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-The Project Gutenberg EBook of Friedrich Nietzsche, by Rudolf Steiner
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Friedrich Nietzsche
- Ein Kämpfer gegen seine Zeit
-
-Author: Rudolf Steiner
-
-Release Date: November 24, 2016 [EBook #53592]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRIEDRICH NIETZSCHE ***
-
-
-
-
-Produced by Jeroen Hellingman and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net/ for Project
-Gutenberg (This book was produced from scanned images of
-public domain material from the Google Books project.)
-
-
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-
-
-
-
-
-
- FRIEDRICH NIETZSCHE
-
- EIN KÄMPFER GEGEN SEINE ZEIT.
-
- Von
-
- Dr. RUDOLF STEINER.
-
-
-
- WEIMAR.
-
- VERLAG VON EMIL FELBER.
-
- 1895.
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-
-
-
-
-
-INHALT.
-
- Seite
-
- Vorrede VII
- I. Nietzsches Charakter 1
- II. Der Übermensch 29
- III. Nietzsches Entwickelungsgang 93
-
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-
-
-
-
-VORREDE.
-
-
-Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich Nietzsches kennen lernte,
-waren in mir bereits Ideen ausgebildet, die den seinigen ähnlich
-sind. Unabhängig von ihm und auf anderen Wegen als er, bin ich zu
-Anschauungen gekommen, die im Einklang stehen mit dem, was Nietzsche
-in seinen Schriften: "Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse",
-"Genealogie der Moral" und "Götzendämmerung" ausgesprochen hat. Schon
-in meinem 1886 erschienenen kleinen Buche "Erkenntnistheorie der
-Goetheschen Weltanschauung" kommt dieselbe Gesinnung zum Ausdruck,
-wie in den genannten Werken Nietzsches.
-
-Dies ist der Grund, warum ich mich gedrängt fühlte, ein Bild von
-dem Vorstellungs- und Empfindungsleben Nietzsches zu zeichnen. Ich
-glaube, daß ein solches Bild Nietzsche am ähnlichsten dann wird,
-wenn man es seinen erwähnten letzten Schriften gemäß schafft. So habe
-ich es gethan. Die früheren Schriften Nietzsches zeigen uns ihn als
-Suchenden. Er stellt sich uns in ihnen dar als rastlos aufwärts
-Strebender. In seinen letzten Schriften sehen wir ihn auf dem
-Gipfel angelangt, der eine seiner ureigenen Geistesart angemessene
-Höhe hat. In den meisten der bis jetzt über Nietzsche erschienenen
-Schriften wird dessen Entwickelung so dargestellt, als ob er in
-den verschiedenen Zeiten seiner Schriftstellerlaufbahn voneinander
-mehr oder weniger abweichende Meinungen gehabt hätte. Ich habe zu
-zeigen versucht, daß von einem Meinungswechsel bei Nietzsche nicht
-die Rede sein kann, sondern nur von einer Aufwärts-Bewegung, von
-der naturgemäßen Entwickelung einer Persönlichkeit, die noch nicht
-die ihren Anschauungen entsprechende Ausdrucksform gefunden hatte,
-als sie ihre ersten Schriften schrieb.
-
-Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die Zeichnung des Typus
-"Übermensch". Diesen Typus zu charakterisieren, habe ich als
-eine der Hauptaufgaben meiner Schrift betrachtet. Mein Bild des
-Übermenschen ist genau das Gegenteil des Zerrbildes geworden, das
-in dem augenblicklich verbreitetsten Buche über Nietzsche von Frau
-Lou Andreas-Salomé entworfen ist. Man kann nichts dem Nietzscheschen
-Geiste mehr Zuwiderlaufendes in die Welt setzen, als das mystische
-Ungetüm, das Frau Salomé aus dem Übermenschen gemacht hat. Mein Buch
-zeigt, daß in Nietzsches Ideen nirgends auch nur die geringste Spur
-von Mystik anzutreffen ist. Auf die Widerlegung der Ansicht von Frau
-Salomé, daß Nietzsches Gedanken in "Menschliches, Allzumenschliches"
-von den Ausführungen Paul Rées, des Verfassers der "Psychologischen
-Beobachtungen und des Ursprungs der moralischen Empfindungen"
-u. s. w., beeinflußt seien, habe ich mich nicht eingelassen. Ein so
-mittelmäßiger Kopf wie Paul Rée konnte auf Nietzsche keinen bedeutenden
-Eindruck machen. Ich würde diese Dinge auch hier nicht berühren,
-wenn nicht das Buch von Frau Salomé so viel beigetragen hätte,
-geradezu widerwärtige Ansichten über Nietzsche zu verbreiten. Fritz
-Koegel, der ausgezeichnete Herausgeber von Nietzsches Werken, hat im
-"Magazin für Litteratur" diesem Machwerke die gebührende Abfertigung
-angedeihen lassen.
-
-Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschließen, ohne Frau
-Förster-Nietzsche, der Schwester Nietzsches, herzlichst zu danken für
-die vielen Freundlichkeiten, die ich von ihr während der Zeit erfahren
-habe, in der meine Schrift entstanden ist. Den im "Nietzsche-Archiv"
-in Naumburg verlebten Stunden verdanke ich die Stimmung, aus der
-heraus die folgenden Gedanken geschrieben sind.
-
-
- Weimar, April 1895.
-
- Rudolf Steiner.
-
-
-
-
-
-
-
-
-NIETZSCHES WERKE.
-
-
-Ich führe hier zur Orientierung die bis jetzt erschienenen und für
-meine Ausführungen in Betracht kommenden Schriften Nietzsches an und
-füge zu jeder einzelnen die Jahreszahl des Erscheinens der ersten
-Auflage hinzu.
-
-
-Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus.
-
-Die 1. Aufl. erschien 1872.
-
-Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem "Versuch einer Selbstkritik"
-erschien 1886.
-
-Unzeitgemäße Betrachtungen.
-
-Erstes Stück: David Strauß, der Bekenner und
-Schriftsteller. 1. Aufl. 1873.
-
-Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das
-Leben. 1. Aufl. 1874.
-
-Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 1. Aufl. 1874.
-
-Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. 1. Aufl. 1876.
-
-Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.
-
-1. Band. 1. Aufl. 1878.
-
-Eine neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede erschien 1886.
-
-Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.
-
-2. Band. Die beiden Abteilungen dieses Buches: "Vermischte Meinungen
-und Sprüche" und "Der Wanderer und sein Schatten" erschienen
-zuerst jede als besonderes Buch. Die erste 1879 unter dem Titel:
-"Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang:
-Vermischte Meinungen und Sprüche", die zweite 1880. Beide Abteilungen
-wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der mit einer einführenden
-Vorrede versehen wurde und der den Titel trug: "Menschliches,
-Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue
-Ausgabe mit einer einführenden Vorrede."
-
-Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
-
-1. Aufl. 1881.
-
-Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede 1887.
-
-Die fröhliche Wissenschaft ("La gaya scienza"). 1. Aufl. 1882.
-
-Neue Ausgabe mit einer Vorrede 1887.
-
-Also sprach Zarathustra. Die Teile erschienen zuerst einzeln: 1. Teil
-1883; 2. Teil 1883; 3. Teil 1884. Die erste Gesamtausgabe der drei
-Teile erschien 1886. Der vierte Teil erschien 1885 in 40 Abzügen bloß
-für Freunde und erst 1891 als 1. Aufl.
-
-Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der
-Zukunft. 1. Aufl. 1886.
-
-Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1. Aufl. 1887.
-
-Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. 1. Aufl. 1888.
-
-Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer
-philosophiert. 1. Aufl. 1889.
-
-Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen. Erschien 1895
-in der Gesamtausgabe zum ersten Mal. 1888 bereits einmal gedruckt,
-aber nicht ausgegeben.
-
-Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Das erste
-Buch des unvollendeten Werkes Nietzsches "Der Wille zur Macht". In
-der Gesamtausgabe (1895) zum erstenmal gedruckt.
-
-Gedichte. In der Gesamtausgabe 1895.
-
-Eine Gesamtausgabe von Nietzsches Werken in 8 Bänden ist 1895 bei
-C. G. Naumann in Leipzig erschienen. In derselben sind enthalten:
-Die Geburt der Tragödie 4. Aufl.; Die "Unzeitgemäßen Betrachtungen"
-3. Aufl.; "Menschliches, Allzumenschliches" 1. u. 2. Bd. 4. Aufl.;
-Morgenröte 2. Aufl.; Fröhliche Wissenschaft 2. Aufl.; Zarathustra
-4. Aufl.; Jenseits von Gut und Böse 5. Aufl.; Genealogie der Moral
-4. Aufl.; Der Fall Wagner 3. Aufl.; Götzendämmerung 3. Aufl.; Nietzsche
-contra Wagner; Antichrist; Gedichte.
-
-
-Die Veröffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten Nietzsches, sowie
-seiner Entwürfe zu Arbeiten, seiner Fragmente u. s. w. steht bevor.
-
-
-
-
-
-
-
-
-I.
-
-DER CHARAKTER.
-
-
-1.
-
-Friedrich Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler
-und Rätselfreund, als unzeitgemäße Persönlichkeit. Wer auf solchen
-eigenen Wegen geht, wie er, "begegnet niemandem; das bringen die
-eigenen Wege mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem,
-was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß
-er allein fertig werden", sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe
-seiner "Morgenröte". Aber reizvoll ist es, ihm in seine Einsamkeit
-zu folgen. Die Worte, die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer
-ausgesprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche sagen:
-"Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste
-Seite von ihm gelesen, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten
-lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt
-hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da ..... Ich verstand ihn,
-als ob er für mich geschrieben hätte, um mich verständlich, aber
-unbescheiden und thöricht auszudrücken." Man kann so sprechen und
-weit davon entfernt sein, sich als "Gläubigen" der Nietzscheschen
-Weltanschauung zu bekennen. Weiter allerdings nicht, als Nietzsche
-davon entfernt war, sich solche "Gläubige" zu wünschen. Legt er doch
-seinem "Zarathustra" die Worte in den Mund:
-
-"Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an
-Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen
-Gläubigen!
-
-"Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle
-Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.
-
-"Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn
-ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren."
-
-Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich
-wohl Freunde seiner Meinungen wünschen; Bekenner seiner Lehren aber,
-die ihr eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, kann er
-nicht wollen.
-
-In Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte, denen ganze
-Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen zuwider sind. Von den
-wichtigsten Kulturideen derjenigen, in deren Mitte er sich entwickelt
-hat, wendet er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und
-zwar nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in der man einen
-logischen Widerspruch entdeckt hat, sondern wie man sich von einer
-Farbe abwendet, die dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille
-geht von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewußte Überlegung kommt
-zunächst gar nicht in Betracht. Was andere Menschen empfinden, wenn
-ihnen die Gedanken: Schuld, Gewissensbiß, Sünde, jenseitiges Leben,
-Ideal, Seligkeit, Vaterland durch den Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche
-unangenehm. Die instinktive Art der Abneigung gegen die genannten
-Vorstellungen unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten
-"Freigeistern" der Gegenwart. Diese kennen alle Verstandeseinwände
-gegen die "alten Wahnvorstellungen"; aber wie selten findet sich
-einer, der von sich sagen kann: seine Instinkte hängen nicht mehr an
-ihnen! Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der Gegenwart
-böse Streiche spielen. Das Denken nimmt einen von den überlieferten
-Ideen unabhängigen Charakter an, aber die Instinkte können sich diesem
-veränderten Charakter des Verstandes nicht anpassen. Diese "freien
-Geister" setzen irgend einen Begriff der modernen Wissenschaft an die
-Stelle einer älteren Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, daß
-man erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als die Instinkte. Der
-Verstand sucht in dem Stoffe, in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit
-den Urgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber verleiten dazu,
-diesen Wesen gegenüber dasselbe zu empfinden, was andere ihrem
-persönlichen Gotte gegenüber empfinden. Geister dieser Art wehren
-sich gegen den Vorwurf der Gottesleugnung; aber sie thun es nicht
-deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas führt, was mit irgend
-einer Gottesvorstellung übereinstimmt, sondern weil sie von ihren
-Vorfahren die Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte "Gottesleugner"
-ein instinktives Gruseln zu empfinden. Große Naturforscher betonen,
-daß sie die Vorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen,
-sondern nur im Sinne der modernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre
-Instinkte sind eben hinter ihrem Verstande zurückgeblieben.
-
-Eine große Zahl dieser "freien Geister" vertritt die Ansicht, daß
-der Wille des Menschen unfrei ist. Sie sagen: der Mensch muß in
-einem bestimmten Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf
-ihn einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte aber Umschau bei
-diesen Gegnern der Ansicht vom "freien Willen", und man wird finden,
-daß sich die Instinkte dieser "Freigeister" von dem Vollbringer einer
-"bösen" That geradeso mit Abscheu abwenden, wie es die Instinkte der
-anderen thun, die der Meinung sind: der "freie Wille" könne sich nach
-Belieben dem Guten oder dem Bösen zuwenden.
-
-Der Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das Merkmal unserer
-"modernen Geister". Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben
-noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten Instinkte. Genau
-die entgegengesetzten sind in Nietzsches Natur wirksam. Er braucht
-nicht erst darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die Annahme
-eines persönlichen Weltenlenkers giebt. Sein Instinkt ist zu stolz,
-um sich vor einem solchen zu beugen; deshalb lehnt er eine derartige
-Vorstellung ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: "Aber daß ich
-euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie
-hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter." Sich
-selbst oder einen andern wegen einer begangenen Handlung "schuldig"
-zu sprechen, dazu drängt ihn nichts in seinem Innern. Um ein solches
-"schuldig" unstatthaft zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom
-"freien" oder "unfreien" Willen.
-
-Auch die patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen
-sind Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und
-Denken nicht abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes,
-innerhalb dessen er geboren und erzogen ist; auch nicht von der Zeit,
-in der er lebt. "Es ist so kleinstädtisch -- sagt er in seiner Schrift
-"Schopenhauer als Erzieher" --, sich zu den Ansichten verpflichten, die
-ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient
-und Occident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsere Augen
-hinmalt, um unsere Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch
-machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da
-sollte es sie hindern, daß zufällig zwei Nationen sich hassen und
-bekriegen, oder daß ein Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder
-daß rings um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein paar
-tausend Jahren nicht bestand." Die Empfindungen der Deutschen während
-des Krieges im Jahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen
-Widerhall, daß er, "während die Donner der Schlacht von Wörth über
-Europa weggingen", in einem Winkel der Alpen saß, "sehr vergrübelt
-und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich",
-und seine Gedanken über die Griechen niederschrieb. Und als er einige
-Wochen darauf sich selbst "unter den Mauern von Metz" befand, war er
-"noch immer nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zum Leben
-und der Kunst der Griechen gesetzt hatte". (Vergl. "Versuch einer
-Selbstkritik" in der zweiten Auflage seiner "Geburt der Tragödie".) Als
-der Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner
-deutschen Zeitgenossen über den errungenen Sieg ein, daß er schon
-im Jahre 1872 in seiner Schrift über David Strauß von den "schlimmen
-und gefährlichen Folgen" des siegreich beendeten Kampfes sprach. Er
-stellte es sogar als einen Wahn hin, daß auch die deutsche Kultur in
-diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn gefährlich, weil,
-wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend wird, die Gefahr
-vorhanden ist, den Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln;
-in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten
-des "Deutschen Reiches". Das ist Nietzsches Gesinnung in einer Zeit,
-in der ganz Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Es ist die
-Gesinnung einer unzeitgemäßen Persönlichkeit, eines Kämpfers gegen
-seine Zeit. Außer dem Angeführten ließe sich noch vieles nennen,
-was in Nietzsches Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist,
-als in dem seiner Zeitgenossen.
-
-
-
-
-2.
-
-Nietzsche ist kein "Denker" im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Für die
-fragwürdigen und tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben
-gegenüber zu stellen hat, reicht das bloße Denken nicht aus. Für diese
-Fragen müssen alle Kräfte der menschlichen Natur entfesselt werden;
-die denkende Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu bloß
-erdachten Gründen für eine Meinung hat Nietzsche kein Vertrauen. "Es
-giebt ein Mißtrauen in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe,"
-schreibt er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vergl. dessen
-"Menschen und Werke", S. 212). Wer ihn um die Gründe seiner
-Ansichten fragt, für den hat er "Zarathustras" Antwort bereit:
-"Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem
-Warum fragen darf." Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden
-kann, ist für ihn maßgebend, sondern ob sie auf alle Kräfte der
-menschlichen Persönlichkeit so wirkt, daß sie für das Leben Wert
-hat. Er läßt einen Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignet findet,
-zur Entwicklung des Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund als
-möglich, so machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu
-sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle Ideale haben nur Wert
-und gehen den Menschen nur etwas an, insofern sie lebenfördernd sind.
-
-Die Frage nach dem Werte der Wahrheit tritt in mehreren Schriften
-Nietzsches auf. In der verwegensten Form wird sie in seinem Buche:
-"Jenseits von Gut und Böse" gestellt. "Der Wille zur Wahrheit, der uns
-noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit,
-von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was
-für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche
-wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine
-lange Geschichte -- und doch scheint es, daß sie kaum eben angefangen
-hat." Was Wunder, wenn wir endlich auch mißtrauisch werden, die Geduld
-verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx auch
-unsererseits das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier
-Fragen stellt? Was in uns will eigentlich 'zur Wahrheit'? In der That,
-wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens
--- bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar
-stehen blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt,
-wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?
-
-Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender Kühnheit. Stellt man
-daneben, was ein anderer kühner "Grübler und Rätselfreund", Johann
-Gottlieb Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt, so sieht man
-erst, wie tief aus dem Wesen der menschlichen Natur Nietzsche seine
-Vorstellungen heraufholt. "Ich bin dazu berufen" -- sagt Fichte --
-"der Wahrheit Zeugnis zu geben; an meinem Leben und an meinem Schicksal
-liegt nichts; an den Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich
-bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe
-mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen und zu
-leiden." (Fichte, Vorlesungen "Über die Bestimmung des Gelehrten",
-vierte Vorlesung.) Diese Worte sprechen das Verhältnis aus, in das
-sich die edelsten Geister der abendländischen neueren Kultur zur
-Wahrheit setzen. Nietzsches angeführtem Ausspruch gegenüber erscheinen
-sie oberflächlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es denn nicht
-möglich, daß die Unwahrheit wertvollere Wirkungen für das Leben hat,
-als die Wahrheit? Ist es ausgeschlossen, daß die Wahrheit dem Leben
-schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt? Haben es andere gethan,
-die "der Wahrheit Zeugnis" gegeben haben?
-
-Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt über sie erst
-dann ins Reine zu kommen, wenn er das Streben nach Wahrheit nicht
-als bloße Verstandessache behandelt, sondern nach den Instinkten
-sucht, die dieses Streben erzeugen. Denn es könnte ja wohl sein,
-daß sich diese Instinkte der Wahrheit nur als Mittel bedienten,
-um etwas zu erreichen, was höher steht, als die Wahrheit. Nietzsche
-findet, nachdem er "lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen
-und auf die Finger gesehn" hat: "Das meiste Denken eines Philosophen
-ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen
-gezwungen." Die Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres Thuns
-sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies, weil sie nicht auf
-den Grund der menschlichen Natur zu sehen vermögen. In Wirklichkeit
-wird das Streben nach Wahrheit gelenkt von dem Willen zur Macht. Mit
-Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebensfülle der Persönlichkeit
-erhöht werden. Das bewußte Denken des Philosophen ist der Meinung: die
-Erkenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbewußte Instinkt,
-der das Denken treibt, strebt nach Förderung des Lebens. Für diesen
-Instinkt ist "die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen
-ein Urteil"; für ihn kommt allein die Frage in Betracht: "wie weit
-ist es lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar
-artzüchtend" (Jenseits von Gut und Böse § 4).
-
-"'Wille zur Wahrheit' heißt ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt
-und brünstig macht?
-
-"Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen!
-
-"Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit
-gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist.
-
-"Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt
-soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und
-Widerbild.
-
-"Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht
-....." (Zarathustra, 2. Teil, Von der Selbst-Überwindung.)
-
-Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan machen und dadurch
-dem Leben dienen. Nur als Lebensbedingung hat sie einen Wert. --
-Kann man nicht aber noch weiter gehen und fragen: was ist das Leben
-selbst wert? Nietzsche hält eine solche Frage für unmöglich. Daß
-alles Lebende so machtvoll, so inhaltreich leben will, als irgend
-möglich ist, nimmt er als eine Thatsache hin, über die er nicht
-weiter grübelt. Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem Werte
-des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel giebt es, um die Macht
-ihres Trägers zu erhöhen. "Urteile, Werturteile über das Leben, für
-oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert
-als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, -- an sich
-sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger darnach
-ausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu fassen,
-daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem
-Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist,
-und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andern Grunde. --
-Von seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehn,
-bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an
-seiner Weisheit, eine Unweisheit." -- (Götzendämmerung. Das Problem
-des Sokrates.) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nur für
-eine mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit. Wer allseitig
-entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen, wie viel sein Leben wert ist.
-
-Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb legt er auf
-logische Beweisgründe für ein Urteil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt
-es ihm an, ob sich das Urteil logisch beweisen läßt, sondern wie gut
-sich unter seinem Einflusse leben läßt. Nicht allein der Verstand,
-sondern die ganze Persönlichkeit des Menschen soll befriedigt
-werden. Die besten Gedanken sind diejenigen, welche alle Kräfte der
-menschlichen Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.
-
-Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche Interesse. Er ist kein
-philosophischer Kopf, sondern ein "Honigsammler des Geistes", der
-die "Bienenkörbe" der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht,
-was dem Leben frommt.
-
-
-
-
-3.
-
-In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend,
-die den Menschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm
-gefällt alles, was Macht bekundet; ihm mißfällt alles, was Schwäche
-verrät. Er fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in
-Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erhöhen. Er liebt
-Hemmnisse, Widerstände für seine Thätigkeit, weil er sich bei ihrer
-Überwindung seiner Macht bewußt wird. Er sucht die beschwerlichsten
-Wege auf, die der Mensch gehen kann. Ein Grundzug seines Charakters
-ist in dem Spruche ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner
-"fröhlichen Wissenschaft" auf das Titelblatt gesetzt hat:
-
-
- "Ich wohne in meinem eignen Haus,
- Hab' niemandem nie nichts nachgemacht
- Und -- lachte noch jeden Meister aus,
- Der nicht sich selber ausgelacht."
-
-
-Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche
-als Schwäche. Und über das, was eine "fremde Macht" ist, denkt
-er anders als mancher, der sich als "unabhängigen, freien Geist"
-bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn der Mensch sich
-in seinem Denken und Handeln sogenannten "ewigen, ehernen" Gesetzen
-der Vernunft unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlichkeit
-thut, das läßt sie sich von keiner Moralwissenschaft vorschreiben,
-sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der Mensch ist
-in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln
-sucht, nach denen er denken und handeln soll. Der Starke bestimmt
-die Art seines Denkens und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.
-
-Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in Sätzen aus,
-um derentwillen ihn kleinlich denkende Menschen geradezu als
-einen gefährlichen Geist bezeichnet haben: "Als die christlichen
-Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinenorden stießen,
-jenen Freigeisterorden par excellence, dessen unterste Grade in einem
-Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da
-bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol
-und Kerbholzwort, das nur den obersten Graden, als deren Sekretum,
-vorbehalten war: "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!" .... Wohlan,
-das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der
-Glaube gekündigt" ... (Genealogie der Moral § 19). Daß diese Sätze die
-Empfindungen einer vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck bringen,
-die sich die Erlaubnis, frei, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben,
-durch keine Rücksicht auf ewige Wahrheiten und Vorschriften der Moral
-verkümmern lassen will, fühlen diejenigen Menschen nicht, die, ihrer
-Art nach, zur Unterwürfigkeit geeignet sind. Eine Persönlichkeit,
-wie die Nietzsches ist, verträgt auch jene Tyrannen nicht, die in der
-Form abstrakter Sittengebote auftreten. Ich bestimme, wie ich denken,
-wie ich handeln will, sagt eine solche Natur.
-
-Es giebt Menschen, die ihre Berechtigung, sich "Freidenker" zu nennen,
-davon herleiten, daß sie sich in ihrem Denken und Handeln nicht
-solchen Gesetzen unterwerfen, die von anderen Menschen herrühren,
-sondern nur den "ewigen Gesetzen der Vernunft", den "unumstößlichen
-Pflichtbegriffen" oder dem "Willen Gottes". Nietzsche sieht solche
-Menschen nicht als wahrhaft starke Persönlichkeiten an. Denn auch sie
-denken und handeln nicht nach ihrer eigenen Natur, sondern nach den
-Befehlen einer höheren Autorität. Ob der Sklave der Willkür seines
-Herrn, der Religiöse den geoffenbarten Wahrheiten eines Gottes oder
-der Philosoph den Aussprüchen der Vernunft folgt, das ändert nichts an
-dem Umstande, daß sie alle Gehorchende sind. Was befiehlt, ist dabei
-gleichgültig; das ausschlaggebende ist, daß überhaupt befohlen wird,
-daß der Mensch sich nicht selbst die Richtung für sein Thun giebt,
-sondern der Meinung ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung
-vorzeichnet.
-
-Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit nicht empfangen
--- er will sie schaffen; er will sich nichts "erlauben" lassen, er
-will nicht gehorchen. "Die eigentlichen Philosophen sind Befehlende
-und Gesetzgeber; sie sagen: so soll es sein! sie bestimmen erst das
-Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit
-aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit,
--- sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was
-ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr
-"Erkennen" ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr
-Wille zur Wahrheit ist -- Wille zur Macht. -- Giebt es heute solche
-Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muß es nicht solche
-Philosophen geben?" (Jenseits von Gut und Böse § 211.)
-
-
-
-
-4.
-
-Ein besonderes Zeichen menschlicher Schwäche sieht Nietzsche in jeder
-Art von Glauben an ein Jenseits, an eine andere Welt, als die ist,
-in der der Mensch lebt. Man kann, nach seiner Ansicht, dem Leben
-keinen größeren Schaden thun, als wenn man sein Leben im Diesseits
-im Hinblick auf ein anderes Leben im Jenseits einrichtet. Man kann
-sich keiner größeren Verirrung hingeben, als wenn man hinter den
-Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt, die der menschlichen
-Erkenntnis unzugänglich sind, und die als der eigentliche Urgrund,
-als das Bestimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine solche
-Annahme verdirbt man sich die Freude an dieser Welt. Man würdigt sie
-zum Scheine, zu einem bloßen Abglanz eines Unzugänglichen herab. Man
-erklärt die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche, für einen
-nichtigen Traum und schreibt die wahre Wirklichkeit einer erträumten,
-erdichteten anderen Welt zu. Man erklärt die menschlichen Sinne für
-Betrüger, die uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten liefern.
-
-Nur aus der Schwäche kann eine solche Ansicht stammen. Denn der Starke,
-der fest in der Wirklichkeit wurzelt, der seine Freude am Leben hat,
-wird es sich nicht in den Sinn kommen lassen, eine andere Wirklichkeit
-zu erdichten. Er ist mit dieser Welt beschäftigt und bedarf keiner
-andern. Aber die Leidenden, die Kranken, die unzufrieden sind mit
-diesem Leben, nehmen ihre Zuflucht zum Jenseits. Was ihnen das
-Diesseits entzogen hat, soll ihnen das Jenseits bieten. Der Starke,
-der Gesunde, der entwickelte und taugliche Sinne hat, um die Gründe
-dieser Welt in ihr selber aufzusuchen, der bedarf zur Erklärung der
-Erscheinungen, innerhalb deren er lebt, keiner jenseitigen Gründe und
-Wesenheiten. Der Schwache, der mit verkrüppelten Augen und Ohren die
-Wirklichkeit wahrnimmt, der braucht Ursachen hinter den Erscheinungen.
-
-Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist der Glaube an das Jenseits
-geboren. Aus dem Unvermögen, die wirkliche Welt zu durchschauen,
-sind alle Annahmen von "Dingen an sich" erwachsen.
-
-Alle, welche Grund haben, das wirkliche Leben zu verneinen, sagen
-Ja zu einem erdichteten. Nietzsche will ein Jasager gegenüber
-der Wirklichkeit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen
-Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des Daseins; von einem
-andern Leben will er nichts wissen. Ihn kann selbst das Leiden nicht
-veranlassen, Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden ist ihm
-ein Mittel der Erkenntnis. "Nicht anders, als es ein Reisender macht,
-der sich vorsetzt, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen, und sich
-dann ruhig dem Schlafe überläßt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt,
-daß wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit
--- wir machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie jener weiß,
-daß irgend etwas nicht schläft, irgend etwas die Stunden abzählt
-und ihn aufwecken wird, so wissen auch wir, daß der entscheidende
-Augenblick uns wach finden wird, -- daß dann etwas hervorspringt und
-den Geist auf der That ertappt, ich meine auf der Schwäche oder Umkehr
-oder Ergebung oder Verhärtung oder Verdüsterung, und wie alle die
-krankhaften Zustände des Geistes heißen, welche in gesunden Tagen den
-Stolz des Geistes wider sich haben. Man lernt nach einer derartigen
-Selbstbefragung, Selbstversuchung, mit einem feineren Auge nach
-allem, worüber überhaupt bisher philosophiert worden ist, hinsehen
-..." (Vorrede zur zweiten Ausgabe der "fröhlichen Wissenschaft".) --
-
-
-
-
-5.
-
-Dieser lebens- und wirklichkeitsfreundliche Sinn Nietzsches
-zeigt sich auch in seinen Anschauungen über die Menschen und
-ihre gegenseitigen Beziehungen. Auf diesem Gebiete ist Nietzsche
-vollkommener Individualist. Jeder Mensch gilt ihm als eine Welt
-für sich, ein Unikum. Das "wunderlich bunte Mancherlei", das
-zum "Einerlei" vereinigt ist und uns als ein bestimmter Mensch
-entgegentritt, kann kein noch so seltsamer Zufall ein zweites Mal in
-gleicher Weise zusammenschütteln. (Schopenhauer als Erzieher 1.) Die
-wenigsten Menschen sind jedoch geneigt, ihre nur einmal vorhandenen
-Eigentümlichkeiten zu entfalten. Sie fürchten sich vor der Einsamkeit,
-in die sie dadurch gedrängt werden. Es ist bequemer und gefahrloser,
-in gleicher Weise wie die Mitmenschen zu leben; man findet dann
-immer Gesellschaft. Wer auf seine eigene Art sich einrichtet,
-wird von anderen nicht verstanden und findet keine Genossen. Für
-Nietzsche hat die Einsamkeit einen besonderen Reiz. Er liebt es,
-die Heimlichkeiten des eigenen Innern aufzusuchen. Er flieht
-die Gemeinschaft der Menschen. Seine Gedankengänge sind zumeist
-Bohrversuche nach Schätzen, die tief in seiner Persönlichkeit verborgen
-liegen. Das Licht, das andere ihm bieten, verschmäht er; die Luft,
-die man da atmet, wo das "Gemeinsame der Menschen", die "Regel Mensch"
-lebt, will er nicht mitatmen. Er trachtet instinktiv nach seiner "Burg
-und Heimlichkeit", wo er von der Menge, den vielen, den allermeisten
-erlöst ist. (Jenseits von Gut und Böse § 36.) In seiner "fröhlichen
-Wissenschaft" klagt er, daß es ihm schwer ist, seine Mitmenschen zu
-"verdauen"; und in "Jenseits von Gut und Böse" (§ 282) verrät er,
-daß er zumeist gefährliche Verdauungsstörungen davontrug, wenn er
-sich an Tische setzte, an denen die Kost des "Allgemein-Menschlichen"
-genossen wurde. Die Menschen dürfen Nietzsche nicht zu nahe kommen,
-wenn er sie ertragen soll.
-
-
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-
-6.
-
-Nietzsche erklärt einen Gedanken, ein Urteil in derjenigen Form für
-gültig, zu der die freiwaltenden Lebensinstinkte ihre Zustimmung
-geben. Ansichten, für die das Leben sich entscheidet, läßt er sich
-durch keine logischen Zweifel nehmen. Dadurch erhält sein Denken
-einen sichern, freien Zug. Es wird nicht beirrt durch Bedenken wie:
-ob eine Behauptung auch "objektiv" wahr ist, ob sie die Grenzen des
-menschlichen Erkenntnisvermögens nicht überschreitet u. s. w. Wenn
-Nietzsche den Wert eines Urteiles für das Leben erkannt hat, dann
-fragt er nicht mehr nach einer weiteren "objektiven" Bedeutung und
-Gültigkeit desselben. Und wegen Grenzen des Erkennens macht er sich
-keine Sorgen. Er ist der Ansicht, daß ein gesundes Denken das schafft,
-was es schaffen kann, und sich nicht mit der nutzlosen Frage abquält:
-was kann ich nicht?
-
-Wer den Wert eines Urteils nach dem Grade bestimmen will, in dem es
-das Leben fördert, kann diesen Grad natürlich nur durch seine eigenen,
-persönlichen Lebenstriebe und Lebensinstinkte festsetzen. Er kann
-nie mehr sagen wollen, als: in Bezug auf meine Lebensinstinkte halte
-ich dieses bestimmte Urteil für ein wertvolles. Und Nietzsche will
-auch nie etwas anderes sagen, wenn er eine Ansicht ausspricht. Gerade
-dieses sein Verhältnis zu seiner Gedankenwelt wirkt so wohlthuend auf
-den freiheitlich gesinnten Leser. Es giebt Nietzsches Schriften den
-Charakter anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit. Wie abstoßend
-und unbescheiden klingt es daneben, wenn andere Denker glauben,
-ihre Person sei das Organ, durch das der Welt ewige, unumstößliche
-Wahrheiten verkündet werden. Man kann in Nietzsches Werken Sätze
-finden, die ein starkes Selbstbewußtsein ausdrücken, z. B.: "Ich
-habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt,
-meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste." --
-(Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen § 51.) Was besagt
-dies aber aus seinem Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu schreiben,
-dessen Inhalt tiefer aus dem Wesen einer Persönlichkeit geholt ist,
-als das sonst bei ähnlichen Büchern der Fall ist; und ich werde ein
-Buch liefern, das unabhängiger von jedem fremden Urteil ist, als
-andere philosophische Schriften; denn ich werde über die wichtigsten
-Dinge bloß aussprechen, wie sich meine persönlichen Instinkte zu
-ihnen verhalten. Das ist vornehme Bescheidenheit. Sie geht freilich
-denen wider den Geschmack, deren verlogene Demut sagt: ich bin nichts,
-mein Werk ist alles; ich bringe nichts von persönlichem Empfinden in
-meine Bücher, sondern ich spreche bloß aus, was die reine Vernunft
-mich aussprechen heißt. Solche Menschen wollen ihre Person verleugnen,
-um behaupten zu können, daß ihre Aussprüche die eines höheren Geistes
-sind. Nietzsche hält seine Gedanken für Erzeugnisse seiner Person
-und für nicht mehr.
-
-
-
-
-7.
-
-Die Fachphilosophen mögen über Nietzsche lächeln oder ihre Meinungen
-über die "Gefahren" seiner "Weltanschauung" zum besten geben. Manche
-dieser Geister, die nichts sind als personifizierte Lehrbücher der
-Logik, können natürlich Nietzsches aus den mächtigsten, unmittelbarsten
-Lebensimpulsen entspringendes Schaffen nicht loben.
-
-Nietzsche mit seinen kühnen Gedankensprüngen trifft jedenfalls auf
-tiefere Geheimnisse der menschlichen Natur, als mancher logische
-Denker mit seinem vorsichtigen Kriechen. Was nutzt alle Logik, wenn
-sie mit ihren Begriffsnetzen nur einen wertlosen Inhalt fängt? Wenn
-uns wertvolle Gedanken mitgeteilt werden, dann erfreuen wir uns an
-ihnen, wenn sie auch nicht mit logischen Fäden verknüpft sind. Das Heil
-des Lebens hängt nicht allein von der Logik ab, sondern auch von der
-Gedankenerzeugung. Unsere Fachphilosophie ist gegenwärtig unfruchtbar
-genug, und sie könnte die Belebung mit Gedanken eines mutigen, kühnen
-Schriftstellers, wie es Nietzsche ist, sehr wohl brauchen. Die
-Entwickelungskraft dieser Fachphilosophie ist gelähmt durch den
-Einfluß, den das Kant'sche Denken auf sie genommen hat. Sie hat durch
-diesen Einfluß alle Ursprünglichkeit, allen Mut verloren. Kant hat aus
-der Schulphilosophie seiner Zeit den Begriff von Wahrheiten, die aus
-der "reinen Vernunft" stammen, übernommen. Er hat zu zeigen versucht,
-daß wir durch solche Wahrheit nichts wissen können von Dingen, die
-jenseits unserer Erfahrung liegen, von "Dingen an sich". Seit einem
-Jahrhundert ist nun unermeßlicher Scharfsinn aufgewendet worden,
-um diesen Kant'schen Gedanken nach allen Seiten durchzudenken. Die
-Erzeugnisse dieses Scharfsinns sind allerdings oft dürftig und
-trivial. Übersetzte man die Banalitäten manches philosophischen Buches
-der Gegenwart aus den Schulformeln in eine gesunde Sprache, so würde
-sich ein solcher Inhalt gegenüber manchem kurzen Aphorismus Nietzsches
-armselig genug ausnehmen. Dieser konnte im Hinblick auf die Philosophie
-der Gegenwart mit einem gewissen Recht den stolzen Satz aussprechen:
-"Mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andere in einem
-Buche sagt, -- was jeder andere in einem Buche nicht sagt ..."
-
-
-
-
-8.
-
-Wie Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts geben will als ein
-Erzeugnis seiner persönlichen Instinkte und Triebe, so sind ihm auch
-fremde Ansichten nichts weiter als Symptome, aus denen er auf die in
-einzelnen Menschen oder ganzen Völkern, Rassen u. s. w. vorwaltenden
-Instinkte schließt. Er macht sich nichts mit Diskussionen oder
-Widerlegungen fremder Meinungen zu schaffen. Aber er sucht die
-Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen aussprechen. Er sucht
-die Charaktere der Persönlichkeiten oder Völker aus ihren Ansichten
-zu erkennen. Ob eine Ansicht auf das Vorwalten der Instinkte
-für Gesundheit, Tapferkeit, Vornehmheit, Lebensfreude hinweist,
-oder ob sie aus ungesunden, sklavischen, müden, lebensfeindlichen
-Instinkten entspringt, das interessiert ihn. Wahrheiten an sich
-sind ihm gleichgültig; er kümmert sich darum, wie die Menschen
-ihre Wahrheiten ihren Instinkten gemäß ausbilden, und wie sie damit
-ihre Lebensziele fördern. Die natürlichen Ursachen der menschlichen
-Ansichten will er aufsuchen.
-
-Nach dem Sinne jener Idealisten, die der Wahrheit einen selbständigen
-Wert zuerkennen, die ihr einen "reinen, höhern Ursprung" als
-den aus den Instinkten geben wollen, ist Nietzsches Bestreben
-allerdings nicht. Er erklärt die menschlichen Ansichten als das
-Ergebnis natürlicher Kräfte, wie der Naturforscher die Einrichtung
-des Auges aus dem Zusammenwirken natürlicher Ursachen erklärt. Eine
-Erklärung der geistigen Entwickelung der Menschheit aus besonderen
-sittlichen Zwecken, Idealen, aus einer sittlichen Weltordnung erkennt
-er ebensowenig an, wie der Naturforscher der Gegenwart die Erklärung
-anerkennt, daß die Natur das Auge deswegen in einer bestimmten Weise
-gebaut hat, weil sie den Zweck hatte, dem Organismus ein Organ zum
-Sehen anzuerschaffen. In jedem Ideal sieht Nietzsche nur den Ausdruck
-für einen Instinkt, der sich auf eine bestimmte Art seine Befriedigung
-sucht, wie der moderne Naturforscher in der zweckmäßigen Einrichtung
-eines Organes das Ergebnis organischer Bildungsgesetze sieht. Wenn
-es gegenwärtig noch Naturforscher und Philosophen giebt, die jedes
-Schaffen der Natur nach Zwecken ablehnen, aber vor dem sittlichen
-Idealismus Halt machen und in der Geschichte die Verwirklichung
-eines göttlichen Willens, einer idealen Ordnung der Dinge sehen,
-so ist dies eine Instinkthalbheit. Solchen Personen fehlt für die
-Beurteilung geistiger Vorgänge der richtige Blick, während sie ihn in
-der Beobachtung von Naturvorgängen zeigen. Wenn ein Mensch glaubt,
-er strebe ein Ideal an, das nicht aus der Wirklichkeit stammt, so
-glaubt er dies nur, weil er den Instinkt nicht kennt, aus dem dieses
-Ideal entsteht.
-
-Nietzsche ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der moderne
-Naturforscher Gegner der Annahme von Zwecken ist, die die Natur
-verwirklichen soll. Er spricht ebensowenig von sittlichen Zwecken,
-wie der Naturforscher von Naturzwecken spricht. Nietzsche hält es
-nicht für weiser, zu sagen: der Mensch soll ein sittliches Ideal
-verwirklichen, wie zu erklären: der Stier hat Hörner, damit er
-stoßen könne. Er betrachtet den einen wie den andern Ausspruch als
-Produkt einer Welterklärung, welche von "göttlicher Vorsehung",
-"weiser Allmacht", statt von natürlichen Wirkungen, spricht.
-
-Diese Welterklärung ist ein Hemmschuh für alles gesunde Denken;
-sie schafft einen erdichteten, idealen Nebel, der das natürliche,
-auf die Beobachtung der Wirklichkeit gerichtete Sehvermögen hindert,
-die Weltvorgänge zu durchschauen; sie stumpft endlich völlig allen
-Wirklichkeitssinn ab.
-
-
-
-
-9.
-
-Wenn Nietzsche sich in einen geistigen Kampf einläßt, so will er nicht
-fremde Meinungen als solche widerlegen, sondern er thut es, weil diese
-Meinungen auf schädliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die er
-bekämpfen will. Er hat dabei eine ähnliche Absicht, wie sie jemand
-hat, der eine schädliche Naturwirkung bekämpft oder ein gefährliches
-Naturwesen vertilgt. Er baut nicht auf die "überzeugende" Kraft
-der Wahrheit, sondern darauf, daß er den Gegner besiegen wird, wenn
-dieser die ungesunden, schädlichen Instinkte, er aber die gesunden,
-lebenfördernden hat. Er sucht nach keiner weiteren Rechtfertigung eines
-solchen Kampfes, wenn seine Instinkte die des Gegners als schädlich
-empfinden. Er glaubt nicht als Vertreter irgend einer Idee kämpfen zu
-müssen, sondern er kämpft, weil ihn seine Instinkte dazu treiben. Zwar
-ist das bei keinem geistigen Kampfe anders, aber gewöhnlich sind sich
-die Kämpfer der wirklichen Triebfedern ebensowenig bewußt, wie die
-Philosophen sich ihres "Willens zur Macht" oder die Anhänger der
-sittlichen Weltordnung der natürlichen Ursachen ihrer sittlichen
-Ideale. Sie glauben, daß lediglich Meinung gegen Meinung kämpft,
-und verhüllen ihre wirklichen Motive durch Begriffsmäntel. Sie nennen
-auch die Instinkte des Gegners nicht, die ihnen unsympathisch sind,
-ja diese kommen ihnen vielleicht gar nicht zum Bewußtsein. Kurz, die
-Kräfte, die eigentlich feindlich gegen einander gerichtet sind, treten
-gar nicht offen hervor. Nietzsche nennt rücksichtslos die Instinkte
-des Gegners, die ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte,
-die er ihnen entgegensetzt. Wer dies Cynismus nennen will, der mag es
-thun. Er soll aber nur nicht übersehen, daß es in aller menschlichen
-Thätigkeit niemals etwas anderes als solchen Cynismus gegeben hat,
-und daß alle idealistischen Wahngewebe von diesem Cynismus gewebt sind.
-
-
-
-
-
-
-
-
-II.
-
-DER ÜBERMENSCH.
-
-
-10.
-
-Alles Streben des Menschen besteht, wie das eines jeden Lebewesens,
-darin, von der Natur eingepflanzte Triebe und Instinkte in der besten
-Weise zu befriedigen. Wenn die Menschen nach Tugend, Gerechtigkeit,
-Erkenntnis und Kunst streben, so geschieht dies deshalb, weil Tugend,
-Gerechtigkeit u. s. w. Mittel sind, durch die die menschlichen
-Instinkte sich so entwickeln können, wie es deren Natur entsprechend
-ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel verkümmern. Es ist nun
-eine Eigentümlichkeit des Menschen, daß er diesen Zusammenhang seiner
-Lebensbedingungen mit seinen natürlichen Trieben vergißt und jene
-Mittel zu einem naturgemäßen, machtvollen Leben als etwas ansieht,
-das an sich einen unbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann: Tugend,
-Gerechtigkeit, Erkenntnis u. s. w. müssen um ihrer selbst willen
-erstrebt werden. Sie haben nicht dadurch einen Wert, daß sie dem Leben
-dienen, sondern vielmehr das Leben erhalte erst einen Wert dadurch,
-daß es nach jenen idealen Gütern strebt. Der Mensch sei nicht dazu
-da, nach Maßgabe seiner Instinkte zu leben, wie das Tier; sondern
-er solle seine Instinkte dadurch adeln, daß er sie in den Dienst
-höherer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt der Mensch dazu, das,
-was er selbst erst zur Befriedigung seiner Triebe geschaffen hat, als
-Ideale anzubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe geben. Er
-fordert Unterwerfung unter die Ideale, die er höher schätzt, als
-sich selbst. Er löst sich los von dem Mutterboden der Wirklichkeit
-und will seinem Dasein einen höheren Sinn und Zweck geben. Er
-erfindet einen unnatürlichen Ursprung für seine Ideale. Er nennt
-sie den "Willen Gottes", die "ewigen sittlichen Gebote". Er will die
-"Wahrheit um der Wahrheit willen", "die Tugend um der Tugend" willen
-anstreben. Er betrachtet sich als einen guten Menschen erst dann,
-wenn es ihm angeblich gelungen ist, seine Selbstsucht, d. h. seine
-natürlichen Instinkte zu bändigen und selbstlos einem idealen Ziele
-zu folgen. Einem solchen Idealisten gilt der Mensch als unedel und
-"böse", der es bis zu solcher Selbstüberwindung nicht gebracht hat.
-
-Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus natürlichen Instinkten. Auch
-was der Christ als Tugend ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat,
-ist ursprünglich von Menschen erfunden, um irgend welche Instinkte zu
-befriedigen. Der natürliche Ursprung ist vergessen und der göttliche
-hinzugedichtet worden. Ähnlich verhält es sich mit den Tugenden,
-die die Philosophen und Moralprediger aufstellen.
-
-Wenn die Menschen bloß gesunde Instinkte hätten und diesen gemäß
-ihre Ideale bestimmten, so würde der theoretische Irrtum über
-den Ursprung dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten hätten
-zwar falsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele, aber diese
-Ziele selbst wären gesund, und das Leben müßte gedeihen. Aber es
-giebt ungesunde Instinkte, die nicht auf Stärkung, Förderung des
-Lebens, sondern auf dessen Schwächung, Verkümmerung abzielen. Diese
-bemächtigen sich des genannten theoretischen Irrtums und machen ihn
-zum praktischen Lebenszwecke. Sie verleiten den Menschen, zu sagen:
-ein vollkommener Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst, seinem
-Leben dienen will, sondern derjenige, der sich der Verwirklichung
-eines Ideals hingiebt. Unter dem Einfluß dieser Instinkte bleibt der
-Mensch nicht bloß dabei stehen, irrtümlich seinen Zielen einen un-
-oder übernatürlichen Ursprung anzudichten, sondern er macht sich
-wirklich solche Ideale zurecht oder übernimmt sie von anderen, die
-nicht den Bedürfnissen des Lebens dienen. Er strebt nicht mehr darnach,
-die in seiner Persönlichkeit liegenden Kräfte ans Tageslicht zu ziehen,
-sondern er lebt nach einem seiner Natur aufgezwungenen Musterbilde. Ob
-er dieses Ziel einer Religion entnimmt, oder ob er es selbst auf Grund
-gewisser, nicht in seiner Natur liegenden Voraussetzungen bestimmt:
-darauf kommt es nicht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen Zweck
-der Menschheit im Auge hat und aus diesem seine sittlichen Ideale
-ableitet, legt der menschlichen Natur ebenso Fesseln an, wie der
-Religionsstifter, der den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch
-Gott gesetzt hat; und dem müßt ihr folgen. Es ist auch gleichgültig,
-ob der Mensch sich vorsetzt, ein Ebenbild Gottes zu werden, oder
-ob er ein Ideal des "vollkommenen Menschen" erfindet und diesem
-möglichst ähnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne Mensch
-und die Triebe und Instinkte dieses einzelnen Menschen. Nur wenn er
-auf die Bedürfnisse seiner eigenen Person sein Augenmerk richtet,
-kann der Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der einzelne
-Mensch wird nicht "vollkommen", wenn er sich verleugnet und einem
-Vorbilde ähnlich wird, sondern wenn er das verwirklicht, was in ihm
-zur Verwirklichung drängt. Die menschliche Thätigkeit erhält nicht
-erst einen Sinn, wenn sie einem unpersönlichen, äußeren Zwecke dient;
-sie hat ihren Sinn in sich selbst.
-
-Der Anti-Idealist wird zwar auch in der ungesunden Abkehr des
-Menschen von seinen ureigenen Instinkten noch eine Instinktäußerung
-erblicken. Er weiß, daß der Mensch selbst das Instinktwidrige nur aus
-Instinkt vollbringen kann. Er wird aber doch die Instinktwidrigkeit
-bekämpfen, wie der Arzt eine Krankheit bekämpft, trotzdem er weiß,
-daß sie naturgemäß aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es
-darf also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf gemacht werden: du
-behauptest, alles, was der Mensch erstrebt, also auch alle Ideale,
-seien naturgemäß entstanden; dennoch bekämpfst du den Idealismus. Gewiß
-entstehen Ideale ebenso naturgemäß wie Krankheiten; aber der Gesunde
-bekämpft den Idealismus, wie er die Krankheit bekämpft. Der Idealist
-aber sieht die Ideale als etwas an, das gehegt und gepflegt werden muß.
-
-Der Glaube, daß der Mensch vollkommen erst wird, wenn er "höheren"
-Zwecken dient, ist, nach Nietzsches Meinung, etwas, das überwunden
-werden muß. Der Mensch muß sich auf sich selbst besinnen und erkennen,
-daß er Ideale nur erschaffen hat, um sich zu dienen. Naturgemäß
-leben, ist gesünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus
-der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht unpersönlichen
-Zielen dient, sondern der den Zweck und Sinn seines Daseins in sich
-selbst sucht, der solche Tugenden zu den seinigen macht, die seiner
-Kraftentfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen -- diesen Menschen
-stellt Nietzsche höher als den selbstlosen Idealisten.
-
-Dies ist es, was er durch seinen "Zarathustra" verkündet. Das souveräne
-Individuum, das weiß, daß es nur aus seiner Natur heraus leben
-kann, und das in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung
-sein persönliches Ziel sieht, ist für Nietzsche der Übermensch, im
-Gegensatz zu dem Menschen, der glaubt: ihm sei das Leben geschenkt,
-um einem außer ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen.
-
-Den Übermenschen, d. h. den Menschen, der naturgemäß zu leben
-versteht, lehrt Zarathustra. Er lehrt die Menschen, ihre Tugenden
-als ihre Geschöpfe betrachten; er heißt sie diejenigen verachten,
-die ihre Tugenden höher als sich selbst achten.
-
-Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um sich frei zu machen von
-der Demut, in der sich die Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht
-erst wieder unter Menschen, als er die Tugenden verachten gelernt hat,
-die das Leben bändigen und nicht dem Leben dienen wollen. Er bewegt
-sich nun leicht wie ein Tänzer, denn er folgt nur sich und seinem
-Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von den Tugenden
-vorgezeichnet werden. Nicht schwer mehr lastet der Glaube auf seinem
-Rücken, daß es unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra
-schläft nun nicht mehr, um von Idealen zu träumen; er ist ein
-Wachender, der der Wirklichkeit sich frei gegenüberstellt. Ein
-schmutziger Strom ist ihm der Mensch, der sich selbst verloren hat und
-vor seinen eigenen Geschöpfen im Staube liegt. Der Übermensch ist ihm
-ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne selbst unrein zu werden. Denn
-der Übermensch hat sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn und
-Schöpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Große erlebt, daß ihm
-alle Tugend zum Ekel geworden ist, die über den Menschen gesetzt wird.
-
-"Was ist das Größte, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der
-großen Verachtung. Die Stunde, in der euch euer Glück zum Ekel wird
-und ebenso eure Vernunft und eure Tugend."
-
-
-
-
-11.
-
-Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem Sinne der "modernen
-Gebildeten". Sie möchten alle Menschen einander gleich machen. Wenn
-alle nur nach einem Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufriedenheit
-und Glück auf Erden. Der Mensch soll zurückhalten, so fordern sie,
-seine besondern persönlichen Wünsche und nur der Allgemeinheit,
-dem gemeinsamen Glücke dienen. Friede und Ruhe wird dann auf der
-Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfnisse hat, dann stört
-keiner die Kreise des andern. Nicht sich und seine individuellen Ziele
-soll der Einzelne im Auge haben, sondern nach der einmal bestimmten
-Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll alles einzelne Leben,
-und Glieder der gemeinsamen Weltordnung sollen alle werden.
-
-"Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich,
-wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.
-
-"'Ehemals war alle Welt irre' -- sagen die Feinsten und blinzeln.
-
-"Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist: so hat man kein
-Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald,
-sonst verdirbt es den Magen."
-
-Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um solcher Weisheit zu
-huldigen. Er hat die eigenartigen Töne gehört, die aus dem Innern der
-Persönlichkeit erklingen, wenn der Mensch abseits steht von dem Lärm
-des Marktes, wo einer nur die Worte des andern nachspricht. Und er
-möchte es den Menschen in die Ohren rufen: höret auf die Stimmen,
-die nur in jedem Einzelnen von euch erklingen. Denn die nur sind
-naturgemäß, die nur sagen jedem, was er vermag. Ein Feind des Lebens,
-des reichen, vollen Lebens, ist derjenige, welcher diese Stimmen
-ungehört verhallen läßt und auf das gemeinsame Geschrei der Menschen
-hört. Zu den Freunden der Gleichheit aller Menschen will Zarathustra
-nicht sprechen. Sie könnten ihn nur mißverstehen. Denn sie würden
-glauben, daß sein Übermensch jenes ideale Musterbild sei, dem alle
-gleich werden sollen. Aber Zarathustra will den Menschen keine
-Vorschriften darüber machen, wie sie sein sollen; er will nur jeden
-Einzelnen auf sich selbst verweisen und ihm sagen: überlasse dich dir
-selbst, folge nur dir allein, stelle dich über Tugend, Weisheit und
-Erkenntnis. Zu solchen, die sich suchen wollen, spricht Zarathustra;
-nicht einer Menge, die ein gemeinsames Ziel sucht, sondern solchen
-Gefährten, gelten seine Worte, die gleich ihm einen eigenen Weg
-gehen. Sie allein verstehen ihn, denn sie wissen, daß er nicht sagen
-will: seht, dies ist der Übermensch, werdet wie er, sondern: seht,
-ich habe mich gesucht; so bin ich, wie ich es euch lehre; geht hin
-und sucht euch ebenso, dann habt ihr den Übermenschen.
-
-"Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern;
-und wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer
-machen mit meinem Glücke."
-
-
-
-
-12.
-
-Zwei Tiere: die Schlange, als das klügste, und der Adler, als das
-stolzeste Tier, begleiten Zarathustra. Sie sind die Symbole seiner
-Instinkte. Klugheit schätzt Zarathustra, denn sie lehrt den Menschen
-die verschlungenen Pfade der Wirklichkeit finden; sie lehrt ihn kennen,
-was er zum Leben braucht. Und auch den Stolz liebt Zarathustra, denn
-der Stolz bringt die Selbstachtung des Menschen hervor, durch die
-dieser dazu kommt, sich selbst als den Sinn und Zweck seines Daseins
-zu betrachten. Der Stolze stellt seine Weisheit, seine Tugend nicht
-über sich selbst. Der Stolz bewahrt den Menschen davor, sich selbst zu
-vergessen über "höheren, heiligeren" Zielen. Lieber noch als den Stolz
-möchte Zarathustra die Klugheit verlieren. Denn die Klugheit, die nicht
-von Stolz begleitet ist, sieht sich nicht als Menschenwerk an. Wem
-der Stolz und die Selbstachtung fehlt, der glaubt, seine Klugheit sei
-ihm vom Himmel geschenkt. Ein solcher sagt: ein Thor ist der Mensch,
-und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel schenken will.
-
-"Und wenn mich einst meine Klugheit verläßt: -- ach, sie liebt es,
-davonzufliegen! -- möge mein Stolz dann noch mit meiner Thorheit
-fliegen!"
-
-
-
-
-13.
-
-Drei Verwandlungen muß der menschliche Geist durchmachen, bis er
-sich selbst gefunden hat. Dies lehrt Zarathustra. Ehrfürchtig ist der
-Geist zuerst. Er nennt Tugend, was auf ihm lastet. Er erniedrigt sich,
-um seine Tugend zu erhöhen. Er sagt: alle Weisheit ist bei Gott, und
-Gottes Wegen muß ich folgen. Gott legt mir das Schwerste auf, um meine
-Kraft zu prüfen, ob sie auch stark sei und geduldig ausharre. Nur der
-Geduldige ist stark. Gehorchen will ich, sagt der Geist auf dieser
-Stufe, und ausführen die Gebote des Weltengeistes, ohne zu fragen,
-was der Sinn dieser Gebote ist. Der Geist fühlt den Druck, den eine
-höhere Macht auf ihn ausübt. Nicht seine Wege geht der Geist, sondern
-die Wege dessen, dem er dient.
-
-Es kommt die Zeit, wo der Geist inne wird, daß kein Gott zu ihm
-redet. Dann will er frei sein und Herr in seiner eigenen Welt. Er
-sucht nach einer Richtschnur für seine Geschicke. Er frägt nicht
-mehr den Weltengeist, wie er sein Leben einrichten solle. Aber nach
-einem festen Gesetz, nach einem heiligen "du sollst" strebt er. Er
-sucht nach einem Maßstab, um den Wert der Dinge zu messen; er sucht
-nach einem Unterscheidungszeichen von Gut und Böse. Es muß eine Regel
-für mein Leben geben, die nicht von mir, von meinem Willen abhängt,
-so spricht der Geist auf dieser Stufe. Dieser Regel will ich mich
-fügen. Frei bin ich, meint der Geist, aber nur frei, um einer solchen
-Regel zu gehorchen.
-
-Auch diese Stufe überwindet der Geist. Er wird wie das Kind,
-das bei seinem Spielen nicht fragt: wie soll ich dies oder jenes
-machen, sondern das nur seinen Willen ausführt, das nur sich selbst
-folgt. "Seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich
-der Weltverlorne."
-
-"Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist
-zum Kamele ward, und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum
-Kinde. -- -- Also sprach Zarathustra."
-
-
-
-
-14.
-
-Was wollen die Weisen, die die Tugend über den Menschen stellen? fragt
-Zarathustra. Sie sagen: die Ruhe der Seele kann nur haben, wer
-seine Pflicht gethan hat, wer dem heiligen "du sollst" gefolgt
-ist. Tugendhaft soll der Mensch sein, damit er nach gethaner Pflicht
-träumen könne von erfüllten Idealen und keine Gewissensbisse fühle. Ein
-Mensch mit Gewissensbissen gleicht, sagen die Tugendhaften, einem
-Schlafenden, dem böse Träume die Nachtruhe stören.
-
-"Wenige wissen das, aber man muß alle Tugenden haben, um gut zu
-schlafen. Werde ich falsch Zeugnis reden? Werde ich ehebrechen?
-
-"Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten Magd? Das alles
-vertrüge sich schlecht mit gutem Schlafe ...
-
-"Friede mit Gott und dem Nachbar, so will es der gute Schlaf. Und
-Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des
-Nachts um."
-
-Nicht was sein Trieb ihn heißt, thut der Tugendhafte, sondern was
-Seelenruhe bewirkt. Er lebt, um in Ruhe über das Leben träumen zu
-können. Noch lieber ist es ihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe
-nennt, gar kein Traum stört. Das heißt: dem Tugendhaften ist es am
-liebsten, wenn er irgendwoher die Regeln seines Handelns erhält und
-im übrigen seine Ruhe genießen kann. "Seine Weisheit heißt: wachen,
-um gut zu schlafen. Und wahrlich, hätte das Leben keinen Sinn, und
-müßte ich Unsinn wählen, so wäre auch mir dies der wählenswürdigste
-Unsinn," spricht Zarathustra.
-
-Auch für Zarathustra gab es eine Zeit, da er glaubte, ein außerhalb
-der Welt wohnender Geist, ein Gott, habe die Welt geschaffen. Einen
-unzufriedenen, leidenden Gott dachte sich Zarathustra. Um sich eine
-Befriedigung zu verschaffen, um von seinem Leiden loszukommen,
-habe Gott die Welt erschaffen, meinte einst Zarathustra. Aber er
-hat einsehen gelernt, daß es ein Wahnbild war, das er sich selbst
-geschaffen hatte. "Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf,
-war Menschenwerk und -Wahnsinn gleich allen Göttern!" Zarathustra
-hat seine Sinne gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und
-zufrieden wurde er mit der Welt; nicht mehr schweiften seine Gedanken
-ins Jenseits. Blind war er ehemals und konnte die Welt nicht sehen,
-deshalb suchte er sein Heil außerhalb der Welt. Aber Zarathustra
-hat sehen gelernt und erkennen, daß die Welt in sich selbst ihren
-Sinn habe.
-
-"Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen:
-nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken,
-sondern frei ihn zu tragen, meinen Erdenkopf, der der Erde Sinn
-schafft."
-
-
-
-
-15.
-
-In Leib und Seele haben die Idealisten den Menschen gespalten,
-in Idee und Wirklichkeit haben sie alles Dasein geteilt. Und sie
-haben die Seele, den Geist, die Idee zu einem besonders Wertvollen
-gemacht, um die Wirklichkeit, den Leib um so mehr verachten zu
-können. Zarathustra aber sagt: Nur eine Wirklichkeit, nur einen Leib
-giebt es, und die Seele ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas
-an der Wirklichkeit. Eine Einheit sind Leib und Seele des Menschen;
-aus einer Wurzel entspringen Körper und Geist. Der Geist ist nur
-da, weil ein Körper da ist, der Kräfte hat, an sich den Geist zu
-entwickeln. Wie die Pflanze an sich die Blüte, so entfaltet der Körper
-an sich den Geist.
-
-"Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger
-Gebieter, ein unbekannter Weiser -- der heißt Selbst. In deinem Leibe
-wohnt er, dein Leib ist er."
-
-Wer einen Sinn hat für das Wirkliche, der sucht den Geist, die Seele
-in und an dem Wirklichen, er sucht die Vernunft in dem Wirklichen;
-nur wer die Wirklichkeit für geistlos, für "bloß natürlich", für "roh"
-hält, der giebt dem Geiste, der Seele ein besonderes Dasein. Er macht
-die Wirklichkeit zur bloßen Wohnung des Geistes. Einem solchen fehlt
-aber auch der Sinn für die Wahrnehmung des Geistes selbst. Nur weil
-er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht, sucht er ihn anderswo.
-
-"Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit
-.....
-
-"Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne,
-ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt.
-
-"Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder,
-die du "Geist" nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen
-Vernunft."
-
-Ein Thor ist, wer die Blüte von der Pflanze reißt und glaubt, die
-abgerissene Blüte werde nun sich noch zur Frucht entwickeln. Ein
-Thor ist ebenso, wer den Geist von der Natur absondert und glaubt,
-ein solcher abgesonderter Geist könne noch schaffen.
-
-Menschen mit kranken Instinkten haben die Scheidung von Geist und
-Körper vorgenommen. Ein kranker Instinkt nur kann sagen: mein Reich
-ist nicht von dieser Welt. Eines gesunden Instinktes Reich ist nur
-diese Welt.
-
-
-
-
-16.
-
-Was für Ideale haben sie doch geschaffen, diese Verächter der
-Wirklichkeit! Fassen wir sie ins Auge, die Ideale der Asketen,
-die da sagen: wendet ab euren Blick vom Diesseits und schaut nach
-dem Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit dieser Frage und
-den Vermutungen, mit denen er sie beantwortet, hat uns Nietzsche am
-tiefsten hineinblicken lassen in sein von der abendländischen neueren
-Kultur unbefriedigtes Herz. (Genealogie der Moral, 3. Abteilung.)
-
-Wenn ein Künstler, wie z. B. Richard Wagner in der letzten Zeit seines
-Schaffens, Anhänger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht viel
-zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes Leben hindurch über seinen
-Schöpfungen. Er sieht von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er
-schafft Wirklichkeiten, die nicht seine Wirklichkeit sind. "Ein Homer
-hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer
-ein Achill, und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre." (Genealogie,
-3. Abt. § 4.) Wenn nun ein solcher Künstler sein eigenes Dasein
-einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persönlichen Ansichten in
-Wirklichkeit umsetzen will, so ist es kein Wunder, wenn etwas sehr
-Unreales entsteht. Richard Wagner hat über seine Kunst vollständig
-umgelernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt wurde. Vorher
-hielt er die Musik für ein Ausdrucksmittel, das etwas braucht, dem
-es Ausdruck verschafft, das Drama. In seiner Schrift Oper und Drama,
-die 1851 geschrieben ist, spricht er aus, daß der größte Irrtum,
-dem man sich in Bezug auf die Oper hingeben kann, der ist, "daß
-
-
- ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des
- Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht werde."
-
-
-Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem er Schopenhauers
-Lehre von der Musik kennen gelernt hatte. Schopenhauer ist der
-Ansicht, daß durch die Musik das Wesen der Dinge selbst zu uns
-spricht. Der ewige Wille, der in allen Dingen lebt, er wird in allen
-anderen Künsten nur in seinen Abbildern, in den Ideen, verkörpert;
-die Musik ist kein bloßes Bild des Willens: in ihr giebt sich der
-Wille unmittelbar kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur im
-Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins, der Wille, ihn glaubt
-Schopenhauer in den Klängen der Musik unmittelbar zu vernehmen. Kunde
-aus dem Jenseits bringt für Schopenhauer die Musik. Diese Ansicht
-wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr als Ausdrucksmittel wirklicher
-menschlicher Leidenschaften, wie sie im Drama verkörpert sind, ließ er
-die Musik gelten, sondern als "eine Art Mundstück des Ansich der Dinge,
-ein Telephon des Jenseits". Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr
-die Wirklichkeit in Tönen auszudrücken; "er redete fürderhin nicht nur
-Musik, dieser Bauchredner Gottes, -- er redete Metaphysik: was Wunder,
-daß er endlich eines Tages asketische Ideale redete." (Genealogie,
-3. Abteilung, § 5.)
-
-Hätte Richard Wagner bloß seine Ansicht über die Bedeutung
-der Musik geändert, so hätte Nietzsche keinen Anlaß, ihm etwas
-vorzuwerfen. Nietzsche könnte dann höchstens sagen: Wagner hat außer
-seinen Kunstwerken auch noch allerlei verkehrte Theorien über die Kunst
-geschaffen. Daß aber Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens den
-Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinen Kunstwerken verkörpert
-hat, daß er seine Musik dazu verwendet hat, die Flucht vor der
-Wirklichkeit zu verherrlichen: das ging Nietzsche wider den Geschmack.
-
-Aber der "Fall Wagner" besagt nichts, wenn es sich um die Bedeutung
-der Verherrlichung des Jenseits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich
-um die Bedeutung der asketischen Ideale handelt. Künstler stehen nicht
-auf eigenen Füßen. Wie Richard Wagner von Schopenhauer abhängig ist,
-so waren die Künstler "zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral,
-oder Philosophie oder Religion".
-
-Anders ist es, wenn die Philosophen für die Verachtung der
-Wirklichkeit, für die asketischen Ideale eintreten. Sie thun das aus
-einem tiefen Instinkte heraus.
-
-Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch die Beschreibung, die
-er von dem Schaffen und Genießen eines Kunstwerkes giebt. "Daß also
-das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische
-Genuß besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß
-die Kunst durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des
-Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt,
-sondern ebenso sehr darauf, daß das zur objektiven Auffassung
-des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am
-sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt gar nicht
-im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig
-sind." (Ergänzungen zum 3. Buch der Welt als Wille und Vorstellung,
-Kap. 21.) "Wann aber ein äußerer Anlaß oder eine innere Stimmung
-uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die
-Erkenntnis dem Sklavendienst des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit
-nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern
-die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne
-Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz
-hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive
-sind: dann ist ..... der schmerzenlose Zustand, den Epikuros als das
-höchste Gut und als den Zustand der Götter pries [eingetreten]: denn
-wir sind für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt,
-wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des
-Ixion steht still." (Welt als Wille und Vorstellung, § 38.)
-
-Dies ist eine Beschreibung einer Art des ästhetischen Genusses,
-die nur bei dem Philosophen vorkommt. Nietzsche stellt ihr gegenüber
-eine andere Beschreibung, "die ein wirklicher Zuschauer und Artist
-gemacht hat -- Stendhal", der das Schöne "une promesse de bonheur"
-nennt. Schopenhauer möchte alles Willensinteresse, alles wirkliche
-Leben ausschalten, wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes
-handelt, und nur mit dem Geiste genießen; Stendhal sieht in dem
-Kunstwerke ein Versprechen von Glück, also einen Hinweis auf das
-Leben, und sieht in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben den
-Wert der Kunst.
-
-Kant fordert vom schönen Kunstwerk, daß es ohne Interesse gefalle,
-d. h. daß es uns heraushebe aus dem wirklichen Leben und einen rein
-geistigen Genuß gewähre.
-
-Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen Genuß? Erlösung von
-der Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit-fremde Stimmung will der
-Philosoph durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verrät dadurch
-seinen Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich in den Augenblicken
-am wohlsten, in denen er von der Wirklichkeit loskommen kann. Seine
-Ansicht vom ästhetischen Genuß zeigt, daß er die Wirklichkeit nicht
-liebt.
-
-Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer von dem Kunstwerke
-verlangt, sagen uns die Philosophen in ihren Theorien, sondern nur,
-was ihnen selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist die Abkehr
-von dem Leben sehr förderlich. Er will sich seine verschlungenen
-Gedankenwege nicht durchkreuzen lassen von der Wirklichkeit. Das Denken
-gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von dem Leben abkehrt. Es
-ist nun kein Wunder, wenn dieser philosophische Grundinstinkt
-geradezu zu einer lebensfeindlichen Stimmung wird. Wir finden eine
-solche Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausgebildet. Und
-nahe liegt es, daß der Philosoph seine eigene Antipathie gegen das
-Leben zu einer Lehre ausbildet und fordert, daß sich alle Menschen
-zu einer solchen Lehre bekennen. Schopenhauer hat dieses gethan. Er
-fand, daß der Lärm der Welt seine Gedankenarbeit störte. Er empfand,
-daß man über die Wirklichkeit am besten nachdenken kann, wenn man
-dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich vergaß er, daß alles Denken
-über die Wirklichkeit doch nur dann einen Wert hat, wenn es aus dieser
-Wirklichkeit entspringt. Er beachtete nicht, daß das Zurückziehen des
-Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen kann, damit die entfernt
-von dem Leben entstandenen philosophischen Gedanken dann dem Leben
-um so besser dienen können. Wenn der Philosoph den Grundinstinkt,
-der nur ihm als Philosophen förderlich ist, der ganzen Menschheit
-aufdrängen will, dann wird er zu einem Feinde des Lebens.
-
-Der Philosoph, der die Weltflucht nicht als Mittel betrachtet, um
-weltfreundliche Gedanken zu schaffen, sondern als Zweck, als Ziel,
-kann nur Wertloses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf der einen
-Seite die Wirklichkeit nur, um sich auf der anderen um so tiefer in
-sie einzubohren. Aber es ist begreiflich, daß dieser Grundinstinkt
-den Philosophen leicht dazu verführen kann, die Weltflucht als solche
-für wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu einem Anwalt der
-Weltverneinung. Er lehrt Abkehr vom Leben, asketisches Ideal. Er
-findet: "Ein gewisser Asketismus ..... eine harte und heitere
-Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen
-höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen:
-so wird es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische
-Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit
-behandelt worden ist." (Genealogie der Moral, 3. Abteilung § 8.)
-
-
-
-
-17.
-
-Einen andern Ursprung haben die asketischen Ideale der Priester. Was
-bei dem Philosophen durch das Überwuchern eines bei ihm berechtigten
-Triebes entsteht, das bildet das Grundideal des priesterlichen
-Wirkens. Der Priester sieht in der Hingabe des Menschen an das
-wirkliche Leben einen Irrtum; er verlangt, daß man dieses Leben
-gering achte gegenüber einem andern Leben, das von höheren als
-bloß natürlichen Kräften gelenkt wird. Der Priester leugnet, daß das
-wirkliche Leben einen Sinn in sich selbst habe, und er fordert, daß ihm
-dieser Sinn verliehen werde durch Einimpfung eines höheren Willens. Er
-sieht das Leben in der Zeitlichkeit als unvollkommen an und stellt ihm
-ein ewiges, vollkommenes Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit
-und Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester. Ich möchte
-als besonders bezeichnend für die priesterliche Denkweise einige Sätze
-aus dem berühmten Buche "Die deutsche Theologie" anführen, das aus
-dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther sagt, daß er aus keinem
-Buche, die Bibel und den heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt
-habe, was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem. Auch
-Schopenhauer findet, daß der Geist des Christentums in diesem Buche
-vollkommen und kräftig ausgesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der
-uns unbekannt ist, auseinander gesetzt hat, daß alle Dinge der Welt
-nur ein Unvollkommenes und Geteiltes seien gegenüber dem Vollkommenen,
-"das in sich und in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen
-hat, und ohne das und außer dem kein wahres Wesen ist und in dem
-alle Dinge ihr Wesen haben", führt er aus, daß der Mensch in dieses
-Wesen nur eindringen kann, wenn er "Kreatürlichkeit, Geschaffenheit,
-Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren" und in sich zu
-nichte gemacht hat. Was von dem Vollkommenen ausgeflossen ist und was
-der Mensch als seine wirkliche Welt erkennt, das wird folgendermaßen
-charakterisiert: "Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen anders
-denn in dem Vollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz
-und ein Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat anders als
-in dem Feuer, wo der Glanz ausfließt, oder in der Sonne, oder in dem
-Lichte. Die Schrift spricht und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei
-nichts anderes, denn daß sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren
-Gute und kehret sich zu dem wandelbaren, das ist: daß sie sich kehrt
-von dem Vollkommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen und allermeist
-zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt,
-als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens und kürzlich alles
-dessen, was man gut nennen soll, und meint, daß sie das sei oder daß
-es das Ihre sei oder ihr zugehöre oder daß es von ihr sei: so oft
-und viel dabei geschieht, so kehrt sie sich ab. Was that der Teufel
-anders oder was war sein Fall und Abkehren anders, als daß er sich
-annahm, er wäre auch etwas und etwas wäre sein und ihm gehörte auch
-etwas zu? Dies Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein
-Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist es noch .... Denn
-alles das, was man für gut hält oder gut nennen soll, das gehört
-niemand zu, denn allein dem ewigen wahren Gut, der Gott allein ist,
-und wer sich dessen annimmt, der thut Unrecht und wider Gott". (1.,
-2., 4. Kap. der deutsch. Theol., 3. Aufl., übersetzt von Pfeiffer.)
-
-Diese Sätze sprechen die Gesinnung jedes Priesters aus. Sie
-sprechen den eigentlichen Charakter der Priesterlichkeit aus. Und
-dieser Charakter ist das Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den
-höherwertigen, den lebenswürdigen bezeichnet. Der höherwertige Typus
-Mensch will alles, was er ist, nur durch sich sein; er will, daß alles,
-was er für gut hält und gut nennt, niemand zugehört, denn ihm selbst.
-
-Aber jene minderwertige Gesinnung ist kein Ausnahmefall. Sie "ist eine
-der breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen
-Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskelschrift unseres
-Erdendaseins zu dem Schluß verführen, die Erde sei der eigentlich
-asketische Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger
-Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem
-Leben gar nicht los würden." (Genealogie der Moral, 3. Abteilung §
-11.) Der asketische Priester ist deshalb eine Notwendigkeit, weil die
-Mehrzahl der Menschen an einer "Hemmung und Ermüdung" der Lebenskräfte
-leidet, weil sie an der Wirklichkeit leidet. Der asketische Priester
-ist der Tröster und Arzt derjenigen, die am Leben leiden. Er tröstet
-sie dadurch, daß er ihnen sagt: dieses Leben, an dem ihr leidet,
-ist nicht das wahre Leben; das wahre Leben ist denjenigen, die an
-diesem Leben leiden, viel leichter erreichbar als den Gesunden, die
-an diesem Leben hängen und sich ihm hingeben. Durch solche Aussprüche
-züchtet der Priester die Verachtung, die Verleumdung dieses wirklichen
-Lebens. Er bringt endlich die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre
-Leben zu erreichen, muß dieses wirkliche Leben verneint werden. In
-der Verbreitung dieser Gesinnung sucht der asketische Priester
-seine Stärke. Er beseitigt durch die Züchtung dieser Gesinnung eine
-große Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewußten von den
-Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen droht. Die letzteren
-hassen die Gesunden und die leiblich und seelisch Glücklichen,
-die ihre Kräfte aus der Natur nehmen. Diesen Haß, der sich dadurch
-äußern müßte, daß die Schwachen gegen die Starken einen fortwährenden
-Vernichtungskrieg führten, sucht der Priester niederzuhalten. Er
-stellt deshalb die Starken als diejenigen hin, die ein wertloses,
-menschenunwürdiges Leben führen und behauptet dagegen, daß das wahre
-Leben allein denen erreichbar ist, die von dem Erdenleben geschädigt
-werden. "Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte
-Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst
-verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft
-über Leidende ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an,
-in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art
-von Glück." (Genealogie, 3. Abth. § 15.)
-
-Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise endlich dazu führt,
-daß ihre Anhänger nicht nur das Leben verachten, sondern geradezu
-auf seine Zerstörung hinarbeiten. Wenn den Menschen gesagt wird,
-nur der Leidende, der Schwache kann wirklich zu einem höheren
-Leben kommen, so wird endlich das Leiden, die Schwäche gesucht
-werden. Sich selbst Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz
-ertöten, das wird Ziel des Lebens werden. Die Opfer dieser Gesinnung
-sind die Heiligen. "Völlige Keuschheit und Entsagung aller Wollust
-für den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles
-Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller Angehörigen, tiefe,
-gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung,
-mit freiwilliger Buße und schrecklicher langsamer Selbstpeinigung,
-zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum
-freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch Entgegengehen
-den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten Felsengipfel im
-Himalaya, durch Lebendigbegrabenwerden, auch durch Hinwerfung unter die
-Räder des unter Gesang, Jubel und Tanz der Bajaderen die Götterbilder
-umfahrenden Wagens", dies sind die letzten Früchte der asketischen
-Gesinnung. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung § 68.)
-
-Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben entsprungen, und sie richtet
-ihre Waffen gegen das Leben. Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von
-ihr angesteckt wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken
-Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen, dieser Lehre
-gegenüber etwas anderes geltend zu machen, eine Ansicht für Gesunde,
-Wohlgeratene. Mögen die Mißratenen, Verdorbenen in der Lehre der
-asketischen Priester ihr Heil suchen; die Gesunden will Nietzsche
-um sich sammeln und ihnen eine Meinung sagen, die ihnen besser zu
-Gesichte steht, als jedes lebensfeindliche Ideal.
-
-
-
-
-18.
-
-Auch in den Pflegern der modernen Wissenschaft steckt noch das
-asketische Ideal. Zwar rühmt sich diese Wissenschaft, alle alten
-Glaubensvorstellungen über Bord geworfen zu haben und sich nur
-an die Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts gelten lassen, was
-sich nicht zählen, berechnen, wägen, sehen und greifen läßt. Daß
-man auf diese Weise "das Dasein zu einer Rechenknechtsübung und
-Stubenhockerei für Mathematiker" herabwürdigt, ist den modernen
-Gelehrten gleichgültig. (Fröhliche Wissenschaft § 373.) Ein Recht,
-die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft vorüberziehenden Vorkommnisse
-der Welt zu interpretieren, sodaß er sie mit seinem Denken beherrschen
-kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu. Er sagt: die
-Wahrheit muß von meiner Interpretationskunst unabhängig sein, und ich
-habe die Wahrheit nicht zu schaffen, sondern ich muß sie mir von den
-Erscheinungen der Welt diktieren lassen.
-
-Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, wenn sie sich alles
-Zurechtlegens der Welterscheinungen enthält, das hat ein Anhänger
-dieser Wissenschaft (Richard Wahle) in einem soeben erschienenen Buche
-("Das Ganze der Philosophie und ihr Ende") ausgesprochen: "Was könnte
-der Geist, der in das Weltgehäuse spähend und in sich die Fragen
-nach dem Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte, endlich als
-Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, daß er, wie er so scheinbar
-im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer
-Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen zusammenfloß. Er
-"wußte" nicht mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, daß
-Wissende da sind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie kommen
-freilich in solcher Weise, daß der Begriff eines Wissens vorschnell,
-ungerechtfertigt entstehen konnte .... Und "Begriffe" huschten empor,
-um Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren Irrlichter,
-Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärmliche, in ihrer Evidenz
-nichtssagende Postulate einer unausgefüllten Wissensform. Unbekannte
-Faktoren müssen im Wechsel walten. Über ihre Natur war Dunkel
-gebreitet. Vorkommnisse sind der Schleier des Wahrhaften."
-
-Daß die menschliche Persönlichkeit in die Vorkommnisse der Wirklichkeit
-einen Sinn hineinlegen könne und die unbekannten Faktoren, die im
-Wechsel der Ereignisse walten, aus eigenem Vermögen ergänzen könne,
-daran denken die modernen Gelehrten nicht. Sie wollen nicht die
-Flucht der Erscheinungen durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer
-Persönlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen bloß beobachten
-und beschreiben, aber nicht deuten. Sie wollen bei dem Thatsächlichen
-stehen bleiben und es der schöpferischen Phantasie nicht gestatten,
-sich ein in sich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zu machen.
-
-Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie z. B. Ernst Haeckel,
-aus den Ergebnissen einzelner Beobachtungen ein Gesamtbild
-der Entwickelung des organischen Lebens auf der Erde entwirft,
-dann fallen diese Fanatiker der Thatsächlichkeit über ihn her und
-zeihen ihn der Versündigung an der Wahrheit. Die Bilder, die er von
-dem Leben in der Natur entwirft, können sie nicht mit Augen sehen,
-oder mit Händen greifen. Ihnen ist das unpersönliche Urteil lieber,
-als das durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte. Sie möchten bei
-ihren Beobachtungen am liebsten die Persönlichkeit ganz ausschalten.
-
-Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der Thatsächlichkeit
-beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit jenseits des persönlichen,
-individuellen Urteiles. Was der Mensch in die Dinge
-"hineinphantasieren" kann, bekümmert sie nicht; die "Wahrheit"
-ist ihnen etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch soll sie
-entdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht schaffen. Die Naturforscher
-und die Geschichtschreiber sind gegenwärtig von dem gleichen Geiste
-des asketischen Ideals beseelt. Überall Aufzählen, Beschreiben von
-Thatsachen, und nichts darüber. Jedes Zurechtlegen der Thatsachen
-ist verpönt. Alles persönliche Urteilen soll unterbleiben.
-
-Unter diesen modernen Gelehrten finden sich auch Atheisten. Diese
-Atheisten sind aber keine freieren Geister als ihre Zeitgenossen,
-die an Gott glauben. Mit den Mitteln der modernen Wissenschaft
-läßt sich das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat sich doch eine der
-Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois-Reymond) über die Annahme
-einer "Weltseele" also geäußert: bevor der Naturforscher sich zu
-einer solchen Annahme entschließt, verlangt er, "daß ihm irgendwo in
-der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellen Blut unter
-richtigem Druck gespeist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an
-Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und Nervenfasern
-gezeigt" werde (Grenzen des Naturerkennens S. 44). Die moderne
-Wissenschaft lehnt den Glauben an Gott ab, weil dieser Glaube neben
-dem Glauben an die "objektive Wahrheit" nicht bestehen kann. Diese
-"objektive Wahrheit" ist aber nichts anderes als ein neuer Gott,
-der über den alten gesiegt hat. "Der unbedingte redliche Atheismus
-(und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses
-Zeitalters!) steht nicht im Gegensatz zu jenem (asketischen)
-Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner
-letzten Entwickelungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren
-Folgerichtigkeiten, er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer
-zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die
-Lüge im Glauben an Gott verbietet." (Genealogie, 3. Abteilung §
-27.) Der Christ sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott für den
-Quell aller Wahrheit hält; der moderne Atheist lehnt den Glauben an
-Gott ab, weil ihm sein Gott, sein Ideal von Wahrheit diesen Glauben
-verbietet. Der moderne Geist sieht in Gott eine menschliche Schöpfung;
-in der "Wahrheit" sieht er etwas, was ohne alles menschliche Zuthun
-durch sich selbst besteht. Der wirklich "freie Geist" geht noch
-weiter. Er fragt: "Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?" Wozu
-Wahrheit? Alle Wahrheit entsteht doch dadurch, daß der Mensch
-über die Erscheinungen der Welt nachdenkt, sich Gedanken über die
-Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer der Wahrheit. Der
-"freie Geist" kommt zum Bewußtsein seines Schaffens der Wahrheit. Er
-betrachtet die Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unterordnet;
-er betrachtet sie als sein Geschöpf.
-
-
-
-
-19.
-
-Die mit schwachen, mißratenen Erkenntnisinstinkten ausgestatteten
-Menschen wagen es nicht, aus der Begriffe bildenden Macht
-ihrer Persönlichkeit heraus den Welterscheinungen einen Sinn
-unterzulegen. Sie wollen, daß ihnen die "Gesetzmäßigkeit der Natur"
-als Thatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives, der Einrichtung
-des menschlichen Geistes gemäß geformtes Weltbild scheint ihnen
-wertlos. Aber die bloße Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt
-liefert uns nur ein zusammenhangloses und doch nicht in Einzelheiten
-gesondertes Weltbild. Dem bloßen Beobachter der Dinge erscheint
-kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als
-das andere. Das rudimentäre Organ eines Organismus, das vielleicht
-dann, wenn wir darüber nachgedacht haben, ohne alle Bedeutung für
-die Entwickelung des Lebens erscheint, steht gerade mit demselben
-Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des Organismus,
-so lange wir bloß den objektiven Thatbestand beschauen. Ursache
-und Wirkung sind aufeinanderfolgende Erscheinungen, die ineinander
-überfließen, ohne durch etwas getrennt zu sein, so lange wir sie bloß
-beobachten. Erst wenn wir mit unserem Denken einsetzen, die ineinander
-fließenden Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander beziehen,
-wird ein gesetzmäßiger Zusammenhang sichtbar. Erst das Denken erklärt
-die eine Erscheinung für die Ursache, die andere für die Wirkung. Wir
-sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen und eine Vertiefung
-hervorrufen. Ein Wesen, das nicht denken kann, wird hier nicht
-Ursache und Wirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge von
-Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert die Erscheinungen,
-bringt die isolierten Fakten in ein Verhältnis und bezeichnet
-das eine Faktum als Ursache, das andere als Wirkung. Durch die
-Beobachtung wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu produzieren
-und diese mit den beobachteten Thatsachen zu einem gedankenvollen
-Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch thut dies, weil er die Summe der
-Beobachtungen gedanklich beherrschen will. Ein ihm gegenüberstehendes
-Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine unbekannte Macht. Er widersetzt
-sich dieser Macht, überwindet sie, indem er sie denkbar macht. Auch
-alles Zählen, Wägen und Berechnen der Erscheinungen geschieht
-aus demselben Grunde. Es ist der Wille zur Macht, der sich in dem
-Erkenntnistriebe auslebt. (Ich habe den Erkenntnisprozeß im einzelnen
-dargestellt in meinen beiden Schriften: "Wahrheit und Wissenschaft"
-und "Die Philosophie der Freiheit".)
-
-Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht eingestehen, daß
-er es selbst ist, der als Äußerung seines Strebens nach Macht die
-Erscheinungen interpretiert. Er hält auch seine Interpretation
-für einen Thatbestand. Und er fragt: wie der Mensch dazu kommt,
-einen solchen Thatbestand in der Wirklichkeit zu finden. Er fragt
-z. B.: wie kommt es, daß der Intellekt in zwei aufeinander folgenden
-Erscheinungen Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnistheoretiker
-von Locke, Hume, Kant bis auf die Gegenwart haben sich mit dieser Frage
-beschäftigt. Die Spitzfindigkeiten, die sie auf diese Untersuchung
-verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Erklärung ist gegeben
-in dem Streben des menschlichen Intellekts nach Macht. Die Frage ist
-gar nicht: sind Urteile, Gedanken über die Erscheinungen möglich,
-sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile nötig? Weil er
-sie nötig hat, deshalb wendet er sie an, und nicht weil sie möglich
-sind. Es kommt darauf an, "zu begreifen, daß zum Zweck der Erhaltung
-von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen;
-weshalb sie natürlich noch falsche Urteile sein könnten!" (Jenseits
-von Gut und Böse § 11.) "Und wir sind grundsätzlich geneigt, zu
-behaupten, daß die falschesten Urteile uns die unentbehrlichsten
-sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein
-Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten,
-Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch
-die Zahl der Mensch nicht leben könnte, -- daß Verzichtleisten auf
-falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des
-Lebens wäre." (Ebenda § 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint,
-der besinne sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung der Geometrie
-auf die Wirklichkeit ist, obgleich es nirgends in der Welt wirklich
-geometrisch regelmäßige Linien, Flächen u. s. w. giebt.
-
-Wenn der stumpfe, schwache Intellekt einsieht, daß alle Urteile
-über die Dinge aus ihm selbst stammen, durch ihn produziert und mit
-den Beobachtungen verschmolzen werden, dann hat er nicht den Mut,
-diese Urteile rückhaltslos anzuwenden. Er sagt: Urteile solcher
-Art können uns keine Erkenntnis von dem "wahren Wesen" der Dinge
-vermitteln. Dieses "wahre Wesen" bleibt daher unserer Erkenntnis
-verschlossen.
-
-Noch in einer anderen Art sucht der schwache Intellekt zu beweisen,
-daß durch das menschliche Erkennen kein Feststehendes gewonnen
-werden kann. Er sagt: Der Mensch sieht, hört, tastet die Dinge
-und Vorgänge. Was er dabei wahrnimmt, sind Eindrücke auf seine
-Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe, einen Ton wahrnimmt, so kann er nur
-sagen: mein Auge, mein Ohr werden in einer gewissen Art bestimmt,
-Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas außer ihm nimmt der Mensch
-wahr, sondern nur eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen
-Organe. In der Wahrnehmung werden das Auge, das Ohr u. s. w. dazu
-veranlaßt, in einer gewissen Weise zu empfinden; sie werden in
-einen bestimmten Zustand versetzt. Diese Zustände seiner eigenen
-Organe nimmt der Mensch als Farben, Töne, Gerüche u. s. w. wahr. In
-aller Wahrnehmung nimmt der Mensch nur seine eigenen Zustände
-wahr. Was er Außenwelt nennt, ist nur aus diesen seinen Zuständen
-zusammengesetzt; ist also im eigentlichen Sinne sein Werk. Die Dinge,
-die ihn veranlassen, aus sich heraus die Außenwelt zu spinnen, kennt
-er nicht; nur ihre Wirkungen auf seine Organe. Einem von dem Menschen
-geträumten Traume gleich, der durch ein Unbekanntes veranlaßt wird,
-erscheint die Welt in dieser Beleuchtung.
-
-Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird, so zieht
-er folgenden Nachsatz nach sich. Auch seine Organe kennt der
-Mensch nur, insofern er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in
-seiner Wahrnehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich
-der Mensch nur bewußt, insofern er die Bilder der Welt aus sich
-herausspinnt. Traumbilder nimmt er wahr und inmitten dieser Traumbilder
-ein "Ich", an dem diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes Traumbild
-erscheint in Begleitung dieses "Ich". Man kann auch sagen: jedes
-Traumbild erscheint inmitten der Traumwelt immer in Beziehung auf
-dieses "Ich". Dieses "Ich" haftet als Bestimmung, als Eigenschaft
-an den Traumbildern. Es ist somit, als Bestimmung von Traumbildern,
-selbst ein Traumhaftes. J. G. Fichte faßt diese Ansicht in die Worte
-zusammen: "Was durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist nur
-ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm
-immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann
-durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist
-notwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung
-und Zweck." "Alle Realität" ist für Fichte ein wunderbarer "Traum,
-ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist,
-dem da träumt"; ein Traum, "der in einem Traume von sich selbst
-zusammenhängt". (Bestimmung des Menschen, 2. Buch.)
-
-Was hat diese ganze Gedankenkette für eine Bedeutung? Ein schwacher
-Intellekt, der sich nicht unterfangen will, der Welt aus sich
-heraus einen Sinn zu geben, sucht diesen Sinn in der Welt der
-Beobachtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden, weil die bloße
-Beobachtung gedankenleer ist.
-
-Der starke, produktive Intellekt verwendet seine Begriffswelt dazu,
-die Beobachtungen zu deuten; der schwache, unproduktive Intellekt
-erklärt sich selbst für zu ohnmächtig, um das zu thun und sagt:
-ich kann in den Erscheinungen der Welt keinen Sinn finden; sie sind
-bloße Bilder, die an mir vorüberziehen. Der Sinn des Daseins muß
-außerhalb, jenseits der Erscheinungswelt gesucht werden. Dadurch
-wird die Erscheinungswelt, d. h. die menschliche Wirklichkeit für
-einen Traum, eine Täuschung, ein Nichts erklärt und das "wahre Wesen"
-der Erscheinungen wird in einem "Ding an sich" gesucht, bis zu dem
-keine Beobachtung, kein Erkennen reicht, d. h. von dem sich der
-Erkennende keine Vorstellung machen kann. Dieses "wahre Wesen" ist
-also für den Erkennenden ein völlig leerer Gedanke, der Gedanke an ein
-Nichts. Traum ist bei jenen Philosophen, die von dem "Ding an sich"
-sprechen, die Erscheinungswelt; Nichts ist aber das, was sie als das
-"wahre Wesen" dieser Erscheinungswelt ansehen. Die ganze philosophische
-Bewegung, die von dem "Ding an sich" spricht und die in der neueren
-Zeit sich namentlich auf Kant stützt, ist der Glaube an das Nichts,
-ist philosophischer Nihilismus.
-
-
-
-
-20.
-
-Wenn der starke Geist nach der Ursache eines menschlichen Handelns
-und Vollbringens sucht, so findet er diese immer in dem Willen
-zur Macht der einzelnen Persönlichkeit. Der Mensch mit schwachem,
-mutlosem Intellekt will dies aber nicht zugeben. Er fühlt sich nicht
-kräftig genug, sich zum Herrn und Richtunggeber seines Handelns zu
-machen. Er deutet die Triebe, die ihn lenken, als Gebote einer fremden
-Macht. Er sagt nicht: ich handle, wie ich will; sondern er sagt: ich
-handle gemäß einem Gebote, wie ich soll. Er will sich nicht befehlen,
-er will gehorchen. Auf der einen Stufe der Entwickelung sehen die
-Menschen ihre Antriebe zum Handeln als Gebote Gottes an, auf einer
-andern Stufe glauben sie in ihrem Innern eine Stimme zu vernehmen,
-die ihnen gebietet. Sie wagen es im letztern Falle nicht, zu sagen:
-ich bin es selbst, der da befiehlt; sie behaupten: in mir spricht
-ein höherer Wille sich aus. Daß sein Gewissen ihm in jedem einzelnen
-Falle sagt, wie er handeln soll, ist die Meinung des einen; daß ein
-kategorischer Imperativ ihm befiehlt, behauptet ein anderer. Hören wir,
-was J. G. Fichte sagt: "Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es
-nun einmal geschehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben von
-mir .... fordert; daß es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da;
-um es zu erkennen, habe ich Verstand; um es zu vollbringen, habe ich
-Kraft." ("Bestimmung des Menschen", 3. Buch.) Ich führe mit Vorliebe
-J. G. Fichtes Aussprüche an, weil er mit eiserner Konsequenz die
-Meinung der "Schwachen und Mißratenen" bis ans Ende gedacht hat. Wozu
-diese Meinungen zuletzt führen, kann man nur erkennen, wenn man sie da
-aufsucht, wo sie zu Ende gedacht worden sind; auf die Halben, die jeden
-Gedanken nur bis in seine Mitte denken, kann man sich nicht stützen.
-
-Nicht in der Einzelpersönlichkeit wird von denen, die in der
-angedeuteten Weise denken, der Quell des Wissens gesucht; sondern
-jenseits dieser Persönlichkeit in einem "Willen an sich". Eben
-dieser "Wille an sich" soll als "Stimme Gottes" oder "als Stimme
-des Gewissens", "kategorischer Imperativ" u. s. w. zu dem Einzelnen
-sprechen. Er soll der universelle Lenker des menschlichen Handelns und
-der Urquell der Sittlichkeit sein und auch die Zwecke des sittlichen
-Handelns bestimmen. "Ich sage, das Gebot des Handelns selbst ist es,
-welches durch sich selbst mir einen Zweck setzt: dasselbe in mir,
-was mich nötigt, zu denken, daß ich so handeln solle, nötigt mich,
-zu glauben, daß aus diesem Handeln etwas erfolgen werde; es eröffnet
-dem Auge die Aussicht auf eine andere Welt." "Wie ich im Gehorsam
-lebe, lebe ich zugleich in der Anschauung seines Zweckes, lebe ich
-in der besseren Welt, die er mir verheißt." (Fichte, Die Bestimmung
-des Menschen, 3. Buch.) Der also Denkende will sich nicht selbst sein
-Ziel setzen; er will von dem höheren Willen, dem er gehorcht, sich zu
-einem Ziele führen lassen. Er will sich seines Eigenwillens entledigen
-und sich zum Werkzeug "höherer" Zwecke machen. In Worten, die zu den
-schönsten Erzeugnissen des Sinnes für Gehorsam und Demut gehören,
-die mir bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe an den "ewigen
-Willen an sich". "Erhabener lebendiger Wille, den kein Name nennt,
-und kein Begriff umfaßt, wohl darf ich mein Gemüt zu dir erheben;
-denn du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ertönt in mir, die
-meinige tönt in dir wieder; und alle meine Gedanken, wenn sie nur wahr
-und gut sind, sind in dir gedacht. -- In dir, dem Unbegreiflichen,
-werde ich mir selbst, und wird mir die Welt vollkommen begreiflich,
-alle Rätsel meines Daseins werden gelöst, und die vollendetste Harmonie
-entsteht in meinem Geiste." "Ich verhülle vor dir mein Angesicht,
-und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist, und dir
-selbst erscheinst, kann ich nie einsehen, so gewiß ich nie du selbst
-werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterleben werde
-ich dich noch eben so wenig begreifen als jetzt, in dieser Hülle von
-Erde." (Bestimmung des Menschen, 3. Buch.)
-
-Wohin dieser Wille den Menschen zuletzt führen will, das kann der
-Einzelne nicht wissen. Wer an diesen Willen glaubt, gesteht also damit,
-daß er über die Endzwecke seines Handelns nichts weiß. Die Ziele, die
-sich der Einzelne schafft, sind aber für einen solchen Gläubigen eines
-höheren Willens keine "wahren" Ziele. Er setzt somit an die Stelle der
-durch das Individuum geschaffenen positiven Einzelziele einen Endzweck
-der ganzen Menschheit, dessen Gedankeninhalt aber ein Nichts ist. Ein
-solcher Gläubiger ist moralischer Nihilist. Er ist in der schlimmsten
-Art von Unwissenheit befangen, die sich erdenken läßt. Nietzsche wollte
-diese Art von Unwissenheit in einem besonderen Buche seines unvollendet
-gebliebenen Werkes "der Wille zur Macht" behandeln. (Vgl. Anhang zu
-Bd. VIII. der Gesamtausgabe von Nietzsches Werken.)
-
-Die Lobpreisung des moralischen Nihilismus finden wir wieder
-in Fichtes "Bestimmung des Menschen" (3. Buch): "Ich will nicht
-versuchen, was mir durch das Wesen der Endlichkeit versagt ist,
-und was mir zu nichts nützen würde; wie du an dir selbst bist, will
-ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und Verhältnisse zu mir,
-dem Endlichen, und zu allem Endlichen, liegen offen vor meinem Auge:
-werde ich, was ich sein soll! -- und sie umgeben mich in hellerer
-Klarheit, als das Bewußtsein meines eignen Daseins. Du wirkest in mir
-die Erkenntnis von meiner Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe
-der vernünftigen Wesen; wie, das weiß ich nicht, noch bedarf ich es zu
-wissen. Du weißt und erkennst, was ich denke und will; wie du wissen
-kannst, -- durch welchen Akt du dieses Bewußtsein zu stande bringst,
-darüber verstehe ich nichts; ja ich weiß sogar sehr wohl, daß der
-Begriff eines Akts, und eines besonderen Akts des Bewußtseins nur
-von mir gilt, nicht aber von dir, dem Unendlichen. Du willst, denn du
-willst, daß mein freier Gehorsam Folgen habe in alle Ewigkeit; den Akt
-deines Willens begreife ich nicht; und weiß nur soviel, daß er nicht
-ähnlich ist dem meinigen. Du thust, und dein Wille selbst ist That;
-aber deine Wirkungsweise ist der, die ich allein zu denken vermag,
-geradezu entgegengesetzt. Du lebest und bist, denn du weißt, willst
-und wirkest, allgegenwärtig der endlichen Vernunft; aber du bist nicht,
-wie ich alle Ewigkeiten hindurch allein ein Sein werde denken können."
-
-Dem moralischen Nihilismus stellt Nietzsche die Ziele gegenüber,
-die der schaffende Einzelwille sich setzt. Den Lehrern der Ergebung
-ruft Zarathustra zu:
-
-"Diese Lehrer der Ergebung. Überall hin, wo es klein und krank und
-grindig ist, kriechen sie hin, gleich Läusen; und nur mein Ekel
-hindert mich, sie zu knacken.
-
-"Wohlan! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren: ich bin Zarathustra,
-der Gottlose, der da spricht: 'wer ist gottloser denn ich, daß ich
-mich seiner Unterweisung freue?'
-
-"Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich meinesgleichen? Und
-alle die sind meinesgleichen, die sich selber ihren Willen geben und
-alle Ergebung von sich abthun."
-
-
-
-
-21.
-
-Die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft, ist rücksichtslos in der
-Ausführung derselben. Die schwache Persönlichkeit dagegen führt nur
-das aus, wozu der Wille Gottes oder die "Stimme des Gewissens" oder der
-"kategorische Imperativ" Ja sagt. Was diesem Ja entspricht, bezeichnet
-der Schwache als gut, was diesem Ja zuwider ist als böse. Der Starke
-kann dieses "gut und bös" nicht anerkennen; denn er erkennt diejenige
-Macht nicht an, von der sich der Schwache sein Gutes und Böses
-bestimmen läßt. Was er, der Starke, will, ist für ihn gut; er führt es
-durch gegen alle widerstrebenden Mächte. Was ihn in dieser Durchführung
-stört, das sucht er zu überwinden. Er glaubt nicht, daß ein "ewiger
-Weltwille" alle einzelnen Willensentschlüsse zu einer großen Harmonie
-lenkt; aber er ist der Ansicht, daß alle menschliche Entwickelung aus
-den Willensimpulsen der Einzelpersönlichkeiten sich ergiebt, und daß
-ein ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen Willensäußerungen,
-in dem immer der stärkere Wille über den schwächeren siegt.
-
-Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke Persönlichkeit,
-die sich selbst Gesetz und Zweck geben will, als böse, als sündhaft
-bezeichnet. Sie erregt Furcht, denn sie durchbricht die hergebrachten
-Ordnungen; sie nennt wertlos, was die Schwachen gewohnt sind,
-wertvoll zu nennen, und sie erfindet Neues, vor ihr Unbekanntes,
-das sie als wertvoll bezeichnet. "Jede individuelle Handlung, jede
-individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen,
-was gerade die selteneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister
-im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, daß
-sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja daß sie
-sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit hat
-die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen
-Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter,
-als er sein müßte." (Morgenröte § 9.)
-
-Der wahrhaft freie Geist faßt schlechthin erste Entschlüsse; der
-unfreie entscheidet sich nach dem Herkommen. "Sittlichkeit ist nichts
-anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten,
-welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche
-Art zu handeln und abzuschätzen" (Morgenröte § 9). Dieses Herkommen
-ist es, was von den Moralisten als "ewiger Wille", "kategorischer
-Imperativ" gedeutet wird. Jedes Herkommen ist aber das Ergebnis der
-naturgemäßen Triebe und Impulse einzelner Menschen, ganzer Stämme,
-Völker u. s. w. Es ist ebenso das Produkt natürlicher Ursachen,
-wie etwa die Witterungsverhältnisse einzelner Gegenden. Der freie
-Geist erklärt sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er hat
-seine individuellen Triebe und Impulse, und diese sind nicht weniger
-berechtigt als die der anderen. Er setzt diese Impulse in Handlungen
-um, wie eine Wolke Regen auf die Erdoberfläche sendet, wenn die
-Ursachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht jenseits dessen,
-was das Herkommen als gut und böse ansieht. Er schafft sich selbst
-sein Gut und Böse.
-
-"Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten
-Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen
-gut und böse sei.
-
-"Eine alte müde Sache dünkte ihnen alles Reden von Tugend; und wer
-gut schlafen wollte, der sprach vor dem Schlafengehen noch von 'Gut
-und Böse'.
-
-"Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist,
-das weiß noch niemand -- es sei denn der Schaffende.
-
-"Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde
-ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: dieser erst schafft es, daß etwas
-gut und böse ist." (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)
-
-Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem Herkommen gemäß
-ist, dann thut er es, weil er die herkömmlichen Motive zu den seinigen
-machen will, und weil er es in bestimmten Fällen nicht für nötig hält,
-an die Stelle des Herkömmlichen etwas Neues zu setzen.
-
-
-
-
-22.
-
-Der Starke sucht in der Durchsetzung seines schaffenden Selbst seine
-Lebensaufgabe. Diese Selbstsucht unterscheidet ihn von den Schwachen,
-die in der selbstlosen Hingabe an das, was sie das Gute nennen,
-die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen predigen die Selbstlosigkeit
-als die höchste Tugend. Ihre Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge
-ihres Mangels an Schaffenskraft. Hätten sie ein schaffendes Selbst,
-so würden sie dieses auch durchsetzen wollen. Der Starke liebt den
-Krieg, denn er braucht den Krieg, um seine Schöpfungen gegen die
-widerstrebenden Mächte durchzusetzen.
-
-"Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und
-für eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure
-Redlichkeit darüber noch Triumph rufen!
-
-"Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den
-kurzen Frieden mehr als den langen.
-
-"Euch rate ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich
-nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf,
-euer Friede sei ein Sieg!
-
-"Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich
-aber sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.
-
-"Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge gethan, als die
-Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete
-bisher die Verunglückten." (Zarathustra, 1. Teil, Vom Krieg und
-Kriegsvolke.)
-
-Unerbittlich und ohne Schonung des Widerstrebenden handelt der
-Schaffende. Er kennt nicht die Tugend der Leidenden: das Mitleid. Aus
-seiner Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht aus dem Gefühle
-des fremden Leidens. Daß die Kraft siege, dafür setzt er sich ein,
-nicht daß das Leidende, Schwache gepflegt werde. Schopenhauer hat die
-ganze Welt für ein Lazarett erklärt, und die aus dem Mitgefühle mit
-den Leidenden entspringenden Handlungen für die höchsten Tugenden. Er
-hat damit die Moral des Christentums in anderer Form ausgesprochen,
-als dieses selbst es thut. Der Schaffende fühlt sich nicht berufen,
-Krankenwärterdienste zu verrichten. Die Tüchtigen, Gesunden können
-nicht um der Schwachen, Kranken willen da sein. Das Mitleid schwächt
-die Kraft, den Mut, die Tapferkeit.
-
-Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was der Starke überwinden
-will: die Schwäche, das Leiden. Der Sieg des Starken über das
-Schwache ist der Sinn aller menschlichen, wie aller natürlichen
-Entwickelung. "Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung,
-Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte,
-Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens,
-Ausbeutung." (Jenseits von Gut und Böse § 259.)
-
-"Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet
-ihr mit mir -- siegen?
-
-"Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will:
-wie könntet ihr einst mit mir -- schaffen?
-
-"Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken,
-eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, --
-
-"-- Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie
-auf Erz, -- härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein
-das Edelste.
-
-"Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet
-hart." (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)
-
-Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mitleid. Wer ihn bemitleiden
-wollte, den müßte er fragen: hältst du mich für so schwach, daß ich
-mein Leid nicht selbst tragen kann? Ihm geht jedes Mitleid gegen die
-Scham. Nietzsche bringt den Widerwillen des Starken gegen das Mitleiden
-im vierten Teil seines "Zarathustra" zur Anschauung. Zarathustra
-kommt auf seinen Wanderungen in ein Thal, das "Schlangentod"
-heißt. Kein Lebewesen findet sich hier. Nur eine Art häßlicher
-grüner Schlangen kommt hierher, um zu sterben. Dieses Thal hat der
-"häßlichste Mensch" aufgesucht. Dieser will von keinem Wesen gesehen
-werden wegen seiner Häßlichkeit. In diesem Thal sieht ihn niemand
-außer Gott. Aber auch dessen Anblick kann er nicht ertragen. Das
-Bewußtsein, daß Gottes Blicke in alle Räume dringen, ist ihm zur
-Last. Er hat deshalb Gott getötet, d. h. er hat den Glauben an
-Gott in sich ertötet. Er ist zum Atheisten geworden wegen seiner
-Häßlichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen sieht, überfällt ihn
-noch einmal das, was er für immer in sich getilgt zu haben glaubt:
-das Mitleid mit der furchtbaren Häßlichkeit. Dies ist eine Versuchung
-Zarathustras. Er weist aber das Gefühl des Mitleids bald zurück und
-wird wieder hart. Der häßlichste Mensch sagt zu ihm: Deine Härte ehrt
-meine Häßlichkeit. Ich bin zu reich an Häßlichkeit, um irgend eines
-Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht gegen die Scham.
-
-Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, und der freie Geist
-will vollständig auf sich selbst gestellt sein.
-
-
-
-
-23.
-
-Mit der Aufzeigung des natürlichen Willens zur Macht als Ursache
-der menschlichen Handlungen geben sich die Schwachen nicht
-zufrieden. Sie suchen nicht bloß nach natürlichen Zusammenhängen
-in der Menschenentwickelung, sondern sie suchen das Verhältnis der
-menschlichen Handlungen zu dem, was sie als den "Willen an sich",
-die "ewige, sittliche Weltordnung" nennen. Wer dieser Weltordnung
-zuwiderhandelt, dem sprechen sie eine Schuld zu. Und sie begnügen
-sich auch nicht damit, eine Handlung nach ihren natürlichen Folgen zu
-bewerten, sondern sie machen den Anspruch darauf, daß eine schuldvolle
-Handlung auch moralische Folgen, Strafen nach sich ziehe. Sie nennen
-sich selbst schuldig, wenn sie ihr Handeln mit der sittlichen
-Weltordnung nicht in Übereinstimmung finden; sie wenden sich mit
-Abscheu von dem Quell des Bösen in sich ab und nennen dies Gefühl
-böses Gewissen. Alle diese Begriffe läßt die starke Persönlichkeit
-nicht gelten. Sie kümmert sich nur um die natürlichen Folgen ihrer
-Handlungen. Sie fragt: wieviel ist meine Handlungsweise für das Leben
-wert? Entspricht sie dem, was ich gewollt habe? Der Starke kann sich
-grämen, wenn ihm eine Handlung fehlschlägt, wenn das Resultat seinen
-Absichten nicht entspricht. Aber er klagt sich nicht an. Denn er mißt
-seine Handlungsweise nicht an außernatürlichen Maßstäben. Er weiß,
-daß er so handelt, wie es seinen natürlichen Trieben entspricht,
-und kann höchstens bedauern, daß diese nicht besser sind. Ebenso
-hält er es mit der Beurteilung fremder Handlungen. Ein moralisches
-Abschätzen der Handlungen kennt er nicht. Er ist Immoralist.
-
-Was das Herkommen als böse bezeichnet, sieht der Immoralist
-ebenso als Ausfluß menschlicher Instinkte an, wie das Gute. Die
-Strafe gilt ihm nicht als moralisch bedingt, sondern nur als ein
-Mittel, Instinkte gewisser Menschen, die andern schädlich sind,
-auszurotten. Die Gesellschaft straft nach Ansicht des Immoralisten
-nicht deswegen, weil sie ein "moralisches Recht" hat, die Schuld
-zu sühnen, sondern allein, weil sie sich stärker erweist, als der
-Einzelne, welcher der Gesamtheit widerstrebende Instinkte hat. Die
-Macht der Gesellschaft steht gegen die Macht des Einzelnen. Dies ist
-der natürliche Zusammenhang einer "bösen" Handlung des Einzelnen
-mit der Rechtsprechung der Gesellschaft und der Bestrafung dieses
-Einzelnen. Es ist der Wille zur Macht, d. h. zum Ausleben jener
-Instinkte, die bei der Mehrzahl der Menschen vorhanden sind, der
-sich in der Rechtspflege einer Gesellschaft äußert. Der Sieg einer
-Mehrheit über einen Einzelnen ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne
-über die Gesellschaft, so müßte seine Handlungsweise als gut, die der
-andern als böse bezeichnet werden. Das jeweilige Recht drückt nur aus,
-was die Gesellschaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur
-Macht anerkennt.
-
-
-
-
-24.
-
-Weil Nietzsche in der menschlichen Handlungsweise nur einen
-Ausfluß der Instinkte sieht, und diese letzteren bei verschiedenen
-Menschen verschieden sind, scheint es ihm notwendig, daß auch
-deren Handlungsweisen verschieden sind. Nietzsche ist deshalb ein
-entschiedener Gegner des demokratischen Grundsatzes: Gleiche Rechte
-und gleiche Pflichten für alle. Die Menschen sind ungleich, deshalb
-müssen auch ihre Rechte und Pflichten ungleich sein. Der natürliche
-Gang der Weltgeschichte wird stets starke und schwache, schaffende
-und unfruchtbare Menschen aufweisen. Und die Starken werden immer
-dazu berufen sein, den Schwachen die Ziele zu bestimmen. Ja noch
-mehr: die Starken werden sich der Schwachen als Mittel zum Zwecke,
-d. h. als Sklaven bedienen. Nietzsche spricht natürlich nicht von einem
-"moralischen" Recht der Starken zur Haltung von Sklaven. "Moralische"
-Rechte erkennt er nicht an. Sondern er ist der Meinung, daß die
-Überwindung des Schwächeren durch den Stärkeren, die er für das
-Princip alles Lebens hält, notwendig zur Sklaverei führen muß.
-
-Es ist auch natürlich, daß sich der Überwundene gegen den Überwinder
-auflehnt. Wenn diese Auflehnung sich nicht durch die That äußern
-kann, so äußert sie sich wenigstens im Gefühle. Und der Ausdruck
-dieses Gefühles ist die Rache, die stets in den Herzen derer wohnt,
-die in irgend einer Weise von den besser Veranlagten überwunden
-worden sind. Als Ausfluß dieser Rache sieht Nietzsche die moderne
-socialdemokratische Bewegung an. Der Sieg dieser Bewegung würde ihm
-eine Erhöhung der Mißratenen, Übel-Weggekommenen zu Ungunsten der
-Besseren sein. Gerade das Gegenteil strebt Nietzsche an: die Pflege
-der starken, selbstherrlichen Persönlichkeit. Und er haßt die Sucht,
-die alles gleich machen und die souveräne Individualität in dem Meere
-der allgemeinen Mittelmäßigkeit verschwinden lassen will.
-
-Nicht alle sollen dasselbe haben und genießen, meint Nietzsche,
-sondern jeder soll haben und genießen, was er nach Maßgabe seiner
-persönlichen Stärke erreichen kann.
-
-
-
-
-25.
-
-Was der Mensch wert ist, hängt allein von dem Wert seiner Instinkte
-ab. Durch nichts anderes kann der Wert des Menschen bestimmt
-werden. Man spricht von dem Werte der Arbeit. Die Arbeit soll den
-Menschen adeln. Aber die Arbeit hat an sich gar keinen Wert. Nur
-dadurch, daß sie dem Menschen dient, erhält sie einen Wert. Nur
-insofern sich die Arbeit als natürliche Folge der menschlichen
-Neigungen darstellt, ist sie des Menschen würdig. Wer sich zum Diener
-der Arbeit macht, entwürdigt sich. Nur der Mensch, der nicht sich
-selbst seinen Wert bestimmen kann, sucht diesen Wert an der Größe
-seines Werkes abzumessen. Es ist charakteristisch für das demokratische
-Bürgertum der neueren Zeit, daß es in der Wertbemessung des Menschen
-sich nach dessen Arbeit richtet. Sogar Goethe ist von dieser Gesinnung
-nicht frei. Läßt er doch seinen Faust die volle Befriedigung in dem
-Bewußtsein gethaner Arbeit finden.
-
-
-
-
-26.
-
-Auch die Kunst hat nach Nietzsches Meinung nur Wert, wenn sie dem Leben
-des Einzelmenschen dient. Auch hier vertritt Nietzsche die Ansicht
-der starken Persönlichkeit und lehnt alles ab, was die schwachen
-Instinkte über die Kunst aussprechen. Fast alle deutschen Ästhetiker
-vertreten den Standpunkt der schwachen Instinkte. Die Kunst soll ein
-"Unendliches" im "Endlichen", ein "Ewiges" im "Zeitlichen", eine
-"Idee" in der "Wirklichkeit" darstellen. Für Schelling z. B. ist alle
-sinnliche Schönheit nur ein Abglanz jener unendlichen Schönheit,
-die wir nie mit den Sinnen wahrnehmen können. Das Kunstwerk ist
-nicht um seiner selbst willen und durch das, was es ist, schön,
-sondern weil es die Idee der Schönheit abbildet. Das sinnliche Bild
-ist nur ein Ausdrucksmittel, nur die Form für einen übersinnlichen
-Inhalt. Und Hegel nennt das Schöne "das sinnliche Scheinen der
-Idee". Ähnliches kann man auch bei den andern deutschen Ästhetikern
-finden. Für Nietzsche ist die Kunst ein lebenförderndes Element, und
-nur, wenn sie dieses ist, hat sie Berechtigung. Wer das Leben, wie er
-es unmittelbar wahrnimmt, nicht ertragen kann, der formt es sich nach
-seinem Bedürfnisse um, und damit schafft er ein Kunstwerk. Und was will
-der Genießende vom Kunstwerk? Er will Erhöhung seiner Lebensfreude,
-Stärkung seiner Lebenskräfte, Befriedigung von Bedürfnissen, die
-ihm die Wirklichkeit nicht befriedigt. Aber er will, wenn sein
-Sinn auf das Wirkliche gerichtet ist, nicht durch das Kunstwerk
-den Abglanz des Göttlichen, Überirdischen erblicken. Hören wir, wie
-Nietzsche den Eindruck schildert, den Bizets Carmen auf ihn gemacht:
-"Ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch
-ein besserer Musikant, ein besserer Zuhörer. Kann man überhaupt noch
-besser zuhören? -- Ich vergrabe meine Ohren noch unter diese Musik,
-ich höre deren Ursache. Es scheint mir, daß ich ihre Entstehung
-erlebe -- ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagnis begleiten,
-ich bin entzückt über Glücksfälle, an denen Bizet unschuldig ist. --
-Und seltsam! im Grunde denke ich nicht daran, oder weiß es nicht,
-wie sehr ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen mir während
-dem durch den Kopf ... Hat man bemerkt, daß die Musik den Geist frei
-macht? dem Gelehrten Flügel giebt? daß man umsomehr Philosoph wird,
-je mehr man Musiker wird? -- Der graue Himmel der Abstraktion wie von
-Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge;
-die großen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus
-überblickt. -- Ich definierte eben das philosophische Pathos. -- Und
-unversehens fallen mir Antworten in den Schoß, ein kleiner Hagel von
-Eis und Weisheit, von gelösten Problemen .. Wo bin ich? -- Bizet macht
-mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andere
-Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was gut ist." --
-(Fall Wagner § 1.) Weil Richard Wagners Musik eine solche Wirkung nicht
-auf ihn machte, deshalb lehnte sie Nietzsche ab: "Meine Einwände gegen
-die Musik Wagners sind physiologische Einwände ..... Meine Thatsache,
-mein petit fait vrai ist, daß ich nicht mehr leicht atme, wenn diese
-Musik erst auf mich wirkt; daß alsbald mein Fuß gegen sie böse wird
-und revoltiert: er hat das Bedürfnis nach Takt, Tanz, Marsch ... er
-verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem Gehen,
-Schreiten, Tanzen liegen. Protestiert aber nicht auch mein Magen? mein
-Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich
-nicht unversehens heiser dabei? Und so frage ich mich: was will
-eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? ... Ich glaube,
-seine Erleichterung: wie als ob alle animalischen Funktionen durch
-leichte, kühne, ausgelassene, selbstgewisse Rhythmen beschleunigt
-werden sollten; wie als ob das eherne, bleierne Leben durch goldene,
-zärtliche, ölgleiche Melodieen seine Schwere verlieren sollte. Meine
-Schwermut will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit
-ausruhen: dazu brauche ich Musik." (Nietzsche kontra Wagner. Kap.:
-Wo ich Einwände mache.) --
-
-Im Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn täuschte sich
-Nietzsche über das, was seine Instinkte von der Kunst verlangen,
-deshalb war er damals ein Anhänger Wagners. Er hat sich durch das
-Studium der Schopenhauerschen Philosophie zum Idealismus verführen
-lassen. Er glaubte einige Zeit hindurch an den Idealismus und täuschte
-sich künstliche Bedürfnisse, ideale Bedürfnisse vor. Erst im weiteren
-Verlaufe seines Lebens merkte er, daß aller Idealismus seinen Trieben
-gerade entgegengesetzt ist. Er wurde nun aufrichtiger gegen sich
-selbst. Er sprach aus, wie er selbst empfand. Und das konnte nur zur
-vollständigen Ablehnung von Wagners Musik führen, die ja immer mehr
-den asketischen Charakter annahm, den wir bereits als Kennzeichen
-von Wagners letztem Wirkensziel aufgeführt haben.
-
-Die Ästhetiker, die es der Kunst zur Aufgabe machen, die Idee zu
-versinnlichen, das Göttliche zu verkörpern, vertreten auf diesem
-Gebiete eine ähnliche Ansicht wie die philosophischen Nihilisten
-auf dem Gebiete der Erkenntnis und der Moral. Sie suchen in den
-Kunstobjekten ein Jenseitiges, das sich aber vor dem Wirklichkeitssinn
-in ein Nichts auflöst. Es giebt auch einen ästhetischen Nihilismus.
-
-Diesem steht die Ästhetik der starken Persönlichkeit gegenüber, die
-in der Kunst ein Abbild der Wirklichkeit, eine höhere Wirklichkeit
-sieht, die der Mensch lieber genießt als die Alltäglichkeit.
-
-
-
-
-27.
-
-Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander gegenüber: den Schwachen
-und den Starken. Der erstere sucht die Erkenntnis als einen objektiven
-Thatbestand, der von der Außenwelt in seinen Geist einfließen soll. Er
-läßt sich sein Gutes und Böses von einem "ewigen Weltwillen" oder
-einem "kategorischen Imperativ" diktieren. Er bezeichnet jede nicht
-von diesem Weltwillen, sondern nur von dem schöpferischen Eigenwillen
-bestimmte Handlung als Sünde, die eine moralische Strafe nach sich
-ziehen muß. Er möchte für alle Menschen gleiche Rechte dekretieren
-und den Wert des Menschen nach einem äußern Maßstabe bestimmen. Er
-möchte endlich in der Kunst ein Abbild des Göttlichen, eine Kunde aus
-dem Jenseits erblicken. Der Starke dagegen sieht alle Erkenntnis als
-den Ausdruck des Willens zur Macht an. Er sucht durch die Erkenntnis
-die Dinge denkbar und sich dadurch unterthan zu machen. Er weiß,
-daß er selbst der Schöpfer der Wahrheit ist; daß niemand als er
-selbst sein Gutes und sein Böses schaffen kann. Er betrachtet die
-Handlungen des Menschen als Folgen natürlicher Triebe und läßt sie
-gelten als Naturereignisse, die niemals als Sünden zu betrachten sind
-und nicht eine moralische Verurteilung verdienen. Er sucht den Wert
-des Menschen in der Tüchtigkeit seiner Instinkte. Einen Menschen mit
-den Instinkten für Gesundheit, Geist, Schönheit, Ausdauer, Vornehmheit
-schätzt er höher als einen solchen mit den Instinkten für Schwäche,
-Häßlichkeit, Sklaverei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade,
-in dem es zur Steigerung seiner Kräfte beiträgt.
-
-Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche unter seinem
-Übermenschen. Solche Übermenschen konnten bisher nur durch das
-Zusammentreffen zufälliger Umstände entstehen. Ihre Entwickelung
-zum bewußten Ziele der Menschheit zu machen, ist die Absicht, die
-Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der menschlichen Entwickelung
-in irgendwelchen Idealen. Hier hält Nietzsche eine Änderung der
-Anschauungen für nötig. Der "höherwertige Typus ist oft genug schon
-dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als
-gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war
-bisher beinahe das Furchtbare; -- und aus der Furcht heraus wurde
-der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das
-Herdentier, das kranke Tier Mensch, -- der Christ ..." (Antichrist
-§ 3).
-
-Zarathustras Weisheit soll diesen Übermenschen, zu dem jener andere
-Typus nur ein Übergang ist, lehren.
-
-Nietzsche nennt diese Weisheit eine dionysische. Es ist eine
-Weisheit, die nicht dem Menschen von außen gegeben wird; es ist eine
-selbstgeschaffene Weisheit. Der dionysische Weise forscht nicht; er
-schafft. Er steht nicht als Betrachter außer der Welt, die er erkennen
-will; er ist Eins geworden mit seiner Erkenntnis. Er sucht nicht nach
-einem Gotte; was er sich noch als göttlich vorstellen kann, ist nur
-Er selbst als Schöpfer seiner eigenen Welt. Wenn dieser Zustand auf
-alle Kräfte des menschlichen Organismus sich erstreckt, so giebt
-das den dionysischen Menschen, dem es unmöglich ist, irgend eine
-Suggestion nicht zu verstehen; er übersieht kein Zeichen des Affekts,
-er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinktes,
-wie er den höchsten Grad von Mitteilungskunst besitzt. Er geht in
-jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig. Dem
-dionysischen Weisen steht der bloße Betrachter gegenüber, der
-sich immer außerhalb seiner Erkenntnisobjekte stehend glaubt, als
-objektiver, leidender Zuschauer. Dem dionysischen Menschen steht der
-apollinische gegenüber, der "vor allem das Auge erregt hält, sodaß
-es die Kraft der Vision bekommt". Visionen, Bilder von Dingen, die
-jenseits der Menschen-Wirklichkeit stehen, erstrebt der apollinische
-Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene Weisheit.
-
-
-
-
-28.
-
-Die apollinische Weisheit hat den Charakter des Ernstes. Sie
-empfindet die Herrschaft des Jenseits, das sie nur im Bilde besitzt,
-als einen schweren Druck, als eine ihr widerstrebende Macht. Ernst
-ist die apollinische Weisheit, denn sie glaubt sich im Besitze einer
-Kunde aus dem Jenseits, wenn diese auch nur durch Bilder, Visionen
-vermittelt sein soll. Schwer beladen mit seiner Erkenntnis wandelt
-der apollinische Geist einher, denn er trägt eine Bürde, die aus
-einer andern Welt stammt. Und den Ausdruck der Würde nimmt er an,
-denn vor den Kundgebungen des Unendlichen muß jedes Lachen verstummen.
-
-Dieses Lachen aber charakterisiert den dionysischen Geist. Er weiß,
-daß alles, was er Weisheit nennt, nur seine Weisheit ist, von ihm
-erfunden, um sich das Leben leicht zu machen. Nur dieses Eine soll
-ja seine Weisheit sein: ein Mittel, das ihm erlaubt, zum Leben Ja zu
-sagen. Dem dionysischen Menschen ist der Geist der Schwere zuwider,
-weil er das Leben nicht erleichtert, sondern niederdrückt. Die
-selbstgeschaffene Weisheit ist eine heitere Weisheit, denn wer sich
-selbst seine Bürde schafft, der schafft sich nur eine solche, die er
-auch leicht tragen kann. Mit der selbstgeschaffenen Weisheit bewegt
-sich der dionysische Geist leicht durch die Welt wie ein Tänzer.
-
-
- "Daß ich aber der Weisheit gut bin und oft
- zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an
- das Leben!
-
- Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr
- goldnes Angelrütchen: was kann ich dafür, daß
- die beiden sich so ähnlich sehen?"
-
- "In dein Auge schaute ich jüngst, o Leben:
- Gold sah ich in deinem Nachtauge blinken, -- mein
- Herz stand still vor dieser Wollust:
-
- -- einen goldenen Kahn sah ich blinken auf
- nächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden,
- wieder winkenden goldenen Schaukelkahn!
-
- Nach meinem Fuße, dem tanzwütigen, warfst
- du einen Blick, einen lachenden, fragenden,
- schmelzenden Schaukelblick:
-
- zweimal nur regtest du deine Klapper mit
- kleinen Händen -- da schaukelte mein Fuß vor
- Tanzwut. --
-
- Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen
- horchten, dich zu verstehen: doch trägt der Tänzer
- sein Ohr -- in seinen Zehen!"
-
- (Zarathustra 2. u. 3. Teil. Die Tanzlieder.)
-
-
-
-
-29.
-
-Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle Antriebe seines
-Thuns entnimmt und keiner äußeren Macht gehorcht, ist er ein freier
-Geist. Denn ein freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur
-folgt. Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede von
-Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube, daß hier
-Nietzsche mit einem Namen eine Reihe von Antrieben zusammengefaßt hat,
-die eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern. Nietzsche
-nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren vorhandenen Triebe zur
-Ernährung und Selbsterhaltung, wie auch die höchsten Antriebe der
-menschlichen Natur, z. B. den Erkenntnistrieb, den Trieb, nach
-sittlichen Maßstäben zu handeln, den Trieb, sich an Kunstwerken zu
-ergötzen u. s. w. Nun sind zwar alle diese Triebe Äußerungsformen einer
-und derselben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene Stufen in
-der Entwickelung dieser Kraft dar. Die moralischen Antriebe z. B. sind
-eine besondere Stufe der Instinkte. Wenn auch zugegeben werden kann,
-daß sie nur höhere Formen sinnlicher Instinkte sind, so treten sie
-doch im Menschen auf eine besondere Art ins Dasein. Dies zeigt sich
-darin, daß es dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen, die
-nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurückzuführen sind, sondern
-nur auf jene Antriebe, die eben als höhere Formen des Instinktes zu
-bezeichnen sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Handelns,
-die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzuleiten sind, sondern
-nur aus dem bewußten Denken. Er setzt sich individuelle Zwecke vor,
-aber er setzt sich diese mit Bewußtsein vor. Und es ist ein großer
-Unterschied, ob er einem unbewußt entstandenen und erst hinterher in
-das Bewußtsein aufgenommenen Instinkte oder einem Gedanken folgt,
-den er von vornherein mit vollem Bewußtsein produziert hat. Wenn
-ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich drängt, so ist dies etwas
-wesentlich anderes, als wenn ich eine mathematische Aufgabe löse. Die
-denkende Erfassung der Welterscheinungen stellt eine besondere Form
-des allgemeinen Wahrnehmungsvermögens dar. Sie unterscheidet sich
-von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung. Dem Menschen sind nun die
-höheren Entwickelungsformen des Instinktlebens ebenso natürlich
-wie die niederen. Stehen beide nicht im Einklange, dann ist er zur
-Unfreiheit verurteilt. Es kann der Fall eintreten, daß eine schwache
-Persönlichkeit mit vollkommen gesunden sinnlichen Instinkten nur
-schwache geistige Instinkte hat. Dann wird sie zwar in Bezug auf ihr
-Sinnenleben ihre eigene Individualität entfalten, aber die gedanklichen
-Antriebe ihres Handelns wird sie aus dem Herkommen entlehnen. Es kann
-eine Disharmonie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen Triebe
-drängen zum Ausleben der eigenen Persönlichkeit, die geistigen Antriebe
-stehen in dem Banne einer äußern Autorität. Das Geistesleben einer
-solchen Persönlichkeit wird von den sinnlichen, das sinnliche Leben
-von den geistigen Instinkten tyrannisiert. Denn beide Gewalten gehören
-nicht zusammen, sind nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich
-freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund entwickeltes
-individuelles sinnliches Triebleben, sondern auch die Fähigkeit, sich
-die gedanklichen Antriebe für das Leben zu schaffen. Erst derjenige
-Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum
-Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern
-des Handelns zu schaffen, in meiner Schrift "Die Philosophie der
-Freiheit" (Weimar, Emil Felber 1894) die "moralische Phantasie"
-genannt. Nur wer diese moralische Phantasie hat, ist wirklich frei,
-denn der Mensch muß nach bewußten Triebfedern handeln. Und wenn er
-solche nicht selbst produzieren kann, dann muß er sich dieselben von
-äußeren Autoritäten oder von dem in Form der Gewissensstimme in ihm
-sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch, der sich bloß seinen
-sinnlichen Instinkten überläßt, handelt wie ein Tier; ein Mensch,
-der seine sinnlichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt
-unfrei; erst der Mensch, der sich selbst seine moralischen Ziele
-schafft, handelt frei. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches
-Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muß notwendig auf
-diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch eine unbedingte
-Notwendigkeit, daß dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung
-eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet
-werden: Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des Herkommens
-oder des "jenseitigen Willens", aber er ist ein Knecht seiner eigenen
-Instinkte.
-
-Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche, Eigenpersönliche im
-Menschen gerichtet. Er suchte dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus
-dem Mantel des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeindliche
-Weltanschauung eingehüllt hat. Aber er ist nicht dazu gekommen,
-die Stufen des Lebens innerhalb der Persönlichkeit selbst zu
-unterscheiden. Er hat deshalb die Bedeutung des Bewußtseins für die
-menschliche Persönlichkeit unterschätzt. "Die Bewußtheit ist die
-letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch
-das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen
-unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zu
-Grunde geht, früher als es nötig wäre, "über das Geschick", wie
-Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so
-überaus viel mächtiger, diente er nicht im ganzen als Regulator:
-an ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen,
-an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer
-Bewußtheit müßte die Menschheit zu Grunde gehen," sagt Nietzsche
-(Fröhliche Wissenschaft § 11).
-
-Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht minder wahr ist es, daß
-der Mensch nur insoweit frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern
-seines Handelns innerhalb des Bewußtseins schaffen kann.
-
-Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern führt aber noch weiter. Es
-ist eine Thatsache der Erfahrung, daß diese gedanklichen Triebfedern,
-die die Menschen aus sich heraus produzieren, bei den einzelnen
-Individuen doch bis zu einem gewissen Grade eine Übereinstimmung
-zeigen. Auch wenn der einzelne Mensch ganz frei aus sich heraus
-Gedanken schafft, so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken
-anderer Menschen überein. Daraus folgt für den Freien die Berechtigung,
-anzunehmen, daß die Harmonie in der menschlichen Gesellschaft von
-selbst eintritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er
-kann diese Meinung dem Verteidiger der Unfreiheit gegenüberstellen,
-der glaubt, daß die Handlungen einer Mehrheit von Menschen nur
-zusammenstimmen, wenn sie durch eine äußere Gewalt nach einem
-gemeinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist ist deshalb
-durchaus kein Anhänger jener Ansicht, welche die tierischen Triebe
-absolut frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb
-abschaffen will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen,
-die nicht bloß ihren tierischen Instinkten folgen wollen, sondern die
-imstande sind, moralische Triebfedern, ihr eigenes Gutes und Böses,
-zu schaffen.
-
-Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen hat, daß er die letzten
-Konsequenzen von dessen Weltanschauung zu ziehen vermag, trotzdem
-sie Nietzsche nicht selbst gezogen hat, kann in ihm einen Menschen
-sehen, der "mit einer gewissen stilistischen Wollust zu enthüllen
-den Mut gefunden hat, was bisher etwa im geheimsten Seelengrunde
-grandioser Verbrechertypen .... verborgen gelauert haben mag"
-(Ludwig Stein, Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren
-S. 5). Noch immer ist die Durchschnittsbildung eines deutschen
-Professors nicht so weit, das Große einer Persönlichkeit von deren
-kleinen Irrtümern abzutrennen. Sonst könnte man es nicht erleben,
-daß die Kritik eines solchen Professors gerade gegen diese kleinen
-Irrtümer sich richtet. Ich denke, wahrhafte Bildung nimmt das Große
-einer Persönlichkeit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt
-halbfertige Gedanken zu Ende.
-
-
-
-
-
-
-
-
-III.
-
-NIETZSCHES ENTWICKELUNGSGANG.
-
-
-30.
-
-Ich habe Nietzsches Ansichten vom Übermenschen so dargestellt, wie
-sie uns in seinen letzten Schriften: Zarathustra (1883-1884), Jenseits
-von Gut und Böse (1886), Genealogie der Moral (1887), Der Fall Wagner
-(1888), Götzendämmerung (1889) entgegentreten. In dem unvollendet
-gebliebenen Werke: "Der Wille zur Macht", Versuch einer Umwertung aller
-Werte, dessen erster Teil "Antichrist" im 8. Bande der Gesamtausgabe
-erschienen ist, hätten sie wohl ihren philosophisch prägnantesten
-Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im Anhange zu dem erwähnten
-Band abgedruckt ist, ist das deutlich zu erkennen. Sie heißt: 1. Der
-Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. 2. Der freie
-Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. 3. Der
-Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit,
-der Moral. 4. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.
-
-Nietzsche hat seine Gedanken nicht sogleich im Beginne seiner
-schriftstellerischen Laufbahn in der ihnen ureigensten Form zum
-Ausdruck gebracht. Er stand anfangs unter dem Einflusse des deutschen
-Idealismus, namentlich in der Form, in der ihn Schopenhauer und
-Richard Wagner vertreten haben. In Schopenhauerschen und Wagnerschen
-Formeln drückt er sich in seinen ersten Schriften aus. Wer aber durch
-dieses Formelwesen hindurch auf den Kern der Nietzscheschen Gedanken
-zu blicken vermag, der findet in diesen Schriften dieselben Absichten
-und Ziele, die in den späteren Werken zum Ausdruck kommen.
-
-Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht sprechen, ohne an den
-freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche Menschheit
-hervorgebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige Wahrheit,
-daß dieser Denker, der im vollsten Sinne dem entspricht, was Nietzsche
-von dem Übermenschen fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt
-worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts
-Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings nicht in solch
-gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in krystallklaren
-Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie
-ein bloßes Stammeln ausnehmen.
-
-Welchen Weg hätte Nietzsche genommen, wenn nicht Schopenhauer, sondern
-Max Stirner sein Erzieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist
-keinerlei Einfluß Stirners zu bemerken. Aus eigener Kraft mußte sich
-Nietzsche aus dem deutschen Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen
-gleichen Weltauffassung durchringen.
-
-Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, das die Triebkräfte
-des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, wirklichen
-Persönlichkeit gesucht werden können. Er lehnt alle Gewalten ab,
-die die Einzelpersönlichkeit von außen formen, bestimmen wollen. Er
-verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet den Grundirrtum der
-bisherigen Menschheit darin, daß sie nicht die Pflege und Kultur
-der individuellen Persönlichkeit, sondern andere, unpersönliche
-Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des
-Menschen darin, daß dieser allen solchen Zielen keine höhere Realität
-zugesteht, sondern sich dieser Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege
-bedient. Der freie Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt
-seine Ideale; er läßt sich nicht von ihnen besitzen. Der Mensch,
-der nicht als freie Persönlichkeit über seinen Idealen waltet, steht
-unter dem Einflusse derselben, wie der Irrsinnige, der an fixen Ideen
-leidet. Es ist für Stirner einerlei, ob sich der Mensch einbildet,
-der "König von China", oder ob "ein behaglicher Bürger sich einbildet,
-es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant,
-ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein --
-das ist beides ein und dieselbe 'fixe Idee'. Wer es nie versucht
-und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein
-tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein, der ist in der Gläubigkeit,
-Tugendhaftigkeit u. s. w. gefangen und befangen."
-
-Man braucht nur einige Sätze aus Stirners Buch: "Der Einzige und sein
-Eigentum" zu lesen, um zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der
-Nietzscheschen ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche an,
-die besonders bezeichnend für Stirners Denkweise sind.
-
-"Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein entgegengesetztes
-Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren,
-jene sucht den "heiligen Geist", diese den "verklärten Leib". Daher
-schließt jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der
-"Weltverachtung"; diese wird mit der Abwerfung des Idealen, mit der
-"Geistesverachtung" enden.
-
-Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht
-(die Waschungen u. s. w.), so geht der der Verleiblichung durch die
-christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will
-sie erlösen, d. h. mit sich erfüllen; da er aber "die Idee" oder "der
-Geist" ist, so führt man (z. B. Hegel) am Schlusse die Idee in alles,
-in die Welt, ein und beweist, "daß die Idee, die Vernunft in allem
-sei". Dem, was die heidnischen Stoiker als "den Weisen" aufstellten,
-entspricht in der heutigen Bildung "der Mensch", jener wie dieser
-ein fleischloses Wesen. Der unwirkliche "Weise", dieser leiblose
-"Heilige" der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher
-"Heiliger" in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche "Mensch",
-das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.
-
-Daß der Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen
-Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht über das Christliche
-hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie
-die Geschichte Christi oder "des Menschen" ist; dem Egoisten hat
-nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht
-die Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der
-Vorsehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht für ein
-Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf
-an, er wähnt nicht, zur Fortentwickelung der Menschheit dazusein,
-und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich
-aus, unbesorgt darum, wie gut oder wie schlecht die Menschheit
-dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverständnis zu, als sollte ein
-Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus "Drei Zigeuner"
-erinnern. -- Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um
-etwa zur Verwirklichung der Idee "Staat" durch mein Bürgertum das
-Meinige zu thun oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee
-der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht mich ein solcher
-Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach
-einem Berufe wächst und duftet.
-
-Das Ideal "der Mensch" ist realisiert, wenn die christliche
-Anschauung umschlägt in den Satz: "Ich, dieser Einzige, bin der
-Mensch." Die Begriffsfrage: "was ist der Mensch?" -- hat sich dann
-in die persönliche umgesetzt: "wer ist der Mensch?" Bei "was" suchte
-man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei "wer" ist's überhaupt
-keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich
-vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.
-
-Man sagt von Gott: "Namen nennen Dich nicht". Das gilt von Mir: kein
-Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angiebt,
-erschöpft mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott,
-er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu
-streben. Auch das gilt allein von Mir.
-
-Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich
-als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein
-schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere
-Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl
-meiner Einzigkeit und erbleicht vor der Sonne dieses Bewußtseins:
-Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf
-dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst
-verzehrt, und Ich darf sagen:
-
-"Ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt."
-
-Dieser auf sich sich selbst gestellte, nur aus sich heraus schaffende
-Eigner ist Nietzsches Übermensch.
-
-
-
-
-31.
-
-Diese Stirnerschen Gedanken wären das geeignete Gefäß gewesen, in das
-Nietzsche sein reiches Empfindungsleben hätte gießen können. Statt
-dessen suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, auf der
-er zu seiner Gedankenwelt hinaufkletterte.
-
-Aus zwei Wurzeln stammt, nach Schopenhauers Meinung, unsere gesamte
-Welterkenntnis. Aus dem Vorstellungsleben und aus der Wahrnehmung
-des Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt. Das "Ding
-an sich" liegt jenseits der Welt unserer Vorstellung. Denn die
-Vorstellung ist nur die Wirkung, die das "Ding an sich" auf mein
-Erkenntnisorgan ausübt. Nur die Eindrücke kenne ich, die die Dinge
-auf mich machen, nicht die Dinge selbst. Und diese Eindrücke sind
-eben meine Vorstellungen. Ich kenne keine Sonne und keine Erde,
-sondern nur ein Auge, das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine
-Erde fühlt. Der Mensch weiß nur: "daß die Welt, welche ihn umgiebt,
-nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein
-anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist". (Schopenhauer, Welt
-als Wille und Vorstellung § 1.) Aber der Mensch stellt die Welt nicht
-bloß vor, sondern er wirkt auch in ihr; er wird sich seines Willens
-bewußt, und er erfährt, daß dasjenige, welches er in sich als Wille
-empfindet, von außen als Bewegung seines Leibes wahrgenommen werden
-kann, d. h. der Mensch nimmt sein eigenes Wirken doppelt wahr, von
-innen als Vorstellung, von außen als Wille. Schopenhauer schließt
-daraus, daß es der Wille selbst ist, der in der wahrgenommenen
-Leibesaktion als Vorstellung erscheint. Und er behauptet dann weiter,
-daß nicht nur der Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen
-ein Wille zu Grunde liege, sondern daß dies auch bei allen übrigen
-Vorstellungen der Fall sei. Die ganze Welt ist also, nach Schopenhauers
-Ansicht, dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt als
-Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopenhauer weiter, ist in
-allen Dingen ein einheitlicher. Nur unser Intellekt verursacht,
-daß wir eine Mehrheit von besonderen Dingen wahrnehmen.
-
-Durch seinen Willen hängt der Mensch, nach dieser Anschauung, mit dem
-einheitlichen Weltwesen zusammen. Insofern der Mensch wirkt, wirkt in
-ihm der einheitliche Urwille. Als einzelne, besondere Persönlichkeit
-existiert der Mensch nur in seiner eigenen Vorstellung; im Wesen ist
-er identisch mit dem einheitlichen Weltengrunde.
-
-Nehmen wir an, daß in Nietzsche, als er die Schopenhauersche
-Philosophie kennen lernte, schon der Gedanke des Übermenschen unbewußt,
-instinktiv vorhanden war, so konnte ihn diese Willenslehre allerdings
-nur sympathisch berühren. In dem menschlichen Willen war ihm ein
-Element gegeben, das den Menschen unmittelbar an der Schöpfung des
-Weltinhaltes teilnehmen ließ. Als Wollender ist der Mensch nicht bloß
-ein außerhalb des Weltinhaltes stehender Zuschauer, der sich Bilder
-des Wirklichen macht, sondern er ist selbst ein Schaffender. In ihm
-waltet die göttliche Kraft, über die hinaus es keine andere giebt.
-
-
-
-
-32.
-
-Aus diesen Anschauungen heraus bildeten sich bei Nietzsche die beiden
-Ideen von der apollinischen und der dionysischen Weltbetrachtung. Sie
-wendete er auf das griechische Kunstleben an, das er demgemäß aus zwei
-Wurzeln entstehen ließ: aus einer Kunst des Vorstellens und einer Kunst
-des Wollens. Wenn der Vorstellende seine Vorstellungswelt idealisiert
-und seine idealisierten Vorstellungen in Kunstwerken verkörpert,
-so entsteht die apollinische Kunst. Er verleiht den einzelnen
-Vorstellungsobjekten dadurch, daß er ihnen die Schönheit einprägt,
-den Schein des Ewigen. Aber er bleibt innerhalb der Vorstellungswelt
-stehen. Der dionysische Künstler sucht nicht nur in seinen Kunstwerken
-die Schönheit auszudrücken, sondern er ahmt selbst das schöpferische
-Wirken des Weltwillens nach. Er sucht in seinen eigenen Bewegungen
-den Weltgeist abzubilden. Er macht sich zur sichtbaren Verkörperung
-des Willens. Er wird selbst Kunstwerk. "Singend und tanzend äußert
-sich der Mensch als Mitglied einer höhern Gemeinschaft: er hat das
-Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die
-Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung"
-(Geburt der Tragödie § 1). In diesem Zustande vergißt der Mensch sich
-selbst, er fühlt sich nicht mehr als Individuum, er läßt in sich den
-allgemeinen Weltwillen walten. In dieser Weise deutet Nietzsche die
-Feste, die zu Ehren des Gottes Dionysus durch die Dionysusdiener
-veranstaltet wurden. In dem Dionysusdiener sieht Nietzsche das
-Urbild des dionysischen Künstlers. Nun stellt er sich vor, daß
-die älteste dramatische Kunst der Griechen dadurch entstanden ist,
-daß eine höhere Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen
-sich vollzogen hat. Auf diese Weise erklärt er den Ursprung der
-ersten griechischen Tragödie. Er nimmt an, daß die Tragödie aus dem
-tragischen Chore entstanden ist. Der dionysische Mensch wird zum
-Zuschauer, zum Betrachter eines Bildes, das ihn selbst darstellt. Der
-Chor ist die Selbstspiegelung eines dionysisch erregten Menschen,
-d. h. der dionysische Mensch sieht seine dionysische Erregung durch ein
-apollinisches Kunstwerk abgebildet. Die Darstellung des Dionysischen
-im apollinischen Bilde ist die primitive Tragödie. Voraussetzung
-einer solchen Tragödie ist, daß in ihrem Schöpfer ein lebendiges
-Bewußtsein von dem Zusammenhang des Menschen mit den Urgewalten
-der Welt vorhanden ist. Ein solches Bewußtsein spricht sich als
-Mythus aus. Das Mythische muß der Gegenstand der ältesten Tragödie
-sein. Tritt nun in der Entwickelung eines Volkes der Zeitpunkt ein, wo
-der zersetzende Verstand das lebendige Gefühl für den Mythus zerstört,
-so ist der Tod des Tragischen die notwendige Folge.
-
-
-
-
-33.
-
-In der Entwickelung des Griechentums trat, nach Nietzsches Meinung,
-mit Sokrates dieser Zeitpunkt ein. Sokrates war ein Feind alles
-instinktiven, mit den Naturgewalten im Bunde stehenden Lebens. Er ließ
-nur dasjenige gelten, was der Verstand denkend zu beweisen vermag,
-was lehrbar ist. Damit war dem Mythus der Krieg erklärt. Und der von
-Nietzsche als Schüler des Sokrates bezeichnete Euripides zerstörte
-die Tragödie, weil sein Schaffen nicht mehr, wie das des Äschylos,
-aus den dionysischen Instinkten, sondern aus dem kritischen Verstande
-entsprang. Statt der Nachbildung der Willensbewegungen des Weltgeistes
-findet sich bei Euripides die verständige Verknüpfung einzelner
-Vorgänge innerhalb der tragischen Handlung.
-
-Ich frage nicht nach der historischen Rechtfertigung dieser
-Nietzscheschen Ideen. Er ist ihretwegen von einem klassischen
-Philologen scharf angegriffen worden. Nietzsches Beschreibung der
-griechischen Kultur läßt sich vergleichen mit der Schilderung, die ein
-Mensch von einer Landschaft giebt, die er von dem Gipfel eines Berges
-aus betrachtet; eine philologische Darstellung mit einer Beschreibung,
-die der Wanderer giebt, der jedes einzelne Fleckchen besucht. Von
-dem Berge aus verschiebt sich manches eben nach den Gesetzen der Optik.
-
-
-
-
-34.
-
-Was hier in Betracht kommt, ist die Frage: was für eine Aufgabe stellte
-sich Nietzsche in seiner "Geburt der Tragödie"? Nietzsche ist der
-Ansicht, daß die älteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut
-gekannt haben. "Es geht die alte Sage, daß König Midas lange Zeit
-nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt
-habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen
-ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und
-Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon,
-bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen
-in diese Worte ausbricht: "Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls
-Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht
-zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich
-gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu
-sein. Das Zweitbeste aber ist für dich -- bald zu sterben" (Geburt der
-Tragödie § 3). In dieser Sage findet Nietzsche eine Grundempfindung
-der Griechen ausgedrückt. Er hält es für eine Oberflächlichkeit,
-wenn man die Griechen als das beständig heitere, kindlich tändelnde
-Volk hinstellt. Aus der tragischen Grundempfindung heraus mußte den
-Griechen der Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Dasein
-erträglich wird. Sie suchten nach einer Rechtfertigung des Daseins --
-und fanden diese in ihrer Götterwelt und in der Kunst. Nur durch das
-Gegenbild der olympischen Götter und der Kunst wurde den Griechen
-die rauhe Wirklichkeit erträglich. Die Grundfrage in der "Geburt der
-Tragödie" ist also für Nietzsche: Inwiefern ist die griechische Kunst
-lebenfördernd, lebenerhaltend gewesen? Nietzsches Grundinstinkt macht
-sich somit in Bezug auf die Kunst als lebenfördernde Macht schon in
-diesem ersten Werke geltend.
-
-
-
-
-35.
-
-Noch ein anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in diesem Werke
-schon zu beobachten. Es ist die Abneigung gegen die bloß logischen
-Geister, deren Persönlichkeit vollständig unter der Herrschaft ihres
-Verstandes steht. Aus dieser Abneigung stammt Nietzsches Meinung,
-daß der sokratische Geist der Zerstörer der griechischen Kultur
-ist. Das Logische gilt Nietzsche nur als eine Form, in der sich
-die Persönlichkeit äußert. Wenn zu dieser Form nicht noch andere
-Äußerungsweisen treten, so erscheint die Persönlichkeit als Krüppel,
-als Organismus, an dem notwendige Organe verstümmelt sind. Weil
-Nietzsche in Kants Schriften nur den grübelnden Verstand entdecken
-konnte, nennt er Kant einen "verwachsenen Begriffskrüppel". Nur
-wenn die Logik der Ausdruck für die tieferen Grundinstinkte einer
-Persönlichkeit ist, läßt sie Nietzsche gelten. Sie muß ein Ausfluß
-des Über-Logischen in der Persönlichkeit sein. Nietzsche hat an der
-Ablehnung des sokratischen Geistes immer festgehalten. Wir lesen in
-der Götzendämmerung: "Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu
-Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird
-ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
-oben auf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die
-dialektischen Manieren ab; sie galten als schlechte Manieren,
-sie stellten bloß" (Problem des Sokrates § 5). Wo nicht kräftige
-Grundinstinkte für eine Sache sprechen, da tritt der beweisende
-Verstand ein und sucht sie durch Advokatenkünste zu stützen.
-
-
-
-
-36.
-
-Einen Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte Nietzsche in
-Richard Wagner zu erkennen. Er hat aus diesem Glauben heraus die
-vierte seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen": "Richard Wagner in
-Bayreuth", 1875, geschrieben. Er hielt in dieser Zeit noch an der
-Deutung des dionysischen Geistes fest, die er sich in Gemäßheit
-der Schopenhauerschen Philosophie gebildet hatte. Er glaubte noch,
-daß die Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung sei und jenseits
-dieser Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in Form des Urwillens
-liege. Und der schaffende dionysische Geist war ihm noch nicht der
-aus sich heraus schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in
-dem Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden Urwillens, von
-einem an diesen Urwillen hingegebenen dionysischen Geiste geschaffen,
-waren ihm Wagners Musikdramen.
-
-Und da Schopenhauer in der Musik ein unmittelbares Abbild des Willens
-sah, so glaubte auch Nietzsche in der Musik das beste Ausdrucksmittel
-für einen dionysisch schaffenden Geist sehen zu sollen. Die Sprache
-der civilisierten Völker schien ihm erkrankt. Sie kann nicht mehr der
-schlichte Ausdruck der Gefühle sein, denn die Worte mußten allmählich
-immer mehr dazu verwendet werden, der Ausdruck für die zunehmende
-Verstandesbildung der Menschen zu werden. Dadurch aber ist die
-Bedeutung der Worte abstrakt, arm geworden. Sie können nicht mehr
-ausdrücken, was der aus dem Urwillen heraus schaffende dionysische
-Geist empfindet. Dieser kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr
-aussprechen. Er muß andere Ausdrucksmittel, vor allem die Musik, aber
-auch die anderen Künste zu Hilfe rufen. Der dionysische Geist wird
-zum dithyrambischen Dramatiker, "diesen Begriff so voll genommen, daß
-er zugleich den Schauspieler, Dichter, Musiker umfaßt". "Wie man sich
-nun auch die Entwickelung des Urdramatikers vorstellen möge, in seiner
-Reife und Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede Hemmung und Lücke:
-der eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders kann, als in allen
-Künsten zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen scheinbar
-getrennten Sphären, der Wiederhersteller einer Ein- und Gesamtheit des
-künstlerischen Vermögens, welches gar nicht erraten und erschlossen,
-sondern nur durch die That gezeigt werden kann" (Richard Wagner in
-Bayreuth § 7). Als dionysischen Geist verehrte Nietzsche Richard
-Wagner. Und nur in dem von Nietzsche in der eben genannten Schrift
-angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist bezeichnet
-werden. Seine Instinkte sind auf das Jenseits gerichtet; er will
-die Stimme des Jenseits durch seine Musik erklingen lassen. Ich habe
-bereits (S. 81 f.) darauf hingewiesen, daß sich Nietzsche später selbst
-fand und imstande war, seine auf das Diesseits gerichteten Instinkte
-in ihrer Eigenart zu erkennen. Er hatte ursprünglich die Wagnersche
-Kunst mißverstanden, weil er sich selbst mißverstanden hatte, weil
-er seine Instinkte durch die Schopenhauersche Philosophie hatte
-tyrannisieren lassen. Wie ein Krankheitsprozeß erschien ihm später
-diese Unterordnung seiner Instinkte unter eine fremde Geistesmacht. Er
-fand, daß er auf seine Instinkte nicht gehört hatte und sich durch
-eine ihm unangemessene Meinung hatte verführen lassen, eine Kunst auf
-diese Instinkte wirken lassen, die ihnen nur zum Nachteil gereichen
-konnte, die sie krank machen mußte.
-
-
-
-
-37.
-
-Nietzsche hat den Einfluß, den die seinen Grundtrieben widersprechende
-Schopenhauersche Philosophie auf ihn genommen, selbst geschildert
-in seiner dritten "Unzeitgemäßen Betrachtung", "Schopenhauer als
-Erzieher" (1873), zu einer Zeit, als er noch an diese Philosophie
-glaubte. Nietzsche suchte einen Erzieher. Der rechte Erzieher kann nur
-der sein, der auf den zu Erziehenden so wirkt, daß dessen innerster
-Wesenskern sich aus der Persönlichkeit heraus entwickelt. Auf jeden
-Menschen wirkt seine Zeit mit ihren Kulturmitteln ein. Er nimmt auf,
-was die Zeit an Bildungsstoff bietet. Aber es frägt sich, wie er sich
-inmitten dieses von außen auf ihn Eindringenden selbst finden kann;
-wie er das aus sich herausspinnen kann, was er und nur er und kein
-anderer sein kann. "Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören
-will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge
-seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ""sei du selbst! Das bist du
-alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst"", so spricht
-der Mensch zu sich, der eines Tages findet, daß er sich immer nur
-damit begnügt hat, Bildungsstoff von außen aufzunehmen (Schopenhauer
-als Erzieher § 1). Nietzsche fand sich selbst, wenn auch zunächst
-noch nicht in seiner ihm ureigensten Gestalt, durch das Studium der
-Schopenhauerschen Philosophie. Nietzsche strebte unbewußt danach,
-einfach und ehrlich seinen Grundtrieben gemäß sich auszusprechen. Er
-fand um sich nur Menschen, die in den Bildungsformeln der Zeit sich
-ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch diese Formeln verhüllten. In
-Schopenhauer fand Nietzsche aber einen Menschen, der den Mut hatte,
-seine persönlichen Empfindungen der Welt gegenüber zum Inhalte seiner
-Philosophie zu machen: "Das kräftige Wohlgefühl des Sprechenden"
-umfing Nietzsche beim ersten Lesen von Schopenhauers Sätzen. "Hier
-ist eine immer gleichartige, stärkende Luft, so fühlen wir; hier ist
-eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlichkeit, wie sie
-Menschen haben, die in sich zu Hause und zwar in einem sehr reichen
-Hause Herren sind: im Gegensatze zu jenen Schriftstellern, die sich am
-meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren, und deren Vortrag
-dadurch etwas Unruhiges und Naturwidriges bekommt." "Schopenhauer
-redet mit sich; oder wenn man sich durchaus einen Zuhörer denken
-will, so denke man sich den Sohn, den der Vater unterweist. Es ist
-ein redliches, derbes, gutmütiges Aussprechen vor einem Hörer, der
-mit Liebe hört" (Schopenhauer § 2). Daß er einen Menschen, der sich
-seinen innersten Instinkten gemäß ausspricht, reden hörte, das war es,
-was Nietzsche zu Schopenhauer hinzog.
-
-Nietzsche sah in Schopenhauer eine starke Persönlichkeit, die nicht
-durch die Philosophie in einen bloßen Verstandesmenschen umgewandelt
-wird, sondern die das Logische nur zum Ausdrucke des Überlogischen,
-des Instinktiven in sich macht. "Die Sehnsucht nach starker Natur, nach
-gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich
-selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, mußte er auch,
-mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken" (Schopenhauer §
-3). In Nietzsches Geist arbeitete schon damals das Streben nach der
-Idee des Übermenschen, der sich selbst sucht, als den Sinn seines
-Daseins, und einen solchen Suchenden fand er in Schopenhauer. In
-solchen Menschen sieht er den Zweck und zwar den einzigen Zweck des
-Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem Ziele angekommen
-zu sein, wenn sie einen solchen Menschen hervorgebracht hat. "Die
-Natur, die nie springt, macht hier ihren einzigen Sprung und zwar
-einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum erstenmal am Ziele,
-dort nämlich, wo sie begreift, daß sie verlernen müsse, Ziele zu
-haben." (Schopenh. § 5.) In diesem Satze liegt der Keim zur Konzeption
-des Übermenschen. Nietzsche wollte, als er diesen Satz niederschrieb,
-schon genau dasselbe, was er später mit seinem Zarathustra wollte;
-aber ihm fehlte noch die Kraft, dieses Wollen in einer eigenen Sprache
-auszusprechen. Er sah schon, als er sein Schopenhauerbuch schrieb,
-den Grundgedanken der Kultur in der Erzeugung des Übermenschen.
-
-
-
-
-38.
-
-In der Entwickelung der persönlichen Instinkte der Einzelmenschen sieht
-also Nietzsche das Ziel aller menschlichen Entwickelung. Was dieser
-Entwickelung entgegenarbeitet, erscheint ihm als die eigentlichste
-Versündigung an der Menschheit. Es giebt aber etwas im Menschen, das
-auf ganz natürliche Weise seiner freien Entwickelung widerstrebt. Der
-Mensch läßt sich nicht allein durch die in jedem einzelnen Augenblicke
-in ihm thätigen Triebe bestimmen, sondern auch durch alles das, was
-in seinem Gedächtnisse sich angesammelt hat. Der Mensch erinnert
-sich an seine eigenen Erlebnisse, er sucht sich ein Bewußtsein
-der Erlebnisse seines Volkes, Stammes, ja der ganzen Menschheit
-durch den Betrieb der Geschichte zu verschaffen. Der Mensch ist ein
-historisches Wesen. Die Tiere leben unhistorisch; sie folgen den
-Trieben, die in dem einzelnen Augenblicke in ihnen wirken. Der Mensch
-läßt sich durch seine Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas
-unternehmen will, frägt er sich: welche Erfahrungen habe ich oder ein
-anderer mit einem ähnlichen Unternehmen schon gemacht? Der Antrieb zu
-einer Handlung kann durch die Erinnerung an ein Erlebnis vollständig
-abgetötet werden. Für Nietzsche entsteht aus der Beobachtung dieser
-Thatsache die Frage: inwiefern wirkt das Erinnerungsvermögen des
-Menschen auf sein Leben fördernd, und inwiefern wirkt es nachteilig
-ein? Die Erinnerung, die auch Dinge zu umfassen sucht, die der Mensch
-nicht selbst erlebt hat, lebt als historischer Sinn, als Studium des
-Vergangenen in dem Menschen. Nietzsche fragt: inwiefern wirkt der
-historische Sinn lebenfördernd? Die Antwort auf diese Frage sucht er
-zu geben in seiner zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung": "Vom Nutzen
-und Nachteil der Historie für das Leben" (1843). Die Veranlassung zu
-dieser Schrift war Nietzsches Wahrnehmung, daß der historische Sinn bei
-seinen Zeitgenossen, namentlich bei den Gelehrten unter denselben, ein
-hervorstechendes Charaktermerkmal geworden war. Die Vertiefung in die
-Vergangenheit fand Nietzsche überall gepriesen. Nur durch Erkenntnis
-der Vergangenheit soll der Mensch imstande sein, zu unterscheiden,
-was ihm möglich, was ihm unmöglich ist: dieses Glaubensbekenntnis
-drang ihm in die Ohren. Nur wer weiß, wie sich ein Volk entwickelt
-hat, kann ermessen, was für seine Zukunft förderlich ist: diesen Ruf
-hörte Nietzsche. Ja selbst die Philosophen wollten nicht mehr Neues
-erdenken, sondern lieber die Gedanken ihrer Vorfahren studieren. Dieser
-historische Sinn wirkt lähmend auf das gegenwärtige Schaffen. Wer bei
-jedem Impuls, der sich in ihm regt, erst zu bestimmen sucht, wozu ein
-ähnlicher Impuls in der Vergangenheit geführt hat, in dem erschlaffen
-die Kräfte, bevor sie gewirkt haben. "Denkt euch das äußerste Beispiel,
-einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der
-verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht
-mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in
-bewegte Punkte auseinander fließen und verliert sich in diesem Strome
-des Werdens. ... Zu allem Handeln gehört Vergessen, wie zum Leben alles
-Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch,
-der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich,
-der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen wäre, oder dem Tiere,
-das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen fortleben
-sollte" (Historie § 1). Nietzsche ist der Meinung, daß der Mensch nur
-so viel Geschichte vertragen kann, als dem Maße seiner schöpferischen
-Kräfte entspricht. Die starke Persönlichkeit führt ihre Intentionen
-aus, trotzdem sie sich an die Erlebnisse der Vergangenheit erinnert,
-ja sie wird vielleicht gerade durch die Erinnerung an diese Erlebnisse
-eine Stärkung ihrer Kraft erfahren. Die Kräfte des schwachen Menschen
-aber werden durch den historischen Sinn ausgelöscht. Um den Grad
-zu bestimmen und durch ihn dann die Grenze, "an der das Vergangene
-vergessen werden muß, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen
-werden soll, müßte man genau wissen, wie groß die plastische Kraft
-eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist, ich meine jene Kraft,
-aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes
-umzubilden und einzuverleiben" (Historie § 1).
-
-Nietzsche ist der Ansicht, daß das Historische nur insofern
-gepflegt werden soll, als es für die Gesundheit eines Einzelnen,
-eines Volkes oder einer Kultur nötig ist. Worauf es ihm ankommt,
-ist: "besser lernen, Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben"
-(Historie § 1). Er spricht dem Menschen das Recht zu, die Geschichte
-so zu treiben, daß sie möglichst zur Förderung der Antriebe einer
-bestimmten Gegenwart wirkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist er
-ein Gegner jener Geschichtsbetrachtung, die nur in der "historischen
-Objektivität" ihr Heil sucht, die nur sehen und erzählen will, wie es
-in der Vergangenheit "thatsächlich" zugegangen ist, die nur die "reine,
-folgenlose" Erkenntnis oder deutlicher "die Wahrheit, bei der nichts
-herauskommt", sucht (Historie § 6). Eine solche Betrachtung kann nur
-aus einer schwachen Persönlichkeit entspringen, deren Empfindungen
-nicht flut- und ebbeartig auf- und abwogen, wenn sie den Strom der
-Ereignisse an sich vorübergehen sieht. Eine solche Persönlichkeit
-"ist zum nachtönenden Passivum geworden, das durch sein Ertönen
-wieder auf andere derartige Passiva wirkt: bis endlich die ganze
-Luft einer Zeit von solchen durcheinander schwirrenden zarten und
-verwandten Nachklängen erfüllt ist." (Historie § 6.) Daß aber eine
-solche schwache Persönlichkeit wirklich die Kräfte nachempfinden
-kann, die in den Menschen der Vergangenheit gewaltet haben, glaubt
-Nietzsche nicht: "Doch scheint es mir, daß man gleichsam nur die
-Obertöne jedes originalen und geschichtlichen Haupttons vernimmt:
-das Derbe und Mächtige des Originals ist aus dem sphärisch-dünnen
-und spitzen Saitenklange nicht mehr zu erraten. Dafür weckte der
-Originalton meistens Thaten, Nöte, Schrecken, dieser lullt uns
-ein und macht uns zu weichlichen Genießern; es ist, als ob man die
-heroische Symphonie für zwei Flöten eingerichtet und zum Gebrauch
-von träumenden Opiumrauchern bestimmt habe." (Historie § 6.) Nur der
-kann die Vergangenheit wirklich verstehen, der auch in der Gegenwart
-machtvoll lebt, der kräftige Instinkte hat, durch die er die Instinkte
-der Vorfahren erraten und erschließen kann. Dieser kümmert sich
-weniger um das Thatsächliche, als um das, was aus den Thatsachen
-sich erraten läßt. "Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die
-keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch
-im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch machen
-dürfte." (Historie § 6.) Der Meister einer solchen Geschichtsschreibung
-wäre der, der überall in den historischen Personen und Ereignissen
-das aufsuchte, was hinter dem bloß Thatsächlichen steckt. Dazu muß
-er aber ein mächtiges Eigenleben führen, denn Instinkte und Triebe
-kann man unmittelbar nur an der eigenen Person beobachten. "Nur aus
-der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur
-in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr
-erraten, was in dem Vergangenen wissens- und bewahrenswürdig und groß
-ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch
-nieder." "Alle Geschichte schreibt der Erfahrene und Überlegene. Wer
-nicht einiges größer und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts
-Großes und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen." (Historie
-§ 6.)
-
-Dem Überhandnehmen des historischen Sinnes in der Gegenwart gegenüber
-macht Nietzsche geltend, "daß der Mensch vor allem zu leben lerne, und
-nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche". (Historie
-§ 10.) Er will vor allen Dingen eine "Gesundheitslehre des Lebens",
-und die Historie soll nur insoweit getrieben werden, als sie einer
-solchen Gesundheitslehre förderlich ist.
-
-Was ist an der Geschichtsbetrachtung lebenfördernd? Diese Frage stellt
-Nietzsche in seiner "Historie", und er steht damit bereits auf dem
-Boden, den er in dem S. 9 f. angeführten Satz aus "Jenseits von Gut
-und Böse" bezeichnet.
-
-
-
-
-39.
-
-In besonders starkem Grade wirkt der gesunden Entwickelung der
-Eigenpersönlichkeit jene Gesinnung entgegen, die in dem bürgerlichen
-Philister zur Erscheinung kommt. Ein Philister ist der Gegensatz zu
-einem Menschen, der in dem freien Ausleben seiner Anlagen Befriedigung
-findet. Der Philister will dieses Ausleben nur insoweit gelten
-lassen, als es einem gewissen Durchschnittsmaß der menschlichen
-Begabung entspricht. So lange der Philister innerhalb seiner Grenzen
-bleibt, ist gegen ihn nichts einzuwenden. Wer ein Durchschnittsmensch
-bleiben will, der hat das mit sich abzumachen. Nietzsche fand unter
-seinen Zeitgenossen solche, die ihre philisterhafte Gesinnung
-zur Normalgesinnung für alle Menschen machen wollten, die ihre
-Philisterhaftigkeit als das einzige, wahre Menschentum ansahen. Zu
-ihnen rechnet er Dav. Friedr. Strauß, den Ästhetiker Friedr. Theodor
-Vischer u. A. Vischer, glaubt er, habe das Philisterbekenntnis
-unumwunden abgelegt in einer Rede, die er zum Andenken Hölderlins
-gehalten hat. Er sieht es in den Worten: "Er (Hölderlin) war
-eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands,
-ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und
-Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Leben, Fülle und
-Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur
-hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der
-Humor; er konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist,
-wenn man ein Philister ist." (David Strauß § 2.) Der Philister will
-hervorragenden Menschen nicht geradezu die Existenzberechtigung
-absprechen; aber er meint: sie gehen an der Wirklichkeit zu Grunde,
-wenn sie sich nicht abzufinden wissen mit den Einrichtungen, die
-der Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen entsprechend geschaffen
-hat. Diese Einrichtungen seien einmal das Einzige, was wirklich,
-was vernünftig ist, und in sie müsse sich auch der große Mensch
-fügen. Aus dieser Philistergesinnung heraus hat David Strauß sein Buch
-"Der alte und der neue Glaube" geschrieben. Gegen dieses Buch oder
-vielmehr gegen die in ihm zum Ausdruck gekommene Gesinnung wendet
-sich die erste der Nietzscheschen "Unzeitgemäßen Betrachtungen":
-"David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller" (1873). Der Eindruck
-der neueren naturwissenschaftlichen Errungenschaften auf den Philister
-ist ein solcher, daß er sagt: "Der christliche Ausblick auf ein
-unsterbliches, himmlisches Leben ist, samt den andern Tröstungen
-der christlichen Religion, unrettbar dahingefallen." (David Strauß §
-4.) Er will sich das Leben auf der Erde gemäß den Vorstellungen der
-Naturwissenschaft behaglich, d. h. so behaglich, wie es dem Philister
-entspricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man glücklich
-und zufrieden sein kann, trotzdem man weiß, daß kein höherer Geist
-über den Sternen waltet, sondern die starren, gefühllosen Kräfte der
-Natur über alles Weltgeschehen herrschen. "Wir haben während der
-letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem großen nationalen
-Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir finden uns
-durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unserer
-vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständnis dieser
-Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst
-einer Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke
-auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere
-Naturerkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen
-Hülfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in
-den Schriften unserer großen Dichter, bei den Aufführungen der
-Werke unserer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für
-Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig läßt. So leben wir,
-so wandeln wir beglückt." (Strauß, Der alte und neue Glaube § 88.)
-
-Es ist das Evangelium des trivialsten Lebensgenusses, das aus diesen
-Worten spricht. Alles, was über das Triviale hinausgeht, nennt der
-Philister ungesund. Strauß sagt von der "Neunten Symphonie" Beethovens,
-daß diese nur bei denen beliebt sei, welchen "das Barocke als das
-Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt" (Der alte und neue
-Glaube § 109); von Schopenhauer weiß der Messias des Philistertums
-zu verkünden, daß man an eine so "ungesunde und unersprießliche"
-Philosophie wie die Schopenhauersche keine Gründe, sondern höchstens
-nur Worte und Scherze verschwenden dürfe. (David Strauß § 6.) Gesund
-nennt der Philister nur das, was der Durchschnittsbildung entspricht.
-
-Als sittliches Urgebot stellt Strauß den Satz auf: "Alles sittliche
-Handeln ist ein Sichbestimmen des Einzelnen, nach der Idee der
-Gattung." (Der alte und neue Glaube § 74.) Nietzsche erwidert
-darauf: "Ins Deutliche und Greifbare übertragen heißt das nur:
-lebe als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser Imperativ
-ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraftlos, weil unter dem
-Begriff Mensch das Mannigfaltigste zusammen im Joche geht, z. B. der
-Patagonier und der Magister Strauß, und weil niemand wagen wird,
-mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: lebe als
-Magister Strauß!" (Dav. Strauß § 7.)
-
-Es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal jämmerlichster Art, das Strauß
-den Menschen vorsetzen will. Und Nietzsche protestiert dagegen; er
-protestiert, weil in ihm ein lebhafter Instinkt ruft: lebe nicht,
-wie der Magister Strauß, sondern lebe, wie es dir angemessen ist!
-
-
-
-
-40.
-
-Erst in der Schrift: "Menschliches, Allzumenschliches" (1878) erscheint
-Nietzsche frei von dem Einflusse der Schopenhauerschen Denkweise. Er
-hat es aufgegeben, übernatürliche Ursachen für die natürlichen
-Ereignisse zu suchen; er strebt nach natürlichen Erklärungsgründen. Er
-sieht jetzt alles Menschenleben als eine Art natürlichen Geschehens an;
-in dem Menschen sieht er das höchste Naturprodukt. Man lebt "zuletzt
-unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe,
-Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem
-man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und
-würde die Anstachelung des Gedankens, daß man nicht nur Natur oder mehr
-als Natur sei, nicht weiter empfinden ..... es muß ein Mensch, von dem
-in solchem Maße die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind,
-daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf alles,
-ja fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und
-Verdruß verzichten können; ihm muß als der wünschenswerteste Zustand
-jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und
-den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen." (Menschliches I. §
-84.) Nietzsche hat bereits allen Glauben an Ideale aufgegeben; er sieht
-in den menschlichen Handlungen nur noch Folgen natürlicher Ursachen,
-und in dem Erkennen dieser Ursachen findet er seine Befriedigung. Er
-findet, daß man eine unrichtige Vorstellung von den Dingen bekommt,
-wenn man bloß das an ihnen sieht, was von dem Lichte der idealistischen
-Erkenntnis beleuchtet wird. Es entgeht einem dann das, was von den
-Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will jetzt nicht nur die Sonnen-,
-sondern auch die Schattenseite der Dinge kennen lernen. Aus diesem
-Streben ging die Schrift: "Der Wanderer und sein Schatten" hervor
-(1879). Er will in diesem Buche die Erscheinungen des Lebens von allen
-Seiten erfassen. Er ist "Wirklichkeitsphilosoph" im besten Sinne des
-Wortes geworden.
-
-In der "Morgenröte" (1881) schildert er den moralischen Prozeß in der
-Menschheitsentwickelung als einen Naturvorgang. Schon in dieser Schrift
-zeigt er, daß es keine überirdische sittliche Weltordnung, keine
-ewigen Gesetze des Guten und Bösen giebt, und daß alle Sittlichkeit
-entsprungen ist aus den in den Menschen waltenden natürlichen Trieben
-und Instinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den originellen
-Wandergang Nietzsches. Wenn keine außermenschliche Macht dem Menschen
-eine bindende Verpflichtung auferlegen kann, dann ist er berechtigt,
-das eigene Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis ist das
-Leitmotiv der "fröhlichen Wissenschaft" (1882). Keine Fessel ist nun
-dieser "freien" Erkenntnis Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich
-berufen, neue Werte zu schaffen, nachdem er den Ursprung der alten
-erkannt und gefunden hat, daß sie nur menschliche, keine göttlichen
-Werte sind. Er wagt es jetzt, das zu verwerfen, was seinen Instinkten
-widerspricht, und anderes an die Stelle zu setzen, was seinen
-Trieben gemäß ist: "Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen,
-wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft -- wir bedürfen zu
-einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen
-Gesundheit, einer stärkeren, gewitzteren, zäheren, verwegeneren,
-lästigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach
-dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten
-erlebt und alle Künste dieses idealischen "Mittelmeeres" umschifft zu
-haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrungen wissen will,
-wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Mute ist ... der
-hat zu allererst Eins nötig, die große Gesundheit .... Und nun,
-nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des
-Ideals, mutiger vielleicht, als klug ist ... will es uns scheinen,
-als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben
-.... Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem
-solchen Heißhunger in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen
-Menschen genügen lassen!" (Fröhliche Wissenschaft § 382.)
-
-
-
-
-41.
-
-Aus der in den vorstehenden Sätzen charakterisierten Stimmung heraus
-erwuchs Nietzsche das Bild seines Übermenschen. Es ist das Gegenbild
-des Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild des Christen. Im
-Christentum ist der Widerspruch gegen die Pflege des starken Lebens
-Religion geworden. (Antichrist § 5.) Der Stifter dieser Religion
-lehrte: daß vor Gott das verächtlich ist, was vor den Menschen
-Wert hat. In dem "Gottesreich" will der Christ alles verwirklicht
-finden, was ihm auf Erden mangelhaft erscheint. Das Christentum ist
-die Religion, die dem Menschen alle Sorge für das irdische Leben
-benehmen will; es ist die Religion der Schwachen, die sich gerne als
-Gebot vorsetzen lassen: "Widerstrebe nicht dem Bösen und dulde alles
-Ungemach", weil sie nicht stark genug sind zum Widerstande. Der Christ
-hat keinen Sinn für die vornehme Persönlichkeit, die aus ihrer eigenen
-Wirklichkeit ihre Kraft schöpfen will. Er glaubt, der Blick für das
-Menschenreich verderbe die Sehkraft für das Gottesreich. Auch die
-vorgeschritteneren Christen, die nicht mehr glauben, daß sie am Ende
-der Tage in ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen werden, um
-entweder in das Paradies aufgenommen oder in die Hölle verstoßen zu
-werden, träumen von "göttlicher Vorsehung", von einer "übersinnlichen"
-Ordnung der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, daß sich der Mensch
-über seine bloß irdischen Ziele erheben und in ein ideales Reich
-einfügen müsse. Sie glauben, daß das Leben einen rein geistigen
-Hintergrund habe, und daß es erst dadurch einen Wert erhalte. Nicht
-die Instinkte für Gesundheit, Schönheit, Wachstum, Wohlgeratenheit,
-Dauer, für Häufung von Kräften will das Christentum pflegen, sondern
-den Haß gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das
-Selbstvertrauen und die Freiheit des Geistes, den Haß gegen die Freuden
-der sinnlichen Welt, gegen die Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit,
-in der der Mensch lebt. (Antichrist § 21.) Das Christentum bezeichnet
-das Natürliche geradezu als "verwerflich". Im christlichen Gotte
-ist ein jenseitiges Wesen, d. h. ein Nichts vergöttlicht, es ist
-der Wille zum Nichts heilig gesprochen. (Antichrist § 18.) Deshalb
-bekämpft Nietzsche im ersten Buche seiner "Umwertung aller Werte"
-das Christentum. Und er wollte im zweiten und dritten Buche auch
-die Philosophie und Moral der Schwachen bekämpfen, die sich nur in
-der Rolle von Abhängigen wohlgefallen. Weil der Typus des Menschen,
-den Nietzsche gezüchtet sehen will, das diesseitige Leben nicht
-gering schätzt, sondern dieses Leben mit Liebe umfaßt und es zu hoch
-stellt, um glauben zu können, daß es nur einmal gelebt werden solle,
-deshalb ist er nach "der Ewigkeit brünstig" (Zarathustra, 3. Teil,
-die sieben Siegel) und möchte, daß dieses Leben unendlich oft gelebt
-werden könne. Nietzsche läßt seinen "Zarathustra" den "Lehrer der
-ewigen Wiederkunft" sein. "Siehe, wir wissen ....., daß alle Dinge ewig
-wiederkehren und wir selber mit, und daß wir schon ewige Male dagewesen
-sind, und alle Dinge mit uns." (Zarath. 3. Teil, der Genesende.) Eine
-bestimmte Meinung darüber zu haben, welche Vorstellung Nietzsche mit
-dem Worte "ewige Wiederkunft" verknüpfte, scheint mir gegenwärtig
-nicht möglich zu sein. Man wird darüber erst Genaueres sagen können,
-wenn die Aufzeichnungen Nietzsches zu den unvollendeten Teilen seines
-"Willens zur Macht" in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner
-Werke vorliegen werden.
-
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-End of the Project Gutenberg EBook of Friedrich Nietzsche, by Rudolf Steiner
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRIEDRICH NIETZSCHE ***
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-The Project Gutenberg EBook of Friedrich Nietzsche, by Rudolf Steiner
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-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Friedrich Nietzsche
- Ein Kämpfer gegen seine Zeit
-
-Author: Rudolf Steiner
-
-Release Date: November 24, 2016 [EBook #53592]
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-Language: German
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-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRIEDRICH NIETZSCHE ***
-
-
-
-
-Produced by Jeroen Hellingman and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net/ for Project
-Gutenberg (This book was produced from scanned images of
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-<div class="byline"><span class="sc">Von</span><br>
-<span class="docAuthor"><span class="sc">Dr.</span> RUDOLF
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-<p class="par first">Als ich vor sechs Jahren die Werke <span class="ex">Friedrich Nietzsches</span> kennen lernte, waren in mir bereits
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-von ihm und auf anderen Wegen als er, bin ich zu Anschauungen gekommen,
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-&bdquo;Zarathustra&ldquo;, &bdquo;Jenseits von Gut und
-B&ouml;se&ldquo;, &bdquo;Genealogie der Moral&ldquo; und
-&bdquo;G&ouml;tzend&auml;mmerung&ldquo; ausgesprochen hat. Schon in
-meinem 1886 erschienenen kleinen Buche &bdquo;Erkenntnistheorie der
-<span class="ex">Goetheschen Weltanschauung</span>&ldquo; kommt
-dieselbe Gesinnung zum Ausdruck, wie in den genannten Werken
-Nietzsches.</p>
-<p class="par">Dies ist der Grund, warum ich mich gedr&auml;ngt
-fühlte, ein Bild von dem Vorstellungs- und Empfindungsleben
-Nietzsches zu zeichnen. Ich glaube, da&szlig; ein solches Bild
-Nietzsche am &auml;hnlichsten dann wird, wenn man es seinen
-erw&auml;hnten letzten Schriften gem&auml;&szlig; schafft. So habe ich
-es gethan. Die früheren Schriften Nietzsches zeigen uns ihn als
-<span class="ex">Suchenden</span>. Er stellt sich uns in ihnen dar als
-rastlos aufw&auml;rts Strebender. In <span class="pagenum">[<a id="xd23e204" href="#xd23e204" name="xd23e204">VIII</a>]</span>seinen
-letzten Schriften sehen wir ihn auf dem Gipfel angelangt, der eine
-seiner ureigenen Geistesart angemessene H&ouml;he hat. In den meisten
-der bis jetzt über Nietzsche erschienenen Schriften wird dessen
-Entwickelung so dargestellt, als ob er in den verschiedenen Zeiten
-seiner Schriftstellerlaufbahn voneinander mehr oder weniger abweichende
-Meinungen gehabt h&auml;tte. Ich habe zu zeigen versucht, da&szlig; von
-einem Meinungswechsel bei Nietzsche nicht die Rede sein kann, sondern
-nur von einer Aufw&auml;rts-Bewegung, von der naturgem&auml;&szlig;en
-Entwickelung einer Pers&ouml;nlichkeit, die noch nicht die ihren
-Anschauungen entsprechende Ausdrucksform gefunden hatte, als sie ihre
-ersten Schriften schrieb.</p>
-<p class="par">Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die Zeichnung des
-Typus &bdquo;&Uuml;bermensch&ldquo;. Diesen Typus zu charakterisieren,
-habe ich als eine der Hauptaufgaben meiner Schrift betrachtet. Mein
-Bild des &Uuml;bermenschen ist genau das Gegenteil des Zerrbildes
-geworden, das in dem augenblicklich verbreitetsten Buche über
-Nietzsche von Frau Lou <span class="ex">Andreas-Salom&eacute;</span>
-entworfen ist. Man kann nichts dem Nietzscheschen Geiste mehr
-Zuwiderlaufendes in die Welt setzen, als das mystische Ungetüm,
-das Frau Salom&eacute; aus dem &Uuml;bermenschen gemacht hat. Mein Buch
-zeigt, da&szlig; in Nietzsches Ideen nirgends auch nur die geringste
-Spur von Mystik anzutreffen ist. Auf die Widerlegung der Ansicht von
-Frau Salom&eacute;, da&szlig; Nietzsches Gedanken in
-&bdquo;Menschliches, Allzumenschliches&ldquo; von den Ausführungen
-<span class="ex">Paul R&eacute;es</span>, des Verfassers der
-&bdquo;Psychologischen Beobachtungen und des <a id="xd23e214" name="xd23e214"></a>Ursprungs der moralischen Empfindungen&ldquo; u. s. w.,
-beeinflu&szlig;t <span class="pagenum">[<a id="xd23e216" href="#xd23e216" name="xd23e216">IX</a>]</span>seien, habe ich mich nicht
-eingelassen. Ein so mittelm&auml;&szlig;iger Kopf wie Paul R&eacute;e
-konnte auf Nietzsche keinen bedeutenden Eindruck machen. Ich würde
-diese Dinge auch hier nicht berühren, wenn nicht das Buch von Frau
-Salom&eacute; so viel beigetragen h&auml;tte, geradezu
-widerw&auml;rtige Ansichten über Nietzsche zu verbreiten. Fritz
-<span class="ex">Koegel</span>, der ausgezeichnete Herausgeber von
-Nietzsches Werken, hat im &bdquo;Magazin für Litteratur&ldquo;
-diesem Machwerke die gebührende Abfertigung angedeihen lassen.</p>
-<p class="par">Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschlie&szlig;en,
-ohne Frau <span class="ex">F&ouml;rster-Nietzsche</span>, der Schwester
-Nietzsches, herzlichst zu danken für die vielen Freundlichkeiten,
-die ich von ihr w&auml;hrend der Zeit erfahren habe, in der meine
-Schrift entstanden ist. Den im &bdquo;Nietzsche-Archiv&ldquo; in
-Naumburg verlebten Stunden verdanke ich die Stimmung, aus der heraus
-die folgenden Gedanken geschrieben sind.</p>
-<p class="par dateline"><span class="ex">Weimar</span>, April 1895.</p>
-<p class="par signed">Rudolf Steiner. <span class="pagenum">[<a id="xd23e232" href="#xd23e232" name="xd23e232">XI</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-<div class="div1 bibliography"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h2 class="main">Nietzsches Werke.</h2>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Ich führe hier zur Orientierung die bis jetzt
-erschienenen und für meine Ausführungen in Betracht kommenden
-Schriften Nietzsches an und füge zu jeder einzelnen die Jahreszahl
-des Erscheinens der ersten Auflage hinzu.</p>
-<p class="par"><b><a class="pglink xd23e43" title="Link zu Project Gutenberg Ebook" href="https://www.gutenberg.org/ebooks/7206">Die Geburt der
-Trag&ouml;die</a>.</b> Oder: Griechentum und Pessimismus.</p>
-<p class="par">Die 1. Aufl. erschien 1872.</p>
-<p class="par">Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem &bdquo;Versuch einer
-Selbstkritik&ldquo; erschien 1886.</p>
-<p class="par"><b>Unzeitgem&auml;&szlig;e Betrachtungen.</b></p>
-<p class="par">Erstes Stück: David Strau&szlig;, der Bekenner und
-Schriftsteller. 1. Aufl. 1873.</p>
-<p class="par">Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie
-für das Leben. 1. Aufl. 1874.</p>
-<p class="par">Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 1. Aufl.
-1874.</p>
-<p class="par">Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. 1. Aufl.
-1876.</p>
-<p class="par"><b><a class="pglink xd23e43" title="Link zu Project Gutenberg Ebook" href="https://www.gutenberg.org/ebooks/7207">Menschliches,
-Allzumenschliches</a>.</b> Ein Buch für freie Geister.</p>
-<p class="par">1. Band. 1. Aufl. 1878.</p>
-<p class="par">Eine neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede
-erschien 1886.</p>
-<p class="par"><b>Menschliches, Allzumenschliches.</b> Ein Buch
-für freie Geister.</p>
-<p class="par">2. Band. Die beiden Abteilungen dieses Buches:
-&bdquo;Vermischte Meinungen und Sprüche&ldquo; und &bdquo;Der
-Wanderer und sein Schatten&ldquo; erschienen zuerst jede als besonderes
-Buch. Die erste 1879 unter dem Titel: &bdquo;Menschliches,
-Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang: Vermischte
-Meinungen und Sprüche&ldquo;, die zweite 1880. Beide Abteilungen
-wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der mit einer einführenden
-Vorrede versehen wurde und der den Titel trug: &bdquo;Menschliches,
-Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue
-Ausgabe mit einer einführenden Vorrede.&ldquo;</p>
-<p class="par"><b>Morgenr&ouml;te.</b> Gedanken über die
-moralischen Vorurteile.</p>
-<p class="par">1. Aufl. 1881.</p>
-<p class="par">Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede 1887.
-<span class="pagenum">[<a id="xd23e285" href="#xd23e285" name="xd23e285">XII</a>]</span></p>
-<p class="par"><b>Die fr&ouml;hliche Wissenschaft</b> (&bdquo;La gaya
-scienza&ldquo;). 1. Aufl. 1882.</p>
-<p class="par">Neue Ausgabe mit einer Vorrede 1887.</p>
-<p class="par"><b><a class="pglink xd23e43" title="Link zu Project Gutenberg Ebook" href="https://www.gutenberg.org/ebooks/7205">Also sprach
-Zarathustra</a>.</b> Die Teile erschienen zuerst einzeln: 1. Teil 1883;
-2. Teil 1883; 3. Teil 1884. Die erste Gesamtausgabe der drei Teile
-erschien 1886. Der vierte Teil erschien 1885 in 40 Abzügen
-blo&szlig; für Freunde und erst 1891 als 1. Aufl.</p>
-<p class="par"><b><a class="pglink xd23e43" title="Link zu Project Gutenberg Ebook" href="https://www.gutenberg.org/ebooks/7204">Jenseits von Gut und
-B&ouml;se</a>.</b> Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 1. Aufl.
-1886.</p>
-<p class="par"><b>Zur Genealogie der Moral.</b> Eine Streitschrift. 1.
-Aufl. 1887.</p>
-<p class="par"><b>Der Fall Wagner.</b> Ein Musikanten-Problem. 1. Aufl.
-1888.</p>
-<p class="par"><b><a class="pglink xd23e43" title="Link zu Project Gutenberg Ebook" href="https://www.gutenberg.org/ebooks/7203">G&ouml;tzend&auml;mmerung</a></b>
-oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. 1. Aufl. 1889.</p>
-<p class="par"><b>Nietzsche contra Wagner.</b> Aktenstücke eines
-Psychologen. Erschien 1895 in der Gesamtausgabe zum ersten Mal. 1888
-bereits einmal gedruckt, aber nicht ausgegeben.</p>
-<p class="par"><b>Der Antichrist.</b> Versuch einer Kritik des
-Christentums. Das erste Buch des unvollendeten Werkes Nietzsches
-&bdquo;Der Wille zur Macht&ldquo;. In der Gesamtausgabe (1895) zum
-erstenmal gedruckt.</p>
-<p class="par"><b>Gedichte.</b> In der Gesamtausgabe 1895.</p>
-<p class="par">Eine <span class="ex">Gesamtausgabe</span> von
-Nietzsches Werken in 8 B&auml;nden ist 1895 bei C. G. Naumann in
-Leipzig erschienen. In derselben sind enthalten: Die Geburt der
-Trag&ouml;die 4. Aufl.; Die &bdquo;Unzeitgem&auml;&szlig;en
-Betrachtungen&ldquo; 3. Aufl.; &bdquo;Menschliches,
-Allzumenschliches&ldquo; 1. u. 2. Bd. 4. Aufl.; Morgenr&ouml;te 2.
-Aufl.; Fr&ouml;hliche Wissenschaft 2. Aufl.; Zarathustra 4. Aufl.;
-Jenseits von Gut und B&ouml;se 5. Aufl.; Genealogie der Moral 4. Aufl.;
-Der Fall Wagner 3. Aufl.; G&ouml;tzend&auml;mmerung 3. Aufl.; Nietzsche
-contra Wagner; Antichrist; Gedichte.</p>
-<p class="par">Die Ver&ouml;ffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten
-Nietzsches, sowie seiner Entwürfe zu Arbeiten, seiner Fragmente u.
-s. w. steht bevor. <span class="pagenum">[<a id="pb1" href="#pb1" name="pb1">1</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-</div>
-<div class="body">
-<div id="ch1" class="div1 chapter"><span class="pagenum">[<a href="#xd23e164">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h2 class="label">I.</h2>
-<h2 class="main">Der Charakter.</h2>
-<p><span class="pagenum">[<a id="pb3" href="#pb3" name="pb3">3</a>]</span></p>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">1.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first"><span class="ex">Friedrich Nietzsche</span>
-charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler und
-R&auml;tselfreund, als <span class="ex">unzeitgem&auml;&szlig;e</span>
-Pers&ouml;nlichkeit. Wer auf solchen eigenen Wegen geht, wie er,
-&bdquo;begegnet niemandem; das bringen die eigenen Wege mit sich.
-Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr,
-Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zust&ouml;&szlig;t, mu&szlig; er
-allein fertig werden&ldquo;, sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe
-seiner &bdquo;Morgenr&ouml;te&ldquo;. Aber reizvoll ist es, ihm in
-seine Einsamkeit zu folgen. Die Worte, die er über sein
-Verh&auml;ltnis zu Schopenhauer ausgesprochen hat, m&ouml;chte ich
-über das meinige zu Nietzsche sagen: &bdquo;Ich geh&ouml;re zu den
-Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen,
-mit Bestimmtheit wissen, da&szlig; sie alle Seiten lesen und auf jedes
-Wort h&ouml;ren werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein
-Vertrauen zu ihm war sofort da ..... Ich verstand ihn, als ob er
-für mich geschrieben h&auml;tte, um mich verst&auml;ndlich, aber
-unbescheiden und th&ouml;richt auszudrücken.&ldquo; Man kann so
-sprechen und weit davon entfernt sein, sich als
-&bdquo;Gl&auml;ubigen&ldquo; der Nietzscheschen Weltanschauung zu
-bekennen. Weiter allerdings <span class="pagenum">[<a id="pb4" href="#pb4" name="pb4">4</a>]</span>nicht, als Nietzsche davon entfernt war,
-sich solche &bdquo;Gl&auml;ubige&ldquo; zu wünschen. Legt er doch
-seinem &bdquo;Zarathustra&ldquo; die Worte in den Mund:</p>
-<p class="par">&bdquo;Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was
-liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gl&auml;ubigen: aber was liegt an
-allen Gl&auml;ubigen!</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e360" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Ihr hattet euch noch nicht gesucht:
-da fandet ihr mich. So thun alle Gl&auml;ubigen; darum ist es so wenig
-mit allem Glauben.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e364" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Nun hei&szlig;e ich euch, mich
-verlieren und <span class="ex">euch</span> finden; und erst, wenn ihr
-mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.&ldquo;</p>
-<p class="par">Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann
-deshalb sich wohl Freunde seiner Meinungen wünschen; Bekenner
-seiner Lehren aber, die ihr eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu
-finden, kann er nicht wollen.</p>
-<p class="par">In Nietzsches Pers&ouml;nlichkeit finden sich Instinkte,
-denen ganze Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen zuwider sind. Von
-den wichtigsten Kulturideen derjenigen, in deren Mitte er sich
-entwickelt hat, wendet er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen;
-und zwar nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in der man einen
-logischen Widerspruch entdeckt hat, sondern wie man sich von einer
-Farbe abwendet, die dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille geht
-von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewu&szlig;te
-&Uuml;berlegung kommt zun&auml;chst gar nicht in Betracht. Was andere
-Menschen empfinden, wenn ihnen die Gedanken: Schuld,
-Gewissensbi&szlig;, Sünde, jenseitiges Leben, Ideal, Seligkeit,
-Vaterland durch den Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche unangenehm. Die
-instinktive <span class="pagenum">[<a id="pb5" href="#pb5" name="pb5">5</a>]</span>Art der Abneigung gegen die genannten Vorstellungen
-unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten
-&bdquo;Freigeistern&ldquo; der Gegenwart. Diese kennen alle
-Verstandeseinw&auml;nde gegen die &bdquo;alten
-Wahnvorstellungen&ldquo;; aber wie selten findet sich einer, der von
-sich sagen kann: seine <span class="ex">Instinkte</span> h&auml;ngen
-nicht mehr an ihnen! Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern
-der Gegenwart b&ouml;se Streiche spielen. Das Denken nimmt einen von
-den überlieferten Ideen unabh&auml;ngigen Charakter an, aber die
-Instinkte k&ouml;nnen sich diesem ver&auml;nderten Charakter des
-Verstandes nicht anpassen. Diese &bdquo;freien Geister&ldquo; setzen
-irgend einen Begriff der modernen Wissenschaft an die Stelle einer
-&auml;lteren Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, da&szlig; man
-erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als die Instinkte. Der
-Verstand sucht in dem <span class="ex">Stoffe</span>, in der
-<span class="ex">Kraft</span>, in der <span class="ex">Naturgesetzlichkeit</span> den Urgrund der Erscheinungen; die
-Instinkte aber verleiten dazu, diesen Wesen gegenüber dasselbe zu
-empfinden, was andere ihrem pers&ouml;nlichen Gotte gegenüber
-empfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen den Vorwurf der
-Gottesleugnung; aber sie thun es nicht deshalb, weil ihre
-Weltauffassung sie auf etwas führt, was mit irgend einer
-Gottesvorstellung übereinstimmt, sondern weil sie von ihren
-Vorfahren die Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte
-&bdquo;Gottesleugner&ldquo; ein <span class="ex">instinktives</span>
-Gruseln zu empfinden. Gro&szlig;e Naturforscher betonen, da&szlig; sie
-die Vorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen, sondern nur
-im Sinne der modernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre Instinkte
-sind eben hinter ihrem Verstande zurückgeblieben. <span class="pagenum">[<a id="pb6" href="#pb6" name="pb6">6</a>]</span></p>
-<p class="par">Eine gro&szlig;e Zahl dieser &bdquo;freien
-Geister&ldquo; vertritt die Ansicht, da&szlig; der Wille des Menschen
-unfrei ist. Sie sagen: der Mensch <span class="ex">mu&szlig;</span> in
-einem bestimmten Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf
-ihn einwirkenden Verh&auml;ltnisse bedingen. Man halte aber Umschau bei
-diesen Gegnern der Ansicht vom &bdquo;freien Willen&ldquo;, und man
-wird finden, da&szlig; sich die Instinkte dieser
-&bdquo;Freigeister&ldquo; von dem Vollbringer einer
-&bdquo;b&ouml;sen&ldquo; That geradeso mit Abscheu abwenden, wie es die
-Instinkte der anderen thun, die der Meinung sind: der &bdquo;freie
-Wille&ldquo; k&ouml;nne sich nach Belieben dem Guten oder dem
-B&ouml;sen zuwenden.</p>
-<p class="par">Der Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das
-Merkmal unserer &bdquo;modernen Geister&ldquo;. Auch in den freiesten
-Denkern der Gegenwart leben noch die von der christlichen Orthodoxie
-gepflanzten Instinkte. Genau die entgegengesetzten sind in Nietzsches
-Natur wirksam. Er braucht nicht erst darüber nachzudenken, ob es
-Gründe gegen die Annahme eines pers&ouml;nlichen Weltenlenkers
-giebt. Sein Instinkt ist zu stolz, um sich vor einem solchen zu beugen;
-deshalb lehnt er eine derartige Vorstellung ab. Er spricht mit seinem
-Zarathustra: &bdquo;Aber da&szlig; ich euch ganz mein Herz offenbare,
-ihr Freunde: <span class="ex">wenn</span> es G&ouml;tter g&auml;be, wie
-hielte ich&rsquo;s aus, kein Gott zu sein! <span class="ex">Also</span>
-giebt es keine G&ouml;tter.&ldquo; Sich selbst oder einen andern wegen
-einer begangenen Handlung &bdquo;schuldig&ldquo; zu sprechen, dazu
-dr&auml;ngt ihn nichts in seinem Innern. Um ein solches
-&bdquo;schuldig&ldquo; unstatthaft zu finden, dazu braucht er keine
-Theorie vom &bdquo;freien&ldquo; oder &bdquo;unfreien&ldquo;
-Willen.</p>
-<p class="par">Auch die patriotischen Empfindungen seiner <span class="pagenum">[<a id="pb7" href="#pb7" name="pb7">7</a>]</span>deutschen
-Volksgenossen sind Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein
-Empfinden und Denken nicht abh&auml;ngig machen von den Gedankenkreisen
-des Volkes, innerhalb dessen er geboren und erzogen ist; auch nicht von
-der Zeit, in der er lebt. &bdquo;Es ist so kleinst&auml;dtisch &mdash;
-sagt er in seiner Schrift &bdquo;Schopenhauer als Erzieher&ldquo;
-&mdash;, sich zu den Ansichten verpflichten, die ein paar hundert
-Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient und Occident sind
-Kreidestriche, die uns jemand vor unsere Augen hinmalt, um unsere
-Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu
-kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern,
-da&szlig; zuf&auml;llig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder
-da&szlig; ein Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder da&szlig; rings
-um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein paar tausend Jahren
-nicht bestand.&ldquo; Die Empfindungen der Deutschen w&auml;hrend des
-Krieges im Jahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen
-Widerhall, da&szlig; er, &bdquo;w&auml;hrend die Donner der Schlacht
-von W&ouml;rth über Europa weggingen&ldquo;, in einem Winkel der
-Alpen sa&szlig;, &bdquo;sehr vergrübelt und verr&auml;tselt,
-folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich&ldquo;, und
-seine Gedanken über die Griechen niederschrieb. Und als er einige
-Wochen darauf sich selbst &bdquo;unter den Mauern von Metz&ldquo;
-befand, war er &bdquo;noch immer nicht losgekommen von den
-Fragezeichen, die er zum Leben und der Kunst der Griechen gesetzt
-hatte&ldquo;. (Vergl. &bdquo;Versuch einer Selbstkritik&ldquo; in der
-zweiten Auflage seiner &bdquo;Geburt der Trag&ouml;die&ldquo;.) Als der
-Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner
-deutschen Zeitgenossen über den errungenen <span class="pagenum">[<a id="pb8" href="#pb8" name="pb8">8</a>]</span>Sieg ein,
-da&szlig; er schon im Jahre 1872 in seiner Schrift über
-<span class="ex">David Strau&szlig;</span> von den &bdquo;schlimmen und
-gef&auml;hrlichen Folgen&ldquo; des siegreich beendeten Kampfes sprach.
-Er stellte es sogar als einen Wahn hin, da&szlig; auch die deutsche
-Kultur in diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn
-gef&auml;hrlich, weil, wenn er innerhalb des deutschen Volkes
-herrschend wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg in eine
-v&ouml;llige Niederlage zu verwandeln; in die Niederlage, ja
-Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des &bdquo;Deutschen
-Reiches&ldquo;. Das ist Nietzsches Gesinnung in einer Zeit, in der ganz
-Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer
-<span class="ex">unzeitgem&auml;&szlig;en</span> Pers&ouml;nlichkeit,
-eines <span class="ex">K&auml;mpfers gegen seine Zeit</span>.
-Au&szlig;er dem Angeführten lie&szlig;e sich noch vieles nennen,
-was in Nietzsches Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in
-dem seiner Zeitgenossen.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">2.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Nietzsche ist kein &bdquo;Denker&ldquo; im
-gew&ouml;hnlichen Sinne des Wortes. Für die fragwürdigen und
-tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben gegenüber zu
-stellen hat, reicht das blo&szlig;e Denken nicht aus. Für diese
-Fragen müssen alle Kr&auml;fte der menschlichen Natur entfesselt
-werden; die <span class="ex">denkende</span> Betrachtung allein ist
-ihnen nicht gewachsen. Zu blo&szlig; <span class="ex">erdachten</span>
-Gründen für eine Meinung hat Nietzsche kein Vertrauen.
-&bdquo;Es giebt ein Mi&szlig;trauen in mir gegen Dialektik, selbst
-gegen Gründe,&ldquo; schreibt er am 2. Dezember 1887 an Georg
-Brandes. (Vergl. <span class="pagenum">[<a id="pb9" href="#pb9" name="pb9">9</a>]</span>dessen &bdquo;Menschen und Werke&ldquo;, S. 212).
-Wer ihn um die Gründe seiner Ansichten fragt, für den hat er
-&bdquo;Zarathustras&ldquo; Antwort bereit: &bdquo;Du fragst warum? Ich
-geh&ouml;re nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen
-darf.&ldquo; Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden kann, ist
-für ihn ma&szlig;gebend, sondern ob sie auf alle Kr&auml;fte der
-menschlichen Pers&ouml;nlichkeit so wirkt, da&szlig; sie für das
-Leben <span class="ex">Wert</span> hat. Er l&auml;&szlig;t einen
-Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignet findet, zur Entwicklung des
-Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund als m&ouml;glich, so
-machtvoll als m&ouml;glich, so sch&ouml;pferisch als m&ouml;glich zu
-sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Sch&ouml;nheit, alle Ideale haben nur
-Wert und gehen den Menschen nur etwas an, insofern sie <span class="ex">lebenf&ouml;rdernd</span> sind.</p>
-<p class="par">Die Frage nach dem <span class="ex">Werte der
-Wahrheit</span> tritt in mehreren Schriften Nietzsches auf. In der
-verwegensten Form wird sie in seinem Buche: &bdquo;Jenseits von Gut und
-B&ouml;se&ldquo; gestellt. &bdquo;Der Wille zur Wahrheit, der uns noch
-zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte
-Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung
-geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns
-schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen
-Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte &mdash; und doch scheint
-es, da&szlig; sie kaum eben angefangen hat.&ldquo; Was Wunder, wenn wir
-endlich auch mi&szlig;trauisch werden, die Geduld verlieren, uns
-ungeduldig umdrehn? Da&szlig; wir von dieser Sphinx auch unsererseits
-das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt?
-Was in uns will eigentlich &sbquo;zur Wahrheit&lsquo;? In der
-<span class="pagenum">[<a id="pb10" href="#pb10" name="pb10">10</a>]</span>That, wir machten lange Halt vor der Frage nach
-der Ursache dieses Willens &mdash; bis wir, zuletzt, vor einer noch
-gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach
-dem <span class="ex">Werte dieses Willens</span>. Gesetzt, wir wollen
-Wahrheit: <span class="ex">warum nicht lieber Unwahrheit</span>?</p>
-<p class="par">Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender
-Kühnheit. Stellt man daneben, was ein anderer kühner
-&bdquo;Grübler und R&auml;tselfreund&ldquo;, <span class="ex">Johann Gottlieb Fichte</span>, von dem Streben nach Wahrheit sagt,
-so sieht man erst, wie tief aus dem Wesen der menschlichen Natur
-Nietzsche seine Vorstellungen heraufholt. &bdquo;Ich bin dazu
-berufen&ldquo; &mdash; sagt Fichte &mdash; &bdquo;der Wahrheit Zeugnis
-zu geben; an meinem Leben und an meinem Schicksal liegt nichts; an den
-Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der
-Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht,
-alles für sie zu thun und zu wagen und zu leiden.&ldquo; (Fichte,
-Vorlesungen &bdquo;&Uuml;ber die Bestimmung des Gelehrten&ldquo;,
-vierte Vorlesung.) Diese Worte sprechen das Verh&auml;ltnis aus, in das
-sich die edelsten Geister der abendl&auml;ndischen neueren Kultur zur
-Wahrheit setzen. Nietzsches angeführtem Ausspruch gegenüber
-erscheinen sie oberfl&auml;chlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es
-denn nicht m&ouml;glich, da&szlig; die Unwahrheit wertvollere Wirkungen
-für das Leben hat, als die Wahrheit? Ist es ausgeschlossen,
-da&szlig; die Wahrheit dem Leben schadet? Hat sich Fichte diese Fragen
-gestellt? Haben es andere gethan, die &bdquo;der Wahrheit
-Zeugnis&ldquo; gegeben haben?</p>
-<p class="par">Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt
-<span class="pagenum">[<a id="pb11" href="#pb11" name="pb11">11</a>]</span>über sie erst dann ins Reine zu kommen, wenn
-er das Streben nach Wahrheit nicht als blo&szlig;e Verstandessache
-behandelt, sondern nach den Instinkten sucht, die dieses Streben
-erzeugen. Denn es k&ouml;nnte ja wohl sein, da&szlig; sich diese
-Instinkte der Wahrheit nur als Mittel bedienten, um etwas zu erreichen,
-was h&ouml;her steht, als die Wahrheit. <span class="corr" id="xd23e462" title="Quelle: Nietzche">Nietzsche</span> findet, nachdem er
-&bdquo;lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die
-Finger gesehn&ldquo; hat: &bdquo;Das meiste Denken eines Philosophen
-ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen
-gezwungen.&ldquo; Die Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres
-Thuns sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies, weil sie nicht
-auf den Grund der menschlichen Natur zu sehen verm&ouml;gen. In
-Wirklichkeit wird das Streben nach Wahrheit gelenkt von dem
-<span class="ex">Willen zur Macht</span>. Mit Hilfe der Wahrheit soll
-die Macht und Lebensfülle der Pers&ouml;nlichkeit erh&ouml;ht
-werden. Das bewu&szlig;te Denken des Philosophen ist der Meinung: die
-Erkenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbewu&szlig;te
-Instinkt, der das Denken treibt, strebt nach F&ouml;rderung des Lebens.
-Für diesen Instinkt ist &bdquo;die Falschheit eines Urteils noch
-kein Einwand gegen ein Urteil&ldquo;; für ihn kommt allein die
-Frage in Betracht: &bdquo;wie weit ist es lebenf&ouml;rdernd,
-lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend&ldquo;
-(Jenseits von Gut und B&ouml;se &sect; 4).</p>
-<p class="par">&bdquo;&sbquo;Wille zur Wahrheit&lsquo; hei&szlig;t
-ihr&rsquo;s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig
-macht?</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e471" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Wille zur Denkbarkeit alles
-Seienden: also hei&szlig;e <span class="ex">ich</span> euren
-Willen!</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e478" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Alles Seiende wollt ihr erst
-denkbar <span class="ex">machen</span>: denn <span class="pagenum">[<a id="pb12" href="#pb12" name="pb12">12</a>]</span>ihr
-zweifelt mit gutem Mi&szlig;trauen, ob es schon denkbar ist.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e487" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Aber es soll sich euch fügen
-und biegen! So will&rsquo;s euer Wille. Glatt soll es werden und dem
-Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e491" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Das ist euer ganzer Wille, ihr
-Weisesten, als ein Wille zur Macht .....&ldquo; (Zarathustra, 2. Teil,
-Von der Selbst-&Uuml;berwindung.)</p>
-<p class="par">Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan machen
-und dadurch dem Leben dienen. Nur als Lebensbedingung hat sie einen
-Wert. &mdash; Kann man nicht aber noch weiter gehen und fragen: was ist
-das Leben selbst wert? Nietzsche h&auml;lt eine solche Frage für
-unm&ouml;glich. Da&szlig; alles Lebende so machtvoll, so inhaltreich
-leben will, als irgend m&ouml;glich ist, nimmt er als eine Thatsache
-hin, über die er nicht weiter grübelt. Die Lebensinstinkte
-fragen nicht nach dem Werte des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel
-giebt es, um die Macht ihres Tr&auml;gers zu erh&ouml;hen.
-&bdquo;Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider,
-k&ouml;nnen zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert als Symptome,
-sie kommen nur als Symptome in Betracht, &mdash; an sich sind solche
-Urteile Dummheiten. Man mu&szlig; durchaus seine Finger darnach
-ausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu fassen,
-<span class="ex">da&szlig; der Wert des Lebens nicht abgesch&auml;tzt
-werden kann</span>. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei,
-ja sogar Streitobjekt ist, und nicht Richter; von einem Toten nicht,
-aus einem andern Grunde. &mdash; Von seiten eines Philosophen im Wert
-des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen
-ihn, ein Fragezeichen an <span class="pagenum">[<a id="pb13" href="#pb13" name="pb13">13</a>]</span>seiner Weisheit, eine
-Unweisheit.&ldquo; &mdash; (G&ouml;tzend&auml;mmerung. Das Problem des
-Sokrates.) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nur für
-eine mangelhaft ausgebildete, kranke Pers&ouml;nlichkeit. Wer allseitig
-entwickelt ist, <span class="ex">lebt</span>, ohne zu fragen, wie viel
-sein Leben wert ist.</p>
-<p class="par">Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb
-legt er auf logische Beweisgründe für ein Urteil wenig
-Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an, ob sich das Urteil logisch
-beweisen l&auml;&szlig;t, sondern wie gut sich unter seinem Einflusse
-leben l&auml;&szlig;t. Nicht allein der Verstand, sondern die ganze
-Pers&ouml;nlichkeit des Menschen soll befriedigt werden. Die besten
-Gedanken sind diejenigen, welche alle Kr&auml;fte der menschlichen
-Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.</p>
-<p class="par">Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche
-Interesse. Er ist kein philosophischer Kopf, sondern ein
-&bdquo;Honigsammler des Geistes&ldquo;, der die
-&bdquo;Bienenk&ouml;rbe&ldquo; der Erkenntnis aufsucht und
-heimzubringen sucht, was dem Leben frommt.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">3.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">In Nietzsches Pers&ouml;nlichkeit sind diejenigen
-Instinkte vorherrschend, die den Menschen zu einem gebietenden,
-herrischen Wesen machen. Ihm gef&auml;llt alles, was Macht bekundet;
-ihm mi&szlig;f&auml;llt alles, was Schw&auml;che verr&auml;t. Er
-fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in
-Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erh&ouml;hen. Er liebt
-Hemmnisse, Widerst&auml;nde für seine Th&auml;tigkeit, weil er
-sich bei ihrer &Uuml;berwindung seiner Macht bewu&szlig;t wird. Er
-sucht die beschwerlichsten <span class="pagenum">[<a id="pb14" href="#pb14" name="pb14">14</a>]</span>Wege auf, die der Mensch gehen kann.
-Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche ausgedrückt, den
-er der zweiten Ausgabe seiner &bdquo;fr&ouml;hlichen
-Wissenschaft&ldquo; auf das Titelblatt gesetzt hat:</p>
-<div class="lgouter">
-<p class="line">&bdquo;Ich wohne in meinem eignen Haus,</p>
-<p class="line">Hab&rsquo; niemandem nie nichts nachgemacht</p>
-<p class="line">Und &mdash; lachte noch jeden Meister aus,</p>
-<p class="line">Der nicht sich selber ausgelacht.&ldquo;</p>
-</div>
-<p class="par first">Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht
-empfindet Nietzsche als Schw&auml;che. Und über das, was eine
-&bdquo;fremde Macht&ldquo; ist, denkt er anders als mancher, der sich
-als &bdquo;unabh&auml;ngigen, freien Geist&ldquo; bezeichnet. Nietzsche
-empfindet es als Schw&auml;che, wenn der Mensch sich in seinem Denken
-und Handeln sogenannten &bdquo;ewigen, ehernen&ldquo; Gesetzen der
-Vernunft unterwirft. Was die allseitig entwickelte Pers&ouml;nlichkeit
-thut, das l&auml;&szlig;t sie sich von keiner Moralwissenschaft
-vorschreiben, sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der
-Mensch ist in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen
-und Regeln <span class="ex">sucht</span>, nach denen er denken und
-handeln <span class="ex">soll</span>. Der Starke <span class="ex">bestimmt</span> die Art seines Denkens und Handelns aus seinem
-eigenen Wesen heraus.</p>
-<p class="par">Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in
-S&auml;tzen aus, um derentwillen ihn kleinlich denkende Menschen
-geradezu als einen gef&auml;hrlichen Geist bezeichnet haben: &bdquo;Als
-die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren
-Assassinenorden stie&szlig;en, jenen Freigeisterorden par excellence,
-dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen
-kein M&ouml;nchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem
-Wege auch einen Wink über jenes <span class="pagenum">[<a id="pb15" href="#pb15" name="pb15">15</a>]</span>Symbol und Kerbholzwort,
-das nur den obersten Graden, als deren Sekretum, vorbehalten war:
-&bdquo;<span class="ex">Nichts ist wahr, alles ist
-erlaubt!</span>&ldquo; .... Wohlan, das war <span class="ex">Freiheit</span> des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der
-Glaube <span class="ex">gekündigt</span>&ldquo; ... (Genealogie
-der Moral &sect; 19). Da&szlig; diese S&auml;tze die Empfindungen einer
-vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck bringen, die sich die
-Erlaubnis, frei, nach ihren <span class="ex">eigenen</span> Gesetzen zu
-leben, durch keine Rücksicht auf ewige Wahrheiten und Vorschriften
-der Moral verkümmern lassen will, fühlen diejenigen Menschen
-nicht, die, ihrer Art nach, zur Unterwürfigkeit geeignet sind.
-Eine Pers&ouml;nlichkeit, wie die Nietzsches ist, vertr&auml;gt auch
-jene Tyrannen nicht, die in der Form abstrakter Sittengebote auftreten.
-<span class="ex">Ich</span> bestimme, wie ich denken, wie ich handeln
-will, sagt eine solche Natur.</p>
-<p class="par">Es giebt Menschen, die ihre Berechtigung, sich
-&bdquo;Freidenker&ldquo; zu nennen, davon herleiten, da&szlig; sie sich
-in ihrem Denken und Handeln nicht solchen Gesetzen unterwerfen, die von
-anderen Menschen herrühren, sondern nur den &bdquo;ewigen Gesetzen
-der Vernunft&ldquo;, den &bdquo;unumst&ouml;&szlig;lichen
-Pflichtbegriffen&ldquo; oder dem &bdquo;Willen Gottes&ldquo;. Nietzsche
-sieht solche Menschen nicht als wahrhaft <span class="ex">starke</span>
-Pers&ouml;nlichkeiten an. Denn auch sie denken und handeln nicht nach
-ihrer eigenen Natur, sondern nach den <span class="ex">Befehlen</span>
-einer h&ouml;heren Autorit&auml;t. Ob der Sklave der Willkür
-seines Herrn, der Religi&ouml;se den geoffenbarten Wahrheiten eines
-Gottes oder der Philosoph den Aussprüchen der Vernunft folgt, das
-&auml;ndert nichts an dem Umstande, da&szlig; sie alle <span class="ex">Gehorchende</span> sind. Was befiehlt, ist dabei
-gleichgültig; das ausschlaggebende ist, da&szlig; überhaupt
-<span class="pagenum">[<a id="pb16" href="#pb16" name="pb16">16</a>]</span><span class="ex">befohlen</span> wird, da&szlig;
-der Mensch sich nicht selbst die Richtung für sein Thun giebt,
-sondern der Meinung ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung
-vorzeichnet.</p>
-<p class="par">Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit
-nicht <span class="ex">empfangen</span> &mdash; er will sie
-<span class="ex">schaffen</span>; er will sich nichts
-&bdquo;erlauben&ldquo; lassen, er will nicht gehorchen. &bdquo;Die
-eigentlichen Philosophen sind <span class="ex">Befehlende und
-Gesetzgeber</span>; sie sagen: so <span class="ex">soll</span> es
-sein!<a id="xd23e585" name="xd23e585"></a> sie bestimmen erst das
-Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die
-Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller &Uuml;berw&auml;ltiger
-der Vergangenheit, &mdash; sie greifen mit sch&ouml;pferischer Hand
-nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum
-Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr &bdquo;Erkennen&ldquo; ist
-<span class="ex">Schaffen</span>, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung,
-ihr Wille zur Wahrheit ist &mdash; <span class="ex">Wille zur
-Macht</span>. &mdash; Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon
-solche Philosophen? <span class="ex">Mu&szlig;</span> es nicht solche
-Philosophen geben?&ldquo; (Jenseits von Gut und B&ouml;se &sect;
-211.)</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">4.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Ein besonderes Zeichen menschlicher Schw&auml;che
-sieht Nietzsche in jeder Art von Glauben an ein Jenseits, an eine
-andere Welt, als die ist, in der der Mensch lebt. Man kann, nach seiner
-Ansicht, dem Leben keinen gr&ouml;&szlig;eren Schaden thun, als wenn
-man sein Leben im Diesseits im Hinblick auf ein anderes Leben im
-Jenseits einrichtet. Man kann sich keiner gr&ouml;&szlig;eren Verirrung
-hingeben, als wenn man hinter den Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten
-annimmt, <span class="pagenum">[<a id="pb17" href="#pb17" name="pb17">17</a>]</span>die der menschlichen Erkenntnis unzug&auml;nglich
-sind, und die als der eigentliche Urgrund, als das Bestimmende alles
-Daseins gelten sollen. Durch eine solche Annahme verdirbt man sich die
-Freude an dieser Welt. Man würdigt sie zum Scheine, zu einem
-blo&szlig;en Abglanz eines Unzug&auml;nglichen herab. Man erkl&auml;rt
-die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche, für
-einen nichtigen Traum und schreibt die wahre Wirklichkeit einer
-ertr&auml;umten, erdichteten anderen Welt zu. Man erkl&auml;rt die
-menschlichen Sinne für Betrüger, die uns Scheinbilder statt
-Wirklichkeiten liefern.</p>
-<p class="par">Nur aus der Schw&auml;che kann eine solche Ansicht
-stammen. Denn der Starke, der fest in der Wirklichkeit wurzelt, der
-seine Freude am Leben hat, wird es sich nicht in den Sinn kommen
-lassen, eine andere Wirklichkeit zu erdichten. Er ist mit dieser Welt
-besch&auml;ftigt und bedarf keiner andern. Aber die Leidenden, die
-Kranken, die unzufrieden sind mit diesem Leben, nehmen ihre Zuflucht
-zum Jenseits. Was ihnen das Diesseits entzogen hat, soll ihnen das
-Jenseits bieten. Der Starke, der Gesunde, der entwickelte und taugliche
-Sinne hat, um die Gründe dieser Welt in ihr selber aufzusuchen,
-der bedarf zur Erkl&auml;rung der Erscheinungen, innerhalb deren er
-lebt, keiner jenseitigen Gründe und Wesenheiten. Der Schwache, der
-mit verkrüppelten Augen und Ohren die Wirklichkeit wahrnimmt, der
-braucht Ursachen hinter den Erscheinungen.</p>
-<p class="par">Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist der Glaube
-an das Jenseits geboren. Aus dem Unverm&ouml;gen, <span class="pagenum">[<a id="pb18" href="#pb18" name="pb18">18</a>]</span>die
-wirkliche Welt zu durchschauen, sind alle Annahmen von &bdquo;Dingen an
-sich&ldquo; erwachsen.</p>
-<p class="par">Alle, welche Grund haben, das <span class="ex">wirkliche</span> Leben zu verneinen, sagen <span class="ex">Ja</span> zu <span class="corr" id="xd23e618" title="Quelle: einen">einem</span> <span class="ex">erdichteten</span>.
-Nietzsche will ein <span class="ex">Jasager</span> gegenüber der
-Wirklichkeit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen
-Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des Daseins; von einem
-andern Leben will er nichts wissen. <span class="ex">Ihn</span> kann
-selbst das Leiden nicht veranlassen, Nein zum Leben zu sagen; denn auch
-das Leiden ist ihm ein Mittel der Erkenntnis. &bdquo;Nicht anders, als
-es ein Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer bestimmten Stunde
-aufzuwachen, und sich dann ruhig dem Schlafe überl&auml;&szlig;t:
-so ergeben wir Philosophen, gesetzt, da&szlig; wir krank werden, uns
-zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit &mdash; wir machen
-gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie jener wei&szlig;, da&szlig;
-irgend etwas <span class="ex">nicht</span> schl&auml;ft, irgend etwas
-die Stunden abz&auml;hlt und ihn aufwecken wird, so wissen auch wir,
-da&szlig; der entscheidende Augenblick uns wach finden wird, &mdash;
-da&szlig; dann etwas hervorspringt und den Geist <span class="ex">auf
-der That</span> ertappt, ich meine auf der Schw&auml;che oder Umkehr
-oder Ergebung oder Verh&auml;rtung oder Verdüsterung, und wie alle
-die krankhaften Zust&auml;nde des Geistes hei&szlig;en, welche in
-gesunden Tagen den <span class="ex">Stolz</span> des Geistes wider sich
-haben. Man lernt nach einer derartigen Selbstbefragung,
-Selbstversuchung, mit einem feineren Auge nach allem, worüber
-überhaupt bisher philosophiert worden ist, hinsehen ..<span class="corr" id="xd23e640" title="Quelle: &sbquo;">.&ldquo;</span> (Vorrede
-zur zweiten Ausgabe der &bdquo;fr&ouml;hlichen Wissenschaft&ldquo;.)
-&mdash; <span class="pagenum">[<a id="pb19" href="#pb19" name="pb19">19</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">5.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Dieser lebens- und wirklichkeitsfreundliche Sinn
-Nietzsches zeigt sich auch in seinen Anschauungen über die
-Menschen und ihre gegenseitigen Beziehungen. Auf diesem Gebiete ist
-Nietzsche vollkommener Individualist. Jeder Mensch gilt ihm als eine
-Welt für sich, ein Unikum. Das &bdquo;wunderlich bunte
-Mancherlei&ldquo;, das zum &bdquo;Einerlei&ldquo; vereinigt ist und uns
-als ein bestimmter Mensch entgegentritt, kann kein noch so seltsamer
-Zufall ein zweites Mal in gleicher Weise zusammenschütteln.<a id="xd23e649" name="xd23e649"></a> (Schopenhauer als Erzieher 1.) Die
-wenigsten Menschen sind jedoch geneigt, ihre nur einmal vorhandenen
-Eigentümlichkeiten zu entfalten. Sie fürchten sich vor der
-Einsamkeit, in die sie dadurch gedr&auml;ngt werden. Es ist bequemer
-und gefahrloser, in gleicher Weise wie die Mitmenschen zu leben; man
-findet dann immer Gesellschaft. Wer auf seine eigene Art sich
-einrichtet, wird von anderen nicht verstanden und findet keine
-Genossen. Für Nietzsche hat die Einsamkeit einen besonderen Reiz.
-Er liebt es, die Heimlichkeiten des eigenen Innern aufzusuchen. Er
-flieht die Gemeinschaft der Menschen. Seine Gedankeng&auml;nge sind
-zumeist Bohrversuche nach Sch&auml;tzen, die tief in seiner
-Pers&ouml;nlichkeit verborgen liegen. Das Licht, das andere ihm bieten,
-verschm&auml;ht er; die Luft, die man da atmet, wo das
-&bdquo;Gemeinsame der Menschen&ldquo;, die &bdquo;Regel Mensch&ldquo;
-lebt, will er nicht mitatmen. Er trachtet instinktiv nach seiner
-&bdquo;Burg und Heimlichkeit&ldquo;, wo er von der Menge, den vielen,
-den allermeisten <span class="ex">erl&ouml;st</span> ist. (Jenseits von
-Gut und B&ouml;se &sect; 36.) In seiner &bdquo;fr&ouml;hlichen
-Wissenschaft&ldquo; klagt <span class="pagenum">[<a id="pb20" href="#pb20" name="pb20">20</a>]</span>er, da&szlig; es ihm schwer ist,
-seine Mitmenschen zu &bdquo;verdauen&ldquo;; und in &bdquo;Jenseits von
-Gut und B&ouml;se&ldquo; (&sect; 282) verr&auml;t er, da&szlig; er
-zumeist gef&auml;hrliche Verdauungsst&ouml;rungen davontrug, wenn er
-sich an Tische setzte, an denen die Kost des
-&bdquo;Allgemein-Menschlichen&ldquo; genossen wurde. Die Menschen
-dürfen Nietzsche nicht zu nahe kommen, wenn er sie ertragen
-soll.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">6.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Nietzsche erkl&auml;rt einen Gedanken, ein Urteil
-in derjenigen Form für gültig, zu der die freiwaltenden
-Lebensinstinkte ihre Zustimmung geben. Ansichten, für die das
-Leben sich entscheidet, l&auml;&szlig;t er sich durch keine logischen
-Zweifel nehmen. Dadurch erh&auml;lt sein Denken einen sichern, freien
-Zug. Es wird nicht beirrt durch Bedenken wie: ob eine Behauptung auch
-&bdquo;objektiv&ldquo; wahr ist, ob sie die Grenzen des menschlichen
-Erkenntnisverm&ouml;gens nicht überschreitet u. s. w. Wenn
-Nietzsche den Wert eines Urteiles für das Leben erkannt hat, dann
-fragt er nicht mehr nach einer weiteren &bdquo;objektiven&ldquo;
-Bedeutung und Gültigkeit desselben. Und wegen Grenzen des
-Erkennens macht er sich keine Sorgen. Er ist der Ansicht, da&szlig; ein
-gesundes Denken das schafft, was es schaffen kann, und sich nicht mit
-der nutzlosen Frage abqu&auml;lt: was kann ich <span class="ex">nicht</span>?</p>
-<p class="par">Wer den Wert eines Urteils nach dem Grade bestimmen
-will, in dem es das Leben f&ouml;rdert, kann diesen Grad natürlich
-nur durch seine eigenen, pers&ouml;nlichen Lebenstriebe und
-Lebensinstinkte festsetzen. Er kann nie mehr sagen wollen, als: in
-Bezug auf <span class="pagenum">[<a id="pb21" href="#pb21" name="pb21">21</a>]</span>meine Lebensinstinkte halte ich dieses bestimmte
-Urteil für ein wertvolles. Und Nietzsche will auch nie etwas
-anderes sagen, wenn er eine Ansicht ausspricht. Gerade dieses sein
-Verh&auml;ltnis zu seiner Gedankenwelt wirkt so wohlthuend auf den
-freiheitlich gesinnten Leser. Es giebt Nietzsches Schriften den
-Charakter anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit. Wie <span class="corr" id="xd23e668" title="Quelle: abstossend">absto&szlig;end</span>
-und unbescheiden klingt es daneben, wenn andere Denker glauben, ihre
-Person sei das Organ, durch das der Welt ewige,
-unumst&ouml;&szlig;liche Wahrheiten verkündet werden. Man kann in
-Nietzsches Werken S&auml;tze finden, die ein starkes
-Selbstbewu&szlig;tsein ausdrücken, z. B.: &bdquo;Ich habe der
-Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen
-<span class="ex">Zarathustra</span>: ich gebe ihr über kurzem das
-unabh&auml;ngigste.&ldquo; &mdash; (G&ouml;tzend&auml;mmerung,
-Streifzüge eines Unzeitgem&auml;&szlig;en &sect; 51.) Was besagt
-dies aber aus seinem Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu schreiben,
-dessen Inhalt tiefer aus dem Wesen einer Pers&ouml;nlichkeit geholt
-ist, als das sonst bei &auml;hnlichen Büchern der Fall ist; und
-ich werde ein Buch liefern, das unabh&auml;ngiger von jedem fremden
-Urteil ist, als andere philosophische Schriften; denn ich werde
-über die wichtigsten Dinge blo&szlig; aussprechen, wie sich meine
-pers&ouml;nlichen Instinkte zu ihnen verhalten. Das ist vornehme
-Bescheidenheit. Sie geht freilich denen wider den Geschmack, deren
-verlogene Demut sagt: ich bin nichts, mein Werk ist alles; ich bringe
-nichts von pers&ouml;nlichem Empfinden in meine Bücher, sondern
-ich spreche blo&szlig; aus, was die reine Vernunft mich aussprechen
-hei&szlig;t. Solche Menschen wollen ihre Person verleugnen, um
-behaupten zu k&ouml;nnen, da&szlig; ihre Aussprüche <span class="pagenum">[<a id="pb22" href="#pb22" name="pb22">22</a>]</span>die
-eines h&ouml;heren Geistes sind. Nietzsche h&auml;lt seine Gedanken
-für Erzeugnisse seiner Person und für nicht mehr.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">7.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Die Fachphilosophen m&ouml;gen über Nietzsche
-l&auml;cheln oder ihre Meinungen über die &bdquo;Gefahren&ldquo;
-seiner &bdquo;Weltanschauung&ldquo; zum besten geben. Manche dieser
-Geister, die nichts sind als personifizierte Lehrbücher der Logik,
-k&ouml;nnen natürlich Nietzsches aus den m&auml;chtigsten,
-unmittelbarsten Lebensimpulsen entspringendes Schaffen nicht loben.</p>
-<p class="par">Nietzsche mit seinen kühnen Gedankensprüngen
-trifft jedenfalls auf tiefere Geheimnisse der menschlichen Natur, als
-mancher logische Denker mit seinem vorsichtigen Kriechen. Was nutzt
-alle Logik, wenn sie mit ihren Begriffsnetzen nur einen wertlosen
-Inhalt f&auml;ngt? Wenn uns wertvolle Gedanken mitgeteilt werden, dann
-erfreuen wir uns an ihnen, wenn sie auch nicht mit logischen F&auml;den
-verknüpft sind. Das Heil des Lebens h&auml;ngt nicht allein von
-der Logik ab, sondern auch von der Gedankenerzeugung. Unsere
-Fachphilosophie ist gegenw&auml;rtig unfruchtbar genug, und sie
-k&ouml;nnte die Belebung mit Gedanken eines mutigen, kühnen
-Schriftstellers, wie es Nietzsche ist, sehr wohl brauchen. Die
-Entwickelungskraft dieser Fachphilosophie ist gel&auml;hmt durch den
-Einflu&szlig;, den das Kant&rsquo;sche Denken auf sie genommen hat. Sie
-hat durch diesen Einflu&szlig; alle Ursprünglichkeit, allen Mut
-verloren. Kant hat aus der Schulphilosophie seiner Zeit den Begriff von
-Wahrheiten, die aus der &bdquo;reinen Vernunft&ldquo; stammen,
-<span class="pagenum">[<a id="pb23" href="#pb23" name="pb23">23</a>]</span>übernommen. Er hat zu zeigen versucht,
-da&szlig; wir durch solche Wahrheit nichts wissen k&ouml;nnen von
-Dingen, die jenseits unserer Erfahrung liegen, von &bdquo;Dingen an
-sich&ldquo;. Seit einem Jahrhundert ist nun unerme&szlig;licher
-Scharfsinn aufgewendet worden, um diesen Kant&rsquo;schen Gedanken nach
-allen Seiten durchzudenken. Die Erzeugnisse dieses Scharfsinns sind
-allerdings oft dürftig und trivial. &Uuml;bersetzte man die
-Banalit&auml;ten manches philosophischen Buches der Gegenwart aus den
-Schulformeln in eine gesunde Sprache, so würde sich ein solcher
-Inhalt gegenüber manchem kurzen Aphorismus Nietzsches armselig
-genug ausnehmen. Dieser konnte im Hinblick auf die Philosophie der
-Gegenwart mit einem gewissen Recht den stolzen Satz aussprechen:
-&bdquo;Mein Ehrgeiz ist, in zehn S&auml;tzen zu sagen, was jeder andere
-in einem Buche sagt, &mdash; was jeder andere in einem Buche
-<span class="ex">nicht</span> sagt ...&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">8.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Wie Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts
-geben will als ein Erzeugnis seiner pers&ouml;nlichen Instinkte und
-Triebe, so sind ihm auch fremde Ansichten nichts weiter als Symptome,
-aus denen er auf die in einzelnen Menschen oder ganzen V&ouml;lkern,
-Rassen u. s. w. vorwaltenden Instinkte schlie&szlig;t. Er macht sich
-nichts mit Diskussionen oder Widerlegungen fremder Meinungen zu
-schaffen. Aber er sucht die Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen
-aussprechen. Er sucht die Charaktere der Pers&ouml;nlichkeiten oder
-V&ouml;lker aus ihren Ansichten zu erkennen. Ob eine <span class="pagenum">[<a id="pb24" href="#pb24" name="pb24">24</a>]</span>Ansicht
-auf das Vorwalten der Instinkte für Gesundheit, Tapferkeit,
-Vornehmheit, Lebensfreude hinweist, oder ob sie aus ungesunden,
-sklavischen, müden, lebensfeindlichen Instinkten entspringt, das
-interessiert ihn. Wahrheiten an sich sind ihm gleichgültig; er
-kümmert sich darum, wie die Menschen ihre Wahrheiten ihren
-Instinkten gem&auml;&szlig; ausbilden, und wie sie damit ihre
-Lebensziele f&ouml;rdern. Die natürlichen Ursachen der
-menschlichen Ansichten will er aufsuchen.</p>
-<p class="par">Nach dem Sinne jener Idealisten, die der Wahrheit einen
-selbst&auml;ndigen Wert zuerkennen, die ihr einen &bdquo;reinen,
-h&ouml;hern Ursprung&ldquo; als den aus den Instinkten geben wollen,
-ist Nietzsches Bestreben allerdings nicht. Er erkl&auml;rt die
-menschlichen Ansichten als das Ergebnis natürlicher Kr&auml;fte,
-wie der Naturforscher die Einrichtung des Auges aus dem Zusammenwirken
-natürlicher Ursachen erkl&auml;rt. Eine Erkl&auml;rung der
-geistigen Entwickelung der Menschheit aus besonderen sittlichen
-Zwecken, Idealen, aus einer sittlichen Weltordnung erkennt er
-ebensowenig an, wie der Naturforscher der Gegenwart die Erkl&auml;rung
-anerkennt, da&szlig; die Natur das Auge deswegen in einer bestimmten
-Weise gebaut hat, weil sie den <span class="ex">Zweck</span> hatte, dem
-Organismus ein Organ zum Sehen anzuerschaffen. In jedem Ideal sieht
-Nietzsche nur den Ausdruck für einen Instinkt, der sich auf eine
-bestimmte Art seine Befriedigung sucht, wie der moderne Naturforscher
-in der zweckm&auml;&szlig;igen Einrichtung eines Organes das Ergebnis
-organischer Bildungsgesetze sieht. Wenn es gegenw&auml;rtig noch
-Naturforscher und Philosophen giebt, die jedes Schaffen <span class="pagenum">[<a id="pb25" href="#pb25" name="pb25">25</a>]</span>der
-Natur nach Zwecken ablehnen, aber vor dem sittlichen Idealismus Halt
-machen und in der Geschichte die Verwirklichung eines g&ouml;ttlichen
-Willens, einer idealen Ordnung der Dinge sehen, so ist dies eine
-Instinkthalbheit. Solchen Personen fehlt für die Beurteilung
-geistiger Vorg&auml;nge der richtige Blick, w&auml;hrend sie ihn in der
-Beobachtung von Naturvorg&auml;ngen zeigen. Wenn ein Mensch glaubt, er
-strebe ein Ideal an, das nicht aus der Wirklichkeit stammt, so glaubt
-er dies nur, weil er den Instinkt nicht kennt, aus dem dieses Ideal
-entsteht.</p>
-<p class="par">Nietzsche ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der
-moderne Naturforscher Gegner der Annahme von Zwecken ist, die die Natur
-verwirklichen soll. Er spricht ebensowenig von sittlichen Zwecken, wie
-der Naturforscher von Naturzwecken spricht. Nietzsche h&auml;lt es
-nicht für weiser, zu sagen: der Mensch soll ein sittliches Ideal
-verwirklichen, wie zu erkl&auml;ren: der Stier hat H&ouml;rner, damit
-er sto&szlig;en k&ouml;nne. Er betrachtet den einen wie den andern
-Ausspruch als Produkt einer Welterkl&auml;rung, welche von
-&bdquo;g&ouml;ttlicher Vorsehung&ldquo;, &bdquo;weiser Allmacht&ldquo;,
-statt von natürlichen Wirkungen, spricht.</p>
-<p class="par">Diese Welterkl&auml;rung ist ein Hemmschuh für
-alles gesunde Denken; sie schafft einen erdichteten, idealen Nebel, der
-das natürliche, auf die Beobachtung der Wirklichkeit gerichtete
-Sehverm&ouml;gen hindert, die Weltvorg&auml;nge zu durchschauen; sie
-stumpft endlich v&ouml;llig allen Wirklichkeitssinn ab. <span class="pagenum">[<a id="pb26" href="#pb26" name="pb26">26</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">9.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Wenn Nietzsche sich in einen geistigen Kampf
-einl&auml;&szlig;t, so will er nicht fremde Meinungen als solche
-widerlegen, sondern er thut es, weil diese Meinungen auf
-sch&auml;dliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die er
-bek&auml;mpfen will. Er hat dabei eine &auml;hnliche Absicht, wie sie
-jemand hat, der eine sch&auml;dliche Naturwirkung bek&auml;mpft oder
-ein gef&auml;hrliches Naturwesen vertilgt. Er baut nicht auf die
-&bdquo;überzeugende&ldquo; Kraft der Wahrheit, sondern darauf,
-da&szlig; er den Gegner besiegen wird, wenn dieser die ungesunden,
-sch&auml;dlichen Instinkte, er aber die gesunden, lebenf&ouml;rdernden
-hat. Er sucht nach keiner weiteren Rechtfertigung eines solchen
-Kampfes, wenn seine Instinkte die des Gegners als sch&auml;dlich
-empfinden. Er glaubt nicht als Vertreter irgend einer Idee k&auml;mpfen
-zu müssen, sondern er k&auml;mpft, weil ihn seine Instinkte dazu
-treiben. Zwar ist das bei keinem geistigen Kampfe anders, aber
-gew&ouml;hnlich sind sich die K&auml;mpfer der wirklichen Triebfedern
-ebensowenig bewu&szlig;t, wie die Philosophen sich ihres &bdquo;Willens
-zur Macht&ldquo; oder die Anh&auml;nger der sittlichen Weltordnung der
-natürlichen Ursachen ihrer sittlichen Ideale. Sie glauben,
-da&szlig; lediglich Meinung gegen Meinung k&auml;mpft, und
-verhüllen ihre wirklichen Motive durch Begriffsm&auml;ntel. Sie
-nennen auch die Instinkte des Gegners nicht, die ihnen unsympathisch
-sind, ja diese kommen ihnen vielleicht gar nicht zum Bewu&szlig;tsein.
-Kurz, die Kr&auml;fte, die eigentlich feindlich gegen einander
-gerichtet sind, treten gar nicht offen hervor. Nietzsche nennt
-rücksichtslos die Instinkte des Gegners, die <span class="pagenum">[<a id="pb27" href="#pb27" name="pb27">27</a>]</span>ihm
-zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte, die <span class="ex">er</span> ihnen entgegensetzt. Wer dies <span class="ex">Cynismus</span> nennen will, der mag es thun. Er soll aber nur
-nicht übersehen, da&szlig; es in aller menschlichen
-Th&auml;tigkeit niemals etwas anderes als solchen Cynismus gegeben hat,
-und da&szlig; alle idealistischen Wahngewebe von diesem Cynismus gewebt
-sind. <span class="pagenum">[<a id="pb29" href="#pb29" name="pb29">29</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-</div>
-</div>
-<div id="ch2" class="div1 chapter"><span class="pagenum">[<a href="#xd23e173">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h2 class="label">II.</h2>
-<h2 class="main">Der &Uuml;bermensch.</h2>
-<p><span class="pagenum">[<a id="pb31" href="#pb31" name="pb31">31</a>]</span></p>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">10.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Alles Streben des Menschen besteht, wie das eines
-jeden Lebewesens, darin, von der Natur eingepflanzte Triebe und
-Instinkte in der besten Weise zu befriedigen. Wenn die Menschen nach
-Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst streben, so geschieht dies
-deshalb, weil Tugend, Gerechtigkeit u. s. w. Mittel sind, durch die die
-menschlichen Instinkte sich so entwickeln k&ouml;nnen, wie es deren
-Natur entsprechend ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel
-verkümmern. Es ist nun eine Eigentümlichkeit des Menschen,
-da&szlig; er diesen Zusammenhang seiner Lebensbedingungen mit seinen
-natürlichen Trieben <span class="ex">vergi&szlig;t</span> und jene
-Mittel zu einem naturgem&auml;&szlig;en, machtvollen Leben als etwas
-ansieht, das <span class="ex">an sich</span> einen unbedingten Wert
-hat. Der Mensch sagt dann: Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis u. s. w.
-müssen um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie haben nicht
-dadurch einen Wert, da&szlig; sie dem Leben dienen, sondern vielmehr
-das Leben erhalte erst einen Wert dadurch, da&szlig; es nach jenen
-idealen Gütern strebt. Der Mensch sei nicht dazu da, nach
-Ma&szlig;gabe seiner Instinkte zu leben, wie das Tier; sondern er solle
-<span class="pagenum">[<a id="pb32" href="#pb32" name="pb32">32</a>]</span>seine Instinkte dadurch adeln, da&szlig; er sie in
-den Dienst h&ouml;herer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt der Mensch
-dazu, das, was er selbst erst zur Befriedigung seiner Triebe geschaffen
-hat, als Ideale anzubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe
-geben. Er fordert <span class="ex">Unterwerfung</span> unter die
-Ideale, die er h&ouml;her sch&auml;tzt, als sich selbst. Er l&ouml;st
-sich los von dem Mutterboden der Wirklichkeit und will seinem Dasein
-einen h&ouml;heren Sinn und Zweck geben. Er erfindet einen
-unnatürlichen Ursprung für seine Ideale. Er nennt sie den
-&bdquo;Willen Gottes&ldquo;, die &bdquo;ewigen sittlichen
-Gebote&ldquo;. Er will die &bdquo;Wahrheit um der Wahrheit
-willen&ldquo;, &bdquo;die Tugend um der Tugend&ldquo; willen anstreben.
-Er betrachtet sich als einen guten Menschen erst dann, wenn es ihm
-angeblich gelungen ist, seine Selbstsucht, d. h. seine natürlichen
-Instinkte zu b&auml;ndigen und <span class="ex">selbstlos</span> einem
-idealen Ziele zu folgen. Einem solchen Idealisten gilt <span class="ex">der</span> Mensch als unedel und &bdquo;b&ouml;se&ldquo;, der es
-bis zu solcher Selbstüberwindung nicht gebracht hat.</p>
-<p class="par">Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus
-natürlichen Instinkten. Auch was der Christ als Tugend ansieht,
-die ihm Gott geoffenbart hat, ist ursprünglich von Menschen
-erfunden, um irgend welche Instinkte zu befriedigen. Der
-natürliche Ursprung ist vergessen und der g&ouml;ttliche
-hinzugedichtet worden. &Auml;hnlich verh&auml;lt es sich mit den
-Tugenden, die die Philosophen und Moralprediger aufstellen.</p>
-<p class="par">Wenn die Menschen blo&szlig; <span class="ex">gesunde</span> Instinkte h&auml;tten und diesen gem&auml;&szlig;
-ihre Ideale bestimmten, so würde der theoretische Irrtum über
-den Ursprung <span class="pagenum">[<a id="pb33" href="#pb33" name="pb33">33</a>]</span>dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten
-h&auml;tten zwar falsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele,
-aber diese Ziele selbst w&auml;ren gesund, und das Leben
-mü&szlig;te gedeihen. Aber es giebt ungesunde Instinkte, die nicht
-auf St&auml;rkung, F&ouml;rderung des Lebens, sondern auf dessen
-Schw&auml;chung, Verkümmerung abzielen. Diese bem&auml;chtigen
-sich des genannten theoretischen Irrtums und machen ihn zum praktischen
-Lebenszwecke. <span class="ex">Sie</span> verleiten den Menschen, zu
-sagen: ein vollkommener Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst,
-seinem Leben dienen will, sondern derjenige, der sich der
-Verwirklichung eines Ideals hingiebt. Unter dem Einflu&szlig; dieser
-Instinkte bleibt der Mensch nicht blo&szlig; dabei stehen,
-irrtümlich seinen Zielen einen un- oder übernatürlichen
-Ursprung anzudichten, sondern er macht sich wirklich solche Ideale
-zurecht oder übernimmt sie von anderen, die <span class="ex">nicht</span> den Bedürfnissen des Lebens dienen. Er strebt
-nicht mehr darnach, die in seiner Pers&ouml;nlichkeit liegenden
-Kr&auml;fte ans Tageslicht zu ziehen, sondern er lebt nach einem seiner
-Natur aufgezwungenen Musterbilde. Ob er dieses Ziel einer Religion
-entnimmt, oder ob er es selbst auf Grund gewisser, <span class="ex">nicht</span> in seiner Natur liegenden Voraussetzungen bestimmt:
-darauf kommt es nicht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen Zweck
-der Menschheit im Auge hat und aus diesem seine sittlichen Ideale
-ableitet, legt der menschlichen Natur ebenso Fesseln an, wie der
-Religionsstifter, der den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch
-Gott gesetzt hat; und dem mü&szlig;t ihr folgen. Es ist auch
-gleichgültig, ob der Mensch sich vorsetzt, ein Ebenbild Gottes zu
-werden, oder ob er ein Ideal des <span class="pagenum">[<a id="pb34"
-href="#pb34" name="pb34">34</a>]</span>&bdquo;vollkommenen
-Menschen&ldquo; erfindet und diesem m&ouml;glichst &auml;hnlich werden
-will. Wirklich ist nur der <span class="ex">einzelne</span> Mensch und
-die Triebe und Instinkte dieses einzelnen Menschen. Nur wenn er auf die
-Bedürfnisse seiner eigenen Person sein Augenmerk richtet, kann der
-Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der einzelne Mensch wird
-nicht &bdquo;vollkommen&ldquo;, wenn er sich verleugnet und einem
-Vorbilde &auml;hnlich wird, sondern wenn er das verwirklicht, was in
-ihm zur Verwirklichung dr&auml;ngt. Die menschliche Th&auml;tigkeit
-erh&auml;lt nicht erst einen Sinn, wenn sie einem unpers&ouml;nlichen,
-&auml;u&szlig;eren Zwecke dient; sie hat ihren Sinn in sich selbst.</p>
-<p class="par">Der Anti-Idealist wird zwar auch in der ungesunden
-Abkehr des Menschen von seinen ureigenen Instinkten noch eine
-Instinkt&auml;u&szlig;erung erblicken. Er wei&szlig;, da&szlig; der
-Mensch selbst das Instinktwidrige nur aus Instinkt vollbringen kann. Er
-wird aber doch die Instinktwidrigkeit bek&auml;mpfen, wie der Arzt eine
-Krankheit bek&auml;mpft, trotzdem er wei&szlig;, da&szlig; sie
-naturgem&auml;&szlig; aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es darf
-also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf gemacht werden: du
-behauptest, alles, was der Mensch erstrebt, also auch alle Ideale,
-seien naturgem&auml;&szlig; entstanden; dennoch bek&auml;mpfst du den
-Idealismus. Gewi&szlig; entstehen Ideale ebenso naturgem&auml;&szlig;
-wie Krankheiten; aber der Gesunde bek&auml;mpft den Idealismus, wie er
-die Krankheit bek&auml;mpft. Der Idealist aber sieht die Ideale als
-etwas an, das gehegt und gepflegt werden mu&szlig;.</p>
-<p class="par">Der Glaube, da&szlig; der Mensch vollkommen erst wird,
-wenn er &bdquo;h&ouml;heren&ldquo; Zwecken dient, ist, <span class="pagenum">[<a id="pb35" href="#pb35" name="pb35">35</a>]</span>nach
-Nietzsches Meinung, etwas, das <span class="ex">überwunden</span>
-werden mu&szlig;. Der Mensch mu&szlig; sich auf sich selbst besinnen
-und erkennen, da&szlig; er Ideale nur erschaffen hat, um <span class="ex">sich</span> zu dienen. Naturgem&auml;&szlig; leben, ist
-gesünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus der
-Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht unpers&ouml;nlichen
-Zielen dient, sondern der den Zweck und Sinn seines Daseins in sich
-selbst sucht, der solche Tugenden zu den seinigen macht, die seiner
-Kraftentfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen &mdash; diesen
-Menschen stellt Nietzsche h&ouml;her als den selbstlosen
-Idealisten.</p>
-<p class="par">Dies ist es, was er durch seinen
-&bdquo;Zarathustra&ldquo; verkündet. Das souver&auml;ne
-Individuum, das wei&szlig;, da&szlig; es nur aus seiner Natur heraus
-leben kann, und das in einer seinem Wesen entsprechenden
-Lebensgestaltung sein pers&ouml;nliches Ziel sieht, ist für
-Nietzsche der <span class="ex">&Uuml;bermensch</span>, im Gegensatz zu
-dem Menschen, der glaubt: ihm sei das Leben geschenkt, um einem
-au&szlig;er ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen.</p>
-<p class="par">Den <span class="ex">&Uuml;bermenschen</span>, d. h. den
-Menschen, der naturgem&auml;&szlig; zu leben versteht, lehrt
-Zarathustra. Er lehrt die Menschen, ihre Tugenden als ihre
-Gesch&ouml;pfe betrachten; er hei&szlig;t sie diejenigen verachten, die
-ihre Tugenden h&ouml;her als sich selbst achten.</p>
-<p class="par">Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um sich frei
-zu machen von der Demut, in der sich die Menschen beugen vor ihren
-Tugenden. Er geht erst wieder unter Menschen, als er <span class="ex">die</span> Tugenden verachten gelernt hat, die das Leben
-b&auml;ndigen und nicht dem Leben dienen wollen. Er bewegt sich nun
-leicht wie ein T&auml;nzer, denn er folgt nur sich und seinem
-<span class="pagenum">[<a id="pb36" href="#pb36" name="pb36">36</a>]</span>Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm
-von den Tugenden vorgezeichnet werden. Nicht schwer mehr lastet der
-Glaube auf seinem Rücken, da&szlig; es unrecht sei, nur sich
-selbst zu folgen. Zarathustra schl&auml;ft nun nicht mehr, um von
-Idealen zu tr&auml;umen; er ist ein Wachender, der der Wirklichkeit
-sich frei gegenüberstellt. Ein schmutziger Strom ist ihm der
-Mensch, der sich selbst verloren hat und vor seinen eigenen
-Gesch&ouml;pfen im Staube liegt. Der &Uuml;bermensch ist ihm ein Meer,
-das diesen Strom aufnimmt, ohne selbst unrein zu werden. Denn der
-&Uuml;bermensch hat sich selbst gefunden; er erkennt <span class="ex">sich</span> als Herrn und Sch&ouml;pfer seiner Tugenden.
-Zarathustra hat das Gro&szlig;e erlebt, da&szlig; ihm alle Tugend zum
-Ekel geworden ist, die <span class="ex">über</span> den Menschen
-gesetzt wird.</p>
-<p class="par">&bdquo;Was ist das Gr&ouml;&szlig;te, das ihr erleben
-k&ouml;nnt? Das ist die Stunde der gro&szlig;en Verachtung. Die Stunde,
-in der euch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und
-eure Tugend.&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">11.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem Sinne
-der &bdquo;modernen Gebildeten&ldquo;. Sie m&ouml;chten alle Menschen
-einander gleich machen. Wenn alle nur nach <span class="ex">einem</span> Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufriedenheit und
-Glück auf Erden. Der Mensch soll zurückhalten, so fordern
-sie, seine besondern pers&ouml;nlichen Wünsche und nur der
-Allgemeinheit, dem gemeinsamen Glücke dienen. Friede und Ruhe wird
-dann auf der Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfnisse
-hat, dann st&ouml;rt keiner die Kreise des andern. Nicht <span class="pagenum">[<a id="pb37" href="#pb37" name="pb37">37</a>]</span>sich und
-seine individuellen Ziele soll der Einzelne im Auge haben, sondern nach
-der einmal bestimmten Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll
-alles einzelne Leben, und Glieder der gemeinsamen Weltordnung sollen
-alle werden.</p>
-<p class="par">&bdquo;Kein Hirt und <span class="ex">eine</span> Herde!
-Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich, wer anders fühlt, geht
-freiwillig ins Irrenhaus.</p>
-<p class="par">&bdquo;&sbquo;Ehemals war alle Welt irre&lsquo; &mdash;
-sagen die Feinsten und blinzeln.</p>
-<p class="par">&bdquo;Man ist klug und <span class="corr" id="xd23e831"
-title="Quelle: weiss">wei&szlig;</span> alles, was geschehen ist: so
-hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man
-vers&ouml;hnt sich bald, sonst verdirbt es den Magen.&ldquo;</p>
-<p class="par">Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um solcher
-Weisheit zu huldigen. Er hat die eigenartigen T&ouml;ne geh&ouml;rt,
-die aus dem Innern der Pers&ouml;nlichkeit erklingen, wenn der Mensch
-abseits steht von dem L&auml;rm des Marktes, wo einer nur die Worte des
-andern nachspricht. Und er m&ouml;chte es den Menschen in die Ohren
-rufen: h&ouml;ret auf die Stimmen, die nur in jedem Einzelnen von euch
-erklingen. Denn die nur sind <span class="corr" id="xd23e836" title="Quelle: naturgem&auml;ss">naturgem&auml;&szlig;</span>, die nur sagen
-jedem, was er vermag. Ein Feind des Lebens, des reichen, vollen Lebens,
-ist derjenige, welcher diese Stimmen ungeh&ouml;rt verhallen
-<span class="corr" id="xd23e839" title="Quelle: l&auml;sst">l&auml;&szlig;t</span> und auf das gemeinsame
-Geschrei der Menschen h&ouml;rt. Zu den Freunden der Gleichheit aller
-Menschen will Zarathustra nicht sprechen. Sie k&ouml;nnten ihn nur
-mi&szlig;verstehen. Denn sie würden glauben, <span class="corr"
-id="xd23e842" title="Quelle: dass">da&szlig;</span> sein
-&Uuml;bermensch jenes ideale Musterbild sei, dem alle gleich werden
-sollen. Aber Zarathustra will den Menschen keine Vorschriften
-darüber machen, wie sie <span class="pagenum">[<a id="pb38" href="#pb38" name="pb38">38</a>]</span>sein sollen; er will nur jeden
-Einzelnen auf sich selbst verweisen und ihm sagen: überlasse dich
-dir selbst, folge nur dir allein, stelle <span class="ex">dich</span>
-über Tugend, Weisheit und Erkenntnis. Zu solchen, die <span class="ex">sich</span> suchen wollen, spricht Zarathustra; nicht einer Menge,
-die ein gemeinsames Ziel sucht, sondern solchen Gef&auml;hrten, gelten
-seine Worte, die gleich ihm einen eigenen Weg gehen. Sie allein
-verstehen ihn, denn sie wissen, <span class="corr" id="xd23e854" title="Quelle: dass">da&szlig;</span> er nicht sagen will: seht, dies ist der
-&Uuml;bermensch, werdet wie er, sondern: seht, ich habe <span class="ex">mich</span> gesucht; so bin ich, wie ich es euch lehre; geht hin
-und sucht euch ebenso, dann habt ihr den &Uuml;bermenschen.</p>
-<p class="par">&bdquo;Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und
-den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für Unerh&ouml;rtes, dem
-will ich sein Herz schwer machen mit meinem Glücke.&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">12.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Zwei Tiere: die Schlange, als das klügste,
-und der Adler, als das stolzeste Tier, begleiten Zarathustra. Sie sind
-die Symbole seiner Instinkte. Klugheit sch&auml;tzt Zarathustra, denn
-sie lehrt den Menschen die verschlungenen Pfade der Wirklichkeit
-finden; sie lehrt ihn kennen, was er zum Leben braucht. Und auch den
-Stolz liebt Zarathustra, denn der Stolz bringt die Selbstachtung des
-Menschen hervor, durch die dieser dazu kommt, sich selbst als den Sinn
-und Zweck seines Daseins zu betrachten. Der Stolze stellt seine
-Weisheit, seine Tugend nicht über sich selbst. Der Stolz bewahrt
-den Menschen davor, sich selbst zu vergessen über
-&bdquo;h&ouml;heren, heiligeren&ldquo; Zielen. <span class="pagenum">[<a id="pb39" href="#pb39" name="pb39">39</a>]</span>Lieber
-noch als den Stolz m&ouml;chte Zarathustra die Klugheit verlieren. Denn
-die Klugheit, die nicht von Stolz begleitet ist, sieht sich nicht als
-Menschenwerk an. Wem der Stolz und die Selbstachtung fehlt, der glaubt,
-seine Klugheit sei ihm vom Himmel geschenkt. Ein solcher sagt: ein Thor
-ist der Mensch, und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel
-schenken will.</p>
-<p class="par">&bdquo;Und wenn mich einst meine Klugheit <span class="corr" id="xd23e871" title="Quelle: verl&auml;sst">verl&auml;&szlig;t</span>: &mdash; ach, sie
-liebt es, davonzufliegen! &mdash; m&ouml;ge mein Stolz dann noch mit
-meiner Thorheit fliegen!&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">13.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Drei Verwandlungen <span class="corr" id="xd23e879" title="Quelle: muss">mu&szlig;</span> der menschliche Geist
-durchmachen, bis er sich selbst gefunden hat. Dies lehrt Zarathustra.
-Ehrfürchtig ist der Geist zuerst. Er nennt Tugend, was auf ihm
-lastet. Er erniedrigt sich, um seine Tugend zu erh&ouml;hen. Er sagt:
-alle Weisheit ist bei Gott, und Gottes Wegen mu&szlig; ich folgen. Gott
-legt mir das Schwerste auf, um meine Kraft zu prüfen, ob sie auch
-stark sei und geduldig ausharre. Nur der Geduldige ist stark. Gehorchen
-will ich, sagt der Geist auf dieser Stufe, und ausführen die
-Gebote des Weltengeistes, ohne zu fragen, was der Sinn dieser Gebote
-ist. Der Geist fühlt den Druck, den eine h&ouml;here Macht auf ihn
-ausübt. Nicht <span class="ex">seine</span> Wege geht der Geist,
-sondern die Wege dessen, dem er dient.</p>
-<p class="par">Es kommt die Zeit, wo der Geist inne wird, da&szlig;
-kein Gott zu ihm redet. Dann will er frei sein und Herr in seiner
-eigenen Welt. Er sucht nach einer <span class="pagenum">[<a id="pb40"
-href="#pb40" name="pb40">40</a>]</span>Richtschnur für seine
-Geschicke. Er fr&auml;gt nicht mehr den Weltengeist, wie er sein Leben
-einrichten solle. Aber nach einem festen Gesetz, nach einem heiligen
-&bdquo;du sollst&ldquo; strebt er. Er sucht nach einem Ma&szlig;stab,
-um den Wert der Dinge zu messen; er sucht nach einem
-Unterscheidungszeichen von Gut und B&ouml;se. Es <span class="corr" id="xd23e889" title="Quelle: muss">mu&szlig;</span> eine Regel für
-mein Leben geben, die nicht von mir, von meinem Willen abh&auml;ngt, so
-spricht der Geist auf dieser Stufe. Dieser Regel will ich mich
-fügen. Frei bin ich, meint der Geist, aber nur frei, um einer
-solchen Regel zu gehorchen.</p>
-<p class="par">Auch diese Stufe überwindet der Geist. Er wird wie
-das Kind, das bei seinem Spielen nicht fragt: wie <span class="ex">soll</span> ich dies oder jenes machen, sondern das nur seinen
-Willen ausführt, das nur sich selbst folgt. &bdquo;<span class="ex">Seinen</span> Willen will nun der Geist, <span class="ex">seine</span> Welt gewinnt sich der Weltverlorne.&ldquo;</p>
-<p class="par">&bdquo;Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes:
-wie der Geist zum Kamele ward, und zum L&ouml;wen das Kamel, und der
-L&ouml;we zuletzt zum Kinde. &mdash; &mdash; Also sprach
-Zarathustra.&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">14.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Was wollen die Weisen, die die Tugend über
-den Menschen stellen? fragt Zarathustra. Sie sagen: die Ruhe der Seele
-kann nur haben, wer seine Pflicht gethan hat, wer dem heiligen
-&bdquo;du sollst&ldquo; gefolgt ist. Tugendhaft soll der Mensch sein,
-damit er nach gethaner Pflicht tr&auml;umen k&ouml;nne von
-erfüllten Idealen und keine Gewissensbisse fühle. Ein Mensch
-mit Gewissensbissen gleicht, sagen die Tugendhaften, <span class="pagenum">[<a id="pb41" href="#pb41" name="pb41">41</a>]</span>einem
-Schlafenden, dem b&ouml;se Tr&auml;ume die Nachtruhe st&ouml;ren.</p>
-<p class="par">&bdquo;Wenige wissen das, aber man mu&szlig; alle
-Tugenden haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeugnis reden?
-Werde ich ehebrechen?</p>
-<p class="par">&bdquo;Werde ich mich gelüsten lassen meines
-N&auml;chsten Magd? Das alles vertrüge sich schlecht mit gutem
-Schlafe ...</p>
-<p class="par">&bdquo;Friede mit Gott und dem Nachbar, so will es der
-gute Schlaf. Und Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht
-er bei dir des Nachts um.&ldquo;</p>
-<p class="par">Nicht was sein Trieb ihn hei&szlig;t, thut der
-Tugendhafte, sondern was Seelenruhe bewirkt. Er lebt, um in Ruhe
-über das Leben tr&auml;umen zu k&ouml;nnen. Noch lieber ist es
-ihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe nennt, gar kein Traum
-st&ouml;rt. Das hei&szlig;t: dem Tugendhaften ist es am liebsten, wenn
-er irgendwoher die Regeln seines Handelns erh&auml;lt und im
-übrigen seine Ruhe genie&szlig;en kann. &bdquo;Seine Weisheit
-hei&szlig;t: wachen, um gut zu schlafen. Und wahrlich, h&auml;tte das
-Leben keinen Sinn, und mü&szlig;te ich Unsinn w&auml;hlen, so
-w&auml;re auch mir dies der w&auml;hlenswürdigste Unsinn,&ldquo;
-spricht Zarathustra.</p>
-<p class="par">Auch für Zarathustra gab es eine Zeit, da er
-glaubte, ein au&szlig;erhalb der Welt wohnender Geist, ein Gott, habe
-die Welt geschaffen. Einen unzufriedenen, leidenden Gott dachte sich
-Zarathustra. Um sich eine Befriedigung zu verschaffen, um von seinem
-Leiden loszukommen, habe Gott die Welt erschaffen, meinte einst
-Zarathustra. Aber er hat einsehen gelernt, da&szlig; es ein Wahnbild
-war, das er sich selbst geschaffen hatte. &bdquo;Ach, ihr Brüder,
-dieser Gott, <span class="pagenum">[<a id="pb42" href="#pb42" name="pb42">42</a>]</span>den ich schuf, war Menschenwerk und -Wahnsinn
-gleich allen G&ouml;ttern!&ldquo; Zarathustra hat seine Sinne
-gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und zufrieden wurde er mit
-der Welt; nicht mehr schweiften seine Gedanken ins Jenseits. Blind war
-er ehemals und konnte die Welt nicht sehen, deshalb suchte er sein Heil
-au&szlig;erhalb der Welt. Aber Zarathustra hat <span class="ex">sehen</span> gelernt und erkennen, da&szlig; die Welt in sich
-selbst ihren Sinn habe.</p>
-<p class="par">&bdquo;Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre
-ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge
-zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, meinen Erdenkopf, der der Erde
-Sinn schafft.&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">15.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">In Leib und Seele haben die Idealisten den
-Menschen gespalten, in Idee und Wirklichkeit haben sie alles Dasein
-geteilt. Und sie haben die Seele, den Geist, die Idee zu einem
-besonders Wertvollen gemacht, um die Wirklichkeit, den Leib um so mehr
-verachten zu k&ouml;nnen. Zarathustra aber sagt: Nur <span class="ex">eine</span> Wirklichkeit, nur einen Leib giebt es, und die Seele
-ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas an der Wirklichkeit.
-<span class="ex">Eine Einheit</span> sind Leib und Seele des Menschen;
-aus <span class="ex">einer</span> Wurzel entspringen K&ouml;rper und
-Geist. Der Geist ist nur da, weil ein K&ouml;rper da ist, der
-Kr&auml;fte hat, an sich den Geist zu entwickeln. Wie die Pflanze an
-sich die Blüte, so entfaltet der K&ouml;rper an sich den
-Geist.</p>
-<p class="par">&bdquo;Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein
-Bruder, steht ein m&auml;chtiger Gebieter, ein unbekannter <span class="pagenum">[<a id="pb43" href="#pb43" name="pb43">43</a>]</span>Weiser
-&mdash; der hei&szlig;t Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist
-er.&ldquo;</p>
-<p class="par">Wer einen Sinn hat für das Wirkliche, der sucht den
-Geist, die Seele in und an dem Wirklichen, er sucht die Vernunft in dem
-Wirklichen; nur wer die Wirklichkeit für geistlos, für
-&bdquo;blo&szlig; natürlich&ldquo;, für &bdquo;roh&ldquo;
-h&auml;lt, der giebt dem Geiste, der Seele ein besonderes Dasein. Er
-macht die Wirklichkeit zur blo&szlig;en Wohnung des Geistes. Einem
-solchen fehlt aber auch der Sinn für die Wahrnehmung des Geistes
-selbst. Nur weil er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht, sucht er
-ihn anderswo.</p>
-<p class="par">&bdquo;Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in
-deiner besten Weisheit .....</p>
-<p class="par">&bdquo;Der Leib ist eine gro&szlig;e Vernunft, eine
-Vielheit mit <span class="ex">einem</span> Sinne, ein Krieg und ein
-Frieden, eine Herde und ein Hirt.</p>
-<p class="par">&bdquo;Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine
-Vernunft, mein Bruder, die du &bdquo;Geist&ldquo; nennst, ein kleines
-Werk- und Spielzeug deiner gro&szlig;en Vernunft.&ldquo;</p>
-<p class="par">Ein Thor ist, wer die Blüte von der Pflanze
-rei&szlig;t und glaubt, die abgerissene Blüte werde nun sich noch
-zur Frucht entwickeln. Ein Thor ist ebenso, wer den Geist von der Natur
-absondert und glaubt, ein solcher abgesonderter Geist k&ouml;nne noch
-schaffen.</p>
-<p class="par">Menschen mit kranken Instinkten haben die Scheidung von
-Geist und K&ouml;rper vorgenommen. Ein kranker Instinkt nur kann sagen:
-mein Reich ist nicht von dieser Welt. Eines gesunden Instinktes Reich
-ist <span class="ex">nur diese Welt</span>. <span class="pagenum">[<a id="pb44" href="#pb44" name="pb44">44</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">16.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Was für Ideale haben sie doch geschaffen,
-diese Ver&auml;chter der Wirklichkeit! Fassen wir sie ins Auge, die
-Ideale der Asketen, die da sagen: wendet ab euren Blick vom Diesseits
-und schaut nach dem Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit
-dieser Frage und den Vermutungen, mit denen er sie beantwortet, hat uns
-Nietzsche am tiefsten hineinblicken lassen in sein von der
-abendl&auml;ndischen neueren Kultur unbefriedigtes Herz. (Genealogie
-der Moral<span class="corr" id="xd23e971" title="Quelle: .">,</span> 3.
-Abteilung.)</p>
-<p class="par">Wenn ein <span class="ex">Künstler</span>, wie z.
-B. <span class="ex">Richard Wagner</span> in der letzten Zeit seines
-Schaffens, Anh&auml;nger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht
-viel zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes Leben hindurch
-<span class="ex">über</span> seinen Sch&ouml;pfungen. Er sieht von
-oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er schafft Wirklichkeiten, die
-nicht <span class="ex">seine</span> Wirklichkeit sind. &bdquo;Ein Homer
-h&auml;tte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer
-ein Achill, und wenn Goethe ein Faust gewesen w&auml;re.&ldquo;
-(Genealogie, 3. Abt. &sect; 4.) Wenn nun ein solcher Künstler sein
-eigenes Dasein einmal ernst nimmt, sich selbst und seine
-pers&ouml;nlichen Ansichten in Wirklichkeit umsetzen will, so ist es
-kein Wunder, wenn etwas sehr Unreales entsteht. <span class="ex">Richard Wagner</span> hat über seine Kunst vollst&auml;ndig
-umgelernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt wurde. Vorher
-hielt er die Musik für ein Ausdrucksmittel, das etwas braucht, dem
-es Ausdruck verschafft, das Drama. In seiner Schrift <span class="ex">Oper</span> und <span class="ex">Drama</span>, die 1851
-geschrieben ist, spricht er aus, da&szlig; der <span class="pagenum">[<a id="pb45" href="#pb45" name="pb45">45</a>]</span>gr&ouml;&szlig;te Irrtum, dem man sich in Bezug
-auf die Oper hingeben kann, der ist, &bdquo;da&szlig;</p>
-<div class="blockquote">
-<p class="par first">ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke,
-der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht<a id="xd23e1003" name="xd23e1003"></a> werde.&ldquo;</p>
-</div>
-<p class="par"></p>
-<p class="par">Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem er
-Schopenhauers Lehre von der Musik kennen gelernt hatte. Schopenhauer
-ist der Ansicht, da&szlig; durch die Musik das Wesen der Dinge selbst
-zu uns spricht. Der ewige <span class="ex">Wille</span>, der in allen
-Dingen lebt, er wird in allen anderen Künsten nur in seinen
-Abbildern, in den Ideen, verk&ouml;rpert; die Musik ist kein
-blo&szlig;es Bild des Willens: in ihr giebt sich der Wille <span class="ex">unmittelbar</span> kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen
-nur im Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins, der Wille, ihn
-glaubt Schopenhauer in den Kl&auml;ngen der Musik unmittelbar zu
-vernehmen. Kunde aus dem Jenseits bringt für Schopenhauer die
-Musik. Diese Ansicht wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr als
-Ausdrucksmittel wirklicher menschlicher Leidenschaften, wie sie im
-Drama verk&ouml;rpert sind, lie&szlig; er die Musik gelten, sondern als
-&bdquo;eine Art Mundstück des <span class="ex">Ansich</span> der
-Dinge, ein Telephon des Jenseits&ldquo;. Richard Wagner glaubte jetzt
-nicht mehr die Wirklichkeit in T&ouml;nen auszudrücken; &bdquo;er
-redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes,
-&mdash; er redete Metaphysik: was Wunder, da&szlig; er endlich eines
-Tages <span class="ex">asketische Ideale</span> redete.&ldquo;
-(<span class="corr" id="xd23e1020" title="Quelle: Generalogie">Genealogie</span><span class="corr" id="xd23e1022" title="Quelle: .">,</span> 3. Abteilung, &sect; 5.)</p>
-<p class="par">H&auml;tte <span class="ex">Richard Wagner</span>
-blo&szlig; seine Ansicht über die Bedeutung der Musik
-ge&auml;ndert, so h&auml;tte Nietzsche keinen Anla&szlig;, ihm etwas
-vorzuwerfen. <span class="pagenum">[<a id="pb46" href="#pb46" name="pb46">46</a>]</span>Nietzsche k&ouml;nnte dann h&ouml;chstens sagen:
-Wagner hat au&szlig;er seinen Kunstwerken auch noch allerlei verkehrte
-Theorien über die Kunst geschaffen. Da&szlig; aber Wagner in der
-letzten Zeit seines Schaffens den Schopenhauerschen Jenseitsglauben
-auch in seinen Kunstwerken verk&ouml;rpert hat, da&szlig; er seine
-Musik dazu verwendet hat, die Flucht vor der Wirklichkeit zu
-verherrlichen: das ging Nietzsche wider den Geschmack.</p>
-<p class="par">Aber der &bdquo;Fall Wagner&ldquo; besagt nichts, wenn
-es sich um die Bedeutung der Verherrlichung des Jenseits auf Kosten des
-Diesseits, wenn es sich um die Bedeutung <span class="corr" id="xd23e1034" title="Quelle: des">der</span> asketischen Ideale handelt.
-Künstler stehen nicht auf eigenen Fü&szlig;en. Wie Richard
-Wagner von Schopenhauer abh&auml;ngig ist, so waren die Künstler
-&bdquo;zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral, oder Philosophie oder
-Religion&ldquo;.</p>
-<p class="par">Anders ist es, wenn die Philosophen für die
-Verachtung der Wirklichkeit, für die asketischen Ideale eintreten.
-Sie thun das aus einem tiefen Instinkte heraus.</p>
-<p class="par">Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch die
-Beschreibung, die er von dem Schaffen und Genie&szlig;en eines
-Kunstwerkes giebt. &bdquo;Da&szlig; also das <span class="ex">Kunstwerk</span> die Auffassung der Ideen, in welcher der
-&auml;sthetische Genu&szlig; besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht
-blo&szlig; darauf, da&szlig; die Kunst durch Hervorhebung des
-Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen die Dinge deutlicher
-und charakteristischer darstellt, sondern ebenso sehr darauf,
-<span class="ex">da&szlig; das zur objektiven Auffassung des Wesens der
-Dinge erforderte g&auml;nzliche Schweigen <span class="pagenum">[<a id="pb47" href="#pb47" name="pb47">47</a>]</span>des Willens am sichersten
-dadurch erreicht wird, da&szlig; das angeschaute Objekt gar nicht im
-Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen f&auml;hig
-sind</span>.&ldquo; (Erg&auml;nzungen zum 3. Buch der Welt als Wille
-und Vorstellung, Kap. 21.) &bdquo;Wann aber ein &auml;u&szlig;erer
-Anla&szlig; oder eine innere Stimmung uns pl&ouml;tzlich aus dem
-endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem
-Sklavendienst des Willens entrei&szlig;t, die Aufmerksamkeit nun nicht
-mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei
-von ihrer Beziehung auf den Willen auffa&szlig;t, also <span class="ex">ohne Interesse, ohne Subjektivit&auml;t</span>, rein objektiv sie
-betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie blo&szlig; Vorstellungen,
-nicht sofern sie Motive sind: dann ist ..... der schmerzenlose Zustand,
-den Epikuros als das h&ouml;chste Gut und als den Zustand der
-G&ouml;tter pries [eingetreten]: denn wir sind für jenen
-Augenblick des schn&ouml;den Willensdranges entledigt, wir feiern den
-Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht
-still.&ldquo; (Welt als Wille und Vorstellung, &sect; 38.)</p>
-<p class="par">Dies ist eine Beschreibung einer Art des
-&auml;sthetischen Genusses, die nur bei dem Philosophen vorkommt.
-Nietzsche stellt ihr gegenüber eine andere Beschreibung,
-&bdquo;die ein <span class="ex">wirklicher</span> Zuschauer und Artist
-gemacht hat &mdash; Stendhal&ldquo;, der das Sch&ouml;ne
-&bdquo;<span lang="fr">une promesse de bonheur</span>&ldquo; nennt.
-Schopenhauer m&ouml;chte alles Willensinteresse, alles wirkliche Leben
-ausschalten, wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes handelt,
-und nur mit dem <span class="ex">Geiste</span> genie&szlig;en; Stendhal
-sieht in dem Kunstwerke ein <span class="ex">Versprechen</span> von
-<span class="pagenum">[<a id="pb48" href="#pb48" name="pb48">48</a>]</span><span class="ex">Glück</span>, also einen
-Hinweis auf das Leben, und sieht in diesem Zusammenhang der Kunst mit
-dem Leben den Wert der Kunst.</p>
-<p class="par">Kant fordert vom sch&ouml;nen Kunstwerk, da&szlig; es
-<span class="ex">ohne Interesse gefalle</span>, d. h. da&szlig; es uns
-heraushebe aus dem wirklichen Leben und einen rein geistigen
-Genu&szlig; gew&auml;hre.</p>
-<p class="par">Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen
-Genu&szlig;? <span class="ex">Erl&ouml;sung</span> von der
-Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit-fremde Stimmung will der Philosoph
-durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verr&auml;t dadurch seinen
-Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich in den Augenblicken am
-wohlsten, in denen er von der Wirklichkeit loskommen kann. Seine
-Ansicht vom &auml;sthetischen Genu&szlig; zeigt, da&szlig; er die
-Wirklichkeit nicht liebt.</p>
-<p class="par">Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer von dem
-Kunstwerke verlangt, sagen uns die Philosophen in ihren Theorien,
-sondern nur, was ihnen selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist
-die Abkehr von dem Leben sehr f&ouml;rderlich. Er will sich seine
-verschlungenen Gedankenwege nicht durchkreuzen lassen von der
-Wirklichkeit. Das Denken gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von
-dem Leben abkehrt. Es ist nun kein Wunder, wenn dieser philosophische
-Grundinstinkt geradezu zu einer <span class="corr" id="xd23e1083"
-title="Quelle: leben-feindlichen">lebensfeindlichen</span> Stimmung
-wird. Wir finden eine solche Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen
-ausgebildet. Und nahe liegt es, da&szlig; der Philosoph seine eigene
-Antipathie gegen das Leben zu einer <span class="ex">Lehre</span>
-ausbildet und fordert, da&szlig; sich alle Menschen zu einer solchen
-Lehre bekennen. Schopenhauer hat <span class="pagenum">[<a id="pb49"
-href="#pb49" name="pb49">49</a>]</span>dieses gethan. Er fand,
-da&szlig; der L&auml;rm der Welt seine Gedankenarbeit st&ouml;rte. Er
-empfand, da&szlig; man über die Wirklichkeit am besten
-<span class="ex">nachdenken</span> kann, wenn man dieser Wirklichkeit
-entflieht. Zugleich verga&szlig; er, da&szlig; alles Denken über
-die Wirklichkeit doch nur dann einen Wert hat, wenn es aus dieser
-Wirklichkeit entspringt. Er beachtete nicht, da&szlig; das
-Zurückziehen des Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen
-kann, damit die entfernt von dem Leben entstandenen philosophischen
-Gedanken dann dem Leben um so besser dienen k&ouml;nnen. Wenn der
-Philosoph den Grundinstinkt, der nur ihm als Philosophen
-f&ouml;rderlich ist, der ganzen Menschheit aufdr&auml;ngen will, dann
-wird er zu einem Feinde des Lebens.</p>
-<p class="par">Der Philosoph, der die Weltflucht nicht als Mittel
-betrachtet, um weltfreundliche Gedanken zu schaffen, sondern als Zweck,
-als Ziel, kann nur Wertloses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf
-der einen Seite die Wirklichkeit nur, um sich auf der anderen um so
-tiefer in sie einzubohren. Aber es ist begreiflich, da&szlig; dieser
-Grundinstinkt den Philosophen leicht dazu verführen kann, die
-Weltflucht als solche für wertvoll zu halten. Dann wird der
-Philosoph zu einem Anwalt der Weltverneinung. Er lehrt Abkehr vom
-Leben, asketisches Ideal. Er findet: &bdquo;Ein gewisser Asketismus
-..... eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens geh&ouml;rt
-zu den günstigen Bedingungen h&ouml;chster Geistigkeit,
-insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von
-vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische Ideal gerade von
-den Philosophen nie ohne einige <span class="pagenum">[<a id="pb50"
-href="#pb50" name="pb50">50</a>]</span>Voreingenommenheit behandelt
-worden ist.&ldquo; (Genealogie der Moral, 3. Abteilung &sect; 8.)</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">17.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Einen andern Ursprung haben die asketischen Ideale
-der <span class="ex">Priester</span>. Was bei dem Philosophen durch das
-&Uuml;berwuchern eines bei ihm berechtigten Triebes entsteht, das
-bildet das Grundideal des priesterlichen Wirkens. Der Priester sieht in
-der Hingabe des Menschen an das wirkliche Leben einen Irrtum; er
-verlangt, da&szlig; man <span class="ex">dieses</span> Leben gering
-achte gegenüber einem andern Leben, das von h&ouml;heren als
-blo&szlig; natürlichen Kr&auml;ften gelenkt wird. Der Priester
-leugnet, da&szlig; das wirkliche Leben einen Sinn in sich selbst habe,
-und er fordert, da&szlig; ihm dieser Sinn verliehen werde durch
-Einimpfung eines h&ouml;heren Willens. Er sieht das Leben in der
-Zeitlichkeit als unvollkommen an und stellt ihm ein ewiges,
-vollkommenes Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit und
-Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester. Ich m&ouml;chte
-als besonders bezeichnend für die priesterliche Denkweise einige
-S&auml;tze aus dem berühmten Buche &bdquo;Die deutsche
-Theologie&ldquo; anführen, das aus dem 14. Jahrhundert stammt und
-von dem Luther sagt, da&szlig; er aus keinem Buche, die Bibel und den
-heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt habe, was Gott, Christus
-und der Mensch sei, als aus diesem. Auch Schopenhauer findet, da&szlig;
-der Geist des Christentums in diesem Buche vollkommen und kr&auml;ftig
-ausgesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der uns unbekannt ist,
-auseinander gesetzt hat, da&szlig; alle Dinge <span class="pagenum">[<a id="pb51" href="#pb51" name="pb51">51</a>]</span>der Welt
-nur ein Unvollkommenes und Geteiltes seien gegenüber dem
-Vollkommenen, &bdquo;das in sich und in seinem Wesen alle Wesen
-begriffen und beschlossen hat, und ohne das und au&szlig;er dem kein
-wahres Wesen ist und in dem alle Dinge ihr Wesen haben&ldquo;,
-führt er aus, da&szlig; der Mensch in dieses Wesen nur eindringen
-kann, wenn er &bdquo;Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, Ichheit,
-Selbstheit und dergleichen alles verloren&ldquo; und in sich zu nichte
-gemacht hat. Was von dem Vollkommenen ausgeflossen ist und was der
-Mensch als <span class="ex">seine</span> wirkliche Welt erkennt, das
-wird folgenderma&szlig;en charakterisiert: &bdquo;Das ist kein wahres
-Wesen und hat kein Wesen anders denn in dem Vollkommenen, sondern es
-ist ein Zufall oder ein Glanz und ein Schein, der kein Wesen ist oder
-kein Wesen hat anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausflie&szlig;t,
-oder in der Sonne, oder in dem Lichte. Die Schrift spricht und der
-Glaube und die Wahrheit: Sünde sei nichts anderes, denn da&szlig;
-sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren Gute und kehret sich zu
-dem wandelbaren, das ist: da&szlig; sie sich kehrt von dem Vollkommenen
-zu dem Geteilten und Unvollkommenen und allermeist zu sich selber. Nun
-merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens, Lebens,
-Wissens, Erkennens, Verm&ouml;gens und kürzlich alles dessen, was
-man gut nennen soll, und meint, <span class="ex">da&szlig; sie das sei
-oder da&szlig; es das Ihre sei oder ihr zugeh&ouml;re oder da&szlig; es
-von ihr sei: so oft und viel dabei geschieht, so kehrt sie sich
-ab</span>. Was that der Teufel anders oder was war sein Fall und
-Abkehren anders, als da&szlig; er sich annahm, <span class="ex">er
-w&auml;re auch etwas und etwas w&auml;re <span class="pagenum">[<a id="pb52" href="#pb52" name="pb52">52</a>]</span>sein und ihm geh&ouml;rte
-auch etwas zu</span>? Dies Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein
-Mir und sein Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist es
-noch .... Denn alles das, was man für gut h&auml;lt oder gut
-nennen soll, das geh&ouml;rt niemand zu, denn allein dem ewigen wahren
-Gut, der Gott allein ist, und wer sich dessen annimmt, der thut Unrecht
-und wider Gott&ldquo;. (1., 2., 4. Kap. der deutsch. Theol., 3. Aufl.,
-übersetzt von Pfeiffer.)</p>
-<p class="par">Diese S&auml;tze sprechen die Gesinnung <span class="ex">jedes</span> Priesters aus. Sie sprechen den eigentlichen
-Charakter der Priesterlichkeit aus. Und dieser Charakter ist das
-Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den h&ouml;herwertigen, den
-lebenswürdigen bezeichnet. Der h&ouml;herwertige Typus Mensch will
-alles, was er ist, nur durch sich sein; er will, da&szlig; alles, was
-er für gut h&auml;lt und gut nennt, niemand zugeh&ouml;rt, denn
-ihm selbst.</p>
-<p class="par">Aber jene minderwertige Gesinnung ist kein Ausnahmefall.
-Sie &bdquo;ist eine der breitesten und l&auml;ngsten Thatsachen, die es
-giebt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die
-Majuskelschrift unseres Erdendaseins zu dem Schlu&szlig;
-verführen, die Erde sei der eigentlich <span class="ex">asketische
-Stern</span>, ein Winkel mi&szlig;vergnügter, hochmütiger und
-widriger Gesch&ouml;pfe, die einen tiefen Verdru&szlig; an sich, an der
-Erde, an allem Leben gar nicht los würden.&ldquo; (Genealogie der
-Moral, 3. Abteilung &sect; 11.) Der asketische Priester ist deshalb
-eine Notwendigkeit, weil die Mehrzahl der Menschen an einer
-&bdquo;Hemmung und Ermüdung&ldquo; der Lebenskr&auml;fte leidet,
-weil sie an der Wirklichkeit leidet. Der asketische Priester ist der
-Tr&ouml;ster und Arzt derjenigen, <span class="pagenum">[<a id="pb53"
-href="#pb53" name="pb53">53</a>]</span>die am Leben leiden. Er
-tr&ouml;stet sie dadurch, da&szlig; er ihnen sagt: dieses Leben, an dem
-ihr leidet, ist nicht das wahre Leben; das wahre Leben ist denjenigen,
-die an diesem Leben leiden, viel leichter erreichbar als den Gesunden,
-die an diesem Leben h&auml;ngen und sich ihm hingeben. Durch solche
-Aussprüche züchtet der Priester die Verachtung, die
-Verleumdung dieses wirklichen Lebens. Er bringt endlich die Gesinnung
-hervor, die sagt: um das wahre Leben zu erreichen, mu&szlig; dieses
-wirkliche Leben <span class="ex">verneint</span> werden. In der
-Verbreitung dieser Gesinnung sucht der asketische Priester seine
-St&auml;rke. Er beseitigt durch die Züchtung dieser Gesinnung eine
-gro&szlig;e Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewu&szlig;ten von
-den Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen droht. Die
-letzteren hassen die Gesunden und die leiblich und seelisch
-Glücklichen, die ihre Kr&auml;fte aus der Natur nehmen. Diesen
-Ha&szlig;, der sich dadurch &auml;u&szlig;ern mü&szlig;te,
-da&szlig; die Schwachen gegen die Starken einen fortw&auml;hrenden
-Vernichtungskrieg führten, sucht der Priester niederzuhalten. Er
-stellt deshalb die Starken als diejenigen hin, die ein wertloses,
-menschenunwürdiges Leben führen und behauptet dagegen,
-da&szlig; das wahre Leben allein denen erreichbar ist, die von dem
-Erdenleben gesch&auml;digt werden. &bdquo;Der asketische Priester
-mu&szlig; uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der
-kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure
-historische Mission. Die <span class="ex">Herrschaft über
-Leidende</span> ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in
-ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von
-Glück.&ldquo; (Genealogie, 3. Abth. &sect; 15.) <span class="pagenum">[<a id="pb54" href="#pb54" name="pb54">54</a>]</span></p>
-<p class="par">Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise endlich
-dazu führt, da&szlig; ihre Anh&auml;nger nicht nur das Leben
-verachten, sondern geradezu auf seine Zerst&ouml;rung hinarbeiten. Wenn
-den Menschen gesagt wird, nur der Leidende, der Schwache kann wirklich
-zu einem h&ouml;heren Leben kommen, so wird endlich das Leiden, die
-Schw&auml;che <span class="ex">gesucht</span> werden. Sich selbst
-Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz ert&ouml;ten, das wird
-Ziel des Lebens werden. Die Opfer dieser Gesinnung sind die Heiligen.
-&bdquo;V&ouml;llige Keuschheit und Entsagung aller Wollust für
-den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles
-Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller Angeh&ouml;rigen, tiefe,
-g&auml;nzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung,
-mit freiwilliger Bu&szlig;e und schrecklicher langsamer
-Selbstpeinigung, zur g&auml;nzlichen Mortifikation des Willens, welche
-zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch
-Entgegengehen den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten
-Felsengipfel im Himalaya, durch Lebendigbegrabenwerden, auch durch
-Hinwerfung unter die R&auml;der des unter Gesang, Jubel und Tanz der
-Bajaderen die G&ouml;tterbilder umfahrenden Wagens&ldquo;, dies sind
-die letzten Früchte der asketischen Gesinnung. (Schopenhauer, Welt
-als Wille und Vorstellung &sect; 68.)</p>
-<p class="par">Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben entsprungen, und
-sie richtet ihre Waffen gegen das Leben. Wenn der Gesunde, Lebensfrohe
-von ihr angesteckt wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken
-Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen, dieser Lehre
-gegenüber etwas anderes geltend zu <span class="pagenum">[<a id="pb55" href="#pb55" name="pb55">55</a>]</span>machen, eine Ansicht
-für Gesunde, Wohlgeratene. M&ouml;gen die Mi&szlig;ratenen,
-Verdorbenen in der Lehre der asketischen Priester ihr Heil suchen; die
-Gesunden will Nietzsche um sich sammeln und ihnen eine Meinung sagen,
-die ihnen besser zu Gesichte steht, als jedes lebensfeindliche
-Ideal.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">18.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Auch in den Pflegern der <span class="ex">modernen
-Wissenschaft</span> steckt noch das asketische Ideal. Zwar rühmt
-sich diese Wissenschaft, alle alten Glaubensvorstellungen über
-Bord geworfen zu haben und sich nur an die Wirklichkeit zu halten. Sie
-will nichts gelten lassen, was sich nicht z&auml;hlen, berechnen,
-w&auml;gen, sehen und greifen l&auml;&szlig;t. Da&szlig; man auf diese
-Weise &bdquo;das Dasein zu einer Rechenknechtsübung und
-Stubenhockerei für Mathematiker&ldquo; herabwürdigt, ist den
-modernen Gelehrten gleichgültig. (Fr&ouml;hliche Wissenschaft
-&sect; 373.) Ein Recht, die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft
-vorüberziehenden Vorkommnisse der Welt zu interpretieren,
-soda&szlig; er sie mit seinem Denken beherrschen kann, schreibt sich
-ein solcher Gelehrter nicht zu. Er sagt: die Wahrheit mu&szlig; von
-meiner Interpretationskunst unabh&auml;ngig sein, und ich habe die
-Wahrheit nicht zu schaffen, sondern ich mu&szlig; sie mir von den
-Erscheinungen der Welt diktieren lassen.</p>
-<p class="par">Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, wenn
-sie sich alles Zurechtlegens der Welterscheinungen enth&auml;lt, das
-hat ein Anh&auml;nger dieser Wissenschaft (Richard Wahle) in einem
-soeben erschienenen Buche (&bdquo;Das Ganze der Philosophie und ihr
-Ende&ldquo;) ausgesprochen: <span class="pagenum">[<a id="pb56" href="#pb56" name="pb56">56</a>]</span>&bdquo;Was k&ouml;nnte der Geist, der
-in das Weltgeh&auml;use sp&auml;hend und in sich die Fragen nach dem
-Wesen und dem Ziele des Geschehens herumw&auml;lzte, endlich als
-Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, da&szlig; er, wie er so
-scheinbar im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich aufl&ouml;ste
-und in einer Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen
-zusammenflo&szlig;. Er &bdquo;wu&szlig;te&ldquo; nicht mehr die Welt;
-er sagte, ich bin nicht sicher, da&szlig; Wissende da sind, sondern
-Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie kommen freilich in solcher Weise,
-da&szlig; der Begriff eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt
-entstehen konnte .... Und &bdquo;Begriffe&ldquo; huschten empor, um
-Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren Irrlichter, Seelen
-der Wünsche nach Wissen, erb&auml;rmliche, in ihrer Evidenz
-nichtssagende Postulate einer unausgefüllten Wissensform.
-<span class="ex">Unbekannte Faktoren müssen im Wechsel
-walten.</span> &Uuml;ber ihre Natur war Dunkel gebreitet. Vorkommnisse
-sind der Schleier des Wahrhaften.&ldquo;</p>
-<p class="par">Da&szlig; die menschliche Pers&ouml;nlichkeit in die
-Vorkommnisse der Wirklichkeit einen Sinn hineinlegen k&ouml;nne und die
-<span class="ex">unbekannten Faktoren</span>, die im Wechsel der
-Ereignisse walten, aus eigenem Verm&ouml;gen erg&auml;nzen k&ouml;nne,
-daran denken die modernen Gelehrten nicht. Sie wollen nicht die Flucht
-der Erscheinungen durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer
-Pers&ouml;nlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen blo&szlig;
-beobachten und beschreiben, aber nicht deuten. Sie wollen bei dem
-Thats&auml;chlichen stehen bleiben und es der sch&ouml;pferischen
-Phantasie nicht gestatten, sich <span class="pagenum">[<a id="pb57"
-href="#pb57" name="pb57">57</a>]</span>ein in sich gegliedertes Bild
-von der Wirklichkeit zu machen.</p>
-<p class="par">Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie z. B.
-<span class="ex">Ernst Haeckel</span>, aus den Ergebnissen einzelner
-Beobachtungen ein Gesamtbild der Entwickelung des organischen Lebens
-auf der Erde entwirft, dann fallen diese Fanatiker der
-Thats&auml;chlichkeit über ihn her und zeihen ihn der
-Versündigung an der Wahrheit. Die Bilder, die er von dem Leben in
-der Natur entwirft, k&ouml;nnen sie nicht mit Augen sehen, oder mit
-H&auml;nden greifen. Ihnen ist das unpers&ouml;nliche Urteil lieber,
-als das durch den Geist der Pers&ouml;nlichkeit gef&auml;rbte. Sie
-m&ouml;chten bei ihren Beobachtungen am liebsten die
-Pers&ouml;nlichkeit ganz ausschalten.</p>
-<p class="par">Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der
-Thats&auml;chlichkeit beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit <span class="ex">jenseits</span> des pers&ouml;nlichen, individuellen Urteiles. Was
-der Mensch in die Dinge &bdquo;hineinphantasieren&ldquo; kann,
-bekümmert sie nicht; die &bdquo;Wahrheit&ldquo; ist ihnen etwas
-absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch soll sie entdecken, sich ihr
-ergeben, aber sie nicht schaffen. Die Naturforscher und die
-Geschichtschreiber sind gegenw&auml;rtig von dem gleichen Geiste des
-asketischen Ideals beseelt. &Uuml;berall Aufz&auml;hlen, Beschreiben
-von Thatsachen, und nichts darüber. Jedes Zurechtlegen der
-Thatsachen ist verp&ouml;nt. Alles pers&ouml;nliche Urteilen soll
-unterbleiben.</p>
-<p class="par">Unter diesen modernen Gelehrten finden sich auch
-Atheisten. Diese Atheisten sind aber keine freieren Geister als ihre
-Zeitgenossen, die an Gott glauben. Mit den Mitteln der modernen
-Wissenschaft l&auml;&szlig;t sich das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat
-sich doch <span class="pagenum">[<a id="pb58" href="#pb58" name="pb58">58</a>]</span>eine der Leuchten moderner Wissenschaft (Du
-Bois-Reymond) über die Annahme einer &bdquo;Weltseele&ldquo; also
-ge&auml;u&szlig;ert: bevor der Naturforscher sich zu einer solchen
-Annahme entschlie&szlig;t, verlangt er, &bdquo;da&szlig; ihm irgendwo
-in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellen Blut
-unter richtigem Druck gespeist, ein dem geistigen Verm&ouml;gen solcher
-Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und
-Nervenfasern gezeigt&ldquo; werde (Grenzen des Naturerkennens S. 44).
-Die moderne Wissenschaft lehnt den Glauben an Gott ab, weil dieser
-Glaube neben dem Glauben an die &bdquo;objektive Wahrheit&ldquo; nicht
-bestehen kann. Diese &bdquo;objektive Wahrheit&ldquo; ist aber nichts
-anderes als ein neuer Gott, der über den alten gesiegt hat.
-&bdquo;Der unbedingte redliche Atheismus (und <span class="ex">seine</span> Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen
-dieses Zeitalters!) steht <span class="ex">nicht</span> im Gegensatz zu
-jenem (asketischen) Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr
-nur eine seiner letzten Entwickelungsphasen, eine seiner
-Schlu&szlig;formen und inneren Folgerichtigkeiten, er ist die Ehrfurcht
-gebietende <span class="ex">Katastrophe</span> einer
-zweitausendj&auml;hrigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich
-die <span class="ex">Lüge im Glauben an Gott</span>
-verbietet.&ldquo; (Genealogie, 3. Abteilung &sect; 27.) Der Christ
-sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott für den Quell aller
-Wahrheit h&auml;lt; der moderne Atheist lehnt den Glauben an Gott ab,
-weil ihm <span class="ex">sein</span> Gott, sein Ideal von Wahrheit
-diesen Glauben verbietet. Der moderne Geist sieht in Gott eine
-menschliche Sch&ouml;pfung; in der &bdquo;Wahrheit&ldquo; sieht er
-etwas, was ohne alles menschliche Zuthun durch sich selbst besteht. Der
-wirklich &bdquo;freie Geist&ldquo; geht noch weiter. <span class="pagenum">[<a id="pb59" href="#pb59" name="pb59">59</a>]</span>Er
-fragt: &bdquo;<span class="ex">Was bedeutet aller Wille zur
-Wahrheit?</span>&ldquo; Wozu Wahrheit? Alle Wahrheit entsteht doch
-dadurch, da&szlig; der Mensch über die Erscheinungen der Welt
-nachdenkt, sich Gedanken über die Dinge bildet. Der Mensch selbst
-ist der Sch&ouml;pfer der Wahrheit. Der &bdquo;freie Geist&ldquo; kommt
-zum Bewu&szlig;tsein seines Schaffens der Wahrheit. Er betrachtet die
-Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unterordnet; er betrachtet
-sie als sein Gesch&ouml;pf.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">19.</h3>
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-<div class="divBody">
-<p class="par first">Die mit schwachen, mi&szlig;ratenen
-Erkenntnisinstinkten ausgestatteten Menschen wagen es nicht, aus der
-Begriffe bildenden Macht ihrer Pers&ouml;nlichkeit heraus den
-Welterscheinungen einen Sinn unterzulegen. Sie wollen, da&szlig; ihnen
-die &bdquo;Gesetzm&auml;&szlig;igkeit der Natur&ldquo; als Thatbestand
-vor die Sinne trete. Ein subjektives, der Einrichtung des menschlichen
-Geistes gem&auml;&szlig; geformtes Weltbild scheint ihnen wertlos. Aber
-die blo&szlig;e Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt liefert uns
-nur ein zusammenhangloses und doch nicht in Einzelheiten gesondertes
-Weltbild. Dem blo&szlig;en Beobachter der Dinge erscheint kein
-Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als das andere.
-Das rudiment&auml;re Organ eines Organismus, das vielleicht dann, wenn
-wir darüber nachgedacht haben, ohne alle Bedeutung für die
-Entwickelung des Lebens erscheint, steht gerade mit demselben Anspruch
-auf Beachtung da, wie der edelste Teil des Organismus, so lange wir
-blo&szlig; den objektiven Thatbestand beschauen. Ursache und Wirkung
-sind aufeinanderfolgende Erscheinungen, die ineinander
-überflie&szlig;en, <span class="pagenum">[<a id="pb60" href="#pb60" name="pb60">60</a>]</span>ohne durch etwas getrennt zu sein, so
-lange wir sie <span class="ex">blo&szlig; beobachten</span>. Erst wenn
-wir mit unserem Denken einsetzen, die ineinander flie&szlig;enden
-Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander beziehen, wird ein
-<span class="ex">gesetzm&auml;&szlig;iger Zusammenhang</span> sichtbar.
-Erst das Denken erkl&auml;rt die eine Erscheinung für die Ursache,
-die andere für die Wirkung. Wir sehen einen Regentropfen auf den
-Erdboden fallen und eine Vertiefung hervorrufen. Ein Wesen, das nicht
-denken kann, wird hier nicht Ursache und Wirkung sehen, sondern nur
-eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert
-die Erscheinungen, bringt die isolierten Fakten in ein Verh&auml;ltnis
-und bezeichnet das eine Faktum als Ursache, das andere als Wirkung.
-Durch die Beobachtung wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu
-produzieren und diese mit den beobachteten Thatsachen zu einem
-gedankenvollen Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch thut dies, weil er
-die Summe der Beobachtungen gedanklich beherrschen will. Ein ihm
-gegenüberstehendes Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine
-unbekannte Macht. Er widersetzt sich dieser Macht, überwindet sie,
-indem er sie denkbar macht. Auch alles Z&auml;hlen, W&auml;gen und
-Berechnen der Erscheinungen geschieht aus demselben Grunde. Es ist der
-<span class="ex">Wille zur Macht</span>, der sich in dem
-Erkenntnistriebe auslebt. (Ich habe den Erkenntnisproze&szlig; im
-einzelnen dargestellt in meinen beiden Schriften: &bdquo;Wahrheit und
-Wissenschaft&ldquo; und &bdquo;Die Philosophie der
-Freiheit&ldquo;.)</p>
-<p class="par">Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht
-eingestehen, da&szlig; er es selbst ist, der als &Auml;u&szlig;erung
-seines Strebens nach Macht die Erscheinungen interpretiert.
-<span class="pagenum">[<a id="pb61" href="#pb61" name="pb61">61</a>]</span>Er h&auml;lt auch seine Interpretation für
-einen Thatbestand. Und er fragt: wie der Mensch dazu kommt, einen
-solchen Thatbestand in der Wirklichkeit zu finden. Er fragt z. B.: wie
-kommt es, da&szlig; der Intellekt in zwei aufeinander folgenden
-Erscheinungen Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnistheoretiker
-von Locke, Hume, Kant bis auf die Gegenwart haben sich mit dieser Frage
-besch&auml;ftigt. Die Spitzfindigkeiten, die sie auf diese Untersuchung
-verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Erkl&auml;rung ist
-gegeben in dem Streben des menschlichen Intellekts nach Macht. Die
-Frage ist gar nicht: sind Urteile, Gedanken über die Erscheinungen
-m&ouml;glich, sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile
-n&ouml;tig? Weil er sie n&ouml;tig hat, deshalb wendet er sie an, und
-nicht weil sie m&ouml;glich sind. Es kommt darauf an, &bdquo;zu
-begreifen, da&szlig; zum Zweck der Erhaltung von Wesen unserer Art
-solche Urteile als wahr <span class="ex">geglaubt</span> werden
-müssen; weshalb sie natürlich noch <span class="ex">falsche</span> Urteile sein k&ouml;nnten!&ldquo; (Jenseits von Gut
-und B&ouml;se &sect; 11.) &bdquo;Und wir sind grunds&auml;tzlich
-geneigt, zu behaupten, da&szlig; die falschesten Urteile uns die
-unentbehrlichsten sind, da&szlig; ohne ein Geltenlassen der logischen
-Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt
-des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine best&auml;ndige
-F&auml;lschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben
-k&ouml;nnte, &mdash; da&szlig; Verzichtleisten auf falsche Urteile ein
-Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens w&auml;re.&ldquo;
-(Ebenda &sect; 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint, der besinne
-sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung der Geometrie auf die
-Wirklichkeit ist, obgleich es <span class="pagenum">[<a id="pb62" href="#pb62" name="pb62">62</a>]</span>nirgends in der Welt wirklich
-geometrisch regelm&auml;&szlig;ige Linien, Fl&auml;chen u. s. w.
-giebt.</p>
-<p class="par">Wenn der stumpfe, schwache Intellekt einsieht, da&szlig;
-alle Urteile über die Dinge aus ihm selbst stammen, durch ihn
-produziert und mit den Beobachtungen verschmolzen werden, dann hat er
-nicht den Mut, diese Urteile rückhaltslos anzuwenden. Er sagt:
-Urteile solcher Art k&ouml;nnen uns keine Erkenntnis von dem
-&bdquo;wahren Wesen&ldquo; der Dinge vermitteln. Dieses &bdquo;wahre
-Wesen&ldquo; bleibt daher unserer Erkenntnis verschlossen.</p>
-<p class="par">Noch in einer anderen Art sucht der schwache Intellekt
-zu beweisen, da&szlig; durch das menschliche Erkennen kein
-Feststehendes gewonnen werden kann. Er sagt: Der Mensch sieht,
-h&ouml;rt, tastet die Dinge und Vorg&auml;nge. Was er dabei wahrnimmt,
-sind Eindrücke auf seine Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe, einen
-Ton wahrnimmt, so kann er nur sagen: mein Auge, mein Ohr werden in
-einer gewissen Art bestimmt, Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas
-<span class="ex">au&szlig;er ihm</span> nimmt der Mensch wahr, sondern
-nur eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen Organe. In der
-Wahrnehmung werden das Auge, das Ohr u. s. w. dazu veranla&szlig;t, in
-einer gewissen Weise zu empfinden; sie werden in einen bestimmten
-Zustand versetzt. Diese Zust&auml;nde seiner eigenen Organe nimmt der
-Mensch als Farben, T&ouml;ne, Gerüche u. s. w. wahr. In aller
-Wahrnehmung nimmt der Mensch nur seine eigenen Zust&auml;nde wahr. Was
-er Au&szlig;enwelt nennt, ist nur aus diesen seinen Zust&auml;nden
-zusammengesetzt; ist also im eigentlichen Sinne <span class="ex">sein</span> Werk. Die Dinge, die ihn veranlassen, aus sich heraus
-die Au&szlig;enwelt <span class="pagenum">[<a id="pb63" href="#pb63"
-name="pb63">63</a>]</span>zu spinnen, kennt er nicht; nur ihre
-Wirkungen auf seine Organe. Einem von dem Menschen getr&auml;umten
-Traume gleich, der durch ein Unbekanntes veranla&szlig;t wird,
-erscheint die Welt in dieser Beleuchtung.</p>
-<p class="par">Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird, so
-zieht er folgenden Nachsatz nach sich. Auch seine Organe kennt der
-Mensch nur, insofern er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in seiner
-Wahrnehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich der Mensch nur
-bewu&szlig;t, insofern er die Bilder der Welt aus sich herausspinnt.
-Traumbilder nimmt er wahr und inmitten dieser Traumbilder ein
-&bdquo;Ich&ldquo;, an dem diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes
-Traumbild erscheint in Begleitung dieses &bdquo;Ich&ldquo;. Man kann
-auch sagen: jedes Traumbild erscheint inmitten der Traumwelt immer in
-Beziehung auf dieses &bdquo;Ich&ldquo;. Dieses &bdquo;Ich&ldquo; haftet
-als Bestimmung, als Eigenschaft an den Traumbildern. Es ist somit, als
-Bestimmung von Traumbildern, selbst ein Traumhaftes. <span class="ex">J. G. Fichte</span> fa&szlig;t diese Ansicht in die Worte
-zusammen: &bdquo;Was durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist
-nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm
-immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann
-durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist
-notwendig ein System blo&szlig;er Bilder, <span class="ex">ohne alle
-Realit&auml;t</span>, <span class="ex">Bedeutung und
-Zweck</span>.&ldquo; &bdquo;Alle Realit&auml;t&ldquo; ist für
-Fichte ein wunderbarer &bdquo;Traum, ohne ein Leben, von welchem
-getr&auml;umt wird, und ohne einen Geist, dem da tr&auml;umt&ldquo;;
-ein Traum, &bdquo;der <span class="pagenum">[<a id="pb64" href="#pb64"
-name="pb64">64</a>]</span>in einem Traume von sich selbst
-zusammenh&auml;ngt&ldquo;. (Bestimmung des Menschen, 2. Buch.)</p>
-<p class="par">Was hat diese ganze Gedankenkette für eine
-Bedeutung? Ein schwacher Intellekt, der sich nicht unterfangen will,
-der Welt aus sich heraus einen Sinn zu geben, sucht diesen Sinn in der
-Welt der Beobachtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden,
-weil die blo&szlig;e Beobachtung gedankenleer ist.</p>
-<p class="par">Der starke, produktive Intellekt verwendet seine
-Begriffswelt dazu, die Beobachtungen zu deuten; der schwache,
-unproduktive Intellekt erkl&auml;rt sich selbst für zu
-ohnm&auml;chtig, um das zu thun und sagt: ich kann in den Erscheinungen
-der Welt keinen Sinn finden; sie sind blo&szlig;e Bilder, die an mir
-vorüberziehen. Der Sinn des Daseins mu&szlig; au&szlig;erhalb,
-jenseits der Erscheinungswelt gesucht werden. Dadurch wird die
-Erscheinungswelt, d. h. die menschliche Wirklichkeit für einen
-Traum, eine T&auml;uschung, ein <span class="ex">Nichts</span>
-erkl&auml;rt und das &bdquo;wahre Wesen&ldquo; der Erscheinungen wird
-in einem &bdquo;Ding an sich&ldquo; gesucht, bis zu dem keine
-Beobachtung, kein Erkennen reicht, d. h. von dem sich der Erkennende
-keine Vorstellung machen kann. Dieses &bdquo;wahre Wesen&ldquo; ist
-also für den Erkennenden ein v&ouml;llig leerer Gedanke, der
-Gedanke an ein <span class="ex">Nichts</span>. Traum ist bei jenen
-Philosophen, die von dem &bdquo;Ding an sich&ldquo; sprechen, die
-Erscheinungswelt; <span class="ex">Nichts</span> ist aber das, was sie
-als das &bdquo;wahre Wesen&ldquo; dieser Erscheinungswelt ansehen. Die
-ganze philosophische Bewegung, die von dem &bdquo;Ding an sich&ldquo;
-spricht und die in der neueren Zeit sich namentlich auf Kant
-stützt, ist der Glaube an das <span class="ex">Nichts</span>,
-<span class="ex">ist philosophischer Nihilismus</span>. <span class="pagenum">[<a id="pb65" href="#pb65" name="pb65">65</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">20.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Wenn der starke Geist nach der Ursache eines
-menschlichen Handelns und Vollbringens sucht, so findet er diese immer
-in dem Willen zur Macht der einzelnen Pers&ouml;nlichkeit. Der Mensch
-mit schwachem, mutlosem Intellekt will dies aber nicht zugeben. Er
-fühlt sich nicht kr&auml;ftig genug, sich zum Herrn und
-Richtunggeber seines Handelns zu machen. Er deutet die Triebe, die ihn
-lenken, als Gebote einer fremden Macht. Er sagt nicht: ich handle, wie
-ich <span class="ex">will</span>; sondern er sagt: ich handle
-gem&auml;&szlig; einem Gebote, wie ich <span class="ex">soll</span>. Er
-will sich nicht <span class="ex">befehlen</span>, er will <span class="ex">gehorchen</span>. Auf der einen Stufe der Entwickelung sehen die
-Menschen ihre Antriebe zum Handeln als Gebote Gottes an, auf einer
-andern Stufe glauben sie in ihrem Innern eine Stimme zu vernehmen, die
-ihnen gebietet. Sie wagen es im letztern Falle nicht, zu sagen: ich bin
-es selbst, der da befiehlt; sie behaupten: in mir spricht ein
-h&ouml;herer Wille sich aus. Da&szlig; sein <span class="ex">Gewissen</span> ihm in jedem einzelnen Falle sagt, wie er handeln
-soll, ist die Meinung des einen; da&szlig; ein kategorischer Imperativ
-ihm befiehlt, behauptet ein anderer. H&ouml;ren wir, was J. G. Fichte
-sagt: &bdquo;Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal
-geschehen <span class="ex">soll</span>: dasjenige, was das Gewissen nun
-eben von mir .... fordert; da&szlig; es geschehe, dazu, lediglich dazu
-bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Verstand; um es zu
-vollbringen<span class="corr" id="xd23e1307" title="Nicht in der Quelle">,</span> habe ich Kraft.&ldquo;
-(&bdquo;Bestimmung des Menschen&ldquo;, 3. Buch.) Ich führe mit
-Vorliebe J. G. Fichtes Aussprüche an, weil er mit eiserner
-Konsequenz die Meinung der &bdquo;Schwachen und <span class="pagenum">[<a id="pb66" href="#pb66" name="pb66">66</a>]</span>Mi&szlig;ratenen&ldquo; bis ans Ende gedacht hat.
-Wozu diese Meinungen zuletzt führen, kann man nur erkennen, wenn
-man sie da aufsucht, wo sie zu Ende gedacht worden sind; auf die
-Halben, die jeden Gedanken nur bis in seine Mitte denken, kann man sich
-nicht stützen.</p>
-<p class="par">Nicht in der Einzelpers&ouml;nlichkeit wird von denen,
-die in der angedeuteten Weise denken, der Quell des Wissens gesucht;
-sondern <span class="ex">jenseits</span> dieser Pers&ouml;nlichkeit in
-einem &bdquo;Willen an sich&ldquo;. Eben dieser &bdquo;Wille an
-sich&ldquo; soll als &bdquo;Stimme Gottes&ldquo; oder &bdquo;als Stimme
-des Gewissens&ldquo;, &bdquo;kategorischer Imperativ&ldquo; u. s. w. zu
-dem Einzelnen sprechen. Er soll der universelle Lenker des menschlichen
-Handelns und der <span class="ex">Urquell der Sittlichkeit sein</span>
-und auch die <span class="ex">Zwecke des sittlichen Handelns</span>
-bestimmen. &bdquo;Ich sage, das Gebot des Handelns selbst ist es,
-welches durch sich selbst mir einen Zweck setzt: dasselbe in mir, was
-mich n&ouml;tigt, zu denken, da&szlig; ich so handeln solle,
-n&ouml;tigt mich, zu glauben, da&szlig; aus diesem Handeln etwas
-erfolgen werde; es er&ouml;ffnet dem Auge die Aussicht auf eine andere
-Welt.&ldquo; &bdquo;Wie ich im <span class="ex">Gehorsam</span> lebe,
-lebe ich zugleich in der Anschauung seines Zweckes, <span class="ex">lebe ich in der besseren Welt, die er mir
-verhei&szlig;t</span>.&ldquo; (Fichte, <span class="corr" id="xd23e1330" title="Quelle: die">Die</span> Bestimmung des Menschen, 3.
-Buch.) Der also Denkende will sich nicht selbst sein Ziel setzen; er
-will von dem h&ouml;heren Willen, dem er gehorcht, sich zu einem Ziele
-führen lassen. Er will sich seines Eigenwillens entledigen und
-sich zum Werkzeug &bdquo;h&ouml;herer&ldquo; Zwecke machen. In Worten,
-die zu den sch&ouml;nsten Erzeugnissen des Sinnes für Gehorsam und
-Demut geh&ouml;ren, die mir bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe
-an den <span class="pagenum">[<a id="pb67" href="#pb67" name="pb67">67</a>]</span>&bdquo;ewigen Willen an sich&ldquo;.
-&bdquo;Erhabener lebendiger Wille, den kein Name nennt, und kein
-Begriff umfa&szlig;t, wohl darf ich mein Gemüt zu dir erheben;
-denn du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ert&ouml;nt in mir,
-die meinige t&ouml;nt in dir wieder; und <span class="ex">alle meine
-Gedanken, wenn sie nur wahr und gut sind, sind in dir gedacht</span>.
-&mdash; In dir, dem Unbegreiflichen, werde ich mir selbst, und wird mir
-die Welt vollkommen begreiflich, alle R&auml;tsel meines Daseins werden
-gel&ouml;st, und die vollendetste Harmonie entsteht in meinem
-Geiste.&ldquo; &bdquo;Ich verhülle vor dir mein Angesicht, und
-lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist, und dir
-selbst erscheinst, kann ich nie einsehen, so gewi&szlig; ich nie du
-selbst werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterleben
-werde ich dich noch eben so wenig begreifen als jetzt, in dieser
-Hülle von Erde.&ldquo; (Bestimmung des Menschen, 3. Buch.)</p>
-<p class="par">Wohin dieser Wille den Menschen zuletzt führen
-will, das kann der Einzelne nicht wissen. Wer an diesen Willen glaubt,
-gesteht also damit, da&szlig; er über die Endzwecke seines
-Handelns <span class="ex">nichts</span> wei&szlig;. Die Ziele, die sich
-der Einzelne <span class="ex">schafft</span>, sind aber für einen
-solchen Gl&auml;ubigen eines h&ouml;heren Willens keine
-&bdquo;wahren&ldquo; Ziele. Er setzt somit an die Stelle der durch das
-Individuum geschaffenen positiven Einzelziele einen Endzweck der ganzen
-Menschheit, dessen Gedankeninhalt aber ein <span class="ex">Nichts</span> ist. Ein solcher Gl&auml;ubiger ist <span class="ex">moralischer Nihilist</span>. Er ist in der schlimmsten Art von
-Unwissenheit befangen, die sich erdenken l&auml;&szlig;t. Nietzsche
-wollte diese Art von Unwissenheit in einem besonderen Buche seines
-unvollendet <span class="pagenum">[<a id="pb68" href="#pb68" name="pb68">68</a>]</span>gebliebenen Werkes &bdquo;der Wille zur
-Macht&ldquo; behandeln. (Vgl. Anhang zu Bd. VIII. der Gesamtausgabe von
-Nietzsches Werken.)</p>
-<p class="par">Die Lobpreisung des moralischen Nihilismus finden wir
-wieder in Fichtes &bdquo;Bestimmung des Menschen&ldquo; (3. Buch):
-&bdquo;Ich will nicht versuchen, was mir durch das Wesen der
-Endlichkeit versagt ist, und was mir zu nichts nützen würde;
-wie du an dir selbst bist, will ich nicht wissen. Aber deine
-Beziehungen und Verh&auml;ltnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allem
-Endlichen, liegen offen vor meinem Auge: werde ich, was ich sein soll!
-&mdash; und sie umgeben mich in hellerer Klarheit, als das
-Bewu&szlig;tsein meines eignen Daseins. Du <span class="ex">wirkest</span> in mir die Erkenntnis von meiner Pflicht, von
-meiner Bestimmung in der Reihe der vernünftigen Wesen; wie, das
-wei&szlig; ich nicht, noch bedarf ich es zu wissen. <span class="ex">Du
-wei&szlig;t und erkennst</span>, was ich denke und will; wie du wissen
-kannst, &mdash; durch welchen Akt du dieses Bewu&szlig;tsein zu stande
-bringst, <span class="ex">darüber verstehe ich nichts</span>; ja
-ich wei&szlig; sogar sehr wohl, da&szlig; der Begriff eines Akts, und
-eines besonderen Akts des Bewu&szlig;tseins nur von mir gilt, nicht
-aber von dir, dem Unendlichen. Du <span class="ex">willst</span>, denn
-du willst, da&szlig; mein freier Gehorsam Folgen habe in alle Ewigkeit;
-den <span class="ex">Akt deines Willens begreife ich nicht</span>; und
-wei&szlig; nur soviel, da&szlig; er nicht &auml;hnlich ist dem
-meinigen. Du <span class="ex">thust</span>, und dein Wille selbst ist
-<span class="ex">That</span>; aber deine Wirkungsweise ist der, die ich
-allein zu denken vermag, geradezu entgegengesetzt. Du <span class="ex">lebest und bist</span>, denn du wei&szlig;t, willst und wirkest,
-allgegenw&auml;rtig der endlichen Vernunft; <span class="ex">aber du
-bist nicht, wie ich alle <span class="pagenum">[<a id="pb69" href="#pb69" name="pb69">69</a>]</span>Ewigkeiten hindurch allein ein Sein
-werde denken k&ouml;nnen</span>.&ldquo;</p>
-<p class="par">Dem moralischen Nihilismus stellt Nietzsche die Ziele
-gegenüber, die der <span class="ex">schaffende</span> Einzelwille
-sich setzt. Den Lehrern der Ergebung ruft Zarathustra zu:</p>
-<p class="par">&bdquo;Diese Lehrer der Ergebung. &Uuml;berall hin, wo
-es klein und krank und grindig ist, kriechen sie hin, gleich
-L&auml;usen; und nur mein Ekel hindert mich, sie zu knacken.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1394" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Wohlan! Dies ist meine Predigt
-für ihre Ohren: ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht:
-&sbquo;wer ist gottloser denn ich, da&szlig; ich mich seiner
-Unterweisung freue?&lsquo;</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1398" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Ich bin Zarathustra, der Gottlose:
-wo finde ich meinesgleichen? Und alle die sind meinesgleichen,
-<span class="ex">die sich selber ihren Willen geben und alle Ergebung
-von sich abthun</span>.&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">21.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Die starke Pers&ouml;nlichkeit, die Ziele
-<span class="ex">schafft</span>, ist rücksichtslos in der
-Ausführung derselben. Die schwache Pers&ouml;nlichkeit dagegen
-führt nur das aus, wozu der Wille Gottes oder die &bdquo;Stimme
-des Gewissens&ldquo; oder der &bdquo;kategorische Imperativ&ldquo; Ja
-sagt. Was diesem <span class="ex">Ja</span> entspricht, bezeichnet der
-Schwache als <span class="ex">gut</span>, was diesem Ja zuwider ist als
-<span class="ex">b&ouml;se</span>. Der Starke kann dieses &bdquo;gut
-und b&ouml;s&ldquo; nicht anerkennen; denn er erkennt diejenige Macht
-nicht an, von der sich der Schwache sein Gutes und B&ouml;ses bestimmen
-l&auml;&szlig;t. Was er, der Starke, will, ist für ihn
-<span class="ex">gut</span>; er <span class="pagenum">[<a id="pb70"
-href="#pb70" name="pb70">70</a>]</span>führt es durch gegen alle
-widerstrebenden M&auml;chte. Was ihn in dieser Durchführung
-st&ouml;rt, das sucht er zu überwinden. Er glaubt nicht, da&szlig;
-ein &bdquo;ewiger Weltwille&ldquo; alle einzelnen
-Willensentschlüsse zu einer gro&szlig;en Harmonie lenkt; aber er
-ist der Ansicht, da&szlig; alle menschliche Entwickelung aus den
-Willensimpulsen der Einzelpers&ouml;nlichkeiten sich ergiebt, und
-da&szlig; ein ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen
-Willens&auml;u&szlig;erungen, in dem immer der st&auml;rkere Wille
-über den schw&auml;cheren siegt.</p>
-<p class="par">Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke
-Pers&ouml;nlichkeit, die sich selbst Gesetz und Zweck geben will, als
-b&ouml;se, als sündhaft bezeichnet. Sie erregt Furcht, denn sie
-durchbricht die hergebrachten Ordnungen; sie nennt wertlos, was die
-Schwachen gewohnt sind, wertvoll zu nennen, und sie erfindet Neues, vor
-ihr Unbekanntes, das sie als wertvoll bezeichnet. &bdquo;Jede
-individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es
-ist gar nicht auszurechnen, was gerade die selteneren, ausgesuchteren,
-ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch
-gelitten haben müssen, da&szlig; sie immer als die b&ouml;sen und
-gef&auml;hrlichen empfunden wurden, ja da&szlig; <span class="ex">sie
-sich selber so empfanden</span>. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit
-hat die Originalit&auml;t jeder Art ein b&ouml;ses Gewissen bekommen;
-bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch
-verdüsterter, als er sein mü&szlig;te.&ldquo;
-(Morgenr&ouml;te &sect; 9.)</p>
-<p class="par">Der wahrhaft <span class="ex">freie</span> Geist
-fa&szlig;t schlechthin <span class="ex">erste</span> Entschlüsse;
-der unfreie entscheidet sich nach dem Herkommen. &bdquo;Sittlichkeit
-ist nichts anderes (also <span class="pagenum">[<a id="pb71" href="#pb71" name="pb71">71</a>]</span>namentlich <span class="ex">nicht
-mehr</span>!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein
-m&ouml;gen; Sitten aber sind die <span class="ex">herk&ouml;mmliche</span> Art zu handeln und
-abzusch&auml;tzen&ldquo; (Morgenr&ouml;te &sect; 9). Dieses Herkommen
-ist es, was von den Moralisten als &bdquo;ewiger Wille&ldquo;,
-&bdquo;kategorischer Imperativ&ldquo; gedeutet wird. Jedes Herkommen
-ist aber das Ergebnis der naturgem&auml;&szlig;en Triebe und Impulse
-einzelner Menschen, ganzer St&auml;mme, V&ouml;lker u. s. w. Es ist
-ebenso das Produkt natürlicher Ursachen, wie etwa die
-Witterungsverh&auml;ltnisse einzelner Gegenden. Der freie Geist
-erkl&auml;rt sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er hat seine
-individuellen Triebe und Impulse, und diese sind nicht weniger
-berechtigt als die der anderen. Er setzt diese Impulse in Handlungen
-um, wie eine Wolke Regen auf die Erdoberfl&auml;che sendet, wenn die
-Ursachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht <span class="ex">jenseits dessen, was das Herkommen als gut und b&ouml;se
-ansieht</span>. Er <span class="ex">schafft</span> sich selbst sein Gut
-und B&ouml;se.</p>
-<p class="par">&bdquo;Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie
-sitzen auf einem alten Dünkel: Alle dünkten sich lange schon
-zu wissen, was dem Menschen <span class="ex">gut</span> und
-<span class="ex">b&ouml;se</span> sei.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1464" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Eine alte müde Sache
-dünkte ihnen alles Reden von Tugend; und wer gut schlafen wollte,
-der sprach vor dem Schlafengehen noch von &sbquo;Gut und
-B&ouml;se&lsquo;.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1468" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Diese Schl&auml;ferei st&ouml;rte
-ich auf, als ich lehrte: was gut und b&ouml;se ist, das <span class="ex">wei&szlig; noch niemand</span> &mdash; es sei denn der
-Schaffende.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1475" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Das aber ist der, welcher des
-Menschen Ziel <span class="ex">schafft</span> und der Erde ihren Sinn
-giebt und ihre <span class="pagenum">[<a id="pb72" href="#pb72" name="pb72">72</a>]</span>Zukunft: dieser erst <span class="ex">schafft</span> es, da&szlig; etwas gut und b&ouml;se ist.&ldquo;
-(Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)</p>
-<p class="par">Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem
-Herkommen gem&auml;&szlig; ist, dann thut er es, weil er die
-herk&ouml;mmlichen Motive zu den seinigen machen <span class="ex">will</span>, und weil er es in bestimmten F&auml;llen nicht
-für n&ouml;tig h&auml;lt, an die Stelle des Herk&ouml;mmlichen
-etwas Neues zu setzen.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">22.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Der Starke sucht in der Durchsetzung seines
-schaffenden <span class="ex">Selbst</span> seine Lebensaufgabe. Diese
-<span class="ex">Selbstsucht</span> unterscheidet ihn von den
-Schwachen, die in der <span class="ex">selbstlosen</span> Hingabe an
-das, was sie das Gute nennen, die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen
-predigen die Selbstlosigkeit als die h&ouml;chste Tugend. Ihre
-Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge ihres Mangels an Schaffenskraft.
-H&auml;tten sie ein schaffendes Selbst, so würden sie dieses auch
-durchsetzen wollen. Der Starke liebt den Krieg, denn er braucht den
-Krieg, um seine Sch&ouml;pfungen gegen die widerstrebenden M&auml;chte
-durchzusetzen.</p>
-<p class="par">&bdquo;Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt
-ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke
-unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber noch Triumph
-rufen!</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1508" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Ihr sollt den Frieden lieben als
-Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den
-langen.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1512" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Euch rate ich nicht zur Arbeit,
-sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern
-<span class="pagenum">[<a id="pb73" href="#pb73" name="pb73">73</a>]</span>zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede
-sei ein Sieg!</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1518" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Ihr sagt, die <span class="ex">gute</span> Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich aber
-sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1525" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Der Krieg und der Mut haben mehr
-gro&szlig;e Dinge gethan, als die N&auml;chstenliebe. Nicht euer
-Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die
-Verunglückten.&ldquo; (Zarathustra, 1. Teil<span class="corr" id="xd23e1528" title="Quelle: .">,</span> Vom Krieg und Kriegsvolke.)</p>
-<p class="par">Unerbittlich und ohne Schonung des Widerstrebenden
-handelt der Schaffende. Er kennt nicht die Tugend der Leidenden: das
-Mitleid. Aus seiner Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht
-aus dem Gefühle des fremden Leidens. Da&szlig; die Kraft siege,
-dafür setzt er sich ein, nicht da&szlig; das Leidende, Schwache
-gepflegt werde. Schopenhauer hat die ganze Welt für ein Lazarett
-erkl&auml;rt, und die aus dem Mitgefühle mit den Leidenden
-entspringenden Handlungen für die h&ouml;chsten Tugenden. Er hat
-damit die Moral des Christentums in anderer Form ausgesprochen, als
-dieses selbst es thut. Der Schaffende fühlt sich nicht berufen,
-Krankenw&auml;rterdienste zu verrichten. Die Tüchtigen, Gesunden
-k&ouml;nnen nicht um der Schwachen, Kranken willen da sein. Das Mitleid
-schw&auml;cht die Kraft, den Mut, die Tapferkeit.</p>
-<p class="par">Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was der Starke
-überwinden will: die Schw&auml;che, das Leiden. Der Sieg des
-Starken über das Schwache ist der Sinn aller menschlichen, wie
-aller natürlichen Entwickelung. &bdquo;Leben selbst ist
-<span class="ex">wesentlich</span> Aneignung, Verletzung,
-&Uuml;berw&auml;ltigung des Fremden und <span class="pagenum">[<a id="pb74" href="#pb74" name="pb74">74</a>]</span>Schw&auml;cheren,
-Unterdrückung, H&auml;rte, Aufzw&auml;ngung eigener Formen,
-Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung.&ldquo; (Jenseits
-von Gut und B&ouml;se &sect; 259.)</p>
-<p class="par">&bdquo;Und wollt ihr nicht Schicksale sein und
-Unerbittliche: wie k&ouml;nntet ihr mit mir &mdash; siegen?</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1543" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Und wenn eure H&auml;rte nicht
-blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie k&ouml;nntet ihr einst
-mit mir &mdash; schaffen?</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1548" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Die Schaffenden n&auml;mlich sind
-hart. Und Seligkeit mu&szlig; es euch dünken, eure Hand auf
-Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, &mdash;</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1552" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>&mdash; Seligkeit, auf dem Willen
-von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, &mdash; h&auml;rter als
-Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste.</p>
-<p class="par"><span class="corr" id="xd23e1556" title="Nicht in der Quelle">&bdquo;</span>Diese neue Tafel, o meine
-Brüder, stelle ich über euch: werdet <span class="ex">hart</span>.&ldquo; (Zarathustra, 3. Teil<span class="corr" id="xd23e1562" title="Quelle: .">,</span> Von alten und neuen Tafeln.)</p>
-<p class="par">Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mitleid. Wer
-ihn bemitleiden wollte, den mü&szlig;te er fragen: h&auml;ltst du
-mich für so schwach, da&szlig; ich mein Leid nicht selbst tragen
-kann? Ihm geht jedes Mitleid gegen die Scham. Nietzsche bringt den
-Widerwillen des Starken gegen das Mitleiden im vierten Teil seines
-&bdquo;Zarathustra&ldquo; zur Anschauung. Zarathustra kommt auf seinen
-Wanderungen in ein Thal, das &bdquo;Schlangentod&ldquo; hei&szlig;t.
-Kein Lebewesen findet sich hier. Nur eine Art h&auml;&szlig;licher
-grüner Schlangen kommt hierher, um zu sterben. Dieses Thal hat der
-&bdquo;h&auml;&szlig;lichste Mensch&ldquo; aufgesucht. Dieser will von
-keinem Wesen gesehen werden wegen seiner H&auml;&szlig;lichkeit. In
-diesem Thal sieht ihn niemand au&szlig;er <span class="pagenum">[<a id="pb75" href="#pb75" name="pb75">75</a>]</span>Gott. Aber auch dessen
-Anblick kann er nicht ertragen. Das Bewu&szlig;tsein, da&szlig; Gottes
-Blicke in alle R&auml;ume dringen, ist ihm zur Last. Er hat deshalb
-Gott get&ouml;tet, d. h. er hat den Glauben an Gott in sich
-ert&ouml;tet. Er ist zum Atheisten geworden wegen seiner
-H&auml;&szlig;lichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen sieht,
-überf&auml;llt ihn noch einmal das, was er für immer in sich
-getilgt zu haben glaubt: das Mitleid mit der furchtbaren
-H&auml;&szlig;lichkeit. Dies ist eine Versuchung Zarathustras. Er weist
-aber das Gefühl des Mitleids bald zurück und wird wieder
-<span class="ex">hart</span>. Der h&auml;&szlig;lichste Mensch sagt zu
-ihm: Deine H&auml;rte ehrt meine H&auml;&szlig;lichkeit. Ich bin zu
-<span class="ex">reich</span> an H&auml;&szlig;lichkeit, um irgend
-eines Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht gegen die Scham.</p>
-<p class="par">Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, und der
-freie Geist will vollst&auml;ndig auf sich selbst gestellt sein.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">23.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Mit der Aufzeigung des natürlichen Willens
-zur Macht als Ursache der menschlichen Handlungen geben sich die
-Schwachen nicht zufrieden. Sie suchen nicht blo&szlig; nach
-natürlichen Zusammenh&auml;ngen in der Menschenentwickelung,
-sondern sie suchen das Verh&auml;ltnis der menschlichen Handlungen zu
-dem, was sie als den &bdquo;Willen an sich&ldquo;, die &bdquo;ewige,
-sittliche Weltordnung&ldquo; nennen. Wer dieser Weltordnung
-zuwiderhandelt, dem sprechen sie eine <span class="ex">Schuld</span>
-zu. Und sie begnügen sich auch nicht damit, eine Handlung nach
-ihren natürlichen Folgen zu bewerten, sondern sie machen den
-Anspruch darauf, da&szlig; eine <span class="pagenum">[<a id="pb76"
-href="#pb76" name="pb76">76</a>]</span>schuldvolle Handlung auch
-moralische Folgen, <span class="ex">Strafen</span> nach sich ziehe. Sie
-nennen sich selbst schuldig, wenn sie ihr Handeln mit der sittlichen
-Weltordnung nicht in &Uuml;bereinstimmung finden; sie wenden sich mit
-Abscheu von dem Quell des B&ouml;sen in sich ab und nennen dies
-Gefühl <span class="ex">b&ouml;ses Gewissen</span>. Alle diese
-Begriffe l&auml;&szlig;t die starke Pers&ouml;nlichkeit nicht gelten.
-Sie kümmert sich nur um die natürlichen Folgen ihrer
-Handlungen. Sie fragt: wieviel ist meine Handlungsweise für das
-Leben wert? Entspricht sie dem, was ich gewollt habe? Der Starke kann
-sich gr&auml;men, wenn ihm eine Handlung fehlschl&auml;gt, wenn das
-Resultat seinen Absichten nicht entspricht. Aber er klagt sich nicht
-an. Denn er mi&szlig;t seine Handlungsweise nicht an
-au&szlig;ernatürlichen Ma&szlig;st&auml;ben. Er wei&szlig;,
-da&szlig; er so handelt, wie es seinen natürlichen Trieben
-entspricht, und kann h&ouml;chstens bedauern, da&szlig; diese nicht
-besser sind. Ebenso h&auml;lt er es mit der Beurteilung fremder
-Handlungen. Ein <span class="ex">moralisches</span> Absch&auml;tzen der
-Handlungen kennt er nicht. Er ist Immoralist.</p>
-<p class="par">Was das Herkommen als <span class="ex">b&ouml;se</span>
-bezeichnet, sieht der Immoralist ebenso als Ausflu&szlig; menschlicher
-Instinkte an, wie das Gute. Die Strafe gilt ihm nicht als moralisch
-bedingt, sondern nur als ein Mittel, Instinkte gewisser Menschen, die
-andern sch&auml;dlich sind, auszurotten. Die Gesellschaft straft nach
-Ansicht des Immoralisten nicht deswegen, weil sie ein
-&bdquo;moralisches Recht&ldquo; hat, die Schuld zu sühnen, sondern
-allein, weil sie sich st&auml;rker erweist, als der Einzelne, welcher
-der Gesamtheit widerstrebende Instinkte hat. Die Macht der Gesellschaft
-steht gegen die Macht des Einzelnen. Dies ist der natürliche
-Zusammenhang <span class="pagenum">[<a id="pb77" href="#pb77" name="pb77">77</a>]</span>einer &bdquo;b&ouml;sen&ldquo; Handlung des
-Einzelnen mit der Rechtsprechung der Gesellschaft und der Bestrafung
-dieses Einzelnen. Es ist der <span class="ex">Wille zur Macht</span>,
-d. h. zum Ausleben jener Instinkte, die bei der Mehrzahl der Menschen
-vorhanden sind, der sich in der Rechtspflege einer Gesellschaft
-&auml;u&szlig;ert. Der Sieg einer Mehrheit über einen Einzelnen
-ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne über die Gesellschaft, so
-mü&szlig;te seine Handlungsweise als <span class="ex">gut</span>,
-die der andern als <span class="ex">b&ouml;se</span> bezeichnet werden.
-Das jeweilige <span class="ex">Recht</span> drückt nur aus, was
-die Gesellschaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur Macht
-anerkennt.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">24.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Weil Nietzsche in der menschlichen Handlungsweise
-nur einen Ausflu&szlig; der Instinkte sieht, und diese letzteren bei
-verschiedenen Menschen verschieden sind, scheint es ihm notwendig,
-da&szlig; auch deren Handlungsweisen verschieden sind. Nietzsche ist
-deshalb ein entschiedener Gegner des demokratischen Grundsatzes:
-Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle. Die Menschen sind
-ungleich, deshalb müssen auch ihre Rechte und Pflichten ungleich
-sein. Der natürliche Gang der Weltgeschichte wird stets starke und
-schwache, schaffende und unfruchtbare Menschen aufweisen. Und die
-Starken werden immer dazu berufen sein, den Schwachen die Ziele zu
-bestimmen. Ja noch mehr: die Starken werden sich der Schwachen als
-Mittel zum Zwecke, d. h. als Sklaven bedienen. Nietzsche spricht
-natürlich nicht von einem &bdquo;moralischen&ldquo; Recht der
-Starken zur Haltung von Sklaven. &bdquo;Moralische&ldquo; Rechte
-erkennt er nicht an. Sondern er ist der Meinung, da&szlig; <span class="pagenum">[<a id="pb78" href="#pb78" name="pb78">78</a>]</span>die
-&Uuml;berwindung des Schw&auml;cheren durch den St&auml;rkeren, die er
-für das Princip alles Lebens h&auml;lt, notwendig zur Sklaverei
-führen mu&szlig;.</p>
-<p class="par">Es ist auch natürlich, da&szlig; sich der
-&Uuml;berwundene gegen den &Uuml;berwinder auflehnt. Wenn diese
-Auflehnung sich nicht durch die That &auml;u&szlig;ern kann, so
-&auml;u&szlig;ert sie sich wenigstens im Gefühle. Und der Ausdruck
-dieses Gefühles ist die <span class="ex">Rache</span>, die stets
-in den Herzen derer wohnt, die in irgend einer Weise von den besser
-Veranlagten überwunden worden sind. Als Ausflu&szlig; dieser Rache
-sieht Nietzsche die moderne socialdemokratische Bewegung an. Der Sieg
-dieser Bewegung würde ihm eine Erh&ouml;hung der Mi&szlig;ratenen,
-&Uuml;bel-Weggekommenen zu Ungunsten der Besseren sein. Gerade das
-Gegenteil strebt Nietzsche an: die Pflege der starken, selbstherrlichen
-Pers&ouml;nlichkeit. Und er ha&szlig;t die Sucht, die alles gleich
-machen und die souver&auml;ne Individualit&auml;t in dem Meere der
-allgemeinen Mittelm&auml;&szlig;igkeit verschwinden lassen will.</p>
-<p class="par">Nicht alle sollen dasselbe haben und genie&szlig;en,
-meint Nietzsche, sondern jeder soll haben und genie&szlig;en, was er
-nach Ma&szlig;gabe seiner pers&ouml;nlichen St&auml;rke erreichen
-kann.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">25.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Was der Mensch wert ist, h&auml;ngt allein von dem
-Wert seiner Instinkte ab. Durch nichts anderes kann der Wert des
-Menschen bestimmt werden. Man spricht von dem Werte der Arbeit. Die
-Arbeit soll den Menschen adeln. Aber die Arbeit hat an sich gar keinen
-Wert. Nur dadurch, da&szlig; sie dem Menschen dient, erh&auml;lt sie
-einen Wert. Nur insofern sich die <span class="pagenum">[<a id="pb79"
-href="#pb79" name="pb79">79</a>]</span>Arbeit als natürliche Folge
-der menschlichen Neigungen darstellt, ist sie des Menschen würdig.
-Wer sich zum Diener der Arbeit macht, entwürdigt sich. Nur der
-Mensch, der <span class="ex">nicht</span> sich selbst seinen Wert
-bestimmen kann, sucht diesen Wert an der Gr&ouml;&szlig;e seines Werkes
-abzumessen. Es ist charakteristisch für das demokratische
-Bürgertum der neueren Zeit, da&szlig; es in der Wertbemessung des
-Menschen sich nach dessen Arbeit richtet. Sogar Goethe ist von dieser
-Gesinnung nicht frei. L&auml;&szlig;t er doch seinen <span class="ex">Faust</span> die volle Befriedigung in dem Bewu&szlig;tsein
-gethaner Arbeit finden.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">26.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Auch die <span class="ex">Kunst</span> hat nach
-Nietzsches Meinung nur Wert, wenn sie dem Leben des Einzelmenschen
-dient. Auch hier vertritt Nietzsche die Ansicht der starken
-Pers&ouml;nlichkeit und lehnt alles ab, was die schwachen Instinkte
-über die Kunst aussprechen. Fast alle deutschen &Auml;sthetiker
-vertreten den Standpunkt der schwachen Instinkte. Die Kunst soll ein
-&bdquo;Unendliches&ldquo; im &bdquo;Endlichen&ldquo;, ein
-&bdquo;Ewiges&ldquo; im &bdquo;Zeitlichen&ldquo;, eine
-&bdquo;Idee&ldquo; in der &bdquo;Wirklichkeit&ldquo; darstellen.
-Für Schelling z. B. ist alle sinnliche Sch&ouml;nheit nur ein
-Abglanz jener <span class="ex">unendlichen</span> Sch&ouml;nheit, die
-wir nie mit den Sinnen wahrnehmen k&ouml;nnen. Das Kunstwerk ist nicht
-um seiner selbst willen und durch das, was es ist, sch&ouml;n, sondern
-weil es die <span class="ex">Idee</span> der Sch&ouml;nheit abbildet.
-Das sinnliche Bild ist nur ein Ausdrucksmittel, nur die Form für
-einen <span class="ex">übersinnlichen</span> Inhalt. Und Hegel
-nennt das Sch&ouml;ne &bdquo;das sinnliche Scheinen der <span class="ex">Idee</span>&ldquo;. &Auml;hnliches kann man auch bei den andern
-deutschen &Auml;sthetikern finden. <span class="pagenum">[<a id="pb80"
-href="#pb80" name="pb80">80</a>]</span>Für Nietzsche ist die Kunst
-ein lebenf&ouml;rderndes Element, und nur, wenn sie dieses ist, hat sie
-Berechtigung. Wer das Leben, wie er es unmittelbar wahrnimmt, nicht
-ertragen kann, der formt es sich nach seinem Bedürfnisse um, und
-damit schafft er ein Kunstwerk. Und was will der Genie&szlig;ende vom
-Kunstwerk? Er will Erh&ouml;hung seiner Lebensfreude, St&auml;rkung
-seiner Lebenskr&auml;fte, Befriedigung von Bedürfnissen, die ihm
-die Wirklichkeit nicht befriedigt. Aber er will, wenn sein Sinn auf das
-Wirkliche gerichtet ist, nicht durch das Kunstwerk den Abglanz des
-G&ouml;ttlichen, &Uuml;berirdischen erblicken. H&ouml;ren wir, wie
-Nietzsche den Eindruck schildert, den Bizets Carmen auf ihn gemacht:
-&bdquo;Ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet.
-Auch ein besserer Musikant, ein besserer <span class="ex">Zuh&ouml;rer</span>. Kann man überhaupt noch besser
-zuh&ouml;ren? &mdash; Ich vergrabe meine Ohren noch <span class="ex">unter</span> diese Musik, ich h&ouml;re deren Ursache. Es scheint
-mir, da&szlig; ich ihre Entstehung erlebe &mdash; ich zittere vor
-Gefahren, die irgend ein Wagnis begleiten, ich bin entzückt
-über Glücksf&auml;lle, an denen Bizet unschuldig ist. &mdash;
-Und seltsam! im Grunde denke ich nicht daran, oder <span class="ex">wei&szlig;</span> es nicht, wie sehr ich daran denke. Denn ganz
-andere Gedanken laufen mir w&auml;hrend dem durch den Kopf ... Hat man
-bemerkt, da&szlig; die Musik den Geist <span class="ex">frei
-macht</span>? dem Gelehrten Flügel giebt? da&szlig; man umsomehr
-Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? &mdash; Der graue Himmel der
-Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für
-alles Filigran der Dinge; die gro&szlig;en Probleme nahe zum Greifen;
-die Welt wie von einem Berge aus überblickt. &mdash; Ich
-definierte <span class="pagenum">[<a id="pb81" href="#pb81" name="pb81">81</a>]</span>eben das philosophische Pathos. &mdash; Und
-unversehens fallen mir <span class="ex">Antworten</span> in den
-Scho&szlig;, ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von <span class="ex">gel&ouml;sten</span> Problemen .. Wo bin ich? &mdash; Bizet macht
-mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andere
-Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern <span class="ex">Beweis</span>
-dafür, was gut ist.&ldquo; &mdash; (Fall Wagner &sect; 1.) Weil
-<span class="ex">Richard Wagners</span> Musik eine <span class="ex">solche</span> Wirkung nicht auf ihn machte, deshalb lehnte sie
-Nietzsche ab: &bdquo;Meine Einw&auml;nde gegen die Musik Wagners sind
-physiologische Einw&auml;nde ..... Meine Thatsache, mein <span lang="fr">petit fait vrai</span> ist, da&szlig; ich nicht mehr leicht atme,
-wenn diese Musik erst auf mich wirkt; da&szlig; alsbald mein
-<span class="ex">Fu&szlig;</span> gegen sie <span class="ex">b&ouml;se</span> wird und revoltiert: er hat das Bedürfnis
-nach Takt, Tanz, Marsch ... er verlangt von der Musik vorerst die
-Entzückungen, welche in <span class="ex">gutem</span> Gehen,
-Schreiten, Tanzen liegen. Protestiert aber nicht auch mein Magen? mein
-Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich
-nicht unversehens heiser dabei? Und so frage ich mich: was <span class="ex">will</span> eigentlich mein ganzer Leib von der Musik
-überhaupt? ... Ich glaube, seine <span class="ex">Erleichterung</span>: wie als ob alle animalischen Funktionen
-durch leichte, kühne, ausgelassene, selbstgewisse Rhythmen
-beschleunigt werden sollten; wie als ob das eherne, bleierne Leben
-durch goldene, z&auml;rtliche, &ouml;lgleiche Melodieen seine Schwere
-verlieren sollte. Meine Schwermut will in den Verstecken und
-Abgründen der <span class="ex">Vollkommenheit ausruhen</span>:
-dazu brauche ich Musik.&ldquo; (Nietzsche kontra Wagner. Kap.: Wo ich
-Einw&auml;nde mache.) &mdash;</p>
-<p class="par">Im Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn
-t&auml;uschte sich Nietzsche über das, was seine Instinkte
-<span class="pagenum">[<a id="pb82" href="#pb82" name="pb82">82</a>]</span>von der Kunst verlangen, deshalb war er damals ein
-Anh&auml;nger Wagners. Er hat sich durch das Studium der
-Schopenhauerschen Philosophie zum Idealismus verführen lassen. Er
-glaubte einige Zeit hindurch an den Idealismus und t&auml;uschte sich
-künstliche Bedürfnisse, ideale Bedürfnisse vor. Erst im
-weiteren Verlaufe seines Lebens merkte er, da&szlig; aller Idealismus
-seinen Trieben gerade entgegengesetzt ist. Er wurde nun aufrichtiger
-gegen sich selbst. Er sprach aus, wie er selbst empfand. Und das konnte
-nur zur vollst&auml;ndigen Ablehnung von Wagners Musik führen, die
-ja immer mehr den asketischen Charakter annahm, den wir bereits als
-Kennzeichen von Wagners letztem Wirkensziel aufgeführt haben.</p>
-<p class="par">Die &Auml;sthetiker, die es der Kunst zur Aufgabe
-machen, die Idee zu versinnlichen, das G&ouml;ttliche zu
-verk&ouml;rpern, vertreten auf diesem Gebiete eine &auml;hnliche
-Ansicht wie die philosophischen Nihilisten auf dem Gebiete der
-Erkenntnis und der Moral. Sie suchen in den Kunstobjekten ein
-Jenseitiges, das sich aber vor dem Wirklichkeitssinn in ein
-<span class="ex">Nichts</span> aufl&ouml;st. Es giebt auch einen
-<span class="ex">&auml;sthetischen Nihilismus</span>.</p>
-<p class="par">Diesem steht die &Auml;sthetik der starken
-Pers&ouml;nlichkeit gegenüber, die in der Kunst ein Abbild der
-Wirklichkeit, eine h&ouml;here Wirklichkeit sieht, die der Mensch
-lieber genie&szlig;t als die Allt&auml;glichkeit.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">27.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander
-gegenüber: den Schwachen und den Starken. Der erstere sucht die
-Erkenntnis als einen objektiven Thatbestand, <span class="pagenum">[<a id="pb83" href="#pb83" name="pb83">83</a>]</span>der von
-der Au&szlig;enwelt in seinen Geist einflie&szlig;en soll. Er
-l&auml;&szlig;t sich sein Gutes und B&ouml;ses von einem &bdquo;ewigen
-Weltwillen&ldquo; oder einem &bdquo;kategorischen Imperativ&ldquo;
-diktieren. Er bezeichnet jede nicht von diesem Weltwillen, sondern nur
-von dem sch&ouml;pferischen Eigenwillen bestimmte Handlung als
-Sünde, die eine moralische Strafe nach sich ziehen mu&szlig;. Er
-m&ouml;chte für alle Menschen gleiche Rechte dekretieren und den
-Wert des Menschen nach einem &auml;u&szlig;ern Ma&szlig;stabe
-bestimmen. Er m&ouml;chte endlich in der Kunst ein Abbild des
-G&ouml;ttlichen, eine Kunde aus dem Jenseits erblicken. Der Starke
-dagegen sieht alle Erkenntnis als den Ausdruck des Willens zur Macht
-an. Er sucht durch die Erkenntnis die Dinge denkbar und sich dadurch
-unterthan zu machen. Er wei&szlig;, da&szlig; er selbst der
-Sch&ouml;pfer der Wahrheit ist; da&szlig; niemand als er selbst sein
-Gutes und sein B&ouml;ses schaffen kann. Er betrachtet die Handlungen
-des Menschen als Folgen natürlicher Triebe und l&auml;&szlig;t sie
-gelten als Naturereignisse, die niemals als Sünden zu betrachten
-sind und nicht eine moralische Verurteilung verdienen. Er sucht den
-Wert des Menschen in der Tüchtigkeit seiner Instinkte. Einen
-Menschen mit den Instinkten für Gesundheit, Geist, Sch&ouml;nheit,
-Ausdauer, Vornehmheit sch&auml;tzt er h&ouml;her als einen solchen mit
-den Instinkten für Schw&auml;che, H&auml;&szlig;lichkeit,
-Sklaverei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade, in dem es zur
-Steigerung seiner Kr&auml;fte beitr&auml;gt.</p>
-<p class="par">Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche unter
-seinem &Uuml;bermenschen. Solche &Uuml;bermenschen konnten bisher nur
-durch das Zusammentreffen zuf&auml;lliger Umst&auml;nde entstehen. Ihre
-Entwickelung zum bewu&szlig;ten Ziele der Menschheit zu machen, ist die
-Absicht, <span class="pagenum">[<a id="pb84" href="#pb84" name="pb84">84</a>]</span>die Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der
-menschlichen Entwickelung in irgendwelchen Idealen. Hier h&auml;lt
-Nietzsche eine &Auml;nderung der Anschauungen für n&ouml;tig. Der
-&bdquo;h&ouml;herwertige Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als
-ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als <span class="ex">gewollt</span>. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet
-worden, er war bisher beinahe <span class="ex">das</span> Furchtbare;
-&mdash; und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt,
-gezüchtet, <span class="ex">erreicht</span>: das Haustier, das
-Herdentier, das kranke Tier Mensch, &mdash; der Christ ...&ldquo;
-(Antichrist &sect; 3).</p>
-<p class="par">Zarathustras Weisheit soll diesen &Uuml;bermenschen, zu
-dem jener andere Typus nur ein &Uuml;bergang ist, lehren.</p>
-<p class="par">Nietzsche nennt diese Weisheit eine <span class="ex">dionysische</span>. Es ist eine Weisheit, die nicht dem Menschen
-von au&szlig;en gegeben wird; es ist eine selbstgeschaffene Weisheit.
-Der dionysische Weise forscht nicht; er schafft. Er steht nicht als
-Betrachter au&szlig;er der Welt, die er erkennen will; er ist
-<span class="ex">Eins</span> geworden mit seiner Erkenntnis. Er sucht
-nicht nach einem Gotte; was er sich noch als g&ouml;ttlich vorstellen
-kann, ist nur Er selbst als Sch&ouml;pfer seiner eigenen Welt. Wenn
-dieser Zustand auf alle Kr&auml;fte des menschlichen Organismus sich
-erstreckt, so giebt das den <span class="ex">dionysischen
-Menschen</span>, dem es unm&ouml;glich ist, irgend eine Suggestion
-nicht zu verstehen; er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat
-den h&ouml;chsten Grad des verstehenden und erratenden Instinktes, wie
-er den h&ouml;chsten Grad von Mitteilungskunst besitzt. Er geht in jede
-Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich best&auml;ndig. Dem
-dionysischen Weisen steht der blo&szlig;e <span class="pagenum">[<a id="pb85" href="#pb85" name="pb85">85</a>]</span>Betrachter
-gegenüber, der sich immer au&szlig;erhalb seiner Erkenntnisobjekte
-stehend glaubt, als objektiver, leidender Zuschauer. Dem dionysischen
-Menschen steht der <span class="ex">apollinische</span> gegenüber,
-der &bdquo;vor allem das Auge erregt h&auml;lt, soda&szlig; es die
-Kraft der Vision bekommt&ldquo;. Visionen, Bilder von Dingen, die
-jenseits der Menschen-Wirklichkeit stehen, erstrebt der apollinische
-Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene Weisheit.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">28.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Die apollinische Weisheit hat den Charakter des
-<span class="ex">Ernstes</span>. Sie empfindet die Herrschaft des
-Jenseits, das sie nur im Bilde besitzt, als einen schweren Druck, als
-eine ihr widerstrebende Macht. Ernst ist die apollinische Weisheit,
-denn sie glaubt sich im Besitze einer Kunde aus dem Jenseits, wenn
-diese auch nur durch Bilder, Visionen vermittelt sein soll. Schwer
-beladen mit seiner Erkenntnis wandelt der apollinische Geist einher,
-denn er tr&auml;gt eine Bürde, die aus einer andern Welt stammt.
-Und den Ausdruck der Würde nimmt er an, denn vor den Kundgebungen
-des Unendlichen mu&szlig; jedes Lachen verstummen.</p>
-<p class="par">Dieses Lachen aber charakterisiert den dionysischen
-Geist. Er wei&szlig;, da&szlig; alles, was er Weisheit nennt, nur
-<span class="ex">seine</span> Weisheit ist, von ihm erfunden, um sich
-das Leben leicht zu machen. Nur dieses Eine soll ja seine Weisheit
-sein: ein Mittel, das ihm erlaubt, zum Leben Ja zu sagen. Dem
-dionysischen Menschen ist der Geist der Schwere zuwider, weil er das
-Leben nicht erleichtert, sondern niederdrückt. Die <span class="pagenum">[<a id="pb86" href="#pb86" name="pb86">86</a>]</span>selbstgeschaffene Weisheit ist eine heitere
-Weisheit, denn wer sich selbst seine Bürde schafft, der schafft
-sich nur eine solche, die er auch leicht tragen kann. Mit der
-selbstgeschaffenen Weisheit bewegt sich der dionysische Geist leicht
-durch die Welt wie ein T&auml;nzer.</p>
-<div class="lgouter">
-<div class="lg">
-<p class="line">&bdquo;Da&szlig; ich aber der Weisheit gut bin und
-oft</p>
-<p class="line">zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an</p>
-<p class="line">das Leben!</p>
-</div>
-<div class="lg">
-<p class="line">Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr</p>
-<p class="line">goldnes Angelrütchen: was kann ich dafür,
-da&szlig;</p>
-<p class="line">die beiden sich so &auml;hnlich sehen?&ldquo;</p>
-</div>
-<div class="lg">
-<p class="line">&bdquo;In dein Auge schaute ich jüngst, o
-Leben:</p>
-<p class="line">Gold sah ich in deinem Nachtauge blinken, &mdash;
-mein</p>
-<p class="line">Herz stand still vor dieser Wollust:</p>
-</div>
-<div class="lg">
-<p class="line">&mdash; einen goldenen Kahn sah ich blinken auf</p>
-<p class="line">n&auml;chtigen Gew&auml;ssern, einen sinkenden,
-trinkenden,</p>
-<p class="line">wieder winkenden goldenen Schaukelkahn!</p>
-</div>
-<div class="lg">
-<p class="line">Nach meinem Fu&szlig;e, dem tanzwütigen,
-warfst</p>
-<p class="line">du einen Blick, einen <span class="ex">lachenden</span>, fragenden,</p>
-<p class="line">schmelzenden Schaukelblick:</p>
-</div>
-<div class="lg">
-<p class="line">zweimal nur regtest du deine Klapper mit</p>
-<p class="line">kleinen H&auml;nden &mdash; da schaukelte mein
-Fu&szlig; vor</p>
-<p class="line"><span class="ex">Tanzwut</span>. &mdash;</p>
-</div>
-<div class="lg">
-<p class="line">Meine Fersen b&auml;umten sich, meine Zehen</p>
-<p class="line">horchten, dich zu verstehen: doch tr&auml;gt der
-<span class="ex">T&auml;nzer</span></p>
-<p class="line">sein Ohr &mdash; in seinen Zehen!&ldquo;</p>
-</div>
-</div>
-<p class="par first xd23e1842">(Zarathustra 2. u. 3. Teil. Die
-Tanzlieder.)</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">29.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle
-Antriebe seines Thuns entnimmt und keiner &auml;u&szlig;eren
-<span class="pagenum">[<a id="pb87" href="#pb87" name="pb87">87</a>]</span>Macht gehorcht, ist er ein <span class="ex">freier</span> Geist. Denn ein freier Geist ist derjenige, der nur
-seiner Natur folgt. Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die
-Rede von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube,
-da&szlig; hier Nietzsche mit <span class="ex">einem</span> Namen eine
-Reihe von Antrieben zusammengefa&szlig;t hat, die eine mehr ins
-Einzelne gehende Betrachtung erfordern. Nietzsche nennt Instinkte
-sowohl die bei den Tieren vorhandenen Triebe zur Ern&auml;hrung und
-Selbsterhaltung, wie auch die h&ouml;chsten Antriebe der menschlichen
-Natur, z. B. den Erkenntnistrieb, den Trieb, nach sittlichen
-Ma&szlig;st&auml;ben zu handeln, den Trieb, sich an Kunstwerken zu
-erg&ouml;tzen u. s. w. Nun sind zwar alle diese Triebe
-&Auml;u&szlig;erungsformen einer und derselben Grundkraft. Aber sie
-stellen doch verschiedene Stufen in der Entwickelung dieser Kraft dar.
-Die moralischen Antriebe z. B. sind eine besondere Stufe der Instinkte.
-Wenn auch zugegeben werden kann, da&szlig; sie nur h&ouml;here Formen
-sinnlicher Instinkte sind, so treten sie doch im Menschen auf eine
-besondere Art ins Dasein. Dies zeigt sich darin, da&szlig; es dem
-Menschen m&ouml;glich ist, Handlungen zu vollführen, die nicht
-unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurückzuführen sind,
-sondern nur auf jene Antriebe, die eben als h&ouml;here Formen des
-Instinktes zu bezeichnen sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines
-Handelns, die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzuleiten sind,
-sondern nur aus dem bewu&szlig;ten Denken. Er setzt sich individuelle
-Zwecke vor, aber er setzt sich diese <span class="ex">mit
-Bewu&szlig;tsein</span> vor. Und es ist ein gro&szlig;er Unterschied,
-ob er einem unbewu&szlig;t entstandenen und erst hinterher in das
-Bewu&szlig;tsein aufgenommenen Instinkte <span class="pagenum">[<a id="pb88" href="#pb88" name="pb88">88</a>]</span>oder einem Gedanken
-folgt, den er von vornherein mit vollem Bewu&szlig;tsein produziert
-hat. Wenn ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich dr&auml;ngt, so ist
-dies etwas wesentlich anderes, als wenn ich eine mathematische Aufgabe
-l&ouml;se. Die denkende Erfassung der Welterscheinungen stellt eine
-besondere Form des allgemeinen Wahrnehmungsverm&ouml;gens dar. Sie
-unterscheidet sich von der blo&szlig;en sinnlichen Wahrnehmung. Dem
-Menschen sind nun die h&ouml;heren Entwickelungsformen des
-Instinktlebens ebenso natürlich wie die niederen. Stehen beide
-nicht im Einklange, dann ist er zur Unfreiheit verurteilt. Es kann der
-Fall eintreten, da&szlig; eine schwache Pers&ouml;nlichkeit mit
-vollkommen gesunden sinnlichen Instinkten nur schwache geistige
-Instinkte hat. Dann wird sie zwar in Bezug auf ihr Sinnenleben ihre
-eigene Individualit&auml;t entfalten, aber die gedanklichen Antriebe
-ihres Handelns wird sie aus dem Herkommen entlehnen. Es kann eine
-Disharmonie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen Triebe
-dr&auml;ngen zum Ausleben der eigenen Pers&ouml;nlichkeit, die
-geistigen Antriebe stehen in dem Banne einer &auml;u&szlig;ern
-Autorit&auml;t. Das Geistesleben einer solchen Pers&ouml;nlichkeit wird
-von den sinnlichen, das sinnliche Leben von den geistigen Instinkten
-tyrannisiert. Denn beide Gewalten geh&ouml;ren nicht zusammen, sind
-nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich freien
-Pers&ouml;nlichkeit geh&ouml;rt also nicht nur ein gesund entwickeltes
-individuelles sinnliches Triebleben, sondern auch die F&auml;higkeit,
-sich die gedanklichen Antriebe für das Leben zu schaffen. Erst
-derjenige Mensch ist vollkommen <span class="ex">frei</span>, der auch
-Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe
-<span class="pagenum">[<a id="pb89" href="#pb89" name="pb89">89</a>]</span>das Verm&ouml;gen, rein gedankliche Triebfedern
-des Handelns zu schaffen, in meiner Schrift &bdquo;Die Philosophie der
-Freiheit&ldquo; (Weimar, Emil Felber 1894) die &bdquo;moralische
-Phantasie&ldquo; genannt. Nur wer diese <span class="ex">moralische
-Phantasie</span> hat, ist wirklich frei, denn der Mensch mu&szlig; nach
-<span class="ex">bewu&szlig;ten</span> Triebfedern handeln. Und wenn er
-solche nicht selbst produzieren kann, dann mu&szlig; er sich dieselben
-von &auml;u&szlig;eren Autorit&auml;ten oder von dem in Form der
-Gewissensstimme in ihm sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch,
-der sich blo&szlig; seinen sinnlichen Instinkten
-überl&auml;&szlig;t, handelt <span class="ex">wie ein Tier</span>;
-ein Mensch, der seine sinnlichen Instinkte unter fremde Gedanken
-stellt, handelt <span class="ex">unfrei</span>; erst der Mensch, der
-sich selbst seine <span class="ex">moralischen</span> Ziele schafft,
-handelt <span class="ex">frei</span>. Die moralische Phantasie fehlt in
-Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt,
-mu&szlig; notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es
-auch eine unbedingte Notwendigkeit, da&szlig; dieser Begriff der
-Nietzscheschen Weltanschauung eingefügt wird. Sonst k&ouml;nnte
-gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der dionysische
-Mensch kein Knecht des Herkommens oder des &bdquo;jenseitigen
-Willens&ldquo;, aber er ist <span class="ex">ein Knecht seiner eigenen
-Instinkte</span>.</p>
-<p class="par">Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche,
-Eigenpers&ouml;nliche im Menschen gerichtet. Er suchte dieses
-Eigenpers&ouml;nliche herauszul&ouml;sen aus dem Mantel des
-Unpers&ouml;nlichen, in den es eine wirklichkeitsfeindliche
-Weltanschauung eingehüllt hat. Aber er ist nicht dazu gekommen,
-die Stufen des Lebens innerhalb der Pers&ouml;nlichkeit selbst zu
-unterscheiden. Er hat deshalb die Bedeutung des Bewu&szlig;tseins
-für die menschliche <span class="pagenum">[<a id="pb90" href="#pb90" name="pb90">90</a>]</span>Pers&ouml;nlichkeit
-untersch&auml;tzt. &bdquo;Die Bewu&szlig;theit ist die letzte und
-sp&auml;teste Entwickelung des Organischen und folglich auch das
-Unfertigste und Unkr&auml;ftigste daran. Aus der Bewu&szlig;theit
-stammen unz&auml;hlige Fehlgriffe, welche machen, da&szlig; ein Tier,
-ein Mensch zu Grunde geht, früher als es n&ouml;tig w&auml;re,
-&bdquo;über das Geschick&ldquo;, wie Homer sagt. W&auml;re nicht
-der erhaltende Verband der Instinkte so überaus viel
-m&auml;chtiger, diente er nicht im ganzen als Regulator: an ihrem
-verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen, an ihrer
-Ungründlichkeit und Leichtgl&auml;ubigkeit, kurz eben an ihrer
-Bewu&szlig;theit mü&szlig;te die Menschheit zu Grunde
-gehen,&ldquo; sagt Nietzsche (Fr&ouml;hliche Wissenschaft &sect;
-11).</p>
-<p class="par">Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht minder wahr
-ist es, da&szlig; der Mensch nur insoweit <span class="ex">frei</span>
-ist, als er sich gedankliche Triebfedern seines Handelns <span class="ex">innerhalb des Bewu&szlig;tseins</span> schaffen kann.</p>
-<p class="par">Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern führt
-aber noch weiter. Es ist eine Thatsache der Erfahrung, da&szlig; diese
-gedanklichen Triebfedern, die die Menschen aus sich heraus produzieren,
-bei den einzelnen Individuen doch bis zu einem gewissen Grade eine
-&Uuml;bereinstimmung zeigen. Auch wenn der einzelne Mensch ganz frei
-aus sich heraus Gedanken schafft, so stimmen diese in gewisser Weise
-mit den Gedanken anderer Menschen überein. Daraus folgt für
-den Freien die Berechtigung, anzunehmen, da&szlig; die Harmonie in der
-menschlichen Gesellschaft von selbst eintritt, wenn sie aus
-souver&auml;nen Individuen besteht. Er kann diese Meinung dem
-Verteidiger der Unfreiheit <span class="pagenum">[<a id="pb91" href="#pb91" name="pb91">91</a>]</span>gegenüberstellen, der glaubt,
-da&szlig; die Handlungen einer Mehrheit von Menschen nur
-zusammenstimmen, wenn sie durch eine &auml;u&szlig;ere Gewalt nach
-einem gemeinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist ist deshalb
-durchaus kein Anh&auml;nger jener Ansicht, welche die tierischen Triebe
-absolut frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb
-abschaffen will. Aber er verlangt absolute Freiheit für
-diejenigen, die nicht blo&szlig; ihren tierischen Instinkten folgen
-wollen, sondern die imstande sind, moralische Triebfedern, ihr eigenes
-<span class="ex">Gutes</span> und <span class="ex">B&ouml;ses</span>,
-zu <span class="ex">schaffen</span>.</p>
-<p class="par">Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen hat,
-da&szlig; er die letzten Konsequenzen von dessen Weltanschauung zu
-ziehen vermag, trotzdem sie Nietzsche nicht selbst gezogen hat, kann in
-ihm einen Menschen sehen, der &bdquo;mit einer gewissen stilistischen
-Wollust zu enthüllen den Mut gefunden hat, was bisher etwa im
-geheimsten Seelengrunde grandioser Verbrechertypen .... verborgen
-gelauert haben mag&ldquo; (Ludwig Stein, Friedrich Nietzsches
-Weltanschauung und ihre Gefahren S. 5). Noch immer ist die
-Durchschnittsbildung eines deutschen Professors nicht so weit, das
-Gro&szlig;e einer Pers&ouml;nlichkeit von deren kleinen Irrtümern
-abzutrennen. Sonst k&ouml;nnte man es nicht erleben, da&szlig; die
-Kritik eines solchen Professors gerade gegen diese kleinen
-Irrtümer sich richtet. Ich denke, wahrhafte Bildung nimmt das
-Gro&szlig;e einer Pers&ouml;nlichkeit auf und verbessert kleine
-Irrtümer oder denkt halbfertige Gedanken zu Ende. <span class="pagenum">[<a id="pb93" href="#pb93" name="pb93">93</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-</div>
-</div>
-<div id="ch3" class="div1 chapter"><span class="pagenum">[<a href="#xd23e182">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h2 class="label"><span class="corr" id="xd23e1921" title="Nicht in der Quelle">III.</span></h2>
-<h2 class="main">Nietzsches Entwickelungsgang.</h2>
-<p><span class="pagenum">[<a id="pb95" href="#pb95" name="pb95">95</a>]</span></p>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">30.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Ich habe Nietzsches Ansichten vom
-&Uuml;bermenschen so dargestellt, wie sie uns in seinen letzten
-Schriften: <span class="ex">Zarathustra</span> (1883&ndash;1884),
-<span class="ex">Jenseits von Gut und B&ouml;se</span> (1886),
-<span class="ex">Genealogie der Moral</span> (1887), <span class="ex">Der Fall Wagner</span> (1888), <span class="ex">G&ouml;tzend&auml;mmerung</span> (1889) entgegentreten. In dem
-unvollendet gebliebenen Werke: &bdquo;<span class="ex">Der Wille zur
-Macht</span>&ldquo;, Versuch einer Umwertung aller Werte, dessen erster
-Teil &bdquo;Antichrist&ldquo; im 8. Bande der Gesamtausgabe erschienen
-ist, h&auml;tten sie wohl ihren philosophisch pr&auml;gnantesten
-Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im Anhange zu dem
-erw&auml;hnten Band abgedruckt ist, ist das deutlich zu erkennen. Sie
-hei&szlig;t: 1. <span class="ex">Der Antichrist.</span> Versuch einer
-Kritik des Christentums. 2. <span class="ex">Der freie Geist.</span>
-Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. 3.
-<span class="ex">Der Immoralist.</span> Kritik der
-verh&auml;ngnisvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. 4.
-<span class="ex">Dionysos.</span> Philosophie der ewigen
-Wiederkunft.</p>
-<p class="par">Nietzsche hat seine Gedanken nicht sogleich im Beginne
-seiner schriftstellerischen Laufbahn in der <span class="pagenum">[<a id="pb96" href="#pb96" name="pb96">96</a>]</span>ihnen
-ureigensten Form zum Ausdruck gebracht. Er stand anfangs unter dem
-Einflusse des deutschen Idealismus, namentlich in der Form, in der ihn
-<span class="ex">Schopenhauer</span> und <span class="ex">Richard
-Wagner</span> vertreten haben. In Schopenhauerschen und Wagnerschen
-Formeln drückt er sich in seinen ersten Schriften aus. Wer aber
-durch dieses Formelwesen hindurch auf den Kern der Nietzscheschen
-Gedanken zu blicken vermag, der findet in diesen Schriften dieselben
-Absichten und Ziele, die in den sp&auml;teren Werken zum Ausdruck
-kommen.</p>
-<p class="par">Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht sprechen,
-ohne an den freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche
-Menschheit hervorgebracht hat, an <span class="ex">Max Stirner</span>.
-Es ist eine traurige Wahrheit, da&szlig; dieser Denker, der im vollsten
-Sinne dem entspricht, was <span class="corr" id="xd23e1977" title="Quelle: Nietsche">Nietzsche</span> von dem &Uuml;bermenschen fordert,
-nur von wenigen erkannt und gewürdigt worden ist. Er hat bereits
-in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung
-ausgesprochen. Allerdings nicht in solch ges&auml;ttigten
-Herzenst&ouml;nen wie Nietzsche, aber dafür in krystallklaren
-Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie ein
-blo&szlig;es Stammeln ausnehmen.</p>
-<p class="par">Welchen Weg h&auml;tte Nietzsche genommen, wenn nicht
-Schopenhauer, sondern Max Stirner sein Erzieher geworden w&auml;re! In
-Nietzsches Schriften ist keinerlei Einflu&szlig; Stirners zu bemerken.
-Aus eigener Kraft mu&szlig;te sich Nietzsche aus dem deutschen
-Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen gleichen Weltauffassung
-durchringen.</p>
-<p class="par">Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, das die
-Triebkr&auml;fte <span class="pagenum">[<a id="pb97" href="#pb97" name="pb97">97</a>]</span>des menschlichen Lebens nur in der einzelnen,
-<span class="ex">wirklichen</span> Pers&ouml;nlichkeit gesucht werden
-k&ouml;nnen. Er lehnt alle Gewalten ab, die die
-Einzelpers&ouml;nlichkeit von au&szlig;en formen, bestimmen wollen. Er
-verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet<a id="xd23e1989" name="xd23e1989"></a> den Grundirrtum der bisherigen Menschheit darin,
-da&szlig; sie nicht die Pflege und Kultur der individuellen
-Pers&ouml;nlichkeit, sondern andere, unpers&ouml;nliche Ziele und
-Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des Menschen darin,
-da&szlig; dieser allen solchen Zielen keine h&ouml;here Realit&auml;t
-zugesteht, sondern sich dieser Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege
-bedient. Der freie Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt seine
-Ideale; er l&auml;&szlig;t sich nicht von ihnen besitzen. Der Mensch,
-der nicht als freie Pers&ouml;nlichkeit über seinen Idealen
-waltet, steht unter dem Einflusse derselben, wie der Irrsinnige, der an
-fixen Ideen leidet. Es ist für Stirner einerlei, ob sich der
-Mensch einbildet, der &bdquo;K&ouml;nig von China&ldquo;, oder ob
-&bdquo;ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine
-Bestimmung, ein guter Christ, ein gl&auml;ubiger Protestant, ein
-loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein &mdash;
-das ist beides ein und dieselbe &sbquo;fixe Idee&lsquo;. Wer es nie
-versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gl&auml;ubiger
-Protestant, kein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein, der ist in der
-Gl&auml;ubigkeit, Tugendhaftigkeit u. s. w. <span class="ex">gefangen</span> und befangen.&ldquo;</p>
-<p class="par">Man braucht nur einige S&auml;tze aus <span class="ex">Stirners</span> Buch: &bdquo;Der Einzige und sein Eigentum&ldquo;
-zu lesen, um zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der Nietzscheschen
-ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche <span class="pagenum">[<a id="pb98" href="#pb98" name="pb98">98</a>]</span>an, die
-besonders bezeichnend für Stirners Denkweise sind.</p>
-<p class="par">&bdquo;Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein
-entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das
-Ideale realisieren, jene sucht den &bdquo;heiligen Geist&ldquo;, diese
-den &bdquo;verkl&auml;rten Leib&ldquo;. Daher schlie&szlig;t jene mit
-der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der
-&bdquo;Weltverachtung&ldquo;; diese wird mit der Abwerfung des Idealen,
-mit der &bdquo;Geistesverachtung&ldquo; enden.</p>
-<p class="par">Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte
-Welt geht (die Waschungen u. s. w.), so geht der der Verleiblichung
-durch die christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird
-Fleisch und will sie erl&ouml;sen, d. h. mit sich erfüllen; da er
-aber &bdquo;die Idee&ldquo; oder &bdquo;der Geist&ldquo; ist, so
-führt man (z. B. Hegel) am Schlusse die Idee in alles, in die
-Welt, ein und beweist, &bdquo;da&szlig; die Idee, die Vernunft in allem
-sei&ldquo;. Dem, was die heidnischen Stoiker als &bdquo;den
-Weisen&ldquo; aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung
-&bdquo;der Mensch&ldquo;, jener wie dieser ein <span class="ex">fleischloses</span> Wesen. Der <span class="ex">unwirkliche</span>
-&bdquo;Weise&ldquo;, dieser leiblose &bdquo;Heilige&ldquo; der Stoiker,
-wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher &bdquo;Heiliger&ldquo; in
-dem <span class="ex">fleischgewordenen</span> Gotte; der unwirkliche
-&bdquo;Mensch&ldquo;, das leiblose Ich, wird wirklich werden im
-<span class="ex">leibhaftigen</span> Ich, in Mir.</p>
-<p class="par">Da&szlig; der <span class="ex">Einzelne</span> für
-sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen Weltgeschichte
-sein Eigentum besitzt, das geht über das Christliche hinaus. Dem
-Christen ist die Weltgeschichte das H&ouml;here, weil sie die
-Geschichte Christi oder &bdquo;des Menschen&ldquo; ist; dem Egoisten
-hat nur <span class="ex">seine</span> Geschichte Wert, weil er nur
-<span class="ex">sich</span> entwickeln will, nicht die
-Menschheits-Idee, <span class="pagenum">[<a id="pb99" href="#pb99"
-name="pb99">99</a>]</span>nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten
-der Vorsehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht
-für ein Werkzeug der Idee oder ein Gef&auml;&szlig; Gottes an, er
-erkennt keinen Beruf an, er w&auml;hnt nicht, zur Fortentwickelung der
-Menschheit dazusein, und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen,
-sondern er lebt sich aus, unbesorgt darum, wie gut oder wie schlecht
-die Menschheit dabei fahre. Lie&szlig;e es nicht das
-Mi&szlig;verst&auml;ndnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen
-werden, so k&ouml;nnte man an Lenaus &bdquo;Drei Zigeuner&ldquo;
-erinnern. &mdash; Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu
-realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee &bdquo;Staat&ldquo;
-durch mein Bürgertum das Meinige zu thun oder durch die Ehe, als
-Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen?
-Was ficht mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem
-Berufe, als die Blume nach einem Berufe w&auml;chst und duftet.</p>
-<p class="par">Das Ideal &bdquo;der Mensch&ldquo; ist <span class="ex">realisiert</span>, wenn die christliche Anschauung umschl&auml;gt
-in den Satz: &bdquo;Ich, dieser Einzige, bin der Mensch.&ldquo; Die
-Begriffsfrage: &bdquo;was ist der Mensch?&ldquo; &mdash; hat sich dann
-in die pers&ouml;nliche umgesetzt: &bdquo;wer ist der Mensch?&ldquo;
-Bei &bdquo;was&ldquo; suchte man den Begriff, um ihn zu realisieren;
-bei &bdquo;wer&ldquo; ist&rsquo;s überhaupt keine Frage mehr,
-sondern die Antwort im Fragenden gleich pers&ouml;nlich vorhanden: die
-Frage beantwortet sich von selbst.</p>
-<p class="par">Man sagt von Gott: &bdquo;Namen nennen Dich
-nicht&ldquo;. Das gilt von Mir: kein <span class="ex">Begriff</span>
-drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angiebt,
-ersch&ouml;pft mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott,
-er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach <span class="pagenum">[<a id="pb100" href="#pb100" name="pb100">100</a>]</span>Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein
-von Mir.</p>
-<p class="par"><span class="ex">Eigner</span> bin Ich meiner Gewalt,
-und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als <span class="ex">Einzigen</span>
-wei&szlig;. Im <span class="ex">Einzigen</span> kehrt selbst der Eigner
-in sein sch&ouml;pferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren
-wird. Jedes h&ouml;here Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der
-Mensch, schw&auml;cht das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht
-vor der Sonne dieses Bewu&szlig;tseins: Stell&rsquo; Ich auf Mich, den
-Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem verg&auml;nglichen, dem
-sterblichen Sch&ouml;pfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich
-darf sagen:</p>
-<p class="par">&bdquo;Ich hab&rsquo; mein&rsquo; Sach&rsquo; auf nichts
-gestellt.&ldquo;</p>
-<p class="par">Dieser auf sich sich selbst gestellte, nur aus sich
-heraus schaffende <span class="ex">Eigner</span> ist <span class="corr"
-id="xd23e2060" title="Quelle: Nietsches">Nietzsches</span> <span class="ex">&Uuml;bermensch</span>.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">31.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Diese Stirnerschen Gedanken w&auml;ren das
-geeignete Gef&auml;&szlig; gewesen, in das Nietzsche sein reiches
-Empfindungsleben h&auml;tte gie&szlig;en k&ouml;nnen. Statt dessen
-suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, auf der er zu
-seiner Gedankenwelt hinaufkletterte.</p>
-<p class="par">Aus zwei Wurzeln stammt, nach Schopenhauers Meinung,
-unsere gesamte Welterkenntnis. Aus dem Vorstellungsleben und aus der
-Wahrnehmung des Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt. Das
-&bdquo;Ding an sich&ldquo; liegt jenseits der Welt unserer Vorstellung.
-Denn die Vorstellung ist nur die Wirkung, die das &bdquo;Ding an
-sich&ldquo; auf mein Erkenntnisorgan ausübt. Nur die
-Eindrücke kenne ich, die die Dinge auf mich machen, nicht die
-Dinge selbst. Und diese <span class="pagenum">[<a id="pb101" href="#pb101" name="pb101">101</a>]</span>Eindrücke sind eben meine
-Vorstellungen. Ich kenne keine Sonne und keine Erde, sondern nur ein
-Auge, das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine Erde fühlt.
-Der Mensch wei&szlig; nur: &bdquo;da&szlig; die Welt, welche ihn
-umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung
-auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist&ldquo;.
-(Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung &sect; 1.) Aber der
-Mensch stellt die Welt nicht blo&szlig; vor, sondern er <span class="ex">wirkt</span> auch in ihr; er wird sich seines Willens
-bewu&szlig;t, und er erf&auml;hrt, da&szlig; dasjenige, welches er in
-sich als <span class="ex">Wille</span> empfindet, von au&szlig;en als
-Bewegung seines Leibes wahrgenommen werden kann, d. h. der Mensch nimmt
-sein eigenes Wirken doppelt wahr, von innen als <span class="ex">Vorstellung</span>, von au&szlig;en als <span class="ex">Wille</span>. Schopenhauer schlie&szlig;t daraus, da&szlig; es der
-Wille selbst ist, der in der wahrgenommenen Leibesaktion als
-Vorstellung erscheint. Und er behauptet dann weiter, da&szlig; nicht
-nur der Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen ein Wille
-zu Grunde liege, sondern da&szlig; dies auch bei allen übrigen
-Vorstellungen der Fall sei. Die ganze Welt ist also, nach Schopenhauers
-Ansicht, dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt als
-Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopenhauer weiter, ist in allen
-Dingen ein einheitlicher. Nur unser Intellekt verursacht, da&szlig; wir
-eine Mehrheit von besonderen Dingen wahrnehmen.</p>
-<p class="par">Durch seinen Willen h&auml;ngt der Mensch, nach dieser
-Anschauung, mit dem einheitlichen Weltwesen zusammen. Insofern der
-Mensch wirkt, wirkt in ihm der einheitliche Urwille. Als einzelne,
-besondere Pers&ouml;nlichkeit existiert der Mensch nur in seiner
-<span class="pagenum">[<a id="pb102" href="#pb102" name="pb102">102</a>]</span>eigenen Vorstellung; im Wesen ist er identisch
-mit dem einheitlichen Weltengrunde.</p>
-<p class="par">Nehmen wir an, da&szlig; in Nietzsche, als er die
-Schopenhauersche Philosophie kennen lernte, schon der Gedanke des
-&Uuml;bermenschen unbewu&szlig;t, instinktiv vorhanden war, so konnte
-ihn diese Willenslehre allerdings nur sympathisch berühren. In dem
-menschlichen Willen war ihm ein Element gegeben, das den Menschen
-unmittelbar an der Sch&ouml;pfung des Weltinhaltes teilnehmen
-lie&szlig;. Als Wollender ist der Mensch nicht blo&szlig; ein
-au&szlig;erhalb des Weltinhaltes stehender Zuschauer, der sich Bilder
-des Wirklichen macht, sondern er ist selbst ein <span class="ex">Schaffender</span>. In ihm waltet die g&ouml;ttliche Kraft,
-über die hinaus es keine andere giebt.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">32.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Aus diesen Anschauungen heraus bildeten sich bei
-Nietzsche die beiden Ideen von der <span class="ex">apollinischen</span> und der <span class="ex">dionysischen</span>
-Weltbetrachtung. Sie wendete er auf das griechische Kunstleben an, das
-er demgem&auml;&szlig; aus zwei Wurzeln entstehen lie&szlig;: aus einer
-Kunst des Vorstellens und einer Kunst des Wollens. Wenn der
-Vorstellende seine Vorstellungswelt idealisiert und seine idealisierten
-Vorstellungen in Kunstwerken verk&ouml;rpert, so entsteht die
-<span class="ex">apollinische Kunst</span>. Er verleiht den einzelnen
-Vorstellungsobjekten dadurch, da&szlig; er ihnen die <span class="ex">Sch&ouml;nheit</span> einpr&auml;gt, den Schein des Ewigen. Aber
-er bleibt innerhalb der Vorstellungswelt stehen. Der <span class="ex">dionysische Künstler</span> sucht nicht nur in seinen
-Kunstwerken die Sch&ouml;nheit auszudrücken, sondern er ahmt
-selbst <span class="pagenum">[<a id="pb103" href="#pb103" name="pb103">103</a>]</span>das sch&ouml;pferische Wirken des Weltwillens
-nach. Er sucht in seinen eigenen Bewegungen den Weltgeist abzubilden.
-Er macht sich zur sichtbaren Verk&ouml;rperung des Willens. Er wird
-selbst Kunstwerk. &bdquo;Singend und tanzend &auml;u&szlig;ert sich der
-Mensch als Mitglied einer h&ouml;hern Gemeinschaft: er hat das Gehen
-und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte
-emporzufliegen. Aus seinen Geb&auml;rden spricht die
-Verzauberung&ldquo; (Geburt der Trag&ouml;die &sect; 1). In diesem
-Zustande vergi&szlig;t der Mensch sich selbst, er fühlt sich nicht
-mehr als Individuum, er l&auml;&szlig;t in sich den allgemeinen
-Weltwillen walten. In dieser Weise deutet Nietzsche die Feste, die zu
-Ehren des Gottes Dionysus durch die Dionysusdiener veranstaltet wurden.
-In dem Dionysusdiener sieht Nietzsche das Urbild des dionysischen
-Künstlers. Nun stellt er sich vor, da&szlig; die &auml;lteste
-dramatische Kunst der Griechen dadurch entstanden ist, da&szlig; eine
-h&ouml;here Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen sich
-vollzogen hat. Auf diese Weise erkl&auml;rt er den Ursprung der ersten
-griechischen Trag&ouml;die. Er nimmt an, da&szlig; die Trag&ouml;die
-aus dem tragischen Chore entstanden ist. Der dionysische Mensch wird
-zum Zuschauer, zum Betrachter eines Bildes, das ihn selbst darstellt.
-Der <span class="ex">Chor</span> ist die Selbstspiegelung eines
-dionysisch erregten Menschen, d. h. der dionysische Mensch sieht seine
-dionysische Erregung durch ein apollinisches Kunstwerk abgebildet. Die
-Darstellung des Dionysischen im apollinischen Bilde ist die primitive
-<span class="ex">Trag&ouml;die</span>. Voraussetzung einer solchen
-Trag&ouml;die ist, da&szlig; in ihrem Sch&ouml;pfer ein lebendiges
-Bewu&szlig;tsein von dem Zusammenhang des Menschen mit den Urgewalten
-der Welt vorhanden <span class="pagenum">[<a id="pb104" href="#pb104"
-name="pb104">104</a>]</span>ist. Ein solches Bewu&szlig;tsein spricht
-sich als Mythus aus. Das Mythische mu&szlig; der Gegenstand der
-&auml;ltesten Trag&ouml;die sein. Tritt nun in der Entwickelung eines
-Volkes der Zeitpunkt ein, wo der zersetzende Verstand das lebendige
-Gefühl für den Mythus zerst&ouml;rt, so ist der Tod des
-Tragischen die notwendige Folge.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">33.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">In der Entwickelung des Griechentums trat, nach
-Nietzsches Meinung, mit Sokrates dieser Zeitpunkt ein. Sokrates war ein
-Feind alles instinktiven, mit den Naturgewalten im Bunde stehenden
-Lebens. Er lie&szlig; nur dasjenige gelten, was der Verstand denkend zu
-beweisen vermag, was lehrbar ist. Damit war dem Mythus der Krieg
-erkl&auml;rt. Und der von Nietzsche als Schüler des Sokrates
-bezeichnete <span class="ex">Euripides</span> zerst&ouml;rte die
-Trag&ouml;die, weil sein Schaffen nicht mehr, wie das des
-&Auml;schylos, aus den dionysischen Instinkten, sondern aus dem
-kritischen Verstande entsprang. Statt der Nachbildung der
-Willensbewegungen des Weltgeistes findet sich bei Euripides die
-<span class="ex">verst&auml;ndige</span> Verknüpfung einzelner
-Vorg&auml;nge innerhalb der tragischen Handlung.</p>
-<p class="par">Ich frage nicht nach der historischen Rechtfertigung
-dieser Nietzscheschen Ideen. Er ist ihretwegen von einem klassischen
-Philologen scharf angegriffen worden. Nietzsches Beschreibung der
-griechischen Kultur l&auml;&szlig;t sich vergleichen mit der
-Schilderung, die ein Mensch von einer Landschaft giebt, die er von dem
-Gipfel eines Berges aus betrachtet; eine philologische Darstellung mit
-einer Beschreibung, die der Wanderer <span class="pagenum">[<a id="pb105" href="#pb105" name="pb105">105</a>]</span>giebt, der jedes
-einzelne Fleckchen besucht. Von dem Berge aus verschiebt sich manches
-eben nach den Gesetzen der Optik.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">34.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Was hier in Betracht kommt, ist die Frage: was
-für eine Aufgabe stellte sich Nietzsche in seiner &bdquo;Geburt
-der Trag&ouml;die&ldquo;? Nietzsche ist der Ansicht, da&szlig; die
-&auml;lteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut gekannt haben.
-&bdquo;Es geht die alte Sage, da&szlig; K&ouml;nig Midas lange Zeit
-nach dem weisen <span class="ex">Silen</span>, dem Begleiter des
-Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich
-in die H&auml;nde gefallen ist, fragt der K&ouml;nig, was für den
-Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und
-unbeweglich schweigt der D&auml;mon, bis er, durch den K&ouml;nig
-gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht:
-&bdquo;Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der
-Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu h&ouml;ren
-für dich das Ersprie&szlig;lichste ist? Das Allerbeste ist
-für dich g&auml;nzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht
-zu <span class="ex">sein</span>, <span class="ex">nichts</span> zu
-sein. Das Zweitbeste aber ist für dich &mdash; bald zu
-sterben&ldquo; (Geburt der Trag&ouml;die &sect; 3). In dieser Sage
-findet Nietzsche eine Grundempfindung der Griechen ausgedrückt. Er
-h&auml;lt es für eine Oberfl&auml;chlichkeit, wenn man die
-Griechen als das best&auml;ndig heitere, kindlich t&auml;ndelnde Volk
-hinstellt. Aus der tragischen Grundempfindung heraus mu&szlig;te den
-Griechen der Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Dasein
-ertr&auml;glich wird. Sie suchten nach einer Rechtfertigung
-<span class="pagenum">[<a id="pb106" href="#pb106" name="pb106">106</a>]</span>des Daseins &mdash; und fanden diese in ihrer
-G&ouml;tterwelt und in der Kunst. Nur durch das Gegenbild der
-olympischen G&ouml;tter und der Kunst wurde den Griechen die rauhe
-Wirklichkeit ertr&auml;glich. Die Grundfrage in der &bdquo;Geburt der
-Trag&ouml;die&ldquo; ist also für Nietzsche: Inwiefern ist die
-griechische Kunst lebenf&ouml;rdernd, lebenerhaltend gewesen?
-Nietzsches Grundinstinkt macht sich somit in Bezug auf die Kunst als
-lebenf&ouml;rdernde Macht schon in diesem ersten Werke geltend.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">35.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Noch ein anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in
-diesem Werke schon zu beobachten. Es ist die Abneigung gegen die
-blo&szlig; logischen Geister, deren Pers&ouml;nlichkeit
-vollst&auml;ndig unter der Herrschaft ihres Verstandes steht. Aus
-dieser Abneigung stammt Nietzsches Meinung, da&szlig; der <span class="ex">sokratische</span> Geist der Zerst&ouml;rer der griechischen
-Kultur ist. Das Logische gilt Nietzsche nur als eine Form, in der sich
-die Pers&ouml;nlichkeit &auml;u&szlig;ert. Wenn zu dieser Form nicht
-noch andere &Auml;u&szlig;erungsweisen treten, so erscheint die
-Pers&ouml;nlichkeit als Krüppel, als Organismus, an dem notwendige
-Organe verstümmelt sind. Weil Nietzsche in Kants Schriften nur den
-grübelnden Verstand entdecken konnte, nennt er Kant einen
-&bdquo;verwachsenen Begriffskrüppel&ldquo;. Nur wenn die Logik der
-Ausdruck für die tieferen Grundinstinkte einer Pers&ouml;nlichkeit
-ist, l&auml;&szlig;t sie Nietzsche gelten. Sie mu&szlig; ein
-Ausflu&szlig; des <span class="ex">&Uuml;ber-Logischen</span> in der
-Pers&ouml;nlichkeit sein. Nietzsche hat an der Ablehnung des
-sokratischen Geistes immer festgehalten. Wir lesen in der
-G&ouml;tzend&auml;mmerung: <span class="pagenum">[<a id="pb107" href="#pb107" name="pb107">107</a>]</span>&bdquo;Mit Sokrates schl&auml;gt
-der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da
-eigentlich? Vor allem wird ein <span class="ex">vornehmer</span>
-Geschmack besiegt; der P&ouml;bel kommt mit der Dialektik oben auf. Vor
-Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen
-Manieren ab; sie galten als schlechte Manieren, sie stellten
-blo&szlig;&ldquo; (Problem des Sokrates &sect; 5). Wo nicht
-kr&auml;ftige Grundinstinkte für eine Sache sprechen, da tritt der
-beweisende Verstand ein und sucht sie durch Advokatenkünste zu
-stützen.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">36.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Einen Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte
-Nietzsche in <span class="ex">Richard Wagner</span> zu erkennen. Er hat
-aus diesem Glauben heraus die vierte seiner
-&bdquo;Unzeitgem&auml;&szlig;en Betrachtungen&ldquo;: &bdquo;Richard
-Wagner in Bayreuth&ldquo;, 1875, geschrieben. Er hielt in dieser Zeit
-noch an der Deutung des dionysischen Geistes fest, die er sich in
-Gem&auml;&szlig;heit der Schopenhauerschen Philosophie gebildet hatte.
-Er glaubte noch, da&szlig; die Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung
-sei und jenseits dieser Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in Form
-des <span class="ex">Urwillens</span> liege. Und der <span class="ex">schaffende</span> dionysische Geist war ihm noch nicht der aus
-sich heraus schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in dem
-Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden Urwillens, von einem
-an diesen Urwillen hingegebenen dionysischen Geiste geschaffen, waren
-ihm Wagners Musikdramen.</p>
-<p class="par">Und da Schopenhauer in der Musik ein unmittelbares
-Abbild des Willens sah, so glaubte auch Nietzsche <span class="pagenum">[<a id="pb108" href="#pb108" name="pb108">108</a>]</span>in
-der Musik das beste Ausdrucksmittel für einen dionysisch
-schaffenden Geist sehen zu sollen. Die <span class="ex">Sprache</span>
-der civilisierten V&ouml;lker schien ihm <span class="ex">erkrankt</span>. Sie kann nicht mehr der schlichte Ausdruck der
-Gefühle sein, denn die Worte mu&szlig;ten allm&auml;hlich immer
-mehr dazu verwendet werden, der Ausdruck für die zunehmende
-Verstandesbildung der Menschen zu werden. Dadurch aber ist die
-Bedeutung der Worte abstrakt, arm geworden. Sie k&ouml;nnen nicht mehr
-ausdrücken, was der aus dem Urwillen heraus schaffende dionysische
-Geist empfindet. Dieser kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr
-aussprechen. Er mu&szlig; andere Ausdrucksmittel, vor allem die Musik,
-aber auch die anderen Künste zu Hilfe rufen. Der dionysische Geist
-wird zum <span class="ex">dithyrambischen Dramatiker</span>,
-&bdquo;diesen Begriff so voll genommen, da&szlig; er zugleich den
-Schauspieler, Dichter, Musiker umfa&szlig;t&ldquo;. &bdquo;Wie man sich
-nun auch die Entwickelung des Urdramatikers vorstellen m&ouml;ge, in
-seiner Reife und Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede Hemmung und
-Lücke: der eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders
-kann, als <span class="ex">in allen Künsten</span> zugleich
-denken, der Mittler und Vers&ouml;hner zwischen scheinbar getrennten
-Sph&auml;ren, der Wiederhersteller einer Ein- und Gesamtheit des
-künstlerischen Verm&ouml;gens, welches gar nicht erraten und
-erschlossen, sondern nur durch die That gezeigt werden kann&ldquo;
-(Richard Wagner in Bayreuth &sect; 7). Als dionysischen Geist verehrte
-Nietzsche Richard Wagner. Und nur in dem von Nietzsche in der eben
-genannten Schrift angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist
-bezeichnet werden. Seine Instinkte sind auf das Jenseits <span class="pagenum">[<a id="pb109" href="#pb109" name="pb109">109</a>]</span>gerichtet; er will die Stimme des Jenseits durch
-seine Musik erklingen lassen. Ich habe bereits (S. 81 f.) darauf
-hingewiesen, da&szlig; sich Nietzsche sp&auml;ter selbst fand und
-imstande war, seine auf das Diesseits gerichteten Instinkte in ihrer
-Eigenart zu erkennen. Er hatte ursprünglich die Wagnersche Kunst
-mi&szlig;verstanden, weil er sich selbst mi&szlig;verstanden hatte,
-weil er seine Instinkte durch die Schopenhauersche Philosophie hatte
-tyrannisieren lassen. Wie ein Krankheitsproze&szlig; erschien ihm
-sp&auml;ter diese Unterordnung seiner Instinkte unter eine fremde
-Geistesmacht. Er fand, da&szlig; er auf seine Instinkte nicht
-geh&ouml;rt hatte und sich durch eine ihm unangemessene Meinung hatte
-verführen lassen, eine Kunst auf diese Instinkte wirken lassen,
-die ihnen nur zum Nachteil gereichen konnte, die sie krank machen
-mu&szlig;te.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">37.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Nietzsche hat den Einflu&szlig;, den die seinen
-Grundtrieben widersprechende Schopenhauersche Philosophie auf ihn
-genommen, selbst geschildert in seiner dritten
-&bdquo;Unzeitgem&auml;&szlig;en Betrachtung&ldquo;, &bdquo;Schopenhauer
-als Erzieher&ldquo; (1873), zu einer Zeit, als er noch an diese
-Philosophie glaubte. Nietzsche suchte einen Erzieher. Der rechte
-Erzieher kann nur der sein, der auf den zu Erziehenden so wirkt,
-da&szlig; dessen innerster Wesenskern sich aus der Pers&ouml;nlichkeit
-heraus entwickelt. Auf jeden Menschen wirkt seine Zeit mit ihren
-Kulturmitteln ein. Er nimmt auf, was die Zeit an Bildungsstoff bietet.
-Aber es fr&auml;gt sich, wie er sich inmitten dieses von au&szlig;en
-auf ihn Eindringenden selbst finden kann; wie er das aus sich
-herausspinnen kann, was <span class="ex">er</span> und <span class="ex">nur er</span> und kein anderer sein kann. &bdquo;Der <span class="pagenum">[<a id="pb110" href="#pb110" name="pb110">110</a>]</span>Mensch, welcher nicht zur Masse geh&ouml;ren
-will, braucht nur aufzuh&ouml;ren, gegen sich bequem zu sein; er folge
-seinem Gewissen, welches ihm zuruft: &bdquo;&bdquo;sei du selbst! Das
-bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst,
-begehrst&ldquo;&ldquo;, so spricht der Mensch zu sich, der eines Tages
-findet, da&szlig; er sich immer nur damit begnügt hat,
-Bildungsstoff von au&szlig;en aufzunehmen (Schopenhauer als Erzieher
-&sect; 1). Nietzsche fand sich selbst, wenn auch zun&auml;chst noch
-nicht in seiner ihm ureigensten Gestalt, durch das Studium der
-Schopenhauerschen Philosophie. Nietzsche strebte unbewu&szlig;t danach,
-<span class="ex">einfach</span> und <span class="ex">ehrlich</span>
-seinen Grundtrieben gem&auml;&szlig; sich auszusprechen. Er fand um
-sich nur Menschen, die in den Bildungsformeln der Zeit sich
-ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch diese Formeln
-verhüllten. In Schopenhauer fand Nietzsche aber einen Menschen,
-der den Mut hatte, seine pers&ouml;nlichen Empfindungen der Welt
-gegenüber zum Inhalte seiner Philosophie zu machen: &bdquo;Das
-kr&auml;ftige Wohlgefühl des Sprechenden&ldquo; umfing Nietzsche
-beim ersten Lesen von Schopenhauers S&auml;tzen. &bdquo;Hier ist eine
-immer gleichartige, st&auml;rkende Luft, so fühlen wir; hier ist
-eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlichkeit, wie
-sie Menschen haben, die in sich zu Hause und zwar in einem sehr reichen
-Hause Herren sind: im Gegensatze zu jenen Schriftstellern, die sich am
-meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren, und deren Vortrag
-dadurch etwas Unruhiges und Naturwidriges bekommt.&ldquo;
-&bdquo;Schopenhauer redet mit sich; oder wenn man sich durchaus einen
-Zuh&ouml;rer denken will, so denke man sich den Sohn, den der Vater
-unterweist. Es ist ein redliches, derbes, gutmütiges <span class="pagenum">[<a id="pb111" href="#pb111" name="pb111">111</a>]</span>Aussprechen vor einem H&ouml;rer, der mit Liebe
-h&ouml;rt&ldquo; (Schopenhauer &sect; 2). Da&szlig; er einen Menschen,
-der sich seinen innersten Instinkten gem&auml;&szlig; ausspricht, reden
-h&ouml;rte, das war es, was Nietzsche zu Schopenhauer hinzog.</p>
-<p class="par">Nietzsche sah in Schopenhauer eine <span class="ex">starke</span> Pers&ouml;nlichkeit, die nicht durch die Philosophie
-in einen blo&szlig;en Verstandesmenschen umgewandelt wird, sondern die
-das Logische nur zum Ausdrucke des &Uuml;berlogischen, des Instinktiven
-in sich macht. &bdquo;Die Sehnsucht nach starker Natur, nach gesunder
-und einfacher Menschheit war bei ihm eine <span class="ex">Sehnsucht
-nach sich selbst</span>; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte,
-mu&szlig;te er auch, mit erstauntem Auge, den Genius in sich
-erblicken&ldquo; (Schopenhauer &sect; 3). In Nietzsches Geist arbeitete
-schon damals das Streben nach der Idee des &Uuml;bermenschen, der sich
-selbst sucht, als den Sinn seines Daseins, und einen solchen Suchenden
-fand er in Schopenhauer. In solchen Menschen sieht er den Zweck und
-zwar den einzigen Zweck des Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm
-an einem Ziele angekommen zu sein, wenn sie einen solchen Menschen
-hervorgebracht hat. &bdquo;Die Natur, die nie springt, macht hier ihren
-einzigen Sprung und zwar einen Freudensprung, denn sie fühlt sich
-zum erstenmal am Ziele, dort n&auml;mlich, <span class="ex">wo sie
-begreift, da&szlig; sie verlernen müsse, Ziele zu
-haben</span>.&ldquo; (Schopenh. &sect; 5.) In diesem Satze liegt der
-Keim zur Konzeption des &Uuml;bermenschen. Nietzsche wollte, als er
-diesen Satz niederschrieb, schon genau dasselbe, was er sp&auml;ter mit
-seinem Zarathustra wollte; aber ihm fehlte noch die Kraft, dieses
-Wollen in einer eigenen Sprache auszusprechen. <span class="pagenum">[<a id="pb112" href="#pb112" name="pb112">112</a>]</span>Er
-sah schon, als er sein Schopenhauerbuch schrieb, den Grundgedanken der
-<span class="ex">Kultur</span> in der Erzeugung des
-&Uuml;bermenschen.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">38.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">In der Entwickelung der pers&ouml;nlichen
-Instinkte der Einzelmenschen sieht also Nietzsche das Ziel aller
-menschlichen Entwickelung. Was dieser Entwickelung entgegenarbeitet,
-erscheint ihm als die eigentlichste Versündigung an der
-Menschheit. Es giebt aber etwas im Menschen, das auf ganz
-natürliche Weise seiner freien Entwickelung widerstrebt. Der
-Mensch l&auml;&szlig;t sich nicht allein durch die in jedem einzelnen
-Augenblicke in ihm th&auml;tigen Triebe bestimmen, sondern auch durch
-alles das, was in seinem <span class="ex">Ged&auml;chtnisse</span> sich
-angesammelt hat. Der Mensch erinnert sich an seine eigenen Erlebnisse,
-er sucht sich ein Bewu&szlig;tsein der Erlebnisse seines Volkes,
-Stammes, ja der ganzen Menschheit durch den Betrieb der Geschichte zu
-verschaffen. Der Mensch ist ein <span class="ex">historisches</span>
-Wesen. Die Tiere leben unhistorisch; sie folgen den Trieben, die in dem
-einzelnen Augenblicke in ihnen wirken. Der Mensch l&auml;&szlig;t sich
-durch seine Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas unternehmen
-will, fr&auml;gt er sich: welche Erfahrungen habe ich oder ein anderer
-mit einem &auml;hnlichen Unternehmen schon gemacht? Der Antrieb zu
-einer Handlung kann durch die Erinnerung an ein Erlebnis
-vollst&auml;ndig abget&ouml;tet werden. Für Nietzsche entsteht aus
-der Beobachtung dieser Thatsache die Frage: inwiefern wirkt das
-Erinnerungsverm&ouml;gen des Menschen auf sein Leben f&ouml;rdernd, und
-inwiefern wirkt es nachteilig <span class="pagenum">[<a id="pb113"
-href="#pb113" name="pb113">113</a>]</span>ein? Die Erinnerung, die auch
-Dinge zu umfassen sucht, die der Mensch nicht selbst erlebt hat, lebt
-als historischer Sinn, als Studium des Vergangenen in dem Menschen.
-Nietzsche fragt: inwiefern wirkt der historische Sinn
-lebenf&ouml;rdernd? Die Antwort auf diese Frage sucht er zu geben in
-seiner zweiten &bdquo;Unzeitgem&auml;&szlig;en Betrachtung&ldquo;:
-&bdquo;Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben&ldquo;
-(1843). Die Veranlassung zu dieser Schrift war Nietzsches Wahrnehmung,
-da&szlig; der <span class="ex">historische Sinn</span> bei seinen
-Zeitgenossen, namentlich bei den Gelehrten unter denselben, ein
-hervorstechendes Charaktermerkmal geworden war. Die Vertiefung in die
-Vergangenheit fand Nietzsche überall gepriesen. Nur durch
-Erkenntnis der Vergangenheit soll der Mensch imstande sein, zu
-unterscheiden, was ihm m&ouml;glich, was ihm unm&ouml;glich ist: dieses
-Glaubensbekenntnis drang ihm in die Ohren. Nur wer wei&szlig;, wie sich
-ein Volk entwickelt hat, kann ermessen, was für seine Zukunft
-f&ouml;rderlich ist: diesen Ruf h&ouml;rte Nietzsche. Ja selbst die
-Philosophen wollten nicht mehr Neues erdenken, sondern lieber die
-Gedanken ihrer Vorfahren studieren. Dieser historische Sinn wirkt
-l&auml;hmend auf das <span class="ex">gegenw&auml;rtige
-Schaffen</span>. Wer bei jedem Impuls, der sich in ihm regt, erst zu
-bestimmen sucht, wozu ein &auml;hnlicher Impuls in der Vergangenheit
-geführt hat, in dem erschlaffen die Kr&auml;fte, bevor sie gewirkt
-haben. &bdquo;Denkt euch das &auml;u&szlig;erste Beispiel, einen
-Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht bes&auml;&szlig;e, der
-verurteilt w&auml;re, überall ein Werden zu sehen: ein solcher
-glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich,
-sieht alles in bewegte Punkte auseinander <span class="pagenum">[<a id="pb114" href="#pb114" name="pb114">114</a>]</span>flie&szlig;en und
-verliert sich in diesem Strome des Werdens. ... Zu allem Handeln
-geh&ouml;rt Vergessen, wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht,
-sondern auch Dunkel geh&ouml;rt. Ein Mensch, der durch und durch nur
-historisch empfinden wollte, w&auml;re dem &auml;hnlich, der sich des
-Schlafens zu enthalten gezwungen w&auml;re, oder dem Tiere, das nur vom
-Wiederk&auml;uen und immer wiederholtem Wiederk&auml;uen fortleben
-sollte&ldquo; (Historie &sect; 1). Nietzsche ist der Meinung, da&szlig;
-der Mensch nur so viel Geschichte vertragen kann, als dem Ma&szlig;e
-seiner sch&ouml;pferischen Kr&auml;fte entspricht. Die starke
-Pers&ouml;nlichkeit führt ihre Intentionen aus, <span class="ex">trotzdem</span> sie sich an die Erlebnisse der Vergangenheit
-erinnert, ja sie wird vielleicht gerade durch die Erinnerung an diese
-Erlebnisse eine St&auml;rkung ihrer Kraft erfahren. Die Kr&auml;fte des
-schwachen Menschen aber werden durch den historischen Sinn
-ausgel&ouml;scht. Um den Grad zu bestimmen und durch ihn dann die
-Grenze, &bdquo;an der das Vergangene vergessen werden mu&szlig;, wenn
-es nicht zum Totengr&auml;ber des Gegenw&auml;rtigen werden soll,
-mü&szlig;te man genau wissen, wie gro&szlig; die <span class="ex">plastische Kraft</span> eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur
-ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus <span class="ex">eigenartig
-zu wachsen</span>, Vergangenes und Fremdes umzubilden und
-einzuverleiben&ldquo; (Historie &sect; 1).</p>
-<p class="par">Nietzsche ist der Ansicht, da&szlig; das Historische nur
-insofern gepflegt werden soll, als es für die Gesundheit eines
-Einzelnen, eines Volkes oder einer Kultur n&ouml;tig ist. Worauf es ihm
-ankommt, ist: &bdquo;besser lernen, Historie zum Zwecke des
-<span class="ex">Lebens</span> zu treiben&ldquo; (Historie &sect; 1).
-Er spricht dem Menschen das Recht <span class="pagenum">[<a id="pb115"
-href="#pb115" name="pb115">115</a>]</span>zu, die Geschichte so zu
-treiben, da&szlig; sie m&ouml;glichst zur F&ouml;rderung der Antriebe
-einer bestimmten Gegenwart wirkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist er
-ein Gegner jener Geschichtsbetrachtung, die nur in der
-&bdquo;historischen Objektivit&auml;t&ldquo; ihr Heil sucht, die nur
-sehen und erz&auml;hlen will, wie es in der Vergangenheit
-&bdquo;thats&auml;chlich&ldquo; zugegangen ist, die nur die
-&bdquo;reine, folgenlose&ldquo; Erkenntnis oder deutlicher &bdquo;die
-Wahrheit, bei der nichts herauskommt&ldquo;, sucht (Historie &sect; 6).
-Eine solche Betrachtung kann nur aus einer <span class="ex">schwachen</span> Pers&ouml;nlichkeit entspringen, deren
-Empfindungen nicht flut- und ebbeartig auf- und abwogen, wenn sie den
-Strom der Ereignisse an sich vorübergehen sieht. Eine solche
-Pers&ouml;nlichkeit &bdquo;ist zum nacht&ouml;nenden Passivum geworden,
-das durch sein Ert&ouml;nen wieder auf andere derartige Passiva wirkt:
-bis endlich die ganze Luft einer Zeit von solchen durcheinander
-schwirrenden zarten und verwandten Nachkl&auml;ngen erfüllt
-ist.&ldquo; (Historie &sect; 6.) Da&szlig; aber eine solche schwache
-Pers&ouml;nlichkeit wirklich die Kr&auml;fte nachempfinden kann, die in
-den Menschen der Vergangenheit gewaltet haben, glaubt Nietzsche nicht:
-&bdquo;Doch scheint es mir, da&szlig; man gleichsam nur die
-Obert&ouml;ne jedes originalen und geschichtlichen Haupttons vernimmt:
-das Derbe und M&auml;chtige des Originals ist aus dem
-sph&auml;risch-dünnen und spitzen Saitenklange nicht mehr zu
-erraten. Dafür weckte der Originalton meistens Thaten, N&ouml;te,
-Schrecken, dieser lullt uns ein und macht uns zu weichlichen
-Genie&szlig;ern; es ist, als ob man die heroische Symphonie für
-zwei Fl&ouml;ten eingerichtet und zum Gebrauch von tr&auml;umenden
-Opiumrauchern bestimmt habe.&ldquo; (Historie &sect; 6.) Nur der
-<span class="pagenum">[<a id="pb116" href="#pb116" name="pb116">116</a>]</span>kann die Vergangenheit wirklich verstehen, der
-auch in der Gegenwart machtvoll lebt, der kr&auml;ftige Instinkte hat,
-durch die er die Instinkte der Vorfahren erraten und erschlie&szlig;en
-kann. Dieser kümmert sich weniger um das Thats&auml;chliche, als
-um das, was aus den Thatsachen sich erraten l&auml;&szlig;t. &bdquo;Es
-w&auml;re eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen Tropfen der
-gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im h&ouml;chsten
-Grade auf das Pr&auml;dikat der Objektivit&auml;t Anspruch machen
-dürfte.&ldquo; (Historie &sect; 6.) Der Meister einer solchen
-Geschichtsschreibung w&auml;re der, der überall in den
-historischen Personen und Ereignissen das aufsuchte, was hinter dem
-blo&szlig; Thats&auml;chlichen steckt. Dazu mu&szlig; er aber ein
-m&auml;chtiges Eigenleben führen, denn Instinkte und Triebe kann
-man unmittelbar nur an der eigenen Person beobachten.
-&bdquo;<span class="ex">Nur aus der h&ouml;chsten Kraft der Gegenwart
-dürft ihr das Vergangene deuten</span>: nur in der st&auml;rksten
-Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr erraten, was in dem
-Vergangenen wissens- und bewahrenswürdig und gro&szlig; ist.
-Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch
-nieder.&ldquo; &bdquo;Alle Geschichte schreibt der Erfahrene und
-&Uuml;berlegene. Wer nicht einiges gr&ouml;&szlig;er und h&ouml;her
-erlebt hat als alle, wird auch nichts Gro&szlig;es und Hohes aus der
-Vergangenheit zu deuten wissen.&ldquo; (Historie &sect; 6.)</p>
-<p class="par">Dem &Uuml;berhandnehmen des historischen Sinnes in der
-Gegenwart gegenüber macht Nietzsche geltend, &bdquo;da&szlig; der
-Mensch vor allem zu <span class="ex">leben</span> lerne, und nur
-<span class="ex">im Dienste des erlernten Lebens</span> die Historie
-gebrauche&ldquo;. (Historie &sect; 10.) Er will vor allen Dingen eine
-&bdquo;<span class="ex">Gesundheitslehre des Lebens</span>&ldquo;,
-<span class="pagenum">[<a id="pb117" href="#pb117" name="pb117">117</a>]</span>und die Historie soll nur insoweit getrieben
-werden, als sie einer solchen Gesundheitslehre f&ouml;rderlich ist.</p>
-<p class="par">Was ist an der Geschichtsbetrachtung <span class="ex">lebenf&ouml;rdernd</span>? Diese Frage stellt Nietzsche in seiner
-&bdquo;Historie&ldquo;, und er steht damit bereits auf dem Boden, den
-er in dem S. 9 f. angeführten Satz aus &bdquo;Jenseits von Gut und
-B&ouml;se&ldquo; bezeichnet.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">39.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">In besonders starkem Grade wirkt der gesunden
-Entwickelung der Eigenpers&ouml;nlichkeit jene Gesinnung entgegen, die
-in dem bürgerlichen Philister zur Erscheinung kommt. Ein Philister
-ist der Gegensatz zu einem Menschen, der in dem freien Ausleben seiner
-Anlagen Befriedigung findet. Der Philister will dieses Ausleben nur
-insoweit gelten lassen, als es einem gewissen Durchschnittsma&szlig;
-der menschlichen Begabung entspricht. So lange der Philister innerhalb
-seiner Grenzen bleibt, ist gegen ihn nichts einzuwenden. Wer ein
-Durchschnittsmensch bleiben will, der hat das mit sich abzumachen.
-Nietzsche fand unter seinen Zeitgenossen solche, die ihre
-philisterhafte Gesinnung zur Normalgesinnung für alle Menschen
-machen wollten, die ihre Philisterhaftigkeit als das einzige, wahre
-Menschentum ansahen. Zu ihnen rechnet er Dav. Friedr. <span class="ex">Strau&szlig;</span>, den &Auml;sthetiker Friedr. Theodor
-<span class="ex">Vischer</span> u. A. Vischer, glaubt er, habe das
-Philisterbekenntnis unumwunden abgelegt in einer Rede, die er zum
-Andenken H&ouml;lderlins gehalten hat. Er sieht es in den Worten:
-&bdquo;Er (H&ouml;lderlin) war eine der unbewaffneten Seelen, er war
-der <span class="pagenum">[<a id="pb118" href="#pb118" name="pb118">118</a>]</span>Werther Griechenlands, ein hoffnungslos
-Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch
-Kraft und Inhalt war in seinem Leben, Fülle und Leben in seinem
-Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist
-zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; <span class="ex">er konnte es nicht ertragen, da&szlig; man noch kein Barbar ist,
-wenn man ein Philister ist</span>.&ldquo; (David Strau&szlig; &sect;
-2.) Der Philister will hervorragenden Menschen nicht geradezu die
-Existenzberechtigung absprechen; aber er meint: sie gehen an der
-Wirklichkeit zu Grunde, wenn sie sich nicht abzufinden wissen mit den
-Einrichtungen, die der Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen
-entsprechend geschaffen hat. Diese Einrichtungen seien einmal das
-Einzige, was wirklich, was vernünftig ist, und in sie müsse
-sich auch der gro&szlig;e Mensch fügen. Aus dieser
-Philistergesinnung heraus hat David <span class="ex">Strau&szlig;</span> sein Buch &bdquo;Der alte und der neue
-Glaube&ldquo; geschrieben. Gegen dieses Buch oder vielmehr gegen die in
-ihm zum Ausdruck gekommene Gesinnung wendet sich die erste der
-Nietzscheschen &bdquo;Unzeitgem&auml;&szlig;en Betrachtungen&ldquo;:
-&bdquo;David Strau&szlig;, der Bekenner und Schriftsteller&ldquo;
-(1873). Der Eindruck der neueren naturwissenschaftlichen
-Errungenschaften auf den Philister ist ein solcher, da&szlig; er sagt:
-&bdquo;Der christliche Ausblick auf ein unsterbliches, himmlisches
-Leben ist, samt den andern Tr&ouml;stungen der christlichen Religion,
-unrettbar dahingefallen.&ldquo; (David Strau&szlig; &sect; 4.) Er will
-sich das Leben auf der Erde gem&auml;&szlig; den Vorstellungen der
-Naturwissenschaft behaglich, d. h. so behaglich, wie es dem Philister
-entspricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man <span class="pagenum">[<a id="pb119" href="#pb119" name="pb119">119</a>]</span>glücklich und zufrieden sein kann, trotzdem
-man wei&szlig;, da&szlig; kein h&ouml;herer Geist über den Sternen
-waltet, sondern die starren, gefühllosen Kr&auml;fte der Natur
-über alles Weltgeschehen herrschen. &bdquo;Wir haben w&auml;hrend
-der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem gro&szlig;en
-nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir
-finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der
-Geschicke unserer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem
-Verst&auml;ndnis dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien
-nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volkstümlich
-geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht
-sind; dabei suchen wir unsere Naturerkenntnisse zu erweitern, wozu es
-an gemeinverst&auml;ndlichen Hülfsmitteln gleichfalls nicht fehlt;
-und endlich finden wir in den Schriften unserer gro&szlig;en Dichter,
-bei den Aufführungen der Werke unserer gro&szlig;en Musiker eine
-Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor,
-die nichts zu wünschen übrig l&auml;&szlig;t. So leben wir,
-so wandeln wir beglückt.&ldquo; (Strau&szlig;, Der alte und neue
-Glaube &sect; 88.)</p>
-<p class="par">Es ist das Evangelium des trivialsten Lebensgenusses,
-das aus diesen Worten spricht. Alles, was über das Triviale
-hinausgeht, nennt der Philister ungesund. Strau&szlig; sagt von der
-&bdquo;Neunten Symphonie&ldquo; Beethovens, da&szlig; diese nur bei
-denen beliebt sei, welchen &bdquo;das Barocke als das Geniale, das
-Formlose als das Erhabene gilt&ldquo; (<span class="corr" id="xd23e2334" title="Quelle: der">Der</span> alte und neue Glaube &sect;
-109); von Schopenhauer wei&szlig; der Messias des Philistertums zu
-verkünden, da&szlig; man an eine so &bdquo;ungesunde und
-unersprie&szlig;liche&ldquo; Philosophie wie die Schopenhauersche
-<span class="pagenum">[<a id="pb120" href="#pb120" name="pb120">120</a>]</span>keine Gründe, sondern h&ouml;chstens nur
-Worte und Scherze verschwenden dürfe. (David Strau&szlig; &sect;
-6.) <span class="ex">Gesund</span> nennt der Philister nur das, was der
-Durchschnittsbildung entspricht.</p>
-<p class="par">Als sittliches Urgebot stellt Strau&szlig; den Satz auf:
-&bdquo;Alles sittliche Handeln ist ein Sichbestimmen des Einzelnen,
-nach der Idee der Gattung.&ldquo; (Der alte und neue Glaube &sect; 74.)
-Nietzsche erwidert darauf: &bdquo;Ins Deutliche und Greifbare
-übertragen hei&szlig;t das nur: lebe als Mensch und nicht als Affe
-oder Seehund. Dieser Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und
-kraftlos, weil unter dem Begriff Mensch das Mannigfaltigste zusammen im
-Joche geht, z. B. der Patagonier und der Magister Strau&szlig;, und
-weil niemand wagen wird, mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als
-Patagonier! und: lebe als Magister Strau&szlig;!&ldquo; (Dav.
-Strau&szlig; &sect; 7.)</p>
-<p class="par">Es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal j&auml;mmerlichster
-Art, das Strau&szlig; den Menschen vorsetzen will. Und Nietzsche
-protestiert dagegen; er protestiert, weil in ihm ein lebhafter Instinkt
-ruft: lebe nicht, wie der Magister Strau&szlig;, sondern lebe, wie es
-dir angemessen ist!</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">40.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Erst in der Schrift: &bdquo;Menschliches,
-Allzumenschliches&ldquo; (1878) erscheint Nietzsche frei von dem
-Einflusse der Schopenhauerschen Denkweise. Er hat es aufgegeben,
-übernatürliche Ursachen für die natürlichen
-Ereignisse zu suchen; er strebt nach natürlichen
-Erkl&auml;rungsgründen. Er sieht jetzt alles Menschenleben als
-eine Art natürlichen Geschehens an; in dem Menschen sieht er das
-h&ouml;chste <span class="ex">Naturprodukt</span>. Man <span class="pagenum">[<a id="pb121" href="#pb121" name="pb121">121</a>]</span>lebt
-&bdquo;zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der <span class="ex">Natur</span>, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich
-wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu
-fürchten hatte. Man w&auml;re die Emphasis los und würde die
-Anstachelung des Gedankens, da&szlig; man nicht nur Natur oder mehr als
-Natur sei, nicht weiter empfinden ..... es mu&szlig; ein Mensch, von
-dem in solchem Ma&szlig;e die gew&ouml;hnlichen Fesseln des Lebens
-abgefallen sind, da&szlig; er nur deshalb weiter lebt, um immer besser
-zu erkennen, auf alles, ja fast auf alles, was bei den anderen Menschen
-Wert hat, ohne Neid und Verdru&szlig; verzichten k&ouml;nnen; ihm
-mu&szlig; als der wünschenswerteste Zustand jenes freie,
-furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den
-herk&ouml;mmlichen Sch&auml;tzungen der Dinge <span class="ex">genügen</span>.&ldquo; (Menschliches I. &sect; 84.) Nietzsche
-hat bereits allen Glauben an Ideale aufgegeben; er sieht in den
-menschlichen Handlungen nur noch Folgen natürlicher Ursachen, und
-in dem Erkennen dieser Ursachen findet er seine Befriedigung. Er
-findet, da&szlig; man eine unrichtige Vorstellung von den Dingen
-bekommt, wenn man blo&szlig; das an ihnen sieht, was von dem Lichte der
-idealistischen Erkenntnis beleuchtet wird. Es entgeht einem dann das,
-was von den Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will jetzt nicht nur
-die Sonnen-, sondern auch die Schattenseite der Dinge kennen lernen.
-Aus diesem Streben ging die Schrift: &bdquo;Der Wanderer und sein
-Schatten&ldquo; hervor (1879). Er will in diesem Buche die
-Erscheinungen des Lebens von allen Seiten erfassen. Er ist
-&bdquo;Wirklichkeitsphilosoph&ldquo; im besten Sinne des Wortes
-geworden. <span class="pagenum">[<a id="pb122" href="#pb122" name="pb122">122</a>]</span></p>
-<p class="par">In der &bdquo;Morgenr&ouml;te&ldquo; (1881) schildert er
-den moralischen Proze&szlig; in der Menschheitsentwickelung als einen
-Naturvorgang. Schon in dieser Schrift zeigt er, da&szlig; es keine
-überirdische sittliche Weltordnung, keine ewigen Gesetze des Guten
-und B&ouml;sen giebt, und da&szlig; alle Sittlichkeit entsprungen ist
-aus den in den Menschen waltenden natürlichen Trieben und
-Instinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den originellen
-Wandergang Nietzsches. Wenn keine au&szlig;ermenschliche Macht dem
-Menschen eine bindende Verpflichtung auferlegen kann, dann ist er
-berechtigt, das eigene Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis
-ist das Leitmotiv der &bdquo;fr&ouml;hlichen Wissenschaft&ldquo;
-(1882). Keine Fessel ist nun dieser &bdquo;freien&ldquo; Erkenntnis
-Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich berufen, neue Werte zu
-schaffen, nachdem er den Ursprung der alten erkannt und gefunden hat,
-da&szlig; sie nur menschliche, keine g&ouml;ttlichen Werte sind. Er
-wagt es jetzt, das zu verwerfen, was seinen Instinkten widerspricht,
-und anderes an die Stelle zu setzen, was seinen Trieben
-gem&auml;&szlig; ist: &bdquo;Wir Neuen, Namenlosen,
-Schlechtverst&auml;ndlichen, wir Frühgeburten einer noch
-unbewiesenen Zukunft &mdash; wir bedürfen zu einem neuen Zwecke
-auch eines neuen Mittels, n&auml;mlich einer neuen Gesundheit, einer
-st&auml;rkeren, gewitzteren, z&auml;heren, verwegeneren,
-l&auml;stigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele
-darnach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und
-Wünschbarkeiten erlebt und alle Künste dieses idealischen
-&bdquo;Mittelmeeres&ldquo; umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern
-der eigensten Erfahrungen wissen will, wie es einem Eroberer und
-Entdecker des Ideals zu Mute ist ... <span class="pagenum">[<a id="pb123" href="#pb123" name="pb123">123</a>]</span>der hat zu allererst
-Eins n&ouml;tig, <span class="ex">die gro&szlig;e Gesundheit</span>
-.... Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir
-Argonauten des Ideals, mutiger vielleicht, als klug ist ... will es uns
-scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land
-vor uns haben .... Wie k&ouml;nnten wir uns, nach solchen Ausblicken
-und mit einem solchen Hei&szlig;hunger in Gewissen und Wissen, noch am
-<span class="ex">gegenw&auml;rtigen Menschen</span> genügen
-lassen!&ldquo; (Fr&ouml;hliche Wissenschaft &sect; 382.)</p>
-</div>
-</div>
-<div class="div2 section"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h3 class="main">41.</h3>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first">Aus der in den vorstehenden S&auml;tzen
-charakterisierten Stimmung heraus erwuchs Nietzsche das Bild seines
-<span class="ex">&Uuml;bermenschen</span>. Es ist das Gegenbild des
-Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild des Christen. Im
-Christentum ist der <span class="ex">Widerspruch</span> gegen die
-Pflege des <span class="ex">starken</span> Lebens Religion geworden.
-(Antichrist &sect; 5.) Der Stifter dieser Religion lehrte: da&szlig;
-vor Gott das ver&auml;chtlich ist, was vor den Menschen Wert hat. In
-dem &bdquo;Gottesreich&ldquo; will der Christ alles verwirklicht
-finden, was ihm auf Erden mangelhaft erscheint. Das Christentum ist die
-Religion, die dem Menschen alle Sorge für das irdische Leben
-benehmen will; es ist die Religion der Schwachen, die sich gerne als
-Gebot vorsetzen lassen: &bdquo;Widerstrebe nicht dem B&ouml;sen und
-dulde alles Ungemach&ldquo;, weil sie nicht stark genug sind zum
-Widerstande. Der Christ hat keinen Sinn für die vornehme
-Pers&ouml;nlichkeit, die aus ihrer eigenen Wirklichkeit ihre Kraft
-sch&ouml;pfen will. Er glaubt, der Blick für das Menschenreich
-verderbe die Sehkraft für das Gottesreich. <span class="pagenum">[<a id="pb124" href="#pb124" name="pb124">124</a>]</span>Auch
-die vorgeschritteneren Christen, die nicht mehr glauben, da&szlig; sie
-am Ende der Tage in ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen
-werden, um entweder in das Paradies aufgenommen oder in die H&ouml;lle
-versto&szlig;en zu werden, tr&auml;umen von &bdquo;g&ouml;ttlicher
-Vorsehung&ldquo;, von einer &bdquo;übersinnlichen&ldquo; Ordnung
-der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, da&szlig; sich der Mensch
-über seine blo&szlig; irdischen Ziele erheben und in ein ideales
-Reich einfügen müsse. Sie glauben, da&szlig; das Leben einen
-rein geistigen Hintergrund habe, und da&szlig; es erst dadurch einen
-Wert erhalte. Nicht die Instinkte für Gesundheit, Sch&ouml;nheit,
-Wachstum, Wohlgeratenheit, Dauer, für H&auml;ufung von
-Kr&auml;ften will das Christentum pflegen, sondern den Ha&szlig; gegen
-den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das Selbstvertrauen und
-die Freiheit des Geistes, den Ha&szlig; gegen die Freuden der
-sinnlichen Welt, gegen die Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit, in
-der der Mensch lebt. (Antichrist &sect; 21.) Das Christentum bezeichnet
-das Natürliche geradezu als &bdquo;verwerflich&ldquo;. Im
-christlichen Gotte ist ein jenseitiges Wesen, d. h. ein <span class="ex">Nichts</span> verg&ouml;ttlicht, es ist <span class="ex">der Wille
-zum Nichts</span> heilig gesprochen. (Antichrist &sect; 18.) Deshalb
-bek&auml;mpft Nietzsche im ersten Buche seiner &bdquo;Umwertung aller
-Werte&ldquo; das Christentum. Und er wollte im zweiten und dritten
-Buche auch die Philosophie und Moral der Schwachen bek&auml;mpfen, die
-sich nur in der Rolle von Abh&auml;ngigen wohlgefallen. Weil der Typus
-des Menschen, den Nietzsche gezüchtet sehen will, das diesseitige
-Leben nicht gering sch&auml;tzt, sondern dieses Leben mit Liebe
-umfa&szlig;t und es zu hoch stellt, um glauben zu k&ouml;nnen,
-da&szlig; es nur <span class="ex">einmal</span> gelebt werden
-<span class="pagenum">[<a id="pb125" href="#pb125" name="pb125">125</a>]</span>solle, deshalb ist er nach &bdquo;der Ewigkeit
-brünstig&ldquo; (Zarathustra, 3. Teil, die sieben Siegel) und
-m&ouml;chte, da&szlig; dieses Leben unendlich oft gelebt werden
-k&ouml;nne. Nietzsche l&auml;&szlig;t seinen &bdquo;Zarathustra&ldquo;
-den &bdquo;Lehrer der ewigen Wiederkunft&ldquo; sein. &bdquo;Siehe, wir
-wissen ....., da&szlig; alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber
-mit, und da&szlig; wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge
-mit uns.&ldquo; (Zarath. 3. Teil, der Genesende.) Eine bestimmte
-Meinung darüber zu haben, welche Vorstellung Nietzsche mit dem
-Worte &bdquo;ewige Wiederkunft&ldquo; verknüpfte, scheint mir
-gegenw&auml;rtig nicht m&ouml;glich zu sein. Man wird darüber erst
-Genaueres sagen k&ouml;nnen, wenn die Aufzeichnungen Nietzsches zu den
-unvollendeten Teilen seines &bdquo;Willens zur Macht&ldquo; in der
-zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner Werke vorliegen werden.</p>
-</div>
-</div>
-</div>
-</div>
-</div>
-<div class="back">
-<div class="div1 imprint"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divBody">
-<p class="par first xd23e2403">Pierer&rsquo;sche Hofbuchdruckerei.
-Stephan Geibel &amp; Co. in Altenburg. <span class="pagenum">[<a id="pb126" href="#pb126" name="pb126">126</a>]</span></p>
-</div>
-</div>
-<div class="div1 ads"><span class="pagenum">[<a href="#toc">Inhalt</a>]</span>
-<div class="divHead">
-<h2 class="main">Verlag von Emil Felber in Weimar.</h2>
-</div>
-<div class="divBody">
-<p class="par first xd23e106"><a class="pglink xd23e43" title="Link zu Project Gutenberg Ebook" href="https://www.gutenberg.org/ebooks/53493">Die Philosophie der
-Freiheit</a>.</p>
-<p class="par xd23e143">Grundzüge einer modernen
-Weltanschauung</p>
-<p class="par xd23e143">von</p>
-<p class="par xd23e108">Dr. Rudolf Steiner.</p>
-<p class="par xd23e143">4 Mark, sch&ouml;n gebunden 5 Mark.</p>
-<p class="par">Aus den zahlreichen Urteilen über dieses anerkannt
-hochbedeutende Werk seien nur erw&auml;hnt:</p>
-<p class="par">&bdquo;Klar und wahr&ldquo; m&ouml;chte ich dem Buche
-aufs Titelblatt schreiben. <i>Klar</i>, bündig und frei von aller
-Tüftelei ist die Darstellung, <i>wahr</i> und gesund der
-Standpunkt des Verfassers. ... <i>Nur auf solcher Weltanschauung kann
-die arg bedrohte, pers&ouml;nliche und menschheitliche Freiheit
-naturgem&auml;&szlig;e Anerkennung finden</i>, das echte Recht des
-Individualismus einen gesunden Kollektivismus schaffen. <i>Der
-Verfasser hat sein Werk gerade nur rechten Zeit geschrieben, m&ouml;ge
-es die weiteste Verbreitung finden.</i></p>
-<p class="par xd23e1842"><b>Deutsche Worte</b><br>
-Dez.-Heft 1893. Ed. Aug. Schroeder.</p>
-<p class="par">Wenn dem Leser dieses Buch zu H&auml;nden kommt, so soll
-er sich nicht davon abschrecken lassen, <span class="corr" id="xd23e2444" title="Quelle: dass">da&szlig;</span> in dem Titel von
-Philosophie die Rede ist, die nach einer landl&auml;ufigen Meinung nur
-unpraktische Grübler besch&auml;ftigt, sowie von Freiheit, die in
-unseren Tagen vor dem Glanz der Notwendigkeit und der Autorit&auml;t
-stark verbla&szlig;t ist. Das Buch enth&auml;lt wirklich, was es im
-weiteren verspricht: Die Grundzüge einer modernen Weltanschauung,
-mit einer Menge anregender Ausführungen und packender Gedanken....
-Daneben giebt es auch wichtige kritische Beleuchtungen herrschender
-Systeme wie des Kantschen, Schopenhauerschen, Hartmannschen, und der
-Materialismus wird gerade so in die Rumpelkammer verwiesen wie der
-ideologische Idealismus. <i>Dabei ist alles frisch geschrieben,
-verst&auml;ndlich gehalten, ein intellektueller Genu&szlig; und
-anregend für jeden denkenden Menschen.</i> ... Und darum sei das
-Werk allen denen empfohlen, deren Denken sich weder mit dem bequemen
-Mystizismus, noch mit einem &ouml;den Materialismus begnügen
-kann.</p>
-<p class="par xd23e1842"><b>Frankf. Zeitung</b> von Sonntag, 8. Juli
-1894.</p>
-<p class="par xd23e143">Von demselben Verfasser erschien
-früher:</p>
-<p class="par xd23e106">Wahrheit und Wissenschaft.</p>
-<p class="par xd23e143">Preis: 1 Mark.</p>
-<p class="par">Die vorliegende Schrift ist eine bedeutende That. Sie
-füllt eine gro&szlig;e Lücke in der Philosophie aus.... Die
-Untersuchung des Wesens der freien Selbstbestimmung hat Rud. Steiner
-der &bdquo;<i>Philosophie der Freiheit</i>&ldquo; vorbehalten, welcher
-wir mit leichtbegreiflicher Spannung entgegensehen.</p>
-<p class="par xd23e1842"><b>Bl&auml;tter für literar.
-Unterhaltung.</b> <span class="pagenum">[<a id="pb127" href="#pb127"
-name="pb127">127</a>]</span></p>
-<p class="par xd23e2472">Seifenblasen.</p>
-<p class="par xd23e106">Moderne M&auml;rchen</p>
-<p class="par xd23e143">von</p>
-<p class="par xd23e108">Kurd La&szlig;witz.</p>
-<p class="par xd23e143">Zweite, verm. Auflage. Eleg. brosch. 3.50 M.,
-fein geb. 4.50 M.</p>
-<p class="par"><span class="ex">Inhalt</span>: Prolog. &mdash; Auf der
-Seifenblase. &mdash; Prinzessin Jaja. &mdash; St&auml;ubchen. &mdash;
-Apoikis. &mdash; Aladdins Wunderlampe. &mdash; Aus dem Tagebuche einer
-Ameise. &mdash; Musen und Weise. &mdash; Unverwüstlich. &mdash;
-Der Schirm. &mdash; Der Traumfabrikant. &mdash; Psychotomie. &mdash;
-Mirax. &mdash; Tr&ouml;pfchen. &mdash; Selbstbiographische Studien.
-&mdash; Epilog.</p>
-<p class="par">Das Buch ist eines der interessantesten Werke, die seit
-langem erschienen sind. Es sind keine M&auml;rchen im gew&ouml;hnlichen
-Sinne, und sie sind auch nicht für Kinder bestimmt, weil sie fast
-alle eine gewisse wissenschaftliche Bildung voraussetzen. Man
-k&ouml;nnte sie wissenschaftliche M&auml;rchen nennen, denn sie sind
-auf naturwissenschaftlichen Dingen aufgebaut, gehen
-naturwissenschaftlichen Hypothesen in ihren Einzelheiten nach, oder
-erweitern die vorhandene Natur in phantasievoller und phantastischer
-Weise. Der Verfasser verbindet die Naturwissenschaft und seine rege
-Phantasie so eng, und er wei&szlig; daraus so reizvolle Bilder zu
-gestalten, da&szlig; dem Buche in seiner Eigenart kein anderes an die
-Seite zu stellen geht. M&auml;rchen wie &bdquo;Auf der
-Seifenblase&ldquo;, &bdquo;Apoikis&ldquo;, &bdquo;Aus dem Tagebuche
-einer Ameise&ldquo; sind Erz&auml;hlungen, deren Reiz sich niemand
-entziehen kam; nicht weniger fesselnd sind eine ganze Reihe der
-übrigen Stücke des Buches. Leider ist es nicht m&ouml;glich,
-im einzelnen auf den Inhalt dieser M&auml;rchen einzugehen, denn es
-würde an dieser Stelle zu weit führen. Nicht unerw&auml;hnt
-m&ouml;ge noch bleiben, da&szlig; gewisse satyrische Streiflichter auf
-diese oder jene Frage der Wissenschaft den Reiz des Buches noch
-wesentlich erh&ouml;hen. Wie sehr das pr&auml;chtige Werk den Beifall
-des Publikums findet, zeigt schon die Thatsache, da&szlig; es in der
-kurzen Zeit seines Erscheinens bereits eine zweite Auflage erlebt hat.
-Die &bdquo;Seifenblasen&ldquo; werden eine Zierde jedes
-Weihnachtstisches sein.</p>
-<p class="par xd23e1842"><span class="ex">Dresdener Anzeiger</span>
-1894, Nr. 352.</p>
-<p class="par">Die tiefsten und eigenartigsten dieser M&auml;rchen sind
-unseres Erachtens die &bdquo;Seifenblasen&ldquo;. Moderne M&auml;rchen
-von Kurd La&szlig;witz, die in zweiter, vermehrter Auflage vorliegen.
-Nicht in mondscheinumwobene versunkene Zauberschl&ouml;sser der
-Vergangenheit führt uns ihr Verfasser, nein, er schweift kühn
-in die noch verschlossenen Nebellande der Zukunft und verfolgt mit
-wissenschaftlichem Ernst die Wege weiter, welche die Wissenschaft
-unserer Tage eingeschlagen hat. Mit wunderbarem Scharfsinn l&ouml;st er
-die schwierigsten Probleme und macht die weittragendsten Erfindungen,
-die zu verwirklichen es immer nur an irgend einer unbedeutenden
-Kleinigkeit mangelt: Die Apparate und Instrumente sind leider immer
-schon fertig; wie sie entstanden sind, das auszuführen, h&auml;lt
-der Verfasser nicht weiter für n&ouml;tig. Schade! Wir k&ouml;nnen
-hier nicht auf jedes einzelne M&auml;rchen n&auml;her eingehen, so
-verlockend es auch w&auml;re, wollen aber nicht vers&auml;umen, unsere
-Leser mit aller W&auml;rme auf diese Sch&ouml;pfungen eines scharfen
-und satirischen Geistes hinzuweisen, der au&szlig;er einem
-unbestechlichen Verstande noch eine reiche Phantasie, ein warmes Herz
-und hohes sittliches Pathos in sich vereinigt. Stücke wie
-&bdquo;Apoikis&ldquo; und das &bdquo;Tagebuch einer Ameise&ldquo;, vor
-allem aber das tiefsinnige &bdquo;Tr&ouml;pfchen&ldquo; trifft man in
-der heutigen Literatur nicht oft. Den Inhalt dieser M&auml;rchen auch
-nur anzudeuten, ist bei ihrer Eigenart nicht m&ouml;glich. Sie
-müssen gelesen werden. Wir hoffen, da&szlig; viele sie lesen.</p>
-<p class="par xd23e1842"><span class="ex">Norddeutsche Allgemeine
-Zeitung</span> 1894, Nr. 586. <span class="pagenum">[<a id="pb128"
-href="#pb128" name="pb128">128</a>]</span></p>
-<p class="par xd23e143">Vor kurzem erschien in 2., reichvermehrter
-Auflage und liegt nun in mehr als 6000 Exemplaren vor:</p>
-<p class="par xd23e106">Der Bilderschmuck der deutschen Sprache</p>
-<p class="par xd23e143">in Tausenden volkstümlicher
-Redensarten.</p>
-<p class="par xd23e143">Nach Ursprung und Bedeutung erkl&auml;rt</p>
-<p class="par xd23e143">von</p>
-<p class="par xd23e108">Dr. Herman Schrader.</p>
-<p class="par xd23e143">6 Mark, sch&ouml;n gebunden 7 Mark.</p>
-<p class="par">Aus Hunderten durchweg gl&auml;nzender Urteile seien nur
-folgende hervorgehoben:</p>
-<p class="par"><b>F. Avenarius im Kunstwart.</b> .... Das Werk
-verdiente eine &auml;hnliche Verbreitung wie Büchmanns
-&bdquo;Geflügelte Worte&ldquo;, ja, es verdiente sie vielleicht
-noch mehr.</p>
-<p class="par"><b>Der Westen</b>, Chicago 1889, Nr. 38. Ein h&ouml;chst
-verdienstliches Werk. ... Es ist ein Werk, das sich ein jeder, der
-seine Sprache gründlich kennen lernen will, verschaffen
-sollte.</p>
-<p class="par"><b>A. H. Naaff in Lyra</b>, XIV, 1. Es erscheinen
-allj&auml;hrlich Tausende und Tausende neue Schriften und Bücher
-im deutschen Buchhandel, und wie wenige davon sind nur zum tausendsten
-Teile so daseinsberechtigt wie das angezeigte! .... Selten noch hat
-mich ein Werk so erquickt, befriedigt wie dieses. .... Ein ganzer
-gro&szlig;er Wundergarten unserer Sprache, unseres Volksfühlens
-thut sich an der Hand dieses Führers vor uns auf.....</p>
-<p class="par"><b>O. v. Leixner in Deutsche Romanzeitung</b>, 1889, Nr.
-39. .... Der Verfasser bietet das Belehrende in einer so frischen,
-unterhaltenden Art, da&szlig; sich sicher niemand bei der Lesung
-langweilen wird. Das Werk verdiente in der deutschen Familie zu einem
-Hausbuche zu werden. Es sei unsern Lesern nochmals angelegentlich
-empfohlen.</p>
-<p class="par"><b>Quellwasser fürs deutsche Haus</b>, XIX, 17. Das
-ist ein ungew&ouml;hnlich kluges, liebenswertes und dabei hervorragend
-nationales Buch.</p>
-<p class="par"><b>Grenzboten</b>, 3. 7. 1891. Wir haben es hier mit
-einem so durch und durch liebenswürdigen Buche zu thun, da&szlig;
-wir ihm die weiteste Verbreitung wünschen m&ouml;chten. .... So
-ist das Werk ein Unterhaltungsbuch im besten Sinne des Wortes geworden.
-.... Ganz besonders aber m&ouml;chten wir noch die Lehrer des Deutschen
-darauf aufmerksam machen, da&szlig; sich ihnen hier eine reiche
-Fundgrube für die Bedürfnisse ihres Unterrichts bietet.</p>
-<p class="par"><b>Schorers Familienblatt</b>, 1890, Nr. 27. Eines der
-verdienstlichsten Bücher. .... Allen Freunden unserer herrlichen
-Muttersprache sei dieses Buch bestens empfohlen.</p>
-<p class="par"><b>Schw&auml;bische Chronik</b> v. 18. 12. 94. Ein Buch,
-das in jedem deutschen Hause Heimatsrecht haben sollte.</p>
-<p class="par">Ausführlicher Prospekt mit Proben und Urteilen
-steht zu Diensten.</p>
-</div>
-</div>
-<div class="transcribernote">
-<h2 class="main">Kolophon</h2>
-<h3 class="main">Korrekturen</h3>
-<p>Die folgenden Korrekturen sind am Text angewendet worden:</p>
-<table class="correctiontable" summary="&Uuml;bersicht der Korrekturen im Text">
-<tr>
-<th>Seite</th>
-<th>Quelle</th>
-<th>Korrektur</th>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e214">VIII</a></td>
-<td class="width40 bottom">&bdquo;</td>
-<td class="width40 bottom">[<i>Weggelassen</i>]</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e360">4</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e364">4</a>, <a class="pageref" href="#xd23e471">11</a>, <a class="pageref" href="#xd23e478">11</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e487">12</a>, <a class="pageref" href="#xd23e491">12</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1394">69</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e1398">69</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1464">71</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1468">71</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e1475">71</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1508">72</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1512">72</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e1518">73</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1525">73</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1543">74</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e1548">74</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1552">74</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1556">74</a></td>
-<td class="width40 bottom">[<i>Nicht in der Quelle</i>]</td>
-<td class="width40 bottom">&bdquo;</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e462">11</a></td>
-<td class="width40 bottom">Nietzche</td>
-<td class="width40 bottom">Nietzsche</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e585">16</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e649">19</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1003">45</a></td>
-<td class="width40 bottom">&ldquo;</td>
-<td class="width40 bottom">[<i>Weggelassen</i>]</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e618">18</a></td>
-<td class="width40 bottom">einen</td>
-<td class="width40 bottom">einem</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e640">18</a></td>
-<td class="width40 bottom">&sbquo;</td>
-<td class="width40 bottom">.&ldquo;</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e668">21</a></td>
-<td class="width40 bottom">abstossend</td>
-<td class="width40 bottom">absto&szlig;end</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e831">37</a></td>
-<td class="width40 bottom">weiss</td>
-<td class="width40 bottom">wei&szlig;</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e836">37</a></td>
-<td class="width40 bottom">naturgem&auml;ss</td>
-<td class="width40 bottom">naturgem&auml;&szlig;</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e839">37</a></td>
-<td class="width40 bottom">l&auml;sst</td>
-<td class="width40 bottom">l&auml;&szlig;t</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e842">37</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e854">38</a>, <a class="pageref" href="#xd23e2444">126</a></td>
-<td class="width40 bottom">dass</td>
-<td class="width40 bottom">da&szlig;</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e871">39</a></td>
-<td class="width40 bottom">verl&auml;sst</td>
-<td class="width40 bottom">verl&auml;&szlig;t</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e879">39</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e889">40</a></td>
-<td class="width40 bottom">muss</td>
-<td class="width40 bottom">mu&szlig;</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e971">44</a>,
-<a class="pageref" href="#xd23e1022">45</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1528">73</a>, <a class="pageref" href="#xd23e1562">74</a></td>
-<td class="width40 bottom">.</td>
-<td class="width40 bottom">,</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1020">45</a></td>
-<td class="width40 bottom">Generalogie</td>
-<td class="width40 bottom">Genealogie</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1034">46</a></td>
-<td class="width40 bottom">des</td>
-<td class="width40 bottom">der</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1083">48</a></td>
-<td class="width40 bottom">leben-feindlichen</td>
-<td class="width40 bottom">lebensfeindlichen</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1307">65</a></td>
-<td class="width40 bottom">[<i>Nicht in der Quelle</i>]</td>
-<td class="width40 bottom">,</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1330">66</a></td>
-<td class="width40 bottom">die</td>
-<td class="width40 bottom">Die</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1921">93</a></td>
-<td class="width40 bottom">[<i>Nicht in der Quelle</i>]</td>
-<td class="width40 bottom">III.</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1977">96</a></td>
-<td class="width40 bottom">Nietsche</td>
-<td class="width40 bottom">Nietzsche</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e1989">97</a></td>
-<td class="width40 bottom">,</td>
-<td class="width40 bottom">[<i>Weggelassen</i>]</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e2060">100</a></td>
-<td class="width40 bottom">Nietsches</td>
-<td class="width40 bottom">Nietzsches</td>
-</tr>
-<tr>
-<td class="width20"><a class="pageref" href="#xd23e2334">119</a></td>
-<td class="width40 bottom">der</td>
-<td class="width40 bottom">Der</td>
-</tr>
-</table>
-</div>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Friedrich Nietzsche, by Rudolf Steiner
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRIEDRICH NIETZSCHE ***
-
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-The Project Gutenberg EBook of Friedrich Nietzsche, by Rudolf Steiner
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Friedrich Nietzsche
- Ein Kämpfer gegen seine Zeit
-
-Author: Rudolf Steiner
-
-Release Date: November 24, 2016 [EBook #53592]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRIEDRICH NIETZSCHE ***
-
-
-
-
-Produced by Jeroen Hellingman and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net/ for Project
-Gutenberg (This book was produced from scanned images of
-public domain material from the Google Books project.)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
- FRIEDRICH NIETZSCHE
-
- EIN KÄMPFER GEGEN SEINE ZEIT.
-
- Von
-
- Dr. RUDOLF STEINER.
-
-
-
- WEIMAR.
-
- VERLAG VON EMIL FELBER.
-
- 1895.
-
-
-
-
-
-
-
-
-INHALT.
-
- Seite
-
- Vorrede VII
- I. Nietzsches Charakter 1
- II. Der Übermensch 29
- III. Nietzsches Entwickelungsgang 93
-
-
-
-
-
-
-
-
-VORREDE.
-
-
-Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich Nietzsches kennen lernte,
-waren in mir bereits Ideen ausgebildet, die den seinigen ähnlich
-sind. Unabhängig von ihm und auf anderen Wegen als er, bin ich zu
-Anschauungen gekommen, die im Einklang stehen mit dem, was Nietzsche
-in seinen Schriften: "Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse",
-"Genealogie der Moral" und "Götzendämmerung" ausgesprochen hat. Schon
-in meinem 1886 erschienenen kleinen Buche "Erkenntnistheorie der
-Goetheschen Weltanschauung" kommt dieselbe Gesinnung zum Ausdruck,
-wie in den genannten Werken Nietzsches.
-
-Dies ist der Grund, warum ich mich gedrängt fühlte, ein Bild von
-dem Vorstellungs- und Empfindungsleben Nietzsches zu zeichnen. Ich
-glaube, daß ein solches Bild Nietzsche am ähnlichsten dann wird,
-wenn man es seinen erwähnten letzten Schriften gemäß schafft. So habe
-ich es gethan. Die früheren Schriften Nietzsches zeigen uns ihn als
-Suchenden. Er stellt sich uns in ihnen dar als rastlos aufwärts
-Strebender. In seinen letzten Schriften sehen wir ihn auf dem
-Gipfel angelangt, der eine seiner ureigenen Geistesart angemessene
-Höhe hat. In den meisten der bis jetzt über Nietzsche erschienenen
-Schriften wird dessen Entwickelung so dargestellt, als ob er in
-den verschiedenen Zeiten seiner Schriftstellerlaufbahn voneinander
-mehr oder weniger abweichende Meinungen gehabt hätte. Ich habe zu
-zeigen versucht, daß von einem Meinungswechsel bei Nietzsche nicht
-die Rede sein kann, sondern nur von einer Aufwärts-Bewegung, von
-der naturgemäßen Entwickelung einer Persönlichkeit, die noch nicht
-die ihren Anschauungen entsprechende Ausdrucksform gefunden hatte,
-als sie ihre ersten Schriften schrieb.
-
-Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die Zeichnung des Typus
-"Übermensch". Diesen Typus zu charakterisieren, habe ich als
-eine der Hauptaufgaben meiner Schrift betrachtet. Mein Bild des
-Übermenschen ist genau das Gegenteil des Zerrbildes geworden, das
-in dem augenblicklich verbreitetsten Buche über Nietzsche von Frau
-Lou Andreas-Salomé entworfen ist. Man kann nichts dem Nietzscheschen
-Geiste mehr Zuwiderlaufendes in die Welt setzen, als das mystische
-Ungetüm, das Frau Salomé aus dem Übermenschen gemacht hat. Mein Buch
-zeigt, daß in Nietzsches Ideen nirgends auch nur die geringste Spur
-von Mystik anzutreffen ist. Auf die Widerlegung der Ansicht von Frau
-Salomé, daß Nietzsches Gedanken in "Menschliches, Allzumenschliches"
-von den Ausführungen Paul Rées, des Verfassers der "Psychologischen
-Beobachtungen und des Ursprungs der moralischen Empfindungen"
-u. s. w., beeinflußt seien, habe ich mich nicht eingelassen. Ein so
-mittelmäßiger Kopf wie Paul Rée konnte auf Nietzsche keinen bedeutenden
-Eindruck machen. Ich würde diese Dinge auch hier nicht berühren,
-wenn nicht das Buch von Frau Salomé so viel beigetragen hätte,
-geradezu widerwärtige Ansichten über Nietzsche zu verbreiten. Fritz
-Koegel, der ausgezeichnete Herausgeber von Nietzsches Werken, hat im
-"Magazin für Litteratur" diesem Machwerke die gebührende Abfertigung
-angedeihen lassen.
-
-Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschließen, ohne Frau
-Förster-Nietzsche, der Schwester Nietzsches, herzlichst zu danken für
-die vielen Freundlichkeiten, die ich von ihr während der Zeit erfahren
-habe, in der meine Schrift entstanden ist. Den im "Nietzsche-Archiv"
-in Naumburg verlebten Stunden verdanke ich die Stimmung, aus der
-heraus die folgenden Gedanken geschrieben sind.
-
-
- Weimar, April 1895.
-
- Rudolf Steiner.
-
-
-
-
-
-
-
-
-NIETZSCHES WERKE.
-
-
-Ich führe hier zur Orientierung die bis jetzt erschienenen und für
-meine Ausführungen in Betracht kommenden Schriften Nietzsches an und
-füge zu jeder einzelnen die Jahreszahl des Erscheinens der ersten
-Auflage hinzu.
-
-
-Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus.
-
-Die 1. Aufl. erschien 1872.
-
-Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem "Versuch einer Selbstkritik"
-erschien 1886.
-
-Unzeitgemäße Betrachtungen.
-
-Erstes Stück: David Strauß, der Bekenner und
-Schriftsteller. 1. Aufl. 1873.
-
-Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das
-Leben. 1. Aufl. 1874.
-
-Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 1. Aufl. 1874.
-
-Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. 1. Aufl. 1876.
-
-Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.
-
-1. Band. 1. Aufl. 1878.
-
-Eine neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede erschien 1886.
-
-Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.
-
-2. Band. Die beiden Abteilungen dieses Buches: "Vermischte Meinungen
-und Sprüche" und "Der Wanderer und sein Schatten" erschienen
-zuerst jede als besonderes Buch. Die erste 1879 unter dem Titel:
-"Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang:
-Vermischte Meinungen und Sprüche", die zweite 1880. Beide Abteilungen
-wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der mit einer einführenden
-Vorrede versehen wurde und der den Titel trug: "Menschliches,
-Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue
-Ausgabe mit einer einführenden Vorrede."
-
-Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
-
-1. Aufl. 1881.
-
-Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede 1887.
-
-Die fröhliche Wissenschaft ("La gaya scienza"). 1. Aufl. 1882.
-
-Neue Ausgabe mit einer Vorrede 1887.
-
-Also sprach Zarathustra. Die Teile erschienen zuerst einzeln: 1. Teil
-1883; 2. Teil 1883; 3. Teil 1884. Die erste Gesamtausgabe der drei
-Teile erschien 1886. Der vierte Teil erschien 1885 in 40 Abzügen bloß
-für Freunde und erst 1891 als 1. Aufl.
-
-Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der
-Zukunft. 1. Aufl. 1886.
-
-Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1. Aufl. 1887.
-
-Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. 1. Aufl. 1888.
-
-Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer
-philosophiert. 1. Aufl. 1889.
-
-Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen. Erschien 1895
-in der Gesamtausgabe zum ersten Mal. 1888 bereits einmal gedruckt,
-aber nicht ausgegeben.
-
-Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Das erste
-Buch des unvollendeten Werkes Nietzsches "Der Wille zur Macht". In
-der Gesamtausgabe (1895) zum erstenmal gedruckt.
-
-Gedichte. In der Gesamtausgabe 1895.
-
-Eine Gesamtausgabe von Nietzsches Werken in 8 Bänden ist 1895 bei
-C. G. Naumann in Leipzig erschienen. In derselben sind enthalten:
-Die Geburt der Tragödie 4. Aufl.; Die "Unzeitgemäßen Betrachtungen"
-3. Aufl.; "Menschliches, Allzumenschliches" 1. u. 2. Bd. 4. Aufl.;
-Morgenröte 2. Aufl.; Fröhliche Wissenschaft 2. Aufl.; Zarathustra
-4. Aufl.; Jenseits von Gut und Böse 5. Aufl.; Genealogie der Moral
-4. Aufl.; Der Fall Wagner 3. Aufl.; Götzendämmerung 3. Aufl.; Nietzsche
-contra Wagner; Antichrist; Gedichte.
-
-
-Die Veröffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten Nietzsches, sowie
-seiner Entwürfe zu Arbeiten, seiner Fragmente u. s. w. steht bevor.
-
-
-
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-
-
-
-
-I.
-
-DER CHARAKTER.
-
-
-1.
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-Friedrich Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler
-und Rätselfreund, als unzeitgemäße Persönlichkeit. Wer auf solchen
-eigenen Wegen geht, wie er, "begegnet niemandem; das bringen die
-eigenen Wege mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem,
-was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß
-er allein fertig werden", sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe
-seiner "Morgenröte". Aber reizvoll ist es, ihm in seine Einsamkeit
-zu folgen. Die Worte, die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer
-ausgesprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche sagen:
-"Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste
-Seite von ihm gelesen, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten
-lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt
-hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da ..... Ich verstand ihn,
-als ob er für mich geschrieben hätte, um mich verständlich, aber
-unbescheiden und thöricht auszudrücken." Man kann so sprechen und
-weit davon entfernt sein, sich als "Gläubigen" der Nietzscheschen
-Weltanschauung zu bekennen. Weiter allerdings nicht, als Nietzsche
-davon entfernt war, sich solche "Gläubige" zu wünschen. Legt er doch
-seinem "Zarathustra" die Worte in den Mund:
-
-"Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an
-Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen
-Gläubigen!
-
-"Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle
-Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.
-
-"Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn
-ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren."
-
-Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich
-wohl Freunde seiner Meinungen wünschen; Bekenner seiner Lehren aber,
-die ihr eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, kann er
-nicht wollen.
-
-In Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte, denen ganze
-Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen zuwider sind. Von den
-wichtigsten Kulturideen derjenigen, in deren Mitte er sich entwickelt
-hat, wendet er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und
-zwar nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in der man einen
-logischen Widerspruch entdeckt hat, sondern wie man sich von einer
-Farbe abwendet, die dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille
-geht von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewußte Überlegung kommt
-zunächst gar nicht in Betracht. Was andere Menschen empfinden, wenn
-ihnen die Gedanken: Schuld, Gewissensbiß, Sünde, jenseitiges Leben,
-Ideal, Seligkeit, Vaterland durch den Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche
-unangenehm. Die instinktive Art der Abneigung gegen die genannten
-Vorstellungen unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten
-"Freigeistern" der Gegenwart. Diese kennen alle Verstandeseinwände
-gegen die "alten Wahnvorstellungen"; aber wie selten findet sich
-einer, der von sich sagen kann: seine Instinkte hängen nicht mehr an
-ihnen! Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der Gegenwart
-böse Streiche spielen. Das Denken nimmt einen von den überlieferten
-Ideen unabhängigen Charakter an, aber die Instinkte können sich diesem
-veränderten Charakter des Verstandes nicht anpassen. Diese "freien
-Geister" setzen irgend einen Begriff der modernen Wissenschaft an die
-Stelle einer älteren Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, daß
-man erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als die Instinkte. Der
-Verstand sucht in dem Stoffe, in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit
-den Urgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber verleiten dazu,
-diesen Wesen gegenüber dasselbe zu empfinden, was andere ihrem
-persönlichen Gotte gegenüber empfinden. Geister dieser Art wehren
-sich gegen den Vorwurf der Gottesleugnung; aber sie thun es nicht
-deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas führt, was mit irgend
-einer Gottesvorstellung übereinstimmt, sondern weil sie von ihren
-Vorfahren die Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte "Gottesleugner"
-ein instinktives Gruseln zu empfinden. Große Naturforscher betonen,
-daß sie die Vorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen,
-sondern nur im Sinne der modernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre
-Instinkte sind eben hinter ihrem Verstande zurückgeblieben.
-
-Eine große Zahl dieser "freien Geister" vertritt die Ansicht, daß
-der Wille des Menschen unfrei ist. Sie sagen: der Mensch muß in
-einem bestimmten Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf
-ihn einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte aber Umschau bei
-diesen Gegnern der Ansicht vom "freien Willen", und man wird finden,
-daß sich die Instinkte dieser "Freigeister" von dem Vollbringer einer
-"bösen" That geradeso mit Abscheu abwenden, wie es die Instinkte der
-anderen thun, die der Meinung sind: der "freie Wille" könne sich nach
-Belieben dem Guten oder dem Bösen zuwenden.
-
-Der Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das Merkmal unserer
-"modernen Geister". Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben
-noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten Instinkte. Genau
-die entgegengesetzten sind in Nietzsches Natur wirksam. Er braucht
-nicht erst darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die Annahme
-eines persönlichen Weltenlenkers giebt. Sein Instinkt ist zu stolz,
-um sich vor einem solchen zu beugen; deshalb lehnt er eine derartige
-Vorstellung ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: "Aber daß ich
-euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie
-hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter." Sich
-selbst oder einen andern wegen einer begangenen Handlung "schuldig"
-zu sprechen, dazu drängt ihn nichts in seinem Innern. Um ein solches
-"schuldig" unstatthaft zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom
-"freien" oder "unfreien" Willen.
-
-Auch die patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen
-sind Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und
-Denken nicht abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes,
-innerhalb dessen er geboren und erzogen ist; auch nicht von der Zeit,
-in der er lebt. "Es ist so kleinstädtisch -- sagt er in seiner Schrift
-"Schopenhauer als Erzieher" --, sich zu den Ansichten verpflichten, die
-ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient
-und Occident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsere Augen
-hinmalt, um unsere Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch
-machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da
-sollte es sie hindern, daß zufällig zwei Nationen sich hassen und
-bekriegen, oder daß ein Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder
-daß rings um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein paar
-tausend Jahren nicht bestand." Die Empfindungen der Deutschen während
-des Krieges im Jahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen
-Widerhall, daß er, "während die Donner der Schlacht von Wörth über
-Europa weggingen", in einem Winkel der Alpen saß, "sehr vergrübelt
-und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich",
-und seine Gedanken über die Griechen niederschrieb. Und als er einige
-Wochen darauf sich selbst "unter den Mauern von Metz" befand, war er
-"noch immer nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zum Leben
-und der Kunst der Griechen gesetzt hatte". (Vergl. "Versuch einer
-Selbstkritik" in der zweiten Auflage seiner "Geburt der Tragödie".) Als
-der Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner
-deutschen Zeitgenossen über den errungenen Sieg ein, daß er schon
-im Jahre 1872 in seiner Schrift über David Strauß von den "schlimmen
-und gefährlichen Folgen" des siegreich beendeten Kampfes sprach. Er
-stellte es sogar als einen Wahn hin, daß auch die deutsche Kultur in
-diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn gefährlich, weil,
-wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend wird, die Gefahr
-vorhanden ist, den Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln;
-in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten
-des "Deutschen Reiches". Das ist Nietzsches Gesinnung in einer Zeit,
-in der ganz Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Es ist die
-Gesinnung einer unzeitgemäßen Persönlichkeit, eines Kämpfers gegen
-seine Zeit. Außer dem Angeführten ließe sich noch vieles nennen,
-was in Nietzsches Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist,
-als in dem seiner Zeitgenossen.
-
-
-
-
-2.
-
-Nietzsche ist kein "Denker" im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Für die
-fragwürdigen und tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben
-gegenüber zu stellen hat, reicht das bloße Denken nicht aus. Für diese
-Fragen müssen alle Kräfte der menschlichen Natur entfesselt werden;
-die denkende Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu bloß
-erdachten Gründen für eine Meinung hat Nietzsche kein Vertrauen. "Es
-giebt ein Mißtrauen in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe,"
-schreibt er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vergl. dessen
-"Menschen und Werke", S. 212). Wer ihn um die Gründe seiner
-Ansichten fragt, für den hat er "Zarathustras" Antwort bereit:
-"Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem
-Warum fragen darf." Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden
-kann, ist für ihn maßgebend, sondern ob sie auf alle Kräfte der
-menschlichen Persönlichkeit so wirkt, daß sie für das Leben Wert
-hat. Er läßt einen Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignet findet,
-zur Entwicklung des Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund als
-möglich, so machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu
-sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle Ideale haben nur Wert
-und gehen den Menschen nur etwas an, insofern sie lebenfördernd sind.
-
-Die Frage nach dem Werte der Wahrheit tritt in mehreren Schriften
-Nietzsches auf. In der verwegensten Form wird sie in seinem Buche:
-"Jenseits von Gut und Böse" gestellt. "Der Wille zur Wahrheit, der uns
-noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit,
-von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was
-für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche
-wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine
-lange Geschichte -- und doch scheint es, daß sie kaum eben angefangen
-hat." Was Wunder, wenn wir endlich auch mißtrauisch werden, die Geduld
-verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx auch
-unsererseits das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier
-Fragen stellt? Was in uns will eigentlich 'zur Wahrheit'? In der That,
-wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens
--- bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar
-stehen blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt,
-wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?
-
-Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender Kühnheit. Stellt man
-daneben, was ein anderer kühner "Grübler und Rätselfreund", Johann
-Gottlieb Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt, so sieht man
-erst, wie tief aus dem Wesen der menschlichen Natur Nietzsche seine
-Vorstellungen heraufholt. "Ich bin dazu berufen" -- sagt Fichte --
-"der Wahrheit Zeugnis zu geben; an meinem Leben und an meinem Schicksal
-liegt nichts; an den Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich
-bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe
-mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen und zu
-leiden." (Fichte, Vorlesungen "Über die Bestimmung des Gelehrten",
-vierte Vorlesung.) Diese Worte sprechen das Verhältnis aus, in das
-sich die edelsten Geister der abendländischen neueren Kultur zur
-Wahrheit setzen. Nietzsches angeführtem Ausspruch gegenüber erscheinen
-sie oberflächlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es denn nicht
-möglich, daß die Unwahrheit wertvollere Wirkungen für das Leben hat,
-als die Wahrheit? Ist es ausgeschlossen, daß die Wahrheit dem Leben
-schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt? Haben es andere gethan,
-die "der Wahrheit Zeugnis" gegeben haben?
-
-Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt über sie erst
-dann ins Reine zu kommen, wenn er das Streben nach Wahrheit nicht
-als bloße Verstandessache behandelt, sondern nach den Instinkten
-sucht, die dieses Streben erzeugen. Denn es könnte ja wohl sein,
-daß sich diese Instinkte der Wahrheit nur als Mittel bedienten,
-um etwas zu erreichen, was höher steht, als die Wahrheit. Nietzsche
-findet, nachdem er "lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen
-und auf die Finger gesehn" hat: "Das meiste Denken eines Philosophen
-ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen
-gezwungen." Die Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres Thuns
-sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies, weil sie nicht auf
-den Grund der menschlichen Natur zu sehen vermögen. In Wirklichkeit
-wird das Streben nach Wahrheit gelenkt von dem Willen zur Macht. Mit
-Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebensfülle der Persönlichkeit
-erhöht werden. Das bewußte Denken des Philosophen ist der Meinung: die
-Erkenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbewußte Instinkt,
-der das Denken treibt, strebt nach Förderung des Lebens. Für diesen
-Instinkt ist "die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen
-ein Urteil"; für ihn kommt allein die Frage in Betracht: "wie weit
-ist es lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar
-artzüchtend" (Jenseits von Gut und Böse § 4).
-
-"'Wille zur Wahrheit' heißt ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt
-und brünstig macht?
-
-"Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen!
-
-"Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit
-gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist.
-
-"Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt
-soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und
-Widerbild.
-
-"Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht
-....." (Zarathustra, 2. Teil, Von der Selbst-Überwindung.)
-
-Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan machen und dadurch
-dem Leben dienen. Nur als Lebensbedingung hat sie einen Wert. --
-Kann man nicht aber noch weiter gehen und fragen: was ist das Leben
-selbst wert? Nietzsche hält eine solche Frage für unmöglich. Daß
-alles Lebende so machtvoll, so inhaltreich leben will, als irgend
-möglich ist, nimmt er als eine Thatsache hin, über die er nicht
-weiter grübelt. Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem Werte
-des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel giebt es, um die Macht
-ihres Trägers zu erhöhen. "Urteile, Werturteile über das Leben, für
-oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert
-als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, -- an sich
-sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger darnach
-ausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu fassen,
-daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem
-Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist,
-und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andern Grunde. --
-Von seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehn,
-bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an
-seiner Weisheit, eine Unweisheit." -- (Götzendämmerung. Das Problem
-des Sokrates.) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nur für
-eine mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit. Wer allseitig
-entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen, wie viel sein Leben wert ist.
-
-Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb legt er auf
-logische Beweisgründe für ein Urteil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt
-es ihm an, ob sich das Urteil logisch beweisen läßt, sondern wie gut
-sich unter seinem Einflusse leben läßt. Nicht allein der Verstand,
-sondern die ganze Persönlichkeit des Menschen soll befriedigt
-werden. Die besten Gedanken sind diejenigen, welche alle Kräfte der
-menschlichen Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.
-
-Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche Interesse. Er ist kein
-philosophischer Kopf, sondern ein "Honigsammler des Geistes", der
-die "Bienenkörbe" der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht,
-was dem Leben frommt.
-
-
-
-
-3.
-
-In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend,
-die den Menschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm
-gefällt alles, was Macht bekundet; ihm mißfällt alles, was Schwäche
-verrät. Er fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in
-Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erhöhen. Er liebt
-Hemmnisse, Widerstände für seine Thätigkeit, weil er sich bei ihrer
-Überwindung seiner Macht bewußt wird. Er sucht die beschwerlichsten
-Wege auf, die der Mensch gehen kann. Ein Grundzug seines Charakters
-ist in dem Spruche ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner
-"fröhlichen Wissenschaft" auf das Titelblatt gesetzt hat:
-
-
- "Ich wohne in meinem eignen Haus,
- Hab' niemandem nie nichts nachgemacht
- Und -- lachte noch jeden Meister aus,
- Der nicht sich selber ausgelacht."
-
-
-Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche
-als Schwäche. Und über das, was eine "fremde Macht" ist, denkt
-er anders als mancher, der sich als "unabhängigen, freien Geist"
-bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn der Mensch sich
-in seinem Denken und Handeln sogenannten "ewigen, ehernen" Gesetzen
-der Vernunft unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlichkeit
-thut, das läßt sie sich von keiner Moralwissenschaft vorschreiben,
-sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der Mensch ist
-in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln
-sucht, nach denen er denken und handeln soll. Der Starke bestimmt
-die Art seines Denkens und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.
-
-Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in Sätzen aus,
-um derentwillen ihn kleinlich denkende Menschen geradezu als
-einen gefährlichen Geist bezeichnet haben: "Als die christlichen
-Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinenorden stießen,
-jenen Freigeisterorden par excellence, dessen unterste Grade in einem
-Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da
-bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol
-und Kerbholzwort, das nur den obersten Graden, als deren Sekretum,
-vorbehalten war: "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!" .... Wohlan,
-das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der
-Glaube gekündigt" ... (Genealogie der Moral § 19). Daß diese Sätze die
-Empfindungen einer vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck bringen,
-die sich die Erlaubnis, frei, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben,
-durch keine Rücksicht auf ewige Wahrheiten und Vorschriften der Moral
-verkümmern lassen will, fühlen diejenigen Menschen nicht, die, ihrer
-Art nach, zur Unterwürfigkeit geeignet sind. Eine Persönlichkeit,
-wie die Nietzsches ist, verträgt auch jene Tyrannen nicht, die in der
-Form abstrakter Sittengebote auftreten. Ich bestimme, wie ich denken,
-wie ich handeln will, sagt eine solche Natur.
-
-Es giebt Menschen, die ihre Berechtigung, sich "Freidenker" zu nennen,
-davon herleiten, daß sie sich in ihrem Denken und Handeln nicht
-solchen Gesetzen unterwerfen, die von anderen Menschen herrühren,
-sondern nur den "ewigen Gesetzen der Vernunft", den "unumstößlichen
-Pflichtbegriffen" oder dem "Willen Gottes". Nietzsche sieht solche
-Menschen nicht als wahrhaft starke Persönlichkeiten an. Denn auch sie
-denken und handeln nicht nach ihrer eigenen Natur, sondern nach den
-Befehlen einer höheren Autorität. Ob der Sklave der Willkür seines
-Herrn, der Religiöse den geoffenbarten Wahrheiten eines Gottes oder
-der Philosoph den Aussprüchen der Vernunft folgt, das ändert nichts an
-dem Umstande, daß sie alle Gehorchende sind. Was befiehlt, ist dabei
-gleichgültig; das ausschlaggebende ist, daß überhaupt befohlen wird,
-daß der Mensch sich nicht selbst die Richtung für sein Thun giebt,
-sondern der Meinung ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung
-vorzeichnet.
-
-Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit nicht empfangen
--- er will sie schaffen; er will sich nichts "erlauben" lassen, er
-will nicht gehorchen. "Die eigentlichen Philosophen sind Befehlende
-und Gesetzgeber; sie sagen: so soll es sein! sie bestimmen erst das
-Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit
-aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit,
--- sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was
-ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr
-"Erkennen" ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr
-Wille zur Wahrheit ist -- Wille zur Macht. -- Giebt es heute solche
-Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muß es nicht solche
-Philosophen geben?" (Jenseits von Gut und Böse § 211.)
-
-
-
-
-4.
-
-Ein besonderes Zeichen menschlicher Schwäche sieht Nietzsche in jeder
-Art von Glauben an ein Jenseits, an eine andere Welt, als die ist,
-in der der Mensch lebt. Man kann, nach seiner Ansicht, dem Leben
-keinen größeren Schaden thun, als wenn man sein Leben im Diesseits
-im Hinblick auf ein anderes Leben im Jenseits einrichtet. Man kann
-sich keiner größeren Verirrung hingeben, als wenn man hinter den
-Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt, die der menschlichen
-Erkenntnis unzugänglich sind, und die als der eigentliche Urgrund,
-als das Bestimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine solche
-Annahme verdirbt man sich die Freude an dieser Welt. Man würdigt sie
-zum Scheine, zu einem bloßen Abglanz eines Unzugänglichen herab. Man
-erklärt die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche, für einen
-nichtigen Traum und schreibt die wahre Wirklichkeit einer erträumten,
-erdichteten anderen Welt zu. Man erklärt die menschlichen Sinne für
-Betrüger, die uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten liefern.
-
-Nur aus der Schwäche kann eine solche Ansicht stammen. Denn der Starke,
-der fest in der Wirklichkeit wurzelt, der seine Freude am Leben hat,
-wird es sich nicht in den Sinn kommen lassen, eine andere Wirklichkeit
-zu erdichten. Er ist mit dieser Welt beschäftigt und bedarf keiner
-andern. Aber die Leidenden, die Kranken, die unzufrieden sind mit
-diesem Leben, nehmen ihre Zuflucht zum Jenseits. Was ihnen das
-Diesseits entzogen hat, soll ihnen das Jenseits bieten. Der Starke,
-der Gesunde, der entwickelte und taugliche Sinne hat, um die Gründe
-dieser Welt in ihr selber aufzusuchen, der bedarf zur Erklärung der
-Erscheinungen, innerhalb deren er lebt, keiner jenseitigen Gründe und
-Wesenheiten. Der Schwache, der mit verkrüppelten Augen und Ohren die
-Wirklichkeit wahrnimmt, der braucht Ursachen hinter den Erscheinungen.
-
-Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist der Glaube an das Jenseits
-geboren. Aus dem Unvermögen, die wirkliche Welt zu durchschauen,
-sind alle Annahmen von "Dingen an sich" erwachsen.
-
-Alle, welche Grund haben, das wirkliche Leben zu verneinen, sagen
-Ja zu einem erdichteten. Nietzsche will ein Jasager gegenüber
-der Wirklichkeit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen
-Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des Daseins; von einem
-andern Leben will er nichts wissen. Ihn kann selbst das Leiden nicht
-veranlassen, Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden ist ihm
-ein Mittel der Erkenntnis. "Nicht anders, als es ein Reisender macht,
-der sich vorsetzt, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen, und sich
-dann ruhig dem Schlafe überläßt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt,
-daß wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit
--- wir machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie jener weiß,
-daß irgend etwas nicht schläft, irgend etwas die Stunden abzählt
-und ihn aufwecken wird, so wissen auch wir, daß der entscheidende
-Augenblick uns wach finden wird, -- daß dann etwas hervorspringt und
-den Geist auf der That ertappt, ich meine auf der Schwäche oder Umkehr
-oder Ergebung oder Verhärtung oder Verdüsterung, und wie alle die
-krankhaften Zustände des Geistes heißen, welche in gesunden Tagen den
-Stolz des Geistes wider sich haben. Man lernt nach einer derartigen
-Selbstbefragung, Selbstversuchung, mit einem feineren Auge nach
-allem, worüber überhaupt bisher philosophiert worden ist, hinsehen
-..." (Vorrede zur zweiten Ausgabe der "fröhlichen Wissenschaft".) --
-
-
-
-
-5.
-
-Dieser lebens- und wirklichkeitsfreundliche Sinn Nietzsches
-zeigt sich auch in seinen Anschauungen über die Menschen und
-ihre gegenseitigen Beziehungen. Auf diesem Gebiete ist Nietzsche
-vollkommener Individualist. Jeder Mensch gilt ihm als eine Welt
-für sich, ein Unikum. Das "wunderlich bunte Mancherlei", das
-zum "Einerlei" vereinigt ist und uns als ein bestimmter Mensch
-entgegentritt, kann kein noch so seltsamer Zufall ein zweites Mal in
-gleicher Weise zusammenschütteln. (Schopenhauer als Erzieher 1.) Die
-wenigsten Menschen sind jedoch geneigt, ihre nur einmal vorhandenen
-Eigentümlichkeiten zu entfalten. Sie fürchten sich vor der Einsamkeit,
-in die sie dadurch gedrängt werden. Es ist bequemer und gefahrloser,
-in gleicher Weise wie die Mitmenschen zu leben; man findet dann
-immer Gesellschaft. Wer auf seine eigene Art sich einrichtet,
-wird von anderen nicht verstanden und findet keine Genossen. Für
-Nietzsche hat die Einsamkeit einen besonderen Reiz. Er liebt es,
-die Heimlichkeiten des eigenen Innern aufzusuchen. Er flieht
-die Gemeinschaft der Menschen. Seine Gedankengänge sind zumeist
-Bohrversuche nach Schätzen, die tief in seiner Persönlichkeit verborgen
-liegen. Das Licht, das andere ihm bieten, verschmäht er; die Luft,
-die man da atmet, wo das "Gemeinsame der Menschen", die "Regel Mensch"
-lebt, will er nicht mitatmen. Er trachtet instinktiv nach seiner "Burg
-und Heimlichkeit", wo er von der Menge, den vielen, den allermeisten
-erlöst ist. (Jenseits von Gut und Böse § 36.) In seiner "fröhlichen
-Wissenschaft" klagt er, daß es ihm schwer ist, seine Mitmenschen zu
-"verdauen"; und in "Jenseits von Gut und Böse" (§ 282) verrät er,
-daß er zumeist gefährliche Verdauungsstörungen davontrug, wenn er
-sich an Tische setzte, an denen die Kost des "Allgemein-Menschlichen"
-genossen wurde. Die Menschen dürfen Nietzsche nicht zu nahe kommen,
-wenn er sie ertragen soll.
-
-
-
-
-6.
-
-Nietzsche erklärt einen Gedanken, ein Urteil in derjenigen Form für
-gültig, zu der die freiwaltenden Lebensinstinkte ihre Zustimmung
-geben. Ansichten, für die das Leben sich entscheidet, läßt er sich
-durch keine logischen Zweifel nehmen. Dadurch erhält sein Denken
-einen sichern, freien Zug. Es wird nicht beirrt durch Bedenken wie:
-ob eine Behauptung auch "objektiv" wahr ist, ob sie die Grenzen des
-menschlichen Erkenntnisvermögens nicht überschreitet u. s. w. Wenn
-Nietzsche den Wert eines Urteiles für das Leben erkannt hat, dann
-fragt er nicht mehr nach einer weiteren "objektiven" Bedeutung und
-Gültigkeit desselben. Und wegen Grenzen des Erkennens macht er sich
-keine Sorgen. Er ist der Ansicht, daß ein gesundes Denken das schafft,
-was es schaffen kann, und sich nicht mit der nutzlosen Frage abquält:
-was kann ich nicht?
-
-Wer den Wert eines Urteils nach dem Grade bestimmen will, in dem es
-das Leben fördert, kann diesen Grad natürlich nur durch seine eigenen,
-persönlichen Lebenstriebe und Lebensinstinkte festsetzen. Er kann
-nie mehr sagen wollen, als: in Bezug auf meine Lebensinstinkte halte
-ich dieses bestimmte Urteil für ein wertvolles. Und Nietzsche will
-auch nie etwas anderes sagen, wenn er eine Ansicht ausspricht. Gerade
-dieses sein Verhältnis zu seiner Gedankenwelt wirkt so wohlthuend auf
-den freiheitlich gesinnten Leser. Es giebt Nietzsches Schriften den
-Charakter anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit. Wie abstoßend
-und unbescheiden klingt es daneben, wenn andere Denker glauben,
-ihre Person sei das Organ, durch das der Welt ewige, unumstößliche
-Wahrheiten verkündet werden. Man kann in Nietzsches Werken Sätze
-finden, die ein starkes Selbstbewußtsein ausdrücken, z. B.: "Ich
-habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt,
-meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste." --
-(Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen § 51.) Was besagt
-dies aber aus seinem Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu schreiben,
-dessen Inhalt tiefer aus dem Wesen einer Persönlichkeit geholt ist,
-als das sonst bei ähnlichen Büchern der Fall ist; und ich werde ein
-Buch liefern, das unabhängiger von jedem fremden Urteil ist, als
-andere philosophische Schriften; denn ich werde über die wichtigsten
-Dinge bloß aussprechen, wie sich meine persönlichen Instinkte zu
-ihnen verhalten. Das ist vornehme Bescheidenheit. Sie geht freilich
-denen wider den Geschmack, deren verlogene Demut sagt: ich bin nichts,
-mein Werk ist alles; ich bringe nichts von persönlichem Empfinden in
-meine Bücher, sondern ich spreche bloß aus, was die reine Vernunft
-mich aussprechen heißt. Solche Menschen wollen ihre Person verleugnen,
-um behaupten zu können, daß ihre Aussprüche die eines höheren Geistes
-sind. Nietzsche hält seine Gedanken für Erzeugnisse seiner Person
-und für nicht mehr.
-
-
-
-
-7.
-
-Die Fachphilosophen mögen über Nietzsche lächeln oder ihre Meinungen
-über die "Gefahren" seiner "Weltanschauung" zum besten geben. Manche
-dieser Geister, die nichts sind als personifizierte Lehrbücher der
-Logik, können natürlich Nietzsches aus den mächtigsten, unmittelbarsten
-Lebensimpulsen entspringendes Schaffen nicht loben.
-
-Nietzsche mit seinen kühnen Gedankensprüngen trifft jedenfalls auf
-tiefere Geheimnisse der menschlichen Natur, als mancher logische
-Denker mit seinem vorsichtigen Kriechen. Was nutzt alle Logik, wenn
-sie mit ihren Begriffsnetzen nur einen wertlosen Inhalt fängt? Wenn
-uns wertvolle Gedanken mitgeteilt werden, dann erfreuen wir uns an
-ihnen, wenn sie auch nicht mit logischen Fäden verknüpft sind. Das Heil
-des Lebens hängt nicht allein von der Logik ab, sondern auch von der
-Gedankenerzeugung. Unsere Fachphilosophie ist gegenwärtig unfruchtbar
-genug, und sie könnte die Belebung mit Gedanken eines mutigen, kühnen
-Schriftstellers, wie es Nietzsche ist, sehr wohl brauchen. Die
-Entwickelungskraft dieser Fachphilosophie ist gelähmt durch den
-Einfluß, den das Kant'sche Denken auf sie genommen hat. Sie hat durch
-diesen Einfluß alle Ursprünglichkeit, allen Mut verloren. Kant hat aus
-der Schulphilosophie seiner Zeit den Begriff von Wahrheiten, die aus
-der "reinen Vernunft" stammen, übernommen. Er hat zu zeigen versucht,
-daß wir durch solche Wahrheit nichts wissen können von Dingen, die
-jenseits unserer Erfahrung liegen, von "Dingen an sich". Seit einem
-Jahrhundert ist nun unermeßlicher Scharfsinn aufgewendet worden,
-um diesen Kant'schen Gedanken nach allen Seiten durchzudenken. Die
-Erzeugnisse dieses Scharfsinns sind allerdings oft dürftig und
-trivial. Übersetzte man die Banalitäten manches philosophischen Buches
-der Gegenwart aus den Schulformeln in eine gesunde Sprache, so würde
-sich ein solcher Inhalt gegenüber manchem kurzen Aphorismus Nietzsches
-armselig genug ausnehmen. Dieser konnte im Hinblick auf die Philosophie
-der Gegenwart mit einem gewissen Recht den stolzen Satz aussprechen:
-"Mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andere in einem
-Buche sagt, -- was jeder andere in einem Buche nicht sagt ..."
-
-
-
-
-8.
-
-Wie Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts geben will als ein
-Erzeugnis seiner persönlichen Instinkte und Triebe, so sind ihm auch
-fremde Ansichten nichts weiter als Symptome, aus denen er auf die in
-einzelnen Menschen oder ganzen Völkern, Rassen u. s. w. vorwaltenden
-Instinkte schließt. Er macht sich nichts mit Diskussionen oder
-Widerlegungen fremder Meinungen zu schaffen. Aber er sucht die
-Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen aussprechen. Er sucht
-die Charaktere der Persönlichkeiten oder Völker aus ihren Ansichten
-zu erkennen. Ob eine Ansicht auf das Vorwalten der Instinkte
-für Gesundheit, Tapferkeit, Vornehmheit, Lebensfreude hinweist,
-oder ob sie aus ungesunden, sklavischen, müden, lebensfeindlichen
-Instinkten entspringt, das interessiert ihn. Wahrheiten an sich
-sind ihm gleichgültig; er kümmert sich darum, wie die Menschen
-ihre Wahrheiten ihren Instinkten gemäß ausbilden, und wie sie damit
-ihre Lebensziele fördern. Die natürlichen Ursachen der menschlichen
-Ansichten will er aufsuchen.
-
-Nach dem Sinne jener Idealisten, die der Wahrheit einen selbständigen
-Wert zuerkennen, die ihr einen "reinen, höhern Ursprung" als
-den aus den Instinkten geben wollen, ist Nietzsches Bestreben
-allerdings nicht. Er erklärt die menschlichen Ansichten als das
-Ergebnis natürlicher Kräfte, wie der Naturforscher die Einrichtung
-des Auges aus dem Zusammenwirken natürlicher Ursachen erklärt. Eine
-Erklärung der geistigen Entwickelung der Menschheit aus besonderen
-sittlichen Zwecken, Idealen, aus einer sittlichen Weltordnung erkennt
-er ebensowenig an, wie der Naturforscher der Gegenwart die Erklärung
-anerkennt, daß die Natur das Auge deswegen in einer bestimmten Weise
-gebaut hat, weil sie den Zweck hatte, dem Organismus ein Organ zum
-Sehen anzuerschaffen. In jedem Ideal sieht Nietzsche nur den Ausdruck
-für einen Instinkt, der sich auf eine bestimmte Art seine Befriedigung
-sucht, wie der moderne Naturforscher in der zweckmäßigen Einrichtung
-eines Organes das Ergebnis organischer Bildungsgesetze sieht. Wenn
-es gegenwärtig noch Naturforscher und Philosophen giebt, die jedes
-Schaffen der Natur nach Zwecken ablehnen, aber vor dem sittlichen
-Idealismus Halt machen und in der Geschichte die Verwirklichung
-eines göttlichen Willens, einer idealen Ordnung der Dinge sehen,
-so ist dies eine Instinkthalbheit. Solchen Personen fehlt für die
-Beurteilung geistiger Vorgänge der richtige Blick, während sie ihn in
-der Beobachtung von Naturvorgängen zeigen. Wenn ein Mensch glaubt,
-er strebe ein Ideal an, das nicht aus der Wirklichkeit stammt, so
-glaubt er dies nur, weil er den Instinkt nicht kennt, aus dem dieses
-Ideal entsteht.
-
-Nietzsche ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der moderne
-Naturforscher Gegner der Annahme von Zwecken ist, die die Natur
-verwirklichen soll. Er spricht ebensowenig von sittlichen Zwecken,
-wie der Naturforscher von Naturzwecken spricht. Nietzsche hält es
-nicht für weiser, zu sagen: der Mensch soll ein sittliches Ideal
-verwirklichen, wie zu erklären: der Stier hat Hörner, damit er
-stoßen könne. Er betrachtet den einen wie den andern Ausspruch als
-Produkt einer Welterklärung, welche von "göttlicher Vorsehung",
-"weiser Allmacht", statt von natürlichen Wirkungen, spricht.
-
-Diese Welterklärung ist ein Hemmschuh für alles gesunde Denken;
-sie schafft einen erdichteten, idealen Nebel, der das natürliche,
-auf die Beobachtung der Wirklichkeit gerichtete Sehvermögen hindert,
-die Weltvorgänge zu durchschauen; sie stumpft endlich völlig allen
-Wirklichkeitssinn ab.
-
-
-
-
-9.
-
-Wenn Nietzsche sich in einen geistigen Kampf einläßt, so will er nicht
-fremde Meinungen als solche widerlegen, sondern er thut es, weil diese
-Meinungen auf schädliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die er
-bekämpfen will. Er hat dabei eine ähnliche Absicht, wie sie jemand
-hat, der eine schädliche Naturwirkung bekämpft oder ein gefährliches
-Naturwesen vertilgt. Er baut nicht auf die "überzeugende" Kraft
-der Wahrheit, sondern darauf, daß er den Gegner besiegen wird, wenn
-dieser die ungesunden, schädlichen Instinkte, er aber die gesunden,
-lebenfördernden hat. Er sucht nach keiner weiteren Rechtfertigung eines
-solchen Kampfes, wenn seine Instinkte die des Gegners als schädlich
-empfinden. Er glaubt nicht als Vertreter irgend einer Idee kämpfen zu
-müssen, sondern er kämpft, weil ihn seine Instinkte dazu treiben. Zwar
-ist das bei keinem geistigen Kampfe anders, aber gewöhnlich sind sich
-die Kämpfer der wirklichen Triebfedern ebensowenig bewußt, wie die
-Philosophen sich ihres "Willens zur Macht" oder die Anhänger der
-sittlichen Weltordnung der natürlichen Ursachen ihrer sittlichen
-Ideale. Sie glauben, daß lediglich Meinung gegen Meinung kämpft,
-und verhüllen ihre wirklichen Motive durch Begriffsmäntel. Sie nennen
-auch die Instinkte des Gegners nicht, die ihnen unsympathisch sind,
-ja diese kommen ihnen vielleicht gar nicht zum Bewußtsein. Kurz, die
-Kräfte, die eigentlich feindlich gegen einander gerichtet sind, treten
-gar nicht offen hervor. Nietzsche nennt rücksichtslos die Instinkte
-des Gegners, die ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte,
-die er ihnen entgegensetzt. Wer dies Cynismus nennen will, der mag es
-thun. Er soll aber nur nicht übersehen, daß es in aller menschlichen
-Thätigkeit niemals etwas anderes als solchen Cynismus gegeben hat,
-und daß alle idealistischen Wahngewebe von diesem Cynismus gewebt sind.
-
-
-
-
-
-
-
-
-II.
-
-DER ÜBERMENSCH.
-
-
-10.
-
-Alles Streben des Menschen besteht, wie das eines jeden Lebewesens,
-darin, von der Natur eingepflanzte Triebe und Instinkte in der besten
-Weise zu befriedigen. Wenn die Menschen nach Tugend, Gerechtigkeit,
-Erkenntnis und Kunst streben, so geschieht dies deshalb, weil Tugend,
-Gerechtigkeit u. s. w. Mittel sind, durch die die menschlichen
-Instinkte sich so entwickeln können, wie es deren Natur entsprechend
-ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel verkümmern. Es ist nun
-eine Eigentümlichkeit des Menschen, daß er diesen Zusammenhang seiner
-Lebensbedingungen mit seinen natürlichen Trieben vergißt und jene
-Mittel zu einem naturgemäßen, machtvollen Leben als etwas ansieht,
-das an sich einen unbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann: Tugend,
-Gerechtigkeit, Erkenntnis u. s. w. müssen um ihrer selbst willen
-erstrebt werden. Sie haben nicht dadurch einen Wert, daß sie dem Leben
-dienen, sondern vielmehr das Leben erhalte erst einen Wert dadurch,
-daß es nach jenen idealen Gütern strebt. Der Mensch sei nicht dazu
-da, nach Maßgabe seiner Instinkte zu leben, wie das Tier; sondern
-er solle seine Instinkte dadurch adeln, daß er sie in den Dienst
-höherer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt der Mensch dazu, das,
-was er selbst erst zur Befriedigung seiner Triebe geschaffen hat, als
-Ideale anzubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe geben. Er
-fordert Unterwerfung unter die Ideale, die er höher schätzt, als
-sich selbst. Er löst sich los von dem Mutterboden der Wirklichkeit
-und will seinem Dasein einen höheren Sinn und Zweck geben. Er
-erfindet einen unnatürlichen Ursprung für seine Ideale. Er nennt
-sie den "Willen Gottes", die "ewigen sittlichen Gebote". Er will die
-"Wahrheit um der Wahrheit willen", "die Tugend um der Tugend" willen
-anstreben. Er betrachtet sich als einen guten Menschen erst dann,
-wenn es ihm angeblich gelungen ist, seine Selbstsucht, d. h. seine
-natürlichen Instinkte zu bändigen und selbstlos einem idealen Ziele
-zu folgen. Einem solchen Idealisten gilt der Mensch als unedel und
-"böse", der es bis zu solcher Selbstüberwindung nicht gebracht hat.
-
-Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus natürlichen Instinkten. Auch
-was der Christ als Tugend ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat,
-ist ursprünglich von Menschen erfunden, um irgend welche Instinkte zu
-befriedigen. Der natürliche Ursprung ist vergessen und der göttliche
-hinzugedichtet worden. Ähnlich verhält es sich mit den Tugenden,
-die die Philosophen und Moralprediger aufstellen.
-
-Wenn die Menschen bloß gesunde Instinkte hätten und diesen gemäß
-ihre Ideale bestimmten, so würde der theoretische Irrtum über
-den Ursprung dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten hätten
-zwar falsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele, aber diese
-Ziele selbst wären gesund, und das Leben müßte gedeihen. Aber es
-giebt ungesunde Instinkte, die nicht auf Stärkung, Förderung des
-Lebens, sondern auf dessen Schwächung, Verkümmerung abzielen. Diese
-bemächtigen sich des genannten theoretischen Irrtums und machen ihn
-zum praktischen Lebenszwecke. Sie verleiten den Menschen, zu sagen:
-ein vollkommener Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst, seinem
-Leben dienen will, sondern derjenige, der sich der Verwirklichung
-eines Ideals hingiebt. Unter dem Einfluß dieser Instinkte bleibt der
-Mensch nicht bloß dabei stehen, irrtümlich seinen Zielen einen un-
-oder übernatürlichen Ursprung anzudichten, sondern er macht sich
-wirklich solche Ideale zurecht oder übernimmt sie von anderen, die
-nicht den Bedürfnissen des Lebens dienen. Er strebt nicht mehr darnach,
-die in seiner Persönlichkeit liegenden Kräfte ans Tageslicht zu ziehen,
-sondern er lebt nach einem seiner Natur aufgezwungenen Musterbilde. Ob
-er dieses Ziel einer Religion entnimmt, oder ob er es selbst auf Grund
-gewisser, nicht in seiner Natur liegenden Voraussetzungen bestimmt:
-darauf kommt es nicht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen Zweck
-der Menschheit im Auge hat und aus diesem seine sittlichen Ideale
-ableitet, legt der menschlichen Natur ebenso Fesseln an, wie der
-Religionsstifter, der den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch
-Gott gesetzt hat; und dem müßt ihr folgen. Es ist auch gleichgültig,
-ob der Mensch sich vorsetzt, ein Ebenbild Gottes zu werden, oder
-ob er ein Ideal des "vollkommenen Menschen" erfindet und diesem
-möglichst ähnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne Mensch
-und die Triebe und Instinkte dieses einzelnen Menschen. Nur wenn er
-auf die Bedürfnisse seiner eigenen Person sein Augenmerk richtet,
-kann der Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der einzelne
-Mensch wird nicht "vollkommen", wenn er sich verleugnet und einem
-Vorbilde ähnlich wird, sondern wenn er das verwirklicht, was in ihm
-zur Verwirklichung drängt. Die menschliche Thätigkeit erhält nicht
-erst einen Sinn, wenn sie einem unpersönlichen, äußeren Zwecke dient;
-sie hat ihren Sinn in sich selbst.
-
-Der Anti-Idealist wird zwar auch in der ungesunden Abkehr des
-Menschen von seinen ureigenen Instinkten noch eine Instinktäußerung
-erblicken. Er weiß, daß der Mensch selbst das Instinktwidrige nur aus
-Instinkt vollbringen kann. Er wird aber doch die Instinktwidrigkeit
-bekämpfen, wie der Arzt eine Krankheit bekämpft, trotzdem er weiß,
-daß sie naturgemäß aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es
-darf also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf gemacht werden: du
-behauptest, alles, was der Mensch erstrebt, also auch alle Ideale,
-seien naturgemäß entstanden; dennoch bekämpfst du den Idealismus. Gewiß
-entstehen Ideale ebenso naturgemäß wie Krankheiten; aber der Gesunde
-bekämpft den Idealismus, wie er die Krankheit bekämpft. Der Idealist
-aber sieht die Ideale als etwas an, das gehegt und gepflegt werden muß.
-
-Der Glaube, daß der Mensch vollkommen erst wird, wenn er "höheren"
-Zwecken dient, ist, nach Nietzsches Meinung, etwas, das überwunden
-werden muß. Der Mensch muß sich auf sich selbst besinnen und erkennen,
-daß er Ideale nur erschaffen hat, um sich zu dienen. Naturgemäß
-leben, ist gesünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus
-der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht unpersönlichen
-Zielen dient, sondern der den Zweck und Sinn seines Daseins in sich
-selbst sucht, der solche Tugenden zu den seinigen macht, die seiner
-Kraftentfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen -- diesen Menschen
-stellt Nietzsche höher als den selbstlosen Idealisten.
-
-Dies ist es, was er durch seinen "Zarathustra" verkündet. Das souveräne
-Individuum, das weiß, daß es nur aus seiner Natur heraus leben
-kann, und das in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung
-sein persönliches Ziel sieht, ist für Nietzsche der Übermensch, im
-Gegensatz zu dem Menschen, der glaubt: ihm sei das Leben geschenkt,
-um einem außer ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen.
-
-Den Übermenschen, d. h. den Menschen, der naturgemäß zu leben
-versteht, lehrt Zarathustra. Er lehrt die Menschen, ihre Tugenden
-als ihre Geschöpfe betrachten; er heißt sie diejenigen verachten,
-die ihre Tugenden höher als sich selbst achten.
-
-Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um sich frei zu machen von
-der Demut, in der sich die Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht
-erst wieder unter Menschen, als er die Tugenden verachten gelernt hat,
-die das Leben bändigen und nicht dem Leben dienen wollen. Er bewegt
-sich nun leicht wie ein Tänzer, denn er folgt nur sich und seinem
-Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von den Tugenden
-vorgezeichnet werden. Nicht schwer mehr lastet der Glaube auf seinem
-Rücken, daß es unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra
-schläft nun nicht mehr, um von Idealen zu träumen; er ist ein
-Wachender, der der Wirklichkeit sich frei gegenüberstellt. Ein
-schmutziger Strom ist ihm der Mensch, der sich selbst verloren hat und
-vor seinen eigenen Geschöpfen im Staube liegt. Der Übermensch ist ihm
-ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne selbst unrein zu werden. Denn
-der Übermensch hat sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn und
-Schöpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Große erlebt, daß ihm
-alle Tugend zum Ekel geworden ist, die über den Menschen gesetzt wird.
-
-"Was ist das Größte, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der
-großen Verachtung. Die Stunde, in der euch euer Glück zum Ekel wird
-und ebenso eure Vernunft und eure Tugend."
-
-
-
-
-11.
-
-Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem Sinne der "modernen
-Gebildeten". Sie möchten alle Menschen einander gleich machen. Wenn
-alle nur nach einem Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufriedenheit
-und Glück auf Erden. Der Mensch soll zurückhalten, so fordern sie,
-seine besondern persönlichen Wünsche und nur der Allgemeinheit,
-dem gemeinsamen Glücke dienen. Friede und Ruhe wird dann auf der
-Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfnisse hat, dann stört
-keiner die Kreise des andern. Nicht sich und seine individuellen Ziele
-soll der Einzelne im Auge haben, sondern nach der einmal bestimmten
-Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll alles einzelne Leben,
-und Glieder der gemeinsamen Weltordnung sollen alle werden.
-
-"Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich,
-wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.
-
-"'Ehemals war alle Welt irre' -- sagen die Feinsten und blinzeln.
-
-"Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist: so hat man kein
-Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald,
-sonst verdirbt es den Magen."
-
-Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um solcher Weisheit zu
-huldigen. Er hat die eigenartigen Töne gehört, die aus dem Innern der
-Persönlichkeit erklingen, wenn der Mensch abseits steht von dem Lärm
-des Marktes, wo einer nur die Worte des andern nachspricht. Und er
-möchte es den Menschen in die Ohren rufen: höret auf die Stimmen,
-die nur in jedem Einzelnen von euch erklingen. Denn die nur sind
-naturgemäß, die nur sagen jedem, was er vermag. Ein Feind des Lebens,
-des reichen, vollen Lebens, ist derjenige, welcher diese Stimmen
-ungehört verhallen läßt und auf das gemeinsame Geschrei der Menschen
-hört. Zu den Freunden der Gleichheit aller Menschen will Zarathustra
-nicht sprechen. Sie könnten ihn nur mißverstehen. Denn sie würden
-glauben, daß sein Übermensch jenes ideale Musterbild sei, dem alle
-gleich werden sollen. Aber Zarathustra will den Menschen keine
-Vorschriften darüber machen, wie sie sein sollen; er will nur jeden
-Einzelnen auf sich selbst verweisen und ihm sagen: überlasse dich dir
-selbst, folge nur dir allein, stelle dich über Tugend, Weisheit und
-Erkenntnis. Zu solchen, die sich suchen wollen, spricht Zarathustra;
-nicht einer Menge, die ein gemeinsames Ziel sucht, sondern solchen
-Gefährten, gelten seine Worte, die gleich ihm einen eigenen Weg
-gehen. Sie allein verstehen ihn, denn sie wissen, daß er nicht sagen
-will: seht, dies ist der Übermensch, werdet wie er, sondern: seht,
-ich habe mich gesucht; so bin ich, wie ich es euch lehre; geht hin
-und sucht euch ebenso, dann habt ihr den Übermenschen.
-
-"Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern;
-und wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer
-machen mit meinem Glücke."
-
-
-
-
-12.
-
-Zwei Tiere: die Schlange, als das klügste, und der Adler, als das
-stolzeste Tier, begleiten Zarathustra. Sie sind die Symbole seiner
-Instinkte. Klugheit schätzt Zarathustra, denn sie lehrt den Menschen
-die verschlungenen Pfade der Wirklichkeit finden; sie lehrt ihn kennen,
-was er zum Leben braucht. Und auch den Stolz liebt Zarathustra, denn
-der Stolz bringt die Selbstachtung des Menschen hervor, durch die
-dieser dazu kommt, sich selbst als den Sinn und Zweck seines Daseins
-zu betrachten. Der Stolze stellt seine Weisheit, seine Tugend nicht
-über sich selbst. Der Stolz bewahrt den Menschen davor, sich selbst zu
-vergessen über "höheren, heiligeren" Zielen. Lieber noch als den Stolz
-möchte Zarathustra die Klugheit verlieren. Denn die Klugheit, die nicht
-von Stolz begleitet ist, sieht sich nicht als Menschenwerk an. Wem
-der Stolz und die Selbstachtung fehlt, der glaubt, seine Klugheit sei
-ihm vom Himmel geschenkt. Ein solcher sagt: ein Thor ist der Mensch,
-und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel schenken will.
-
-"Und wenn mich einst meine Klugheit verläßt: -- ach, sie liebt es,
-davonzufliegen! -- möge mein Stolz dann noch mit meiner Thorheit
-fliegen!"
-
-
-
-
-13.
-
-Drei Verwandlungen muß der menschliche Geist durchmachen, bis er
-sich selbst gefunden hat. Dies lehrt Zarathustra. Ehrfürchtig ist der
-Geist zuerst. Er nennt Tugend, was auf ihm lastet. Er erniedrigt sich,
-um seine Tugend zu erhöhen. Er sagt: alle Weisheit ist bei Gott, und
-Gottes Wegen muß ich folgen. Gott legt mir das Schwerste auf, um meine
-Kraft zu prüfen, ob sie auch stark sei und geduldig ausharre. Nur der
-Geduldige ist stark. Gehorchen will ich, sagt der Geist auf dieser
-Stufe, und ausführen die Gebote des Weltengeistes, ohne zu fragen,
-was der Sinn dieser Gebote ist. Der Geist fühlt den Druck, den eine
-höhere Macht auf ihn ausübt. Nicht seine Wege geht der Geist, sondern
-die Wege dessen, dem er dient.
-
-Es kommt die Zeit, wo der Geist inne wird, daß kein Gott zu ihm
-redet. Dann will er frei sein und Herr in seiner eigenen Welt. Er
-sucht nach einer Richtschnur für seine Geschicke. Er frägt nicht
-mehr den Weltengeist, wie er sein Leben einrichten solle. Aber nach
-einem festen Gesetz, nach einem heiligen "du sollst" strebt er. Er
-sucht nach einem Maßstab, um den Wert der Dinge zu messen; er sucht
-nach einem Unterscheidungszeichen von Gut und Böse. Es muß eine Regel
-für mein Leben geben, die nicht von mir, von meinem Willen abhängt,
-so spricht der Geist auf dieser Stufe. Dieser Regel will ich mich
-fügen. Frei bin ich, meint der Geist, aber nur frei, um einer solchen
-Regel zu gehorchen.
-
-Auch diese Stufe überwindet der Geist. Er wird wie das Kind,
-das bei seinem Spielen nicht fragt: wie soll ich dies oder jenes
-machen, sondern das nur seinen Willen ausführt, das nur sich selbst
-folgt. "Seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich
-der Weltverlorne."
-
-"Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist
-zum Kamele ward, und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum
-Kinde. -- -- Also sprach Zarathustra."
-
-
-
-
-14.
-
-Was wollen die Weisen, die die Tugend über den Menschen stellen? fragt
-Zarathustra. Sie sagen: die Ruhe der Seele kann nur haben, wer
-seine Pflicht gethan hat, wer dem heiligen "du sollst" gefolgt
-ist. Tugendhaft soll der Mensch sein, damit er nach gethaner Pflicht
-träumen könne von erfüllten Idealen und keine Gewissensbisse fühle. Ein
-Mensch mit Gewissensbissen gleicht, sagen die Tugendhaften, einem
-Schlafenden, dem böse Träume die Nachtruhe stören.
-
-"Wenige wissen das, aber man muß alle Tugenden haben, um gut zu
-schlafen. Werde ich falsch Zeugnis reden? Werde ich ehebrechen?
-
-"Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten Magd? Das alles
-vertrüge sich schlecht mit gutem Schlafe ...
-
-"Friede mit Gott und dem Nachbar, so will es der gute Schlaf. Und
-Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des
-Nachts um."
-
-Nicht was sein Trieb ihn heißt, thut der Tugendhafte, sondern was
-Seelenruhe bewirkt. Er lebt, um in Ruhe über das Leben träumen zu
-können. Noch lieber ist es ihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe
-nennt, gar kein Traum stört. Das heißt: dem Tugendhaften ist es am
-liebsten, wenn er irgendwoher die Regeln seines Handelns erhält und
-im übrigen seine Ruhe genießen kann. "Seine Weisheit heißt: wachen,
-um gut zu schlafen. Und wahrlich, hätte das Leben keinen Sinn, und
-müßte ich Unsinn wählen, so wäre auch mir dies der wählenswürdigste
-Unsinn," spricht Zarathustra.
-
-Auch für Zarathustra gab es eine Zeit, da er glaubte, ein außerhalb
-der Welt wohnender Geist, ein Gott, habe die Welt geschaffen. Einen
-unzufriedenen, leidenden Gott dachte sich Zarathustra. Um sich eine
-Befriedigung zu verschaffen, um von seinem Leiden loszukommen,
-habe Gott die Welt erschaffen, meinte einst Zarathustra. Aber er
-hat einsehen gelernt, daß es ein Wahnbild war, das er sich selbst
-geschaffen hatte. "Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf,
-war Menschenwerk und -Wahnsinn gleich allen Göttern!" Zarathustra
-hat seine Sinne gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und
-zufrieden wurde er mit der Welt; nicht mehr schweiften seine Gedanken
-ins Jenseits. Blind war er ehemals und konnte die Welt nicht sehen,
-deshalb suchte er sein Heil außerhalb der Welt. Aber Zarathustra
-hat sehen gelernt und erkennen, daß die Welt in sich selbst ihren
-Sinn habe.
-
-"Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen:
-nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken,
-sondern frei ihn zu tragen, meinen Erdenkopf, der der Erde Sinn
-schafft."
-
-
-
-
-15.
-
-In Leib und Seele haben die Idealisten den Menschen gespalten,
-in Idee und Wirklichkeit haben sie alles Dasein geteilt. Und sie
-haben die Seele, den Geist, die Idee zu einem besonders Wertvollen
-gemacht, um die Wirklichkeit, den Leib um so mehr verachten zu
-können. Zarathustra aber sagt: Nur eine Wirklichkeit, nur einen Leib
-giebt es, und die Seele ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas
-an der Wirklichkeit. Eine Einheit sind Leib und Seele des Menschen;
-aus einer Wurzel entspringen Körper und Geist. Der Geist ist nur
-da, weil ein Körper da ist, der Kräfte hat, an sich den Geist zu
-entwickeln. Wie die Pflanze an sich die Blüte, so entfaltet der Körper
-an sich den Geist.
-
-"Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger
-Gebieter, ein unbekannter Weiser -- der heißt Selbst. In deinem Leibe
-wohnt er, dein Leib ist er."
-
-Wer einen Sinn hat für das Wirkliche, der sucht den Geist, die Seele
-in und an dem Wirklichen, er sucht die Vernunft in dem Wirklichen;
-nur wer die Wirklichkeit für geistlos, für "bloß natürlich", für "roh"
-hält, der giebt dem Geiste, der Seele ein besonderes Dasein. Er macht
-die Wirklichkeit zur bloßen Wohnung des Geistes. Einem solchen fehlt
-aber auch der Sinn für die Wahrnehmung des Geistes selbst. Nur weil
-er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht, sucht er ihn anderswo.
-
-"Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit
-.....
-
-"Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne,
-ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt.
-
-"Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder,
-die du "Geist" nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen
-Vernunft."
-
-Ein Thor ist, wer die Blüte von der Pflanze reißt und glaubt, die
-abgerissene Blüte werde nun sich noch zur Frucht entwickeln. Ein
-Thor ist ebenso, wer den Geist von der Natur absondert und glaubt,
-ein solcher abgesonderter Geist könne noch schaffen.
-
-Menschen mit kranken Instinkten haben die Scheidung von Geist und
-Körper vorgenommen. Ein kranker Instinkt nur kann sagen: mein Reich
-ist nicht von dieser Welt. Eines gesunden Instinktes Reich ist nur
-diese Welt.
-
-
-
-
-16.
-
-Was für Ideale haben sie doch geschaffen, diese Verächter der
-Wirklichkeit! Fassen wir sie ins Auge, die Ideale der Asketen,
-die da sagen: wendet ab euren Blick vom Diesseits und schaut nach
-dem Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit dieser Frage und
-den Vermutungen, mit denen er sie beantwortet, hat uns Nietzsche am
-tiefsten hineinblicken lassen in sein von der abendländischen neueren
-Kultur unbefriedigtes Herz. (Genealogie der Moral, 3. Abteilung.)
-
-Wenn ein Künstler, wie z. B. Richard Wagner in der letzten Zeit seines
-Schaffens, Anhänger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht viel
-zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes Leben hindurch über seinen
-Schöpfungen. Er sieht von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er
-schafft Wirklichkeiten, die nicht seine Wirklichkeit sind. "Ein Homer
-hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer
-ein Achill, und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre." (Genealogie,
-3. Abt. § 4.) Wenn nun ein solcher Künstler sein eigenes Dasein
-einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persönlichen Ansichten in
-Wirklichkeit umsetzen will, so ist es kein Wunder, wenn etwas sehr
-Unreales entsteht. Richard Wagner hat über seine Kunst vollständig
-umgelernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt wurde. Vorher
-hielt er die Musik für ein Ausdrucksmittel, das etwas braucht, dem
-es Ausdruck verschafft, das Drama. In seiner Schrift Oper und Drama,
-die 1851 geschrieben ist, spricht er aus, daß der größte Irrtum,
-dem man sich in Bezug auf die Oper hingeben kann, der ist, "daß
-
-
- ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des
- Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht werde."
-
-
-Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem er Schopenhauers
-Lehre von der Musik kennen gelernt hatte. Schopenhauer ist der
-Ansicht, daß durch die Musik das Wesen der Dinge selbst zu uns
-spricht. Der ewige Wille, der in allen Dingen lebt, er wird in allen
-anderen Künsten nur in seinen Abbildern, in den Ideen, verkörpert;
-die Musik ist kein bloßes Bild des Willens: in ihr giebt sich der
-Wille unmittelbar kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur im
-Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins, der Wille, ihn glaubt
-Schopenhauer in den Klängen der Musik unmittelbar zu vernehmen. Kunde
-aus dem Jenseits bringt für Schopenhauer die Musik. Diese Ansicht
-wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr als Ausdrucksmittel wirklicher
-menschlicher Leidenschaften, wie sie im Drama verkörpert sind, ließ er
-die Musik gelten, sondern als "eine Art Mundstück des Ansich der Dinge,
-ein Telephon des Jenseits". Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr
-die Wirklichkeit in Tönen auszudrücken; "er redete fürderhin nicht nur
-Musik, dieser Bauchredner Gottes, -- er redete Metaphysik: was Wunder,
-daß er endlich eines Tages asketische Ideale redete." (Genealogie,
-3. Abteilung, § 5.)
-
-Hätte Richard Wagner bloß seine Ansicht über die Bedeutung
-der Musik geändert, so hätte Nietzsche keinen Anlaß, ihm etwas
-vorzuwerfen. Nietzsche könnte dann höchstens sagen: Wagner hat außer
-seinen Kunstwerken auch noch allerlei verkehrte Theorien über die Kunst
-geschaffen. Daß aber Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens den
-Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinen Kunstwerken verkörpert
-hat, daß er seine Musik dazu verwendet hat, die Flucht vor der
-Wirklichkeit zu verherrlichen: das ging Nietzsche wider den Geschmack.
-
-Aber der "Fall Wagner" besagt nichts, wenn es sich um die Bedeutung
-der Verherrlichung des Jenseits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich
-um die Bedeutung der asketischen Ideale handelt. Künstler stehen nicht
-auf eigenen Füßen. Wie Richard Wagner von Schopenhauer abhängig ist,
-so waren die Künstler "zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral,
-oder Philosophie oder Religion".
-
-Anders ist es, wenn die Philosophen für die Verachtung der
-Wirklichkeit, für die asketischen Ideale eintreten. Sie thun das aus
-einem tiefen Instinkte heraus.
-
-Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch die Beschreibung, die
-er von dem Schaffen und Genießen eines Kunstwerkes giebt. "Daß also
-das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische
-Genuß besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß
-die Kunst durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des
-Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt,
-sondern ebenso sehr darauf, daß das zur objektiven Auffassung
-des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am
-sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt gar nicht
-im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig
-sind." (Ergänzungen zum 3. Buch der Welt als Wille und Vorstellung,
-Kap. 21.) "Wann aber ein äußerer Anlaß oder eine innere Stimmung
-uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die
-Erkenntnis dem Sklavendienst des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit
-nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern
-die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne
-Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz
-hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive
-sind: dann ist ..... der schmerzenlose Zustand, den Epikuros als das
-höchste Gut und als den Zustand der Götter pries [eingetreten]: denn
-wir sind für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt,
-wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des
-Ixion steht still." (Welt als Wille und Vorstellung, § 38.)
-
-Dies ist eine Beschreibung einer Art des ästhetischen Genusses,
-die nur bei dem Philosophen vorkommt. Nietzsche stellt ihr gegenüber
-eine andere Beschreibung, "die ein wirklicher Zuschauer und Artist
-gemacht hat -- Stendhal", der das Schöne "une promesse de bonheur"
-nennt. Schopenhauer möchte alles Willensinteresse, alles wirkliche
-Leben ausschalten, wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes
-handelt, und nur mit dem Geiste genießen; Stendhal sieht in dem
-Kunstwerke ein Versprechen von Glück, also einen Hinweis auf das
-Leben, und sieht in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben den
-Wert der Kunst.
-
-Kant fordert vom schönen Kunstwerk, daß es ohne Interesse gefalle,
-d. h. daß es uns heraushebe aus dem wirklichen Leben und einen rein
-geistigen Genuß gewähre.
-
-Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen Genuß? Erlösung von
-der Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit-fremde Stimmung will der
-Philosoph durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verrät dadurch
-seinen Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich in den Augenblicken
-am wohlsten, in denen er von der Wirklichkeit loskommen kann. Seine
-Ansicht vom ästhetischen Genuß zeigt, daß er die Wirklichkeit nicht
-liebt.
-
-Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer von dem Kunstwerke
-verlangt, sagen uns die Philosophen in ihren Theorien, sondern nur,
-was ihnen selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist die Abkehr
-von dem Leben sehr förderlich. Er will sich seine verschlungenen
-Gedankenwege nicht durchkreuzen lassen von der Wirklichkeit. Das Denken
-gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von dem Leben abkehrt. Es
-ist nun kein Wunder, wenn dieser philosophische Grundinstinkt
-geradezu zu einer lebensfeindlichen Stimmung wird. Wir finden eine
-solche Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausgebildet. Und
-nahe liegt es, daß der Philosoph seine eigene Antipathie gegen das
-Leben zu einer Lehre ausbildet und fordert, daß sich alle Menschen
-zu einer solchen Lehre bekennen. Schopenhauer hat dieses gethan. Er
-fand, daß der Lärm der Welt seine Gedankenarbeit störte. Er empfand,
-daß man über die Wirklichkeit am besten nachdenken kann, wenn man
-dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich vergaß er, daß alles Denken
-über die Wirklichkeit doch nur dann einen Wert hat, wenn es aus dieser
-Wirklichkeit entspringt. Er beachtete nicht, daß das Zurückziehen des
-Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen kann, damit die entfernt
-von dem Leben entstandenen philosophischen Gedanken dann dem Leben
-um so besser dienen können. Wenn der Philosoph den Grundinstinkt,
-der nur ihm als Philosophen förderlich ist, der ganzen Menschheit
-aufdrängen will, dann wird er zu einem Feinde des Lebens.
-
-Der Philosoph, der die Weltflucht nicht als Mittel betrachtet, um
-weltfreundliche Gedanken zu schaffen, sondern als Zweck, als Ziel,
-kann nur Wertloses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf der einen
-Seite die Wirklichkeit nur, um sich auf der anderen um so tiefer in
-sie einzubohren. Aber es ist begreiflich, daß dieser Grundinstinkt
-den Philosophen leicht dazu verführen kann, die Weltflucht als solche
-für wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu einem Anwalt der
-Weltverneinung. Er lehrt Abkehr vom Leben, asketisches Ideal. Er
-findet: "Ein gewisser Asketismus ..... eine harte und heitere
-Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen
-höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen:
-so wird es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische
-Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit
-behandelt worden ist." (Genealogie der Moral, 3. Abteilung § 8.)
-
-
-
-
-17.
-
-Einen andern Ursprung haben die asketischen Ideale der Priester. Was
-bei dem Philosophen durch das Überwuchern eines bei ihm berechtigten
-Triebes entsteht, das bildet das Grundideal des priesterlichen
-Wirkens. Der Priester sieht in der Hingabe des Menschen an das
-wirkliche Leben einen Irrtum; er verlangt, daß man dieses Leben
-gering achte gegenüber einem andern Leben, das von höheren als
-bloß natürlichen Kräften gelenkt wird. Der Priester leugnet, daß das
-wirkliche Leben einen Sinn in sich selbst habe, und er fordert, daß ihm
-dieser Sinn verliehen werde durch Einimpfung eines höheren Willens. Er
-sieht das Leben in der Zeitlichkeit als unvollkommen an und stellt ihm
-ein ewiges, vollkommenes Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit
-und Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester. Ich möchte
-als besonders bezeichnend für die priesterliche Denkweise einige Sätze
-aus dem berühmten Buche "Die deutsche Theologie" anführen, das aus
-dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther sagt, daß er aus keinem
-Buche, die Bibel und den heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt
-habe, was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem. Auch
-Schopenhauer findet, daß der Geist des Christentums in diesem Buche
-vollkommen und kräftig ausgesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der
-uns unbekannt ist, auseinander gesetzt hat, daß alle Dinge der Welt
-nur ein Unvollkommenes und Geteiltes seien gegenüber dem Vollkommenen,
-"das in sich und in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen
-hat, und ohne das und außer dem kein wahres Wesen ist und in dem
-alle Dinge ihr Wesen haben", führt er aus, daß der Mensch in dieses
-Wesen nur eindringen kann, wenn er "Kreatürlichkeit, Geschaffenheit,
-Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren" und in sich zu
-nichte gemacht hat. Was von dem Vollkommenen ausgeflossen ist und was
-der Mensch als seine wirkliche Welt erkennt, das wird folgendermaßen
-charakterisiert: "Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen anders
-denn in dem Vollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz
-und ein Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat anders als
-in dem Feuer, wo der Glanz ausfließt, oder in der Sonne, oder in dem
-Lichte. Die Schrift spricht und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei
-nichts anderes, denn daß sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren
-Gute und kehret sich zu dem wandelbaren, das ist: daß sie sich kehrt
-von dem Vollkommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen und allermeist
-zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt,
-als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens und kürzlich alles
-dessen, was man gut nennen soll, und meint, daß sie das sei oder daß
-es das Ihre sei oder ihr zugehöre oder daß es von ihr sei: so oft
-und viel dabei geschieht, so kehrt sie sich ab. Was that der Teufel
-anders oder was war sein Fall und Abkehren anders, als daß er sich
-annahm, er wäre auch etwas und etwas wäre sein und ihm gehörte auch
-etwas zu? Dies Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein
-Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist es noch .... Denn
-alles das, was man für gut hält oder gut nennen soll, das gehört
-niemand zu, denn allein dem ewigen wahren Gut, der Gott allein ist,
-und wer sich dessen annimmt, der thut Unrecht und wider Gott". (1.,
-2., 4. Kap. der deutsch. Theol., 3. Aufl., übersetzt von Pfeiffer.)
-
-Diese Sätze sprechen die Gesinnung jedes Priesters aus. Sie
-sprechen den eigentlichen Charakter der Priesterlichkeit aus. Und
-dieser Charakter ist das Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den
-höherwertigen, den lebenswürdigen bezeichnet. Der höherwertige Typus
-Mensch will alles, was er ist, nur durch sich sein; er will, daß alles,
-was er für gut hält und gut nennt, niemand zugehört, denn ihm selbst.
-
-Aber jene minderwertige Gesinnung ist kein Ausnahmefall. Sie "ist eine
-der breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen
-Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskelschrift unseres
-Erdendaseins zu dem Schluß verführen, die Erde sei der eigentlich
-asketische Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger
-Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem
-Leben gar nicht los würden." (Genealogie der Moral, 3. Abteilung §
-11.) Der asketische Priester ist deshalb eine Notwendigkeit, weil die
-Mehrzahl der Menschen an einer "Hemmung und Ermüdung" der Lebenskräfte
-leidet, weil sie an der Wirklichkeit leidet. Der asketische Priester
-ist der Tröster und Arzt derjenigen, die am Leben leiden. Er tröstet
-sie dadurch, daß er ihnen sagt: dieses Leben, an dem ihr leidet,
-ist nicht das wahre Leben; das wahre Leben ist denjenigen, die an
-diesem Leben leiden, viel leichter erreichbar als den Gesunden, die
-an diesem Leben hängen und sich ihm hingeben. Durch solche Aussprüche
-züchtet der Priester die Verachtung, die Verleumdung dieses wirklichen
-Lebens. Er bringt endlich die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre
-Leben zu erreichen, muß dieses wirkliche Leben verneint werden. In
-der Verbreitung dieser Gesinnung sucht der asketische Priester
-seine Stärke. Er beseitigt durch die Züchtung dieser Gesinnung eine
-große Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewußten von den
-Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen droht. Die letzteren
-hassen die Gesunden und die leiblich und seelisch Glücklichen,
-die ihre Kräfte aus der Natur nehmen. Diesen Haß, der sich dadurch
-äußern müßte, daß die Schwachen gegen die Starken einen fortwährenden
-Vernichtungskrieg führten, sucht der Priester niederzuhalten. Er
-stellt deshalb die Starken als diejenigen hin, die ein wertloses,
-menschenunwürdiges Leben führen und behauptet dagegen, daß das wahre
-Leben allein denen erreichbar ist, die von dem Erdenleben geschädigt
-werden. "Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte
-Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst
-verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft
-über Leidende ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an,
-in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art
-von Glück." (Genealogie, 3. Abth. § 15.)
-
-Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise endlich dazu führt,
-daß ihre Anhänger nicht nur das Leben verachten, sondern geradezu
-auf seine Zerstörung hinarbeiten. Wenn den Menschen gesagt wird,
-nur der Leidende, der Schwache kann wirklich zu einem höheren
-Leben kommen, so wird endlich das Leiden, die Schwäche gesucht
-werden. Sich selbst Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz
-ertöten, das wird Ziel des Lebens werden. Die Opfer dieser Gesinnung
-sind die Heiligen. "Völlige Keuschheit und Entsagung aller Wollust
-für den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles
-Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller Angehörigen, tiefe,
-gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung,
-mit freiwilliger Buße und schrecklicher langsamer Selbstpeinigung,
-zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum
-freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch Entgegengehen
-den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten Felsengipfel im
-Himalaya, durch Lebendigbegrabenwerden, auch durch Hinwerfung unter die
-Räder des unter Gesang, Jubel und Tanz der Bajaderen die Götterbilder
-umfahrenden Wagens", dies sind die letzten Früchte der asketischen
-Gesinnung. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung § 68.)
-
-Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben entsprungen, und sie richtet
-ihre Waffen gegen das Leben. Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von
-ihr angesteckt wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken
-Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen, dieser Lehre
-gegenüber etwas anderes geltend zu machen, eine Ansicht für Gesunde,
-Wohlgeratene. Mögen die Mißratenen, Verdorbenen in der Lehre der
-asketischen Priester ihr Heil suchen; die Gesunden will Nietzsche
-um sich sammeln und ihnen eine Meinung sagen, die ihnen besser zu
-Gesichte steht, als jedes lebensfeindliche Ideal.
-
-
-
-
-18.
-
-Auch in den Pflegern der modernen Wissenschaft steckt noch das
-asketische Ideal. Zwar rühmt sich diese Wissenschaft, alle alten
-Glaubensvorstellungen über Bord geworfen zu haben und sich nur
-an die Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts gelten lassen, was
-sich nicht zählen, berechnen, wägen, sehen und greifen läßt. Daß
-man auf diese Weise "das Dasein zu einer Rechenknechtsübung und
-Stubenhockerei für Mathematiker" herabwürdigt, ist den modernen
-Gelehrten gleichgültig. (Fröhliche Wissenschaft § 373.) Ein Recht,
-die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft vorüberziehenden Vorkommnisse
-der Welt zu interpretieren, sodaß er sie mit seinem Denken beherrschen
-kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu. Er sagt: die
-Wahrheit muß von meiner Interpretationskunst unabhängig sein, und ich
-habe die Wahrheit nicht zu schaffen, sondern ich muß sie mir von den
-Erscheinungen der Welt diktieren lassen.
-
-Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, wenn sie sich alles
-Zurechtlegens der Welterscheinungen enthält, das hat ein Anhänger
-dieser Wissenschaft (Richard Wahle) in einem soeben erschienenen Buche
-("Das Ganze der Philosophie und ihr Ende") ausgesprochen: "Was könnte
-der Geist, der in das Weltgehäuse spähend und in sich die Fragen
-nach dem Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte, endlich als
-Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, daß er, wie er so scheinbar
-im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer
-Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen zusammenfloß. Er
-"wußte" nicht mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, daß
-Wissende da sind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie kommen
-freilich in solcher Weise, daß der Begriff eines Wissens vorschnell,
-ungerechtfertigt entstehen konnte .... Und "Begriffe" huschten empor,
-um Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren Irrlichter,
-Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärmliche, in ihrer Evidenz
-nichtssagende Postulate einer unausgefüllten Wissensform. Unbekannte
-Faktoren müssen im Wechsel walten. Über ihre Natur war Dunkel
-gebreitet. Vorkommnisse sind der Schleier des Wahrhaften."
-
-Daß die menschliche Persönlichkeit in die Vorkommnisse der Wirklichkeit
-einen Sinn hineinlegen könne und die unbekannten Faktoren, die im
-Wechsel der Ereignisse walten, aus eigenem Vermögen ergänzen könne,
-daran denken die modernen Gelehrten nicht. Sie wollen nicht die
-Flucht der Erscheinungen durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer
-Persönlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen bloß beobachten
-und beschreiben, aber nicht deuten. Sie wollen bei dem Thatsächlichen
-stehen bleiben und es der schöpferischen Phantasie nicht gestatten,
-sich ein in sich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zu machen.
-
-Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie z. B. Ernst Haeckel,
-aus den Ergebnissen einzelner Beobachtungen ein Gesamtbild
-der Entwickelung des organischen Lebens auf der Erde entwirft,
-dann fallen diese Fanatiker der Thatsächlichkeit über ihn her und
-zeihen ihn der Versündigung an der Wahrheit. Die Bilder, die er von
-dem Leben in der Natur entwirft, können sie nicht mit Augen sehen,
-oder mit Händen greifen. Ihnen ist das unpersönliche Urteil lieber,
-als das durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte. Sie möchten bei
-ihren Beobachtungen am liebsten die Persönlichkeit ganz ausschalten.
-
-Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der Thatsächlichkeit
-beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit jenseits des persönlichen,
-individuellen Urteiles. Was der Mensch in die Dinge
-"hineinphantasieren" kann, bekümmert sie nicht; die "Wahrheit"
-ist ihnen etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch soll sie
-entdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht schaffen. Die Naturforscher
-und die Geschichtschreiber sind gegenwärtig von dem gleichen Geiste
-des asketischen Ideals beseelt. Überall Aufzählen, Beschreiben von
-Thatsachen, und nichts darüber. Jedes Zurechtlegen der Thatsachen
-ist verpönt. Alles persönliche Urteilen soll unterbleiben.
-
-Unter diesen modernen Gelehrten finden sich auch Atheisten. Diese
-Atheisten sind aber keine freieren Geister als ihre Zeitgenossen,
-die an Gott glauben. Mit den Mitteln der modernen Wissenschaft
-läßt sich das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat sich doch eine der
-Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois-Reymond) über die Annahme
-einer "Weltseele" also geäußert: bevor der Naturforscher sich zu
-einer solchen Annahme entschließt, verlangt er, "daß ihm irgendwo in
-der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellen Blut unter
-richtigem Druck gespeist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an
-Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und Nervenfasern
-gezeigt" werde (Grenzen des Naturerkennens S. 44). Die moderne
-Wissenschaft lehnt den Glauben an Gott ab, weil dieser Glaube neben
-dem Glauben an die "objektive Wahrheit" nicht bestehen kann. Diese
-"objektive Wahrheit" ist aber nichts anderes als ein neuer Gott,
-der über den alten gesiegt hat. "Der unbedingte redliche Atheismus
-(und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses
-Zeitalters!) steht nicht im Gegensatz zu jenem (asketischen)
-Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner
-letzten Entwickelungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren
-Folgerichtigkeiten, er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer
-zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die
-Lüge im Glauben an Gott verbietet." (Genealogie, 3. Abteilung §
-27.) Der Christ sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott für den
-Quell aller Wahrheit hält; der moderne Atheist lehnt den Glauben an
-Gott ab, weil ihm sein Gott, sein Ideal von Wahrheit diesen Glauben
-verbietet. Der moderne Geist sieht in Gott eine menschliche Schöpfung;
-in der "Wahrheit" sieht er etwas, was ohne alles menschliche Zuthun
-durch sich selbst besteht. Der wirklich "freie Geist" geht noch
-weiter. Er fragt: "Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?" Wozu
-Wahrheit? Alle Wahrheit entsteht doch dadurch, daß der Mensch
-über die Erscheinungen der Welt nachdenkt, sich Gedanken über die
-Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer der Wahrheit. Der
-"freie Geist" kommt zum Bewußtsein seines Schaffens der Wahrheit. Er
-betrachtet die Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unterordnet;
-er betrachtet sie als sein Geschöpf.
-
-
-
-
-19.
-
-Die mit schwachen, mißratenen Erkenntnisinstinkten ausgestatteten
-Menschen wagen es nicht, aus der Begriffe bildenden Macht
-ihrer Persönlichkeit heraus den Welterscheinungen einen Sinn
-unterzulegen. Sie wollen, daß ihnen die "Gesetzmäßigkeit der Natur"
-als Thatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives, der Einrichtung
-des menschlichen Geistes gemäß geformtes Weltbild scheint ihnen
-wertlos. Aber die bloße Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt
-liefert uns nur ein zusammenhangloses und doch nicht in Einzelheiten
-gesondertes Weltbild. Dem bloßen Beobachter der Dinge erscheint
-kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als
-das andere. Das rudimentäre Organ eines Organismus, das vielleicht
-dann, wenn wir darüber nachgedacht haben, ohne alle Bedeutung für
-die Entwickelung des Lebens erscheint, steht gerade mit demselben
-Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des Organismus,
-so lange wir bloß den objektiven Thatbestand beschauen. Ursache
-und Wirkung sind aufeinanderfolgende Erscheinungen, die ineinander
-überfließen, ohne durch etwas getrennt zu sein, so lange wir sie bloß
-beobachten. Erst wenn wir mit unserem Denken einsetzen, die ineinander
-fließenden Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander beziehen,
-wird ein gesetzmäßiger Zusammenhang sichtbar. Erst das Denken erklärt
-die eine Erscheinung für die Ursache, die andere für die Wirkung. Wir
-sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen und eine Vertiefung
-hervorrufen. Ein Wesen, das nicht denken kann, wird hier nicht
-Ursache und Wirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge von
-Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert die Erscheinungen,
-bringt die isolierten Fakten in ein Verhältnis und bezeichnet
-das eine Faktum als Ursache, das andere als Wirkung. Durch die
-Beobachtung wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu produzieren
-und diese mit den beobachteten Thatsachen zu einem gedankenvollen
-Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch thut dies, weil er die Summe der
-Beobachtungen gedanklich beherrschen will. Ein ihm gegenüberstehendes
-Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine unbekannte Macht. Er widersetzt
-sich dieser Macht, überwindet sie, indem er sie denkbar macht. Auch
-alles Zählen, Wägen und Berechnen der Erscheinungen geschieht
-aus demselben Grunde. Es ist der Wille zur Macht, der sich in dem
-Erkenntnistriebe auslebt. (Ich habe den Erkenntnisprozeß im einzelnen
-dargestellt in meinen beiden Schriften: "Wahrheit und Wissenschaft"
-und "Die Philosophie der Freiheit".)
-
-Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht eingestehen, daß
-er es selbst ist, der als Äußerung seines Strebens nach Macht die
-Erscheinungen interpretiert. Er hält auch seine Interpretation
-für einen Thatbestand. Und er fragt: wie der Mensch dazu kommt,
-einen solchen Thatbestand in der Wirklichkeit zu finden. Er fragt
-z. B.: wie kommt es, daß der Intellekt in zwei aufeinander folgenden
-Erscheinungen Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnistheoretiker
-von Locke, Hume, Kant bis auf die Gegenwart haben sich mit dieser Frage
-beschäftigt. Die Spitzfindigkeiten, die sie auf diese Untersuchung
-verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Erklärung ist gegeben
-in dem Streben des menschlichen Intellekts nach Macht. Die Frage ist
-gar nicht: sind Urteile, Gedanken über die Erscheinungen möglich,
-sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile nötig? Weil er
-sie nötig hat, deshalb wendet er sie an, und nicht weil sie möglich
-sind. Es kommt darauf an, "zu begreifen, daß zum Zweck der Erhaltung
-von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen;
-weshalb sie natürlich noch falsche Urteile sein könnten!" (Jenseits
-von Gut und Böse § 11.) "Und wir sind grundsätzlich geneigt, zu
-behaupten, daß die falschesten Urteile uns die unentbehrlichsten
-sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein
-Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten,
-Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch
-die Zahl der Mensch nicht leben könnte, -- daß Verzichtleisten auf
-falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des
-Lebens wäre." (Ebenda § 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint,
-der besinne sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung der Geometrie
-auf die Wirklichkeit ist, obgleich es nirgends in der Welt wirklich
-geometrisch regelmäßige Linien, Flächen u. s. w. giebt.
-
-Wenn der stumpfe, schwache Intellekt einsieht, daß alle Urteile
-über die Dinge aus ihm selbst stammen, durch ihn produziert und mit
-den Beobachtungen verschmolzen werden, dann hat er nicht den Mut,
-diese Urteile rückhaltslos anzuwenden. Er sagt: Urteile solcher
-Art können uns keine Erkenntnis von dem "wahren Wesen" der Dinge
-vermitteln. Dieses "wahre Wesen" bleibt daher unserer Erkenntnis
-verschlossen.
-
-Noch in einer anderen Art sucht der schwache Intellekt zu beweisen,
-daß durch das menschliche Erkennen kein Feststehendes gewonnen
-werden kann. Er sagt: Der Mensch sieht, hört, tastet die Dinge
-und Vorgänge. Was er dabei wahrnimmt, sind Eindrücke auf seine
-Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe, einen Ton wahrnimmt, so kann er nur
-sagen: mein Auge, mein Ohr werden in einer gewissen Art bestimmt,
-Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas außer ihm nimmt der Mensch
-wahr, sondern nur eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen
-Organe. In der Wahrnehmung werden das Auge, das Ohr u. s. w. dazu
-veranlaßt, in einer gewissen Weise zu empfinden; sie werden in
-einen bestimmten Zustand versetzt. Diese Zustände seiner eigenen
-Organe nimmt der Mensch als Farben, Töne, Gerüche u. s. w. wahr. In
-aller Wahrnehmung nimmt der Mensch nur seine eigenen Zustände
-wahr. Was er Außenwelt nennt, ist nur aus diesen seinen Zuständen
-zusammengesetzt; ist also im eigentlichen Sinne sein Werk. Die Dinge,
-die ihn veranlassen, aus sich heraus die Außenwelt zu spinnen, kennt
-er nicht; nur ihre Wirkungen auf seine Organe. Einem von dem Menschen
-geträumten Traume gleich, der durch ein Unbekanntes veranlaßt wird,
-erscheint die Welt in dieser Beleuchtung.
-
-Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird, so zieht
-er folgenden Nachsatz nach sich. Auch seine Organe kennt der
-Mensch nur, insofern er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in
-seiner Wahrnehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich
-der Mensch nur bewußt, insofern er die Bilder der Welt aus sich
-herausspinnt. Traumbilder nimmt er wahr und inmitten dieser Traumbilder
-ein "Ich", an dem diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes Traumbild
-erscheint in Begleitung dieses "Ich". Man kann auch sagen: jedes
-Traumbild erscheint inmitten der Traumwelt immer in Beziehung auf
-dieses "Ich". Dieses "Ich" haftet als Bestimmung, als Eigenschaft
-an den Traumbildern. Es ist somit, als Bestimmung von Traumbildern,
-selbst ein Traumhaftes. J. G. Fichte faßt diese Ansicht in die Worte
-zusammen: "Was durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist nur
-ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm
-immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann
-durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist
-notwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung
-und Zweck." "Alle Realität" ist für Fichte ein wunderbarer "Traum,
-ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist,
-dem da träumt"; ein Traum, "der in einem Traume von sich selbst
-zusammenhängt". (Bestimmung des Menschen, 2. Buch.)
-
-Was hat diese ganze Gedankenkette für eine Bedeutung? Ein schwacher
-Intellekt, der sich nicht unterfangen will, der Welt aus sich
-heraus einen Sinn zu geben, sucht diesen Sinn in der Welt der
-Beobachtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden, weil die bloße
-Beobachtung gedankenleer ist.
-
-Der starke, produktive Intellekt verwendet seine Begriffswelt dazu,
-die Beobachtungen zu deuten; der schwache, unproduktive Intellekt
-erklärt sich selbst für zu ohnmächtig, um das zu thun und sagt:
-ich kann in den Erscheinungen der Welt keinen Sinn finden; sie sind
-bloße Bilder, die an mir vorüberziehen. Der Sinn des Daseins muß
-außerhalb, jenseits der Erscheinungswelt gesucht werden. Dadurch
-wird die Erscheinungswelt, d. h. die menschliche Wirklichkeit für
-einen Traum, eine Täuschung, ein Nichts erklärt und das "wahre Wesen"
-der Erscheinungen wird in einem "Ding an sich" gesucht, bis zu dem
-keine Beobachtung, kein Erkennen reicht, d. h. von dem sich der
-Erkennende keine Vorstellung machen kann. Dieses "wahre Wesen" ist
-also für den Erkennenden ein völlig leerer Gedanke, der Gedanke an ein
-Nichts. Traum ist bei jenen Philosophen, die von dem "Ding an sich"
-sprechen, die Erscheinungswelt; Nichts ist aber das, was sie als das
-"wahre Wesen" dieser Erscheinungswelt ansehen. Die ganze philosophische
-Bewegung, die von dem "Ding an sich" spricht und die in der neueren
-Zeit sich namentlich auf Kant stützt, ist der Glaube an das Nichts,
-ist philosophischer Nihilismus.
-
-
-
-
-20.
-
-Wenn der starke Geist nach der Ursache eines menschlichen Handelns
-und Vollbringens sucht, so findet er diese immer in dem Willen
-zur Macht der einzelnen Persönlichkeit. Der Mensch mit schwachem,
-mutlosem Intellekt will dies aber nicht zugeben. Er fühlt sich nicht
-kräftig genug, sich zum Herrn und Richtunggeber seines Handelns zu
-machen. Er deutet die Triebe, die ihn lenken, als Gebote einer fremden
-Macht. Er sagt nicht: ich handle, wie ich will; sondern er sagt: ich
-handle gemäß einem Gebote, wie ich soll. Er will sich nicht befehlen,
-er will gehorchen. Auf der einen Stufe der Entwickelung sehen die
-Menschen ihre Antriebe zum Handeln als Gebote Gottes an, auf einer
-andern Stufe glauben sie in ihrem Innern eine Stimme zu vernehmen,
-die ihnen gebietet. Sie wagen es im letztern Falle nicht, zu sagen:
-ich bin es selbst, der da befiehlt; sie behaupten: in mir spricht
-ein höherer Wille sich aus. Daß sein Gewissen ihm in jedem einzelnen
-Falle sagt, wie er handeln soll, ist die Meinung des einen; daß ein
-kategorischer Imperativ ihm befiehlt, behauptet ein anderer. Hören wir,
-was J. G. Fichte sagt: "Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es
-nun einmal geschehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben von
-mir .... fordert; daß es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da;
-um es zu erkennen, habe ich Verstand; um es zu vollbringen, habe ich
-Kraft." ("Bestimmung des Menschen", 3. Buch.) Ich führe mit Vorliebe
-J. G. Fichtes Aussprüche an, weil er mit eiserner Konsequenz die
-Meinung der "Schwachen und Mißratenen" bis ans Ende gedacht hat. Wozu
-diese Meinungen zuletzt führen, kann man nur erkennen, wenn man sie da
-aufsucht, wo sie zu Ende gedacht worden sind; auf die Halben, die jeden
-Gedanken nur bis in seine Mitte denken, kann man sich nicht stützen.
-
-Nicht in der Einzelpersönlichkeit wird von denen, die in der
-angedeuteten Weise denken, der Quell des Wissens gesucht; sondern
-jenseits dieser Persönlichkeit in einem "Willen an sich". Eben
-dieser "Wille an sich" soll als "Stimme Gottes" oder "als Stimme
-des Gewissens", "kategorischer Imperativ" u. s. w. zu dem Einzelnen
-sprechen. Er soll der universelle Lenker des menschlichen Handelns und
-der Urquell der Sittlichkeit sein und auch die Zwecke des sittlichen
-Handelns bestimmen. "Ich sage, das Gebot des Handelns selbst ist es,
-welches durch sich selbst mir einen Zweck setzt: dasselbe in mir,
-was mich nötigt, zu denken, daß ich so handeln solle, nötigt mich,
-zu glauben, daß aus diesem Handeln etwas erfolgen werde; es eröffnet
-dem Auge die Aussicht auf eine andere Welt." "Wie ich im Gehorsam
-lebe, lebe ich zugleich in der Anschauung seines Zweckes, lebe ich
-in der besseren Welt, die er mir verheißt." (Fichte, Die Bestimmung
-des Menschen, 3. Buch.) Der also Denkende will sich nicht selbst sein
-Ziel setzen; er will von dem höheren Willen, dem er gehorcht, sich zu
-einem Ziele führen lassen. Er will sich seines Eigenwillens entledigen
-und sich zum Werkzeug "höherer" Zwecke machen. In Worten, die zu den
-schönsten Erzeugnissen des Sinnes für Gehorsam und Demut gehören,
-die mir bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe an den "ewigen
-Willen an sich". "Erhabener lebendiger Wille, den kein Name nennt,
-und kein Begriff umfaßt, wohl darf ich mein Gemüt zu dir erheben;
-denn du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ertönt in mir, die
-meinige tönt in dir wieder; und alle meine Gedanken, wenn sie nur wahr
-und gut sind, sind in dir gedacht. -- In dir, dem Unbegreiflichen,
-werde ich mir selbst, und wird mir die Welt vollkommen begreiflich,
-alle Rätsel meines Daseins werden gelöst, und die vollendetste Harmonie
-entsteht in meinem Geiste." "Ich verhülle vor dir mein Angesicht,
-und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist, und dir
-selbst erscheinst, kann ich nie einsehen, so gewiß ich nie du selbst
-werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterleben werde
-ich dich noch eben so wenig begreifen als jetzt, in dieser Hülle von
-Erde." (Bestimmung des Menschen, 3. Buch.)
-
-Wohin dieser Wille den Menschen zuletzt führen will, das kann der
-Einzelne nicht wissen. Wer an diesen Willen glaubt, gesteht also damit,
-daß er über die Endzwecke seines Handelns nichts weiß. Die Ziele, die
-sich der Einzelne schafft, sind aber für einen solchen Gläubigen eines
-höheren Willens keine "wahren" Ziele. Er setzt somit an die Stelle der
-durch das Individuum geschaffenen positiven Einzelziele einen Endzweck
-der ganzen Menschheit, dessen Gedankeninhalt aber ein Nichts ist. Ein
-solcher Gläubiger ist moralischer Nihilist. Er ist in der schlimmsten
-Art von Unwissenheit befangen, die sich erdenken läßt. Nietzsche wollte
-diese Art von Unwissenheit in einem besonderen Buche seines unvollendet
-gebliebenen Werkes "der Wille zur Macht" behandeln. (Vgl. Anhang zu
-Bd. VIII. der Gesamtausgabe von Nietzsches Werken.)
-
-Die Lobpreisung des moralischen Nihilismus finden wir wieder
-in Fichtes "Bestimmung des Menschen" (3. Buch): "Ich will nicht
-versuchen, was mir durch das Wesen der Endlichkeit versagt ist,
-und was mir zu nichts nützen würde; wie du an dir selbst bist, will
-ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und Verhältnisse zu mir,
-dem Endlichen, und zu allem Endlichen, liegen offen vor meinem Auge:
-werde ich, was ich sein soll! -- und sie umgeben mich in hellerer
-Klarheit, als das Bewußtsein meines eignen Daseins. Du wirkest in mir
-die Erkenntnis von meiner Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe
-der vernünftigen Wesen; wie, das weiß ich nicht, noch bedarf ich es zu
-wissen. Du weißt und erkennst, was ich denke und will; wie du wissen
-kannst, -- durch welchen Akt du dieses Bewußtsein zu stande bringst,
-darüber verstehe ich nichts; ja ich weiß sogar sehr wohl, daß der
-Begriff eines Akts, und eines besonderen Akts des Bewußtseins nur
-von mir gilt, nicht aber von dir, dem Unendlichen. Du willst, denn du
-willst, daß mein freier Gehorsam Folgen habe in alle Ewigkeit; den Akt
-deines Willens begreife ich nicht; und weiß nur soviel, daß er nicht
-ähnlich ist dem meinigen. Du thust, und dein Wille selbst ist That;
-aber deine Wirkungsweise ist der, die ich allein zu denken vermag,
-geradezu entgegengesetzt. Du lebest und bist, denn du weißt, willst
-und wirkest, allgegenwärtig der endlichen Vernunft; aber du bist nicht,
-wie ich alle Ewigkeiten hindurch allein ein Sein werde denken können."
-
-Dem moralischen Nihilismus stellt Nietzsche die Ziele gegenüber,
-die der schaffende Einzelwille sich setzt. Den Lehrern der Ergebung
-ruft Zarathustra zu:
-
-"Diese Lehrer der Ergebung. Überall hin, wo es klein und krank und
-grindig ist, kriechen sie hin, gleich Läusen; und nur mein Ekel
-hindert mich, sie zu knacken.
-
-"Wohlan! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren: ich bin Zarathustra,
-der Gottlose, der da spricht: 'wer ist gottloser denn ich, daß ich
-mich seiner Unterweisung freue?'
-
-"Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich meinesgleichen? Und
-alle die sind meinesgleichen, die sich selber ihren Willen geben und
-alle Ergebung von sich abthun."
-
-
-
-
-21.
-
-Die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft, ist rücksichtslos in der
-Ausführung derselben. Die schwache Persönlichkeit dagegen führt nur
-das aus, wozu der Wille Gottes oder die "Stimme des Gewissens" oder der
-"kategorische Imperativ" Ja sagt. Was diesem Ja entspricht, bezeichnet
-der Schwache als gut, was diesem Ja zuwider ist als böse. Der Starke
-kann dieses "gut und bös" nicht anerkennen; denn er erkennt diejenige
-Macht nicht an, von der sich der Schwache sein Gutes und Böses
-bestimmen läßt. Was er, der Starke, will, ist für ihn gut; er führt es
-durch gegen alle widerstrebenden Mächte. Was ihn in dieser Durchführung
-stört, das sucht er zu überwinden. Er glaubt nicht, daß ein "ewiger
-Weltwille" alle einzelnen Willensentschlüsse zu einer großen Harmonie
-lenkt; aber er ist der Ansicht, daß alle menschliche Entwickelung aus
-den Willensimpulsen der Einzelpersönlichkeiten sich ergiebt, und daß
-ein ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen Willensäußerungen,
-in dem immer der stärkere Wille über den schwächeren siegt.
-
-Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke Persönlichkeit,
-die sich selbst Gesetz und Zweck geben will, als böse, als sündhaft
-bezeichnet. Sie erregt Furcht, denn sie durchbricht die hergebrachten
-Ordnungen; sie nennt wertlos, was die Schwachen gewohnt sind,
-wertvoll zu nennen, und sie erfindet Neues, vor ihr Unbekanntes,
-das sie als wertvoll bezeichnet. "Jede individuelle Handlung, jede
-individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen,
-was gerade die selteneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister
-im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, daß
-sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja daß sie
-sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit hat
-die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen
-Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter,
-als er sein müßte." (Morgenröte § 9.)
-
-Der wahrhaft freie Geist faßt schlechthin erste Entschlüsse; der
-unfreie entscheidet sich nach dem Herkommen. "Sittlichkeit ist nichts
-anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten,
-welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche
-Art zu handeln und abzuschätzen" (Morgenröte § 9). Dieses Herkommen
-ist es, was von den Moralisten als "ewiger Wille", "kategorischer
-Imperativ" gedeutet wird. Jedes Herkommen ist aber das Ergebnis der
-naturgemäßen Triebe und Impulse einzelner Menschen, ganzer Stämme,
-Völker u. s. w. Es ist ebenso das Produkt natürlicher Ursachen,
-wie etwa die Witterungsverhältnisse einzelner Gegenden. Der freie
-Geist erklärt sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er hat
-seine individuellen Triebe und Impulse, und diese sind nicht weniger
-berechtigt als die der anderen. Er setzt diese Impulse in Handlungen
-um, wie eine Wolke Regen auf die Erdoberfläche sendet, wenn die
-Ursachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht jenseits dessen,
-was das Herkommen als gut und böse ansieht. Er schafft sich selbst
-sein Gut und Böse.
-
-"Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten
-Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen
-gut und böse sei.
-
-"Eine alte müde Sache dünkte ihnen alles Reden von Tugend; und wer
-gut schlafen wollte, der sprach vor dem Schlafengehen noch von 'Gut
-und Böse'.
-
-"Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist,
-das weiß noch niemand -- es sei denn der Schaffende.
-
-"Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde
-ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: dieser erst schafft es, daß etwas
-gut und böse ist." (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)
-
-Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem Herkommen gemäß
-ist, dann thut er es, weil er die herkömmlichen Motive zu den seinigen
-machen will, und weil er es in bestimmten Fällen nicht für nötig hält,
-an die Stelle des Herkömmlichen etwas Neues zu setzen.
-
-
-
-
-22.
-
-Der Starke sucht in der Durchsetzung seines schaffenden Selbst seine
-Lebensaufgabe. Diese Selbstsucht unterscheidet ihn von den Schwachen,
-die in der selbstlosen Hingabe an das, was sie das Gute nennen,
-die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen predigen die Selbstlosigkeit
-als die höchste Tugend. Ihre Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge
-ihres Mangels an Schaffenskraft. Hätten sie ein schaffendes Selbst,
-so würden sie dieses auch durchsetzen wollen. Der Starke liebt den
-Krieg, denn er braucht den Krieg, um seine Schöpfungen gegen die
-widerstrebenden Mächte durchzusetzen.
-
-"Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und
-für eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure
-Redlichkeit darüber noch Triumph rufen!
-
-"Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den
-kurzen Frieden mehr als den langen.
-
-"Euch rate ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich
-nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf,
-euer Friede sei ein Sieg!
-
-"Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich
-aber sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.
-
-"Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge gethan, als die
-Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete
-bisher die Verunglückten." (Zarathustra, 1. Teil, Vom Krieg und
-Kriegsvolke.)
-
-Unerbittlich und ohne Schonung des Widerstrebenden handelt der
-Schaffende. Er kennt nicht die Tugend der Leidenden: das Mitleid. Aus
-seiner Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht aus dem Gefühle
-des fremden Leidens. Daß die Kraft siege, dafür setzt er sich ein,
-nicht daß das Leidende, Schwache gepflegt werde. Schopenhauer hat die
-ganze Welt für ein Lazarett erklärt, und die aus dem Mitgefühle mit
-den Leidenden entspringenden Handlungen für die höchsten Tugenden. Er
-hat damit die Moral des Christentums in anderer Form ausgesprochen,
-als dieses selbst es thut. Der Schaffende fühlt sich nicht berufen,
-Krankenwärterdienste zu verrichten. Die Tüchtigen, Gesunden können
-nicht um der Schwachen, Kranken willen da sein. Das Mitleid schwächt
-die Kraft, den Mut, die Tapferkeit.
-
-Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was der Starke überwinden
-will: die Schwäche, das Leiden. Der Sieg des Starken über das
-Schwache ist der Sinn aller menschlichen, wie aller natürlichen
-Entwickelung. "Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung,
-Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte,
-Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens,
-Ausbeutung." (Jenseits von Gut und Böse § 259.)
-
-"Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet
-ihr mit mir -- siegen?
-
-"Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will:
-wie könntet ihr einst mit mir -- schaffen?
-
-"Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken,
-eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, --
-
-"-- Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie
-auf Erz, -- härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein
-das Edelste.
-
-"Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet
-hart." (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)
-
-Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mitleid. Wer ihn bemitleiden
-wollte, den müßte er fragen: hältst du mich für so schwach, daß ich
-mein Leid nicht selbst tragen kann? Ihm geht jedes Mitleid gegen die
-Scham. Nietzsche bringt den Widerwillen des Starken gegen das Mitleiden
-im vierten Teil seines "Zarathustra" zur Anschauung. Zarathustra
-kommt auf seinen Wanderungen in ein Thal, das "Schlangentod"
-heißt. Kein Lebewesen findet sich hier. Nur eine Art häßlicher
-grüner Schlangen kommt hierher, um zu sterben. Dieses Thal hat der
-"häßlichste Mensch" aufgesucht. Dieser will von keinem Wesen gesehen
-werden wegen seiner Häßlichkeit. In diesem Thal sieht ihn niemand
-außer Gott. Aber auch dessen Anblick kann er nicht ertragen. Das
-Bewußtsein, daß Gottes Blicke in alle Räume dringen, ist ihm zur
-Last. Er hat deshalb Gott getötet, d. h. er hat den Glauben an
-Gott in sich ertötet. Er ist zum Atheisten geworden wegen seiner
-Häßlichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen sieht, überfällt ihn
-noch einmal das, was er für immer in sich getilgt zu haben glaubt:
-das Mitleid mit der furchtbaren Häßlichkeit. Dies ist eine Versuchung
-Zarathustras. Er weist aber das Gefühl des Mitleids bald zurück und
-wird wieder hart. Der häßlichste Mensch sagt zu ihm: Deine Härte ehrt
-meine Häßlichkeit. Ich bin zu reich an Häßlichkeit, um irgend eines
-Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht gegen die Scham.
-
-Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, und der freie Geist
-will vollständig auf sich selbst gestellt sein.
-
-
-
-
-23.
-
-Mit der Aufzeigung des natürlichen Willens zur Macht als Ursache
-der menschlichen Handlungen geben sich die Schwachen nicht
-zufrieden. Sie suchen nicht bloß nach natürlichen Zusammenhängen
-in der Menschenentwickelung, sondern sie suchen das Verhältnis der
-menschlichen Handlungen zu dem, was sie als den "Willen an sich",
-die "ewige, sittliche Weltordnung" nennen. Wer dieser Weltordnung
-zuwiderhandelt, dem sprechen sie eine Schuld zu. Und sie begnügen
-sich auch nicht damit, eine Handlung nach ihren natürlichen Folgen zu
-bewerten, sondern sie machen den Anspruch darauf, daß eine schuldvolle
-Handlung auch moralische Folgen, Strafen nach sich ziehe. Sie nennen
-sich selbst schuldig, wenn sie ihr Handeln mit der sittlichen
-Weltordnung nicht in Übereinstimmung finden; sie wenden sich mit
-Abscheu von dem Quell des Bösen in sich ab und nennen dies Gefühl
-böses Gewissen. Alle diese Begriffe läßt die starke Persönlichkeit
-nicht gelten. Sie kümmert sich nur um die natürlichen Folgen ihrer
-Handlungen. Sie fragt: wieviel ist meine Handlungsweise für das Leben
-wert? Entspricht sie dem, was ich gewollt habe? Der Starke kann sich
-grämen, wenn ihm eine Handlung fehlschlägt, wenn das Resultat seinen
-Absichten nicht entspricht. Aber er klagt sich nicht an. Denn er mißt
-seine Handlungsweise nicht an außernatürlichen Maßstäben. Er weiß,
-daß er so handelt, wie es seinen natürlichen Trieben entspricht,
-und kann höchstens bedauern, daß diese nicht besser sind. Ebenso
-hält er es mit der Beurteilung fremder Handlungen. Ein moralisches
-Abschätzen der Handlungen kennt er nicht. Er ist Immoralist.
-
-Was das Herkommen als böse bezeichnet, sieht der Immoralist
-ebenso als Ausfluß menschlicher Instinkte an, wie das Gute. Die
-Strafe gilt ihm nicht als moralisch bedingt, sondern nur als ein
-Mittel, Instinkte gewisser Menschen, die andern schädlich sind,
-auszurotten. Die Gesellschaft straft nach Ansicht des Immoralisten
-nicht deswegen, weil sie ein "moralisches Recht" hat, die Schuld
-zu sühnen, sondern allein, weil sie sich stärker erweist, als der
-Einzelne, welcher der Gesamtheit widerstrebende Instinkte hat. Die
-Macht der Gesellschaft steht gegen die Macht des Einzelnen. Dies ist
-der natürliche Zusammenhang einer "bösen" Handlung des Einzelnen
-mit der Rechtsprechung der Gesellschaft und der Bestrafung dieses
-Einzelnen. Es ist der Wille zur Macht, d. h. zum Ausleben jener
-Instinkte, die bei der Mehrzahl der Menschen vorhanden sind, der
-sich in der Rechtspflege einer Gesellschaft äußert. Der Sieg einer
-Mehrheit über einen Einzelnen ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne
-über die Gesellschaft, so müßte seine Handlungsweise als gut, die der
-andern als böse bezeichnet werden. Das jeweilige Recht drückt nur aus,
-was die Gesellschaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur
-Macht anerkennt.
-
-
-
-
-24.
-
-Weil Nietzsche in der menschlichen Handlungsweise nur einen
-Ausfluß der Instinkte sieht, und diese letzteren bei verschiedenen
-Menschen verschieden sind, scheint es ihm notwendig, daß auch
-deren Handlungsweisen verschieden sind. Nietzsche ist deshalb ein
-entschiedener Gegner des demokratischen Grundsatzes: Gleiche Rechte
-und gleiche Pflichten für alle. Die Menschen sind ungleich, deshalb
-müssen auch ihre Rechte und Pflichten ungleich sein. Der natürliche
-Gang der Weltgeschichte wird stets starke und schwache, schaffende
-und unfruchtbare Menschen aufweisen. Und die Starken werden immer
-dazu berufen sein, den Schwachen die Ziele zu bestimmen. Ja noch
-mehr: die Starken werden sich der Schwachen als Mittel zum Zwecke,
-d. h. als Sklaven bedienen. Nietzsche spricht natürlich nicht von einem
-"moralischen" Recht der Starken zur Haltung von Sklaven. "Moralische"
-Rechte erkennt er nicht an. Sondern er ist der Meinung, daß die
-Überwindung des Schwächeren durch den Stärkeren, die er für das
-Princip alles Lebens hält, notwendig zur Sklaverei führen muß.
-
-Es ist auch natürlich, daß sich der Überwundene gegen den Überwinder
-auflehnt. Wenn diese Auflehnung sich nicht durch die That äußern
-kann, so äußert sie sich wenigstens im Gefühle. Und der Ausdruck
-dieses Gefühles ist die Rache, die stets in den Herzen derer wohnt,
-die in irgend einer Weise von den besser Veranlagten überwunden
-worden sind. Als Ausfluß dieser Rache sieht Nietzsche die moderne
-socialdemokratische Bewegung an. Der Sieg dieser Bewegung würde ihm
-eine Erhöhung der Mißratenen, Übel-Weggekommenen zu Ungunsten der
-Besseren sein. Gerade das Gegenteil strebt Nietzsche an: die Pflege
-der starken, selbstherrlichen Persönlichkeit. Und er haßt die Sucht,
-die alles gleich machen und die souveräne Individualität in dem Meere
-der allgemeinen Mittelmäßigkeit verschwinden lassen will.
-
-Nicht alle sollen dasselbe haben und genießen, meint Nietzsche,
-sondern jeder soll haben und genießen, was er nach Maßgabe seiner
-persönlichen Stärke erreichen kann.
-
-
-
-
-25.
-
-Was der Mensch wert ist, hängt allein von dem Wert seiner Instinkte
-ab. Durch nichts anderes kann der Wert des Menschen bestimmt
-werden. Man spricht von dem Werte der Arbeit. Die Arbeit soll den
-Menschen adeln. Aber die Arbeit hat an sich gar keinen Wert. Nur
-dadurch, daß sie dem Menschen dient, erhält sie einen Wert. Nur
-insofern sich die Arbeit als natürliche Folge der menschlichen
-Neigungen darstellt, ist sie des Menschen würdig. Wer sich zum Diener
-der Arbeit macht, entwürdigt sich. Nur der Mensch, der nicht sich
-selbst seinen Wert bestimmen kann, sucht diesen Wert an der Größe
-seines Werkes abzumessen. Es ist charakteristisch für das demokratische
-Bürgertum der neueren Zeit, daß es in der Wertbemessung des Menschen
-sich nach dessen Arbeit richtet. Sogar Goethe ist von dieser Gesinnung
-nicht frei. Läßt er doch seinen Faust die volle Befriedigung in dem
-Bewußtsein gethaner Arbeit finden.
-
-
-
-
-26.
-
-Auch die Kunst hat nach Nietzsches Meinung nur Wert, wenn sie dem Leben
-des Einzelmenschen dient. Auch hier vertritt Nietzsche die Ansicht
-der starken Persönlichkeit und lehnt alles ab, was die schwachen
-Instinkte über die Kunst aussprechen. Fast alle deutschen Ästhetiker
-vertreten den Standpunkt der schwachen Instinkte. Die Kunst soll ein
-"Unendliches" im "Endlichen", ein "Ewiges" im "Zeitlichen", eine
-"Idee" in der "Wirklichkeit" darstellen. Für Schelling z. B. ist alle
-sinnliche Schönheit nur ein Abglanz jener unendlichen Schönheit,
-die wir nie mit den Sinnen wahrnehmen können. Das Kunstwerk ist
-nicht um seiner selbst willen und durch das, was es ist, schön,
-sondern weil es die Idee der Schönheit abbildet. Das sinnliche Bild
-ist nur ein Ausdrucksmittel, nur die Form für einen übersinnlichen
-Inhalt. Und Hegel nennt das Schöne "das sinnliche Scheinen der
-Idee". Ähnliches kann man auch bei den andern deutschen Ästhetikern
-finden. Für Nietzsche ist die Kunst ein lebenförderndes Element, und
-nur, wenn sie dieses ist, hat sie Berechtigung. Wer das Leben, wie er
-es unmittelbar wahrnimmt, nicht ertragen kann, der formt es sich nach
-seinem Bedürfnisse um, und damit schafft er ein Kunstwerk. Und was will
-der Genießende vom Kunstwerk? Er will Erhöhung seiner Lebensfreude,
-Stärkung seiner Lebenskräfte, Befriedigung von Bedürfnissen, die
-ihm die Wirklichkeit nicht befriedigt. Aber er will, wenn sein
-Sinn auf das Wirkliche gerichtet ist, nicht durch das Kunstwerk
-den Abglanz des Göttlichen, Überirdischen erblicken. Hören wir, wie
-Nietzsche den Eindruck schildert, den Bizets Carmen auf ihn gemacht:
-"Ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch
-ein besserer Musikant, ein besserer Zuhörer. Kann man überhaupt noch
-besser zuhören? -- Ich vergrabe meine Ohren noch unter diese Musik,
-ich höre deren Ursache. Es scheint mir, daß ich ihre Entstehung
-erlebe -- ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagnis begleiten,
-ich bin entzückt über Glücksfälle, an denen Bizet unschuldig ist. --
-Und seltsam! im Grunde denke ich nicht daran, oder weiß es nicht,
-wie sehr ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen mir während
-dem durch den Kopf ... Hat man bemerkt, daß die Musik den Geist frei
-macht? dem Gelehrten Flügel giebt? daß man umsomehr Philosoph wird,
-je mehr man Musiker wird? -- Der graue Himmel der Abstraktion wie von
-Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge;
-die großen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus
-überblickt. -- Ich definierte eben das philosophische Pathos. -- Und
-unversehens fallen mir Antworten in den Schoß, ein kleiner Hagel von
-Eis und Weisheit, von gelösten Problemen .. Wo bin ich? -- Bizet macht
-mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andere
-Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was gut ist." --
-(Fall Wagner § 1.) Weil Richard Wagners Musik eine solche Wirkung nicht
-auf ihn machte, deshalb lehnte sie Nietzsche ab: "Meine Einwände gegen
-die Musik Wagners sind physiologische Einwände ..... Meine Thatsache,
-mein petit fait vrai ist, daß ich nicht mehr leicht atme, wenn diese
-Musik erst auf mich wirkt; daß alsbald mein Fuß gegen sie böse wird
-und revoltiert: er hat das Bedürfnis nach Takt, Tanz, Marsch ... er
-verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem Gehen,
-Schreiten, Tanzen liegen. Protestiert aber nicht auch mein Magen? mein
-Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich
-nicht unversehens heiser dabei? Und so frage ich mich: was will
-eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? ... Ich glaube,
-seine Erleichterung: wie als ob alle animalischen Funktionen durch
-leichte, kühne, ausgelassene, selbstgewisse Rhythmen beschleunigt
-werden sollten; wie als ob das eherne, bleierne Leben durch goldene,
-zärtliche, ölgleiche Melodieen seine Schwere verlieren sollte. Meine
-Schwermut will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit
-ausruhen: dazu brauche ich Musik." (Nietzsche kontra Wagner. Kap.:
-Wo ich Einwände mache.) --
-
-Im Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn täuschte sich
-Nietzsche über das, was seine Instinkte von der Kunst verlangen,
-deshalb war er damals ein Anhänger Wagners. Er hat sich durch das
-Studium der Schopenhauerschen Philosophie zum Idealismus verführen
-lassen. Er glaubte einige Zeit hindurch an den Idealismus und täuschte
-sich künstliche Bedürfnisse, ideale Bedürfnisse vor. Erst im weiteren
-Verlaufe seines Lebens merkte er, daß aller Idealismus seinen Trieben
-gerade entgegengesetzt ist. Er wurde nun aufrichtiger gegen sich
-selbst. Er sprach aus, wie er selbst empfand. Und das konnte nur zur
-vollständigen Ablehnung von Wagners Musik führen, die ja immer mehr
-den asketischen Charakter annahm, den wir bereits als Kennzeichen
-von Wagners letztem Wirkensziel aufgeführt haben.
-
-Die Ästhetiker, die es der Kunst zur Aufgabe machen, die Idee zu
-versinnlichen, das Göttliche zu verkörpern, vertreten auf diesem
-Gebiete eine ähnliche Ansicht wie die philosophischen Nihilisten
-auf dem Gebiete der Erkenntnis und der Moral. Sie suchen in den
-Kunstobjekten ein Jenseitiges, das sich aber vor dem Wirklichkeitssinn
-in ein Nichts auflöst. Es giebt auch einen ästhetischen Nihilismus.
-
-Diesem steht die Ästhetik der starken Persönlichkeit gegenüber, die
-in der Kunst ein Abbild der Wirklichkeit, eine höhere Wirklichkeit
-sieht, die der Mensch lieber genießt als die Alltäglichkeit.
-
-
-
-
-27.
-
-Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander gegenüber: den Schwachen
-und den Starken. Der erstere sucht die Erkenntnis als einen objektiven
-Thatbestand, der von der Außenwelt in seinen Geist einfließen soll. Er
-läßt sich sein Gutes und Böses von einem "ewigen Weltwillen" oder
-einem "kategorischen Imperativ" diktieren. Er bezeichnet jede nicht
-von diesem Weltwillen, sondern nur von dem schöpferischen Eigenwillen
-bestimmte Handlung als Sünde, die eine moralische Strafe nach sich
-ziehen muß. Er möchte für alle Menschen gleiche Rechte dekretieren
-und den Wert des Menschen nach einem äußern Maßstabe bestimmen. Er
-möchte endlich in der Kunst ein Abbild des Göttlichen, eine Kunde aus
-dem Jenseits erblicken. Der Starke dagegen sieht alle Erkenntnis als
-den Ausdruck des Willens zur Macht an. Er sucht durch die Erkenntnis
-die Dinge denkbar und sich dadurch unterthan zu machen. Er weiß,
-daß er selbst der Schöpfer der Wahrheit ist; daß niemand als er
-selbst sein Gutes und sein Böses schaffen kann. Er betrachtet die
-Handlungen des Menschen als Folgen natürlicher Triebe und läßt sie
-gelten als Naturereignisse, die niemals als Sünden zu betrachten sind
-und nicht eine moralische Verurteilung verdienen. Er sucht den Wert
-des Menschen in der Tüchtigkeit seiner Instinkte. Einen Menschen mit
-den Instinkten für Gesundheit, Geist, Schönheit, Ausdauer, Vornehmheit
-schätzt er höher als einen solchen mit den Instinkten für Schwäche,
-Häßlichkeit, Sklaverei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade,
-in dem es zur Steigerung seiner Kräfte beiträgt.
-
-Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche unter seinem
-Übermenschen. Solche Übermenschen konnten bisher nur durch das
-Zusammentreffen zufälliger Umstände entstehen. Ihre Entwickelung
-zum bewußten Ziele der Menschheit zu machen, ist die Absicht, die
-Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der menschlichen Entwickelung
-in irgendwelchen Idealen. Hier hält Nietzsche eine Änderung der
-Anschauungen für nötig. Der "höherwertige Typus ist oft genug schon
-dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als
-gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war
-bisher beinahe das Furchtbare; -- und aus der Furcht heraus wurde
-der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das
-Herdentier, das kranke Tier Mensch, -- der Christ ..." (Antichrist
-§ 3).
-
-Zarathustras Weisheit soll diesen Übermenschen, zu dem jener andere
-Typus nur ein Übergang ist, lehren.
-
-Nietzsche nennt diese Weisheit eine dionysische. Es ist eine
-Weisheit, die nicht dem Menschen von außen gegeben wird; es ist eine
-selbstgeschaffene Weisheit. Der dionysische Weise forscht nicht; er
-schafft. Er steht nicht als Betrachter außer der Welt, die er erkennen
-will; er ist Eins geworden mit seiner Erkenntnis. Er sucht nicht nach
-einem Gotte; was er sich noch als göttlich vorstellen kann, ist nur
-Er selbst als Schöpfer seiner eigenen Welt. Wenn dieser Zustand auf
-alle Kräfte des menschlichen Organismus sich erstreckt, so giebt
-das den dionysischen Menschen, dem es unmöglich ist, irgend eine
-Suggestion nicht zu verstehen; er übersieht kein Zeichen des Affekts,
-er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinktes,
-wie er den höchsten Grad von Mitteilungskunst besitzt. Er geht in
-jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig. Dem
-dionysischen Weisen steht der bloße Betrachter gegenüber, der
-sich immer außerhalb seiner Erkenntnisobjekte stehend glaubt, als
-objektiver, leidender Zuschauer. Dem dionysischen Menschen steht der
-apollinische gegenüber, der "vor allem das Auge erregt hält, sodaß
-es die Kraft der Vision bekommt". Visionen, Bilder von Dingen, die
-jenseits der Menschen-Wirklichkeit stehen, erstrebt der apollinische
-Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene Weisheit.
-
-
-
-
-28.
-
-Die apollinische Weisheit hat den Charakter des Ernstes. Sie
-empfindet die Herrschaft des Jenseits, das sie nur im Bilde besitzt,
-als einen schweren Druck, als eine ihr widerstrebende Macht. Ernst
-ist die apollinische Weisheit, denn sie glaubt sich im Besitze einer
-Kunde aus dem Jenseits, wenn diese auch nur durch Bilder, Visionen
-vermittelt sein soll. Schwer beladen mit seiner Erkenntnis wandelt
-der apollinische Geist einher, denn er trägt eine Bürde, die aus
-einer andern Welt stammt. Und den Ausdruck der Würde nimmt er an,
-denn vor den Kundgebungen des Unendlichen muß jedes Lachen verstummen.
-
-Dieses Lachen aber charakterisiert den dionysischen Geist. Er weiß,
-daß alles, was er Weisheit nennt, nur seine Weisheit ist, von ihm
-erfunden, um sich das Leben leicht zu machen. Nur dieses Eine soll
-ja seine Weisheit sein: ein Mittel, das ihm erlaubt, zum Leben Ja zu
-sagen. Dem dionysischen Menschen ist der Geist der Schwere zuwider,
-weil er das Leben nicht erleichtert, sondern niederdrückt. Die
-selbstgeschaffene Weisheit ist eine heitere Weisheit, denn wer sich
-selbst seine Bürde schafft, der schafft sich nur eine solche, die er
-auch leicht tragen kann. Mit der selbstgeschaffenen Weisheit bewegt
-sich der dionysische Geist leicht durch die Welt wie ein Tänzer.
-
-
- "Daß ich aber der Weisheit gut bin und oft
- zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an
- das Leben!
-
- Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr
- goldnes Angelrütchen: was kann ich dafür, daß
- die beiden sich so ähnlich sehen?"
-
- "In dein Auge schaute ich jüngst, o Leben:
- Gold sah ich in deinem Nachtauge blinken, -- mein
- Herz stand still vor dieser Wollust:
-
- -- einen goldenen Kahn sah ich blinken auf
- nächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden,
- wieder winkenden goldenen Schaukelkahn!
-
- Nach meinem Fuße, dem tanzwütigen, warfst
- du einen Blick, einen lachenden, fragenden,
- schmelzenden Schaukelblick:
-
- zweimal nur regtest du deine Klapper mit
- kleinen Händen -- da schaukelte mein Fuß vor
- Tanzwut. --
-
- Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen
- horchten, dich zu verstehen: doch trägt der Tänzer
- sein Ohr -- in seinen Zehen!"
-
- (Zarathustra 2. u. 3. Teil. Die Tanzlieder.)
-
-
-
-
-29.
-
-Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle Antriebe seines
-Thuns entnimmt und keiner äußeren Macht gehorcht, ist er ein freier
-Geist. Denn ein freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur
-folgt. Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede von
-Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube, daß hier
-Nietzsche mit einem Namen eine Reihe von Antrieben zusammengefaßt hat,
-die eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern. Nietzsche
-nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren vorhandenen Triebe zur
-Ernährung und Selbsterhaltung, wie auch die höchsten Antriebe der
-menschlichen Natur, z. B. den Erkenntnistrieb, den Trieb, nach
-sittlichen Maßstäben zu handeln, den Trieb, sich an Kunstwerken zu
-ergötzen u. s. w. Nun sind zwar alle diese Triebe Äußerungsformen einer
-und derselben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene Stufen in
-der Entwickelung dieser Kraft dar. Die moralischen Antriebe z. B. sind
-eine besondere Stufe der Instinkte. Wenn auch zugegeben werden kann,
-daß sie nur höhere Formen sinnlicher Instinkte sind, so treten sie
-doch im Menschen auf eine besondere Art ins Dasein. Dies zeigt sich
-darin, daß es dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen, die
-nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurückzuführen sind, sondern
-nur auf jene Antriebe, die eben als höhere Formen des Instinktes zu
-bezeichnen sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Handelns,
-die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzuleiten sind, sondern
-nur aus dem bewußten Denken. Er setzt sich individuelle Zwecke vor,
-aber er setzt sich diese mit Bewußtsein vor. Und es ist ein großer
-Unterschied, ob er einem unbewußt entstandenen und erst hinterher in
-das Bewußtsein aufgenommenen Instinkte oder einem Gedanken folgt,
-den er von vornherein mit vollem Bewußtsein produziert hat. Wenn
-ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich drängt, so ist dies etwas
-wesentlich anderes, als wenn ich eine mathematische Aufgabe löse. Die
-denkende Erfassung der Welterscheinungen stellt eine besondere Form
-des allgemeinen Wahrnehmungsvermögens dar. Sie unterscheidet sich
-von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung. Dem Menschen sind nun die
-höheren Entwickelungsformen des Instinktlebens ebenso natürlich
-wie die niederen. Stehen beide nicht im Einklange, dann ist er zur
-Unfreiheit verurteilt. Es kann der Fall eintreten, daß eine schwache
-Persönlichkeit mit vollkommen gesunden sinnlichen Instinkten nur
-schwache geistige Instinkte hat. Dann wird sie zwar in Bezug auf ihr
-Sinnenleben ihre eigene Individualität entfalten, aber die gedanklichen
-Antriebe ihres Handelns wird sie aus dem Herkommen entlehnen. Es kann
-eine Disharmonie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen Triebe
-drängen zum Ausleben der eigenen Persönlichkeit, die geistigen Antriebe
-stehen in dem Banne einer äußern Autorität. Das Geistesleben einer
-solchen Persönlichkeit wird von den sinnlichen, das sinnliche Leben
-von den geistigen Instinkten tyrannisiert. Denn beide Gewalten gehören
-nicht zusammen, sind nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich
-freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund entwickeltes
-individuelles sinnliches Triebleben, sondern auch die Fähigkeit, sich
-die gedanklichen Antriebe für das Leben zu schaffen. Erst derjenige
-Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum
-Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern
-des Handelns zu schaffen, in meiner Schrift "Die Philosophie der
-Freiheit" (Weimar, Emil Felber 1894) die "moralische Phantasie"
-genannt. Nur wer diese moralische Phantasie hat, ist wirklich frei,
-denn der Mensch muß nach bewußten Triebfedern handeln. Und wenn er
-solche nicht selbst produzieren kann, dann muß er sich dieselben von
-äußeren Autoritäten oder von dem in Form der Gewissensstimme in ihm
-sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch, der sich bloß seinen
-sinnlichen Instinkten überläßt, handelt wie ein Tier; ein Mensch,
-der seine sinnlichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt
-unfrei; erst der Mensch, der sich selbst seine moralischen Ziele
-schafft, handelt frei. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches
-Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muß notwendig auf
-diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch eine unbedingte
-Notwendigkeit, daß dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung
-eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet
-werden: Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des Herkommens
-oder des "jenseitigen Willens", aber er ist ein Knecht seiner eigenen
-Instinkte.
-
-Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche, Eigenpersönliche im
-Menschen gerichtet. Er suchte dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus
-dem Mantel des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeindliche
-Weltanschauung eingehüllt hat. Aber er ist nicht dazu gekommen,
-die Stufen des Lebens innerhalb der Persönlichkeit selbst zu
-unterscheiden. Er hat deshalb die Bedeutung des Bewußtseins für die
-menschliche Persönlichkeit unterschätzt. "Die Bewußtheit ist die
-letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch
-das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen
-unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zu
-Grunde geht, früher als es nötig wäre, "über das Geschick", wie
-Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so
-überaus viel mächtiger, diente er nicht im ganzen als Regulator:
-an ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen,
-an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer
-Bewußtheit müßte die Menschheit zu Grunde gehen," sagt Nietzsche
-(Fröhliche Wissenschaft § 11).
-
-Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht minder wahr ist es, daß
-der Mensch nur insoweit frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern
-seines Handelns innerhalb des Bewußtseins schaffen kann.
-
-Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern führt aber noch weiter. Es
-ist eine Thatsache der Erfahrung, daß diese gedanklichen Triebfedern,
-die die Menschen aus sich heraus produzieren, bei den einzelnen
-Individuen doch bis zu einem gewissen Grade eine Übereinstimmung
-zeigen. Auch wenn der einzelne Mensch ganz frei aus sich heraus
-Gedanken schafft, so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken
-anderer Menschen überein. Daraus folgt für den Freien die Berechtigung,
-anzunehmen, daß die Harmonie in der menschlichen Gesellschaft von
-selbst eintritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er
-kann diese Meinung dem Verteidiger der Unfreiheit gegenüberstellen,
-der glaubt, daß die Handlungen einer Mehrheit von Menschen nur
-zusammenstimmen, wenn sie durch eine äußere Gewalt nach einem
-gemeinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist ist deshalb
-durchaus kein Anhänger jener Ansicht, welche die tierischen Triebe
-absolut frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb
-abschaffen will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen,
-die nicht bloß ihren tierischen Instinkten folgen wollen, sondern die
-imstande sind, moralische Triebfedern, ihr eigenes Gutes und Böses,
-zu schaffen.
-
-Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen hat, daß er die letzten
-Konsequenzen von dessen Weltanschauung zu ziehen vermag, trotzdem
-sie Nietzsche nicht selbst gezogen hat, kann in ihm einen Menschen
-sehen, der "mit einer gewissen stilistischen Wollust zu enthüllen
-den Mut gefunden hat, was bisher etwa im geheimsten Seelengrunde
-grandioser Verbrechertypen .... verborgen gelauert haben mag"
-(Ludwig Stein, Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren
-S. 5). Noch immer ist die Durchschnittsbildung eines deutschen
-Professors nicht so weit, das Große einer Persönlichkeit von deren
-kleinen Irrtümern abzutrennen. Sonst könnte man es nicht erleben,
-daß die Kritik eines solchen Professors gerade gegen diese kleinen
-Irrtümer sich richtet. Ich denke, wahrhafte Bildung nimmt das Große
-einer Persönlichkeit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt
-halbfertige Gedanken zu Ende.
-
-
-
-
-
-
-
-
-III.
-
-NIETZSCHES ENTWICKELUNGSGANG.
-
-
-30.
-
-Ich habe Nietzsches Ansichten vom Übermenschen so dargestellt, wie
-sie uns in seinen letzten Schriften: Zarathustra (1883-1884), Jenseits
-von Gut und Böse (1886), Genealogie der Moral (1887), Der Fall Wagner
-(1888), Götzendämmerung (1889) entgegentreten. In dem unvollendet
-gebliebenen Werke: "Der Wille zur Macht", Versuch einer Umwertung aller
-Werte, dessen erster Teil "Antichrist" im 8. Bande der Gesamtausgabe
-erschienen ist, hätten sie wohl ihren philosophisch prägnantesten
-Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im Anhange zu dem erwähnten
-Band abgedruckt ist, ist das deutlich zu erkennen. Sie heißt: 1. Der
-Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. 2. Der freie
-Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. 3. Der
-Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit,
-der Moral. 4. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.
-
-Nietzsche hat seine Gedanken nicht sogleich im Beginne seiner
-schriftstellerischen Laufbahn in der ihnen ureigensten Form zum
-Ausdruck gebracht. Er stand anfangs unter dem Einflusse des deutschen
-Idealismus, namentlich in der Form, in der ihn Schopenhauer und
-Richard Wagner vertreten haben. In Schopenhauerschen und Wagnerschen
-Formeln drückt er sich in seinen ersten Schriften aus. Wer aber durch
-dieses Formelwesen hindurch auf den Kern der Nietzscheschen Gedanken
-zu blicken vermag, der findet in diesen Schriften dieselben Absichten
-und Ziele, die in den späteren Werken zum Ausdruck kommen.
-
-Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht sprechen, ohne an den
-freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche Menschheit
-hervorgebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige Wahrheit,
-daß dieser Denker, der im vollsten Sinne dem entspricht, was Nietzsche
-von dem Übermenschen fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt
-worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts
-Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings nicht in solch
-gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in krystallklaren
-Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie
-ein bloßes Stammeln ausnehmen.
-
-Welchen Weg hätte Nietzsche genommen, wenn nicht Schopenhauer, sondern
-Max Stirner sein Erzieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist
-keinerlei Einfluß Stirners zu bemerken. Aus eigener Kraft mußte sich
-Nietzsche aus dem deutschen Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen
-gleichen Weltauffassung durchringen.
-
-Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, das die Triebkräfte
-des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, wirklichen
-Persönlichkeit gesucht werden können. Er lehnt alle Gewalten ab,
-die die Einzelpersönlichkeit von außen formen, bestimmen wollen. Er
-verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet den Grundirrtum der
-bisherigen Menschheit darin, daß sie nicht die Pflege und Kultur
-der individuellen Persönlichkeit, sondern andere, unpersönliche
-Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des
-Menschen darin, daß dieser allen solchen Zielen keine höhere Realität
-zugesteht, sondern sich dieser Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege
-bedient. Der freie Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt
-seine Ideale; er läßt sich nicht von ihnen besitzen. Der Mensch,
-der nicht als freie Persönlichkeit über seinen Idealen waltet, steht
-unter dem Einflusse derselben, wie der Irrsinnige, der an fixen Ideen
-leidet. Es ist für Stirner einerlei, ob sich der Mensch einbildet,
-der "König von China", oder ob "ein behaglicher Bürger sich einbildet,
-es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant,
-ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein --
-das ist beides ein und dieselbe 'fixe Idee'. Wer es nie versucht
-und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein
-tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein, der ist in der Gläubigkeit,
-Tugendhaftigkeit u. s. w. gefangen und befangen."
-
-Man braucht nur einige Sätze aus Stirners Buch: "Der Einzige und sein
-Eigentum" zu lesen, um zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der
-Nietzscheschen ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche an,
-die besonders bezeichnend für Stirners Denkweise sind.
-
-"Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein entgegengesetztes
-Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren,
-jene sucht den "heiligen Geist", diese den "verklärten Leib". Daher
-schließt jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der
-"Weltverachtung"; diese wird mit der Abwerfung des Idealen, mit der
-"Geistesverachtung" enden.
-
-Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht
-(die Waschungen u. s. w.), so geht der der Verleiblichung durch die
-christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will
-sie erlösen, d. h. mit sich erfüllen; da er aber "die Idee" oder "der
-Geist" ist, so führt man (z. B. Hegel) am Schlusse die Idee in alles,
-in die Welt, ein und beweist, "daß die Idee, die Vernunft in allem
-sei". Dem, was die heidnischen Stoiker als "den Weisen" aufstellten,
-entspricht in der heutigen Bildung "der Mensch", jener wie dieser
-ein fleischloses Wesen. Der unwirkliche "Weise", dieser leiblose
-"Heilige" der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher
-"Heiliger" in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche "Mensch",
-das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.
-
-Daß der Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen
-Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht über das Christliche
-hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie
-die Geschichte Christi oder "des Menschen" ist; dem Egoisten hat
-nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht
-die Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der
-Vorsehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht für ein
-Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf
-an, er wähnt nicht, zur Fortentwickelung der Menschheit dazusein,
-und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich
-aus, unbesorgt darum, wie gut oder wie schlecht die Menschheit
-dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverständnis zu, als sollte ein
-Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus "Drei Zigeuner"
-erinnern. -- Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um
-etwa zur Verwirklichung der Idee "Staat" durch mein Bürgertum das
-Meinige zu thun oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee
-der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht mich ein solcher
-Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach
-einem Berufe wächst und duftet.
-
-Das Ideal "der Mensch" ist realisiert, wenn die christliche
-Anschauung umschlägt in den Satz: "Ich, dieser Einzige, bin der
-Mensch." Die Begriffsfrage: "was ist der Mensch?" -- hat sich dann
-in die persönliche umgesetzt: "wer ist der Mensch?" Bei "was" suchte
-man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei "wer" ist's überhaupt
-keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich
-vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.
-
-Man sagt von Gott: "Namen nennen Dich nicht". Das gilt von Mir: kein
-Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angiebt,
-erschöpft mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott,
-er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu
-streben. Auch das gilt allein von Mir.
-
-Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich
-als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein
-schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere
-Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl
-meiner Einzigkeit und erbleicht vor der Sonne dieses Bewußtseins:
-Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf
-dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst
-verzehrt, und Ich darf sagen:
-
-"Ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt."
-
-Dieser auf sich sich selbst gestellte, nur aus sich heraus schaffende
-Eigner ist Nietzsches Übermensch.
-
-
-
-
-31.
-
-Diese Stirnerschen Gedanken wären das geeignete Gefäß gewesen, in das
-Nietzsche sein reiches Empfindungsleben hätte gießen können. Statt
-dessen suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, auf der
-er zu seiner Gedankenwelt hinaufkletterte.
-
-Aus zwei Wurzeln stammt, nach Schopenhauers Meinung, unsere gesamte
-Welterkenntnis. Aus dem Vorstellungsleben und aus der Wahrnehmung
-des Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt. Das "Ding
-an sich" liegt jenseits der Welt unserer Vorstellung. Denn die
-Vorstellung ist nur die Wirkung, die das "Ding an sich" auf mein
-Erkenntnisorgan ausübt. Nur die Eindrücke kenne ich, die die Dinge
-auf mich machen, nicht die Dinge selbst. Und diese Eindrücke sind
-eben meine Vorstellungen. Ich kenne keine Sonne und keine Erde,
-sondern nur ein Auge, das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine
-Erde fühlt. Der Mensch weiß nur: "daß die Welt, welche ihn umgiebt,
-nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein
-anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist". (Schopenhauer, Welt
-als Wille und Vorstellung § 1.) Aber der Mensch stellt die Welt nicht
-bloß vor, sondern er wirkt auch in ihr; er wird sich seines Willens
-bewußt, und er erfährt, daß dasjenige, welches er in sich als Wille
-empfindet, von außen als Bewegung seines Leibes wahrgenommen werden
-kann, d. h. der Mensch nimmt sein eigenes Wirken doppelt wahr, von
-innen als Vorstellung, von außen als Wille. Schopenhauer schließt
-daraus, daß es der Wille selbst ist, der in der wahrgenommenen
-Leibesaktion als Vorstellung erscheint. Und er behauptet dann weiter,
-daß nicht nur der Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen
-ein Wille zu Grunde liege, sondern daß dies auch bei allen übrigen
-Vorstellungen der Fall sei. Die ganze Welt ist also, nach Schopenhauers
-Ansicht, dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt als
-Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopenhauer weiter, ist in
-allen Dingen ein einheitlicher. Nur unser Intellekt verursacht,
-daß wir eine Mehrheit von besonderen Dingen wahrnehmen.
-
-Durch seinen Willen hängt der Mensch, nach dieser Anschauung, mit dem
-einheitlichen Weltwesen zusammen. Insofern der Mensch wirkt, wirkt in
-ihm der einheitliche Urwille. Als einzelne, besondere Persönlichkeit
-existiert der Mensch nur in seiner eigenen Vorstellung; im Wesen ist
-er identisch mit dem einheitlichen Weltengrunde.
-
-Nehmen wir an, daß in Nietzsche, als er die Schopenhauersche
-Philosophie kennen lernte, schon der Gedanke des Übermenschen unbewußt,
-instinktiv vorhanden war, so konnte ihn diese Willenslehre allerdings
-nur sympathisch berühren. In dem menschlichen Willen war ihm ein
-Element gegeben, das den Menschen unmittelbar an der Schöpfung des
-Weltinhaltes teilnehmen ließ. Als Wollender ist der Mensch nicht bloß
-ein außerhalb des Weltinhaltes stehender Zuschauer, der sich Bilder
-des Wirklichen macht, sondern er ist selbst ein Schaffender. In ihm
-waltet die göttliche Kraft, über die hinaus es keine andere giebt.
-
-
-
-
-32.
-
-Aus diesen Anschauungen heraus bildeten sich bei Nietzsche die beiden
-Ideen von der apollinischen und der dionysischen Weltbetrachtung. Sie
-wendete er auf das griechische Kunstleben an, das er demgemäß aus zwei
-Wurzeln entstehen ließ: aus einer Kunst des Vorstellens und einer Kunst
-des Wollens. Wenn der Vorstellende seine Vorstellungswelt idealisiert
-und seine idealisierten Vorstellungen in Kunstwerken verkörpert,
-so entsteht die apollinische Kunst. Er verleiht den einzelnen
-Vorstellungsobjekten dadurch, daß er ihnen die Schönheit einprägt,
-den Schein des Ewigen. Aber er bleibt innerhalb der Vorstellungswelt
-stehen. Der dionysische Künstler sucht nicht nur in seinen Kunstwerken
-die Schönheit auszudrücken, sondern er ahmt selbst das schöpferische
-Wirken des Weltwillens nach. Er sucht in seinen eigenen Bewegungen
-den Weltgeist abzubilden. Er macht sich zur sichtbaren Verkörperung
-des Willens. Er wird selbst Kunstwerk. "Singend und tanzend äußert
-sich der Mensch als Mitglied einer höhern Gemeinschaft: er hat das
-Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die
-Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung"
-(Geburt der Tragödie § 1). In diesem Zustande vergißt der Mensch sich
-selbst, er fühlt sich nicht mehr als Individuum, er läßt in sich den
-allgemeinen Weltwillen walten. In dieser Weise deutet Nietzsche die
-Feste, die zu Ehren des Gottes Dionysus durch die Dionysusdiener
-veranstaltet wurden. In dem Dionysusdiener sieht Nietzsche das
-Urbild des dionysischen Künstlers. Nun stellt er sich vor, daß
-die älteste dramatische Kunst der Griechen dadurch entstanden ist,
-daß eine höhere Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen
-sich vollzogen hat. Auf diese Weise erklärt er den Ursprung der
-ersten griechischen Tragödie. Er nimmt an, daß die Tragödie aus dem
-tragischen Chore entstanden ist. Der dionysische Mensch wird zum
-Zuschauer, zum Betrachter eines Bildes, das ihn selbst darstellt. Der
-Chor ist die Selbstspiegelung eines dionysisch erregten Menschen,
-d. h. der dionysische Mensch sieht seine dionysische Erregung durch ein
-apollinisches Kunstwerk abgebildet. Die Darstellung des Dionysischen
-im apollinischen Bilde ist die primitive Tragödie. Voraussetzung
-einer solchen Tragödie ist, daß in ihrem Schöpfer ein lebendiges
-Bewußtsein von dem Zusammenhang des Menschen mit den Urgewalten
-der Welt vorhanden ist. Ein solches Bewußtsein spricht sich als
-Mythus aus. Das Mythische muß der Gegenstand der ältesten Tragödie
-sein. Tritt nun in der Entwickelung eines Volkes der Zeitpunkt ein, wo
-der zersetzende Verstand das lebendige Gefühl für den Mythus zerstört,
-so ist der Tod des Tragischen die notwendige Folge.
-
-
-
-
-33.
-
-In der Entwickelung des Griechentums trat, nach Nietzsches Meinung,
-mit Sokrates dieser Zeitpunkt ein. Sokrates war ein Feind alles
-instinktiven, mit den Naturgewalten im Bunde stehenden Lebens. Er ließ
-nur dasjenige gelten, was der Verstand denkend zu beweisen vermag,
-was lehrbar ist. Damit war dem Mythus der Krieg erklärt. Und der von
-Nietzsche als Schüler des Sokrates bezeichnete Euripides zerstörte
-die Tragödie, weil sein Schaffen nicht mehr, wie das des Äschylos,
-aus den dionysischen Instinkten, sondern aus dem kritischen Verstande
-entsprang. Statt der Nachbildung der Willensbewegungen des Weltgeistes
-findet sich bei Euripides die verständige Verknüpfung einzelner
-Vorgänge innerhalb der tragischen Handlung.
-
-Ich frage nicht nach der historischen Rechtfertigung dieser
-Nietzscheschen Ideen. Er ist ihretwegen von einem klassischen
-Philologen scharf angegriffen worden. Nietzsches Beschreibung der
-griechischen Kultur läßt sich vergleichen mit der Schilderung, die ein
-Mensch von einer Landschaft giebt, die er von dem Gipfel eines Berges
-aus betrachtet; eine philologische Darstellung mit einer Beschreibung,
-die der Wanderer giebt, der jedes einzelne Fleckchen besucht. Von
-dem Berge aus verschiebt sich manches eben nach den Gesetzen der Optik.
-
-
-
-
-34.
-
-Was hier in Betracht kommt, ist die Frage: was für eine Aufgabe stellte
-sich Nietzsche in seiner "Geburt der Tragödie"? Nietzsche ist der
-Ansicht, daß die älteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut
-gekannt haben. "Es geht die alte Sage, daß König Midas lange Zeit
-nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt
-habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen
-ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und
-Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon,
-bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen
-in diese Worte ausbricht: "Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls
-Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht
-zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich
-gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu
-sein. Das Zweitbeste aber ist für dich -- bald zu sterben" (Geburt der
-Tragödie § 3). In dieser Sage findet Nietzsche eine Grundempfindung
-der Griechen ausgedrückt. Er hält es für eine Oberflächlichkeit,
-wenn man die Griechen als das beständig heitere, kindlich tändelnde
-Volk hinstellt. Aus der tragischen Grundempfindung heraus mußte den
-Griechen der Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Dasein
-erträglich wird. Sie suchten nach einer Rechtfertigung des Daseins --
-und fanden diese in ihrer Götterwelt und in der Kunst. Nur durch das
-Gegenbild der olympischen Götter und der Kunst wurde den Griechen
-die rauhe Wirklichkeit erträglich. Die Grundfrage in der "Geburt der
-Tragödie" ist also für Nietzsche: Inwiefern ist die griechische Kunst
-lebenfördernd, lebenerhaltend gewesen? Nietzsches Grundinstinkt macht
-sich somit in Bezug auf die Kunst als lebenfördernde Macht schon in
-diesem ersten Werke geltend.
-
-
-
-
-35.
-
-Noch ein anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in diesem Werke
-schon zu beobachten. Es ist die Abneigung gegen die bloß logischen
-Geister, deren Persönlichkeit vollständig unter der Herrschaft ihres
-Verstandes steht. Aus dieser Abneigung stammt Nietzsches Meinung,
-daß der sokratische Geist der Zerstörer der griechischen Kultur
-ist. Das Logische gilt Nietzsche nur als eine Form, in der sich
-die Persönlichkeit äußert. Wenn zu dieser Form nicht noch andere
-Äußerungsweisen treten, so erscheint die Persönlichkeit als Krüppel,
-als Organismus, an dem notwendige Organe verstümmelt sind. Weil
-Nietzsche in Kants Schriften nur den grübelnden Verstand entdecken
-konnte, nennt er Kant einen "verwachsenen Begriffskrüppel". Nur
-wenn die Logik der Ausdruck für die tieferen Grundinstinkte einer
-Persönlichkeit ist, läßt sie Nietzsche gelten. Sie muß ein Ausfluß
-des Über-Logischen in der Persönlichkeit sein. Nietzsche hat an der
-Ablehnung des sokratischen Geistes immer festgehalten. Wir lesen in
-der Götzendämmerung: "Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu
-Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird
-ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
-oben auf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die
-dialektischen Manieren ab; sie galten als schlechte Manieren,
-sie stellten bloß" (Problem des Sokrates § 5). Wo nicht kräftige
-Grundinstinkte für eine Sache sprechen, da tritt der beweisende
-Verstand ein und sucht sie durch Advokatenkünste zu stützen.
-
-
-
-
-36.
-
-Einen Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte Nietzsche in
-Richard Wagner zu erkennen. Er hat aus diesem Glauben heraus die
-vierte seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen": "Richard Wagner in
-Bayreuth", 1875, geschrieben. Er hielt in dieser Zeit noch an der
-Deutung des dionysischen Geistes fest, die er sich in Gemäßheit
-der Schopenhauerschen Philosophie gebildet hatte. Er glaubte noch,
-daß die Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung sei und jenseits
-dieser Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in Form des Urwillens
-liege. Und der schaffende dionysische Geist war ihm noch nicht der
-aus sich heraus schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in
-dem Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden Urwillens, von
-einem an diesen Urwillen hingegebenen dionysischen Geiste geschaffen,
-waren ihm Wagners Musikdramen.
-
-Und da Schopenhauer in der Musik ein unmittelbares Abbild des Willens
-sah, so glaubte auch Nietzsche in der Musik das beste Ausdrucksmittel
-für einen dionysisch schaffenden Geist sehen zu sollen. Die Sprache
-der civilisierten Völker schien ihm erkrankt. Sie kann nicht mehr der
-schlichte Ausdruck der Gefühle sein, denn die Worte mußten allmählich
-immer mehr dazu verwendet werden, der Ausdruck für die zunehmende
-Verstandesbildung der Menschen zu werden. Dadurch aber ist die
-Bedeutung der Worte abstrakt, arm geworden. Sie können nicht mehr
-ausdrücken, was der aus dem Urwillen heraus schaffende dionysische
-Geist empfindet. Dieser kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr
-aussprechen. Er muß andere Ausdrucksmittel, vor allem die Musik, aber
-auch die anderen Künste zu Hilfe rufen. Der dionysische Geist wird
-zum dithyrambischen Dramatiker, "diesen Begriff so voll genommen, daß
-er zugleich den Schauspieler, Dichter, Musiker umfaßt". "Wie man sich
-nun auch die Entwickelung des Urdramatikers vorstellen möge, in seiner
-Reife und Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede Hemmung und Lücke:
-der eigentlich freie Künstler, der gar nicht anders kann, als in allen
-Künsten zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen scheinbar
-getrennten Sphären, der Wiederhersteller einer Ein- und Gesamtheit des
-künstlerischen Vermögens, welches gar nicht erraten und erschlossen,
-sondern nur durch die That gezeigt werden kann" (Richard Wagner in
-Bayreuth § 7). Als dionysischen Geist verehrte Nietzsche Richard
-Wagner. Und nur in dem von Nietzsche in der eben genannten Schrift
-angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist bezeichnet
-werden. Seine Instinkte sind auf das Jenseits gerichtet; er will
-die Stimme des Jenseits durch seine Musik erklingen lassen. Ich habe
-bereits (S. 81 f.) darauf hingewiesen, daß sich Nietzsche später selbst
-fand und imstande war, seine auf das Diesseits gerichteten Instinkte
-in ihrer Eigenart zu erkennen. Er hatte ursprünglich die Wagnersche
-Kunst mißverstanden, weil er sich selbst mißverstanden hatte, weil
-er seine Instinkte durch die Schopenhauersche Philosophie hatte
-tyrannisieren lassen. Wie ein Krankheitsprozeß erschien ihm später
-diese Unterordnung seiner Instinkte unter eine fremde Geistesmacht. Er
-fand, daß er auf seine Instinkte nicht gehört hatte und sich durch
-eine ihm unangemessene Meinung hatte verführen lassen, eine Kunst auf
-diese Instinkte wirken lassen, die ihnen nur zum Nachteil gereichen
-konnte, die sie krank machen mußte.
-
-
-
-
-37.
-
-Nietzsche hat den Einfluß, den die seinen Grundtrieben widersprechende
-Schopenhauersche Philosophie auf ihn genommen, selbst geschildert
-in seiner dritten "Unzeitgemäßen Betrachtung", "Schopenhauer als
-Erzieher" (1873), zu einer Zeit, als er noch an diese Philosophie
-glaubte. Nietzsche suchte einen Erzieher. Der rechte Erzieher kann nur
-der sein, der auf den zu Erziehenden so wirkt, daß dessen innerster
-Wesenskern sich aus der Persönlichkeit heraus entwickelt. Auf jeden
-Menschen wirkt seine Zeit mit ihren Kulturmitteln ein. Er nimmt auf,
-was die Zeit an Bildungsstoff bietet. Aber es frägt sich, wie er sich
-inmitten dieses von außen auf ihn Eindringenden selbst finden kann;
-wie er das aus sich herausspinnen kann, was er und nur er und kein
-anderer sein kann. "Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören
-will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge
-seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ""sei du selbst! Das bist du
-alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst"", so spricht
-der Mensch zu sich, der eines Tages findet, daß er sich immer nur
-damit begnügt hat, Bildungsstoff von außen aufzunehmen (Schopenhauer
-als Erzieher § 1). Nietzsche fand sich selbst, wenn auch zunächst
-noch nicht in seiner ihm ureigensten Gestalt, durch das Studium der
-Schopenhauerschen Philosophie. Nietzsche strebte unbewußt danach,
-einfach und ehrlich seinen Grundtrieben gemäß sich auszusprechen. Er
-fand um sich nur Menschen, die in den Bildungsformeln der Zeit sich
-ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch diese Formeln verhüllten. In
-Schopenhauer fand Nietzsche aber einen Menschen, der den Mut hatte,
-seine persönlichen Empfindungen der Welt gegenüber zum Inhalte seiner
-Philosophie zu machen: "Das kräftige Wohlgefühl des Sprechenden"
-umfing Nietzsche beim ersten Lesen von Schopenhauers Sätzen. "Hier
-ist eine immer gleichartige, stärkende Luft, so fühlen wir; hier ist
-eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlichkeit, wie sie
-Menschen haben, die in sich zu Hause und zwar in einem sehr reichen
-Hause Herren sind: im Gegensatze zu jenen Schriftstellern, die sich am
-meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren, und deren Vortrag
-dadurch etwas Unruhiges und Naturwidriges bekommt." "Schopenhauer
-redet mit sich; oder wenn man sich durchaus einen Zuhörer denken
-will, so denke man sich den Sohn, den der Vater unterweist. Es ist
-ein redliches, derbes, gutmütiges Aussprechen vor einem Hörer, der
-mit Liebe hört" (Schopenhauer § 2). Daß er einen Menschen, der sich
-seinen innersten Instinkten gemäß ausspricht, reden hörte, das war es,
-was Nietzsche zu Schopenhauer hinzog.
-
-Nietzsche sah in Schopenhauer eine starke Persönlichkeit, die nicht
-durch die Philosophie in einen bloßen Verstandesmenschen umgewandelt
-wird, sondern die das Logische nur zum Ausdrucke des Überlogischen,
-des Instinktiven in sich macht. "Die Sehnsucht nach starker Natur, nach
-gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich
-selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, mußte er auch,
-mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken" (Schopenhauer §
-3). In Nietzsches Geist arbeitete schon damals das Streben nach der
-Idee des Übermenschen, der sich selbst sucht, als den Sinn seines
-Daseins, und einen solchen Suchenden fand er in Schopenhauer. In
-solchen Menschen sieht er den Zweck und zwar den einzigen Zweck des
-Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem Ziele angekommen
-zu sein, wenn sie einen solchen Menschen hervorgebracht hat. "Die
-Natur, die nie springt, macht hier ihren einzigen Sprung und zwar
-einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum erstenmal am Ziele,
-dort nämlich, wo sie begreift, daß sie verlernen müsse, Ziele zu
-haben." (Schopenh. § 5.) In diesem Satze liegt der Keim zur Konzeption
-des Übermenschen. Nietzsche wollte, als er diesen Satz niederschrieb,
-schon genau dasselbe, was er später mit seinem Zarathustra wollte;
-aber ihm fehlte noch die Kraft, dieses Wollen in einer eigenen Sprache
-auszusprechen. Er sah schon, als er sein Schopenhauerbuch schrieb,
-den Grundgedanken der Kultur in der Erzeugung des Übermenschen.
-
-
-
-
-38.
-
-In der Entwickelung der persönlichen Instinkte der Einzelmenschen sieht
-also Nietzsche das Ziel aller menschlichen Entwickelung. Was dieser
-Entwickelung entgegenarbeitet, erscheint ihm als die eigentlichste
-Versündigung an der Menschheit. Es giebt aber etwas im Menschen, das
-auf ganz natürliche Weise seiner freien Entwickelung widerstrebt. Der
-Mensch läßt sich nicht allein durch die in jedem einzelnen Augenblicke
-in ihm thätigen Triebe bestimmen, sondern auch durch alles das, was
-in seinem Gedächtnisse sich angesammelt hat. Der Mensch erinnert
-sich an seine eigenen Erlebnisse, er sucht sich ein Bewußtsein
-der Erlebnisse seines Volkes, Stammes, ja der ganzen Menschheit
-durch den Betrieb der Geschichte zu verschaffen. Der Mensch ist ein
-historisches Wesen. Die Tiere leben unhistorisch; sie folgen den
-Trieben, die in dem einzelnen Augenblicke in ihnen wirken. Der Mensch
-läßt sich durch seine Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas
-unternehmen will, frägt er sich: welche Erfahrungen habe ich oder ein
-anderer mit einem ähnlichen Unternehmen schon gemacht? Der Antrieb zu
-einer Handlung kann durch die Erinnerung an ein Erlebnis vollständig
-abgetötet werden. Für Nietzsche entsteht aus der Beobachtung dieser
-Thatsache die Frage: inwiefern wirkt das Erinnerungsvermögen des
-Menschen auf sein Leben fördernd, und inwiefern wirkt es nachteilig
-ein? Die Erinnerung, die auch Dinge zu umfassen sucht, die der Mensch
-nicht selbst erlebt hat, lebt als historischer Sinn, als Studium des
-Vergangenen in dem Menschen. Nietzsche fragt: inwiefern wirkt der
-historische Sinn lebenfördernd? Die Antwort auf diese Frage sucht er
-zu geben in seiner zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung": "Vom Nutzen
-und Nachteil der Historie für das Leben" (1843). Die Veranlassung zu
-dieser Schrift war Nietzsches Wahrnehmung, daß der historische Sinn bei
-seinen Zeitgenossen, namentlich bei den Gelehrten unter denselben, ein
-hervorstechendes Charaktermerkmal geworden war. Die Vertiefung in die
-Vergangenheit fand Nietzsche überall gepriesen. Nur durch Erkenntnis
-der Vergangenheit soll der Mensch imstande sein, zu unterscheiden,
-was ihm möglich, was ihm unmöglich ist: dieses Glaubensbekenntnis
-drang ihm in die Ohren. Nur wer weiß, wie sich ein Volk entwickelt
-hat, kann ermessen, was für seine Zukunft förderlich ist: diesen Ruf
-hörte Nietzsche. Ja selbst die Philosophen wollten nicht mehr Neues
-erdenken, sondern lieber die Gedanken ihrer Vorfahren studieren. Dieser
-historische Sinn wirkt lähmend auf das gegenwärtige Schaffen. Wer bei
-jedem Impuls, der sich in ihm regt, erst zu bestimmen sucht, wozu ein
-ähnlicher Impuls in der Vergangenheit geführt hat, in dem erschlaffen
-die Kräfte, bevor sie gewirkt haben. "Denkt euch das äußerste Beispiel,
-einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der
-verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht
-mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in
-bewegte Punkte auseinander fließen und verliert sich in diesem Strome
-des Werdens. ... Zu allem Handeln gehört Vergessen, wie zum Leben alles
-Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch,
-der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich,
-der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen wäre, oder dem Tiere,
-das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen fortleben
-sollte" (Historie § 1). Nietzsche ist der Meinung, daß der Mensch nur
-so viel Geschichte vertragen kann, als dem Maße seiner schöpferischen
-Kräfte entspricht. Die starke Persönlichkeit führt ihre Intentionen
-aus, trotzdem sie sich an die Erlebnisse der Vergangenheit erinnert,
-ja sie wird vielleicht gerade durch die Erinnerung an diese Erlebnisse
-eine Stärkung ihrer Kraft erfahren. Die Kräfte des schwachen Menschen
-aber werden durch den historischen Sinn ausgelöscht. Um den Grad
-zu bestimmen und durch ihn dann die Grenze, "an der das Vergangene
-vergessen werden muß, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen
-werden soll, müßte man genau wissen, wie groß die plastische Kraft
-eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist, ich meine jene Kraft,
-aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes
-umzubilden und einzuverleiben" (Historie § 1).
-
-Nietzsche ist der Ansicht, daß das Historische nur insofern
-gepflegt werden soll, als es für die Gesundheit eines Einzelnen,
-eines Volkes oder einer Kultur nötig ist. Worauf es ihm ankommt,
-ist: "besser lernen, Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben"
-(Historie § 1). Er spricht dem Menschen das Recht zu, die Geschichte
-so zu treiben, daß sie möglichst zur Förderung der Antriebe einer
-bestimmten Gegenwart wirkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist er
-ein Gegner jener Geschichtsbetrachtung, die nur in der "historischen
-Objektivität" ihr Heil sucht, die nur sehen und erzählen will, wie es
-in der Vergangenheit "thatsächlich" zugegangen ist, die nur die "reine,
-folgenlose" Erkenntnis oder deutlicher "die Wahrheit, bei der nichts
-herauskommt", sucht (Historie § 6). Eine solche Betrachtung kann nur
-aus einer schwachen Persönlichkeit entspringen, deren Empfindungen
-nicht flut- und ebbeartig auf- und abwogen, wenn sie den Strom der
-Ereignisse an sich vorübergehen sieht. Eine solche Persönlichkeit
-"ist zum nachtönenden Passivum geworden, das durch sein Ertönen
-wieder auf andere derartige Passiva wirkt: bis endlich die ganze
-Luft einer Zeit von solchen durcheinander schwirrenden zarten und
-verwandten Nachklängen erfüllt ist." (Historie § 6.) Daß aber eine
-solche schwache Persönlichkeit wirklich die Kräfte nachempfinden
-kann, die in den Menschen der Vergangenheit gewaltet haben, glaubt
-Nietzsche nicht: "Doch scheint es mir, daß man gleichsam nur die
-Obertöne jedes originalen und geschichtlichen Haupttons vernimmt:
-das Derbe und Mächtige des Originals ist aus dem sphärisch-dünnen
-und spitzen Saitenklange nicht mehr zu erraten. Dafür weckte der
-Originalton meistens Thaten, Nöte, Schrecken, dieser lullt uns
-ein und macht uns zu weichlichen Genießern; es ist, als ob man die
-heroische Symphonie für zwei Flöten eingerichtet und zum Gebrauch
-von träumenden Opiumrauchern bestimmt habe." (Historie § 6.) Nur der
-kann die Vergangenheit wirklich verstehen, der auch in der Gegenwart
-machtvoll lebt, der kräftige Instinkte hat, durch die er die Instinkte
-der Vorfahren erraten und erschließen kann. Dieser kümmert sich
-weniger um das Thatsächliche, als um das, was aus den Thatsachen
-sich erraten läßt. "Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die
-keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch
-im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch machen
-dürfte." (Historie § 6.) Der Meister einer solchen Geschichtsschreibung
-wäre der, der überall in den historischen Personen und Ereignissen
-das aufsuchte, was hinter dem bloß Thatsächlichen steckt. Dazu muß
-er aber ein mächtiges Eigenleben führen, denn Instinkte und Triebe
-kann man unmittelbar nur an der eigenen Person beobachten. "Nur aus
-der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur
-in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr
-erraten, was in dem Vergangenen wissens- und bewahrenswürdig und groß
-ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch
-nieder." "Alle Geschichte schreibt der Erfahrene und Überlegene. Wer
-nicht einiges größer und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts
-Großes und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen." (Historie
-§ 6.)
-
-Dem Überhandnehmen des historischen Sinnes in der Gegenwart gegenüber
-macht Nietzsche geltend, "daß der Mensch vor allem zu leben lerne, und
-nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche". (Historie
-§ 10.) Er will vor allen Dingen eine "Gesundheitslehre des Lebens",
-und die Historie soll nur insoweit getrieben werden, als sie einer
-solchen Gesundheitslehre förderlich ist.
-
-Was ist an der Geschichtsbetrachtung lebenfördernd? Diese Frage stellt
-Nietzsche in seiner "Historie", und er steht damit bereits auf dem
-Boden, den er in dem S. 9 f. angeführten Satz aus "Jenseits von Gut
-und Böse" bezeichnet.
-
-
-
-
-39.
-
-In besonders starkem Grade wirkt der gesunden Entwickelung der
-Eigenpersönlichkeit jene Gesinnung entgegen, die in dem bürgerlichen
-Philister zur Erscheinung kommt. Ein Philister ist der Gegensatz zu
-einem Menschen, der in dem freien Ausleben seiner Anlagen Befriedigung
-findet. Der Philister will dieses Ausleben nur insoweit gelten
-lassen, als es einem gewissen Durchschnittsmaß der menschlichen
-Begabung entspricht. So lange der Philister innerhalb seiner Grenzen
-bleibt, ist gegen ihn nichts einzuwenden. Wer ein Durchschnittsmensch
-bleiben will, der hat das mit sich abzumachen. Nietzsche fand unter
-seinen Zeitgenossen solche, die ihre philisterhafte Gesinnung
-zur Normalgesinnung für alle Menschen machen wollten, die ihre
-Philisterhaftigkeit als das einzige, wahre Menschentum ansahen. Zu
-ihnen rechnet er Dav. Friedr. Strauß, den Ästhetiker Friedr. Theodor
-Vischer u. A. Vischer, glaubt er, habe das Philisterbekenntnis
-unumwunden abgelegt in einer Rede, die er zum Andenken Hölderlins
-gehalten hat. Er sieht es in den Worten: "Er (Hölderlin) war
-eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands,
-ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und
-Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Leben, Fülle und
-Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur
-hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der
-Humor; er konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist,
-wenn man ein Philister ist." (David Strauß § 2.) Der Philister will
-hervorragenden Menschen nicht geradezu die Existenzberechtigung
-absprechen; aber er meint: sie gehen an der Wirklichkeit zu Grunde,
-wenn sie sich nicht abzufinden wissen mit den Einrichtungen, die
-der Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen entsprechend geschaffen
-hat. Diese Einrichtungen seien einmal das Einzige, was wirklich,
-was vernünftig ist, und in sie müsse sich auch der große Mensch
-fügen. Aus dieser Philistergesinnung heraus hat David Strauß sein Buch
-"Der alte und der neue Glaube" geschrieben. Gegen dieses Buch oder
-vielmehr gegen die in ihm zum Ausdruck gekommene Gesinnung wendet
-sich die erste der Nietzscheschen "Unzeitgemäßen Betrachtungen":
-"David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller" (1873). Der Eindruck
-der neueren naturwissenschaftlichen Errungenschaften auf den Philister
-ist ein solcher, daß er sagt: "Der christliche Ausblick auf ein
-unsterbliches, himmlisches Leben ist, samt den andern Tröstungen
-der christlichen Religion, unrettbar dahingefallen." (David Strauß §
-4.) Er will sich das Leben auf der Erde gemäß den Vorstellungen der
-Naturwissenschaft behaglich, d. h. so behaglich, wie es dem Philister
-entspricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man glücklich
-und zufrieden sein kann, trotzdem man weiß, daß kein höherer Geist
-über den Sternen waltet, sondern die starren, gefühllosen Kräfte der
-Natur über alles Weltgeschehen herrschen. "Wir haben während der
-letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem großen nationalen
-Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir finden uns
-durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unserer
-vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständnis dieser
-Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst
-einer Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke
-auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere
-Naturerkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen
-Hülfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in
-den Schriften unserer großen Dichter, bei den Aufführungen der
-Werke unserer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für
-Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig läßt. So leben wir,
-so wandeln wir beglückt." (Strauß, Der alte und neue Glaube § 88.)
-
-Es ist das Evangelium des trivialsten Lebensgenusses, das aus diesen
-Worten spricht. Alles, was über das Triviale hinausgeht, nennt der
-Philister ungesund. Strauß sagt von der "Neunten Symphonie" Beethovens,
-daß diese nur bei denen beliebt sei, welchen "das Barocke als das
-Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt" (Der alte und neue
-Glaube § 109); von Schopenhauer weiß der Messias des Philistertums
-zu verkünden, daß man an eine so "ungesunde und unersprießliche"
-Philosophie wie die Schopenhauersche keine Gründe, sondern höchstens
-nur Worte und Scherze verschwenden dürfe. (David Strauß § 6.) Gesund
-nennt der Philister nur das, was der Durchschnittsbildung entspricht.
-
-Als sittliches Urgebot stellt Strauß den Satz auf: "Alles sittliche
-Handeln ist ein Sichbestimmen des Einzelnen, nach der Idee der
-Gattung." (Der alte und neue Glaube § 74.) Nietzsche erwidert
-darauf: "Ins Deutliche und Greifbare übertragen heißt das nur:
-lebe als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser Imperativ
-ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraftlos, weil unter dem
-Begriff Mensch das Mannigfaltigste zusammen im Joche geht, z. B. der
-Patagonier und der Magister Strauß, und weil niemand wagen wird,
-mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: lebe als
-Magister Strauß!" (Dav. Strauß § 7.)
-
-Es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal jämmerlichster Art, das Strauß
-den Menschen vorsetzen will. Und Nietzsche protestiert dagegen; er
-protestiert, weil in ihm ein lebhafter Instinkt ruft: lebe nicht,
-wie der Magister Strauß, sondern lebe, wie es dir angemessen ist!
-
-
-
-
-40.
-
-Erst in der Schrift: "Menschliches, Allzumenschliches" (1878) erscheint
-Nietzsche frei von dem Einflusse der Schopenhauerschen Denkweise. Er
-hat es aufgegeben, übernatürliche Ursachen für die natürlichen
-Ereignisse zu suchen; er strebt nach natürlichen Erklärungsgründen. Er
-sieht jetzt alles Menschenleben als eine Art natürlichen Geschehens an;
-in dem Menschen sieht er das höchste Naturprodukt. Man lebt "zuletzt
-unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe,
-Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem
-man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und
-würde die Anstachelung des Gedankens, daß man nicht nur Natur oder mehr
-als Natur sei, nicht weiter empfinden ..... es muß ein Mensch, von dem
-in solchem Maße die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind,
-daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf alles,
-ja fast auf alles, was bei den anderen Menschen Wert hat, ohne Neid und
-Verdruß verzichten können; ihm muß als der wünschenswerteste Zustand
-jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und
-den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen." (Menschliches I. §
-84.) Nietzsche hat bereits allen Glauben an Ideale aufgegeben; er sieht
-in den menschlichen Handlungen nur noch Folgen natürlicher Ursachen,
-und in dem Erkennen dieser Ursachen findet er seine Befriedigung. Er
-findet, daß man eine unrichtige Vorstellung von den Dingen bekommt,
-wenn man bloß das an ihnen sieht, was von dem Lichte der idealistischen
-Erkenntnis beleuchtet wird. Es entgeht einem dann das, was von den
-Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will jetzt nicht nur die Sonnen-,
-sondern auch die Schattenseite der Dinge kennen lernen. Aus diesem
-Streben ging die Schrift: "Der Wanderer und sein Schatten" hervor
-(1879). Er will in diesem Buche die Erscheinungen des Lebens von allen
-Seiten erfassen. Er ist "Wirklichkeitsphilosoph" im besten Sinne des
-Wortes geworden.
-
-In der "Morgenröte" (1881) schildert er den moralischen Prozeß in der
-Menschheitsentwickelung als einen Naturvorgang. Schon in dieser Schrift
-zeigt er, daß es keine überirdische sittliche Weltordnung, keine
-ewigen Gesetze des Guten und Bösen giebt, und daß alle Sittlichkeit
-entsprungen ist aus den in den Menschen waltenden natürlichen Trieben
-und Instinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den originellen
-Wandergang Nietzsches. Wenn keine außermenschliche Macht dem Menschen
-eine bindende Verpflichtung auferlegen kann, dann ist er berechtigt,
-das eigene Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis ist das
-Leitmotiv der "fröhlichen Wissenschaft" (1882). Keine Fessel ist nun
-dieser "freien" Erkenntnis Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich
-berufen, neue Werte zu schaffen, nachdem er den Ursprung der alten
-erkannt und gefunden hat, daß sie nur menschliche, keine göttlichen
-Werte sind. Er wagt es jetzt, das zu verwerfen, was seinen Instinkten
-widerspricht, und anderes an die Stelle zu setzen, was seinen
-Trieben gemäß ist: "Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen,
-wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft -- wir bedürfen zu
-einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen
-Gesundheit, einer stärkeren, gewitzteren, zäheren, verwegeneren,
-lästigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach
-dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten
-erlebt und alle Künste dieses idealischen "Mittelmeeres" umschifft zu
-haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrungen wissen will,
-wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Mute ist ... der
-hat zu allererst Eins nötig, die große Gesundheit .... Und nun,
-nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des
-Ideals, mutiger vielleicht, als klug ist ... will es uns scheinen,
-als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben
-.... Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem
-solchen Heißhunger in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen
-Menschen genügen lassen!" (Fröhliche Wissenschaft § 382.)
-
-
-
-
-41.
-
-Aus der in den vorstehenden Sätzen charakterisierten Stimmung heraus
-erwuchs Nietzsche das Bild seines Übermenschen. Es ist das Gegenbild
-des Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild des Christen. Im
-Christentum ist der Widerspruch gegen die Pflege des starken Lebens
-Religion geworden. (Antichrist § 5.) Der Stifter dieser Religion
-lehrte: daß vor Gott das verächtlich ist, was vor den Menschen
-Wert hat. In dem "Gottesreich" will der Christ alles verwirklicht
-finden, was ihm auf Erden mangelhaft erscheint. Das Christentum ist
-die Religion, die dem Menschen alle Sorge für das irdische Leben
-benehmen will; es ist die Religion der Schwachen, die sich gerne als
-Gebot vorsetzen lassen: "Widerstrebe nicht dem Bösen und dulde alles
-Ungemach", weil sie nicht stark genug sind zum Widerstande. Der Christ
-hat keinen Sinn für die vornehme Persönlichkeit, die aus ihrer eigenen
-Wirklichkeit ihre Kraft schöpfen will. Er glaubt, der Blick für das
-Menschenreich verderbe die Sehkraft für das Gottesreich. Auch die
-vorgeschritteneren Christen, die nicht mehr glauben, daß sie am Ende
-der Tage in ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen werden, um
-entweder in das Paradies aufgenommen oder in die Hölle verstoßen zu
-werden, träumen von "göttlicher Vorsehung", von einer "übersinnlichen"
-Ordnung der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, daß sich der Mensch
-über seine bloß irdischen Ziele erheben und in ein ideales Reich
-einfügen müsse. Sie glauben, daß das Leben einen rein geistigen
-Hintergrund habe, und daß es erst dadurch einen Wert erhalte. Nicht
-die Instinkte für Gesundheit, Schönheit, Wachstum, Wohlgeratenheit,
-Dauer, für Häufung von Kräften will das Christentum pflegen, sondern
-den Haß gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das
-Selbstvertrauen und die Freiheit des Geistes, den Haß gegen die Freuden
-der sinnlichen Welt, gegen die Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit,
-in der der Mensch lebt. (Antichrist § 21.) Das Christentum bezeichnet
-das Natürliche geradezu als "verwerflich". Im christlichen Gotte
-ist ein jenseitiges Wesen, d. h. ein Nichts vergöttlicht, es ist
-der Wille zum Nichts heilig gesprochen. (Antichrist § 18.) Deshalb
-bekämpft Nietzsche im ersten Buche seiner "Umwertung aller Werte"
-das Christentum. Und er wollte im zweiten und dritten Buche auch
-die Philosophie und Moral der Schwachen bekämpfen, die sich nur in
-der Rolle von Abhängigen wohlgefallen. Weil der Typus des Menschen,
-den Nietzsche gezüchtet sehen will, das diesseitige Leben nicht
-gering schätzt, sondern dieses Leben mit Liebe umfaßt und es zu hoch
-stellt, um glauben zu können, daß es nur einmal gelebt werden solle,
-deshalb ist er nach "der Ewigkeit brünstig" (Zarathustra, 3. Teil,
-die sieben Siegel) und möchte, daß dieses Leben unendlich oft gelebt
-werden könne. Nietzsche läßt seinen "Zarathustra" den "Lehrer der
-ewigen Wiederkunft" sein. "Siehe, wir wissen ....., daß alle Dinge ewig
-wiederkehren und wir selber mit, und daß wir schon ewige Male dagewesen
-sind, und alle Dinge mit uns." (Zarath. 3. Teil, der Genesende.) Eine
-bestimmte Meinung darüber zu haben, welche Vorstellung Nietzsche mit
-dem Worte "ewige Wiederkunft" verknüpfte, scheint mir gegenwärtig
-nicht möglich zu sein. Man wird darüber erst Genaueres sagen können,
-wenn die Aufzeichnungen Nietzsches zu den unvollendeten Teilen seines
-"Willens zur Macht" in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner
-Werke vorliegen werden.
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-End of the Project Gutenberg EBook of Friedrich Nietzsche, by Rudolf Steiner
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRIEDRICH NIETZSCHE ***
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