähnlicher Nachkommen wäre
-damit ein Ziel gesetzt.
-
-Das ist mit runden Worten die eine Seite der Frage. Die Antwort der
-Wissenschaft ist bei aller Mangelhaftigkeit unserer physiologischen
-Erkenntniss in diesem Falle decidirt genug, um alle leichtfertigen
-Träumereien auszuschliessen. Die Dichtung kann nichts thun, als die
-Thatsache annehmen, wie sie ist. Wir dürfen weder poetisch darstellen,
-wie ein verstorbener Mensch aus dem Jenseits zurückgekommen, noch
-dürfen wir überhaupt den Anschein erwecken, als hielten wir die
-psychische Existenz eines lebenden Wesens für etwas, was von der
-physiologischen Erscheinungsform so unabhängig wäre, dass es beim
-Zerfallen der Letzteren selbstständig weiter existiren könne.
-
-Mit Entschiedenheit muss ich mich nun aber gegen die zweite Hälfte
-jenes Doppelsatzes wenden. Ich frage: was will der Satz »mit dem Tode
-ist Alles aus«? In dem »Alles« steckt eine Vermessenheit, die derselbe
-Naturforscher, der eben die bestimmte, positive Einzelannahme eines
-Fortlebens der individuellen Seele zurückweisen musste, darum noch
-lange nicht kritiklos nachzusprechen gezwungen ist. In jenem »Alles«
-wäre enthalten, dass wir eine factische Kenntniss vom Wesen der ganzen
-Welt, wie des Individuums hätten. Das ist nicht der Fall. Es muss ganz
-scharf unterschieden werden: die bestimmte psychisch-physiologische
-Weltansicht des Naturforschers und die Welt an sich, die Welt, die
-sich hinter dem Bilde verbirgt, das wir sehen. Der Naturforscher ist
-ein Mensch. Er sieht Dinge um sich her, so weit seine Sinnesorgane
-und sein Gehirn ihm das erlauben -- nicht mehr. Die schärfsten
-Beweise sprechen dafür, dass diese Sinnesorgane und dieses Gehirn ihm
-nur einen ganz beschränkten Theil der wirklichen Welt zeigen, und
-es giebt eine Reihe von Puncten, die nahe zu legen scheinen, dass
-sogar dieser kleine Theil beeinflusst und möglicherweise gefälscht
-ist durch die feste Form seines beobachtenden und reflectirenden
-Organes. Da Alles, was wir gewahren, erst in unserm Centralorgan zum
-Bilde wird, so kann die Vermuthung nicht wohl widerlegt werden, dass
-die Structur dieses Organs auf die Form dieses Bildes einen Druck
-ausübt; man hat mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits ausgesprochen,
-dass die Begriffe des Raumes, der Zeit und der Causalität in unserm
-subjectiven Weltbilde erst Wirkungen dieses Druckes wären und somit
-überhaupt nur in uns, nicht in der Aussenwelt existirten; man hat
-mit ziemlicher Sicherheit den Begriff des Stoffes in uns selbst
-verlegt, während von Aussen nur Krafteindrücke kommen. Und es wird
-für den Laien am Besten ermöglicht, sich in diese kühnen, aber nicht
-unbegründeten Hypothesen hineinzudenken, wenn er sich an rohe Facta
-der Sinnenwelt hält (beispielsweise die Farben, welche bekanntlich
-nicht an den Gegenständen haften, die wir roth, blau oder grün sehen,
-sondern in unserm Auge sind) und sich mit ihrer Hilfe die Möglichkeit
-vergegenwärtigt. Während diese Ideenkreise die Fälschung unseres
-Weltbildes durch unser eigenes Denkorgan als wahrscheinlich hinstellen,
-zwingt andererseits die Forschung selbst zur Erkenntniss fester
-Grenzen. Wir sind nicht im Stande, jenen Parallelismus von Psychischem
-und Molecularem, von dem auf diesen Blättern bereits so oft die Rede
-gewesen ist, irgendwie zu verstehen. Wenn eine Molecülreihe rechts
-schwingt beim Gefühl des Schmerzes, links bei dem des Angenehmen, so
-ist damit noch keine Brücke geschlagen von der Schwingung zum Gefühl
-und wir können lediglich den nie wechselnden Parallelismus constatiren.
-Wenn wir den Begriff des Molecüls zerlegen und die tieferen Geheimnisse
-dessen aufzudecken versuchen, was wir mechanische Kraft nennen, so
-verwickeln wir uns nicht aus Unkenntniss der Sachen, sondern durch
-offenkundiges Versagen der Logik in unlösbare Widersprüche. Wir
-können nicht umhin, ein derartiges Aufhören aller wissenschaftlich
-gangbaren Strassen als Grenze zu bezeichnen. Wir fühlen sehr wohl, dass
-jenseits derselben noch sehr Viel liegt, ja, die fundamentale Kenntniss
-des Daseins eigentlich erst ihren Anfang nehmen würde, aber es ist
-nichts zu machen, wir können mit dem Gehirn, das wir haben, einfach
-nicht weiter. Ob unsere Urenkel mehr vermögen werden, muss ihnen ihr
-vielleicht weiter entwickeltes Gehirn sagen, es geht uns gegenwärtig
-nichts an.
-
-Eine Wissenschaft aber, die von Grenzen, von Fälschungen ihres
-Weltbildes zu reden gezwungen ist, kann zwar innerhalb ihres Gebietes
-sehr wohl diese oder jene Thatsache als sicheres Resultat aufstellen,
-sie hat aber kein Recht, ihre Urtheile in der Weise zu verallgemeinern,
-dass sie sich für competent in Fragen der absoluten Welt, der Welt
-an sich, erklären darf. Die Wissenschaft ist nicht nur berechtigt,
-sondern genöthigt, ausdrücklich festzustellen, dass so, wie sich
-die Welt in unsern Menschenaugen deutlich erkennbar spiegelt, ein
-isolirtes Fortleben der Seele einfach unmöglich ist. Mit dem Tode ist
-eine Kette von Ereignissen der sichtbaren Welt zu Ende. Was beweist
-das für die wirkliche Welt, jene Welt, die sich noch unabsehbar
-hinter unsern Erkenntnissgrenzen dehnt und von der ein ganz kleines,
-getrübtes Endchen in unser Sehfeld sich erstreckt? Gar nichts. Wir,
-die wir weder wissen, was psychische und moleculare Vorgänge ihrem
-innersten Wesen nach sind, noch wie sie zusammen kommen, wir, die wir
-von Zielen, Zwecken, Sittlichkeit, Gesetzmässigkeit, Anfang, Ende,
-Schönheit oder Hässlichkeit der wahren Welt auch nicht das Geringste
-ahnen, wir sollten von etwas sagen, es sei zu Ende? Wir, die wir in
-einer Welt voll unendlicher, sich im Raum verlierender Linien, voll
-unendlicher Decimalbrüche, voll unendlich theilbarer Körper leben, wir
-sollen von irgend einem Ding sagen: Hier ist alles aus? Eine wohlfeile
-Philosophie, die aus dem schwankendsten unserer Begriffe, der Materie,
-etwas absolutes macht, mag sich dabei beruhigen; Naturwissenschaft ist
-das nicht.
-
-Ich hoffe, dass man mich richtig verstanden hat. Alles was wir Menschen
-sehen, ist Physisches, auch das Psychische, in so fern es stets an
-ein Physisches geknüpft ist. Innerhalb dieses Physischen giebt es
-keine Unsterblichkeit. Aber wir haben Grund zu glauben, dass dieses
-Physische vor unsern Augen nicht das echte Cosmische, das eigentlich
-Wahre und Seiende ist, sondern bloss ein mattes und lückenhaftes
-Gleichniss desselben. Innerhalb dieses eigentlich Seienden ist allem
-Anschein nach das Leben, das psychische wie das moleculare, selbst
-etwas ganz anderes, und dort mag es Verhältnisse geben, die alle
-irdischen Conflicte lösen, alles Schiefe versöhnen; die Annahme kann
-uns nicht bestritten werden, der Naturforscher hat hier nichts mehr zu
-sagen. Freilich: Wissen thun wir von jener Welt an sich gar nichts,
-als dass sie besteht. Aber darin liegt viel. Mit ihrer Existenz haben
-wir einen ruhenden Punct gefunden, der ausserhalb des Irdischen liegt.
-Mit dem Bewusstsein eines solchen Punctes weicht die drückende Schwere
-des Vernichtungsgedankens sowohl im Individuellen, wie im allgemeinen
-Erdenloos. Mag unsere Laufbahn immerhin um sein für die Augen, für das
-enge Gehirn der verschwindenden Menschenwelle auf dem einsamen Planeten
-der Sonne. +Alles+ ist damit nicht aus. Hinter dem ewig verschlossenen
-Vorhang wandelt ein Anderes, ein Grösseres, als wir. Indem der
-Forscher uns unerbittlich versagt, unsere Unsterblichkeitsträume in
-Bilder der sichtbaren Welt zu kleiden, eröffnet er uns zugleich durch
-die Feststellung von Grenzen die Ahnung einer Welt, an die jene Träume
-sich ungestört heften dürfen. In dem Versagen jenes ersten Punctes muss
-er denn allerdings seine ganze Strenge walten lassen.
-
-Wohl eröffnet sich uns der tiefe Gedanke, dass unser Leben nicht
-das Absolute, nicht Leben im eigentlicheren Sinne sei, sondern nur
-ein seltsamer Traum, ein Wandelbild, das an uns vorüberzieht, wohl
-mögen wir zugeben, dass der Tod nur eine Episode in diesem Bilde,
-kein wirklicher Abschluss sei. Aber das ist auch nun von der andern
-Seite wieder alles. Jene wahre Welt greift nicht als fremder Gott in
-unsere Welt ein, weder in den Offenbarungen der Religion, noch den
-Geheimnissen des innersten Seelenlebens, noch auch in den Idealen der
-menschlichen Kunst. Es giebt keine Puncte im physischen Weltbilde, das
-wir vor uns sehen, wo wir der Welt an sich näher oder ferner wären;
-überall stossen wir bei einiger Durchdringung der Erscheinungen auf die
-ewige Schranke.
-
-Gleichwohl -- selbst mit all' diesem Vorbehalt -- scheint mir
-der Poesie vor allem eine mächtige Stütze in dieser Fassung des
-Unsterblichkeitsgedankens zu liegen. Für sie, die stets das Ganze, das
-Allgemeine im Auge hat, ist das Resultat des Naturforschers, das hinter
-der physischen Welt eine andere, wenn auch unbekannte, nachweist,
-ein gewaltiger Gewinn. Dem Irdischen, das in ungelösten Conflicten
-auseinandergeht, wahrt sie die Fernsicht in ein Zweites, das dahinter
-liegt und das zugleich unsere Erkenntnissschwäche, wie unsere Hoffnung
-einschliesst. Nur wenn sich die Poesie frei macht von dem gewöhnlichen,
-physischen Unsterblichkeitsglauben und, der Wissenschaft folgend,
-sich zu dem wahrhaft philosophischen Gedanken erhebt, dass diese
-Erscheinungen des Lebens, wie des Todes überhaupt nicht das wahre Wesen
-der Sache, sondern nur das getrübte Bild, wie es unser Gehirn im Zwange
-fester Ursachen schafft, darstellen -- nur dann kann sie mit gutem
-Gewissen wieder gelegentlich den Schmerz der Tragödie mildern durch ein
-weises Betonen des tröstenden Gedankens, dass weder mit dem Leben, noch
-mit dem Tode, weder mit menschlichem Glücke noch menschlichem Unglücke
-»Alles aus sei.« Und es ist dann sehr einerlei, ob sie mit Hamlet bloss
-unser Nichtwissen in die geheimnissschweren Worte kleidet: »Der Rest
-ist Schweigen,« oder ob sie in sieghaftem Vertrauen emporjubelt mit dem
-Götheschen Chor: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniss!«
-
-
-
-
-Viertes Capitel.
-
-Liebe.
-
-
-Weit ab von jenen geheimnissvollen Schranken des irdischen Geschehens,
-die wir im letzten Capitel berührten, liegt mitten im Centrum der
-molecularen Welt der unscheinbare Ursprung dessen, was unter dem
-Flammenzeichen des stolzen Namens »Liebe« sich zum mächtigsten
-Herrscher im Gesammtbereiche der Poesie aufgerungen hat. Das Wort
-Unsterblichkeit mit seinem Echo in den Gründen, »von wo kein Wandrer
-wiederkehrt,« muss seiner Natur nach den menschlichen Gedanken bis zu
-jenen Grenzen führen, die dem Forscher gestellt sind; das Wort Liebe,
-und mag das noch so hart hineintönen in alle unklaren Träumerseelen,
-bedeutet in seiner Quelle, seinem Verlauf und seinen Zielen eine
-durchaus irdische Erscheinung.
-
-Der Naturforscher, von dem der gewissenhafte Dichter Aufschluss
-verlangt über die Resultate seiner unbefangenen Forschung nach der
-Natur der Liebesempfindung, ist gezwungen, den Fragenden vor die
-Anfänge jener ungeheuren Kette zu stellen, die wir zusammenfassend
-die organische Welt nennen. Tief unten an den Wurzeln dieses riesigen
-Lebensbaumes zeigt er ihm die einfache Zelle, ein selbstständiges
-Wesen, nicht Thier noch Pflanze -- einen Crystall aus gleichem Stoffe
-geformt wie alle andern, aber von allen ewig geschieden durch die
-Besonderheit seiner molecularen Zusammensetzung. Gesetze, ihrem Wesen
-nach unbekannt, wie jene, die den crystallinischen Sprösslingen irgend
-einer Mutterlauge alltäglich vor unsern Augen jenes mathematisch
-starre Gefüge geben, das jeder Mineraliensammlung den allgemein
-bekannten Charakter verleiht, ermöglichen dieser organischen Zelle eine
-bestimmte Art von Aufnahme fremder Stoffe, die sie wachsen lassen,
-und eine Zertheilung in zwei oder mehrere Individuen vom Puncte an,
-wo dieses Wachsthum einen gewissen, nicht näher definirbaren Zustand
-der Reife erlangt hat. Wir kennen heute noch Geschöpfe solcher
-einfachsten Art, deren Leben in den beiden Processen des Wachsens
-durch Nahrungsaufnahme, das durch das Vermögen der Ortsbewegung
-unterstützt werden kann, und des Zerfallens in eine Anzahl neuer,
-kleiner Individuen, bei denen sich dasselbe wiederholt, erschöpft zu
-sein scheint. Die höchste Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass sie
-unveränderte Nachkommen uralter Formen sind, aus denen sich an andern
-Stellen durch Umwandlung die gesammte Linie der höheren Organismen
-entwickelt hat. Der Begriff der Fortpflanzung bedeutet hier einfach,
-wie bei Mutter und Kind: Trennung. Von Liebe, von einer Vereinigung
-zweier Individuen ist noch keine Rede. Aber in dieser Trennung liegt
-bereits der erste Schritt zum Kommenden. Gewisse äussere Ursachen,
-die im Princip jedenfalls am Besten in dem Darwin'schen Gedanken von
-der umwandelnden Macht des Kampfes um's Dasein, der kleinste chemisch
-und physicalisch bedingte individuelle Neigungen im bestehenden Typus
-zu grossen Verwandlungen heraufzüchtet, ausgesprochen sind, führten
-nämlich im Laufe der Zeit eine Fortentwickelung unter den einzelligen
-Wesen herbei. Die einfache Zelle zerfiel unter Umständen in ein Dutzend
-Tochterzellen. Anstatt sich nun nach allen Richtungen zu zerstreuen,
-konnte es für diese nützlich werden, beisammen zu bleiben. Wir sehen
-ein Conglomerat von Zellen einer einzigen Generation, die sich wie die
-Haut einer Blase um einen hohlen Mittelraum gruppiren und als Ganzes
-in einfachster Form das Schema eines thierischen Körpers bilden.
-Zwischen den Zellen entwickelt sich ein Gefühl der Gemeinschaft -- der
-Freundschaft, wenn man so will. Aus der Generation von Zellen wird ein
-Zellenstaat, in dem die Mitglieder, selbst Sprösslinge einer Einheit,
-sich gewissermassen zu einer neuen, höheren Einheit zusammenthun.
-Sehr bald entwickelt sich Arbeitstheilung. Da die Nahrungssäfte durch
-die dünnen Zellwände hindurch bei näherem Aneinanderschliessen auf
-Grund physikalischer Gesetze frei circuliren, können sich einige
-wenige Zellen, indem sie alle Kraft darauf verwenden, ganz der
-Nahrungsaufnahme widmen und den übrigen die motorischen und sensitiven
-Eigenschaften überlassen. Durch diese Theilung der Functionen entstehen
-Organe, das heisst bestimmte Ecken des Zellenstaates, wo Zellen bloss
-noch für eine einzige Function thätig sind, diese aber so intensiv
-betreiben, dass sie für alle andern mit genügt. Am Ende ist ein
-höchst verwickelter Organismus geschaffen, dessen Theile nur mehr
-in der Gesammtmasse existiren können, so dass der Zellenstaat ein
-einheitliches Wesen, ein wahres Individuum wird. Die Frage ist: wie
-wird die Fortpflanzung dieser complicirten Maschine vor sich gehen?
-Das Zerfallen in neue Individuen war eine Function der Einzelzelle.
-Im Zellenstaat hat diese sich bei der allgemeinen Arbeitstheilung
-ebenfalls derartig in gewissen Zellen localisirt, dass nur noch diese
-zerfallen und Abkömmlinge des Ganzen in Gestalt einzelner Zellen
-entsenden. Von diesen Tochterzellen gründet später jede ihren neuen
-Staat für sich, indem sie den alten Weg der Selbsttheilung einschlägt
-und aus den Theilchen den Staat hervorgehen lässt. Der Vorgang ist
-jetzt complicirter, aber noch immer behauptet die Trennung allein ihr
-Recht, wo es sich um Fortpflanzung handelt. Erst die nächste Stufe
-erweitert sie zu etwas Neuem. Allenthalben bestehen Zellengemeinden,
-die kleine Einzelzellchen als Sprösslinge aussenden. Es ereignet sich,
-dass zwei dieser Sprösslinge -- zwei von verschiedenen Gemeinden -- auf
-einander stossen, sich vermischen. Jeder trägt das Bestreben in sich,
-durch Selbsttheilung einen neuen Staat zu gründen. Indem das Bestreben
-der Beiden sich vermischt, entsteht ein gemeinsamer Bau von doppelt
-starken Dimensionen. Wieder treten Gesetze in Kraft, die den Vortheil
-nicht verloren gehen lassen, es bildet sich bei einem grossen Theile
-der Zellenstaaten allmählich das Bestreben aus, seine Sprösslinge alle
-sich mit je einem Sprössling eines andern vermischen zu lassen, um dem
-künftigen Neubau eine Doppelbasis von verstärkter Kraft zu geben. Die
-Trennung des Keims vom Mutterorganismus bleibt nach wie vor; aber es
-folgt ihr eine Mischung, eine Vereinigung, ehe ein neuer Organismus
-entstehen kann.
-
-Inzwischen, während dieser letzte Fortschritt sich anbahnte, hat
-die Arbeitstheilung und Organisation in den einzelnen Zellenstaaten
-colossale Entwickelungen durchgemacht. Es giebt Zellstaaten, die aus
-Millionen einzelner Zellen bestehen, welche sich um die verschiedensten
-Hohlräume in mehrschichtigen Blasen gruppiren, und jeder Keimzelle
-wird durch bestimmte Vererbungsgesetze auferlegt, nach Verschmelzung
-mit einer solchen eines andern gleichartigen Staates ein Gebäude
-aufzuführen, das nach Kräften dem Mutterstaate gleichen muss. Indessen:
-die Welt ist gross, die gleichartigen Staaten sind oft weit von
-einander entfernt, die frei ausschwärmenden Keimzellen finden sich
-oft nicht zueinander. Es bahnt sich ein neuer Fortschritt an. Wie
-einst jene ersten Tochterzellen in einem Gefühle von Zugehörigkeit,
-von Freundschaft beisammen blieben und den Zellenstaat gründeten,
-so vereinigen sich jetzt je zwei Zellenstaaten -- nicht um ganz
-zu verwachsen, sondern bloss, um ihren Keimzellen durch möglichst
-günstige locale Bedingungen das Verschmelzen zu erleichtern. Sie
-treten von Zeit zu Zeit nahe zusammen, und der eine entsendet seine
-Fortpflanzungszellen in einen der geschützten Hohlräume im Innern
-des andern, wo sie sich ungestört mit den Keimzellen dieses letztern
-verbinden können, um ihr Verschmelzungsproduct nachher von dort aus
-in's Freie treten zu lassen.
-
-Der Laie, dem diese Dinge neu sind, denkt vielleicht, der
-Naturforscher, indem er die letzte Stufe der Zellenentwickelung
-schildert, stehe noch immer bei grauen Urzeiten. In Wahrheit sind
-wir bereits am Ziel. Der Mensch ist der höchste und vollendetste
-Zellenstaat der zuletzt besprochenen Art; und zwar ist der Mann der
-eine, das Weib der andere. Indem sie sich geschlechtlich nähern,
-vermischt sich eine Keimzelle des Mannes, die Samenzelle, mit einer
-Keimzelle des Weibes, der Eizelle, in geschütztem Hohlraum des
-weiblichen Körpers, aus der Mischung der beiden Zellen entsteht
-der neue Zellenstaat des kindlichen Organismus, der später aus dem
-bergenden Leibe des Mutterstaates an's Licht des Tages tritt, um sich
-hier fertig auszugestalten. Bei allen Verwickelungen des Details
-geht durch den ganzen Zeugungsprocess ein Athem staunenswerthester
-Einfachheit, ein Zurückgehen auf die ursprünglichsten Erscheinungen
-des organischen Lebens. In jenen beiden Keimzellen, der Samen- und der
-Eizelle, wird der werdende Organismus unter dem Bilde der anfänglichen
-Einzelzelle, des Urwesens, von dem die ganze Kette abstammt, wieder
-angelegt, und indem der wachsende Embryo sich aus ihnen formt,
-durchläuft er noch einmal die wichtigsten Stufen der ganzen Ahnenreihe
-in traumhaft verschwommenem Fluge. Noch einmal scheint die Natur
-sich durchzutasten durch die unzähligen Erinnerungen des organischen
-Stammbaums, über dessen einstigen lebenden Vertretern jetzt bereits der
-Sedimentärschutt vieler Jahrmillionen versteinernd lastet. Endlich wird
-der Mensch. Aber auch in ihm mischen sich Vater und Mutter noch immer
-so seltsam, dass man den doppelten Ursprung ahnen kann, selbst wenn wir
-vom Zeugungsacte gar keine Vorstellung hätten, die Eizelle des Weibes
-und die Samenzelle des Mannes nie im Lichtfelde unseres Mikroskops
-erschienen wären.
-
-Geheimnisse für den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft giebt es
-hier im Einzelnen die Menge, Metaphysik gar nicht. Der Parallelismus
-des Psychischen und Molecularen wahrt seine gewöhnliche Rolle, das
-Geistige zeigt sich durchaus in stufenweisem Aufbau, je nach der
-Entwicklungshöhe des Körperlichen, und die menschlichen Seelenregungen
-äussern sich folgerichtig erst mit Vollendung des menschlichen
-Gehirns. Wer geneigt ist, den Schauer des Erhabenen besonders stark
-vor den Momenten der höchsten Vereinigung des Universellen und
-Geschichtlichen mit dem Individuellen und Vorübergehenden zu empfinden
-und dem Idealen die wissenschaftlich allein zulässige Bedeutung des
-Allgemeinen, über das Einzelne als höhere Einheit Hervorragenden zu
-geben, der wird in den gesammten Erscheinungen des Zeugungsprocesses
-eine hohe, vielleicht die allerhöchste ideale Erhebung des individuell
-Menschlichen erblicken müssen und ihnen gegenüber jene Regung stärker
-als irgendwo anders empfinden. Wir verdanken den Begleitungsphänomenen
-des Zeugungsgesetzes überhaupt, wenn nicht sogar den Sinn für
-Schönheit, so doch das Wichtigste, was wir schön nennen: die edeln
-Formen des Weibes in ihrer künstlerischen Gegensätzlichkeit zum Manne,
-die Farbenpracht der organischen Natur, deren Blüthen, Federn, Düfte in
-ihrer höchsten Entfaltung sämmtlich auf geschlechtlichen Beziehungen
-beruhen, die reichen Gaben des Gemüthes, die sich in der Gatten- und
-Elternliebe durch die höhere Thierwelt ziehen, um schliesslich in den
-verallgemeinernden Regungen des menschlichen Mitleids ihre höchsten
-Triumphe zu feiern.
-
-Unsere grossen Dichter haben sich dementsprechend auch niemals
-gescheut, von den natürlichen Acten der Zeugung als etwas Grossartigem
-und im eminenten Sinne Idealem unbefangen zu reden und den Satz
-aufrecht zu erhalten, dass wir es in ihnen keineswegs mit einem
-der Sittlichkeit als »Sinnlichkeit« feindselig gegenübergestellten
-Principe, sondern vielmehr mit der Basis aller Sittlichkeit zu thun
-haben. Ohne eine solche naturgemässe Grundidee wäre beispielsweise
-die Gretchentragödie des Faust, in der gerade die Tiefe und Wahrheit
-der Neigung bei dem Weibe, das geschlechtlich »Echte« das versöhnende
-Element für alle Verletzung der Sitte abgiebt, vollkommen widersinnig.
-Hier wie in andern poetischen Meisterwerken liegt der Nachdruck auf
-dem Satze: die Liebe +muss+ auf enge geschlechtliche Vereinigung
-als ihr natürliches Ziel hinauslaufen, wenn sie wahr sein soll --
-und wenn äussere Umstände gerade diese Wahrheit des Gefühls zur
-Tragödie gestalten, so ist sie selbst dann noch immer grösser als eine
-Unwahrheit im gleichen Falle wäre, so gut wie Wallenstein, obwohl er
-tragisch endet, grösser bleibt, als Einer, der in seiner Lage anders
-handelte; der ganze Begriff der Tragödie rankt sich eben um die
-Wahrheit auf.
-
-Diese Anschauungen unserer grossen Dichter, die viel genannt, aber
-weniger gelesen werden, sind jedoch keineswegs die gleichen wie die
-einer ungeheuren Masse kleiner Dichter, die weniger genannt, aber
-vermöge ihrer colossalen Menge weit mehr gelesen werden. Die Begriffe,
-die unser Publicum sich seit Jahrhunderten von der Bedeutung der
-geschlechtlichen Dinge für das unausgesetzt behandelte Thema der Liebe
-bildet, sind unter dem Einflusse dieser zweiten Sorte von Dichtern nach
-und nach ganz eigenthümliche geworden.
-
-Ich halte diesen Punct für lehrreich genug, um ein deutliches Beispiel
-für jene eigenartige Krankheitsgeschichte abzugeben, die sich unter
-dem Titel der sogenannten »rein idealistischen« Richtung durch die
-erotische Weltliteratur und wohl mit am ärgsten durch unsere neuere
-erotische Poesie zieht, eine Krankheitsgeschichte, die sich freilich,
-wie schon gesagt, zumeist nur an der breiten Masse der Dichterwerke
-bemerkbar macht, aber von hier aus schwere Ansteckungsstoffe in's
-Publicum verbreitet hat. Man wirft der modernen realistischen
-Richtung die Vorliebe für pathologische Probleme vor. Ich erlaube
-mir im Nachfolgenden, ein solches an einem ganzen Kreise poetischer
-Bestrebungen zu entwickeln, auf die Gefahr hin, jenem Vorwurfe zu
-verfallen. Ich schicke dabei voraus, dass ich keineswegs der Erste bin,
-der darauf hin weist, dass aber, wie so viele Fälle, die unmittelbar
-in's Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen naturwissenschaftlichem
-Denken und poetischem Schaffen gehören, auch dieser noch lange nicht
-eindringlich und oft genug öffentlich besprochen wird und darum in den
-Prämissen einer realistischen Aesthetik nicht fehlen darf.
-
-Nehmen wir einmal für einen heitern Moment an, es gäbe eine
-Dichterschule, die den kühnen Satz als poetisches Programm aufstellte,
-die physiologische Function der Nahrungsaufnahme im Menschen gehöre zu
-den höchsten und dankbarsten Vorwürfen der Poesie, und thatsächlich
-durch practische Werke ersten Ranges die Haltbarkeit dieses Programmes
-darthäte. Man müsste die Gründe prüfen, die jenem Unterfangen zu
-Grunde lägen und, wofern diese stichhaltig wären, sich darein finden
-und der Sache freuen. Jetzt aber käme eine Spaltung innerhalb der
-neuen Partei und es erhöben sich beredte Apostel, die Folgendes
-aufstellten. Das Essen selbst sei etwas Unschönes, Unappetitliches,
-wohl gar Unmoralisches, dürfe nur im Geheimen geübt werden, sei kein
-Gegenstand der Poesie. Ein poetisches Element stecke bloss im Hunger.
-Von unvergleichlichem dichterischen Werthe sei jener eigenartige
-nervöse Zustand des Gehirns bei leise dämmerndem Hungergefühl, jener
-Wechsel von geistigem Eifer und geistiger Abspannung in seinen tausend
-feinen Nuancen, wie er dem Mahle vorausgehe, bis zu jenen Anfällen
-von Raserei, von Hallucinationen und von völliger Lethargie, wie sie
-bei Verhungernden in der Wüste sich zeigten, oder dem Ekel vor aller
-Nahrungsaufnahme, der Blasirtheit im Puncte des Appetits, wie sie durch
-sonstige Störungen des Nervensystems hervorgebracht würden.
-
-Ich glaube, man würde, selbst das Ganze zugestanden, diese Sectirer der
-letztern Sorte für Narren erklären.
-
-Ich bin weit entfernt, diesen Titel auf alle Poeten anzuwenden, die
-das Liebesproblem nach derselben Seite hin einseitig gefasst haben,
-aber das Gefühl eines vollkommenen Parallelismus kann ich nicht
-opfern. Das natürliche Ziel der Liebesempfindung, so höre ich von
-allen Seiten, soll man in der Poesie verschleiern und beseitigen,
-die Empfindung selbst, die voraufgeht, verherrlichen. Ersteres soll
-etwas grob Sinnliches sein, letzteres etwas Geistiges. In der That,
-auch der Hunger ist scheinbar mehr ein nervösgeistiges Phänomen als
-das Zerkauen der Nahrung zwischen den Zähnen. Aber diese geistige
-Disposition ist, was beim Hunger kein kleines Kind je bezweifelt hat,
-doch unmittelbares Erzeugniss eines physiologischen Vorganges. Ganz
-so die Liebe. Es ist physiologisch sogar leichter, die Liebe aus dem
-Geschlechtsbedürfniss, als den Hunger aus dem leeren Magen abzuleiten.
-Erst von einem gewissen Alter ab entwickeln sich beim Menschen die
-mechanischen Bedingungen des Zeugungsactes; Hand in Hand mit dieser
-Entwickelung schreitet das allmähliche Erwachen und Functioniren des
-sexuellen Hauptcentrums im Gehirn vor, dessen Thätigkeit wir uns
-in der geistigen, nervösen Erscheinung des Liebesgefühls bewusst
-werden. Jüngling und Mädchen beginnen sich als etwas Gegensätzliches
-zu betrachten, das doch eine Vereinigung fordert, der Unterschied
-der Formen erweckt unklare Phantasiebilder, die durch individuelle
-Sympathieen meist sehr bald eine feste Gestalt annehmen, die
-Gestalt eines subjectiven Ideals, mit dem vorkommenden Falles die
-geschlechtliche Vereinigung grössern Reiz gewähren würde, als mit jedem
-zweiten Wesen des andern Geschlechtes.
-
-Gegen diese einfache, dem Thatsächlichen Rechnung tragende Auffassung
-der Liebe als Anregung einer gewissen Gehirnpartie in Folge eines dem
-Gesammtorganismus, dem Zellenstaate, erwachsenen Bedürfnisses erhebt
-sich aber jene andere Meinung mit erneuter Macht, indem sie das Wort
-»die Liebe ist etwas Geistiges« so gefasst haben will, dass darin noch
-etwas Besonderes stecken soll. Dieses Besondere aber, das meist nicht
-näher definirt, dafür aber desto mehr gepriesen und dem »Gemeinen«
-gegenüber gesetzt wird, stellt sich bei kritischer Zerlegung sehr
-leicht als ein Doppeltes heraus. Einmal ist es ein »Göttliches«, ein
-»göttlicher Funke«, der in der Liebe zum Ausdruck kommen soll, also ein
-Stück Metaphysik -- das andere Mal ein »Wahnsinn«, eine »zerstörende
-Macht«, also, physiologisch gesprochen, ein Stück Psychiatrie.
-Wer sich davon überzeugen will, ob diese Zerlegung des beliebten
-Begriffes richtig ist, der unterziehe sich der Aufgabe, aus einigen
-Dutzend Romanen und lyrischen Gedichtsammlungen der Alltagsmode die
-Phrasen herauszuschreiben, in denen der Autor selbst oder seine
-Haupthelden ihre Liebesgefühle definiren. Stets wird er das Entweder
--- Oder finden: die Liebe ist von Gott -- die Liebe ist Wahnsinn.
-Nur höchst selten wird er auch einmal verschämt angedeutet finden,
-dass die Liebe auf natürlichen Gesetzen und Functionen basirt, die
-ihre feste und geordnete Stellung im Zellenstaate des menschlichen
-Organismus einnehmen. Am »Göttlichen« in der Liebe zweifeln, ist für
-diese Poeten und ihre Verehrer gleichbedeutend mit äusserster Roheit
-und Gefühllosigkeit. Gleichwohl ist der realistische Aesthetiker, der
-auf naturwissenschaftlichem Boden steht, genöthigt, den Ausdruck für
-gänzlich werthlose Phrase zu erklären. Wenn »göttlich« so viel heissen
-will, wie in eminentem Sinne gemahnend an unsere Abhängigkeit von einer
-grossen Entwicklungswelle, an die Unterordnung des Subjectiven unter
-das Allgemeine, so kann man sich das Wort gefallen lassen für das
-eigentliche Ziel der Liebe, für die ganze Annäherung und Vereinigung
-der Geschlechter. Das angeblich Roheste und Gemeinste ist dann das
-hochgradig Göttlichste und die Verbindung von Mann und Weib in ihrer
-physiologischen Thatsächlichkeit der göttlichste, d. h. der Gottheit
-nächst stehende Act, den das individuelle Menschenleben überhaupt
-umschliesst. Die göttliche Mission des Weibes besteht dann in seiner
-Schönheit, die den Mann reizt -- die Liebe, mit der die Gatten einander
-begegnen, ist der höchste Gottesdienst. In solchem Sinne mag das Wort
-gelten. Aber diese Auslegung läuft dem gewöhnlichen Wortbegriffe
-schnurstracks entgegen. Andererseits die Liebe schlechthin als
-Wahnsinn zu bezeichnen, ist physiologisch eine Ungeheuerlichkeit. Das
-Geschlechtscentrum im geistigen Apparate des Menschen kann erkranken,
-das ist richtig. Die Liebe kann eine Verrücktheit werden, sie kann
-vermöge der Trennung von functionirendem Geschlechtsorgan und nervösem
-Gehirncentrum eine Geisteskrankheit werden, deren Wahngebilde jede
-Fühlung mit den wahren Zielen des natürlichen Triebes verlieren, so gut
-wie es psychiatrische Fälle giebt, in denen der Kranke jedes Gefühl
-für Nahrungsaufnahme verliert und ohne Hilfe bei normalem Munde und
-Magen verhungern würde. Diese sexuellen Geisteskrankheiten sind streng
-zu unterscheiden von den Krankheiten der sexuellen Functionsorgane.
-Sie treten zumeist als Folgen bereits vorhandener anderer Verbildungen
-des Gehirns auf. Seit uralten Zeiten sind sie eine Begleiterscheinung
-bestimmter Formen von religiösem Wahnsinn gewesen und lassen sich
-als solche durch die Geschichte der orientalischen Völker wie der
-abendländischen bis in's Mittelalter und bis auf den heutigen Tag
-verfolgen -- eine Aufgabe, der allerdings noch kein grosser Historiker
-sich im rechten Masse unterzogen hat. Sie treten ferner chronisch und
-wahrscheinlich sogar erblich bei Nationen auf, deren cerebrale Centra
-durch Ueberbildung und zwecklosen Luxus geschwächt und verdorben sind;
-dahin gehört die gesammte historische Entwickelung der Päderastie,
-bei deren Beurtheilung übrigens der moderne Rechtsstandpunct so wenig
-durch die Erkenntniss des Krankhaften verrückt wird, wie es durch
-die Leugnung der Willensfreiheit auf andern Gebieten geschieht.
-Selbst die einfache Einseitigkeit in der Anstrengung gewisser
-Gehirnpartieen beim vollkräftigen Genie besitzt meistens einen
-irgendwie schädigenden Einfluss auf die benachbarte sexuelle Gegend des
-nervösen Centralapparates, so dass die geschlechtlichen Neigungen sehr
-grosser Männer durchweg nicht als Muster des Normalen gelten können,
-äussere sich dieses Abweichen von der Linie nun in widernatürlicher
-Enthaltsamkeit oder unbändiger Ausschweifung.
-
-Aus allen diesen Einschränkungen ergiebt sich nun aber doch noch lange
-nicht die Krankhaftigkeit +aller+ Liebeserscheinungen. Die Liebe soll
-ein Zwang sein, der auf dem freien Bewusstsein lastet, der die Seele
-knechtet und zu Gemeinem treibt. Da liegt der fundamentale Irrthum.
-Um das freie Bewusstsein, die unabhängige göttliche Seele zu retten,
-erklärt man den einfachsten und logischsten Naturtrieb für eine
-unwürdige Fessel, die uns an's Gemeine kettet. Hier, wie bei dem andern
-Falle liegen die Wurzeln im Metaphysischen, sagen wir immerhin, da wir
-von modernen Dichtern sprechen: im Christlichen. Die künstliche Seele,
-die uns diese religiösen Anschauungen in den Menschen hineingedacht
-haben, empfindet schliesslich die ganze Natur, auch wo sie heiter und
-glücklich macht, als Zwang. Der Zeugungsact verwandelt sich ihr, obwohl
-von anderem Standpuncte, von anderer cerebraler Verbildung aus, als
-bei dem sexuell erkrankten Don Juan oder dem geschlechtlich complet
-wahnsinnigen alten Griechen, in ein leeres Spiel, eine Dummheit, von
-der wir uns frei machen möchten. Das fällt aber selbst bereits in's
-Gebiet der sexuellen Gehirnkrankheit.
-
-Der einfache Schluss ergiebt sich: jene ganze Literatur, die in guten
-oder schlechten Versen, reiner oder fehlerhafter Prosa uns unablässig
-von dem Dämon der Liebe, von der Knechtung unter das Joch Amors
-seufzt und die reine, heilige, göttliche Minne preist -- jene ganze
-Literatur ist Product einer mehr oder minder entwickelten sexuellen
-Gehirnschwächung, die täglich weiter um sich greift, je mehr Menschen
-mit empfänglichem, für die Gewohnheitslinien des Unterrichts geebnetem
-Gehirn jene Literatur lesen und wieder lesen. Ein schwererer Vorwurf
-kann meines Erachtens gegen eine ganze Richtung der Poesie nicht
-wohl erhoben werden. Die nothwendige practische Folge ist, dass eine
-Scheidung entsteht zwischen der gewöhnlichen, normalen Liebe, der
-sogenannten hausbackenen, und jenem metaphysisch verbildeten, in
-lauter Jammer und Träumen dahinsiechenden Zerrbilde der Liebe, das
-Roman, Drama und Lyrik allerorten predigen. Der gesunde Spiessbürger,
-der seine Gehirncentra noch in erfreulicher Ordnung beisammen hat,
-unterscheidet schliesslich mit sicherm Gefühl die »Liebe, wie sie im
-Leben vorkommt« von der »Liebe in Büchern und Theaterstücken«, und der
-junge Mann oder das junge Mädchen, die sich schon in unreifen Jahren
-durch das beständige Hören und Lesen in letztere zuerst hineinhimmeln,
-sehen sich durchweg bei späterm, reifem Eintritt in das wirkliche
-Leben genöthigt, jenes erste Bild zwangsweise wieder aus dem Gehirn
-herauszuschaffen -- ein Process, der in nur zu vielen Fällen gar nicht
-mehr gelingt -- so wenig, wie ein Kind, das man an Morphium gewöhnt
-hat, später noch normal einschlafen kann. Wer nicht blind ist, muss
-einsehen, dass wir hier dem vollkommenen Bankerotte der erotischen
-Poesie entgegensteuern, denn was sich vom Normalen derartig trennt,
-muss über kurz oder lang nothwendig gewaltsam unterdrückt werden.
-Anstatt aber Hilfe zu schaffen, wüthet man vielmehr gegen jede Sorte
-von Schriftstellern, die der Liebe in ihren Dichtungen wieder zu einem
-natürlichen Boden verhelfen möchten. Es ist eine höchst traurige
-Erscheinung, wie dabei alles durcheinander geworfen wird. Männer, die
-mit Bewusstsein daran gehen, die Kehrseite der echten Liebe in den
-krankhaften Entartungen zu schildern, stellt man ganz unbefangen neben
-oder unter solche, die selbst im Banne sexueller Gehirnaffectionen
-stehen und ihre Bücher mit den unlogischen Gebilden ihrer kranken
-Phantasie füllen, ohne ihre Abirrung vom Normalen selbst zu empfinden.
-Gewiss sind auch jene bewussten Studien über das Abnorme mehr oder
-weniger eine unerfreuliche Lectüre und gewinnen höchstens durch
-den Contrast, den das Logische und Helle der wahren Liebe selbst
-unausgesprochen gegen alle diese Fratzen und Verirrungen bildet. Aber
-welcher unendliche Fortschritt liegt schon allein in dem Bewusstsein,
-wie es Zola's Nana oder Daudet's Sappho vertreten -- dem schneidig
-scharfen Bewusstsein, dass wir es hier mit kranken Menschen zu thun
-haben, mit krankhaften Situationen, krankhaften Verwickelungen. Von der
-Erkenntniss des Falschen, Ungesunden zur Erkenntniss des Wahren und
-Gesunden ist aber nur ein Schritt. Jene Schriftsteller, die vor unsern
-Augen sich so eifrig mit dem Studium der entarteten Liebe befassen,
-bekunden bereits auf Schritt und Tritt eine weit tiefere Einsicht in
-das Gebiet des Normalen, wie hundert andere, die nach ihrer und ihrer
-Leser Meinung niemals die Linie des Erhabenen auf erotischem Gebiete
-verlassen haben. Eine zukünftige Poesie, die sich an die Ersteren
-anlehnt, ohne ihnen auf ihr Specialgebiet zu folgen, wird das Grösste
-zu leisten im Stande sein. Wir wollen übrigens darin Gerechtigkeit
-walten lassen, dass wir unsern Poeten, die theils unbefangen, theils
-mit kritischem Bewusstsein immerfort das Krankhafte in der Liebe
-schildern, nicht die ganze Schuld daran aufbürden. Die Poesie --
-wenigstens die unbefangene -- hilft zwar das Gift weiterverbreiten,
-aber sie empfängt es auch unablässig aus dem Leben zurück. Eine
-ungeheure Masse falscher Sentimentalität, künstlicher Gefühle,
-moralischer Unnatur belastet unser ganzes modernes Liebesleben. Freytag
-hat gelegentlich in seinem Romane von der verlorenen Handschrift ein
-anmuthiges Bildchen vom deutschen Mädchen entworfen, wie es unsere
-Bildung in unsern Städten heranbildet. Das Bild ist anmuthig geblieben,
-weil der Kern in diesem einzelnen Mädchen durch und durch gesunde
-Erbschaft war und das Sentimentale sich bloss in einer Form darüber
-ranken konnte, die dem Humor Stoff bot, aber ohne ernste Folgen
-blieb. Leider ist dieses Bild schon nicht mehr überall das Typische.
-Eine widerwärtige Sentimentalität greift wie ein schleichendes Gift
-allenthalben um sich und zeitigt ein Geschlecht von Menschenkindern,
-in deren Empfindungen so wenig waschechte Natur steckt, wie auf den
-Wangen einer Pariser Ballschönheit. Es ist vor allen Dingen Mission
-der Poesie, die hier viel gesündigt und viel gelitten, mit festem
-Muthe sich mehr und mehr dem Modegeschmacke entgegenzustellen. Sie
-kann es aber nur, indem sie echt realistisch wird, das heisst: sich
-an die Natur anlehnt. Der einfache Realismus, der den Menschen die
-wahren Kleider des Lebens anzieht, ist noch lange nicht ausreichend
-zum wirklichen Zweck. Es gilt tiefer zu gehen und die Welt wieder an
-den Gedanken zu gewöhnen, den sie durch Metaphysik, Sentimentalität
-und Katzenjammer so vielfach verloren: dass die Liebe weder etwas
-überirdisch Göttliches, noch etwas Verrücktes und Teuflisches, dass
-sie weder ein Traum, noch eine Gemeinheit sei, sondern diejenige
-Erscheinung des menschlichen Geisteslebens darstelle, die den Menschen
-mit Bewusstsein zu der folgenreichsten und tiefsten aller physischen
-Functionen hinleitet, zum Zeugungsacte. Damit eine derartige Rolle für
-die Poesie aber ermöglicht werde, ist es allererste Bedingung für den
-realistischen Dichter, sich über die näheren Puncte der physiologischen
-Basis des Liebesgefühls zu unterrichten. Nur eine strenge Beobachtung
-der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen in seinen verschiedenen
-Phasen kann zu neuen Zielen führen. Das erfordert freilich auch an
-dieser Stelle wieder harte Arbeit für den Poeten. Das leichte Fabuliren
-von den lustigen oder bösen Abenteuern verliebter Seelchen hört dabei
-auf, und der Dichter wird nothgedrungen sogar hin und wieder Pfade
-wandeln müssen, wo die landläufige Moral erschreckt zurückschaudert.
-Wer dazu nicht das Zeug in sich fühlt, der soll dem Liebesproblem fern
-bleiben; besser gar keine Liebesgeschichten mehr, als jene gefälschten;
-denn der Dichter mag lügen, wo er Lust hat -- es ist alles harmlos
-gegen das Lügen auf erotischem Gebiete, dessen Folgen bei dem von
-Natur gesetzten Nachahmungs- und Gewohnheitstriebe des menschlichen
-Geistes unmittelbar in's practische Leben hineingreifen. Ich nehme
-keinen Anstand, zu behaupten, dass wir überhaupt eine erschöpfende
-dichterische Darstellung des ganzen normalen Liebeslebens in Weib und
-Mann von seinen ersten Keimen bis zur reifen Mitte und wiederum abwärts
-bis zum langsamen Versiegen im alternden Organismus in der gesammten
-Weltliteratur noch nicht besitzen. Zola hat in seinem geistvollen und
-tiefen Romane »La joie de vivre« wenigstens gelegentlich einmal den
-Versuch gemacht, an einem gesunden weiblichen Typus ein vollkommen
-plastisches Bild zu entwickeln; aber bei seiner Neigung für das
-Pathologische, die ihm nun einmal im Blute steckt, ist das Ganze
-nach meisterhafter Anlage schliesslich doch einseitig und ohne die
-natürliche Versöhnung ausgelaufen. Was ich fordere, ist noch weitaus
-mehr. Ich fordere neben vollkommen scharfer Beobachtung eine bestimmte
-Tendenz. Man rede mir nicht davon, die realistische Dichtung müsse sich
-ganz frei machen von jeder Tendenz. Ihre Tendenz ist die Richtung auf
-das Normale, das Natürliche, das bewusst Gesetzmässige. Die Poesie hat
-mit wenigen, allerdings sehr hoch stehenden Ausnahmen bisher zu allen
-Sorten abnormer Liebe erzogen. Sie muss in Zukunft versuchen, dem Leser
-gerade das Normale als das im eminenten Sinne Ideale, Anzustrebende
-auszumalen. Nur dann giebt es noch einen Aufschwung in der erotischen
-Poesie. Der vermessene Ausspruch muss mit Macht widerlegt werden: das
-Gewöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spiessbürger auch erlebt,
-wenn er gesund ist, sei zu gering für den edeln Schwung der Poesie.
-Das ist die schwerste Unwahrheit, die je Geltung gewonnen hat in der
-Literatur. Ihre Folge ist gewesen, dass wir hunderttausend Bände über
-eine sentimentale, nervös überspannte Liebe und eben so viele über eine
-unter alles Natürliche herabgesunkene Liebe besitzen -- eine Literatur
-voller Göttinnen und Cocotten, aber ohne Normalmenschen.
-
-Unwillkürlich, indem ich dieses schreibe, schweift mein Blick in
-entlegene Tage hinüber. Wunderbare Gleichförmigkeit der auf- und
-niedersteigenden Wellen im Laufe der Culturgeschichte! Derselbe
-Gedanke, der uns heute zu so herbem Urtheile über eine grosse Masse
-der vorhandenen Poesie treibt, den wir als neue Frucht vom ewig
-fortgrünenden Baume der Erkenntniss zu pflücken glauben: er lebte in
-Cervantes schon, als er Don Quixote's Freunde die geistverderbenden
-Ritterromane zum Flammentode verdammen liess.
-
-Wann erstehen unserer Zeit die treuen Freunde, die sie von ihren
-gefährlichen Lieblingen erlösen?
-
-
-
-
-Fünftes Capitel.
-
-Das realistische Ideal.
-
-
-Ist es mehr als ein Wortspiel, ein heiteres Paradoxon, was in den
-beiden Worten der Ueberschrift liegt? Kennt der Realismus ein Ideal?
-Giebt es etwas derart in all' den Gigantomachieen des modernen
-realistischen Romans, diesen wilden Büchern, in denen der Mensch
-hoffnungslos ringt mit zerstörenden Gewalten, mit den zermalmenden
-Gespenstern der Vergangenheit, mit den rohen Naturmächten einer blinden
-mechanischen Weltordnung, in diesem öden Lande, das keine Götter mehr
-kennt, keine Freiheit des Willens, keine Unsterblichkeit im alten
-Sinne, keine von allen Banden der gemeinen Natur erlöste Liebe?
-
-Es wäre vielleicht angemessener gewesen, diese Frage zu allererst
-aufzuwerfen, ehe wir uns der Mühe unterzogen, jene einzelnen Puncte
-näher zu prüfen. Ich habe gleichwohl den umgekehrten Weg gewählt.
-Anstatt das Wort »Ideal« unmittelbar mit seinem Vollgewicht in die
-Rechnung einzusetzen, habe ich mich bemüht, den Leser selbst mehr
-und mehr dem Begriffe nahe zu bringen, der nach meiner Ansicht sich
-innerhalb des Realismus allein noch mit jenem stolzen Worte deckt. Wer
-mir genau gefolgt ist, kann nicht mehr im Zweifel darüber sein.
-
-Wir haben gebrochen mit der Metaphysik. Jenseits unseres Erkennens
-liegt eine andere Welt, aber wir wissen nichts von ihr; unser Ideal,
-so fern es eine lebendige Macht sein soll, muss irdisch, muss ein
-Theil von uns sein, muss der Welt angehören, die wir bewohnen, die in
-uns lebt und webt. Wir haben gebrochen mit den heitern Kinderträumen
-von Willensfreiheit, von Unsterblichkeit der Seelen in den Grenzen
-unseres Denkens, von einer göttlichen Liebe, die ein anderes, als das
-natürliche Dasein lebt. Unser Weg geht aufwärts zwischen zerborstenen
-Tempelsäulen, zwischen versiegenden Quellen, zwischen verdorrendem
-Laub. Wir wissen jetzt, dass unsere Visionen, unsere Prophetenstimmen,
-unsere leidenschaftlich schmachtenden und schwelgenden Gefühle nichts
-besseres waren, als Krankheit, Delirien des Fiebertraums, dämmernde
-Nacht des klaren Geisteslichts. Nun denn: wenn dem allem so ist,
-das Ideale geben wir damit doch nicht auf. Wenn es nicht mehr der
-Abglanz des Göttlichen sein darf, so ist ihm darum nicht benommen,
-die Blüthe des Irdischen zu sein, die tiefste, reinste Summe, die der
-Mensch ziehen kann aus allem, was er sieht, all' dem Unermesslichen,
-was sich in der Natur, in der Geschichte, in allem Erkennbaren ihm
-darbietet. Wenn er den Blick schweifen lässt über diese ganze Erde,
-über sein ganzes Geistesreich, so sieht er im Grunde all' dieser
-wechselnden Formen ein einziges grosses Princip, nach dem alles
-strebt, alles ringt: das gesicherte Gleichmass, die fest in beiden
-Schaalen schwebende Wage, den Zustand des Normalen, die Gesundheit.
-Ganz vollkommen erfüllt ist dieses Princip allerdings nirgendwo. Aber
-es schwebt über Allem als das ewige Ziel, niemals ganz realisirt,
-aber darum doch die unablässige Hoffnung des Realen. Es giebt nur
-einen Namen für dieses Princip, er lautet: Ideal. Vor diesem Ideale
-schwindet jeder Unterschied des Bewussten und Mechanischen in der
-Natur. Der Mensch, indem er sich seiner bewusst wird im Triebe nach
-Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben des Zuerkannten, theilt
-nur den innern Wunsch, der allem Spiel molecularer Kräfte zu Grunde
-liegt. Das letzte Ziel des grandiosen Daseinskampfes, der zwischen
-den frei schwebenden Himmelskörpern wie zwischen den Elementen auf
-Erden, zwischen den einfachen chemischen Stoffen wie zwischen den
-geheimnissvollen Bildungen des organischen Lebens tobt, ist nichts
-anderes, als der dauernde Wohlstand von Generationen, die in Einklang
-mit der Umgebung gelangt sind. In diesem Sinne ist die Natur selbst
-erfüllt von einer tiefen, zwangsweisen Idealität, und wo ihre volle
-Entfaltung zu Tage tritt, äussert sich diese in der höchsten Annäherung
-an das ideale Princip des grösstmöglichen Glückes der Gesammtheit,
-an dem jedes Individuum seinen Antheil hat. Dunkel, wie der ganze
-Untergrund der grossen Daseinswelle, in der wir leben, für unsere
-Erkenntniss bleibt, ist die ideale Richtung auf das Harmonische, nach
-allen Seiten Festgefügte, in seiner Existenz Glückliche und Normale
-überhaupt die einzige feste Linie, die wir durch das ganze Weltsystem
-verfolgen können. Es ist die einzige treibende Idee, die aus dem
-ungeheuren Wirrsal des Geschehens einigermassen deutlich hervortritt,
-von der wir sagen können: sie verkörpert ein Ziel, einen Endpunct. Die
-weiteren philosophischen Träumereien, ob man sich die Welt denken solle
-als etwas ursprünglich Gutes, das schlecht geworden und nun im Banne
-eines metaphysischen Willens wieder zum Anfänglichen zurückstrebe --
-ob das absolute Glück denkbar sei als absolute Ruhe oder harmonische
-Bewegung -- das alles geht mich hierbei herzlich wenig an.
-
-Ich wahre durchaus den Standpunct des Naturforschers. Wenn aber ein
-derartiges ideales Princip sich von diesem aus für die ganze sichtbare
-Welt ergiebt, so hat auch der realistische Dichter ein Recht, sich
-seiner zu bemächtigen, es als »Tendenz« in seinen Dichtungen erscheinen
-zu lassen. Tendenz zum Harmonischen, Gesunden, Glücklichen: -- -- --
-was will man mehr von der Kunst? Giebt es einen besseren Boden für
-die Aesthetik, um ihren menschlichen Begriff des Schönen darauf zu
-bauen? Es ist hier nicht meine Aufgabe, zu zeigen, wie dieser Begriff
-des Schönen selbst sich im Einzelnen aus dem Begriffe des Normalen,
-Gesunden entwickelt, ich beschränke mich auf die Grundlagen. Es wird
-nicht Wenigen so vorkommen, als sinke die realistische Dichtung
-durch Anerkennung jener Tendenz von ihrer hohen Sonderstellung jäh
-wieder herab zum Gewöhnlichen. Wenn die Tendenz zum Glücke wieder
-oben anstehen soll, so hat ja auch der billigste Liebesroman, dessen
-einziges Ziel ist, dass »sie sich bekommen«, das Recht der Existenz
-damit zurück erhalten. In Wahrheit will das nichts heissen. Der
-realistische Dichter soll das Leben schildern, wie es ist. Im Leben
-waltet die Tendenz zum Glück, zur Gesundheit als Wunsch, nicht als
-absolute Erfüllung. Das wird der Dichter durchaus anerkennen müssen.
-Er wird sich stets fernhalten von dem Unterfangen, uns die Welt
-als ein heiteres Theater darzustellen, wo alle Conflicte zum Guten
-auslaufen. Eine unerbittliche Nothwendigkeit wird ihn zu den schärfsten
-Consequenzen zwingen, und wenn er, was nicht zu vermeiden, das
-Ungesunde in sein Experiment hineinzieht, so ist er verpflichtet, es in
-seinem ganzen Umfange zur folgerichtigen Entwicklung zu bringen. Seiner
-Tendenz dient er dann eben bloss im Negativen, im Contraste.
-
-Im Allgemeinen kann ich auch hier nur wiederholen, was bereits
-öfter gesagt ist: der Realismus hat gar kein Interesse daran,
-allenthalben mit der Prätention des durchaus »Neuen« aufzutreten. Seine
-wesentlichste Mission ist, zu zeigen, dass Wissenschaft und Poesie
-keine principiellen Gegner zu sein brauchen. Das kann aber ebenso
-gut geschehen, indem wir wissenschaftlichen Factoren in der Dichtung
-zu ihrem Rechte verhelfen, wie gelegentlichen Falles auch, indem wir
-einen Zug zum Idealen in der Wissenschaft nachweisen. Nur allein das
-Metaphysische muss uns fern bleiben. Das Streben nach harmonischem
-Ausgleich der Kräfte, nach dauerndem Glück ist in jeder Faser etwas
-Irdisches. Hier auf Erden ringt der Einzelne nach Seligkeit, hier
-auf Erden pflanzen wir in heiterem Bewusstsein Keime zum Segen der
-kommenden Geschlechter. Die dunkle Welt des Metaphysischen sagt hier
-nichts, hilft nichts, hindert nichts; sie kann, wie ich das ausgeführt
-habe, einen tröstenden Gedanken abgeben beim Tode; an Glück und Unglück
-im Leben ändert sie nichts.
-
-Jene Schule des Realismus, die gegenwärtig so viel Staub aufwirbelt,
-hat uns mit beharrlichem Bemühen in einer langen Reihe von
-psychologischen Gemälden mit dem traurigen Bankerotte des menschlichen
-Glücksgefühls in Folge krankhafter Verbildung bekannt zu machen
-gesucht. Ich erwarte eine neue Literatur, die uns mit derselben Schärfe
-das Gegenstück, den Sieg des Glückes in Folge wachsender, durch
-Generationen vererbter Gesundheit, in Folge fördernder Verknüpfung des
-schwachen Individuellen mit einem starken Allgemeinen in Vergangenheit
-und Gegenwart vorführen soll. Auch dafür giebt es Stoff genug in der
-Welt, und zwar ist das gerade der Stoff, der in eminentem Sinne das
-Ideale in der natürlichen Entwickelung darlegen wird. Das Ideale, von
-dem wir nach Vernichtung so vieler Illusionen noch zu reden wagen,
-liegt nicht hinter uns wie das Paradies der Christen, nicht nach
-unserer individuellen Existenz in einer persönlichen Fortdauer im
-Sinne der Jünger Mohammeds, nicht ganz ausserhalb des practischen
-Lebens in den Träumen des Genies, des Poeten: es liegt vor uns in der
-Weise, dass wir selbst unablässig danach streben und in diesem Streben
-zugleich das Wohl unserer Nachkommen, die Erfüllung derselben im
-Ideale anbahnen helfen. Das soll uns die Dichtung zeigen. Idealisiren
-muss für sie nicht heissen, die realen Dinge versetzen mit einem
-Phantasiestoffe, einem narkotischen Mittel, das Alles rosig macht, aber
-in seinen schliesslichen Folgen unabänderlich ein Gift bleibt, das
-den normalen Körper zerstört -- sondern es muss heissen, den idealen
-Faden, den fortwirkenden Hang zum Glücke und zur Gesundheit, der an
-allem Vorhandenen haftet, durch eine gewisse geschickte Behandlung
-deutlicher herausleuchten zu lassen, ungefähr wie ein Docent bei
-einem Experimente sehr wohl die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf eine
-bestimmte Seite desselben lenken kann, ohne darum den natürlichen
-Lauf zu verfälschen. Die oberste Pflicht des Dichters hierbei muss
-freilich allezeit Entsagung sein. Wie schon betont: das Wollen, das wir
-in der Natur sehen, ist selbst noch keine Erfüllung. Je gesunder der
-Poet selbst ist, desto eher wird er in die Gefahr gerathen, einerseits
-das Ungesunde zu grell zu malen, andererseits seine Welt gewaltsam
-als ein Reich der Gesundheit ausmalen zu wollen. Das Wirkliche muss
-hier als ewiger Corrector die Auswüchse beseitigen. Für den Standpunct
-des natürlichen Ideals in der allgemeinen Werthschätzung ist es
-schliesslich immer noch besser, man lässt es zu schwach durchschimmern
-im Gange der geschilderten Begebenheiten, als man profanirt es in der
-Weise des alten metaphysischen Ideals durch künstliches Auffärben.
-
-Eine realistische Dichtung aber ganz ohne Ideal -- -- -- das ist mir
-etwas Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz
-sein. Im Leben giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber
-um den finstern Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere
-verkettet, kreist der helle Sirius -- neben den kranken Seelen wandeln
-gesunde. Wer die Welt schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht
-verschliessen dürfen.
-
-
-
-
-Sechstes Capitel.
-
-Darwin in der Poesie.
-
-
-Es giebt ein psychologisches Gebiet, das wie kein anderes geschaffen
-ist, den Blick des Dichters, der in die Tiefen der menschlichen
-Tragödie einzudringen sucht, mit magischem Banne zu fesseln. Es
-ist die Erscheinung des bahnbrechenden Genies, des Entdeckers,
-Erfinders, Reformators auf irgend einem Boden, den noch keiner
-bebaut hat. Wechselnde Bilder ziehen bei dem einfachen Worte durch
-den Vorstellungskreis des Gebildeten. Ein Hauch des Einsamen,
-Weltentrückten, der menschenleeren Wüste streift seine Stirn, durch
-sein geistiges Auge zittert der verlorene Schein des Lämpchens in der
-Zelle des verlassenen Grüblers, ein Rauschen von Wogen berührt sein
-Ohr, über denen schwere Nebelmassen die Fernsicht nach jungfräulichem
-Inselboden für den Blick der Welt verhüllen. Christus, der dem
-Zwiegespräch der Geister in der Einöde lauscht, Gutenberg, der im
-stillen Gemache seine Lettern fügt, Columbus, der die Wellen eines
-neuen Meeres an sein Steuer branden lässt, treten aus dem Schatten
-der Geschichte hervor. Aber aus dem Strahlenkreise der Vision
-steigt auch das blutige Kreuz von Golgatha, klirrt die Kette an den
-Armen des hispanischen Admirals, tönt der Seufzer des sterbenden
-Buchdruckermeisters von Mainz, den sie um die Früchte seiner Arbeit
-betrogen. Der prüfende Geist öffnet sich der Frage: Was für ein
-Phänomen der irdischen Entwickelungslinie wandelt in diesen Bildern der
-Einsamkeit, der Grösse und des Martyriums an uns vorüber? Wieder, wie
-bei den grossen Problemen, die ich früher gestreift, steht die Antwort
-in erster Linie dem Naturforscher zu.
-
-Um was es sich handelt, das ist nichts Wichtigeres und nichts
-Geringeres, als die Bildung einer neuen Art.
-
-Die Zeit ist noch nicht allzu fern, wo der Naturforscher sich bei
-diesem Begriffe nicht viel denken konnte. Heute ist das anders. Die
-gesammte Formenwelt des Organischen hat sich herausgestellt als eine
-mächtige, in tausend und tausend Adern zerspaltene Entwickelungswelle,
-in der das Geschlecht des Menschen nur einen einzigen Ast bildet.
-
-Tief an der Wurzel schon zertheilt in die Doppellinie des Pflanzlichen
-und des Thierischen, reicht diese Welle aus uralten Zeiten herauf
-bis zum heutigen Tage. Hervorgegangen aus sehr einfachen Urformen,
-hat sich innerhalb des Ganzen allmählich eine Fülle verschiedener
-Typen ausgebildet, die theils nebeneinander fortbestanden, theils
-ausstarben und Neuem Platz machten. Darwin hat zuerst in der
-allgemein bekannten einfachen Weise gezeigt, wie in Folge der
-äussern, örtlichen Bedingungen, in die das organische Leben auf der
-Erde bei fortschreitender Vermehrung versetzt war, die Bildung der
-Arten aus gleicher Urform sich annähernd logisch erklären lässt.
-Ich kenne sehr wohl die Schwierigkeiten, die uns noch auf Schritt
-und Tritt hier begegnen. Aber sie sind gerade für den Punct, auf
-den ich für die Betrachtung des menschlichen Entdeckergenies hinaus
-will, nebensächlicher Natur. Für gewöhnlich giebt es ein organisches
-Vererbungsgesetz, welches vorschreibt, dass die Nachkommen eines
-bestimmten Mitgliedes einer Thier- oder Pflanzenart durchaus den Eltern
-gleichen, also wiederum den Arttypus rein darstellen müssen. Indessen,
-dieses Gesetz erleidet Störungen, die an sich zwar so geringfügiger
-Natur sind, wie die unablässigen kleinen Störungen der Planetenbahnen.
-
-Chemische und physikalische Einflüsse machen sich hier geltend, die wir
-im Detail noch nicht verfolgen können. Das Resultat sind unablässige
-individuelle Abneigungen der Jungen von den Eltern, meist zu klein, um
-als wahre pathologische Abnormitäten zu gelten, aber doch stark genug,
-eine gewisse Rolle im Leben des Individuums zu spielen; von einem Wurf
-junger Katzen können alle drei gesund sein, wenn auch jede anders
-gefärbt ist, und es muss schon eine sechs Beine haben oder zeitlebens
-blind bleiben, um pathologisch als Abnormität aufgefasst zu werden.
-
-Diese anscheinend zwecklosen Varietäten innerhalb des Normalen
-werden aber von Wichtigkeit, wenn die äussern Existenzbedingungen
-der ganzen Art sich in Folge klimatischer oder sonstiger Umwälzungen
-verändern. Wenn ein Land plötzlich kältere Winter bekommt, kann der
-sonst werthlose Umstand, dass eine Katze vermöge kleiner individueller
-Abweichung doppelt so dichtes Haar besitzt als die übrigen, von
-entscheidender Wichtigkeit werden, kann sogar bewirken, dass sie allein
-mit denjenigen ihrer Jungen, die das starke Kleid geerbt haben, alle
-andern überdauert und Stammmutter einer neuen Spielart mit wolligerem
-Pelze wird. Das Ueberdauern der Andern bezeichnet dabei ein Schlagwort
-als: Sieg im Kampfe um's Dasein.
-
-Innerhalb des Thierischen ist die als Beispiel gewählte Katze ein
-Genie. Es ist ihr etwas vererbt, etwas in ihr gegeben, das mit Hilfe
-des zufälligen Zusammentreffens der vorhandenen Gabe und des äussern
-Bedürfnisses zu einer Erfindung, einem Fortschritte wird. Dieses Genie
-wird, schematisch gesprochen, geboren als eine willkürliche, ziellose
-Linie, die aber im Leben plötzlich in's Herz einer Scheibe trifft und
-ihren Entsender zum Schützenkönige macht. Und die Art, wie dieses Genie
-sich auf die Nachkommen überträgt, wo es normale Gabe aller wird, ist
-die directe der körperlichen Vererbung.
-
-Stellen wir jetzt daneben das menschliche Genie. Zunächst handelt es
-sich hier um etwas weit Feineres, nämlich einen Gehirnprocess. Ein
-Mensch wird geboren, dessen Art zu denken, Vorstellungen zu verknüpfen,
-eine gewisse individuelle Besonderheit aufweist, die, ohne pathologisch
-zu werden, doch innerhalb des Spielraums des Normalen ihre Eigenart
-wahrt. Die Linie, von der ich eben sprach, ist damit gegeben, aber
-sie ist noch völlig ziellos. Tausend Genies bleiben einfach unter
-der Masse verborgen, weil ihre Linie nie das Centrum einer Scheibe
-trifft. Dieses Treffen hängt von bestimmten Möglichkeiten ab. Es muss
-irgendwo in der Nähe eine Zielscheibe stehen, ein Stoff sich finden,
-an dem das Genie sich bewähren kann. Solche Stoffe liegen zu gewissen
-Zeiten in der Luft. Man denke an die Entdeckungen, die von drei oder
-vier Menschen fast zu gleicher Zeit gemacht wurden. Man denke daran,
-was Luther oder Copernicus oder Columbus bereits vorfanden. Wir
-nehmen an, das Genie ist geboren, der Stoff, an dem es sich bewähren
-kann, ist auch gegeben. Der betreffende Mensch besitzt jetzt etwas,
-eine Idee, ein geistiges Plus, das ihn von allen seinen Mitmenschen
-zugleich scheidet und fördernd heraushebt. So weit ist der Process
-gänzlich dem oben skizzirten bei der Neubildung einer zoologischen
-oder botanischen Spielart analog. Durchaus anders aber gestaltet sich
-der weitere Verlauf im Kampfe um's Dasein. Das doppelte Wollhaar
-des Raubthiers war etwas vom Individuellen Untrennbares. Es haftete
-an der Person, es schützte diese Person im Kampfe um's Dasein, und
-es übertrug sich von ihr zu neuen Personen auf dem Wege physischer
-Vererbung im Zeugungsprocess. Anders bei der menschlichen Idee, die
-das Genie durch Zusammenstoss mit einem äussern Zündstoffe entfesselt.
-In den allermeisten Fällen emancipirt diese sich sehr schnell vom
-Individuellen, dem eine körperliche Uebertragung durch Vererbung doch
-nicht gegeben ist, dessen einzelne Person also weiterhin nebensächlich
-ist. Die Idee überträgt sich von Gehirn zu Gehirn, kämpft vermöge ihrer
-bessern Kraft sich durch im Kampfe um's Dasein mit andern Ideen und
-befestigt sich schliesslich als eiserner Bestand im Denkapparate der
-ganzen Culturmenschheit. In dieser Loslösung der Idee von ihrem Urheber
-liegt das tragische Schicksal des Genies als Person; die Idee, indem
-sie als Macht im Kampfe um's Dasein auftritt, kämpft für sich, nicht
-für ihren Urheber. Die Tragik ist bitter, darüber kann kein Zweifel
-bestehen. Man fühlt sich manchmal berufen, die Natur grausam zu nennen
-wegen der groben Mittel, die sie im Daseinskampfe zur Schöpfung einer
-neuen Thier- oder Pflanzenart anwendet; die Wiege des Fortschritts,
-des Neuen im Geistesleben der Menschheit ist in dem Sinne das ärgste
-Procrustesbett, das überhaupt denkbar ist; das Individuum gilt hier
-gar nichts mehr. Aber eine vernünftige Lebensphilosophie muss sich in
-diese Thatsachen zu finden wissen. Jene Idee, die unter dem Nebel all'
-des mystischen Beiwerks doch immer die Herzen der Menschen am meisten
-im Christenthum angesprochen hat: die stille Resignation, dass der
-Einzelne am Kreuze sterben müsse, damit sein Werk ein beglückendes
-Evangelium für viele Tausende werde -- sie wird bleiben, auch wenn
-kein Wort mehr von aller christlichen Metaphysik Gläubige finden
-sollte -- weil sie eine tiefe Wahrheit enthält. Nicht der Mensch siegt
-im Kampfe um's Dasein, sondern die Idee: so lautet derselbe Satz in
-wissenschaftlicher Form. Er enthält zugleich eine Formel für die
-Thatsache und einen Trost. Denn schliesslich, wenn der Mensch auch
-nicht, wie das bevorzugte Thier in jenem Beispiele von dem doppelten
-Wollpelze, am eigenen Leibe die Segnungen dessen fühlt, was sein Gehirn
-in dunkler Mission ausgestreut, so sieht er doch als bewusstes Wesen
-die Siegesbahn seiner Idee auch noch in ihrer Trennung von seinem
-Selbst und empfindet ihren Glanz als versöhnende Wärme.
-
-Ich habe das erfinderische Genie mit Absicht aus der reichen Fülle
-der Erscheinungen im menschlichen Dasein herausgegriffen, die man im
-engern Sinne als darwinistische Probleme auffassen kann. Ich denke,
-dass schon dieses eine Beispiel genügt, um zu zeigen, wie sehr man sich
-hier vor willkürlicher Uebertragung einfacher biologischer Gesetze auf
-die complicirten Phänomene des menschlichen Geisteslebens hüten muss.
-Die Anlage, die Zielscheibe, der Kampf um's Dasein: alles spielt auch
-hier seine Rolle. Aber der Verlauf ist gerade in wesentlichen Puncten
-ein anderer. Unendlicher Stoff für den Dichter liegt allerdings auf
-diesen Gebieten. Sowohl das Aufstreben des Neuen wie das Absterben des
-Veralteten, die geheimnissvollen Processe, wie das Gesunde verdrängt
-wird durch ein Gesunderes, wie es zum Ungesunden herabsinkt durch
-haltlose Opposition gegen das bessere Neue, ohne selbst das alles
-begreifen zu können -- sie sind seit alten Tagen die Domäne der
-Poesie, ohne dass man sich in der rechten Weise über die eigentlichen
-Gesetze, die darin walten, und ihre Beziehungen zu den Darwin'schen
-Gedanken hat klar werden wollen. Man kann wohl verlangen, dass ein
-realistischer Dichter +nach+ Darwin kein Bedenken mehr trägt, die Dinge
-beim rechten Namen zu nennen. Aber es gehört dazu in erster Linie ein
-ernstes Studium. Allgemeine Schlagwörter beweisen nichts. Man mache
-sich daran und entwickele uns zunächst, was noch nicht ordentlich
-versucht worden ist, die darwinistischen Linien in der Geschichte;
-man prüfe die Werke ausgezeichneter Beobachter wie Shakespeare
-im Einzelnen auf das ganze Princip. Dann wird man dahin kommen,
-Sätze aufstellen zu können, die den Schlagwörtern einen lebendigen
-Zusammenhang mit der ganzen Wissenschaft geben. Zahllose Puncte sind
-dabei im Auge zu behalten. Die einfache Zuchtwahl durch persönliches
-Emporkämpfen und dadurch ermöglichte Gründung einer Familie, die mit
-jener Ideenneuerung im Genie nichts zu schaffen hat, bei der neben den
-geistigen vor allen auch die körperlichen Fähigkeiten, Arbeitskraft,
-weibliche wie männliche Schönheit und anderes, mitspielen, ist beim
-Menschen natürlich nicht erloschen und wahrt ihre alte Rolle. Das
-ganze sociale Leben mit all' seinen Klippen und Irrthümern, seinen
-Triumphen und Fortschritten fordert die Beleuchtung vom Darwin'schen
-Gesichtspuncte aus. Aber was schon im eng beschränkten Thier- und
-Pflanzenleben seine ernsten Schwierigkeiten bietet, wird hier vollends
-zu einem fast unentwirrbaren Gewebe. Körperliche Gesundheit als
-Vortheil im Daseinskampfe findet ihr Aequivalent in Geldmitteln,
-die Kraft der Sehnen wird gleichwerthig ersetzt durch die bessere
-Molecularconstruction des Gehirns, die unerbittliche Strenge des
-Gesetzes vom Recht der Stärkern sieht sich seltsam durchkreuzt von
-einem bereits gewaltig angesammelten Fond humaner Anschauungen, die
-wieder von einer das Gesetz überbietenden Brutalität auf der andern
-Seite paralysirt werden. Der Dichter, der sich mit Muth der Aufgabe
-unterzieht, in jeder einzelnen Thatsache hierbei ein Glied grosser
-Ketten nachzuweisen, sieht sich allerdings auch darin belohnt, dass er
-jede, auch die geringfügigste Erscheinung, so fern sie nur echt dem
-Leben entspricht, zum Gegenstande höchst interessanter Darstellungen
-machen kann. Im Lichte grosser, allgemeiner Gesetze kann die an und für
-sich nicht sehr poetische Chronik eines Krämerviertels, das ein grosses
-Magazin im modernsten Stile nach und nach vollkommen todt macht, von
-höchster dramatischer Wirkung werden, ein Motiv, das Zola in einem
-seiner besten Romane bereits mit Geschick durchgeführt hat. Die kleinen
-Thatsachen in dieses Licht des Allgemeinen, Gesetzlichen, höheren
-Zielen Zustrebenden heraufrücken: das ist ja eben die idealisirende
-Macht, die der Dichter hat. Das werthlose Gezänk über Werth und
-Grenzen der Detailmalerei kann hier keine Geltung beanspruchen. Gerade
-das Studium der biologischen Phänomene der Artumwandlung, wie es
-Darwin angebahnt, führt von selbst darauf, dass wir uns gewöhnen, den
-kleinsten Ursachen, den winzigsten Fortschritten und Störungen unter
-Umständen die allergrösste Wichtigkeit beizulegen. Der Dichter, der nur
-Einiges von Darwin gelesen, wird mit ganz anderer Werthschätzung an die
-Dinge des täglichen Lebens herangehen und sich sagen, dass nicht das
-Ungeheuere, Welterschütternde allein die geistige Durchdringung durch
-die dichterische Anschauung ermögliche, sondern auch das Kleine --
-wofern nur der Poet den nöthigen hellen Kopf mitbringt. Denn hohe Ideen
-aus der Sonne zu lesen ist unverhältnissmässig viel leichter, als aus
-einem Sandkorn.
-
-Eine andere Bereicherung als Frucht darwinistischer Studien erblicke
-ich in dem verschärften Verständniss des Dichters für die längere
-Zeitdauer, die jeder Entwickelungsprocess auch im Menschenleben in
-Anspruch nimmt. Wie die Welt nicht in sieben Tagen geschaffen ist, so
-schafft sich auch keine psychologische Thatsache von heute auf morgen.
-Unsere Bücher sind zwar voll von einer Liebe, einem Hass, die sich
-einer geschleuderten Dynamitbombe gleich ohne alle Prämissen entladen;
-der naturwissenschaftlich gebildete Dichter wird hier sceptischer zu
-Werke gehen.
-
-Unsere älteren grossen Meister -- Shakespeare, der Zeitgenosse Bakons,
-und Göthe, der unmittelbare Vorgänger Darwin's -- bleiben dabei nach
-wie vor unsere Führer und Lehrer. Gerade auf dem darwinistischen
-Gebiete scheint mir der allgemeine Werth der Methode die Hauptsache,
-die den Dichter fördern muss -- viel mehr noch als das nähere
-Eingehen auf Fragen der Zuchtwahl. Ich will, um noch einen dritten
-dahin gehörigen Punct herauszugreifen, auch Gewicht legen auf die
-Rolle des oft verkannten Wortes Zufall in der Dichtung. Was ist
-naturwissenschaftlich gesprochen -- Zufall?
-
-Nicht Wenige, die sich im Allgemeinen an das Causalprincip gewöhnt
-haben, wie es die logische Wissenschaft lehrt, meinen in Folge
-dessen jeden Zufall, der als Factor in einer Dichtung auftritt,
-schlechtweg als unerlaubten deus ex machina verwerfen zu müssen.
-Im letzten Grunde der Erscheinungen hängt ja Alles zusammen, das
-ist richtig. Trotzdem bietet die Welt von einem Standpuncte wie
-unserm menschlichen, der gewissermassen sehr weit ab in der grossen
-Kette liegt, das schematische Bild einer unendlichen Menge in sich
-geschlossener Linien dar, innerhalb deren alles causal verknüpft ist
-und ohne fremde Beihilfe weiterläuft. Jede Kreuzung zweier dieser
-Linien erscheint vom Standpuncte der beiden einzelnen wie ein in
-keinem ihrer eigenen Richtungsgesetze begründeter grober Stoss von
-aussen. Diesen jedesmaligen Kreuzungsstoss nennen wir Zufall. Vom
-hypothetischen Standpuncte einer Kenntniss sämmtlicher anfänglicher
-Richtungsverhältnisse aller causalen Sonderlinien zueinander,
-also einer mathematisch exacten Vorstellung von der anfänglichen
-Atomlagerung der irdischen Welt aus hörten die Empfindungen dieses
-unerwarteten Stosses und damit der Zufall als Sonderbegriff auf
-zu existiren. Der menschliche Standpunct den Dingen gegenüber ist
-hiervon noch sehr weit entfernt. Wenn ich in einer Weltstadt von zwei
-Millionen Einwohnern an einem Tage mit meiner individuellen Linie
-ohne jede bewusste Abneigung zu einer zweiten hin vier Mal auf diese
-zweite treffe, also einem und demselben Bekannten vier Mal an vier
-verschiedenen Orten, die wir beide ohne Kenntniss von der Anwesenheit
-des andern aufsuchten, begegne, so bleibt mir das, aller atomistischen
-Nothwendigkeit unbeschadet, persönlich ein vierfacher Zufall. Oder im
-oben gewählten Beispiele von der neu entstehenden Raubthierart: wenn
-dort die in sich geschlossene Causalitätsreihe innerhalb des doppelt
-behaarten Individuums mit der absolut unabhängigen klimatischen
-Causalitätsreihe, die den strengeren Winter bewirkt, zusammenstösst,
-so ist dieser Zusammenstoss Zufall. Das Weitere nicht mehr; denn die
-Erhaltung jenes Individuums und die folgende Ausbildung einer neuen
-Rasse sind von da ab logische Consequenzen des Zufalls, der als solcher
-den Ausgangspunct einer neuen, selbstständigen Causalitätslinie
-bildet. Vom Dichter verlangen, dass er diesen Erscheinungen gegenüber
-seinen menschlichen Betrachtungsstandpunct aufgeben und uns nur noch
-überall geschlossene Linien vorführen sollte, hiesse denn doch gerade
-die Wirklichkeit in seinen Bildern antasten. Wir wissen physikalisch
-sehr gut, dass unsere Auffassung beispielsweise von der Farbe der
-Gegenstände eine illusorische ist, indem wir die Farbe an den Dingen
-haftend glauben, während sie in unserm Auge liegt; soll etwa deswegen
-der Dichter nicht mehr von rothen Rosen oder blauem Himmel sprechen?
-Ja, man kann geradezu sagen, dass eine schärfere Beachtung des Zufalls
-in seiner thatsächlichen Erscheinung den Dichter eher darauf führen
-wird, ihm eine mehr, als eine weniger wichtige Rolle zuzuertheilen.
-Man führe -- was fachwissenschaftlich bei Gelegenheit angeblicher
-mystischer Phänomene, zweitem Gesicht, Prophezeiungen und Aehnlichem
-fast zur Pflicht wird -- nur eine kurze Zeit seines Lebens einmal Buch
-über die Zufälle, denen man begegnet, vor allem die mehrfachen in
-derselben Sache. Man wird selbst staunen, welche Resultate man erhält,
-wie merkwürdig unwahrscheinlich das alltäglichste Leben im Grunde
-genommen ist! Hier und da, an einer Spielbank zum Beispiel, sind die
-tollsten Beobachtungen dieser Art in einem einzigen Tage zusammen zu
-bringen. In diesem Puncte aber ist das ganze Leben ein ununterbrochenes
-blindes Glücksspiel. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit -- und hier
-liegt der Knoten -- der Begriff, den wir in jedem prüfenden Augenblicke
-hineinschmuggeln, ist eben in Wahrheit nichts Reales. Für unsern
-Standpunct ist es, wenn wir einen Würfel fallen lassen, selbst wenn
-er fünf leere Seiten hat, positiv nicht wahrscheinlicher, dass eine
-der leeren, als dass die einzige bezeichnete Seite nach oben zu liegen
-kommt. Jede Wahrscheinlichkeit hört der freien Macht des Zufalls in
-der Welt gegenüber auf, gerade weil der Zufall im letzten Ende auch
-ein Nothwendiges, uns aber völlig Verhülltes einschliesst. Ich weiss
-recht wohl, dass sich das ganze Innere des logisch denkenden Kritikers
-auflehnt, wenn ein Poet uns eine Liebesgeschichte erzählt, die auf
-fünf oder sechs groben Zufällen, wie ungewolltes Begegnen, aufgebaut
-ist. Und doch spreche ich es rund als meine Ueberzeugung aus, dass
-man Bände füllen könnte mit der einfachen Aufzählung der grossen und
-kleinen Zufälle, die bei einer nicht annähernd gleich verwickelten
-Geschichte im wahren Leben bei peinlicher Beobachtung sich ergeben
-würden, denn mit jedem Schritt, den wir thun, kreuzen wir fremde
-ungeahnte Causalitätsreihen, die in Folge der neuen Reihe, die aus dem
-Contact hervorgeht, eine Macht innerhalb unserer eigenen Linie werden.
-Ein ganzes Menschenleben bis in dieses feine Gewebe seines Schicksals
-hinein zu zergliedern: das wäre ein Kunstwerk, wie wir es noch nicht
-einmal ahnen. In Wahrheit giebt es wenige Puncte, die dem Beobachter so
-schmerzlich nahe legen, wie weit unsere Kunst in all' ihrer Erfassung
-des Menschlichen noch hinter der Wirklichkeit zurücksteht.
-
-Das Wort des alten Malers bei Zola muss uns trösten: »Arbeiten wir!«
-Arbeit steckt auch in all' diesen darwinistischen Problemen, Arbeit
-nicht bloss für den Naturforscher, sondern auch für den Dichter.
-Sagen wir uns unablässig, dass die Arbeit, das harte, mit dem Leben
-ringende Künstlerstreben, unser wahres Erbe von den grossen Geistern
-der Vergangenheit her ist, nicht das unklare Träumen. Genialität wird
-geboren; aber das Ausleben der Genialität ist unablässige Durchdringung
-des Stoffes, ist ewiges Studium; wenn sie das nicht ist, so ist sie
-eine Krankheit, für die der schonungslose Kampf um's Dasein die ideale
-Nemesis wird, indem er sie ausrottet.
-
-
-
-
-Siebentes Capitel.
-
-Eine Schlussbetrachtung.
-
-
-In dem Augenblicke, wo ich diese Studie abschliesse, hat die
-realistische Bewegung bei uns in Deutschland eine Form angenommen,
-die es mehr und mehr wünschenswerth erscheinen lässt, das Wort zu
-friedlicher Verständigung zu ergreifen. Während in Russland und
-Frankreich muthige Werkmeister sich in harter Arbeit um die neuen
-Stoffe der Dichtung mühen und, bald mit falschen, bald mit treffenden
-Schlägen, doch unablässig das Rohmaterial gefügig machen und das
-Instrument üben, vernimmt man bei uns viel Lärm und sieht wenig
-Früchte. Man ist allerdings bisweilen geneigt, das laute Geschrei
-bloss für das harmlose Jauchzen von Schulknaben zu halten, die einen
-freien Tag haben, weil ihre Lehrer zu stiller, ernster Conferenz über
-die wichtigsten Fragen des Unterrichts zusammengetreten sind. Werden
-wir erleben, dass auch die Stimme der Meister einmal laut wird und uns
-in anderer Weise, als das Gezwitscher der Jungen es vermochte, von
-der Bedeutung der Stunde Rechenschaft ablegt? Wir haben es schon oft
-gesehen, dass der Deutsche zuletzt kam, dann aber dem Ganzen die Krone
-aufsetzte, indem er ihm aus der Tiefe seiner geistigen Entwickelung
-heraus Dinge verlieh, die keine andere Nation je besessen. Ich bin
-auf diesen Blättern wiederholt gezwungen gewesen, den Namen Zola zu
-nennen, und ich kann es als meine ruhige Ueberzeugung auch hier noch
-einmal aussprechen, dass mir Zola in vielen Puncten sehr hoch steht,
-sowohl in seinem Können, wie in der Ehrlichkeit seines Wollens.
-Aber ich möchte diese fragmentarische Behandlung des realistischen
-Problems nicht schliessen, ohne vorher noch mit ein paar Worten auch
-dem deutschen Antheil an der Entstehung jener ganzen Richtung --
-wie immer unsere Besten im Augenblick sich zu ihr stellen mögen --
-gerecht geworden zu sein. Wenn die Literaturgeschichte dereinst mit
-dem Werkzeuge einer geläuterten darwinistischen Methode die Wurzeln
-dessen aufdecken wird, was wir jetzt Realismus in der Poesie nennen,
-so wird der Hass der gereizten Parteien sich versöhnen müssen in
-der Erkenntniss ihres gemeinsamen Ursprungs. Einseitige Beurtheiler
-schmähen heute in Zola das Stück Victor Hugo, das unbezweifelbar
-in ihm steckt; die einsichtigere Zukunft wird sich mit Ruhe sagen
-dürfen, dass es sich hier einfach um eine Entwickelung handelt,
-dass der Zola'sche Realismus sich folgerichtig als zweite Stufe des
-bessern Theils in Victor Hugo aus dem Hugo'schen Idealismus ergeben
-musste. Nicht anders ergeht es uns in Deutschland. Indem wir scheinbar
-neue Wege wandeln werden, werden wir unbewusst doch nur das bessere
-Theil unserer grossen literarischen Vergangenheit ausbauen. Welch'
-himmelweite Kluft trennt scheinbar eine deutsche Dichtung, die sich in
-dem von mir im Vorstehenden ausgeführten Sinne mit den Principien der
-Naturwissenschaft in Einklang setzt, von einem Freytag'schen Romane!
-Und doch ist das alles nur scheinbar. Als Freytag den tiefen Ausspruch
-Julian Schmidt's zum Motto machte: »Die Dichtung soll das Volk bei der
-Arbeit aufsuchen«, war er nach den Träumen der Romantik im Grunde der
-Begründer des Realismus. Anderes hat dann, sollte man glauben, die
-Linie abgelenkt, die Richtung auf das Historische hat den Roman wieder
-auf ein neues Gebiet gedrängt. In schärferer Beleuchtung erscheint
-auch das als ein realistisches Symptom. Man wollte die Ahnen in der
-Dichtung sehen, um die Enkel in ihrer Arbeit zu begreifen. Leichter
-Sinn sieht in diesen krausen Gängen, die das Princip gewandelt, eine
-Modekrankheit. Das heisst nichts. Krankhaft war allerdings und ist hier
-mancher Detailzug geblieben, wie ich das in dem Capitel über die Liebe
-vielleicht schroff, aber als volle Ueberzeugung ausgesprochen. Doch
-selbst dieser Tadel trifft kaum die Bessern, fast nur die Kleinen. Die
-historische Dichtung als Ganzes war eine berechtigte Pionierarbeit --
-grösser und glänzender als sie, folgt ihr freilich jetzt die Aufgabe,
-das Geschichtliche nicht darzustellen in künstlich belebten Bildern des
-Vergangenen, sondern in seiner lebendigen Bethätigung mitten unter uns,
-in seinen fortschwirrenden Fäden, in seiner Macht über die Gegenwart.
-
-Von diesem freien Standpuncte aus verliert der Kampf um den Realismus
-seine Bitterkeit. Die grosse Literatur, auf die wir stolz sind,
-erscheint wieder als Ganzes, wo jeder Bedeutende sein Recht erhält.
-Und am Ende, wenn auch bei uns in Deutschland der Realismus im neuen
-Sinne einmal seine grossen Vertreter gefunden hat, wird als Summe
-sich ergeben, dass wir, die wir auf einer stofflich reicheren und
-tieferen Literatur fussen, als die Nachbarländer, auch nun in jenem
-Gebiete fester und sicherer uns ergehen werden, als die Franzosen
-und Engländer oder die Russen und Skandinavier. Gerade den Jüngeren,
-die jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug an's Herz gelegt
-werden, dass Realisten sein nicht heissen darf, die Fühlung mit
-den grossen Traditionen unserer Literatur verlieren. Studirt Zola,
-achtet ihn, helft die Kurzsichtigen im Publicum aufklären, die keinen
-Dichter vertragen können, der im Dienste einer Idee selbst das Extreme
-nicht scheut; aber gebt euch nicht blind für Schüler Zola's aus, als
-wenn in Paris ein Messias erstanden sei, der alle alten und neuen
-Testamente auflösen sollte. Studirt, was Zola sich zu thun ehrlich
-bemüht hat, Naturwissenschaften, beobachtet, wendet Gesetze auf das
-menschliche Leben an, das ist alles schwere Arbeit, aber es bringt
-uns vorwärts. Und vor allem: vergesst nicht, dass ihr der deutschen
-Literatur angehört, dass hinter euch Göthe und Schiller stehen und
-dass ihr ein Recht habt, euch als deren Enkel selbstständig neben
-den Schüler Balzac's und Nachfolger Victor Hugo's zu stellen, was
-die Vergangenheit und den Bildungsgrad eures Volkes anbetrifft. Die
-Wissenschaft ist internationales Gut, Jeder kann sie sich aneignen,
-der sich der Mühe unterzieht. Aber bildet euch nicht ein, das leere
-Poltern und Schreien hülfe irgend etwas. Ihr habt jetzt nach Kräften
-auf den historischen Roman gescholten, obwohl darin doch wenigstens
-ordentliche Arbeit, ordentliches Studium steckte. Ich will glauben,
-dass das Schelten begründet war, wenn ihr zeigt, dass ihr mehr könnt,
-dass ihr das unendlich viel erhabenere Problem zu lösen wisst, wie die
-Fäden der Geschichte sich verknoten im socialen und ethischen Leben
-der Gegenwart, wie man historische Dichtungen schreibt, die gestern
-und heute spielen. Ihr habt die weiche, tändelnde Lyrik ausgepfiffen
-auf allen Gassen. Auch das soll gut und recht sein, wenn ihr mir eine
-neue Lyrik zeigt, die an Göthe und Heine organisch anknüpft und doch
-selbstständig das Herzensglück und Herzensweh des modernen Menschen zum
-Ausdruck bringt. Macht der Welt klar, dass der Realismus in Wahrheit
-der höchste, der vollkommene Idealismus ist, indem er auch das Kleinste
-hinaufrückt in's Licht des grossen Ganzen, in's Licht der Idee. Dann
-werden die Missverständnisse aufhören. Der Leser wird nicht mehr der
-Ansicht huldigen, wenn er eine realistische Dichtung aufschlüge, so
-umgellte ihn das Gelächter von Idioten und Cocotten, und wenn man,
-was überhaupt recht rathsam wäre, sich bloss genöthigt sähe, das
-Romanlesen bei unreifen Mädchen etwas mehr einzuschränken in Folge des
-Ueberwiegens der realistischen Richtung, so sollte das unser geringster
-Schmerz sein. Freilich wird es auch ohne Missverständnisse noch manchen
-harten Kampf kosten, bis die Mehrzahl der geniessenden Leser sich an
-das schärfere Instrument des Beobachters gewöhnt haben wird. Das kommt
-nicht von heute auf morgen. Zunächst muss das Vertrauen in der Menge
-für den realistischen Dichter gewonnen werden, und wir werden gut thun,
-die Schauerscenen nach Kräften zu vermeiden, so lange die Vorurtheile
-noch so sehr gross sind. Auch werden die Lyrik und das Drama, die ja
-immer mehr zum Herzen sprechen, den harten Tritt des Romanes dämpfen
-helfen, wenn sie erst einmal zur Stelle sind. Am Ende wird auch die
-Masse des Volkes besser sehen lernen, und das ist für alle Fälle ein
-Gewinn. Die Poesie wahrt so nur ihre alte Rolle als Erzieherin des
-Menschengeschlechtes, und indem sie es thut, darf sie hoffen, auf
-freundlichem Boden sich mit der Naturwissenschaft zu begegnen. Beide
-reichen sich dann die Hand in dem Bestreben, den Menschen gesund zu
-machen.
-
-[Illustration: FINIS]
-
-
-
-
-C. G. Röder, Leipzig.
-
-
-
-
- Weitere Anmerkungen zur Transkription
-
-
- Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
- korrigiert. Alte und unterschiedliche Schreibweisen wurden
- beibehalten.
-
- Korrekturen (das korrigierte Wort ist in {} eingeschlossen):
-
- S. 12: Methaphysische → Metaphysische
- Das {Metaphysische} kann ich dabei nur streifen
-
- S. 53: uud → und
- {und} indem der wachsende Embryo
-
- S. 57: letztere → letzteres
- {letzteres} etwas Geistiges
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die naturwissenschaftlichen Grundlagen
-der Poesie., by Wilhelm Bölsche
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NATURWISSENSCHAFTLICHEN ***
-
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-Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
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-
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-mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
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- The Project Gutenberg eBook of Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, by Wilhelm Bölsche.
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-The Project Gutenberg EBook of Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
-Poesie., by Wilhelm Bölsche
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-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.
- Prolegomena einer realistischen Aesthetik
-
-Author: Wilhelm Bölsche
-
-Release Date: April 22, 2016 [EBook #51835]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NATURWISSENSCHAFTLICHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was
-produced from images generously made available by The
-Internet Archive)
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="transnote">
-<p class="h2">Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Im Original gesperrter Text ist <em class="gesperrt">so ausgezeichnet</em>.</p>
-
-<p>Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am
-<a href="#tnextra">Ende des Buches</a>.</p>
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<h1><span class="smaller">Die naturwissenschaftlichen</span><br />
-Grundlagen der Poesie.</h1>
-
-<p class="center larger"><b>Prolegomena</b></p>
-
-<p class="center">einer realistischen Aesthetik</p>
-
-<p class="center smaller">von</p>
-
-<p class="h2">Wilhelm Bölsche.</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/title_logo.jpg" alt="Signet" />
-</div>
-
-<p class="center p2"><b>Leipzig,</b><br />
-Verlag von Carl Reissner.<br />
-1887.
-</p>
-<hr class="chap" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_iii">[III]</a></span></p>
-
-<h2 id="Vorwort">Vorwort.</h2>
-</div>
-
-<p>Die nachfolgenden wissenschaftlichen Studien behandeln
-in selbstständiger Abrundung das, was nach
-meiner Ueberzeugung im ersten Buche jeder neuen,
-unserm modernen Streben gerecht werdenden Aesthetik
-seine Stelle finden müsste. Realistisch nenne ich diese
-Aesthetik, weil sie unserm gegenwärtigen Denken
-entsprechend nicht vom metaphysischen Standpuncte,
-sondern vom realen, durch vorurtheilsfreie Forschung
-bezeichneten ausgehen soll. Wie ich mir die Rolle
-des besonnenen Realismus in unserer Literatur denke,
-ist im ersten Capitel ausführlich entwickelt; die übrigen
-behandeln einzelne Probleme, an denen der Naturforscher
-und der Dichter gleich grossen Antheil nehmen.
-Zurückweisen muss ich im Voraus alle Uebertreibungen,
-die man von unberufener Seite an das Wort
-Realismus geknüpft hat. Der Realismus ist nicht gekommen,
-die bestehende Literatur in wüster Revolution
-zu zerstören, sondern er bedeutet das einfache Resultat
-einer langsamen Fortentwickelung, wie die gewaltige
-Machtstellung der modernen Naturwissenschaften es<span class="pagenum"><a id="Seite_iv">[IV]</a></span>
-nicht mehr und nicht minder ist. Jene Utopien von
-einer Literatur der Kraft und der Leidenschaft, die in
-jähem Anprall unsere Literatur der Convenienz und
-der sanften Bemäntelung wegfegen soll, bedeuten mir
-gar nichts; was ich von dem aufwachsenden Dichtergeschlecht
-fordere und hoffe, ist eine geschickte Bethätigung
-besseren Wissens auf psychologischem Gebiete,
-besserer Beobachtung, gesunderen Empfindens,
-und die Grundlage dazu ist Fühlung mit den Naturwissenschaften.
-Leichte Plaudereien, wie sie der Spalte
-eines Feuilletons ziemen, wird der Leser vergebens
-auf diesen Blättern suchen, weder unfeines Schmähen
-noch kritiklose Verhimmelung rechne ich unter die
-nothwendigen Requisiten der neuen Sache. Die jungen
-Kräfte, die jetzt so viel Lärm machen, werden schon
-allein ihren Weg gehen; ich aber möchte durch eine
-anständige Polemik sowohl wie durch einen anständigen
-Vortrag überhaupt auch zu denen reden, die im
-Banne älterer Anschauungen jede Form realistischen
-Fortschritts mit zweifelndem Auge betrachten.</p>
-
-<p>
-<em class="gesperrt">Berlin</em>, im Winter 1886.
-</p>
-<p class="right">
-<b>Wilhelm Bölsche.</b>
-</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_1">[1]</a></span></p>
-
-<h2 id="Erstes_Capitel">Erstes Capitel.<br />
-Die versöhnende Tendenz des Realismus.</h2>
-</div>
-
-<p>Durch die gesammte &ndash; und nicht zum Wenigsten
-die deutsche &ndash; Literatur geht seit einiger Zeit eine
-lebhafte Bewegung. Die Schaufenster der Buchhandlungen
-wie die Spalten der Journale sind überfüllt
-mit Streitschriften und Streitartikeln, die bereits durch
-die Kühnheit der Titel von der Hitze der Kämpfenden
-Zeugniss ablegen. Aber auch abgesehen von diesen
-Kundgebungen der eigentlichen Ritter des Tourniers
-fühlt sich jeder Einzelne im grossen Publicum mehr
-oder weniger berufen, seinen Wahlzettel in die Urne
-zu werfen. Denn das Wort ist gefunden, welches in
-neun Buchstaben die Loosung des Ganzen enthüllen
-soll. Dieses schicksalsschwere Wort heisst Realismus.</p>
-
-<p>Für die eine Partei ein goldenes Wort, eins aus
-jener Reihe unvergänglicher Schlagwörter, die mit
-ihrer prächtigen Kürze gleichsam die Stenographie der
-Culturgeschichte darstellen, &ndash; ist es der andern ein
-Gräuel, ein Hemmniss aller Fortentwicklung, der Name
-einer bösen, wenn auch glücklicherweise vergänglichen
-Krankheit.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_2">[2]</a></span></p>
-
-<p>Revolution der Literatur für jene, Aufdämmern
-eines neuen Tages, weit heller und strahlender noch
-als der junge Morgen, der sich einst in dem klaren
-Auge Lessing's spiegelte und durch dessen weichende
-Frühnebel der rasselnde Schritt des eisernen Ritters
-von Berlichingen erklang, ist dieser die gleiche Erscheinung,
-die hässliche Brandröthe eines Zerstörungskampfes,
-das Blutmal am Himmel, das über der Stätte
-des Mordens und Brennens plündernder Vandalenhorden
-loht, es fehlt nicht an alten Fritzen, die im
-Sanssouci ihrer unerschütterlichen Kunsttheorieen zweifelnd
-die schönen, geraden Terrassen und Orangerieen
-abschreiten und sich kopfschüttelnd fragen: Was soll
-der Lärm?</p>
-
-<p>Verbrüderung aller nationalen Literaturen durch
-die Blutsgemeinschaft gleicher Methode für die Schwärmer,
-erscheint den Skeptikern der ganze Aufstand bei
-uns in Deutschland nur als der feige Abklatsch einer
-widerwärtigen Krankheitserscheinung im schlechteren,
-in alter Sünde absterbenden oder in unwissender Roheit
-der Halbbildung haltlos hin und her schwankenden
-Nachbarlande, und, dem Franzosen gleich, der
-das deutsche Bier als fremdes Gift verbannen möchte,
-wäre ihnen nichts lieber, als eine literarische Grenzsperre
-für alle fremden Einflüsse.</p>
-
-<p>Und endlich, was das Seltsamste ist: während die
-Einen glauben, der Reinheit ihrer Gesinnung und dem
-Genius poetischer Sittlichkeit nicht besser dienen zu
-können, als in dem Gewande der neuen Ritterschaft,
-meinen die Andern das Schwert gegen diese erheben
-zu müssen zum Schutze der unschuldigen Gemüther
-in der Welt, zum Schutze ihrer Söhne und Töchter,
-denen der weihende Tempel des dichterischen Ideals<span class="pagenum"><a id="Seite_3">[3]</a></span>
-kein Sündenhaus werden soll und keine Schnapsschenke.</p>
-
-<p>Jeder Vernünftige sieht, dass unter dem einen
-Worte Realismus thatsächlich nicht immer das Gleiche
-verstanden wird und dass sich hier Begriffe mischen,
-die strenge Sonderung fordern. Es fehlt denn auch
-nicht an besonneneren Stimmen, die sich bemühen,
-Realismus in einer Weise zu definiren, die jeden
-gröberen Irrthum ausschliesst.</p>
-
-<p>Ich gebe diese Definition zunächst in möglichst
-allgemeiner Fassung wieder, um später den speciellen
-Punct herauszugreifen, dem ich eine eingehendere
-Betrachtung zu widmen gedenke.</p>
-
-<p>Die Basis unseres gesammten modernen Denkens
-bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich
-mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen
-Gesichtspuncten zu betrachten, die Erscheinungen
-der Natur selbst haben uns allmählich
-das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmässigkeit
-alles kosmischen Geschehens eingeprägt, dessen letzte
-Gründe wir nicht kennen, von dessen lebendiger Bethätigung
-wir aber unausgesetzt Zeuge sind. Das
-vornehmste Object naturwissenschaftlicher Forschung
-ist dabei selbstverständlich der Mensch geblieben,
-und es ist der fortschreitenden Wissenschaft gelungen,
-über das Wesen seiner geistigen und körperlichen
-Existenz ein ausserordentlich grosses Thatsachenmaterial
-festzustellen, das noch mit jeder Stunde wächst,
-aber bereits jetzt von einer derartigen beweisenden
-Kraft ist, dass die gesammten älteren Vorstellungen,
-die sich die Menschheit von ihrer eigenen Natur auf
-Grund weniger exacter Forschung gebildet, in den
-entscheidendsten Puncten über den Haufen geworfen<span class="pagenum"><a id="Seite_4">[4]</a></span>
-werden. Da, wo diese ältern Ansichten sich während
-der Dauer ihrer langen Alleinherrschaft mit andern
-Gebieten menschlicher Geistesthätigkeit eng verknotet
-hatten, bedeutete dieser Sturz nothwendig eine gänzliche
-Umbildung und Neugestaltung auch auf diesen
-verwandten Gebieten. Das bekannteste Beispiel hierfür
-ist die Religion, deren einseitig dogmatischer Theil
-durch die Naturwissenschaften zersetzt und zu völliger
-Umwandlung gezwungen wurde. Ein zweites Gebiet
-aber, das auch wesentlich in Frage kommt, ist die
-Poesie. Welche besondern Zwecke diese auch immer
-verfolgen mag und wie sehr sie in ihrem innersten
-Wesen sich von den exacten Naturwissenschaften
-unterscheiden mag, &ndash; eine Sonderung, die wir so
-wenig, wie die Sonderstellung einer vernünftigen
-Religion, antasten, &ndash; ganz unbezweifelbar hat sie
-unausgesetzt, um zu ihren besondern Zielen zu gelangen,
-mit Menschen und Naturerscheinungen zu thun
-und zwar, so fern sie im Geringsten gewissenhafte
-Poesie, also Poesie im echten und edeln Sinne und
-nicht ein Fabuliren für Kinder sein will, mit eben
-denselben Menschen und Naturerscheinungen, von
-denen die Wissenschaft uns gegenwärtig jenen Schatz
-sicherer Erkenntnisse darbietet. Nothwendig muss sie
-auch von letzteren Notiz nehmen und frühere irrige
-Grundanschauungen fahren lassen. Es kann ihr, was
-Jedermann einsieht, von dem Puncte ab, wo das Dasein
-von Gespenstern wissenschaftlich widerlegt ist,
-nicht mehr gestattet werden, dass sie zum Zwecke
-irgend welcher Aufklärung einen Geist aus dem Jenseits
-erscheinen lässt, weil sie sich sonst durchaus
-lächerlich und verächtlich machen würde. Es kann
-ihr, was zwar nicht so bekannt, aber ebenso wahr ist,<span class="pagenum"><a id="Seite_5">[5]</a></span>
-auch nicht mehr ungerügt hingehen, wenn sie eine
-Psychologie bei den lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse
-verwerthet, die durch die Fortschritte der modernen
-wissenschaftlichen Psychologie entschieden als
-falsch dargethan ist. Eine Anpassung an die neuen
-Resultate der Forschung ist durchweg das Einfachste,
-was man verlangen kann. Der gesunde Realismus
-ermöglicht diese Anpassung. Indem er einerseits die
-hohen Güter der Poesie wahrt, ersetzt er andererseits
-die veralteten Grundanschauungen in geschicktem
-Umtausch durch neue, der exacten Wissenschaft entsprechende.
-Mit Genugthuung gewahrt er dabei, dass
-die neuen Stützen nicht nur relativ, sondern auch absolut
-besser sind, als die alten, und dass er bei Gelegenheit
-dieser Anpassung der Poesie ein frisches
-Lebensprincip zuführt, das nach vollkommener Eingewöhnung
-höchstwahrscheinlich ganz neue Blüthen am
-edeln Stamme des dichterischen Schaffens zeitigen
-wird, die vormals Niemand ahnen konnte. Das ist in
-abstracter Kürze die eigentlich verstandesgemässe
-Definition des Realismus.</p>
-
-<p>So rund ausgesprochen, hat die Forderung, die
-darin liegt, alle Eigenschaften, um den Kritiker oder
-Dichter, dem die Poesie als ein leuchtendes Palladium
-der Menschheit, das jede Zeit auf den höchsten Platz
-ihres intellectuellen Könnens zu stellen verpflichtet
-sein soll, eine wahre Herzenssache ist, zu ernstem,
-wohlwollendem Nachdenken zu zwingen.</p>
-
-<p>Angesichts der gestellten Wahl muss er die ganze,
-schwere Verantwortung empfinden, die in einem leichtsinnig
-heraufbeschworenen Streite zwischen Poesie und
-Naturwissenschaften läge. Er wird sich nicht stören
-an die werthlose Phrase, dass ein solcher Conflict<span class="pagenum"><a id="Seite_6">[6]</a></span>
-nothwendig im Wesen der beiden Geistesgebiete begründet
-sei. Er wird vielmehr den Blick haften
-lassen auf den starken Meistern der Vergangenheit,
-auf dem heldenkühnen Ringen Schiller's, die Wahrheiten
-der Philosophie, die doch in der speciellen
-Form auch mit dem Wissen zusammen fiel, dem poetischen
-Ideal zu vermählen, auf dem unablässigen
-Forschen Göthe's, der in den Wahlverwandtschaften
-&ndash; fehlerhaft vielleicht, aber doch in sicherem Ahnen
-der Methode &ndash; die Arbeit des Forschers auf dem
-Gebiete der Seelenkunde im Dichterwerke zu verwerthen
-suchte, auf dem lichten Bau der physischen
-Weltbeschreibung des greisen Alexander von Humboldt,
-in deren kosmischem Rahmen unter der Form
-der dichterischen Naturanschauung die ganze Poesie
-mit Leichtigkeit eine Stelle gefunden hätte. Dürfen
-wir stehen bleiben, wo jene, denen die ganze Fülle
-unserer Offenbarung im Naturgebiete noch versagt
-war, unentwegt den Wanderstab zum Vorwärtsschreiten
-ansetzten? Gewiss steckt in den erhitzten Parteien
-des Tages die lebhafteste Neigung zu schwerem
-Kampfe; sollen wir die einzige noch mögliche Gelegenheit
-zur Versöhnung zurückweisen, &ndash; zu einer
-Versöhnung, die vielleicht zugleich einen Fortschritt
-für die Poesie bedeutet?</p>
-
-<p>Ich meine, so, wie die Frage gestellt ist, giebt es
-nur eine Antwort. Es handelt sich nicht um Namen,
-um Nationalitäten, um Meister und Jünger einer
-Schule, sondern um zwei Dinge, die vor aller Augen
-sind: eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und
-neue Begriffe schafft, und eine Literatur, die zurückbleibt,
-und mit Begriffen arbeitet, die keinen Sinn und
-Verstand mehr haben. Thatsächlich hat denn auch<span class="pagenum"><a id="Seite_7">[7]</a></span>
-ein beträchtlicher Theil unserer modernen Dichter die
-richtige Antwort gefunden, und es kommt hier nicht
-darauf an, ob Dieser ernste und wohlüberlegte Entschlüsse
-daran angeknüpft oder Jener bloss in kindlicher
-Freude ein polizeiwidrig lautes Jubelgeschrei
-über sein findiges Genie dazu ausgestossen hat. Man
-hat sich geeinigt über den Satz: Wir müssen uns dem
-Naturforscher nähern, müssen unsere Ideen auf Grund
-seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen.</p>
-
-<p>Das Erste, worauf man im Verfolgen dieses Gedankens
-kam, war ein Satz, der ebenso einfach und
-selbstverständlich war, wie er paradox klang. Jede
-poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des
-Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und
-die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, ist vom
-Standpuncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr
-und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie
-durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im
-buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen.</p>
-
-<p>Daher der Name »Experimental-Roman«, und
-daher eine ungeheuerliche Begriffsverwirrung bei allen
-Kritikern und Poeten, die weder wussten, was man
-unter einem wissenschaftlichen Experimente, noch was
-man unter dichterischer Thätigkeit verstand. Der
-Mann, der das Wort populär gemacht hat, Zola, ist
-selbst unschuldig an der Verwirrung der Geister. Nur
-hat auch er den Fehler nebenher begangen, die Definition
-eines Kunstwerks als Experiment nicht einzuschränken
-durch die Worte »vom wissenschaftlichen
-Standpuncte aus«, womit alles klarer und einfacher
-wird. Vom moralischen Standpuncte beispielsweise
-will die Definition gar nichts besagen, denn was ist<span class="pagenum"><a id="Seite_8">[8]</a></span>
-moralisch ein »Experiment«? Aber wissenschaftlich
-passt die Sache. Sehen wir das unheimliche Wort
-näher an.</p>
-
-<p>Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften
-er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht der
-Umstände in alle möglichen Conflicte gerathen und
-unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger oder
-Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen
-oder darin untergehen lässt, ist in seiner
-Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der
-allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade
-bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der
-Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien.
-Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch diese Menschen
-fallen in's Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre
-Leidenschaften, ihr Reagiren gegen äussere Umstände,
-das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen,
-die der Forscher ergründet hat und die der
-Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten
-hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges
-und keinen werthlosen Mischmasch herstellen
-will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen
-muss, ehe er an's Werk geht und Stoffe combinirt.</p>
-
-<p>Wer sich die Mühe nehmen will, einen ganz
-flüchtigen Blick auf das Beste zu werfen, was Shakespeare
-oder Schiller oder Göthe geschaffen, der wird
-den Faden des psychologischen Experiments in jeder
-dieser Dichtungen klar durchschimmern sehen. Bloss
-jene Voraussetzungen waren vielfach etwas andere,
-und hier ist denn eben der Punct, wo der Einfluss
-der modernen Wissenschaft sich als ein neues Element
-geltend machen und der Realismus, dessen
-Theorie wir zugegeben haben, practisch werden soll.<span class="pagenum"><a id="Seite_9">[9]</a></span>
-Es gilt, neue Prämissen für die weitern Experimente,
-die wir machen wollen, aufzustellen oder besser, sie
-uns von der Naturwissenschaft aufstellen zu lassen.
-Hier aber, beim Eintritt in die Praxis, wird die ganze
-Sache sehr schwierig. Wir haben bisheran einer allgemeinen
-Erörterung Raum gegeben. Der allgemeine
-Zustand des Denkens in unserer Zeit und des Verhältnisses
-von Poesie und Forschung zu einander hat
-uns ein Geständniss abgezwungen, indem er uns ein
-Dilemma zeigte, aus dem es nur einen Ausweg gab.
-Wir haben uns einverstanden erklärt mit der versöhnlichen
-Richtung eines gesunden Realismus und sind
-vorgedrungen bis an den Fleck, wo die Berührung
-der exacten Wissenschaften mit derjenigen Definition
-der Poesie, die von allen am wissenschaftlichsten klingt,
-endlich stattfinden soll. Alle Vorfragen sind damit
-erledigt, und ich trete jetzt an das heran, was eigentlich
-den Kern des Ganzen ausmacht und zugleich
-ein solches Gewebe ernster Schwierigkeiten aufweist,
-dass ich eine eingehende Betrachtung derselben für
-die nothwendige Basis jeder realistischen Dichtung
-sowohl, wie jeder realistischen Aesthetik halte.</p>
-
-<p>Die Prämissen des poetischen Experiments: das
-sagt in einem Worte alles. Hier verknoten sich
-Naturwissenschaft und Poesie.</p>
-
-<p>Wohlverstanden: diese Prämissen umschliessen
-nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst,
-eine Sache, die ja auch in die Aesthetik hineingehört,
-die aber mit dem, was ich meine, direct nichts zu
-schaffen hat. Geniale Anlage muss der Mensch besitzen,
-um überhaupt als Dichter auftreten zu können,
-und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage,
-die sich von der für andere Geistesgebiete individuell<span class="pagenum"><a id="Seite_10">[10]</a></span>
-unterscheidet. Jene andern Prämissen, die erworbenes
-Wissen darstellen, verhelfen ihm bloss in zweiter Instanz
-dazu, sein schöpferisches Wollen nach vernünftigen
-Gesetzen zu regeln und auch andern, nicht
-dichterisch Beanlagten durch das Medium der Logik
-einigermassen verständlich zu machen. Aber auch
-wenn wir alle Missverständnisse ausschliessen, bleibt
-die Sache immer noch sehr schwierig. Es mangelt
-zunächst gänzlich an brauchbaren Büchern, die dem
-Dichter einen vollkommenen Einblick in das verschaffen
-könnten, was ihm aus dem ungeheuren Bereiche
-der wissenschaftlichen Forschung über den
-Menschen zu wissen Noth thut. Die in ihren Resultaten
-so sehr werthvolle psychologische und physiologische
-Fachliteratur zeigt den Bestand des Materials
-nur in seiner äussersten Zersplitterung. Weit
-entfernt, die Arbeit des einsichtigen Dichters unter
-der Rubrik des psychologischen Experimentes entsprechend
-zu würdigen, zieht sich die Fachwissenschaft
-in den allermeisten Fällen vornehm zurück
-und überlässt die Verarbeitung ihres Materials für
-poetische Zwecke dem Philosophen, der unter zehn
-Fällen neunmal die Thatsachen unter dem Vorwande
-der Ordnung einfach fälscht. Statt der Wissenschaft
-Rechnung zu tragen, suchen schaffende Poesie wie
-Aesthetik dann ihre Prämissen durch Studium philosophischer
-Systeme zu gewinnen, und der Erfolg ist,
-dass wir unter dem Vorwande realistischer Annäherung
-an die Resultate der Forschung allenthalben
-einer Verherrlichung Hegel'scher Phrasen, Schopenhauer'scher
-Verbohrtheiten oder Hartmann'scher Willkür
-begegnen, die mit echter Wissensbasis wenig
-mehr zu schaffen haben, als die alten religiösen Ideen,<span class="pagenum"><a id="Seite_11">[11]</a></span>
-so geistvoll sie auch im Einzelnen ersonnen sein
-mögen.</p>
-
-<p>Eine Anzahl vorsichtiger Geister, besonders ausübender
-Poeten, verschmäht mit Recht diese schwankende
-Brücke und stürzt sich kühn in die Detailmasse
-des exacten Fachwissens. Der Erfolg zeigt eine
-ernstliche Gefahr auch bei diesem Unterfangen. Die
-wissenschaftliche Psychologie und Physiologie sind
-durch Gründe, die Jedermann kennt, gezwungen, ihre
-Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu
-machen, sie decken sich fast durchweg mit Psychiatrie
-und Pathologie. Der Dichter nun, der sich in berechtigtem
-Wissensdrange bei ihnen direct unterrichten
-will, sieht sich ohne sein Zuthun in die Atmosphäre
-der Clinic hineingezogen, er beginnt sein Augenmerk
-mehr und mehr von seinem eigentlichen Gegenstande,
-dem Gesunden, allgemein Menschlichen hinweg dem
-Abnormen zuzuwenden, und unversehends füllt er im
-Bestreben, die Prämissen seiner realistischen Kunst zu
-beachten, die Seiten seiner Werke mit den Prämissen
-dieser Prämissen, mit dem Beobachtungsmateriale
-selbst, aus dem er Schlüsse ziehen sollte, &ndash; es entsteht
-jene Literatur des kranken Menschen, der Geistesstörungen,
-der schwierigen Entbindungen, der Gichtkranken,
-&ndash; kurz, das, was eine nicht kleine Zahl
-unwissender Leute sich überhaupt unter Realismus
-vorstellt.</p>
-
-<p>Ich habe den Weg gezeigt, wie klar denkende
-Dichter auf diese Linie gerathen können, und bin weit
-davon entfernt, das blöde Gelächter der Menge bei
-Beurtheilung derselben zu theilen. Es sind keineswegs
-die kleinen, rasch zufriedenen Geister, die in solche
-heroischen Irrthümer verfallen, und der still vergnügte<span class="pagenum"><a id="Seite_12">[12]</a></span>
-Poet, der im einsamen Kämmerlein von Sinnen und
-Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische
-Kenntniss davon, welcher Riesenarbeit sich
-gerade der dichtende Genius unterzieht, der im treibenden
-Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten,
-was die Welt im gebräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale,
-vordringt. Ein Irrthum bleibt die Einseitigkeit
-darum doch. Die Krankheit kann nicht verlangen,
-den Raum der Gesundheit für sich in Anspruch nehmen
-zu wollen, das unausgesetzte Experimentiren mit dem
-Pathologischen, also dem ganz ausschliesslich Individuellen,
-das eine Ausnahme vom normalen Allgemeinzustande
-bildet, nimmt der Poesie ihren eigentlichsten
-Charakter und verführt den Leser zu Irrthümern aller
-Art, die hinterher den ganzen Realismus treffen.</p>
-
-<p>Ich halte es angesichts all' dieser Gefahren für
-durchaus an der Zeit, in einer übersichtlichen Darstellung
-diejenigen Puncte herauszuheben, die eigentlich
-in der Gesammtfülle des modernen naturwissenschaftlichen
-Materials als wahre Prämissen seiner Kunst den
-Dichter unmittelbar angehen. Ich möchte dabei ebensoweit
-von philosophischer Verwässerung wie von fachwissenschaftlicher
-Detailüberlastung entfernt bleiben.
-Was sich als Resultat der bisherigen objectiven Forschung
-ergiebt, möchte ich unter dem beständig beibehaltenen
-Gesichtspuncte der dichterischen Verwerthung
-klar darlegen. Das <span id="corr012">Metaphysische</span> kann ich dabei
-nur streifen als nothwendigen Grenzbegriff des Physischen.
-Die Erkenntnisslehren der modernen Naturwissenschaft
-sind, wie schon gesagt, bisher in die
-weiten Kreise fast stets als Beiwerk in gewissen
-Systemen, als Stütze materialistischer oder pessimistischer
-oder sonst irgendwie auf einen Glauben getaufter<span class="pagenum"><a id="Seite_13">[13]</a></span>
-Weltanschauungen verbreitet worden. All' diesen Bestrebungen
-stehe ich durchaus fern. Was der Poet
-sich über das innerste Wesen der kosmischen Erscheinungen
-denkt, ist seine Sache. Die Puncte, um die
-es sich für mich handelt, sind als Wissensgrundlagen
-massgebend für Alle, so gut wie das Wasser das
-Product zweier Elemente, des Wasserstoffs und des
-Sauerstoffs, für jeden vernünftigen Menschen bleibt,
-mag er nun im Puncte des Gemüthes Christ oder Jude
-oder Mohammedaner sein oder die heilige Materie
-anbeten.</p>
-
-<p>Es giebt Dinge darunter, die den Dichter stärker
-machen werden, als seine Vorgänger waren, wenn er
-sie in der rechten Weise beachtet. Es giebt auch Dinge,
-die ein zweischneidiges Schwert sind und mit aller
-Vorsicht behandelt werden wollen. Im Grossen und
-Ganzen kann ich nur sagen: eine echte realistische
-Dichtung ist kein leichter Scherz, es ist eine harte
-Arbeit. Die grossen Dichter vor uns haben das sämmtlich
-empfunden, die kommende Generation wird es
-möglicher Weise noch mehr fühlen. Einen Menschen
-bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch
-sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen
-erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus
-mehr als einem Gesichtspuncte, &ndash; das ist zugleich
-das Höchste und das Schwerste, was der Genius
-schaffen kann. Wie so der Mensch Gott wird, ist
-darin enthalten, &ndash; aber es wird jederzeit auch darin
-sich offenbaren, wie so er Gottes Knecht ist. Das
-Erhebendste dabei ist der Gedanke, dass die Kunst
-mit der Wissenschaft empor steigt. Wenn das nicht
-werden sollte, wenn diese Beiden fortan im Kampfe
-beharren sollten, wenn Ideal und Wirklichkeit sich<span class="pagenum"><a id="Seite_14">[14]</a></span>
-gegenseitig ermatten sollten in hoffnungslosem, versöhnungslosem
-Zwiste: dann wären die Gegenwart,
-wie die Zukunft ein ödes Revier und die Mystiker
-hätten Recht, die vom Aufleben der Vergangenheit
-träumen. Es ist in Wahrheit nicht so. Ein gesunder
-Realismus genügt zur Versöhnung, und er erwächst
-uns von selbst aus dem Nebeneinanderschreiten der
-beiden grossen menschlichen Geistesgebiete. Dichtung
-um Dichtung, ästhetische Arbeit um ästhetische Arbeit,
-alle nach derselben Richtung gestimmt, müssen
-den Sieg anbahnen. Die rohe Brutalität, von der
-hitzige Köpfe träumen, wollen wir dabei gern entbehren,
-&ndash; ich meine, die Wissenschaft ist dazu viel zu
-ernst und die Kunst viel zu sehr der Liebe und des
-klaren, blauen, herzerwärmenden Frühlingshimmels
-bedürftig.</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-014.png" alt="" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_15">[15]</a></span></p>
-
-<h2 id="Zweites_Capitel">Zweites Capitel.<br />
-Willensfreiheit.</h2>
-</div>
-
-<p>Ich will als Dichter einen Menschen, den ich in
-eine bestimmte Lage des Lebens gebracht habe, eine
-Handlung begehen lassen und zwar diejenige, welche
-ein wirklicher Mensch in gleicher Lage wahrscheinlich
-oder sogar sicher begehen würde.</p>
-
-<p>Ich will als Kritiker einer Dichtung beurtheilen,
-ob eine bestimmte Handlung, die ein bestimmter Held
-dieser Dichtung unter bestimmten Umständen begeht,
-wirklich richtig, das heisst den Gesetzen der Wirklichkeit
-entsprechend, erfunden ist.</p>
-
-<p>In beiden Fällen werde ich beim geringsten Nachdenken
-auf die allgemeine Frage der Willensfreiheit
-geführt.</p>
-
-<p>Diese Frage aber ist weder eine dichterische, noch
-eine philosophische, sondern eine naturwissenschaftliche.
-In ihr kreuzen sich die sämmtlichen Grundfragen der
-wissenschaftlichen Psychologie, und sie ist meiner Ansicht
-nach die erste und wichtigste Frage, mit der
-sich die Prämissen der realistischen Poesie und Aesthetik
-zu befassen haben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_16">[16]</a></span></p>
-
-<p>Die oberflächlichste Anschauung der wahren Dinge
-in der Welt lehrt, dass die menschliche Willensfreiheit
-nicht ist, was das Wort nahe legt: eine absolute Freiheit.
-Wir sehen nicht nur die Macht des Willens
-physikalisch beschränkt, sondern gewahren auch in
-dem eigenthümlichen Gefüge und Bau der Gedanken,
-die den Willen zu irgend etwas schliesslich als äussern
-Act entstehen lassen, beständig sehr eigenthümliche,
-subjective Factoren, die in uns sofort das Gefühl eines
-eingeschränkten Laufes der Gedankenketten entstehen
-lassen. Genau dieselbe Thatsache erweckt im Geiste
-verschiedener Menschen verschiedene Gedankenreihen,
-die oft den genau entgegengesetzten Willen hervorrufen.
-Eine unbewacht gelassene Casse ruft in einem
-Gewohnheitsdiebe den Gedanken und in directer Fortsetzung
-die Handlung des Stehlens, in einem seiner
-bisherigen Lebensbahn nach durchaus rechtlich gesinnten
-Menschen höchstens den Gedanken an eine
-Sicherung und Bewachung zur Verhütung eines Diebstahls
-hervor. Eine grosse Anzahl von Menschen ist
-zwar geneigt, gerade den Umstand hier für allgemeine
-Freiheit zu halten, dass der Eine so, der Andere anders
-handelt. Der Naturforscher wird sich sagen
-müssen, dass die gleiche äussere Sache nur einen verschiedenen
-innern Effect haben kann, weil sie offenbar
-in dem Innern der beiden geistigen Individuen
-auf eine ungleiche Disposition trifft, etwa wie in der
-Physik derselbe Funke, je nachdem er in eine Pulvertonne
-oder in ein Wasserfass fällt, sehr verschiedene
-Kräfte auslöst.</p>
-
-<p>Damit ist ein erster, roher Anhaltspunct für die
-Auffassung psychologischer Vorgänge gewonnen.
-Wenn ich als Dichter Menschen in Berührung mit<span class="pagenum"><a id="Seite_17">[17]</a></span>
-äusseren Erscheinungen bringe, so wechselt nicht nur
-der Wille in den Handlungen der Person je nach den
-äusser'n Impulsen, sondern er ist auch subjectiv bei
-den Einzelnen verschieden je nach der Disposition des
-Geistes, die der Impuls bei Jedem findet.</p>
-
-<p>Die Physiologie giebt uns nun als nächsten Fortschritt
-über diesen ersten Punct weg die Thatsache
-an die Hand, dass jede Disposition des Geistes zugleich
-eine Disposition des stofflichen Untergrundes, des Gehirns,
-bedeutet.</p>
-
-<p>Die Frage, in welchem Causalitätsverhältniss diese
-Doppelerscheinungen der geistigen und stofflichen Disposition
-unter sich wohl stehen möchten, ob der Geist
-als solcher existire oder bloss eine subjective Rückansicht
-desselben Dinges sei, das wir äusserlich als
-Stoff, respective mechanische Kraft uns gegenüber
-stellen, geht uns hier als eine erkenntniss-theoretische,
-wissenschaftlich nicht lösbare gar nichts an. Was wir
-mit Händen greifen können, ist das Zusammenfallen
-jeder psychischen Erscheinung mit einer molecularen,
-jedes Gedankens mit einem ganz bestimmten physiologischen
-Ereignisse innerhalb des nervösen Centralorgans.
-Dieses leugnen, hiesse rundweg das Gehirn
-leugnen und die ganze überwältigende Masse künstlicher
-wie unfreiwilliger Beeinflussungen des psychischen
-Apparats, die man bei vivisecirten Thieren und
-verwundeten oder gehirnkranken Menschen durch
-stoffliche Umwandlungen in der Gehirnmasse hat entstehen
-sehen. Die Thatsache steht also unbezweifelbar
-fest: wir können behaupten, wenn bei einer bestimmten
-Person ein bestimmter äusserer Impuls eine bestimmte
-Disposition im Gedankengange des Betreffenden vorfindet,
-so ist diese Disposition zugleich etwas Stoffliches,<span class="pagenum"><a id="Seite_18">[18]</a></span>
-eine Curve, Furche, reihenweise Gruppirung
-kleiner Theilchen, Schwingung der Molecüle nach
-einer bestimmten Richtung oder was man sich sonst
-denken will in der greifbaren Masse des Gehirns. Das
-oben gebrauchte Beispiel mag das zur Deutlichkeit
-nochmals illustriren. Gleicher äusserer Impuls: eine
-offene Casse. Erfolg bei dem einen Menschen unmittelbar
-und ohne Wahl eine moralisch verwerfliche
-Gedankenkette, die endigt mit der Handlung des
-Stehlens, bei dem andern ebenso unmittelbar eine gute,
-die ausläuft in die Handlung des Bewachens. Grund:
-der erste Mensch ist gewöhnt, schlecht zu handeln,
-seine Gedankenkette schlägt sofort eine bestimmte
-Richtung ein, die körperlich einem durch Gewohnheit
-tief ausgefahrenen Geleise entspricht, in das ein neu
-ankommender Wagen stets mit mechanischer Nothwendigkeit
-wieder hineinrollt; umgekehrt bei dem gewohnheitsmässig
-moralischen Menschen geräth die
-Ideenverbindung unmittelbar in eine ganz entgegengesetzte
-Linie, die schliesslich den umgekehrten Effect
-auslöst.</p>
-
-<p>Ich habe das Beispiel so nackt gewählt, wie möglich,
-&ndash; ohne jeden Conflict, was nicht ausschliesst,
-dass es täglich so vorkäme. Wer oft gestohlen hat,
-stiehlt wieder; wer in moralischem Denken aufgewachsen
-ist, kommt für gewöhnlich gar nicht auf den
-Gedanken, zu stehlen; die Ideenkette lenkt ohne Ablenkungen
-besonderer Art, die ich hier vernachlässige,
-stets in dieselben Geleise ein. Das Wort Geleise dürfen
-wir unbedenklich anwenden, da ja ein stofflicher Vorgang
-stets mit unterläuft. Geschaffen hat die Geleise,
-wie sich Jeder schon zur einfachsten Erläuterung dazu
-sagt: die Gewohnheit. Jede Minute unseres Lebens<span class="pagenum"><a id="Seite_19">[19]</a></span>
-bringt uns Beweise dafür, &ndash; das Wort Gewohnheit,
-das uns beständig auf der Zunge schwebt, ist eben
-nur der Ausdruck des Factums, dass die mehrmals
-aufgestellten Gedankenketten sich ein derartig festes
-Bett in unserm Denkorgane graben, dass gewisse, nur
-entfernt daran gemahnende Impulse sie jedesmal mit
-zwingender Nothwendigkeit wieder hervorrufen und
-dieselbe Handlung als schliesslichen Effect daraus entstehen
-lassen. Je ausgefahrener die Geleise nach und
-nach werden, desto rascher und damit dem Bewusstsein
-desto undeutlicher saust der Gedanke hindurch,
-desto unmittelbarer lösen sich Impuls und Willenseffect
-ab, bis schliesslich der Gedanke gar nicht mehr
-bewusst wahrgenommen wird und die Handlung sich
-als rein mechanischer Reflex des Impulses darstellt,
-&ndash; Erscheinungen, die wir täglich am Menschen beobachten
-können und die beim Thiere, dem die wenigen
-Eindrücke seines Lebens durch ihre regelmässige Wiederkehr
-fast alle in der genannten Weise constant
-und zur Quelle reiner Reflexhandlungen werden, die
-Regel bilden.</p>
-
-<p>Wenn es auf Grund eines ungeheuren Fortschrittes
-mikroskopischer Forschung möglich wäre, ein vollkommenes
-Bild eines beliebigen menschlichen Gehirns,
-das zu seinen Lebzeiten Gedanken gehegt hat, zu entwerfen,
-so würde man, wie immer das wahre Antlitz
-der Sache sich gestaltete, stets auf das schematische
-Bild einer Ebene kommen, die von Linien ungleicher
-Dicke durchkreuzt wird, von denen eine Anzahl nur
-matt angedeutet und halbverwischt, eine gewisse Zahl
-dagegen äusserst scharf und deutlich erschiene, und
-der Beschauer würde unmittelbar das Gefühl haben,
-dass es sich hier um ein Strassensystem handle, bei<span class="pagenum"><a id="Seite_20">[20]</a></span>
-dem dasselbe obgewaltet, wie bei menschlichen Verkehrswegen:
-irgend ein äusserer Umstand hat mehrmals
-die Verkehrenden auf dieselbe Strasse geführt
-und, einmal ausgetreten, hat diese nun Alle, die nur
-entfernt nach derselben Richtung wollten, veranlasst,
-ihrer Linie und keiner andern zu folgen.</p>
-
-<p>Thatsächlich sind wir ja so weit nicht. Das Gehirn,
-welches wir kennen, bietet uns, was das unmittelbare
-Sehen anbelangt, ungefähr so viel Anhaltspuncte zur
-Kenntniss seiner innern Processe, wie dem Astronomen
-die Oberfläche des Planeten Mars. Wir erkennen auf
-dieser Länder und Meere, Canäle, die das Festland
-durchschneiden, atmosphärische Vorgänge, Wolken,
-Schnee, Eismassen am Pol; das Alles aber kommt so
-wenig über den groben Umriss hinaus, dass Objecte
-von der Grösse der Victoria-Nyanza noch gerade als
-Puncte wahrnehmbar sind.</p>
-
-<p>Unsere Anschauungen vom Wesen der ganzen
-Gedankenthätigkeit müssen wir, unfähig, die Maschine
-in ihre Rädchen auseinander zu nehmen und im todten
-Material zu studiren, abstrahiren aus dem Erfolge,
-aus der regelmässigen, positiv zu beobachtenden Wiederkehr
-gewisser gewohnheitsmässiger Gedankenreihen
-in uns selbst und den Handlungen, die wir täglich bei
-uns als Folgen dieser zwangsweisen Ideenketten wahrnehmen
-und bei Andern als solche voraussetzen dürfen.
-Immerhin ist diese Art der Beobachtung ein vollkommen
-guter Ersatz für jene.</p>
-
-<p>Für die Freiheit des Willens, von der wir ausgegangen
-sind, ist jedenfalls &ndash; mögen wir nun physiologisch
-oder psychologisch zu unsern Resultaten gekommen
-sein &ndash; in dem Bestehen der durch Gewohnheit
-gegrabenen Gedankenstrassen ein bedenkliches Hinderniss<span class="pagenum"><a id="Seite_21">[21]</a></span>
-gegeben. Der Wille ist Endergebniss eines nicht
-gestörten, bis zu einer gewissen Intensität angeschwollenen
-Gedankens, &ndash; wenn der Gedanke aber in seinem
-Flusse sich in den meisten Fällen einem gegrabenen
-Bette anschmiegen muss, so kann in allen diesen von
-einer Freiheit des endlichen Willens keine Rede mehr
-sein, und man braucht noch gar nicht auf jene oben
-erwähnten, ganz reflectorisch gewordenen Willensacte
-zurückzugehen, um auf Schritt und Tritt diesen einfacheren
-hemmenden Einflüssen zu begegnen.</p>
-
-<p>Die wichtigste Frage scheint also, um hier Klarheit
-zu schaffen, die nach der Natur der Gewohnheit
-zu sein. Es gilt festzustellen, was sich unter diesem
-Begriffe, der die Willensfreiheit in so frappanter Weise
-bedroht, für einzelne Factoren verstecken und ob in
-dem einen Worte, das der Gebrauch selbst geschaffen,
-nicht Verschiedenartiges sich birgt. Gewohnheit ist,
-so haben wir physiologisch definirt, langsame Einprägung
-einer bestimmten Furche (psychologisch: Denkrichtung)
-im Gehirn, die durch eine längere Folge
-gleichartiger Wahrnehmungen erzeugt wird. Woher
-kommt eine derartige Gleichartigkeit der Wahrnehmungen?
-Zunächst aus der Einrichtung der Natur, die
-uns trotz der unendlichen Fülle ihrer Erscheinungen
-doch gewisse Phänomene in ewiger Regelmässigkeit
-wiederkehren lässt, die beständig gleiche Wahrnehmungen
-in uns hervorrufen. In zweiter Linie aber
-aus einem Umstande, der den Culturmenschen mit
-verschwindenden Ausnahmen fest und unerbittlich umklammert
-hält: der Erziehung. Wir sind nicht neu
-geschaffene Wesen, die bloss die Natur sich gegenüber
-haben. Wir gehören einer Gesellschaft an, die
-ebenfalls aus Menschen mit einem, dem unsern ähnlichen<span class="pagenum"><a id="Seite_22">[22]</a></span>
-Denkapparate besteht. Wir sind jung, die
-Tafel unseres Gehirnes ist noch kaum beschrieben.
-Jene Menschen, die vielleicht unsere Erzeuger, jedenfalls
-als Erwachsene unsere Meister sind, sind in ihrem
-Denken bereits erfüllt mit jenen festen Linien, jenen
-Geleisen des Gewohnten, und sie fühlen sich wohl dabei.
-Ihr Bemühen geht dahin, in unser Gehirn dieselben
-Linien zu prägen. Unfähig, unmittelbar zu
-wirken, beschreiten sie den Umweg durch die wiederholten
-Wahrnehmungen, aber in der Weise, dass sie
-bestimmte Wahrnehmungen &ndash; eben jene, die ihren
-Gedankenlinien die bequemen sind &ndash; auswählen und
-uns so lange einseitig vorführen, bis sich in unserm
-Gehirn die gleiche Linie, wie bei ihnen, gebildet hat
-und wir ihre wahren geistigen Kinder sind. Mit andern
-Worten heisst das: wir erhalten die grosse Masse
-unserer gewohnheitsmässigen Gedanken durch Unterricht,
-durch Schulung. Der Werth dessen, was uns
-vermittelst derselben im Gehirn eingeritzt wird, ist
-dabei ganz gleichgiltig, es kann die höchste Moral
-oder die äusserste Unmoral sein: von einem gewissen
-Puncte ab ist die Gedankenübertragung gelungen, die
-Linie angelegt, und es bedarf fortan nur der leisesten
-Aehnlichkeit in einer Wahrnehmung mit jenen früheren,
-um sofort den ganzen Gedankenapparat nach der eingeprägten
-Richtung hin in Thätigkeit zu setzen.<a id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a></p>
-
-<div class="footnotes">
-<div class="footnote">
-
-<p><a id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Sehr lehrreich für das ganze Gebiet der Gedankenübertragung
-sind die <i>hypnotischen</i> Experimente, die gewiss auch für
-den Dichter ein gewisses Interesse haben müssen. Ganz energisch
-aber ist zu verlangen, dass jeder Verwerthung derartiger Erscheinungen
-ein kritisches Verständniss und Studium vorausgehe. Es
-handelt sich hier durchaus nicht um ein Stück jener behaglichen
-Mystik, bei der alle Menschen, denen einmal etwas Unerklärliches
-vorgekommen, den Beruf fühlen, mitzusprechen, sondern um
-exacte wissenschaftliche Gegenstände, die, eben weil sie von der
-grössten Tragweite sind, auch die vorsichtigste Behandlung erfordern.
-Wen der Schleier des Unbegreiflichen allein verlocken
-sollte, der wird bei sorgfältiger Kenntnissnahme dann schon von
-selbst merken, wie wenig seine Neugier belohnt wird.</p>
-</div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_23">[23]</a></span></p>
-
-<p>Je tiefer diese Schulung geht, je reflectorischer
-die Ideenlinien arbeiten, desto mehr scheinen sie später
-ursprünglich mit dem Individuellen verwachsen und
-erlangen in Wörtern, wie Gewissen, Tact und ähnlichen,
-Bezeichnungen, die uns im Leben sehr oft geneigt
-machen, sie angeborene zu nennen, obwohl sie
-allem Anscheine nach durchweg erworbene, von aussen
-eingeprägte sind.</p>
-
-<p>Das Adjectivum »angeboren« aber, welches sich
-uns hier zwanglos in die Erörterung einmischt, führt
-uns unwillkürlich auf ein Zweites, das im Begriffe der
-Gewohnheit, wenn auch wahrscheinlich nicht dort, wo
-man es vermuthete, so doch anderswo steckt.</p>
-
-<p>Ein Vogel, den man im Zimmer fern von Seinesgleichen
-aufgezogen, zeigt bei nahendem Winter ein
-Bestreben, zu wandern. Hier kann nicht mehr von
-individueller Aneignung, von einer durch Gewohnheit
-erzielten Gedankenlinie, in die jedesmal beim Anblick
-fallenden Laubes oder sonstiger Erscheinungen des
-Wechsels der Jahreszeiten der Gedanke einlenkt, um
-schliesslich den Willen des Wanderns auszulösen, die
-Rede sein. Eben haben wir gesehen, dass die Function,
-das beständige Wahrnehmen gleicher Dinge allmählich
-eine körperliche und geistige Disposition, ein
-Geleise gewissermassen, schafft, das dann beim Nachfolgenden
-wie ein Organ die Function bestimmt; bei
-diesem geborenen Zugvogel ist offenbar die Umwandlung
-einer bestimmten Stelle des Denkapparates schon<span class="pagenum"><a id="Seite_24">[24]</a></span>
-bei der Geburt mit allen andern Organen, die im embryonalen
-Leben nicht durch, sondern für die Function
-entstehen, angelegt worden und tritt jetzt beim geringsten
-dahin zielenden Impuls mit voller Kraft in
-Thätigkeit, indem sie den Vogel zwingt, beim ersten
-Anzeichen des Herbstes &ndash; und sei es auch sein allererster,
-den er im individuellen Leben mitmacht &ndash; eine
-Gedankenreihe zu verfolgen, die ihm bei menschlich
-klarem Bewusstsein wie eine Vision vorkommen würde,
-indem er Bilder von einem warmen Lande, wohin er
-wandern soll, denkt, die keine eigene Erfahrung ihm
-eingeben kann.</p>
-
-<p>Wir haben es hier mit einer Gewohnheit secundärer
-Art zu thun: &ndash; mit vererbten geistigen Linien.
-Jede geistige Gewohnheit bedingt etwas körperliches,
-einerlei, ob als Ursache oder als unvermeidliche Parallelerscheinung;
-dass körperliche Veränderungen sich
-vererben, wissen wir alle; es kann in Fällen wie dem
-genannten nicht anders sein, als dass sich hier eine
-Structurverschiebung des Gehirns, eine moleculare
-Disposition vererbt hat, deren unzertrennliche Begleiterin
-die psychische Erscheinung ist, die wir sehen.
-Zwischen dem Gehirn jenes Vogels und dem gewaltigen
-Verstandesapparate des Menschen aber besteht
-physiologisch wie psychologisch lediglich ein Unterschied
-des Grades, nicht der Art, &ndash; es fragt sich:
-spielen auch beim Menschen ererbte Gedankenreihen
-eine Rolle, die sich unter dem allgemeinen Worte
-»Gewohnheit des Denkens« verbirgt? Bei der ungeheuren
-Masse von Eindrücken, die der Mensch im Gegensatz
-zu den meisten Thieren während der Dauer
-seiner individuellen Existenz empfängt und die trotz
-aller Macht der Gewohnheit gerade auf den höheren<span class="pagenum"><a id="Seite_25">[25]</a></span>
-geistigen Gebieten durchweg nicht reflectorisch werden,
-nicht ganz aus dem Bewusstsein verschwinden, scheint
-es von vornherein nicht wahrscheinlich, dass hier sehr
-viel vererbt werden sollte. Jedenfalls bestätigt die
-Erfahrung, dass Vererbung überwiegend dann stattfindet,
-wenn gewisse Gedankenketten über das gewöhnliche
-Mass hinaus sich eingebohrt haben, also
-beispielsweise bei einseitigem Genie, bei krankhaft eingewurzelten
-fixen Ideen, also fast oder ganz abnormen
-Zuständen, &ndash; und es scheint selbst hier, als vererbten
-sich nicht eigentliche Gedankenlinien, sondern nur gewisse
-Stimmungen des Untergrundes, wenn ich so
-sagen soll, gewisse Weichheiten oder Härten der
-Fläche, die den später durch Erziehung herantretenden
-Geleisen einen ungewöhnlichen Widerstand oder ein
-ungewöhnliches Entgegenkommen bewiesen. In der
-Empfänglichkeit des Gehirns für einzugrabende Linien
-überhaupt liegt ganz unbezweifelbar die eigentliche
-grosse Erbschaft, die der Mensch, der als solcher geboren
-wird, vor dem Thiere voraus hat; wer das exact
-beobachten will, vergleiche ein lernendes Kind mit
-einem lernenden Papageien. Wahrscheinlich ist dem
-Vogel der absolute Fortschritt gerade deshalb so erschwert,
-weil sein Gehirn von Jugend auf mit einer
-Reihe ererbter Linien (Instincte nennt es ein geläufiges
-Wort) durchsetzt ist, die den Boden hart gemacht
-haben für alles Neue; die wenigen ererbten Geisteslinien
-des Menschen, der Mangel an Instincten, wäre
-im Lichte dieser Anschauung dann vielleicht die Wiege
-seiner geistigen Entwicklungsfähigkeit, indem es ihm
-die Tafel für das Lernen frei hielte. Dass darum gewisse
-Instincte, ganz oder beinah reflectorische Geisteslinien,
-auch beim Menschen und zwar bei allen ohne<span class="pagenum"><a id="Seite_26">[26]</a></span>
-Ausnahme als Erbe früherer, mehr thierischer Verhältnisse
-sich &ndash; wenn auch bisweilen gleichsam verschüttet
-und von den tausend Erziehungslinien überdeckt
-&ndash; vorfinden, ist nicht zu leugnen. Stark erregte
-Momente, Revolutionen, Hungersnoth, beständiger
-Anblick von Blut, sexuelle Ueberreizung lassen diese
-Instincte gelegentlich in roher und erschreckender
-Weise durchbrechen, und der Mensch handelt in solchen
-Momenten im Banne einer dämonischen Gehirnmacht,
-einer entfesselten psychisch-molecularen Bewegungswelle,
-die unvergleichlich mächtiger fortreisst,
-als alle individuell durch Erziehung erworbenen Moral-
-oder Unmorallinien, er handelt mit dem Instincte von
-Thierformen, die weit unten an der Schwelle des
-Menschlichen stehen und für uns nur noch in analogen
-Erscheinungen der jetzigen höheren Säugethierwelt zu
-studiren sind. Der Dichter, wie der Historiker müssen
-gerade diesen geheimnissvollen Vererbungslinien, deren
-Rolle im einzelnen Leben wie in der Geschichte sehr
-gross ist, mit Interesse nachgehen. Wünschen möchte
-man, dass gewisse dauernde Errungenschaften der
-menschlichen Cultur &ndash; beispielsweise die Basis der
-Moral, das Mitleid &ndash; mit der Zeit bereits reine Instincte
-geworden wären, die der Einzelne mit auf die
-Welt brächte. Man ist mitunter versucht, dergleichen
-zu glauben. Wenn ein Mensch, ohne eine Secunde
-zu zögern, einem Kinde, das in's Wasser gefallen ist,
-nachspringt und es rettet, so scheint hier eine Geisteskette
-vorzuliegen, die bereits ganz reflectorisch wirkt
-und wohl als solche vererbt werden könnte.</p>
-
-<p>Die Erfahrungen, die man andererseits an Kindern
-macht, die aus besten Bildungskreisen entspringen und
-doch, ehe sie durch Zucht selbst gebildet sind, nichts<span class="pagenum"><a id="Seite_27">[27]</a></span>
-bethätigen als die alten thierischen Instincte, die mit
-ihrem roheren Egoismus dem Mitleid gerade zuwider
-laufen, verhindern alle derartigen optimistisch gefärbten
-Schlüsse.</p>
-
-<p>Beschränkt, wie unsere Kenntnisse von dem
-ganzen Gewebe der Vererbungsfragen gegenwärtig
-noch sind, müssen sie dem Dichter, der in ihnen das
-Material tragischer oder versöhnender Verknotungen
-sucht, eine starke Resignation und scharfe Kritik als
-Grundbedingung an's Herz legen. Rechnen soll er
-mit der Vererbungsfrage als Ganzem, das ist sicher.
-Aber er soll nicht spielen damit, sich nicht muthwillig
-auf Gebiete begeben, die der Fackel des Forschers
-selbst noch verschlossen sind. Die Zukunft wird erst
-zeigen können, wie eigentlich diese Dinge eingreifen
-in's Leben des Einzelnen, wie die Sünden und Vorzüge
-der Ahnen sich unmittelbar im Gehirne des Enkels
-rächen. Immerhin mag heute schon der grandiose
-Romancyklus von Zola eine durchdachte Vorahnung
-für das Kommende darstellen. Wenn man sich aber
-vergegenwärtigen will, welche zahllosen dichterischen
-Vorwürfe in dem Spiel der Ideenketten, an die Schule
-und erste Bildung uns schmieden, enthalten sind, so
-kann man im Grunde nur warnen vor dem einseitigen
-Betonen der Vererbungsconflicte, so lange die Physiologie
-noch nicht in festen Gesetzen die nöthigen Prämissen
-aufgestellt. Man soll sie beachten, wo man
-durch den Stoff nothwendig auf sie geführt wird, aber
-sie noch nicht in den Vordergrund drängen, wo es
-nicht durchaus nöthig ist.</p>
-
-<p>Die indirecte Vererbung, das unbrauchbare Alte,
-das uns in unserer Bildung, durch unsere Umgebung
-allenthalben belastend in's Gehirn gegraben wird,<span class="pagenum"><a id="Seite_28">[28]</a></span>
-tausend begabte Köpfe im Kampfe mit dem lebendigen
-Neuen zu Tode hetzt, uns als unechte Religion,
-veraltete Moral, conventioneller Humbug, historische
-Entartung und was sonst noch alles, den Geist trübt
-und für die Ziele der Gegenwart blind macht: das ist
-durchschnittlich weit gefährlicher, als die dunklen
-chemischen und physikalischen Mächte, die hier oder
-dort eine Familie in allen Phasen des Wahnsinns untergehen
-lassen oder an den geschlechtlichen Fähigkeiten
-eines unschuldigen Nachkommen die sexuellen
-Verrücktheiten des Urgrossvaters rächen. Es sind
-harte, unerbittliche Gesetze im Einen, wie im Andern,
-aber im letztern Falle haben sie mehr von jener dunklen
-Tragic, die allem Geschehen der Natur geheimnissvoll
-zu Grunde liegt, im ersteren sehen wir den
-Kampf menschlich lebhafter und näher vor Augen,
-wir fühlen die Schmerzen, wie die Triumphe innerlich
-blutiger und siegesstolzer mit, weil wir mehr verstehen
-und stärker durchfühlen, dass die Sache auch einmal
-anders werden könnte durch unser Zuthun.</p>
-
-<p>Ich kehre zur eigentlichen Frage zurück. Gewohnheit
-umschliesst, so haben wir jetzt gesehen,
-zweierlei: Ererbtes und Erworbenes. Da das Letztere
-wenigstens beim normalen Culturmenschen mit zunehmendem
-Alter unausgesetzt wächst, so gleicht das
-Gehirn dieses Menschen schliesslich einer über und
-über beschriebenen Tafel, auf der sich gewisse Striche
-mehr und mehr verdickt haben, und die am Ende gar
-nichts ganz Neues mehr aufzunehmen im Stande ist,
-so dass der Geist wie ein geschickter Seiltänzer mehr
-oder weniger nur noch die vorgeschriebenen Stangen
-abklettert, je nachdem dieser oder jener äussere Anlass
-bei einer der ewig bereiten Endstationen anklopft.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_29">[29]</a></span></p>
-
-<p>Eigentliches Leben in dieses an und für sich sehr
-einfache Gedankenspiel bringt aber nun eine Thatsache,
-die ich bisheran absichtlich vernachlässigt habe.
-Was wir durch Unterricht (sei es nun unmittelbarer
-durch das Leben oder mittelbarer in der Schule) an
-festen Gedankenlinien eingeprägt bekommen, steht
-weder immer im Einklange untereinander, noch mit
-dem, was durch die Vererbung an allgemeinen Instincten
-oder individuellen Neigungen in uns bereits
-bei der Geburt befestigt ist. Mit andern Worten:
-jene constanten Linien im Denkorgan kreuzen, hemmen,
-verwickeln sich vielfach, wodurch die einfachen Denkprocesse,
-die durch die Möglichkeit des Eingrabens
-fester Linien so bequem und bis zur Grenze des Reflectorischen
-glatt gemacht wurden, wiederum recht
-erschwert werden. Ich sehe ab von ganz krankhaften
-Erscheinungen. Man hat Fälle, wo eine Gedankenlinie
-eines Menschen von einem gewissen Puncte ab,
-ohne dass er sich dessen bewusst wurde, in eine ganz
-andere überging, so dass beim Versuche, den Gedankengang
-wieder zu geben, von einer Ecke ab
-jedesmal die Begriffe wie vertauscht waren. Hier
-waren offenbar zwei Linien in abnormer Weise verschmolzen,
-ein hochinteressanter, aber lediglich psychiatrischer
-Fall.</p>
-
-<p>Ich will jetzt versuchen, an einem consequent
-durchgeführten Beispiele genau den normalen Fall
-von sich widersprechenden Gedankenlinien aufzudecken.
-Es ist das um so wichtiger, als man gerade hier, im
-Widerstreite der Gedankenlinien, den schärfsten Beweis
-für eine metaphysisch beeinflusste Willensfreiheit
-zu finden geglaubt hat.</p>
-
-<p>Ich nehme an, einen Menschen trifft ein äusserer<span class="pagenum"><a id="Seite_30">[30]</a></span>
-Sinneseindruck, &ndash; etwa der Anblick einer schönen
-Frau, die das Weib eines Andern ist, also ein Sinneseindruck,
-den das Auge in's Gehirn übermittelt, der
-dort zur geistigen Wahrnehmung wird und als solche
-gewisse Gedanken erregen muss, deren Lauf durch
-die vorhandenen Gewohnheitslinien bestimmt wird und
-deren endliches Resultat bei genügend starker Erregung
-ein Willensact, eine Handlung ist. Der Anblick
-einer körperlich reizenden Frau erweckt im Manne
-nothwendig zunächst die Gedankenketten, die um das
-Geschlechtliche gelagert sind. Diese können aber sehr
-verschiedener Art sein, von dem einen örtlichen Centrum
-können Furchen ganz entgegengesetzter Richtung
-und Tiefe ausstrahlen. Nehmen wir den Fall
-eines Menschen, der gar keine Bildung genossen hat,
-aber auch, vielleicht weil er eben erst geschlechtsreif
-geworden ist, im Bezug auf das Geschlechtliche noch
-durchaus keine feste Gewohnheitsfurche im Gehirn
-trägt. Bei ihm wird der erste Gedanke höchstwahrscheinlich
-die Vererbungsfurche, die den instinctiven
-Fortpflanzungstrieb als uraltes Erbe stets neu zeitigt,
-einschlagen, ein Kampf ist ausgeschlossen, da nur diese
-einzige Linie vorhanden ist, aber der aus der angeregten
-Gedankenkette hervorgehende Wille wird etwas
-Unklares, Reflectorisches haben, das sich dämonisch
-Bahn bricht, aber dem Bewusstsein selbst fast
-ganz entzogen ist.</p>
-
-<p>Zweiter Fall: der Mensch ist ein geübter und geriebener
-Don Juan. Im Worte liegt schon enthalten,
-dass bei diesem Typus sich in der für das Geschlechtliche
-reservirten Gegend des Gehirns nicht bloss die
-instinctive Vererbungs-Furche, sondern daneben noch
-eine sehr tief ausgefahrene Aneignungs-Furche, ein<span class="pagenum"><a id="Seite_31">[31]</a></span>
-durch Gewohnheit individuell scharf eingepflügtes Geleise
-findet, das beim Anblick des schönen Weibes
-eine grosse, aber dem Bewusstsein noch durchweg zugängliche
-Gedankenkette durchpassiren lässt, als deren
-Resultat ein sicherer, auf hundert Erfahrungen gestützter
-Wille entsteht, &ndash; der Wille zur Verführung,
-der Wille zum geschlechtlichen Genuss, &ndash; im Princip
-derselbe Wille, wie bei dem ersten Menschen, nur
-unendlich bewusster und dauernder. Ein Conflict findet
-&ndash; moralische Bildung bei dem Typus des Don Juan
-ausgeschlossen &ndash; auch hier nicht statt, die Wahrnehmung
-erregt nur eine einzige Ideenkette, die als
-Endresultat nur einen Willen kennt.</p>
-
-<p>Der dritte Fall aber, an den ich jetzt herantrete,
-ist der weitaus interessanteste, dichterisch jedenfalls
-der werthvollste. Ein Mensch soll eine ordentliche
-moralische Bildung genossen haben, dabei aber dem
-Geschlechtlichen nicht so fern geblieben sein, dass es
-nicht auch, abgesehen von der stets vorhandenen ererbten
-Linie, eine gewisse Spur in seinem Gehirn
-zurückgelassen hätte, die im Stande wäre, den Gedanken
-bei völliger Unbeeinflussung in Don Juanartige Gelüste
-zu treiben. Eine Disposition, wie diese, ist unter
-allen die verbreitetste. Ihr Ergebniss ist im vorliegenden
-Falle ein innerer Kampf. Die Wahrnehmung erweckt
-zwei Gedankenlinien, die moralische und die
-schlechthin sexuelle, von denen die eine als Endergebniss
-einen Willen erzeugen muss, der dem der
-andern durchaus entgegengesetzt ist. Die Moral verbietet,
-was die geschlechtliche Neigung verlangt. Beide
-Gedankenketten erscheinen vor dem Bewusstsein, &ndash;
-eine freie Wahl ist diesem aber absolut versagt; es
-steht als indifferenter Zuschauer vor dem Kampfe der<span class="pagenum"><a id="Seite_32">[32]</a></span>
-Gedanken um den Willen. Nur ein Wille kann als
-Endresultat hervortreten. So lange beide Ideenketten
-vollkommen gleich stark sind, heben sie sich gegenseitig
-im Puncte des Willens auf wie Plus und Minus.
-Rollt der eine Gedankenzug glatt durch sein Geleise
-bis zur Willensstation, so ist inzwischen der andere
-ebenso glatt dort angekommen und die Beiden verschliessen
-sich gegenseitig den Ausgang. Die Entscheidung,
-welche Linie siegt, kann sehr lange ausstehen.
-Ueber ihre Veranlassung herrschen vielfach
-die irrigsten Vorstellungen. Man denkt sich unwillkürlich,
-das Bewusstsein selbst, welches doch keinerlei
-mechanische Macht besitzt, könne durch einen metaphysischen
-Druck diesen oder jenen Willen zum Durchschlag
-bringen. Das wäre die reinste Hexerei. Die
-Entscheidung kommt vielmehr daher, von wo überhaupt
-alles Motorische nur kommen kann: von aussen,
-durch neue Wahrnehmungen, die während der Hemmung
-jener beiden Ketten in's Gehirn eintreten. Es
-fragt sich bei diesen, in welche der beiden Linien sie
-einlenken. Sind es zufällig sexuelle Eindrücke, die
-mit dem Streite sonst nichts zu schaffen haben, aber
-nothwendig in die geschlechtliche Linie gerathen, so
-graben sie dort die Furche ebenso nothwendig ein
-Minimum tiefer, und dieses Minimum genügt, grob
-sinnlich gesprochen, um dem sexuellen Gedankenzuge
-im Wettlaufe zum Willensziel einen Vorsprung zu
-geben und damit das Resultat zu entscheiden. Umgekehrt:
-nahen sich zufällig bei schwebendem Streite
-neue, moralische Wahrnehmungen, so siegt die Moral
-auch in jenem offenen Falle. Unendlich geringe Factoren
-haben hier die weittragendste Bedeutung. Ein
-zufälliges Wort, ein lebhaftes Erinnerungsbild, der Anblick<span class="pagenum"><a id="Seite_33">[33]</a></span>
-irgend einer Situation, die unmittelbar alle nicht
-das Mindeste mit dem obwaltenden Gedankenzwist in
-der kritischen Sache zu thun haben, entscheidet mit
-mathematischer Gewissheit über den Sieg. In mancher
-bedeutenden Dichtung will es uns bei oberflächlicher
-Betrachtung fast störend und unlogisch erscheinen,
-dass lange Seelenkämpfe plötzlich durch einen vielleicht
-sehr geringfügigen äusserlichen Umstand zur
-jähen Entscheidung gebracht werden. Wer sicherer
-beobachtet hat, sieht gerade hierin den echten Spiegel
-des Wahren, und er wird in der Wahl jenes scheinbar
-geringfügigen Umstandes bei schärferem Hinblick stets
-etwas entdecken, was indirect einem der streitenden
-Gedanken des Helden nicht zufällig, sondern nothwendig
-den Sieg verleihen musste, selbst wenn es gar
-nicht direct an die Objecte des Seelenkampfes heranreichte.
-Es ist nichts weiter als der Tropfen Oel, der
-die eine Wagenaxe in der Arena geschmeidiger macht;
-aber dieser Tropfen ist die weihende Spende der Nike.</p>
-
-<p>Von diesem dritten Menschen giebt es tausend
-und abertausend Varianten. Die gegenseitige Hemmung
-und Beeinflussung der Gedankenketten ist es,
-die uns erst eigentlich das geistige Werden unserer
-Handlungen zum Bewusstsein bringt und verhindert,
-dass Impuls und Effect sich bloss reflectorisch auslösen.
-Man kann sagen, dass wir unserer Gedanken
-erst recht bewusst werden, wenn sie gehemmt sind
-und einander bekämpfen, etwa so, wie die Meeresfläche
-uns erst charakteristische Form gewinnt, wenn
-wir sie uns als ein Spiel sich brechender Wogen denken.
-Von einer freien Beeinflussung des Willens aber
-durch das Bewusstsein kann im buchstäblichen Sinne
-keine Rede sein. Wir erhalten äussere Eindrücke, wir<span class="pagenum"><a id="Seite_34">[34]</a></span>
-denken in gewissen vorgezogenen Linien, dieses Denken
-wird uns unter gewissen Bedingungen durch einen
-Act, dessen innerste Natur wir nicht ergründen können,
-bewusst: das ist alles. In diesen Verhältnissen liegen
-die Wurzeln unseres Glückes und unserer Schmerzen,
-unserer Fortschritte und unserer Rückschritte. Naturwissenschaftlich
-sind wir als ehrliche Beobachter gezwungen,
-die Bedingtheit aller menschlichen Willensacte
-der Art des geistigen Apparates gemäss als
-eine Thatsache auszusprechen, die weder juristische
-noch theologische Forderungen irgendwie erschüttern
-können.</p>
-
-<p>Diese Forderungen müssen sich mit der Thatsache
-abfinden. Die Genesis seiner Gedanken und Handlungen
-zugestanden, bleibt ja praktisch der Mensch
-mit lauter Gedankenketten, die im Verbrechen gipfeln,
-schlecht und strafbar und der Mensch, der durch den
-Zwang seiner Gehirnfurchen zu moralischem Denken
-und Thun gezwungen wird, gut.</p>
-
-<p>Für den Dichter aber scheint mir in der Thatsache
-der Willensunfreiheit der höchste Gewinn zu liegen.
-Ich wage es auszusprechen: wenn sie nicht bestände,
-wäre eine wahre realistische Dichtung überhaupt unmöglich.
-Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im
-menschlichen Denken Gesetze zu ergründen, erst indem
-wir einsehen, dass eine menschliche Handlung, wie
-immer sie beschaffen sei, das restlose Ergebniss gewisser
-Factoren, einer äussern Veranlassung und einer
-innern Disposition, sein müsse und dass auch diese Disposition
-sich aus gegebenen Grössen ableiten lasse, &ndash;
-erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren
-mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise
-eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor<span class="pagenum"><a id="Seite_35">[35]</a></span>
-unserm Auge aufwachsen zu lassen, die logisch sind,
-wie die Natur.</p>
-
-<p>Im Angesicht von Gesetzen können wir die Frage
-aufwerfen: Wie wird der Held meiner Dichtung unter
-diesen oder jenen Umständen handeln? Wir fragen
-zuerst: Wie wird er denken? Hier habe ich die äussere
-Ursache: was findet sie in ihm vor? Was liegt als
-Erbe in seinem Geistesapparate, was hat die Bildung
-und Uebung des Lebens darin angebahnt, welche fertigen
-Gedankenlinien wird jene äussere Thatsache erregen,
-wie werden diese sich hemmen oder befördern,
-welche wird siegen und den Willen schaffen, der die
-Handlung macht? Ich habe das Wort »mathematisch«
-gebraucht. Ja, eine derartige Dichtung wäre in der
-That eine Art von Mathematik, und indem sie es wäre,
-hätte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen
-Namen eines psychologischen Experimentes zu bezeichnen.</p>
-
-<p>Ich glaube gezeigt zu haben, wie gross unsere
-Unkenntniss im Einzelnen besonders bei der Vererbungsfrage
-noch ist. Jene Dichtung, von der ich rede,
-ist in ihrer Vollendung noch ein Traum. Aber das
-soll uns nicht hindern, rüstig am grossen Bau mitzuschaffen.
-Einstweilen möge sich vor allem die Klarheit
-über die Hauptprobleme Bahn brechen. Der
-Dichter soll anfangen, sich bei der Unzahl von Phrasen
-etwas zu denken, die auf seinem Gebiete umherschwirren,
-die Sätze wie: »Es lag in ihm so zu handeln«, »Die
-Natur brach sich gewaltsam Bahn«, »Er fühlte etwas,
-was seinen Gedanken blitzschnell eine andere Richtung
-gab« und ähnliches, sollen ihm einen Inhalt bekommen,
-er soll einsehen, dass es im Geiste so wenig Sprünge
-giebt, wie bei einem festen Verkehrsnetz, wo jede alte<span class="pagenum"><a id="Seite_36">[36]</a></span>
-Strasse so lange wie möglich benutzt wird und eine
-neue nicht von heute auf morgen gebaut wird, er soll
-endlich alle die grossen Namen: Schicksal, Erbsünde,
-Zufall und wie sie heissen mögen, im Einzelnen neu
-prüfen und auf die Principien hin modificiren, wo es
-Noth thut. Ich gebe hier keine Aesthetik, sondern
-beschränke mich auf die naturwissenschaftlichen Grundlagen,
-es liegt mir fern, in jene Fragen näher einzutreten,
-die sich daran anknüpfen. Man sagt wohl, die
-Poesie werde roh und alltäglich, wenn sie sich an die
-Fragen der Physiologie um Auskunft wende. Wenn
-ich die Probleme überblicke, auf die der Gang dieser
-Studie mich geführt hat, so weiss ich nicht, was das
-heissen soll. Diese Probleme sind die höchsten, die
-ich mir denken kann. Wir stehen dicht vor der Schwelle
-des Ewigen, des Unerreichten, und wandeln doch noch
-auf dem sicheren Boden der Wirklichkeit. Giebt es
-einen höheren Genuss?</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-036.png" alt="" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_37">[37]</a></span></p>
-
-<h2 id="Drittes_Capitel">Drittes Capitel.<br />
-Unsterblichkeit.</h2>
-</div>
-
-<p>Geheimnissvolles Wort, &ndash; Unsterblichkeit! Wer
-die Geschichte der Menschheit anknüpfen wollte an die
-Geschichte ihrer tiefsten Träume, ihres bangesten, herzbewegtesten
-Sehnens, der müsste sie anknüpfen an
-dieses Wort.</p>
-
-<p>Es ist nicht wahr, dass dieses Wort nicht auch
-uns noch immer im Grunde all' unseres Denkens fortzitterte:
-&ndash; die uralten Phantasieen des Volkes vom
-Nilstrande, in denen der Zauber desselben zuerst eine
-dämonische Macht geworden, sind von all' dem Alten,
-Verklungenen vielleicht noch das Lebendigste und
-greifbar Deutlichste, was mitten durch unsere junge
-Welt wandelt. Wir sind anders geworden, besser,
-freier, wir stehen nicht mehr im Morgenschein der
-Jahrtausende, der helle Mittag wölbt sich über uns, der
-grosse, helle Mittag, von dem wir noch kein Ende
-sehen, &ndash; und doch &ndash; und doch. Das Wort Unsterblichkeit
-ist nach wie vor eine zwingende Gewalt. Es
-ist die Basis aller Metaphysik in der Religion. Die
-Zeiten sind herum, wo die Menschheit einen Gott in<span class="pagenum"><a id="Seite_38">[38]</a></span>
-Donnerwolken oder Knechtsgestalt zur Erklärung ihrer
-Sittengesetze brauchte: die Frage des ewigen Looses
-nach aller Zeitlichkeit fordert auch heute noch den
-kühnen Flug über die Grenzen des Erkannten, und
-wenn alle dogmatische Religion sich sonst zersetzen
-sollte, so wird ihre letzte lebenskräftige Ranke sich
-immer wieder emporwinden an der festen Säule des
-Trostes am Grabe unserer Todten. Aber wie die
-meisten Fragen, die eine religiöse Bedeutung besitzen,
-ist auch diese zugleich auf's Engste verwachsen mit der
-Dichtung. Ihre Behandlung unter den Prämissen realistischer
-Aesthetik und Poesie scheint mir um so dringender
-geboten, als die allgemeine Ansicht von der Stellung
-der exakten Naturwissenschaft zu ihr vielfach eine einseitige
-oder geradezu falsche ist. Dank einer gewissen
-Sorte von voreiligem und bei bestem Willen hochgradig
-ungeschicktem Popularisiren physiologischer Erkenntniss,
-hat man sich daran gewöhnt, ein Dilemma
-aufzustellen, das thatsächlich nicht stichhaltig ist. Man
-wiederholt unaufhörlich die beiden Sätze: Entweder
-unsere Seelen sind unsterblich, &ndash;&nbsp;&ndash; oder mit dem
-Tode ist alles aus für ewige Zeiten und in jeder Bedeutung,
-&ndash; wobei es dann als Folgerung der Wissenschaft
-nahe gelegt wird, dass die erste Möglichkeit in
-Wahrheit keine sei und die zweite als Kehrseite der
-andern die nothwendig richtige sein müsse. Der Fehler
-liegt in dem »entweder &ndash; oder«. Ich will versuchen,
-das exact zu entwickeln. Die moderne Physiologie
-ist, um den ersten Punct zunächst allein in's Auge zu
-fassen, allerdings, sobald sie ehrlich sein will, gezwungen,
-die gewöhnlichen Vorstellungen von Unsterblichkeit
-sämmtlich zu vernichten. Die Seele im Volkssinne ist
-für sie lebend wie todt ganz gleichmässig ein Gespenst.<span class="pagenum"><a id="Seite_39">[39]</a></span>
-Das, was wir so nennen, ist ein Complex von Erscheinungen
-höchst verwickelter Art, die wir unabänderlich
-als Parallelphänomene gewisser molecularer Vorgänge
-finden und zwar so parallel, dass jeder molecularen
-Verschiebung auch eine Verschiebung des Psychischen
-entspricht und das so genau, dass, wie ich es im vorigen
-Capitel für ein bestimmtes Gebiet durchgeführt habe,
-schematische Bilder des psychischen Mechanismus auf
-den molecularen passen und umgekehrt. Möglicherweise
-ist jede moleculare Erscheinung in der Welt von
-entsprechenden psychischen begleitet, doch werden
-letztere uns erst bemerkbar bei einer gewissen Summirung
-und Ordnung der Molecularphänomene, wie
-sie in der organischen und hier vor allem der höheren
-organischen, der thierischen und schliesslich der menschlichen
-Molecularstructur sich finden. Diese höhere
-Structur ist lediglich ein Anordnungsproblem, eine
-Constructionsaufgabe, bei der einfachste Bestandtheile
-schliesslich den complicirtesten Bau liefern. Obwohl
-durch gewisse, uns zur Zeit noch verschlossene Zeugungs-
-und Vererbungsgesetze mit der nächsten Generation
-ähnlicher Gebilde verknüpft, hat die einzelne
-Molecularpyramide, die in ihrer ungeheuren Massenanhäufung
-für bestimmte Zwecke auch die erstaunlichsten
-psychischen Parallelerscheinungen aufwies, die
-je geleistet worden waren, doch eine endliche Dauer
-und zerfällt nach einer gewissen Zeit wieder in ihre
-kleinen molecularen Bausteine. Letzteren Vorgang
-nennen wir Tod. Dass die psychischen Phänomene,
-die sich parallel mit den molecularen zu einer colossalen
-Gesammtleistung für die Dauer der molecularen
-Massenordnung vereinigt, im Momente des Zusammenbruchs
-der molecularen Pyramide ebenfalls als Ganzes<span class="pagenum"><a id="Seite_40">[40]</a></span>
-verschwinden und sich in die problematischen geringsten
-Procentsätze auflösen, die möglicherweise an jedem
-Einzelmolecül haften, ist vollkommen selbstverständlich.
-Das Schema des physiologischen Todes: Zerfallen einer
-kunstvollen mathematischen Figur in lose, durch das
-Spiel neuer Kräfte bald nach allen Richtungen verschobene
-Puncte, muss sich nothwendig auch decken
-mit dem Schema des psychologischen Todes. Der
-Naturforscher muss als absolut sichere Thatsache constatiren,
-dass noch niemals an irgend einem Puncte
-der bekannten Welt psychische Erscheinungen ohne
-entsprechende moleculare beobachtet worden sind, und
-der Inductionsschluss vom Bekannten auf das Unbekannte
-tritt mit allem Rechte in Kraft. Das Suchen
-nach körperlosen Seelen, wie es in spiritistischen Kreisen
-als angebliches Problem behandelt wird, kann gerade
-vom methodologischen Standpuncte aus nur mit
-dem Eifer verglichen werden, mit dem jener berühmte
-Bürger der guten Stadt Schilda das Tageslicht vermittelst
-einer Mausefalle zu fangen versuchte, um es
-in das fensterlose Rathhaus zu überführen. Alles was
-in's Gebiet dieser theoretischen wie practischen Narrheiten
-gehört, kann physiologisch nicht scharf genug
-zurückgewiesen werden. Der Dichter, der hier pikante
-Stoffe zu finden glaubt, ist zu bedauern. Ich bin sogar
-der Ansicht, dass, abgesehen von den Geistererscheinungen,
-die keine Dichtung uns mehr im Ernste auftischen
-kann, der rechte Poet auf so manche kleinen
-Effecte verzichten soll, die man sich im Banne älterer
-Anschauungen noch gefallen liess. Wenn er einen
-Todten schildert, soll er nicht mehr die Reporterphrase
-verwenden: »Die Mienen des Entschlafenen bezeugten
-den tiefen Frieden, zu dem er eingegangen.« Die Gesichtsmuskeln<span class="pagenum"><a id="Seite_41">[41]</a></span>
-werden nach eingetretenem Tode meist
-schlaff und geben den Zügen etwas Lächelndes. Aber
-man sollte das nicht mehr als Anhaltspunct benutzen,
-nachdem man weiss, dass es in Wahrheit nichts besagt
-und eine körperliche Erscheinung ganz gleicher
-Natur wie die nachfolgenden der Verwesung ist, die
-kein Mensch als Effecte ausspielen möchte.</p>
-
-<p>Die strenge Wissenschaft geht übrigens noch
-weiter. Sie verneint nicht nur die individuelle Fortdauer
-der psychischen Processe über den Tod hinaus,
-sondern sie bedroht auch ernstlich die letzte Zuflucht
-der Unsterblichkeitsträume, die bedingte Fortdauer der
-Väter in den Nachkommen. Es giebt gewisse nicht
-wohl anfechtbare Schlüsse, die das ewige Bestehen
-des Menschengeschlechts für die Zukunft ebenso unsicher
-machen, wie es auf Grund der paläontologischen
-Forschung für die Vergangenheit ist.</p>
-
-<p>Cosmologische Erscheinungen, die theils als Ergebniss
-unendlich kleiner, aber unablässig anwachsender
-Störungen, theils in Form gröberer Catastrophen
-eintreten können, sind möglich, die den Planeten, an
-dessen Existenz und Temperaturhöhe das organische
-Leben gebunden ist, gänzlich vernichten oder doch
-zum Bewohnen untauglich machen können. Auch
-jener Fortdauer durch Zeugung ähnlicher Nachkommen
-wäre damit ein Ziel gesetzt.</p>
-
-<p>Das ist mit runden Worten die eine Seite der
-Frage. Die Antwort der Wissenschaft ist bei aller
-Mangelhaftigkeit unserer physiologischen Erkenntniss
-in diesem Falle decidirt genug, um alle leichtfertigen
-Träumereien auszuschliessen. Die Dichtung kann nichts
-thun, als die Thatsache annehmen, wie sie ist. Wir
-dürfen weder poetisch darstellen, wie ein verstorbener<span class="pagenum"><a id="Seite_42">[42]</a></span>
-Mensch aus dem Jenseits zurückgekommen, noch dürfen
-wir überhaupt den Anschein erwecken, als hielten wir
-die psychische Existenz eines lebenden Wesens für
-etwas, was von der physiologischen Erscheinungsform
-so unabhängig wäre, dass es beim Zerfallen der Letzteren
-selbstständig weiter existiren könne.</p>
-
-<p>Mit Entschiedenheit muss ich mich nun aber gegen
-die zweite Hälfte jenes Doppelsatzes wenden. Ich
-frage: was will der Satz »mit dem Tode ist Alles aus«?
-In dem »Alles« steckt eine Vermessenheit, die derselbe
-Naturforscher, der eben die bestimmte, positive Einzelannahme
-eines Fortlebens der individuellen Seele zurückweisen
-musste, darum noch lange nicht kritiklos
-nachzusprechen gezwungen ist. In jenem »Alles« wäre
-enthalten, dass wir eine factische Kenntniss vom Wesen
-der ganzen Welt, wie des Individuums hätten. Das ist
-nicht der Fall. Es muss ganz scharf unterschieden
-werden: die bestimmte psychisch-physiologische Weltansicht
-des Naturforschers und die Welt an sich, die
-Welt, die sich hinter dem Bilde verbirgt, das wir sehen.
-Der Naturforscher ist ein Mensch. Er sieht Dinge um
-sich her, so weit seine Sinnesorgane und sein Gehirn
-ihm das erlauben &ndash; nicht mehr. Die schärfsten Beweise
-sprechen dafür, dass diese Sinnesorgane und
-dieses Gehirn ihm nur einen ganz beschränkten Theil
-der wirklichen Welt zeigen, und es giebt eine Reihe
-von Puncten, die nahe zu legen scheinen, dass sogar
-dieser kleine Theil beeinflusst und möglicherweise gefälscht
-ist durch die feste Form seines beobachtenden
-und reflectirenden Organes. Da Alles, was wir gewahren,
-erst in unserm Centralorgan zum Bilde wird,
-so kann die Vermuthung nicht wohl widerlegt werden,
-dass die Structur dieses Organs auf die Form dieses<span class="pagenum"><a id="Seite_43">[43]</a></span>
-Bildes einen Druck ausübt; man hat mit einiger Wahrscheinlichkeit
-bereits ausgesprochen, dass die Begriffe
-des Raumes, der Zeit und der Causalität in unserm
-subjectiven Weltbilde erst Wirkungen dieses Druckes
-wären und somit überhaupt nur in uns, nicht in der
-Aussenwelt existirten; man hat mit ziemlicher Sicherheit
-den Begriff des Stoffes in uns selbst verlegt,
-während von Aussen nur Krafteindrücke kommen.
-Und es wird für den Laien am Besten ermöglicht, sich
-in diese kühnen, aber nicht unbegründeten Hypothesen
-hineinzudenken, wenn er sich an rohe Facta der
-Sinnenwelt hält (beispielsweise die Farben, welche
-bekanntlich nicht an den Gegenständen haften, die wir
-roth, blau oder grün sehen, sondern in unserm Auge
-sind) und sich mit ihrer Hilfe die Möglichkeit vergegenwärtigt.
-Während diese Ideenkreise die Fälschung
-unseres Weltbildes durch unser eigenes Denkorgan als
-wahrscheinlich hinstellen, zwingt andererseits die Forschung
-selbst zur Erkenntniss fester Grenzen. Wir
-sind nicht im Stande, jenen Parallelismus von Psychischem
-und Molecularem, von dem auf diesen Blättern
-bereits so oft die Rede gewesen ist, irgendwie zu verstehen.
-Wenn eine Molecülreihe rechts schwingt beim
-Gefühl des Schmerzes, links bei dem des Angenehmen,
-so ist damit noch keine Brücke geschlagen von der
-Schwingung zum Gefühl und wir können lediglich den
-nie wechselnden Parallelismus constatiren. Wenn wir
-den Begriff des Molecüls zerlegen und die tieferen Geheimnisse
-dessen aufzudecken versuchen, was wir
-mechanische Kraft nennen, so verwickeln wir uns
-nicht aus Unkenntniss der Sachen, sondern durch
-offenkundiges Versagen der Logik in unlösbare Widersprüche.
-Wir können nicht umhin, ein derartiges Aufhören<span class="pagenum"><a id="Seite_44">[44]</a></span>
-aller wissenschaftlich gangbaren Strassen als
-Grenze zu bezeichnen. Wir fühlen sehr wohl, dass
-jenseits derselben noch sehr Viel liegt, ja, die fundamentale
-Kenntniss des Daseins eigentlich erst ihren Anfang
-nehmen würde, aber es ist nichts zu machen, wir
-können mit dem Gehirn, das wir haben, einfach nicht
-weiter. Ob unsere Urenkel mehr vermögen werden,
-muss ihnen ihr vielleicht weiter entwickeltes Gehirn
-sagen, es geht uns gegenwärtig nichts an.</p>
-
-<p>Eine Wissenschaft aber, die von Grenzen, von
-Fälschungen ihres Weltbildes zu reden gezwungen ist,
-kann zwar innerhalb ihres Gebietes sehr wohl diese
-oder jene Thatsache als sicheres Resultat aufstellen,
-sie hat aber kein Recht, ihre Urtheile in der Weise
-zu verallgemeinern, dass sie sich für competent in
-Fragen der absoluten Welt, der Welt an sich, erklären
-darf. Die Wissenschaft ist nicht nur berechtigt, sondern
-genöthigt, ausdrücklich festzustellen, dass so, wie sich
-die Welt in unsern Menschenaugen deutlich erkennbar
-spiegelt, ein isolirtes Fortleben der Seele einfach unmöglich
-ist. Mit dem Tode ist eine Kette von Ereignissen
-der sichtbaren Welt zu Ende. Was beweist
-das für die wirkliche Welt, jene Welt, die sich noch
-unabsehbar hinter unsern Erkenntnissgrenzen dehnt und
-von der ein ganz kleines, getrübtes Endchen in unser
-Sehfeld sich erstreckt? Gar nichts. Wir, die wir weder
-wissen, was psychische und moleculare Vorgänge ihrem
-innersten Wesen nach sind, noch wie sie zusammen
-kommen, wir, die wir von Zielen, Zwecken, Sittlichkeit,
-Gesetzmässigkeit, Anfang, Ende, Schönheit oder Hässlichkeit
-der wahren Welt auch nicht das Geringste
-ahnen, wir sollten von etwas sagen, es sei zu Ende?
-Wir, die wir in einer Welt voll unendlicher, sich im<span class="pagenum"><a id="Seite_45">[45]</a></span>
-Raum verlierender Linien, voll unendlicher Decimalbrüche,
-voll unendlich theilbarer Körper leben, wir
-sollen von irgend einem Ding sagen: Hier ist alles
-aus? Eine wohlfeile Philosophie, die aus dem schwankendsten
-unserer Begriffe, der Materie, etwas absolutes
-macht, mag sich dabei beruhigen; Naturwissenschaft
-ist das nicht.</p>
-
-<p>Ich hoffe, dass man mich richtig verstanden hat.
-Alles was wir Menschen sehen, ist Physisches, auch
-das Psychische, in so fern es stets an ein Physisches
-geknüpft ist. Innerhalb dieses Physischen giebt es
-keine Unsterblichkeit. Aber wir haben Grund zu
-glauben, dass dieses Physische vor unsern Augen nicht
-das echte Cosmische, das eigentlich Wahre und Seiende
-ist, sondern bloss ein mattes und lückenhaftes Gleichniss
-desselben. Innerhalb dieses eigentlich Seienden
-ist allem Anschein nach das Leben, das psychische
-wie das moleculare, selbst etwas ganz anderes, und
-dort mag es Verhältnisse geben, die alle irdischen
-Conflicte lösen, alles Schiefe versöhnen; die Annahme
-kann uns nicht bestritten werden, der Naturforscher
-hat hier nichts mehr zu sagen. Freilich: Wissen thun
-wir von jener Welt an sich gar nichts, als dass sie
-besteht. Aber darin liegt viel. Mit ihrer Existenz
-haben wir einen ruhenden Punct gefunden, der ausserhalb
-des Irdischen liegt. Mit dem Bewusstsein eines
-solchen Punctes weicht die drückende Schwere des
-Vernichtungsgedankens sowohl im Individuellen, wie
-im allgemeinen Erdenloos. Mag unsere Laufbahn
-immerhin um sein für die Augen, für das enge Gehirn
-der verschwindenden Menschenwelle auf dem einsamen
-Planeten der Sonne. <em class="gesperrt">Alles</em> ist damit nicht
-aus. Hinter dem ewig verschlossenen Vorhang wandelt<span class="pagenum"><a id="Seite_46">[46]</a></span>
-ein Anderes, ein Grösseres, als wir. Indem der
-Forscher uns unerbittlich versagt, unsere Unsterblichkeitsträume
-in Bilder der sichtbaren Welt zu kleiden,
-eröffnet er uns zugleich durch die Feststellung von
-Grenzen die Ahnung einer Welt, an die jene Träume
-sich ungestört heften dürfen. In dem Versagen jenes
-ersten Punctes muss er denn allerdings seine ganze
-Strenge walten lassen.</p>
-
-<p>Wohl eröffnet sich uns der tiefe Gedanke, dass
-unser Leben nicht das Absolute, nicht Leben im eigentlicheren
-Sinne sei, sondern nur ein seltsamer Traum,
-ein Wandelbild, das an uns vorüberzieht, wohl mögen
-wir zugeben, dass der Tod nur eine Episode in diesem
-Bilde, kein wirklicher Abschluss sei. Aber das ist
-auch nun von der andern Seite wieder alles. Jene
-wahre Welt greift nicht als fremder Gott in unsere
-Welt ein, weder in den Offenbarungen der Religion,
-noch den Geheimnissen des innersten Seelenlebens,
-noch auch in den Idealen der menschlichen Kunst. Es
-giebt keine Puncte im physischen Weltbilde, das wir
-vor uns sehen, wo wir der Welt an sich näher oder
-ferner wären; überall stossen wir bei einiger Durchdringung
-der Erscheinungen auf die ewige Schranke.</p>
-
-<p>Gleichwohl &ndash; selbst mit all' diesem Vorbehalt &ndash;
-scheint mir der Poesie vor allem eine mächtige Stütze
-in dieser Fassung des Unsterblichkeitsgedankens zu
-liegen. Für sie, die stets das Ganze, das Allgemeine
-im Auge hat, ist das Resultat des Naturforschers, das
-hinter der physischen Welt eine andere, wenn auch
-unbekannte, nachweist, ein gewaltiger Gewinn. Dem
-Irdischen, das in ungelösten Conflicten auseinandergeht,
-wahrt sie die Fernsicht in ein Zweites, das dahinter
-liegt und das zugleich unsere Erkenntnissschwäche,<span class="pagenum"><a id="Seite_47">[47]</a></span>
-wie unsere Hoffnung einschliesst. Nur wenn sich die
-Poesie frei macht von dem gewöhnlichen, physischen
-Unsterblichkeitsglauben und, der Wissenschaft folgend,
-sich zu dem wahrhaft philosophischen Gedanken erhebt,
-dass diese Erscheinungen des Lebens, wie des
-Todes überhaupt nicht das wahre Wesen der Sache,
-sondern nur das getrübte Bild, wie es unser Gehirn
-im Zwange fester Ursachen schafft, darstellen &ndash; nur
-dann kann sie mit gutem Gewissen wieder gelegentlich
-den Schmerz der Tragödie mildern durch ein
-weises Betonen des tröstenden Gedankens, dass weder
-mit dem Leben, noch mit dem Tode, weder mit menschlichem
-Glücke noch menschlichem Unglücke »Alles aus
-sei.« Und es ist dann sehr einerlei, ob sie mit Hamlet
-bloss unser Nichtwissen in die geheimnissschweren
-Worte kleidet: »Der Rest ist Schweigen,« oder ob sie
-in sieghaftem Vertrauen emporjubelt mit dem Götheschen
-Chor: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniss!«</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-047.png" alt="" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_48">[48]</a></span></p>
-
-<h2 id="Viertes_Capitel">Viertes Capitel.<br />
-Liebe.</h2>
-</div>
-
-<p>Weit ab von jenen geheimnissvollen Schranken
-des irdischen Geschehens, die wir im letzten Capitel
-berührten, liegt mitten im Centrum der molecularen
-Welt der unscheinbare Ursprung dessen, was unter
-dem Flammenzeichen des stolzen Namens »Liebe« sich
-zum mächtigsten Herrscher im Gesammtbereiche der
-Poesie aufgerungen hat. Das Wort Unsterblichkeit
-mit seinem Echo in den Gründen, »von wo kein
-Wandrer wiederkehrt,« muss seiner Natur nach den
-menschlichen Gedanken bis zu jenen Grenzen führen,
-die dem Forscher gestellt sind; das Wort Liebe, und
-mag das noch so hart hineintönen in alle unklaren
-Träumerseelen, bedeutet in seiner Quelle, seinem Verlauf
-und seinen Zielen eine durchaus irdische Erscheinung.</p>
-
-<p>Der Naturforscher, von dem der gewissenhafte
-Dichter Aufschluss verlangt über die Resultate seiner
-unbefangenen Forschung nach der Natur der Liebesempfindung,
-ist gezwungen, den Fragenden vor die
-Anfänge jener ungeheuren Kette zu stellen, die wir<span class="pagenum"><a id="Seite_49">[49]</a></span>
-zusammenfassend die organische Welt nennen. Tief
-unten an den Wurzeln dieses riesigen Lebensbaumes
-zeigt er ihm die einfache Zelle, ein selbstständiges
-Wesen, nicht Thier noch Pflanze &ndash; einen Crystall aus
-gleichem Stoffe geformt wie alle andern, aber von
-allen ewig geschieden durch die Besonderheit seiner
-molecularen Zusammensetzung. Gesetze, ihrem Wesen
-nach unbekannt, wie jene, die den crystallinischen
-Sprösslingen irgend einer Mutterlauge alltäglich vor
-unsern Augen jenes mathematisch starre Gefüge geben,
-das jeder Mineraliensammlung den allgemein bekannten
-Charakter verleiht, ermöglichen dieser organischen Zelle
-eine bestimmte Art von Aufnahme fremder Stoffe, die
-sie wachsen lassen, und eine Zertheilung in zwei oder
-mehrere Individuen vom Puncte an, wo dieses Wachsthum
-einen gewissen, nicht näher definirbaren Zustand
-der Reife erlangt hat. Wir kennen heute noch Geschöpfe
-solcher einfachsten Art, deren Leben in den
-beiden Processen des Wachsens durch Nahrungsaufnahme,
-das durch das Vermögen der Ortsbewegung
-unterstützt werden kann, und des Zerfallens in eine
-Anzahl neuer, kleiner Individuen, bei denen sich dasselbe
-wiederholt, erschöpft zu sein scheint. Die höchste
-Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass sie unveränderte
-Nachkommen uralter Formen sind, aus denen sich an
-andern Stellen durch Umwandlung die gesammte Linie
-der höheren Organismen entwickelt hat. Der Begriff
-der Fortpflanzung bedeutet hier einfach, wie bei Mutter
-und Kind: Trennung. Von Liebe, von einer Vereinigung
-zweier Individuen ist noch keine Rede. Aber
-in dieser Trennung liegt bereits der erste Schritt zum
-Kommenden. Gewisse äussere Ursachen, die im Princip
-jedenfalls am Besten in dem Darwin'schen Gedanken<span class="pagenum"><a id="Seite_50">[50]</a></span>
-von der umwandelnden Macht des Kampfes
-um's Dasein, der kleinste chemisch und physicalisch
-bedingte individuelle Neigungen im bestehenden Typus
-zu grossen Verwandlungen heraufzüchtet, ausgesprochen
-sind, führten nämlich im Laufe der Zeit eine Fortentwickelung
-unter den einzelligen Wesen herbei. Die
-einfache Zelle zerfiel unter Umständen in ein Dutzend
-Tochterzellen. Anstatt sich nun nach allen Richtungen
-zu zerstreuen, konnte es für diese nützlich werden,
-beisammen zu bleiben. Wir sehen ein Conglomerat
-von Zellen einer einzigen Generation, die sich wie die
-Haut einer Blase um einen hohlen Mittelraum gruppiren
-und als Ganzes in einfachster Form das Schema
-eines thierischen Körpers bilden. Zwischen den Zellen
-entwickelt sich ein Gefühl der Gemeinschaft &ndash; der
-Freundschaft, wenn man so will. Aus der Generation
-von Zellen wird ein Zellenstaat, in dem die Mitglieder,
-selbst Sprösslinge einer Einheit, sich gewissermassen
-zu einer neuen, höheren Einheit zusammenthun. Sehr
-bald entwickelt sich Arbeitstheilung. Da die Nahrungssäfte
-durch die dünnen Zellwände hindurch bei
-näherem Aneinanderschliessen auf Grund physikalischer
-Gesetze frei circuliren, können sich einige wenige
-Zellen, indem sie alle Kraft darauf verwenden, ganz
-der Nahrungsaufnahme widmen und den übrigen die
-motorischen und sensitiven Eigenschaften überlassen.
-Durch diese Theilung der Functionen entstehen Organe,
-das heisst bestimmte Ecken des Zellenstaates,
-wo Zellen bloss noch für eine einzige Function thätig
-sind, diese aber so intensiv betreiben, dass sie für alle
-andern mit genügt. Am Ende ist ein höchst verwickelter
-Organismus geschaffen, dessen Theile nur
-mehr in der Gesammtmasse existiren können, so dass<span class="pagenum"><a id="Seite_51">[51]</a></span>
-der Zellenstaat ein einheitliches Wesen, ein wahres
-Individuum wird. Die Frage ist: wie wird die Fortpflanzung
-dieser complicirten Maschine vor sich gehen?
-Das Zerfallen in neue Individuen war eine Function
-der Einzelzelle. Im Zellenstaat hat diese sich bei der
-allgemeinen Arbeitstheilung ebenfalls derartig in gewissen
-Zellen localisirt, dass nur noch diese zerfallen
-und Abkömmlinge des Ganzen in Gestalt einzelner
-Zellen entsenden. Von diesen Tochterzellen gründet
-später jede ihren neuen Staat für sich, indem sie den
-alten Weg der Selbsttheilung einschlägt und aus den
-Theilchen den Staat hervorgehen lässt. Der Vorgang
-ist jetzt complicirter, aber noch immer behauptet die
-Trennung allein ihr Recht, wo es sich um Fortpflanzung
-handelt. Erst die nächste Stufe erweitert sie zu
-etwas Neuem. Allenthalben bestehen Zellengemeinden,
-die kleine Einzelzellchen als Sprösslinge aussenden.
-Es ereignet sich, dass zwei dieser Sprösslinge &ndash; zwei
-von verschiedenen Gemeinden &ndash; auf einander stossen,
-sich vermischen. Jeder trägt das Bestreben in sich,
-durch Selbsttheilung einen neuen Staat zu gründen.
-Indem das Bestreben der Beiden sich vermischt, entsteht
-ein gemeinsamer Bau von doppelt starken Dimensionen.
-Wieder treten Gesetze in Kraft, die den Vortheil
-nicht verloren gehen lassen, es bildet sich bei
-einem grossen Theile der Zellenstaaten allmählich das
-Bestreben aus, seine Sprösslinge alle sich mit je einem
-Sprössling eines andern vermischen zu lassen, um dem
-künftigen Neubau eine Doppelbasis von verstärkter
-Kraft zu geben. Die Trennung des Keims vom Mutterorganismus
-bleibt nach wie vor; aber es folgt ihr
-eine Mischung, eine Vereinigung, ehe ein neuer Organismus
-entstehen kann.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_52">[52]</a></span></p>
-
-<p>Inzwischen, während dieser letzte Fortschritt sich
-anbahnte, hat die Arbeitstheilung und Organisation in
-den einzelnen Zellenstaaten colossale Entwickelungen
-durchgemacht. Es giebt Zellstaaten, die aus Millionen
-einzelner Zellen bestehen, welche sich um die verschiedensten
-Hohlräume in mehrschichtigen Blasen
-gruppiren, und jeder Keimzelle wird durch bestimmte
-Vererbungsgesetze auferlegt, nach Verschmelzung mit
-einer solchen eines andern gleichartigen Staates ein Gebäude
-aufzuführen, das nach Kräften dem Mutterstaate
-gleichen muss. Indessen: die Welt ist gross, die gleichartigen
-Staaten sind oft weit von einander entfernt,
-die frei ausschwärmenden Keimzellen finden sich oft
-nicht zueinander. Es bahnt sich ein neuer Fortschritt
-an. Wie einst jene ersten Tochterzellen in einem
-Gefühle von Zugehörigkeit, von Freundschaft beisammen
-blieben und den Zellenstaat gründeten, so vereinigen
-sich jetzt je zwei Zellenstaaten &ndash; nicht um ganz zu
-verwachsen, sondern bloss, um ihren Keimzellen durch
-möglichst günstige locale Bedingungen das Verschmelzen
-zu erleichtern. Sie treten von Zeit zu Zeit nahe zusammen,
-und der eine entsendet seine Fortpflanzungszellen
-in einen der geschützten Hohlräume im Innern
-des andern, wo sie sich ungestört mit den Keimzellen
-dieses letztern verbinden können, um ihr Verschmelzungsproduct
-nachher von dort aus in's Freie treten
-zu lassen.</p>
-
-<p>Der Laie, dem diese Dinge neu sind, denkt vielleicht,
-der Naturforscher, indem er die letzte Stufe der
-Zellenentwickelung schildert, stehe noch immer bei
-grauen Urzeiten. In Wahrheit sind wir bereits am
-Ziel. Der Mensch ist der höchste und vollendetste
-Zellenstaat der zuletzt besprochenen Art; und zwar<span class="pagenum"><a id="Seite_53">[53]</a></span>
-ist der Mann der eine, das Weib der andere. Indem
-sie sich geschlechtlich nähern, vermischt sich eine Keimzelle
-des Mannes, die Samenzelle, mit einer Keimzelle
-des Weibes, der Eizelle, in geschütztem Hohlraum des
-weiblichen Körpers, aus der Mischung der beiden
-Zellen entsteht der neue Zellenstaat des kindlichen
-Organismus, der später aus dem bergenden Leibe des
-Mutterstaates an's Licht des Tages tritt, um sich hier
-fertig auszugestalten. Bei allen Verwickelungen des
-Details geht durch den ganzen Zeugungsprocess ein
-Athem staunenswerthester Einfachheit, ein Zurückgehen
-auf die ursprünglichsten Erscheinungen des
-organischen Lebens. In jenen beiden Keimzellen, der
-Samen- und der Eizelle, wird der werdende Organismus
-unter dem Bilde der anfänglichen Einzelzelle, des
-Urwesens, von dem die ganze Kette abstammt, wieder
-angelegt, <span id="corr053">und</span> indem der wachsende Embryo sich aus
-ihnen formt, durchläuft er noch einmal die wichtigsten
-Stufen der ganzen Ahnenreihe in traumhaft verschwommenem
-Fluge. Noch einmal scheint die Natur
-sich durchzutasten durch die unzähligen Erinnerungen
-des organischen Stammbaums, über dessen einstigen
-lebenden Vertretern jetzt bereits der Sedimentärschutt
-vieler Jahrmillionen versteinernd lastet. Endlich wird
-der Mensch. Aber auch in ihm mischen sich Vater
-und Mutter noch immer so seltsam, dass man den
-doppelten Ursprung ahnen kann, selbst wenn wir vom
-Zeugungsacte gar keine Vorstellung hätten, die Eizelle
-des Weibes und die Samenzelle des Mannes nie
-im Lichtfelde unseres Mikroskops erschienen wären.</p>
-
-<p>Geheimnisse für den gegenwärtigen Stand der
-Wissenschaft giebt es hier im Einzelnen die Menge,
-Metaphysik gar nicht. Der Parallelismus des Psychischen<span class="pagenum"><a id="Seite_54">[54]</a></span>
-und Molecularen wahrt seine gewöhnliche Rolle,
-das Geistige zeigt sich durchaus in stufenweisem Aufbau,
-je nach der Entwicklungshöhe des Körperlichen,
-und die menschlichen Seelenregungen äussern sich
-folgerichtig erst mit Vollendung des menschlichen
-Gehirns. Wer geneigt ist, den Schauer des Erhabenen
-besonders stark vor den Momenten der höchsten Vereinigung
-des Universellen und Geschichtlichen mit
-dem Individuellen und Vorübergehenden zu empfinden
-und dem Idealen die wissenschaftlich allein zulässige
-Bedeutung des Allgemeinen, über das Einzelne als
-höhere Einheit Hervorragenden zu geben, der wird in
-den gesammten Erscheinungen des Zeugungsprocesses
-eine hohe, vielleicht die allerhöchste ideale Erhebung
-des individuell Menschlichen erblicken müssen und
-ihnen gegenüber jene Regung stärker als irgendwo
-anders empfinden. Wir verdanken den Begleitungsphänomenen
-des Zeugungsgesetzes überhaupt, wenn
-nicht sogar den Sinn für Schönheit, so doch das Wichtigste,
-was wir schön nennen: die edeln Formen des
-Weibes in ihrer künstlerischen Gegensätzlichkeit zum
-Manne, die Farbenpracht der organischen Natur, deren
-Blüthen, Federn, Düfte in ihrer höchsten Entfaltung
-sämmtlich auf geschlechtlichen Beziehungen beruhen,
-die reichen Gaben des Gemüthes, die sich in der Gatten-
-und Elternliebe durch die höhere Thierwelt ziehen, um
-schliesslich in den verallgemeinernden Regungen des
-menschlichen Mitleids ihre höchsten Triumphe zu feiern.</p>
-
-<p>Unsere grossen Dichter haben sich dementsprechend
-auch niemals gescheut, von den natürlichen
-Acten der Zeugung als etwas Grossartigem und im
-eminenten Sinne Idealem unbefangen zu reden und
-den Satz aufrecht zu erhalten, dass wir es in ihnen<span class="pagenum"><a id="Seite_55">[55]</a></span>
-keineswegs mit einem der Sittlichkeit als »Sinnlichkeit«
-feindselig gegenübergestellten Principe, sondern vielmehr
-mit der Basis aller Sittlichkeit zu thun haben.
-Ohne eine solche naturgemässe Grundidee wäre beispielsweise
-die Gretchentragödie des Faust, in der
-gerade die Tiefe und Wahrheit der Neigung bei dem
-Weibe, das geschlechtlich »Echte« das versöhnende
-Element für alle Verletzung der Sitte abgiebt, vollkommen
-widersinnig. Hier wie in andern poetischen
-Meisterwerken liegt der Nachdruck auf dem Satze:
-die Liebe <em class="gesperrt">muss</em> auf enge geschlechtliche Vereinigung
-als ihr natürliches Ziel hinauslaufen, wenn sie wahr
-sein soll &ndash; und wenn äussere Umstände gerade diese
-Wahrheit des Gefühls zur Tragödie gestalten, so ist
-sie selbst dann noch immer grösser als eine Unwahrheit
-im gleichen Falle wäre, so gut wie Wallenstein,
-obwohl er tragisch endet, grösser bleibt, als Einer,
-der in seiner Lage anders handelte; der ganze Begriff
-der Tragödie rankt sich eben um die Wahrheit auf.</p>
-
-<p>Diese Anschauungen unserer grossen Dichter, die
-viel genannt, aber weniger gelesen werden, sind jedoch
-keineswegs die gleichen wie die einer ungeheuren
-Masse kleiner Dichter, die weniger genannt, aber vermöge
-ihrer colossalen Menge weit mehr gelesen werden.
-Die Begriffe, die unser Publicum sich seit Jahrhunderten
-von der Bedeutung der geschlechtlichen
-Dinge für das unausgesetzt behandelte Thema der
-Liebe bildet, sind unter dem Einflusse dieser zweiten
-Sorte von Dichtern nach und nach ganz eigenthümliche
-geworden.</p>
-
-<p>Ich halte diesen Punct für lehrreich genug, um
-ein deutliches Beispiel für jene eigenartige Krankheitsgeschichte
-abzugeben, die sich unter dem Titel der<span class="pagenum"><a id="Seite_56">[56]</a></span>
-sogenannten »rein idealistischen« Richtung durch die
-erotische Weltliteratur und wohl mit am ärgsten
-durch unsere neuere erotische Poesie zieht, eine Krankheitsgeschichte,
-die sich freilich, wie schon gesagt, zumeist
-nur an der breiten Masse der Dichterwerke
-bemerkbar macht, aber von hier aus schwere Ansteckungsstoffe
-in's Publicum verbreitet hat. Man
-wirft der modernen realistischen Richtung die Vorliebe
-für pathologische Probleme vor. Ich erlaube mir im
-Nachfolgenden, ein solches an einem ganzen Kreise
-poetischer Bestrebungen zu entwickeln, auf die Gefahr
-hin, jenem Vorwurfe zu verfallen. Ich schicke dabei
-voraus, dass ich keineswegs der Erste bin, der darauf
-hin weist, dass aber, wie so viele Fälle, die unmittelbar
-in's Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen
-naturwissenschaftlichem Denken und poetischem Schaffen
-gehören, auch dieser noch lange nicht eindringlich
-und oft genug öffentlich besprochen wird und darum
-in den Prämissen einer realistischen Aesthetik nicht
-fehlen darf.</p>
-
-<p>Nehmen wir einmal für einen heitern Moment an,
-es gäbe eine Dichterschule, die den kühnen Satz als
-poetisches Programm aufstellte, die physiologische
-Function der Nahrungsaufnahme im Menschen gehöre
-zu den höchsten und dankbarsten Vorwürfen der
-Poesie, und thatsächlich durch practische Werke ersten
-Ranges die Haltbarkeit dieses Programmes darthäte.
-Man müsste die Gründe prüfen, die jenem Unterfangen
-zu Grunde lägen und, wofern diese stichhaltig
-wären, sich darein finden und der Sache freuen. Jetzt
-aber käme eine Spaltung innerhalb der neuen Partei
-und es erhöben sich beredte Apostel, die Folgendes
-aufstellten. Das Essen selbst sei etwas Unschönes,<span class="pagenum"><a id="Seite_57">[57]</a></span>
-Unappetitliches, wohl gar Unmoralisches, dürfe nur im
-Geheimen geübt werden, sei kein Gegenstand der
-Poesie. Ein poetisches Element stecke bloss im Hunger.
-Von unvergleichlichem dichterischen Werthe sei jener
-eigenartige nervöse Zustand des Gehirns bei leise
-dämmerndem Hungergefühl, jener Wechsel von geistigem
-Eifer und geistiger Abspannung in seinen tausend
-feinen Nuancen, wie er dem Mahle vorausgehe, bis zu
-jenen Anfällen von Raserei, von Hallucinationen und
-von völliger Lethargie, wie sie bei Verhungernden in
-der Wüste sich zeigten, oder dem Ekel vor aller
-Nahrungsaufnahme, der Blasirtheit im Puncte des Appetits,
-wie sie durch sonstige Störungen des Nervensystems
-hervorgebracht würden.</p>
-
-<p>Ich glaube, man würde, selbst das Ganze zugestanden,
-diese Sectirer der letztern Sorte für Narren
-erklären.</p>
-
-<p>Ich bin weit entfernt, diesen Titel auf alle Poeten
-anzuwenden, die das Liebesproblem nach derselben
-Seite hin einseitig gefasst haben, aber das Gefühl eines
-vollkommenen Parallelismus kann ich nicht opfern.
-Das natürliche Ziel der Liebesempfindung, so höre ich
-von allen Seiten, soll man in der Poesie verschleiern
-und beseitigen, die Empfindung selbst, die voraufgeht,
-verherrlichen. Ersteres soll etwas grob Sinnliches sein,
-<span id="corr057">letzteres</span> etwas Geistiges. In der That, auch der Hunger
-ist scheinbar mehr ein nervösgeistiges Phänomen als
-das Zerkauen der Nahrung zwischen den Zähnen. Aber
-diese geistige Disposition ist, was beim Hunger kein
-kleines Kind je bezweifelt hat, doch unmittelbares Erzeugniss
-eines physiologischen Vorganges. Ganz so
-die Liebe. Es ist physiologisch sogar leichter, die
-Liebe aus dem Geschlechtsbedürfniss, als den Hunger<span class="pagenum"><a id="Seite_58">[58]</a></span>
-aus dem leeren Magen abzuleiten. Erst von einem
-gewissen Alter ab entwickeln sich beim Menschen die
-mechanischen Bedingungen des Zeugungsactes; Hand
-in Hand mit dieser Entwickelung schreitet das allmähliche
-Erwachen und Functioniren des sexuellen Hauptcentrums
-im Gehirn vor, dessen Thätigkeit wir uns in
-der geistigen, nervösen Erscheinung des Liebesgefühls
-bewusst werden. Jüngling und Mädchen beginnen sich
-als etwas Gegensätzliches zu betrachten, das doch eine
-Vereinigung fordert, der Unterschied der Formen erweckt
-unklare Phantasiebilder, die durch individuelle
-Sympathieen meist sehr bald eine feste Gestalt annehmen,
-die Gestalt eines subjectiven Ideals, mit dem
-vorkommenden Falles die geschlechtliche Vereinigung
-grössern Reiz gewähren würde, als mit jedem zweiten
-Wesen des andern Geschlechtes.</p>
-
-<p>Gegen diese einfache, dem Thatsächlichen Rechnung
-tragende Auffassung der Liebe als Anregung
-einer gewissen Gehirnpartie in Folge eines dem Gesammtorganismus,
-dem Zellenstaate, erwachsenen Bedürfnisses
-erhebt sich aber jene andere Meinung mit
-erneuter Macht, indem sie das Wort »die Liebe ist
-etwas Geistiges« so gefasst haben will, dass darin noch
-etwas Besonderes stecken soll. Dieses Besondere aber,
-das meist nicht näher definirt, dafür aber desto mehr
-gepriesen und dem »Gemeinen« gegenüber gesetzt wird,
-stellt sich bei kritischer Zerlegung sehr leicht als ein
-Doppeltes heraus. Einmal ist es ein »Göttliches«, ein
-»göttlicher Funke«, der in der Liebe zum Ausdruck
-kommen soll, also ein Stück Metaphysik &ndash; das andere
-Mal ein »Wahnsinn«, eine »zerstörende Macht«, also,
-physiologisch gesprochen, ein Stück Psychiatrie. Wer
-sich davon überzeugen will, ob diese Zerlegung des<span class="pagenum"><a id="Seite_59">[59]</a></span>
-beliebten Begriffes richtig ist, der unterziehe sich der
-Aufgabe, aus einigen Dutzend Romanen und lyrischen
-Gedichtsammlungen der Alltagsmode die Phrasen
-herauszuschreiben, in denen der Autor selbst oder seine
-Haupthelden ihre Liebesgefühle definiren. Stets wird
-er das Entweder &ndash; Oder finden: die Liebe ist von
-Gott &ndash; die Liebe ist Wahnsinn. Nur höchst selten
-wird er auch einmal verschämt angedeutet finden, dass
-die Liebe auf natürlichen Gesetzen und Functionen
-basirt, die ihre feste und geordnete Stellung im Zellenstaate
-des menschlichen Organismus einnehmen. Am
-»Göttlichen« in der Liebe zweifeln, ist für diese Poeten
-und ihre Verehrer gleichbedeutend mit äusserster Roheit
-und Gefühllosigkeit. Gleichwohl ist der realistische
-Aesthetiker, der auf naturwissenschaftlichem Boden
-steht, genöthigt, den Ausdruck für gänzlich werthlose
-Phrase zu erklären. Wenn »göttlich« so viel heissen
-will, wie in eminentem Sinne gemahnend an unsere
-Abhängigkeit von einer grossen Entwicklungswelle,
-an die Unterordnung des Subjectiven unter das Allgemeine,
-so kann man sich das Wort gefallen lassen für
-das eigentliche Ziel der Liebe, für die ganze Annäherung
-und Vereinigung der Geschlechter. Das angeblich
-Roheste und Gemeinste ist dann das hochgradig
-Göttlichste und die Verbindung von Mann und Weib
-in ihrer physiologischen Thatsächlichkeit der göttlichste,
-d. h. der Gottheit nächst stehende Act, den das individuelle
-Menschenleben überhaupt umschliesst. Die
-göttliche Mission des Weibes besteht dann in seiner
-Schönheit, die den Mann reizt &ndash; die Liebe, mit der
-die Gatten einander begegnen, ist der höchste Gottesdienst.
-In solchem Sinne mag das Wort gelten. Aber
-diese Auslegung läuft dem gewöhnlichen Wortbegriffe<span class="pagenum"><a id="Seite_60">[60]</a></span>
-schnurstracks entgegen. Andererseits die Liebe schlechthin
-als Wahnsinn zu bezeichnen, ist physiologisch eine
-Ungeheuerlichkeit. Das Geschlechtscentrum im geistigen
-Apparate des Menschen kann erkranken, das ist
-richtig. Die Liebe kann eine Verrücktheit werden, sie
-kann vermöge der Trennung von functionirendem
-Geschlechtsorgan und nervösem Gehirncentrum eine
-Geisteskrankheit werden, deren Wahngebilde jede Fühlung
-mit den wahren Zielen des natürlichen Triebes
-verlieren, so gut wie es psychiatrische Fälle giebt, in
-denen der Kranke jedes Gefühl für Nahrungsaufnahme
-verliert und ohne Hilfe bei normalem Munde und
-Magen verhungern würde. Diese sexuellen Geisteskrankheiten
-sind streng zu unterscheiden von den
-Krankheiten der sexuellen Functionsorgane. Sie treten
-zumeist als Folgen bereits vorhandener anderer Verbildungen
-des Gehirns auf. Seit uralten Zeiten sind
-sie eine Begleiterscheinung bestimmter Formen von
-religiösem Wahnsinn gewesen und lassen sich als
-solche durch die Geschichte der orientalischen Völker
-wie der abendländischen bis in's Mittelalter und bis
-auf den heutigen Tag verfolgen &ndash; eine Aufgabe, der
-allerdings noch kein grosser Historiker sich im rechten
-Masse unterzogen hat. Sie treten ferner chronisch und
-wahrscheinlich sogar erblich bei Nationen auf, deren
-cerebrale Centra durch Ueberbildung und zwecklosen
-Luxus geschwächt und verdorben sind; dahin gehört
-die gesammte historische Entwickelung der Päderastie,
-bei deren Beurtheilung übrigens der moderne Rechtsstandpunct
-so wenig durch die Erkenntniss des Krankhaften
-verrückt wird, wie es durch die Leugnung der
-Willensfreiheit auf andern Gebieten geschieht. Selbst
-die einfache Einseitigkeit in der Anstrengung gewisser<span class="pagenum"><a id="Seite_61">[61]</a></span>
-Gehirnpartieen beim vollkräftigen Genie besitzt meistens
-einen irgendwie schädigenden Einfluss auf die benachbarte
-sexuelle Gegend des nervösen Centralapparates,
-so dass die geschlechtlichen Neigungen sehr grosser
-Männer durchweg nicht als Muster des Normalen
-gelten können, äussere sich dieses Abweichen von der
-Linie nun in widernatürlicher Enthaltsamkeit oder unbändiger
-Ausschweifung.</p>
-
-<p>Aus allen diesen Einschränkungen ergiebt sich
-nun aber doch noch lange nicht die Krankhaftigkeit
-<em class="gesperrt">aller</em> Liebeserscheinungen. Die Liebe soll ein Zwang
-sein, der auf dem freien Bewusstsein lastet, der die
-Seele knechtet und zu Gemeinem treibt. Da liegt der
-fundamentale Irrthum. Um das freie Bewusstsein, die
-unabhängige göttliche Seele zu retten, erklärt man
-den einfachsten und logischsten Naturtrieb für eine
-unwürdige Fessel, die uns an's Gemeine kettet. Hier,
-wie bei dem andern Falle liegen die Wurzeln im Metaphysischen,
-sagen wir immerhin, da wir von modernen
-Dichtern sprechen: im Christlichen. Die künstliche
-Seele, die uns diese religiösen Anschauungen in den
-Menschen hineingedacht haben, empfindet schliesslich
-die ganze Natur, auch wo sie heiter und glücklich
-macht, als Zwang. Der Zeugungsact verwandelt sich
-ihr, obwohl von anderem Standpuncte, von anderer
-cerebraler Verbildung aus, als bei dem sexuell erkrankten
-Don Juan oder dem geschlechtlich complet
-wahnsinnigen alten Griechen, in ein leeres Spiel, eine
-Dummheit, von der wir uns frei machen möchten. Das
-fällt aber selbst bereits in's Gebiet der sexuellen Gehirnkrankheit.</p>
-
-<p>Der einfache Schluss ergiebt sich: jene ganze Literatur,
-die in guten oder schlechten Versen, reiner oder<span class="pagenum"><a id="Seite_62">[62]</a></span>
-fehlerhafter Prosa uns unablässig von dem Dämon der
-Liebe, von der Knechtung unter das Joch Amors seufzt
-und die reine, heilige, göttliche Minne preist &ndash; jene
-ganze Literatur ist Product einer mehr oder minder
-entwickelten sexuellen Gehirnschwächung, die täglich
-weiter um sich greift, je mehr Menschen mit empfänglichem,
-für die Gewohnheitslinien des Unterrichts geebnetem
-Gehirn jene Literatur lesen und wieder lesen.
-Ein schwererer Vorwurf kann meines Erachtens gegen
-eine ganze Richtung der Poesie nicht wohl erhoben
-werden. Die nothwendige practische Folge ist, dass eine
-Scheidung entsteht zwischen der gewöhnlichen, normalen
-Liebe, der sogenannten hausbackenen, und jenem
-metaphysisch verbildeten, in lauter Jammer und Träumen
-dahinsiechenden Zerrbilde der Liebe, das Roman,
-Drama und Lyrik allerorten predigen. Der gesunde
-Spiessbürger, der seine Gehirncentra noch in erfreulicher
-Ordnung beisammen hat, unterscheidet schliesslich
-mit sicherm Gefühl die »Liebe, wie sie im Leben
-vorkommt« von der »Liebe in Büchern und Theaterstücken«,
-und der junge Mann oder das junge Mädchen,
-die sich schon in unreifen Jahren durch das beständige
-Hören und Lesen in letztere zuerst hineinhimmeln,
-sehen sich durchweg bei späterm, reifem Eintritt in das
-wirkliche Leben genöthigt, jenes erste Bild zwangsweise
-wieder aus dem Gehirn herauszuschaffen &ndash; ein
-Process, der in nur zu vielen Fällen gar nicht mehr
-gelingt &ndash; so wenig, wie ein Kind, das man an Morphium
-gewöhnt hat, später noch normal einschlafen
-kann. Wer nicht blind ist, muss einsehen, dass wir
-hier dem vollkommenen Bankerotte der erotischen
-Poesie entgegensteuern, denn was sich vom Normalen
-derartig trennt, muss über kurz oder lang nothwendig<span class="pagenum"><a id="Seite_63">[63]</a></span>
-gewaltsam unterdrückt werden. Anstatt aber Hilfe zu
-schaffen, wüthet man vielmehr gegen jede Sorte von
-Schriftstellern, die der Liebe in ihren Dichtungen wieder
-zu einem natürlichen Boden verhelfen möchten.
-Es ist eine höchst traurige Erscheinung, wie dabei
-alles durcheinander geworfen wird. Männer, die mit
-Bewusstsein daran gehen, die Kehrseite der echten
-Liebe in den krankhaften Entartungen zu schildern,
-stellt man ganz unbefangen neben oder unter solche,
-die selbst im Banne sexueller Gehirnaffectionen stehen
-und ihre Bücher mit den unlogischen Gebilden ihrer
-kranken Phantasie füllen, ohne ihre Abirrung vom
-Normalen selbst zu empfinden. Gewiss sind auch jene
-bewussten Studien über das Abnorme mehr oder
-weniger eine unerfreuliche Lectüre und gewinnen
-höchstens durch den Contrast, den das Logische und
-Helle der wahren Liebe selbst unausgesprochen gegen
-alle diese Fratzen und Verirrungen bildet. Aber
-welcher unendliche Fortschritt liegt schon allein in
-dem Bewusstsein, wie es Zola's Nana oder Daudet's
-Sappho vertreten &ndash; dem schneidig scharfen Bewusstsein,
-dass wir es hier mit kranken Menschen zu thun
-haben, mit krankhaften Situationen, krankhaften Verwickelungen.
-Von der Erkenntniss des Falschen, Ungesunden
-zur Erkenntniss des Wahren und Gesunden
-ist aber nur ein Schritt. Jene Schriftsteller, die vor
-unsern Augen sich so eifrig mit dem Studium der
-entarteten Liebe befassen, bekunden bereits auf Schritt
-und Tritt eine weit tiefere Einsicht in das Gebiet des
-Normalen, wie hundert andere, die nach ihrer und
-ihrer Leser Meinung niemals die Linie des Erhabenen
-auf erotischem Gebiete verlassen haben. Eine zukünftige
-Poesie, die sich an die Ersteren anlehnt, ohne<span class="pagenum"><a id="Seite_64">[64]</a></span>
-ihnen auf ihr Specialgebiet zu folgen, wird das Grösste
-zu leisten im Stande sein. Wir wollen übrigens darin
-Gerechtigkeit walten lassen, dass wir unsern Poeten,
-die theils unbefangen, theils mit kritischem Bewusstsein
-immerfort das Krankhafte in der Liebe schildern,
-nicht die ganze Schuld daran aufbürden. Die Poesie
-&ndash; wenigstens die unbefangene &ndash; hilft zwar das Gift
-weiterverbreiten, aber sie empfängt es auch unablässig
-aus dem Leben zurück. Eine ungeheure Masse falscher
-Sentimentalität, künstlicher Gefühle, moralischer Unnatur
-belastet unser ganzes modernes Liebesleben.
-Freytag hat gelegentlich in seinem Romane von der
-verlorenen Handschrift ein anmuthiges Bildchen vom
-deutschen Mädchen entworfen, wie es unsere Bildung
-in unsern Städten heranbildet. Das Bild ist anmuthig
-geblieben, weil der Kern in diesem einzelnen Mädchen
-durch und durch gesunde Erbschaft war und das Sentimentale
-sich bloss in einer Form darüber ranken
-konnte, die dem Humor Stoff bot, aber ohne ernste
-Folgen blieb. Leider ist dieses Bild schon nicht mehr
-überall das Typische. Eine widerwärtige Sentimentalität
-greift wie ein schleichendes Gift allenthalben um
-sich und zeitigt ein Geschlecht von Menschenkindern,
-in deren Empfindungen so wenig waschechte Natur
-steckt, wie auf den Wangen einer Pariser Ballschönheit.
-Es ist vor allen Dingen Mission der Poesie, die
-hier viel gesündigt und viel gelitten, mit festem Muthe
-sich mehr und mehr dem Modegeschmacke entgegenzustellen.
-Sie kann es aber nur, indem sie echt realistisch
-wird, das heisst: sich an die Natur anlehnt.
-Der einfache Realismus, der den Menschen die wahren
-Kleider des Lebens anzieht, ist noch lange nicht ausreichend
-zum wirklichen Zweck. Es gilt tiefer zu<span class="pagenum"><a id="Seite_65">[65]</a></span>
-gehen und die Welt wieder an den Gedanken zu gewöhnen,
-den sie durch Metaphysik, Sentimentalität und
-Katzenjammer so vielfach verloren: dass die Liebe
-weder etwas überirdisch Göttliches, noch etwas Verrücktes
-und Teuflisches, dass sie weder ein Traum,
-noch eine Gemeinheit sei, sondern diejenige Erscheinung
-des menschlichen Geisteslebens darstelle, die den
-Menschen mit Bewusstsein zu der folgenreichsten und
-tiefsten aller physischen Functionen hinleitet, zum
-Zeugungsacte. Damit eine derartige Rolle für die
-Poesie aber ermöglicht werde, ist es allererste Bedingung
-für den realistischen Dichter, sich über die
-näheren Puncte der physiologischen Basis des Liebesgefühls
-zu unterrichten. Nur eine strenge Beobachtung
-der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen
-in seinen verschiedenen Phasen kann zu neuen Zielen
-führen. Das erfordert freilich auch an dieser Stelle
-wieder harte Arbeit für den Poeten. Das leichte Fabuliren
-von den lustigen oder bösen Abenteuern verliebter
-Seelchen hört dabei auf, und der Dichter wird
-nothgedrungen sogar hin und wieder Pfade wandeln
-müssen, wo die landläufige Moral erschreckt zurückschaudert.
-Wer dazu nicht das Zeug in sich fühlt,
-der soll dem Liebesproblem fern bleiben; besser gar
-keine Liebesgeschichten mehr, als jene gefälschten;
-denn der Dichter mag lügen, wo er Lust hat &ndash; es
-ist alles harmlos gegen das Lügen auf erotischem Gebiete,
-dessen Folgen bei dem von Natur gesetzten
-Nachahmungs- und Gewohnheitstriebe des menschlichen
-Geistes unmittelbar in's practische Leben hineingreifen.
-Ich nehme keinen Anstand, zu behaupten,
-dass wir überhaupt eine erschöpfende dichterische
-Darstellung des ganzen normalen Liebeslebens in Weib<span class="pagenum"><a id="Seite_66">[66]</a></span>
-und Mann von seinen ersten Keimen bis zur reifen
-Mitte und wiederum abwärts bis zum langsamen Versiegen
-im alternden Organismus in der gesammten
-Weltliteratur noch nicht besitzen. Zola hat in seinem
-geistvollen und tiefen Romane »La joie de vivre«
-wenigstens gelegentlich einmal den Versuch gemacht,
-an einem gesunden weiblichen Typus ein vollkommen
-plastisches Bild zu entwickeln; aber bei seiner Neigung
-für das Pathologische, die ihm nun einmal im Blute
-steckt, ist das Ganze nach meisterhafter Anlage
-schliesslich doch einseitig und ohne die natürliche Versöhnung
-ausgelaufen. Was ich fordere, ist noch weitaus
-mehr. Ich fordere neben vollkommen scharfer
-Beobachtung eine bestimmte Tendenz. Man rede mir
-nicht davon, die realistische Dichtung müsse sich ganz
-frei machen von jeder Tendenz. Ihre Tendenz ist die
-Richtung auf das Normale, das Natürliche, das bewusst
-Gesetzmässige. Die Poesie hat mit wenigen,
-allerdings sehr hoch stehenden Ausnahmen bisher zu
-allen Sorten abnormer Liebe erzogen. Sie muss in
-Zukunft versuchen, dem Leser gerade das Normale
-als das im eminenten Sinne Ideale, Anzustrebende
-auszumalen. Nur dann giebt es noch einen Aufschwung
-in der erotischen Poesie. Der vermessene
-Ausspruch muss mit Macht widerlegt werden: das
-Gewöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spiessbürger
-auch erlebt, wenn er gesund ist, sei zu gering für den
-edeln Schwung der Poesie. Das ist die schwerste
-Unwahrheit, die je Geltung gewonnen hat in der Literatur.
-Ihre Folge ist gewesen, dass wir hunderttausend
-Bände über eine sentimentale, nervös überspannte
-Liebe und eben so viele über eine unter alles
-Natürliche herabgesunkene Liebe besitzen &ndash; eine<span class="pagenum"><a id="Seite_67">[67]</a></span>
-Literatur voller Göttinnen und Cocotten, aber ohne
-Normalmenschen.</p>
-
-<p>Unwillkürlich, indem ich dieses schreibe, schweift
-mein Blick in entlegene Tage hinüber. Wunderbare
-Gleichförmigkeit der auf- und niedersteigenden Wellen
-im Laufe der Culturgeschichte! Derselbe Gedanke,
-der uns heute zu so herbem Urtheile über eine grosse
-Masse der vorhandenen Poesie treibt, den wir als neue
-Frucht vom ewig fortgrünenden Baume der Erkenntniss
-zu pflücken glauben: er lebte in Cervantes schon,
-als er Don Quixote's Freunde die geistverderbenden
-Ritterromane zum Flammentode verdammen liess.</p>
-
-<p>Wann erstehen unserer Zeit die treuen Freunde,
-die sie von ihren gefährlichen Lieblingen erlösen?</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-067.png" alt="" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_68">[68]</a></span></p>
-
-<h2 id="Fuenftes_Capitel">Fünftes Capitel.<br />
-Das realistische Ideal.</h2>
-</div>
-
-<p>Ist es mehr als ein Wortspiel, ein heiteres Paradoxon,
-was in den beiden Worten der Ueberschrift
-liegt? Kennt der Realismus ein Ideal? Giebt es etwas
-derart in all' den Gigantomachieen des modernen realistischen
-Romans, diesen wilden Büchern, in denen
-der Mensch hoffnungslos ringt mit zerstörenden Gewalten,
-mit den zermalmenden Gespenstern der Vergangenheit,
-mit den rohen Naturmächten einer blinden
-mechanischen Weltordnung, in diesem öden Lande,
-das keine Götter mehr kennt, keine Freiheit des Willens,
-keine Unsterblichkeit im alten Sinne, keine von
-allen Banden der gemeinen Natur erlöste Liebe?</p>
-
-<p>Es wäre vielleicht angemessener gewesen, diese
-Frage zu allererst aufzuwerfen, ehe wir uns der Mühe
-unterzogen, jene einzelnen Puncte näher zu prüfen.
-Ich habe gleichwohl den umgekehrten Weg gewählt.
-Anstatt das Wort »Ideal« unmittelbar mit seinem Vollgewicht
-in die Rechnung einzusetzen, habe ich mich
-bemüht, den Leser selbst mehr und mehr dem Begriffe
-nahe zu bringen, der nach meiner Ansicht sich<span class="pagenum"><a id="Seite_69">[69]</a></span>
-innerhalb des Realismus allein noch mit jenem stolzen
-Worte deckt. Wer mir genau gefolgt ist, kann nicht
-mehr im Zweifel darüber sein.</p>
-
-<p>Wir haben gebrochen mit der Metaphysik. Jenseits
-unseres Erkennens liegt eine andere Welt, aber
-wir wissen nichts von ihr; unser Ideal, so fern es eine
-lebendige Macht sein soll, muss irdisch, muss ein Theil
-von uns sein, muss der Welt angehören, die wir bewohnen,
-die in uns lebt und webt. Wir haben gebrochen
-mit den heitern Kinderträumen von Willensfreiheit,
-von Unsterblichkeit der Seelen in den Grenzen
-unseres Denkens, von einer göttlichen Liebe, die ein
-anderes, als das natürliche Dasein lebt. Unser Weg
-geht aufwärts zwischen zerborstenen Tempelsäulen,
-zwischen versiegenden Quellen, zwischen verdorrendem
-Laub. Wir wissen jetzt, dass unsere Visionen, unsere
-Prophetenstimmen, unsere leidenschaftlich schmachtenden
-und schwelgenden Gefühle nichts besseres waren,
-als Krankheit, Delirien des Fiebertraums, dämmernde
-Nacht des klaren Geisteslichts. Nun denn: wenn dem
-allem so ist, das Ideale geben wir damit doch nicht
-auf. Wenn es nicht mehr der Abglanz des Göttlichen
-sein darf, so ist ihm darum nicht benommen, die Blüthe
-des Irdischen zu sein, die tiefste, reinste Summe, die
-der Mensch ziehen kann aus allem, was er sieht, all'
-dem Unermesslichen, was sich in der Natur, in der
-Geschichte, in allem Erkennbaren ihm darbietet. Wenn
-er den Blick schweifen lässt über diese ganze Erde,
-über sein ganzes Geistesreich, so sieht er im Grunde
-all' dieser wechselnden Formen ein einziges grosses
-Princip, nach dem alles strebt, alles ringt: das gesicherte
-Gleichmass, die fest in beiden Schaalen schwebende
-Wage, den Zustand des Normalen, die Gesundheit.<span class="pagenum"><a id="Seite_70">[70]</a></span>
-Ganz vollkommen erfüllt ist dieses Princip allerdings
-nirgendwo. Aber es schwebt über Allem als
-das ewige Ziel, niemals ganz realisirt, aber darum
-doch die unablässige Hoffnung des Realen. Es giebt
-nur einen Namen für dieses Princip, er lautet: Ideal.
-Vor diesem Ideale schwindet jeder Unterschied des
-Bewussten und Mechanischen in der Natur. Der Mensch,
-indem er sich seiner bewusst wird im Triebe nach
-Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben des
-Zuerkannten, theilt nur den innern Wunsch, der allem
-Spiel molecularer Kräfte zu Grunde liegt. Das letzte
-Ziel des grandiosen Daseinskampfes, der zwischen den
-frei schwebenden Himmelskörpern wie zwischen den
-Elementen auf Erden, zwischen den einfachen chemischen
-Stoffen wie zwischen den geheimnissvollen Bildungen
-des organischen Lebens tobt, ist nichts anderes,
-als der dauernde Wohlstand von Generationen, die in
-Einklang mit der Umgebung gelangt sind. In diesem
-Sinne ist die Natur selbst erfüllt von einer tiefen,
-zwangsweisen Idealität, und wo ihre volle Entfaltung
-zu Tage tritt, äussert sich diese in der höchsten Annäherung
-an das ideale Princip des grösstmöglichen
-Glückes der Gesammtheit, an dem jedes Individuum
-seinen Antheil hat. Dunkel, wie der ganze Untergrund
-der grossen Daseinswelle, in der wir leben, für
-unsere Erkenntniss bleibt, ist die ideale Richtung auf
-das Harmonische, nach allen Seiten Festgefügte, in
-seiner Existenz Glückliche und Normale überhaupt die
-einzige feste Linie, die wir durch das ganze Weltsystem
-verfolgen können. Es ist die einzige treibende
-Idee, die aus dem ungeheuren Wirrsal des Geschehens
-einigermassen deutlich hervortritt, von der wir sagen
-können: sie verkörpert ein Ziel, einen Endpunct. Die<span class="pagenum"><a id="Seite_71">[71]</a></span>
-weiteren philosophischen Träumereien, ob man sich
-die Welt denken solle als etwas ursprünglich Gutes,
-das schlecht geworden und nun im Banne eines metaphysischen
-Willens wieder zum Anfänglichen zurückstrebe
-&ndash; ob das absolute Glück denkbar sei als absolute
-Ruhe oder harmonische Bewegung &ndash; das alles
-geht mich hierbei herzlich wenig an.</p>
-
-<p>Ich wahre durchaus den Standpunct des Naturforschers.
-Wenn aber ein derartiges ideales Princip
-sich von diesem aus für die ganze sichtbare Welt
-ergiebt, so hat auch der realistische Dichter ein Recht,
-sich seiner zu bemächtigen, es als »Tendenz« in seinen
-Dichtungen erscheinen zu lassen. Tendenz zum Harmonischen,
-Gesunden, Glücklichen: &ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; was will
-man mehr von der Kunst? Giebt es einen besseren
-Boden für die Aesthetik, um ihren menschlichen Begriff
-des Schönen darauf zu bauen? Es ist hier nicht
-meine Aufgabe, zu zeigen, wie dieser Begriff des
-Schönen selbst sich im Einzelnen aus dem Begriffe
-des Normalen, Gesunden entwickelt, ich beschränke
-mich auf die Grundlagen. Es wird nicht Wenigen
-so vorkommen, als sinke die realistische Dichtung
-durch Anerkennung jener Tendenz von ihrer hohen
-Sonderstellung jäh wieder herab zum Gewöhnlichen.
-Wenn die Tendenz zum Glücke wieder oben anstehen
-soll, so hat ja auch der billigste Liebesroman, dessen
-einziges Ziel ist, dass »sie sich bekommen«, das Recht
-der Existenz damit zurück erhalten. In Wahrheit will
-das nichts heissen. Der realistische Dichter soll das
-Leben schildern, wie es ist. Im Leben waltet die
-Tendenz zum Glück, zur Gesundheit als Wunsch,
-nicht als absolute Erfüllung. Das wird der Dichter
-durchaus anerkennen müssen. Er wird sich stets fernhalten<span class="pagenum"><a id="Seite_72">[72]</a></span>
-von dem Unterfangen, uns die Welt als ein
-heiteres Theater darzustellen, wo alle Conflicte zum
-Guten auslaufen. Eine unerbittliche Nothwendigkeit
-wird ihn zu den schärfsten Consequenzen zwingen,
-und wenn er, was nicht zu vermeiden, das Ungesunde
-in sein Experiment hineinzieht, so ist er verpflichtet,
-es in seinem ganzen Umfange zur folgerichtigen Entwicklung
-zu bringen. Seiner Tendenz dient er dann
-eben bloss im Negativen, im Contraste.</p>
-
-<p>Im Allgemeinen kann ich auch hier nur wiederholen,
-was bereits öfter gesagt ist: der Realismus hat
-gar kein Interesse daran, allenthalben mit der Prätention
-des durchaus »Neuen« aufzutreten. Seine wesentlichste
-Mission ist, zu zeigen, dass Wissenschaft und
-Poesie keine principiellen Gegner zu sein brauchen.
-Das kann aber ebenso gut geschehen, indem wir
-wissenschaftlichen Factoren in der Dichtung zu ihrem
-Rechte verhelfen, wie gelegentlichen Falles auch, indem
-wir einen Zug zum Idealen in der Wissenschaft
-nachweisen. Nur allein das Metaphysische muss uns
-fern bleiben. Das Streben nach harmonischem Ausgleich
-der Kräfte, nach dauerndem Glück ist in jeder
-Faser etwas Irdisches. Hier auf Erden ringt der Einzelne
-nach Seligkeit, hier auf Erden pflanzen wir in
-heiterem Bewusstsein Keime zum Segen der kommenden
-Geschlechter. Die dunkle Welt des Metaphysischen
-sagt hier nichts, hilft nichts, hindert nichts; sie
-kann, wie ich das ausgeführt habe, einen tröstenden
-Gedanken abgeben beim Tode; an Glück und Unglück
-im Leben ändert sie nichts.</p>
-
-<p>Jene Schule des Realismus, die gegenwärtig so
-viel Staub aufwirbelt, hat uns mit beharrlichem Bemühen
-in einer langen Reihe von psychologischen<span class="pagenum"><a id="Seite_73">[73]</a></span>
-Gemälden mit dem traurigen Bankerotte des menschlichen
-Glücksgefühls in Folge krankhafter Verbildung
-bekannt zu machen gesucht. Ich erwarte eine neue
-Literatur, die uns mit derselben Schärfe das Gegenstück,
-den Sieg des Glückes in Folge wachsender,
-durch Generationen vererbter Gesundheit, in Folge
-fördernder Verknüpfung des schwachen Individuellen
-mit einem starken Allgemeinen in Vergangenheit und
-Gegenwart vorführen soll. Auch dafür giebt es Stoff
-genug in der Welt, und zwar ist das gerade der Stoff,
-der in eminentem Sinne das Ideale in der natürlichen
-Entwickelung darlegen wird. Das Ideale, von dem
-wir nach Vernichtung so vieler Illusionen noch zu
-reden wagen, liegt nicht hinter uns wie das Paradies
-der Christen, nicht nach unserer individuellen Existenz
-in einer persönlichen Fortdauer im Sinne der Jünger
-Mohammeds, nicht ganz ausserhalb des practischen
-Lebens in den Träumen des Genies, des Poeten: es
-liegt vor uns in der Weise, dass wir selbst unablässig
-danach streben und in diesem Streben zugleich das
-Wohl unserer Nachkommen, die Erfüllung derselben
-im Ideale anbahnen helfen. Das soll uns die Dichtung
-zeigen. Idealisiren muss für sie nicht heissen,
-die realen Dinge versetzen mit einem Phantasiestoffe,
-einem narkotischen Mittel, das Alles rosig macht, aber
-in seinen schliesslichen Folgen unabänderlich ein Gift
-bleibt, das den normalen Körper zerstört &ndash; sondern
-es muss heissen, den idealen Faden, den fortwirkenden
-Hang zum Glücke und zur Gesundheit, der an allem
-Vorhandenen haftet, durch eine gewisse geschickte
-Behandlung deutlicher herausleuchten zu lassen, ungefähr
-wie ein Docent bei einem Experimente sehr wohl
-die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf eine bestimmte<span class="pagenum"><a id="Seite_74">[74]</a></span>
-Seite desselben lenken kann, ohne darum den natürlichen
-Lauf zu verfälschen. Die oberste Pflicht des
-Dichters hierbei muss freilich allezeit Entsagung sein.
-Wie schon betont: das Wollen, das wir in der Natur
-sehen, ist selbst noch keine Erfüllung. Je gesunder
-der Poet selbst ist, desto eher wird er in die Gefahr
-gerathen, einerseits das Ungesunde zu grell zu malen,
-andererseits seine Welt gewaltsam als ein Reich der
-Gesundheit ausmalen zu wollen. Das Wirkliche muss
-hier als ewiger Corrector die Auswüchse beseitigen.
-Für den Standpunct des natürlichen Ideals in der allgemeinen
-Werthschätzung ist es schliesslich immer
-noch besser, man lässt es zu schwach durchschimmern
-im Gange der geschilderten Begebenheiten, als man
-profanirt es in der Weise des alten metaphysischen
-Ideals durch künstliches Auffärben.</p>
-
-<p>Eine realistische Dichtung aber ganz ohne Ideal
-&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; das ist mir etwas Unverständliches. Im
-Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im
-Leben giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen.
-Aber um den finstern Bruder, mit dem ihn
-am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist
-der helle Sirius &ndash; neben den kranken Seelen wandeln
-gesunde. Wer die Welt schildern will, wie sie ist,
-wird sich dem nicht verschliessen dürfen.</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-074.png" alt="" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_75">[75]</a></span></p>
-
-<h2 id="Sechstes_Capitel">Sechstes Capitel.<br />
-Darwin in der Poesie.</h2>
-</div>
-
-<p>Es giebt ein psychologisches Gebiet, das wie kein
-anderes geschaffen ist, den Blick des Dichters, der in
-die Tiefen der menschlichen Tragödie einzudringen
-sucht, mit magischem Banne zu fesseln. Es ist die
-Erscheinung des bahnbrechenden Genies, des Entdeckers,
-Erfinders, Reformators auf irgend einem Boden,
-den noch keiner bebaut hat. Wechselnde Bilder
-ziehen bei dem einfachen Worte durch den Vorstellungskreis
-des Gebildeten. Ein Hauch des Einsamen, Weltentrückten,
-der menschenleeren Wüste streift seine
-Stirn, durch sein geistiges Auge zittert der verlorene
-Schein des Lämpchens in der Zelle des verlassenen
-Grüblers, ein Rauschen von Wogen berührt sein Ohr,
-über denen schwere Nebelmassen die Fernsicht nach
-jungfräulichem Inselboden für den Blick der Welt verhüllen.
-Christus, der dem Zwiegespräch der Geister in
-der Einöde lauscht, Gutenberg, der im stillen Gemache
-seine Lettern fügt, Columbus, der die Wellen eines
-neuen Meeres an sein Steuer branden lässt, treten aus
-dem Schatten der Geschichte hervor. Aber aus dem<span class="pagenum"><a id="Seite_76">[76]</a></span>
-Strahlenkreise der Vision steigt auch das blutige Kreuz
-von Golgatha, klirrt die Kette an den Armen des hispanischen
-Admirals, tönt der Seufzer des sterbenden
-Buchdruckermeisters von Mainz, den sie um die Früchte
-seiner Arbeit betrogen. Der prüfende Geist öffnet sich
-der Frage: Was für ein Phänomen der irdischen Entwickelungslinie
-wandelt in diesen Bildern der Einsamkeit,
-der Grösse und des Martyriums an uns vorüber?
-Wieder, wie bei den grossen Problemen, die ich früher
-gestreift, steht die Antwort in erster Linie dem Naturforscher
-zu.</p>
-
-<p>Um was es sich handelt, das ist nichts Wichtigeres
-und nichts Geringeres, als die Bildung einer neuen Art.</p>
-
-<p>Die Zeit ist noch nicht allzu fern, wo der Naturforscher
-sich bei diesem Begriffe nicht viel denken
-konnte. Heute ist das anders. Die gesammte Formenwelt
-des Organischen hat sich herausgestellt als eine
-mächtige, in tausend und tausend Adern zerspaltene
-Entwickelungswelle, in der das Geschlecht des Menschen
-nur einen einzigen Ast bildet.</p>
-
-<p>Tief an der Wurzel schon zertheilt in die Doppellinie
-des Pflanzlichen und des Thierischen, reicht diese
-Welle aus uralten Zeiten herauf bis zum heutigen
-Tage. Hervorgegangen aus sehr einfachen Urformen,
-hat sich innerhalb des Ganzen allmählich eine Fülle
-verschiedener Typen ausgebildet, die theils nebeneinander
-fortbestanden, theils ausstarben und Neuem Platz
-machten. Darwin hat zuerst in der allgemein bekannten
-einfachen Weise gezeigt, wie in Folge der äussern,
-örtlichen Bedingungen, in die das organische Leben
-auf der Erde bei fortschreitender Vermehrung versetzt
-war, die Bildung der Arten aus gleicher Urform sich
-annähernd logisch erklären lässt. Ich kenne sehr wohl<span class="pagenum"><a id="Seite_77">[77]</a></span>
-die Schwierigkeiten, die uns noch auf Schritt und Tritt
-hier begegnen. Aber sie sind gerade für den Punct,
-auf den ich für die Betrachtung des menschlichen Entdeckergenies
-hinaus will, nebensächlicher Natur. Für
-gewöhnlich giebt es ein organisches Vererbungsgesetz,
-welches vorschreibt, dass die Nachkommen eines bestimmten
-Mitgliedes einer Thier- oder Pflanzenart
-durchaus den Eltern gleichen, also wiederum den Arttypus
-rein darstellen müssen. Indessen, dieses Gesetz
-erleidet Störungen, die an sich zwar so geringfügiger
-Natur sind, wie die unablässigen kleinen Störungen
-der Planetenbahnen.</p>
-
-<p>Chemische und physikalische Einflüsse machen
-sich hier geltend, die wir im Detail noch nicht verfolgen
-können. Das Resultat sind unablässige individuelle
-Abneigungen der Jungen von den Eltern, meist
-zu klein, um als wahre pathologische Abnormitäten
-zu gelten, aber doch stark genug, eine gewisse Rolle
-im Leben des Individuums zu spielen; von einem Wurf
-junger Katzen können alle drei gesund sein, wenn
-auch jede anders gefärbt ist, und es muss schon eine
-sechs Beine haben oder zeitlebens blind bleiben, um
-pathologisch als Abnormität aufgefasst zu werden.</p>
-
-<p>Diese anscheinend zwecklosen Varietäten innerhalb
-des Normalen werden aber von Wichtigkeit, wenn die
-äussern Existenzbedingungen der ganzen Art sich in
-Folge klimatischer oder sonstiger Umwälzungen verändern.
-Wenn ein Land plötzlich kältere Winter bekommt,
-kann der sonst werthlose Umstand, dass eine
-Katze vermöge kleiner individueller Abweichung doppelt
-so dichtes Haar besitzt als die übrigen, von entscheidender
-Wichtigkeit werden, kann sogar bewirken,
-dass sie allein mit denjenigen ihrer Jungen, die das<span class="pagenum"><a id="Seite_78">[78]</a></span>
-starke Kleid geerbt haben, alle andern überdauert und
-Stammmutter einer neuen Spielart mit wolligerem
-Pelze wird. Das Ueberdauern der Andern bezeichnet
-dabei ein Schlagwort als: Sieg im Kampfe um's Dasein.</p>
-
-<p>Innerhalb des Thierischen ist die als Beispiel gewählte
-Katze ein Genie. Es ist ihr etwas vererbt,
-etwas in ihr gegeben, das mit Hilfe des zufälligen
-Zusammentreffens der vorhandenen Gabe und des
-äussern Bedürfnisses zu einer Erfindung, einem Fortschritte
-wird. Dieses Genie wird, schematisch gesprochen,
-geboren als eine willkürliche, ziellose Linie,
-die aber im Leben plötzlich in's Herz einer Scheibe
-trifft und ihren Entsender zum Schützenkönige macht.
-Und die Art, wie dieses Genie sich auf die Nachkommen
-überträgt, wo es normale Gabe aller wird,
-ist die directe der körperlichen Vererbung.</p>
-
-<p>Stellen wir jetzt daneben das menschliche Genie.
-Zunächst handelt es sich hier um etwas weit Feineres,
-nämlich einen Gehirnprocess. Ein Mensch wird geboren,
-dessen Art zu denken, Vorstellungen zu verknüpfen,
-eine gewisse individuelle Besonderheit aufweist,
-die, ohne pathologisch zu werden, doch innerhalb
-des Spielraums des Normalen ihre Eigenart wahrt.
-Die Linie, von der ich eben sprach, ist damit gegeben,
-aber sie ist noch völlig ziellos. Tausend Genies bleiben
-einfach unter der Masse verborgen, weil ihre
-Linie nie das Centrum einer Scheibe trifft. Dieses
-Treffen hängt von bestimmten Möglichkeiten ab. Es
-muss irgendwo in der Nähe eine Zielscheibe stehen,
-ein Stoff sich finden, an dem das Genie sich bewähren
-kann. Solche Stoffe liegen zu gewissen Zeiten in der
-Luft. Man denke an die Entdeckungen, die von drei
-oder vier Menschen fast zu gleicher Zeit gemacht<span class="pagenum"><a id="Seite_79">[79]</a></span>
-wurden. Man denke daran, was Luther oder Copernicus
-oder Columbus bereits vorfanden. Wir nehmen
-an, das Genie ist geboren, der Stoff, an dem es sich
-bewähren kann, ist auch gegeben. Der betreffende
-Mensch besitzt jetzt etwas, eine Idee, ein geistiges
-Plus, das ihn von allen seinen Mitmenschen zugleich
-scheidet und fördernd heraushebt. So weit ist der
-Process gänzlich dem oben skizzirten bei der Neubildung
-einer zoologischen oder botanischen Spielart
-analog. Durchaus anders aber gestaltet sich der weitere
-Verlauf im Kampfe um's Dasein. Das doppelte Wollhaar
-des Raubthiers war etwas vom Individuellen
-Untrennbares. Es haftete an der Person, es schützte
-diese Person im Kampfe um's Dasein, und es übertrug
-sich von ihr zu neuen Personen auf dem Wege
-physischer Vererbung im Zeugungsprocess. Anders
-bei der menschlichen Idee, die das Genie durch Zusammenstoss
-mit einem äussern Zündstoffe entfesselt.
-In den allermeisten Fällen emancipirt diese sich sehr
-schnell vom Individuellen, dem eine körperliche Uebertragung
-durch Vererbung doch nicht gegeben ist,
-dessen einzelne Person also weiterhin nebensächlich
-ist. Die Idee überträgt sich von Gehirn zu Gehirn,
-kämpft vermöge ihrer bessern Kraft sich durch im
-Kampfe um's Dasein mit andern Ideen und befestigt
-sich schliesslich als eiserner Bestand im Denkapparate
-der ganzen Culturmenschheit. In dieser Loslösung der
-Idee von ihrem Urheber liegt das tragische Schicksal
-des Genies als Person; die Idee, indem sie als Macht
-im Kampfe um's Dasein auftritt, kämpft für sich, nicht
-für ihren Urheber. Die Tragik ist bitter, darüber kann
-kein Zweifel bestehen. Man fühlt sich manchmal berufen,
-die Natur grausam zu nennen wegen der groben<span class="pagenum"><a id="Seite_80">[80]</a></span>
-Mittel, die sie im Daseinskampfe zur Schöpfung einer
-neuen Thier- oder Pflanzenart anwendet; die Wiege
-des Fortschritts, des Neuen im Geistesleben der Menschheit
-ist in dem Sinne das ärgste Procrustesbett, das
-überhaupt denkbar ist; das Individuum gilt hier gar
-nichts mehr. Aber eine vernünftige Lebensphilosophie
-muss sich in diese Thatsachen zu finden wissen. Jene
-Idee, die unter dem Nebel all' des mystischen Beiwerks
-doch immer die Herzen der Menschen am meisten im
-Christenthum angesprochen hat: die stille Resignation,
-dass der Einzelne am Kreuze sterben müsse, damit
-sein Werk ein beglückendes Evangelium für viele
-Tausende werde &ndash; sie wird bleiben, auch wenn kein
-Wort mehr von aller christlichen Metaphysik Gläubige
-finden sollte &ndash; weil sie eine tiefe Wahrheit enthält.
-Nicht der Mensch siegt im Kampfe um's Dasein, sondern
-die Idee: so lautet derselbe Satz in wissenschaftlicher
-Form. Er enthält zugleich eine Formel für die
-Thatsache und einen Trost. Denn schliesslich, wenn
-der Mensch auch nicht, wie das bevorzugte Thier in
-jenem Beispiele von dem doppelten Wollpelze, am
-eigenen Leibe die Segnungen dessen fühlt, was sein
-Gehirn in dunkler Mission ausgestreut, so sieht er doch
-als bewusstes Wesen die Siegesbahn seiner Idee auch
-noch in ihrer Trennung von seinem Selbst und empfindet
-ihren Glanz als versöhnende Wärme.</p>
-
-<p>Ich habe das erfinderische Genie mit Absicht aus
-der reichen Fülle der Erscheinungen im menschlichen
-Dasein herausgegriffen, die man im engern Sinne als
-darwinistische Probleme auffassen kann. Ich denke,
-dass schon dieses eine Beispiel genügt, um zu zeigen,
-wie sehr man sich hier vor willkürlicher Uebertragung
-einfacher biologischer Gesetze auf die complicirten<span class="pagenum"><a id="Seite_81">[81]</a></span>
-Phänomene des menschlichen Geisteslebens hüten muss.
-Die Anlage, die Zielscheibe, der Kampf um's Dasein:
-alles spielt auch hier seine Rolle. Aber der Verlauf
-ist gerade in wesentlichen Puncten ein anderer. Unendlicher
-Stoff für den Dichter liegt allerdings auf
-diesen Gebieten. Sowohl das Aufstreben des Neuen
-wie das Absterben des Veralteten, die geheimnissvollen
-Processe, wie das Gesunde verdrängt wird durch
-ein Gesunderes, wie es zum Ungesunden herabsinkt
-durch haltlose Opposition gegen das bessere Neue,
-ohne selbst das alles begreifen zu können &ndash; sie sind
-seit alten Tagen die Domäne der Poesie, ohne dass
-man sich in der rechten Weise über die eigentlichen
-Gesetze, die darin walten, und ihre Beziehungen zu
-den Darwin'schen Gedanken hat klar werden wollen.
-Man kann wohl verlangen, dass ein realistischer Dichter
-<em class="gesperrt">nach</em> Darwin kein Bedenken mehr trägt, die Dinge
-beim rechten Namen zu nennen. Aber es gehört dazu
-in erster Linie ein ernstes Studium. Allgemeine
-Schlagwörter beweisen nichts. Man mache sich daran
-und entwickele uns zunächst, was noch nicht ordentlich
-versucht worden ist, die darwinistischen Linien in
-der Geschichte; man prüfe die Werke ausgezeichneter
-Beobachter wie Shakespeare im Einzelnen auf das
-ganze Princip. Dann wird man dahin kommen, Sätze
-aufstellen zu können, die den Schlagwörtern einen
-lebendigen Zusammenhang mit der ganzen Wissenschaft
-geben. Zahllose Puncte sind dabei im Auge
-zu behalten. Die einfache Zuchtwahl durch persönliches
-Emporkämpfen und dadurch ermöglichte Gründung
-einer Familie, die mit jener Ideenneuerung im
-Genie nichts zu schaffen hat, bei der neben den geistigen
-vor allen auch die körperlichen Fähigkeiten,<span class="pagenum"><a id="Seite_82">[82]</a></span>
-Arbeitskraft, weibliche wie männliche Schönheit und
-anderes, mitspielen, ist beim Menschen natürlich nicht
-erloschen und wahrt ihre alte Rolle. Das ganze sociale
-Leben mit all' seinen Klippen und Irrthümern,
-seinen Triumphen und Fortschritten fordert die Beleuchtung
-vom Darwin'schen Gesichtspuncte aus. Aber
-was schon im eng beschränkten Thier- und Pflanzenleben
-seine ernsten Schwierigkeiten bietet, wird hier vollends
-zu einem fast unentwirrbaren Gewebe. Körperliche
-Gesundheit als Vortheil im Daseinskampfe findet ihr
-Aequivalent in Geldmitteln, die Kraft der Sehnen wird
-gleichwerthig ersetzt durch die bessere Molecularconstruction
-des Gehirns, die unerbittliche Strenge des
-Gesetzes vom Recht der Stärkern sieht sich seltsam
-durchkreuzt von einem bereits gewaltig angesammelten
-Fond humaner Anschauungen, die wieder von einer
-das Gesetz überbietenden Brutalität auf der andern
-Seite paralysirt werden. Der Dichter, der sich mit
-Muth der Aufgabe unterzieht, in jeder einzelnen Thatsache
-hierbei ein Glied grosser Ketten nachzuweisen,
-sieht sich allerdings auch darin belohnt, dass er jede,
-auch die geringfügigste Erscheinung, so fern sie nur
-echt dem Leben entspricht, zum Gegenstande höchst
-interessanter Darstellungen machen kann. Im Lichte
-grosser, allgemeiner Gesetze kann die an und für sich
-nicht sehr poetische Chronik eines Krämerviertels, das
-ein grosses Magazin im modernsten Stile nach und
-nach vollkommen todt macht, von höchster dramatischer
-Wirkung werden, ein Motiv, das Zola in einem seiner
-besten Romane bereits mit Geschick durchgeführt hat.
-Die kleinen Thatsachen in dieses Licht des Allgemeinen,
-Gesetzlichen, höheren Zielen Zustrebenden
-heraufrücken: das ist ja eben die idealisirende Macht,<span class="pagenum"><a id="Seite_83">[83]</a></span>
-die der Dichter hat. Das werthlose Gezänk über Werth
-und Grenzen der Detailmalerei kann hier keine Geltung
-beanspruchen. Gerade das Studium der biologischen
-Phänomene der Artumwandlung, wie es Darwin
-angebahnt, führt von selbst darauf, dass wir uns gewöhnen,
-den kleinsten Ursachen, den winzigsten Fortschritten
-und Störungen unter Umständen die allergrösste
-Wichtigkeit beizulegen. Der Dichter, der nur
-Einiges von Darwin gelesen, wird mit ganz anderer
-Werthschätzung an die Dinge des täglichen Lebens
-herangehen und sich sagen, dass nicht das Ungeheuere,
-Welterschütternde allein die geistige Durchdringung
-durch die dichterische Anschauung ermögliche, sondern
-auch das Kleine &ndash; wofern nur der Poet den nöthigen
-hellen Kopf mitbringt. Denn hohe Ideen aus der
-Sonne zu lesen ist unverhältnissmässig viel leichter,
-als aus einem Sandkorn.</p>
-
-<p>Eine andere Bereicherung als Frucht darwinistischer
-Studien erblicke ich in dem verschärften Verständniss
-des Dichters für die längere Zeitdauer, die
-jeder Entwickelungsprocess auch im Menschenleben
-in Anspruch nimmt. Wie die Welt nicht in sieben
-Tagen geschaffen ist, so schafft sich auch keine psychologische
-Thatsache von heute auf morgen. Unsere
-Bücher sind zwar voll von einer Liebe, einem Hass,
-die sich einer geschleuderten Dynamitbombe gleich
-ohne alle Prämissen entladen; der naturwissenschaftlich
-gebildete Dichter wird hier sceptischer zu Werke
-gehen.</p>
-
-<p>Unsere älteren grossen Meister &ndash; Shakespeare,
-der Zeitgenosse Bakons, und Göthe, der unmittelbare
-Vorgänger Darwin's &ndash; bleiben dabei nach wie vor
-unsere Führer und Lehrer. Gerade auf dem darwinistischen<span class="pagenum"><a id="Seite_84">[84]</a></span>
-Gebiete scheint mir der allgemeine Werth der
-Methode die Hauptsache, die den Dichter fördern muss
-&ndash; viel mehr noch als das nähere Eingehen auf Fragen
-der Zuchtwahl. Ich will, um noch einen dritten dahin
-gehörigen Punct herauszugreifen, auch Gewicht legen
-auf die Rolle des oft verkannten Wortes Zufall in der
-Dichtung. Was ist naturwissenschaftlich gesprochen
-&ndash; Zufall?</p>
-
-<p>Nicht Wenige, die sich im Allgemeinen an das
-Causalprincip gewöhnt haben, wie es die logische
-Wissenschaft lehrt, meinen in Folge dessen jeden Zufall,
-der als Factor in einer Dichtung auftritt, schlechtweg
-als unerlaubten deus ex machina verwerfen zu
-müssen. Im letzten Grunde der Erscheinungen hängt
-ja Alles zusammen, das ist richtig. Trotzdem bietet
-die Welt von einem Standpuncte wie unserm menschlichen,
-der gewissermassen sehr weit ab in der grossen
-Kette liegt, das schematische Bild einer unendlichen
-Menge in sich geschlossener Linien dar, innerhalb
-deren alles causal verknüpft ist und ohne fremde Beihilfe
-weiterläuft. Jede Kreuzung zweier dieser Linien
-erscheint vom Standpuncte der beiden einzelnen wie
-ein in keinem ihrer eigenen Richtungsgesetze begründeter
-grober Stoss von aussen. Diesen jedesmaligen
-Kreuzungsstoss nennen wir Zufall. Vom hypothetischen
-Standpuncte einer Kenntniss sämmtlicher anfänglicher
-Richtungsverhältnisse aller causalen Sonderlinien
-zueinander, also einer mathematisch exacten
-Vorstellung von der anfänglichen Atomlagerung der
-irdischen Welt aus hörten die Empfindungen dieses unerwarteten
-Stosses und damit der Zufall als Sonderbegriff
-auf zu existiren. Der menschliche Standpunct
-den Dingen gegenüber ist hiervon noch sehr weit<span class="pagenum"><a id="Seite_85">[85]</a></span>
-entfernt. Wenn ich in einer Weltstadt von zwei
-Millionen Einwohnern an einem Tage mit meiner individuellen
-Linie ohne jede bewusste Abneigung zu
-einer zweiten hin vier Mal auf diese zweite treffe, also
-einem und demselben Bekannten vier Mal an vier
-verschiedenen Orten, die wir beide ohne Kenntniss von
-der Anwesenheit des andern aufsuchten, begegne, so
-bleibt mir das, aller atomistischen Nothwendigkeit unbeschadet,
-persönlich ein vierfacher Zufall. Oder im
-oben gewählten Beispiele von der neu entstehenden
-Raubthierart: wenn dort die in sich geschlossene Causalitätsreihe
-innerhalb des doppelt behaarten Individuums
-mit der absolut unabhängigen klimatischen
-Causalitätsreihe, die den strengeren Winter bewirkt,
-zusammenstösst, so ist dieser Zusammenstoss Zufall.
-Das Weitere nicht mehr; denn die Erhaltung jenes
-Individuums und die folgende Ausbildung einer neuen
-Rasse sind von da ab logische Consequenzen des Zufalls,
-der als solcher den Ausgangspunct einer neuen,
-selbstständigen Causalitätslinie bildet. Vom Dichter
-verlangen, dass er diesen Erscheinungen gegenüber
-seinen menschlichen Betrachtungsstandpunct aufgeben
-und uns nur noch überall geschlossene Linien vorführen
-sollte, hiesse denn doch gerade die Wirklichkeit in
-seinen Bildern antasten. Wir wissen physikalisch sehr
-gut, dass unsere Auffassung beispielsweise von der
-Farbe der Gegenstände eine illusorische ist, indem wir
-die Farbe an den Dingen haftend glauben, während
-sie in unserm Auge liegt; soll etwa deswegen der
-Dichter nicht mehr von rothen Rosen oder blauem
-Himmel sprechen? Ja, man kann geradezu sagen, dass
-eine schärfere Beachtung des Zufalls in seiner thatsächlichen
-Erscheinung den Dichter eher darauf führen<span class="pagenum"><a id="Seite_86">[86]</a></span>
-wird, ihm eine mehr, als eine weniger wichtige Rolle
-zuzuertheilen. Man führe &ndash; was fachwissenschaftlich
-bei Gelegenheit angeblicher mystischer Phänomene,
-zweitem Gesicht, Prophezeiungen und Aehnlichem fast
-zur Pflicht wird &ndash; nur eine kurze Zeit seines Lebens
-einmal Buch über die Zufälle, denen man begegnet,
-vor allem die mehrfachen in derselben Sache. Man
-wird selbst staunen, welche Resultate man erhält, wie
-merkwürdig unwahrscheinlich das alltäglichste Leben
-im Grunde genommen ist! Hier und da, an einer Spielbank
-zum Beispiel, sind die tollsten Beobachtungen
-dieser Art in einem einzigen Tage zusammen zu
-bringen. In diesem Puncte aber ist das ganze Leben
-ein ununterbrochenes blindes Glücksspiel. Der Begriff
-der Wahrscheinlichkeit &ndash; und hier liegt der Knoten
-&ndash; der Begriff, den wir in jedem prüfenden Augenblicke
-hineinschmuggeln, ist eben in Wahrheit nichts
-Reales. Für unsern Standpunct ist es, wenn wir einen
-Würfel fallen lassen, selbst wenn er fünf leere Seiten
-hat, positiv nicht wahrscheinlicher, dass eine der leeren,
-als dass die einzige bezeichnete Seite nach oben zu
-liegen kommt. Jede Wahrscheinlichkeit hört der freien
-Macht des Zufalls in der Welt gegenüber auf, gerade
-weil der Zufall im letzten Ende auch ein Nothwendiges,
-uns aber völlig Verhülltes einschliesst. Ich weiss
-recht wohl, dass sich das ganze Innere des logisch
-denkenden Kritikers auflehnt, wenn ein Poet uns eine
-Liebesgeschichte erzählt, die auf fünf oder sechs groben
-Zufällen, wie ungewolltes Begegnen, aufgebaut ist.
-Und doch spreche ich es rund als meine Ueberzeugung
-aus, dass man Bände füllen könnte mit der einfachen
-Aufzählung der grossen und kleinen Zufälle, die bei
-einer nicht annähernd gleich verwickelten Geschichte<span class="pagenum"><a id="Seite_87">[87]</a></span>
-im wahren Leben bei peinlicher Beobachtung sich
-ergeben würden, denn mit jedem Schritt, den wir
-thun, kreuzen wir fremde ungeahnte Causalitätsreihen,
-die in Folge der neuen Reihe, die aus dem Contact
-hervorgeht, eine Macht innerhalb unserer eigenen
-Linie werden. Ein ganzes Menschenleben bis in dieses
-feine Gewebe seines Schicksals hinein zu zergliedern:
-das wäre ein Kunstwerk, wie wir es noch nicht einmal
-ahnen. In Wahrheit giebt es wenige Puncte, die
-dem Beobachter so schmerzlich nahe legen, wie weit
-unsere Kunst in all' ihrer Erfassung des Menschlichen
-noch hinter der Wirklichkeit zurücksteht.</p>
-
-<p>Das Wort des alten Malers bei Zola muss uns
-trösten: »Arbeiten wir!« Arbeit steckt auch in all'
-diesen darwinistischen Problemen, Arbeit nicht bloss
-für den Naturforscher, sondern auch für den Dichter.
-Sagen wir uns unablässig, dass die Arbeit, das harte,
-mit dem Leben ringende Künstlerstreben, unser wahres
-Erbe von den grossen Geistern der Vergangenheit
-her ist, nicht das unklare Träumen. Genialität wird
-geboren; aber das Ausleben der Genialität ist unablässige
-Durchdringung des Stoffes, ist ewiges Studium;
-wenn sie das nicht ist, so ist sie eine Krankheit, für
-die der schonungslose Kampf um's Dasein die ideale
-Nemesis wird, indem er sie ausrottet.</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-087.png" alt="" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_88">[88]</a></span></p>
-
-<h2 id="Siebentes_Capitel">Siebentes Capitel.<br />
-Eine Schlussbetrachtung.</h2>
-</div>
-
-<p>In dem Augenblicke, wo ich diese Studie abschliesse,
-hat die realistische Bewegung bei uns in
-Deutschland eine Form angenommen, die es mehr und
-mehr wünschenswerth erscheinen lässt, das Wort zu
-friedlicher Verständigung zu ergreifen. Während in
-Russland und Frankreich muthige Werkmeister sich
-in harter Arbeit um die neuen Stoffe der Dichtung
-mühen und, bald mit falschen, bald mit treffenden
-Schlägen, doch unablässig das Rohmaterial gefügig
-machen und das Instrument üben, vernimmt man bei
-uns viel Lärm und sieht wenig Früchte. Man ist
-allerdings bisweilen geneigt, das laute Geschrei bloss
-für das harmlose Jauchzen von Schulknaben zu halten,
-die einen freien Tag haben, weil ihre Lehrer zu stiller,
-ernster Conferenz über die wichtigsten Fragen des
-Unterrichts zusammengetreten sind. Werden wir erleben,
-dass auch die Stimme der Meister einmal laut
-wird und uns in anderer Weise, als das Gezwitscher
-der Jungen es vermochte, von der Bedeutung der
-Stunde Rechenschaft ablegt? Wir haben es schon oft<span class="pagenum"><a id="Seite_89">[89]</a></span>
-gesehen, dass der Deutsche zuletzt kam, dann aber
-dem Ganzen die Krone aufsetzte, indem er ihm aus
-der Tiefe seiner geistigen Entwickelung heraus Dinge
-verlieh, die keine andere Nation je besessen. Ich bin
-auf diesen Blättern wiederholt gezwungen gewesen,
-den Namen Zola zu nennen, und ich kann es als meine
-ruhige Ueberzeugung auch hier noch einmal aussprechen,
-dass mir Zola in vielen Puncten sehr hoch
-steht, sowohl in seinem Können, wie in der Ehrlichkeit
-seines Wollens. Aber ich möchte diese fragmentarische
-Behandlung des realistischen Problems nicht
-schliessen, ohne vorher noch mit ein paar Worten auch
-dem deutschen Antheil an der Entstehung jener ganzen
-Richtung &ndash; wie immer unsere Besten im Augenblick
-sich zu ihr stellen mögen &ndash; gerecht geworden zu sein.
-Wenn die Literaturgeschichte dereinst mit dem Werkzeuge
-einer geläuterten darwinistischen Methode die
-Wurzeln dessen aufdecken wird, was wir jetzt Realismus
-in der Poesie nennen, so wird der Hass der
-gereizten Parteien sich versöhnen müssen in der Erkenntniss
-ihres gemeinsamen Ursprungs. Einseitige
-Beurtheiler schmähen heute in Zola das Stück Victor
-Hugo, das unbezweifelbar in ihm steckt; die einsichtigere
-Zukunft wird sich mit Ruhe sagen dürfen, dass
-es sich hier einfach um eine Entwickelung handelt,
-dass der Zola'sche Realismus sich folgerichtig als
-zweite Stufe des bessern Theils in Victor Hugo aus
-dem Hugo'schen Idealismus ergeben musste. Nicht
-anders ergeht es uns in Deutschland. Indem wir
-scheinbar neue Wege wandeln werden, werden wir
-unbewusst doch nur das bessere Theil unserer grossen
-literarischen Vergangenheit ausbauen. Welch' himmelweite
-Kluft trennt scheinbar eine deutsche Dichtung,<span class="pagenum"><a id="Seite_90">[90]</a></span>
-die sich in dem von mir im Vorstehenden ausgeführten
-Sinne mit den Principien der Naturwissenschaft in
-Einklang setzt, von einem Freytag'schen Romane!
-Und doch ist das alles nur scheinbar. Als Freytag
-den tiefen Ausspruch Julian Schmidt's zum Motto
-machte: »Die Dichtung soll das Volk bei der Arbeit
-aufsuchen«, war er nach den Träumen der Romantik
-im Grunde der Begründer des Realismus. Anderes
-hat dann, sollte man glauben, die Linie abgelenkt, die
-Richtung auf das Historische hat den Roman wieder
-auf ein neues Gebiet gedrängt. In schärferer Beleuchtung
-erscheint auch das als ein realistisches Symptom.
-Man wollte die Ahnen in der Dichtung sehen, um die
-Enkel in ihrer Arbeit zu begreifen. Leichter Sinn
-sieht in diesen krausen Gängen, die das Princip gewandelt,
-eine Modekrankheit. Das heisst nichts.
-Krankhaft war allerdings und ist hier mancher Detailzug
-geblieben, wie ich das in dem Capitel über die
-Liebe vielleicht schroff, aber als volle Ueberzeugung
-ausgesprochen. Doch selbst dieser Tadel trifft kaum
-die Bessern, fast nur die Kleinen. Die historische
-Dichtung als Ganzes war eine berechtigte Pionierarbeit
-&ndash; grösser und glänzender als sie, folgt ihr freilich
-jetzt die Aufgabe, das Geschichtliche nicht darzustellen
-in künstlich belebten Bildern des Vergangenen, sondern
-in seiner lebendigen Bethätigung mitten unter uns, in
-seinen fortschwirrenden Fäden, in seiner Macht über
-die Gegenwart.</p>
-
-<p>Von diesem freien Standpuncte aus verliert der
-Kampf um den Realismus seine Bitterkeit. Die grosse
-Literatur, auf die wir stolz sind, erscheint wieder als
-Ganzes, wo jeder Bedeutende sein Recht erhält. Und
-am Ende, wenn auch bei uns in Deutschland der<span class="pagenum"><a id="Seite_91">[91]</a></span>
-Realismus im neuen Sinne einmal seine grossen Vertreter
-gefunden hat, wird als Summe sich ergeben,
-dass wir, die wir auf einer stofflich reicheren und
-tieferen Literatur fussen, als die Nachbarländer, auch
-nun in jenem Gebiete fester und sicherer uns ergehen
-werden, als die Franzosen und Engländer oder die
-Russen und Skandinavier. Gerade den Jüngeren, die
-jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug an's
-Herz gelegt werden, dass Realisten sein nicht heissen
-darf, die Fühlung mit den grossen Traditionen unserer
-Literatur verlieren. Studirt Zola, achtet ihn, helft die
-Kurzsichtigen im Publicum aufklären, die keinen
-Dichter vertragen können, der im Dienste einer Idee
-selbst das Extreme nicht scheut; aber gebt euch nicht
-blind für Schüler Zola's aus, als wenn in Paris ein
-Messias erstanden sei, der alle alten und neuen Testamente
-auflösen sollte. Studirt, was Zola sich zu thun
-ehrlich bemüht hat, Naturwissenschaften, beobachtet,
-wendet Gesetze auf das menschliche Leben an, das
-ist alles schwere Arbeit, aber es bringt uns vorwärts.
-Und vor allem: vergesst nicht, dass ihr der deutschen
-Literatur angehört, dass hinter euch Göthe und Schiller
-stehen und dass ihr ein Recht habt, euch als deren
-Enkel selbstständig neben den Schüler Balzac's und
-Nachfolger Victor Hugo's zu stellen, was die Vergangenheit
-und den Bildungsgrad eures Volkes anbetrifft.
-Die Wissenschaft ist internationales Gut, Jeder
-kann sie sich aneignen, der sich der Mühe unterzieht.
-Aber bildet euch nicht ein, das leere Poltern und
-Schreien hülfe irgend etwas. Ihr habt jetzt nach
-Kräften auf den historischen Roman gescholten, obwohl
-darin doch wenigstens ordentliche Arbeit, ordentliches
-Studium steckte. Ich will glauben, dass das<span class="pagenum"><a id="Seite_92">[92]</a></span>
-Schelten begründet war, wenn ihr zeigt, dass ihr mehr
-könnt, dass ihr das unendlich viel erhabenere Problem
-zu lösen wisst, wie die Fäden der Geschichte sich
-verknoten im socialen und ethischen Leben der Gegenwart,
-wie man historische Dichtungen schreibt, die
-gestern und heute spielen. Ihr habt die weiche, tändelnde
-Lyrik ausgepfiffen auf allen Gassen. Auch
-das soll gut und recht sein, wenn ihr mir eine neue
-Lyrik zeigt, die an Göthe und Heine organisch anknüpft
-und doch selbstständig das Herzensglück und
-Herzensweh des modernen Menschen zum Ausdruck
-bringt. Macht der Welt klar, dass der Realismus in
-Wahrheit der höchste, der vollkommene Idealismus
-ist, indem er auch das Kleinste hinaufrückt in's Licht
-des grossen Ganzen, in's Licht der Idee. Dann werden
-die Missverständnisse aufhören. Der Leser wird
-nicht mehr der Ansicht huldigen, wenn er eine realistische
-Dichtung aufschlüge, so umgellte ihn das Gelächter
-von Idioten und Cocotten, und wenn man,
-was überhaupt recht rathsam wäre, sich bloss genöthigt
-sähe, das Romanlesen bei unreifen Mädchen
-etwas mehr einzuschränken in Folge des Ueberwiegens
-der realistischen Richtung, so sollte das unser geringster
-Schmerz sein. Freilich wird es auch ohne
-Missverständnisse noch manchen harten Kampf kosten,
-bis die Mehrzahl der geniessenden Leser sich an das
-schärfere Instrument des Beobachters gewöhnt haben
-wird. Das kommt nicht von heute auf morgen. Zunächst
-muss das Vertrauen in der Menge für den
-realistischen Dichter gewonnen werden, und wir werden
-gut thun, die Schauerscenen nach Kräften zu
-vermeiden, so lange die Vorurtheile noch so sehr gross
-sind. Auch werden die Lyrik und das Drama, die ja<span class="pagenum"><a id="Seite_93">[93]</a></span>
-immer mehr zum Herzen sprechen, den harten Tritt
-des Romanes dämpfen helfen, wenn sie erst einmal
-zur Stelle sind. Am Ende wird auch die Masse des
-Volkes besser sehen lernen, und das ist für alle Fälle
-ein Gewinn. Die Poesie wahrt so nur ihre alte Rolle
-als Erzieherin des Menschengeschlechtes, und indem
-sie es thut, darf sie hoffen, auf freundlichem Boden
-sich mit der Naturwissenschaft zu begegnen. Beide
-reichen sich dann die Hand in dem Bestreben, den
-Menschen gesund zu machen.</p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-093.png" alt="FINIS" />
-</div>
-<hr class="chap" />
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_94">[94]</a></span></p>
-
-<div class="figcenter">
-<img src="images/illu-094.png" alt="C. G. Röder, Leipzig." />
-</div>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter"></div>
-<div class="transnote" id="tnextra">
-
-<p class="h2">Weitere Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert.
-Alte und unterschiedliche Schreibweisen wurden beibehalten.</p>
-
-<p>Korrekturen:</p>
-
-<div class="corr">
-<p>
-S. 12: Methaphysische → Metaphysische<br />
-Das <a href="#corr012">Metaphysische</a> kann ich dabei nur streifen</p>
-<p>
-S. 53: uud → und<br />
-<a href="#corr053">und</a> indem der wachsende Embryo</p>
-<p>
-S. 57: letztere → letzteres<br />
-<a href="#corr057">letzteres</a> etwas Geistiges</p>
-</div>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die naturwissenschaftlichen Grundlagen
-der Poesie., by Wilhelm Bölsche
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NATURWISSENSCHAFTLICHEN ***
-
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