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-The Project Gutenberg EBook of Die Klerisei, by Nikolaus Leskow
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Die Klerisei
-
-Author: Nikolaus Leskow
-
-Translator: Arthur Luther
-
-Release Date: December 18, 2016 [EBook #53757]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KLERISEI ***
-
-
-
-
-Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net
-
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-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-
- Das Original ist in Fraktur gesetzt.
-
- Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+.
-
- Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so markiert~.
-
- Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des
- Buches.
-
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-
- Nikolaus Leskow
-
- Die Klerisei
-
- Roman
-
- Kurt Wolff Verlag
-
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-
-
- Deutsche Übertragung von Arthur Luther.
-
- Copyright 1919 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig.
-
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-Erstes Buch.
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-
-Erstes Kapitel.
-
-
-Die Leute, deren Leben und Treiben diese Erzählung schildern soll,
-sind die Bewohner der Dompfarrei von Stargorod: der Propst Sawelij
-Tuberozow, der Pfarrer Zacharia Benefaktow und der Diakon Achilla
-Desnitzyn. Ihre Jugendjahre, sowie auch ihre Kindheit lassen wir
-unberührt. Will der Leser sie vor sich sehn, wie unsere Geschichte
-sie faßt, so muß er sich das Haupt der Stargoroder Geistlichkeit,
-den Propst Sawelij Tuberozow, als Mann vorstellen, der die Sechzig
-bereits überschritten hat. Vater Tuberozow ist hochgewachsen und von
-stattlicher Leibesfülle, aber noch sehr rüstig und beweglich. Dasselbe
-gilt von seinen Geisteskräften: auf den ersten Blick erkennt man, daß
-er sich alle Glut des Herzens und alle Energie der Jugend bewahrt hat.
-Seinen auffallend schönen Kopf ist man versucht, als Urbild männlicher
-Schönheit zu betrachten. Tuberozows Haar ist dicht, wie die Mähne
-eines gewaltigen Löwen, und weiß, wie die Locken des Zeus von Phidias.
-Es türmt sich malerisch als mächtiger Schopf über der hohen Stirn
-und fällt in drei großen Wellen nach rückwärts, ohne die Schultern
-zu erreichen. In dem langen zweigeteilten Bart des Propstes und in
-dem kleinen Schnurrbart, der bei den Mundwinkeln mit dem Bart in eins
-zusammenfließt, blitzen hie und da noch ein paar schwarze Haare auf,
-welche dem Bart das Aussehen von schwarz emailliertem Silber geben. Die
-Brauen dagegen sind ganz schwarz. In zwei steilgebogenen ~S~-Linien
-vereinigen sie sich über dem Rücken seiner ziemlich großen und
-fleischigen Nase. Die Augen sind braun, groß, kühn und klar. Sie haben
-es ein ganzes Menschenleben lang verstanden, der Spiegel eines regen
-und starken Geistes zu sein. Wer dem Propste nahestand, sah sie von
-freudiger Begeisterung durchstrahlt, von Schmerz umnebelt, in Tränen
-der Rührung gebadet. Mitunter flammte in ihnen das Feuer der Entrüstung
-und sie sprühten Funken des Zorns, keines eiteln, rechthaberischen
-Zornes, sondern des Zornes eines bedeutenden Mannes. Aus diesen Augen
-leuchtete die gerade und ehrliche Seele des Propstes Sawelij, die er in
-seiner christlichen Zuversicht unsterblich glaubte.
-
-Zacharia Benefaktow, der zweite Pfarrer am Stargoroder Dom, ist ein
-Wesen ganz anderer Art. Seine Person ist die verkörperte Sanftmut und
-Milde. Wie sein bescheidener Geist sich in keiner Weise hervorzutun
-begehrt, so nimmt auch sein winziger Leib nur ganz wenig Platz weg, als
-wäre es ihm peinlich, die Erde allzusehr zu beschweren. Er ist klein,
-mager, schmächtig und kahlköpfig. Zwei kleine Löckchen graugelber Haare
-flattern nur noch über seinen Ohren. An Stelle eines Bartes scheint dem
-Vater Zacharia am Kinn ein Stückchen Schwamm zu kleben. Er hat winzige
-Kinderhände, die er immer in den Taschen seines Leibrocks verbirgt.
-Seine Beinchen sind dünn und schwach, wie Strohhalme, überhaupt
-erscheint der ganze Mann wie aus Stroh geflochten. Seine herzensguten,
-grauen Äuglein sind äußerst beweglich, aber sie werden nur selten
-voll aufgeschlagen, immer suchen sie sich gleich ein Plätzchen, wo
-sie sich vor unbescheidenen Blicken verbergen könnten. An Jahren ist
-Vater Zacharia etwas älter als Vater Tuberozow und viel schwächlicher
-als dieser, aber auch er ist gleich dem Propst gewohnt, sich stramm zu
-halten, und trotz aller Übel und Gebresten, von denen er heimgesucht
-wird, hat er sich einen lebhaften Geist und eine große körperliche
-Beweglichkeit bewahrt.
-
-Der dritte und letzte Vertreter der Stargoroder Domgeistlichkeit, der
-Diakon Achilla, wird durch mehrere Attribute gekennzeichnet, die wir
-alle hier mitzuteilen für gut befinden, damit der Leser ein möglichst
-klares Bild von dem gewaltigen Achilla gewinne.
-
-Der Inspektor der Kirchenschule, der den Achilla Desnitzyn aus
-der Syntax-Klasse »wegen Überreife und mangelhafter Fortschritte«
-ausgeschlossen hatte, pflegte zu ihm zu sagen:
-
-»Ach, du langgereckter Holzknüppel, du!«
-
-Der Rektor, der auf ein besonderes Bittgesuch hin den Achilla wieder in
-die Rhetorik-Klasse aufgenommen hatte, staunte jedesmal, wenn er den
-werdenden Recken zu Gesichte bekam, und pflegte, verblüfft über diese
-Riesengröße, Riesenkraft und Rieseneinfalt, zu äußern:
-
-»Es dünkt mich zu wenig, dich bloß einen Knüppel zu nennen,
-sintemalen du in meinen Augen zum mindesten eine volle Ladung Holz
-repräsentierest.«
-
-Der Dirigent des bischöflichen Sängerchores endlich, in den Achilla
-eingereiht wurde, nachdem er aus der Rhetorik entfernt und dem Klerus
-zugezählt worden war, nannte ihn »unermeßlich«.
-
-»Dein Baß ist gut,« sagte der Dirigent, »er donnert wie eine Kanone;
-aber unermeßlich bist du bis zum äußersten, so daß ich angesichts
-dieser Unermeßlichkeit gar nicht weiß, wie ich dich würdig behandeln
-soll.«
-
-Die vierte und gewichtigste Charakteristik des Diakons Achilla stammte
-von dem Bischof selbst, und zwar ward dessen Urteil an einem für den
-Achilla sehr denkwürdigen Tage ausgesprochen, dem Tage nämlich, wo er,
-Achilla, aus dem bischöflichen Chor ausgeschlossen und als Diakon nach
-Stargorod geschickt wurde. Sie lautete: »der Gepeinigte«. Es dürfte
-aber wohl angebracht sein, zu erzählen, auf welche Weise der brave
-Achilla zu diesem Namen kam.
-
-Der Diakon Achilla war von Jugend auf ein sehr impulsiver Mensch, der
-sich nicht nur in seinen Jünglingsjahren immer wieder hinreißen ließ,
-sondern auch in den Jahren des nahenden Alters.
-
-Trotz der »Unermeßlichkeit« seines Basses war Achilla im Sängerchor
-doch sehr geschätzt, weil er mit gleicher Leichtigkeit sich zu
-den höchsten Höhen emporzuschwingen und bis zur tiefsten Oktave
-hinabzuklettern vermochte. Eins nur machte dem Dirigenten bei
-dem unermeßlichen Achilla immer wieder Angst, -- seine übergroße
-Begeisterungsfähigkeit. So konnte er etwa bei der Vesper sich nicht
-damit begnügen, das »Heilig ist der Herr unser Gott« nur dreimal zu
-singen, sondern ließ sich oft fortreißen, es ganz allein zum vierten
-Male anzustimmen; besonders aber konnte er den Lobgesang am Schluß des
-Gottesdienstes nie zur rechten Zeit abbrechen. Doch in allen diesen
-Fällen, die schon bekannt waren und die man deshalb auch voraussehen
-konnte, wurden vernünftigerweise entsprechende Vorsichtsmaßnahmen
-getroffen: einer der erwachsenen Sänger erhielt nämlich den Auftrag,
-den Achilla am Rockschoß zu ziehen oder ihn im geeigneten Moment durch
-einen kräftigen Druck auf beide Schultern zusammenknicken zu lassen.
-Indessen nicht umsonst sagt das Sprichwort, daß man sich nicht für
-jeden Augenblick vorsehen könne. An einem der großen zwölf Feiertage
-hatte Achilla in der Kommunionsliturgie ein sehr schwieriges Baß-Solo
-auf den Text »von Schmerzen gepeinigt« zu singen. Die Bedeutung,
-die der Dirigent und der ganze Chor diesem Solo beimaß, machte dem
-Achilla nicht wenig Sorge: er war in großer Unruhe und dachte hin und
-her, wie er es anstellen sollte, sich nicht zu blamieren, sondern
-vor der Eminenz, die ein großer Liebhaber guten Kirchengesanges war,
-und vor dem gesamten Gouvernementsadel, der an diesem Tage in der
-Kirche sein würde, in Ehren zu bestehen. Tag und Nacht ging er bald
-in seiner Stube, bald im Korridor oder im Hofe, bald im bischöflichen
-Garten oder auf dem Weideplatz vor der Stadt auf und ab und sang in
-den verschiedensten Tonarten: »gepeinigt, gepeinigt, gepeinigt«. So
-brach endlich der Tag seines Ruhmes an, wo er sein »gepeinigt« in der
-gedrängt vollen Domkirche zu Gehör bringen sollte. Gott, wie groß und
-strahlend stand der gewaltige Achilla da, das Notenblatt in der Hand.
-Die wohlbekannten Vorschläge sind erledigt. Nun kommt das Baß-Solo.
-Achilla schiebt seinen Nachbar mit dem Ellenbogen beiseite und zählt
-leise die Takte. Jetzt ist es so weit. Der Dirigent hebt die Hand
-mit der Stimmgabel ... Achilla hat die ganze Welt und sich selbst
-vergessen, und in der wunderlichsten Weise, der Posaune des Erzengels
-vergleichbar, donnert er bald ganz schnell, bald langsam gedehnt:
-»Von Schmerzen gepeinigt, gepeinigt, ge-pei-nigt, g-e-p-e-i-n-i-g-t,
-gepeinigt.« Mit Gewalt hält man ihn zurück, sich in weiteren
-unvorhergesehenen Variationen zu ergehen, und das Konzert ist beendet.
-Aber in dem »fortgerissenen« Geiste Achillas war es noch nicht zu
-Ende. Während die Honoratioren der Stadt mit leisen Begrüßungen an
-den Bischof herantraten, um seinen Segen entgegenzunehmen, ertönte
-es vom Chor plötzlich wieder, wie ein Posaunenstoß vom Himmel:
-»Gepeinigt, ge-pei-nigt, g-e-p-e-i-n-i-g-t!« Das singt der in seiner
-Begeisterung ganz um den Verstand gebrachte Achilla. Man zupft ihn --
-er singt weiter. Man drückt ihn zu Boden, um ihn hinter den Rücken
-seiner Genossen verschwinden zu lassen, -- er singt: »gepeinigt«.
-Man führt ihn endlich aus der Kirche hinaus, unentwegt singt er:
-»g-e-p-e-i-n-i-g-t!«
-
-»Was ist dir?« fragen ihn mitleidige Leute voller Teilnahme.
-
-»Gepeinigt,« singt er, sie verständnislos ansehend, und bleibt an der
-Tür der Vorhalle stehen, bis ihn endlich ein Strom frischer Luft von
-draußen ernüchtert.
-
-Im Vergleich zu dem Propst Tuberozow und dem Vater Benefaktow kann
-Achilla Desnitzyn als junger Mann gelten, aber auch er hat die Vierzig
-schon hinter sich und seine tiefschwarzen Locken sind stark angegraut.
-Achilla ist von Riesengestalt und ungeheurer Kraft, seine Bewegungen
-sind eckig und schroff; sein Gesicht zeigt einen südlichen Typus und er
-behauptet, von kleinrussischen Kosaken abzustammen, von denen er auch
-in der Tat den Leichtsinn und die Tapferkeit und noch manches andere zu
-haben scheint.
-
-
-
-
-Zweites Kapitel.
-
-
-Alle diese meine altmodischen Helden wohnten auf dem Stargoroder
-Pfarrgehöft, am stillen, schiffbaren Fluß Turitza. Jeder von ihnen,
-Tuberozow, Zacharia und sogar der Diakon Achilla hatte sein eigenes
-Häuschen dicht am Ufer, gerade gegenüber dem jenseits des Flusses
-aufragenden alten Dom mit seinen fünf hohen Kuppeln. Aber so
-verschieden geartet, wie die drei Männer, waren auch ihre Wohnsitze.
-Das Haus des Vaters Sawelij war sehr hübsch, mit hellblauer Ölfarbe
-gestrichen und mit verschiedenfarbigen Sternchen, Quadraten und
-Schnörkeln über jedem der drei Fenster geziert. Letztere hatten
-außerdem noch holzgeschnitzte, grellbemalte Einfassungen und grüne
-Läden, die nie geschlossen wurden, denn das festgefügte Haus trotzte
-im Winter jeglichem Frost und der Propst liebte das Licht, liebte
-den Stern, der nachts vom Himmel in seine Stube schaute, liebte den
-Mondstrahl, der sich wie ein Brokatstreifen über den parkettartig
-gemusterten Fußboden legte.
-
-Im Häuschen des Propstes herrscht absolute Reinlichkeit und Ordnung,
-denn es ist niemand da, der Schmutz oder Unordnung machen könnte. Der
-Propst hat keine Kinder und das ist eine Quelle steter Betrübnis für
-ihn und seine Lebensgefährtin.
-
-Das Häuschen des Vaters Zacharia Benefaktow ist viel größer als das
-des Vaters Tuberozow. Aber es fehlt ihm jene Eleganz und Koketterie,
-die den Wohnsitz des Propstes auszeichnet. Das fünffenstrige, etwas
-schiefstehende, graue Haus des Vaters Zacharia erinnert eher an einen
-großen Geflügelstall, und, um die Ähnlichkeit perfekt zu machen,
-drängen und stoßen sich in den engen Rahmen seiner grünen Fenster
-unausgesetzt allerlei Schnäbelchen und Schöpfchen. Das ist die gesamte
-Nachkommenschaft des Vaters Zacharia, den Gott gesegnet hat, wie den
-Jakob, und dessen Gattin er fruchtbar gemacht hat, wie die Rahel. Bei
-Vater Zacharia fand man nichts von der spiegelglatten Sauberkeit des
-Tuberozowschen Hauses, nichts von dessen strenger Ordnung. Überall
-stieß man auf Spuren schmutziger Kinderpfötchen; aus jedem Winkel
-guckte ein Kinderköpfchen hervor; alles lebte und webte mit den Kindern
-und um die Kinder.
-
-Der Diakon Achilla war Witwer und kinderlos. Wenig kümmerte er sich
-um irdische Güter und Hauswirtschaft. Hart am Flußrande hatte er
-eine lehmgestrichene, kleinrussische Kate, zu der aber keinerlei
-Nebengebäude gehörten; nicht einmal ein Zaun war vorhanden, nichts
-als eine rohe Lattenhürde, innerhalb derer, bis an die Knie im Stroh
-versinkend, bald ein scheckiger Hengst, bald ein falber Wallach, bald
-eine schwarze Stute umherstampfte. Die innere Einrichtung des Hauses
-war ebenfalls ganz kosakenmäßig: in dem vorderen, besseren Raume, den
-der Hausherr für sich selbst bestimmt hatte, stand ein hölzernes Sofa,
-welches Achilla auch als Bett diente. Eine weiße Kosaken-Filzdecke
-lag darüber gebreitet und am Kopfende ein ziselierter asiatischer
-Sattelbogen, an den sich ein kleines pfannkuchenähnliches Kissen in
-einem fettigen Nankingüberzug lehnte. Vor diesem Kosakenlager stand
-ein Tisch aus weißem Lindenholz. An der Wand hing eine Gitarre ohne
-Saiten, ein hänfener Fangstrick, eine Nagaika und zwei kunstvoll
-geflochtene Zäume. In der Ecke auf einem kleinen Wandbrett, hinter
-welchem ein verdorrter Palmweidenzweig gesteckt war, stand ein
-winziges Heiligenbild, die Himmelfahrt Mariä darstellend, vor dem ein
-kleines Kiewer Gebetbuch lag. Sonst war nichts, rein gar nichts in
-der Behausung des Diakons Achilla zu finden. Nebenan in einer kleinen
-Kammer hauste die alte Nadeshda Stepanowna, genannt Esperance, die
-früher einmal Zimmermädchen in einem adligen Gutshause gewesen war.
-
-Sie war eine kleine, ältliche, gelbliche, spitznäsige,
-zusammengeschrumpfte Person von so unverträglichem und unerträglichem
-Charakter, daß sie trotz ihrer geschickten Hände nirgends dauernd
-unterkommen konnte, bis sie zu guter Letzt Bedienerin beim einsamen
-Achilla geworden war, dem sie vorschnattern und vorkeifen konnte soviel
-sie wollte, denn er beachtete dieses Geschnatter und Gekeife überhaupt
-nicht; nur wenn die Erregung seiner alten Hausgenossin gar zu arg
-wurde, machte er ihr im entscheidenden Augenblick durch ein donnerndes:
-»Versinke, Esperance!« ein Ende, worauf Esperance zumeist auch wirklich
-sofort verschwand, denn sie wußte, daß Achilla sie andernfalls in
-seine Arme nehmen, auf das Dach seiner Hütte setzen und dort bis zum
-Sonnenuntergang ihrem Schicksal überlassen würde.
-
-So lebten diese Leutchen hin und trugen alle mehr oder weniger einer
-des andern Lasten und suchten sich gegenseitig das einförmige Dasein
-ein wenig bunter zu gestalten durch allerlei leichte Streitigkeiten
-und Mißverständnisse, welche auf die durch die Ereignislosigkeit des
-Kleinstadtlebens erschlaffte menschliche Natur eine so wohltuend
-aufrüttelnde Wirkung ausüben. So hatte zum Beispiel eines Tages der
-Gutsbesitzer und Adelsmarschall Alexej Nikititsch Plodomasow von einer
-Reise nach Petersburg den von ihm sehr hochgeschätzten Domgeistlichen
-verschiedene mehr oder weniger kostbare Geschenke mitgebracht, darunter
-auch drei Stöcke: zwei mit ganz gleichen Knöpfen aus Dukatengold für
-die beiden Pfarrer, den einen für Vater Tuberozow, den andern für Vater
-Zacharia. Der dritte Stock mit einem hübschen Knopf aus emailliertem
-Silber war für den Diakon Achilla bestimmt. Diese Stäbe fielen unter
-die Stargoroder Geistlichen wie die biblischen Schlangen, welche die
-ägyptischen Zauberer vor den Pharao hinwarfen.
-
-»Durch diese Schenkung der Stäbe ist ein Zweifel in uns geweckt
-worden,« erzählte der Diakon Achilla.
-
-»Was für einen Zweifel kann es denn geben, Vater Diakon?« fragten die
-Leute, denen er sein Leid klagte.
-
-»Ach, ihr Laien versteht von solchen Dingen nichts. Erstens ziemt
-es mir in meinem Amte als Diakon gar nicht, einen solchen Stab zu
-tragen, denn ich bin kein Pfarrer. Ferner: ich trage diesen Stab
-jetzt trotzdem, denn ich habe ihn geschenkt bekommen. Drittens aber
-tritt dabei noch eine zweifelerregende Gleichstellung zutage: der
-Vater Sawelij und der Vater Zacharia haben Stäbe von ganz derselben
-Qualität und gleichem Aussehen erhalten. Darf man sie aber so völlig
-gleichstellen? ... Ich frage, darf man das? ... Vater Sawelij ... ihr
-wißt es ja selbst ... Vater Sawelij ... ist ein Weiser, ein Philosoph,
-ein Justizminister ... und nun sehe ich, daß auch er sich darin nicht
-zu finden weiß und verwirrt ist, ganz furchtbar verwirrt.«
-
-»Was kann ihn denn so verwirren, Vater Diakon?«
-
-»Es verwirrt ihn, daß erstens diese völlige Gleichheit Verwechselungen
-hervorruft. Was meint ihr, wie soll man erkennen, wem dieser Stab
-gehört? Versucht es doch herauszukriegen, welcher Stab dem Propst und
-welcher dem Zacharia zukommt, wenn sie beide ganz gleich aussehen!
-Freilich, zur Unterscheidung ließe sich ja irgendein Zeichen anbringen
--- ein Tröpfchen Siegellack auf den Knopf oder ein kleiner Einschnitt
-in das Holz. Wie steht es aber mit der politischen Seite der Sache? Es
-ist doch ganz unmöglich, daß der Propst und der Vater Zacharia gleich
-viel wert wären! Und der Propst fühlt das sehr wohl, und ich seh' es
-deutlich, und darum sag' ich ihm: ›Vater Propst, es ist in diesem
-Falle nichts anderes zu machen: gestattet mir, daß ich den Stab des
-Vaters Zacharia irgendwie zeichne, mit Siegellack oder durch einen
-Messerschnitt.‹ Er aber antwortet: ›Nichts dergleichen. Untersteh' dich
-nicht. Es ist nicht nötig.‹ Ja, wie denn nicht nötig?! ›Nun,‹ sag' ich
-da wieder, ›so gebt mir Euren Segen zu etwas anderm. Ich will ganz
-insgeheim den Stab des Vaters Zacharia mit dem Messer um einen Zoll
-kürzer machen, so daß der Vater Zacharia selber von dieser Verkürzung
-gar nichts merken soll.‹ Er aber nennt mich darauf einen Dummkopf.
-Gut denn, ich bin ein Dummkopf, ich hör's von ihm nicht zum erstenmal
-und von ihm kränkt's mich auch nicht, aber ich sehe doch, daß er mit
-alledem sehr unzufrieden ist, und das raubt mir alle Seelenruhe ... Und
-ihr könnt mich einen dreifachen Dummkopf nennen,« -- rief der Diakon,
--- »ja, ich gestatte es euch, nennt mich ruhig dumm, wenn er, der Vater
-Sawelij, nicht etwas ganz Politisches im Sinne hat. Ich weiß es ganz
-genau, daß er eben deswegen mich nicht gewähren läßt, weil er seine
-eigene Politik verfolgt.«
-
-Und der Diakon Achilla schien sich nicht geirrt zu haben. Noch war
-kein Monat seit der Beschenkung der Stargoroder Geistlichkeit mit
-den erwähnten zweifelerregenden Stäben vergangen, als der Propst
-Sawelij sich plötzlich zu einer Reise in die Gouvernementsstadt zu
-rüsten begann. Man brauchte dieser Fahrt keine besondere Bedeutung
-zuzuschreiben, denn der Propst hatte in Amtsangelegenheiten oft genug
-mit dem Konsistorium zu verhandeln. Aber als der Vater Tuberozow
-bereits im Wagen saß, wandte er sich plötzlich zum Vater Zacharia:
-
-»Hör' mal, Vater, wo ist denn wohl dein Stab? Gib ihn mir mal her, ich
-will ihn mit in die Stadt nehmen.«
-
-Diese scheinbar von ungefähr gesagten Worte ließen ein Licht in den
-Gemütern aller derer aufgehen, die vor das Tor gekommen waren, dem
-Abreisenden das Geleite zu geben.
-
-Der Diakon Achilla räusperte sich kräftig und flüsterte dem Vater
-Benefaktow ins Ohr:
-
-»Nun? Sagt' ich's Euch nicht? Da haben wir die Politik!«
-
-»Weshalb wollt Ihr denn meinen Stab in die Stadt mitnehmen, Vater
-Propst?« fragte Vater Zacharia, und zwinkerte demütig mit den Augen,
-wobei er zugleich den Diakon beiseite schob.
-
-»Wozu? Nun, vielleicht will ich den Leuten dort zeigen, wie man uns
-hier achtet und unser gedenkt,« antwortete Tuberozow.
-
-»Alioscha, lauf hin und hol den Stock,« befahl Zacharia seinem kleinen
-Sohne.
-
-»Vielleicht nehmt Ihr dann auch meinen Stab mit, Vater Propst, um ihn
-dort zu zeigen?« fragte Achilla in dem sanftmütigsten Tone, dessen er
-fähig war.
-
-»Nein, den deinen magst du bei dir behalten,« erwiderte Sawelij.
-
-»Warum denn, Vater Propst? Ich bin doch ebenso ... ich bin doch auch
-von dem Herrn Adelsmarschall ausgezeichnet worden,« antwortete der
-Diakon ein wenig gekränkt.
-
-Aber der Propst würdigte seinen Einspruch keiner Antwort, legte den ihm
-eben gebrachten Stab des Vater Zacharia neben sich hin und hieß den
-Kutscher zufahren.
-
-So fuhr er dahin und die beiden zweifelerregenden Stäbe fuhren mit, der
-Diakon Achilla aber saß zu Hause und mühte sich vergeblich, das Rätsel
-zu lösen, zu welchem Zweck Tuberozow den Stab des Zacharia mitgenommen
-hatte.
-
-»Was geht's dich an? Was hast du dabei? Was?« beschwichtigte Zacharia
-den von Neugier gemarterten Diakon.
-
-»Vater Zacharia, ich sag's Euch, das ist Politik.«
-
-»Nun und wenn's Politik ist, -- was geht's dich an? Mag er doch
-politisieren.«
-
-»Aber ich vergehe vor Neugier, was das für eine Politik sein könnte.
-Euren Stab zu beschneiden wollte er mir nicht gestatten; das wäre eine
-Dummheit, sagte er; ich schlug ihm vor, Zeichen anzubringen, aber er
-wies es zurück. Das einzige, was ich vermute ...«
-
-»Ei nun, was kannst du Schwätzer vermuten?«
-
-»Das einzige wäre, daß er ... Er setzt bestimmt einen Edelstein hinein.«
-
-»Ja! Nun ... nun ja ... Aber wo soll er den Stein denn einsetzen?«
-
-»In den Griff.«
-
-»In den seinen oder in den meinen?«
-
-»In den seinen, natürlich in den seinen. Ein Edelstein ist doch ein
-Wertstück.«
-
-»Sehr schön. Wozu hat hat er dann aber meinen Stab mitgenommen? In den
-seinen will er den Stein einsetzen lassen, und den meinen nimmt er
-mit?!«
-
-Der Diakon schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief:
-
-»Da wär' ich wieder mal der Narr.«
-
-»Hoffentlich bist du der Narr, hoffentlich,« bestätigte Vater Zacharia
-und fügte mit leisem Vorwurf hinzu: »und dabei hast du doch Logik
-gelernt, mein Lieber. Schäme dich.«
-
-»Warum soll ich mich schämen, wenn ich sie gelernt, aber nicht kapiert
-habe! Das kann jedem so gehen,« antwortete der Diakon.
-
-Er sprach fortan keinerlei Vermutungen mehr aus, nur im stillen
-verzehrte ihn nach wie vor die Neugier: was wird nun eigentlich
-geschehen?
-
-So verging eine Woche, bis der Propst zurückkam. Der Diakon Achilla,
-welcher gerade einen von ihm neu eingetauschten Steppengaul einritt,
-war der erste, der die schwarze Pfarrkutsche sich der Stadt nähern sah.
-Er raste durch die Straßen, machte Halt vor allen Häusern, in denen
-gute Bekannte wohnten, und schrie in die offenen Fenster hinein: »Er
-kommt! Der Propst Sawelij! Die edle große Seele!«
-
-Ein neuer Gedanke war dem Achilla plötzlich gekommen.
-
-»Jetzt weiß ich, was es ist,« sagte er zu den Umstehenden, während er
-vor dem Tore des Pfarrhofes vom Pferde stieg. »Alle meine bisherigen
-Vermutungen waren nichts als eitel Torheit. Jetzt aber kann ich euch
-für gewiß sagen, der Vater Propst hat nichts anderes getan, als
-griechische Lettern -- oder auch lateinische -- in die Knöpfe einätzen
-lassen. So ist es, jawohl, so und nicht anders ist es; ganz bestimmt
-hat er Lettern einätzen lassen, und wenn ich es jetzt nicht erraten
-habe, so könnt ihr mich hundertmal einen Esel nennen.«
-
-»Warte nur, warte, das tun wir noch; das kommt schon noch,« sagte Vater
-Zacharia und ging dem eben vorfahrenden Wagen entgegen.
-
-Ernst und würdevoll entstieg der Propst dem Wagen, trat in das Haus
-ein, betete, begrüßte seine Gattin, indem er sie dreimal auf den
-Mund küßte, bewillkommnete danach auch den Vater Zacharia, wobei sie
-sich gegenseitig auf die Schultern küßten, und zu guter Letzt den
-Diakon Achilla, der dem Propst die Hand küßte, während dieser mit den
-Lippen seinen Scheitel berührte. Nach dieser Begrüßung ging man ans
-Teetrinken, Schwatzen, Erzählen, und langsam wich der Abend der Nacht,
-ohne daß der Propst auch nur ein Wort über die alle so interessierenden
-Stäbe geäußert hätte. Ein Tag verging, ein zweiter, ein dritter, mit
-keiner Silbe erwähnte Vater Tuberozow die Angelegenheit. Es schien, als
-habe er die Stäbe in die Hauptstadt gebracht und sie dort in den Fluß
-versenkt, damit alles Gerede von ihnen schweige.
-
-Der Diakon brannte förmlich vor Neugier und wußte nicht, was er
-ersinnen sollte, um das Gespräch auf die Stäbe zu bringen. Aber die
-Sache kam bald von selbst zur Erledigung. Am fünften oder sechsten Tage
-nach seiner Heimkehr bat der Vater Sawelij nach dem Hauptgottesdienst
-den Stadthauptmann, den Schulinspektor, den Arzt und den Vater Zacharia
-nebst dem Diakon Achilla zu sich zum Tee und fing wiederum zu erzählen
-an, was er alles in der Gouvernementsstadt gehört und gesehen habe.
-Er berichtete ihnen von vielerlei schönen Sachen, welche er in den
-Kaufläden gesehen hatte. »Es ist erstaunlich,« meinte er, »was die
-dortige Kunstfertigkeit zu leisten vermag.«
-
-Mit diesen Worten ging der Propst ins Nebenzimmer und kam, in jeder
-Hand einen der wohlbekannten Stäbe haltend, wieder zurück.
-
-»Sehen Sie mal hier,« sagte er, indem er den Gästen die Oberfläche der
-beiden goldenen Knöpfe vor die Augen hielt.
-
-Der Diakon Achilla riß die Augen auf, um zu erspähen, was der Politikus
-zustande gebracht hatte, um die gleichwertigen Stäbe unterscheiden zu
-können. Aber ach! Es war kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Im
-Gegenteil, ihre Gleichwertigkeit schien nun erst vollkommen, denn in
-der Mitte eines jeden Knopfes war in ganz gleicher Weise, von einem
-Strahlenkranze umgeben, ein Gottesauge eingraviert, um welches sich
-eine kurze Kursivinschrift schlang.
-
-»Und Lettern sind keine da, Vater Propst?« bemerkte Achilla, dem die
-Geduld ausging.
-
-»Was willst du noch für Lettern?« erwiderte Tuberozow, ohne ihn
-anzusehen.
-
-»Um sie in ihrer Gleichwertigkeit zu unterscheiden.«
-
-»Immer kommst du mit deinem dummen Zeug,« wandte sich der Propst zum
-Diakon, und dann stützte er den einen Stab gegen seine Brust und sprach:
-
-»Das soll meiner sein.«
-
-Der Diakon Achilla warf einen schnellen Blick auf den Knopf und las
-über dem Gottesauge: »Und er fand den Stecken Aarons blühen.«
-
-»Und den nimmst du, Vater Zacharia,« schloß der Propst und gab ihm den
-andern Stab.
-
-Auf dem Knopfe desselben war um das völlig gleiche Gottesauge in ganz
-derselben altslawischen Kursivschrift eingraviert:
-
-»Und er gab den Stab in seine Hand.«
-
-Kaum hatte Achilla diese zweite Inschrift gelesen, so knickte er hinter
-dem Rücken des Vaters Zacharia zusammen, und, den Kopf gegen den Bauch
-des Arztes stemmend, zuckte und strampelte er in einem unbändigen
-Lachanfall.
-
-»Na, Quälgeist, was gibt's wieder? Was gibt's?« wandte sich der Vater
-Zacharia ihm zu, während die übrigen Gäste noch die kunstvolle Arbeit
-des Juweliers an den Priesterstäben bewunderten.
-
-»Lettern? He? Lettern, du krauser Schafbock du? Wo sind hier die
-Lettern?«
-
-Der Diakon aber prustete und lachte nur immer toller.
-
-»Was lachst du? Was ficht dich an?«
-
-»Wer ist jetzt der Schafbock, he?« fragte der Diakon, die Worte mühsam
-hervorstoßend.
-
-»Du natürlich, wer denn sonst?«
-
-Achilla brach in ein neues Gelächter aus, packte den Vater Zacharia an
-den Schultern und flüsterte theatralisch:
-
-»Na und Ihr, Vater Zacharia, wo Ihr so viel Logik studiert habt, lest
-doch noch einmal. ›Und er gab den Stab in seine Hand.‹ Was sagt Eure
-Logik dazu? Wo soll eine solche Inschrift hinaus?«
-
-»Wo hinaus? Nun, so sag du es doch, wo sie hinaus soll!«
-
-»Wo hinaus? Dahinaus,« sagte der Diakon langsam und gedehnt, »daß man
-ihm mit dem Lineal eins auf die Pfoten gegeben hat.«
-
-»Du lügst!«
-
-»Ich lüge?! Und warum ist denn +sein+ Stecken erblüht? Und kein
-Wort davon, daß er ihm in die Hand gegeben ist? Warum? Weil das zum
-Zweck der Erhöhung geschrieben ist, Euch aber ist's zur Erniedrigung
-geschrieben, daß Euch der Knüppel in die Tatze gelegt ist.«
-
-Vater Zacharia wollte etwas erwidern, aber der Diakon hatte ihn
-wirklich irre gemacht. Achilla triumphierte, daß es ihm gelungen war,
-den sanften Benefaktow aus der Fassung zu bringen, doch sein Triumph
-war nur von kurzer Dauer.
-
-Kaum hatte er sich umgewandt, so sah er auch schon, daß der Propst ihn
-scharf ins Auge gefaßt hatte, und sobald er bemerkte, daß der Diakon
-unter der Wirkung dieses strengen Blickes verlegen zu werden begann,
-wandte er sich an die Gäste und sagte mit ganz ruhiger Stimme:
-
-»Die Inschriften, die Sie hier sehen, habe ich nicht selbst ausgedacht.
-Der Konsistorialsekretär Afanasij Iwanowitsch hat sie mir empfohlen.
-Auf einem Abendspaziergang kamen wir beim Goldschmied vorbei, und
-da meinte Afanasij Iwanowitsch: Wißt Ihr, Vater Propst, was für ein
-Gedanke mir gekommen ist? Ihr solltet Inschriften auf die Stäbe setzen.
-Für Euch ›der Stecken Aarons‹ und für den Vater Zacharia -- eben jene,
-die jetzt dasteht.«
-
-»Und du, Vater Diakon,« fuhr der Propst fort, »ich wollte auch etwas
-von deinem Stabe sagen, wie du mich gebeten hattest, aber ich bin der
-Meinung, es wäre am besten, du trügest den Stab überhaupt nicht, denn
-er kommt deinem Amte nicht zu.«
-
-Und damit schritt der Propst in aller Seelenruhe nach der Stubenecke,
-in welcher der berühmte Stab des Achilla stand, nahm ihn und schloß ihn
-in den Kleiderschrank ein.
-
-Dieses war der größte Zwist, der sich je in der Stargoroder Pfarrei
-abgespielt hatte.
-
-Wie es heißt, daß durch ein Dreierlicht einst ganz Moskau in Flammen
-aufgegangen ist, so entstand auch daraus bald eine ganze Geschichte,
-welche die verschiedensten Charakterschwächen und Vorzüge Sawelijs und
-Achillas an den Tag brachte.
-
-Der Diakon kannte diese Geschichte am besten, erzählte sie aber nur in
-Augenblicken äußerster Erregung.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
-
-»Was,« sagte Achilla, »hätte ich von Rechts wegen damals tun sollen?
-Ich hätte dem Vater Propst zu Füßen fallen und ihm sagen sollen: so und
-so stehen die Dinge, nicht aus Bosheit, nicht aus Gehässigkeit hab' ich
-das gesagt, sondern einzig, um dem Vater Zacharia zu zeigen, daß ich
-zwar nichts von Logik verstehe, aber darum doch nicht dümmer bin als
-er. Aber der Stolz übermannte mich und hielt mich zurück. Ich ärgerte
-mich, daß er meinen Stab in den Schrank geschlossen hatte, und daß dann
-noch der Lehrer Warnawka Prepotenskij dazwischenkam. ... Ach, ich sag'
-euch, so bös ich auch auf mich selbst bin, es ist nichts gegen die Wut,
-welche ich auf den Lehrer Warnawka habe! Ich will nicht ich sein, wenn
-ich sterbe, ohne zuvor mit diesem Sohn der Hostienbäckerin abgerechnet
-zu haben!«
-
-»Das darfst du auch wieder nicht,« unterbrach Vater Zacharia den
-Achilla.
-
-»Warum denn nicht? Gottlosigkeit duld' ich nicht! Da frage ich nicht
-nach der Person! Und die Sache macht sich ganz von selbst: ich fahr'
-ihm mit der Faust in den Schopf, schüttel' ihn tüchtig durch und
-laß ihn dann laufen. Jetzt geh und beschwer' dich, daß du von einer
-geistlichen Person wegen Gottlosigkeit durchgewalkt worden bist!
-... Der wird sich hüten! ... Ach, du mein Gott! Was war nur in mich
-gefahren, daß ich auf diesen Taugenichts hören konnte, und wie ist's
-möglich, daß ich ihn bis heute mir noch nicht richtig vorgenommen
-habe! Den Küster Sergej hab' ich damals für sein Geschwätz über den
-Donner sofort verwichst; den Kommissar, den Kleinbürger Danilka, der
-sich in den letzten großen Fasten unterstand, auf offener Straße ein
-Ei zu essen, hab' ich unverzüglich vor versammeltem Volke nach Gebühr
-an den Ohren gezaust, -- und diesen Lümmel laß ich immer noch frei
-herumlaufen, obgleich er mir das Ärgste angetan hat! Wäre er nicht
-gewesen, so würde es gar nicht zu diesem Zwist gekommen sein. Der Vater
-Propst hätte mir wegen meiner Äußerung über den Vater Zacharia gezürnt,
-aber nicht lange. Muß da dieser Warnawka kommen, und erbittert und
-gepeinigt, wie ich bin, laß ich mich von ihm aufhetzen! Er schwatzt
-mir vor: ›Diese Tuberozowsche Inschrift ist zu allem andern auch noch
-dumm!‹ Ich in meiner Pein, müßt ihr wissen, lechzte förmlich danach,
-auch dem Vater Sawelij was anzuhängen, und so fragte ich, was denn
-Dummes daran sei. Warnawka sagte: ›Dumm ist sie, weil die Tatsache,
-von der in ihr die Rede ist, gar nicht feststeht. Und nicht nur
-das, -- sie ist überhaupt unglaubwürdig. Wer, sagt er, kann es denn
-bezeugen, daß der Stecken Aarons erblühte? Kann ein trockenes Stück
-Holz Blüten treiben?‹ Ich fiel ihm hier in die Rede und meinte: ›Bitte
-sehr, Warnawa Wasiljitsch, solche Reden darfst du nicht führen. Der
-allmächtige Willen Gottes ist stärker als die Ordnung der Natur.‹ ...
-Aber weil diese unsere Unterhaltung bei der Akziseeinnehmersfrau,
-der Biziukina, stattfand, welche allerlei Flüssiges aufgetischt
-hatte, lauter gute Weine, -- nichts als ho--ho--ho: ~Haut-Sauterne~
-und ~Haut-Margaux~, -- so war ich, hol mich dieser und jener, schon
-ein bißchen benebelt, und der Warnawka redete sein gelehrtes Zeug
-in mich hinein. ›So war's ja auch -- sagte er -- dazumal mit dem
-Menetekel beim Gastmahl des Belsazar. Heut haben wir's als reinsten
-Schwindel erkannt. Wollt ihr, so mach ich's euch gleich mit einem
-Phosphorstreichhölzchen vor.‹ Ich war starr vor Entsetzen, er aber
-quasselte immer weiter: ›Und überhaupt, sagte er, es wimmelt da nur
-so von Widersprüchen.‹ Dann legte er los, wißt ihr, und redete und
-redete und widerlegte alles, und ich saß dabei und hörte zu. Und nun
-noch dieser ~Haut-Margaux~! Ich war so schon gepeinigt genug, und
-fing am Ende selber an in freigeistigem Stil zu reden. Ja, sagte
-ich, wenn ich nicht sähe, was der Vater Sawelij für ein aufrechter
-Mann ist, denn ich weiß, er steht vor dem Altar und der Rauch seines
-Opfers steigt kerzengerade empor, wie beim Opfer Abels, ich möchte
-nur kein Kain sein, sonst könnte ich ihn schon ... Versteht ihr wohl,
-so redete ich vom Vater Sawelij! Und diese Person, die Biziukina,
-meinte: ›Ja, versteht Ihr denn selber, was Ihr da schwatzt? Wißt Ihr
-überhaupt, was der Kain wert war? Was war denn -- sagte sie -- Euer
-Abel? Nichts weiter als ein kleines Schaf, ein Kriecher und Streber,
-eine Sklavennatur; Kain aber war ein stolzer Mann der Tat. So -- sagte
-sie -- hat ihn der englische Schriftsteller Biehron geschildert ...‹
-Und nun legte sie los ... Na, von all dem ~Haut-Margaux~ schon so
-spiritualisiert, überkam mich plötzlich ein Gefühl, als müßte ich zum
-Kain werden und damit Punktum. Als ich auf dem Heimweg bis zum Hause
-des Vater Propst gelangt war, blieb ich vor seinen Fenstern stehen,
-stemmte, wie ein Offizier, die Arme in die Seiten und brüllte los:
-›Ich Zar, ich Knecht, ich Wurm, ich Gott!‹ Grundgütiger Gott, wie
-entsetzlich ist mir jetzt die bloße Erinnerung an meine Schamlosigkeit!
-Als der Vater Propst mein Gemecker vernommen, sprang er aus dem Bette,
-trat im Hemde ans Fenster, stieß es auf und rief mit zorniger Stimme:
-›Geh zu Bett, du wütiger Kain!‹ Ihr könnt mir's glauben, ich erbebte
-bei diesem Wort. Denn er hatte mich schon Kain genannt, da ich es doch
-erst werden wollte. Er hatte es vorausgesehen! Ach Gott, ach Gott! Ich
-konnte mich kaum nach Hause schleppen; meine ganze Widerspenstigkeit
-war hin, und bis auf den heutigen Tag kann ich seitdem nur trauern und
-stöhnen.«
-
-War er in seiner Erzählung so weit gekommen, versank der Diakon
-gewöhnlich in Gedanken, seufzte, und fuhr nach einer Minute in
-melancholischem Tone fort:
-
-»Und nun fliehen und fließen die Tage dahin, aber der Zorn des Vater
-Sawelij ist bis auf heute nicht von ihm gewichen. Ich ging zu ihm und
-klagte mich selber an; ich klagte mich an und tat Buße. Ich sprach:
-›Vergebt mir, wie der Herr den Sündern vergibt‹ -- aber ich erhielt
-nichts zur Antwort, als ›Geh.‹ Wohin? Wohin soll ich gehen, frage ich.
-Mit den Leuten da werde ich wirklich noch zum Kain ... Ich weiß es,
-ich weiß es genau, nur er allein, nur der Vater Sawelij vermag mich in
-Subordination zu halten -- und er ... und er ...«
-
-Bei diesen Worten kamen dem Diakon die Tränen in die Augen und leise
-aufschluchzend schloß er seinen Bericht:
-
-»Und er spielt ein so böses Spiel mit mir -- er schweigt! Was ich auch
-sage, er schweigt! ... Warum schweigst du?« schrie der Diakon plötzlich
-laut auf und fing nun wirklich an zu schluchzen. Dabei streckte er
-beide Arme in der Richtung aus, wo sich nach seiner Voraussetzung
-das Haus des Propstes befinden mußte. -- »Meinst du, das wäre recht
-gehandelt? Ist es recht, wenn ich in meinem Amte als Diakon zu ihm
-trete und sage: ›Vater, segne mich‹ -- und ich küsse dann seine Hand
-und fühle, daß sogar sie für mich eiskalt ist! Ist das recht? Am
-Pfingsttage, vor dem großen Gebet, kam ich, in Tränen zerfließend,
-zu ihm und bat ihn: segne mich ... Aber er zeigte keine Rührung. ›Sei
-gesegnet,‹ sagte er. Was soll mir dieser Formenkram, wenn alles ohne
-Freundlichkeit geschieht!«
-
-Der Diakon rechnete auf Trost und Unterstützung.
-
-»Verdien' dir seine Freundlichkeit,« sagte ihm der Vater Zacharia,
-»verdiene sie dir ordentlich, und er wird dir verzeihen und wieder gut
-zu dir sein.«
-
-»Wie soll ich sie mir denn verdienen, Vater Zacharia?«
-
-»Durch musterhaftes Betragen.«
-
-»Was nützt mir denn all mein Betragen, wenn er mich überhaupt nicht
-bemerkt? Glaubst du, es ließe mich kalt, ihn jetzt immer so bekümmert,
-immer so tief in Gedanken zu sehen? Gott im Himmel, sag' ich zu
-mir selbst, was mag ihn so beschäftigen? Am Ende gar quält er sich
-meinetwegen. ... Mag er mir auch noch so sehr zürnen, er verstellt sich
-ja doch nur: ich weiß, daß er mich liebhat ...«
-
-Der Diakon wandte das Gesicht ab, schlug mit der rechten Faust gegen
-die linke Handfläche und brummte:
-
-»Na, warte, du Hostienbäckerlümmel, das geht dir nicht so durch! Ich
-will in Wahrheit Kain und nicht der Diakon Achilla sein, wenn ich
-diesen Lehrer Warnawka nicht vor aller Augen zum Krüppel schlage!«
-
-Aus dieser Drohung allein kann der Leser schon ersehen, daß einem
-gewissen, hier erwähnten Lehrer Warnawa Prepotenskij seitens des
-Diakons Achilla eine ernste Gefahr drohte, und diese Gefahr rückte
-immer näher und drohender heran, je stärker und quälender Achillas
-Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese wurde, die Sehnsucht nach dem
-eingebüßten Wohlwollen des Vaters Sawelij. Und endlich schlug die
-Stunde, da Warnawa Prepotenskij seinen Lohn aus der Hand Achillas
-empfangen sollte, das Ereignis, mit dem das große Stargoroder Drama
-beginnt, welches den Inhalt dieser Chronik bilden soll.
-
-Um den Leser in das Verständnis dieses Dramas einzuführen, lassen
-wir vorderhand alle Schleichwege beiseite, auf denen Achilla, gleich
-einem amerikanischen Pfadfinder, seinem Feinde, dem Lehrer Warnawka,
-nachspürt. Versenken wir uns lieber in die Tiefen der inneren Welt
-der dramatischsten Person unserer Geschichte und treten in jene Welt,
-die bisher noch allen, welche sie aus der Nähe oder aus der Ferne
-betrachteten, unbekannt und unsichtbar geblieben ist: in das reinliche
-Häuschen des Vaters Tuberozow. Vielleicht, wenn wir im Innern dieses
-Hauses stehen, finden wir ein Mittel, auch in die Seele seines Herrn
-zu schauen, wie man in einen gläsernen Bienenstock schaut, wo die
-Biene ihre wundersame Wabe baut, aus Wachs, das vor dem Antlitz Gottes
-leuchten, und aus Honig, der den Menschen erfreuen soll. Aber seien
-wir vorsichtig und rücksichtsvoll: ziehen wir leichte Sandalen an, auf
-daß unserer Schritte Schall den sinnenden und betrübten Propst nicht
-störe. Setzen wir die Tarnkappe aus dem Märchen aufs Haupt, damit
-unser neugierig Antlitz den ernsten Blick des würdigen Greises nicht
-verwirre, und lauschen wir mit offenem Ohr auf alles, was wir von ihm
-zu hören bekommen.
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
-
-Der Sommerabend hat sich über Stargorod herabgesenkt. Längst ist
-die Sonne untergegangen. Die Anhöhe, auf der sich die spitze Kuppel
-des Domes erhebt, liegt in bleiches Mondlicht getaucht, das stille,
-flache Ufer drüben versinkt in warmer Finsternis. Über die schwimmende
-Brücke, welche beide Stadtteile miteinander verbindet, bewegen sich
-ab und zu einsame Gestalten. Sie haben es eilig; denn die Nacht im
-stillen Städtchen treibt sie früh in ihre Nester und an ihre Herdfeuer.
-Schellenklingelnd fährt ein Postwagen über die Brückenbohlen, wie
-über Klaviertasten; dann ist alles wieder totenstill. Von den Wäldern
-draußen weht eine wohltuende Kühle herüber. Blau schimmert auf der von
-zwei Armen der Turitza gebildeten Insel das Gemüsefeld des uralten
-schiefnäsigen Sonderlings Konstantin Pizonskij, welcher von allen
-»Onkel Kotin« genannt wird.
-
-»Molwoscha! Wo bist du, Molwoscha?!« schallt es von der Insel herüber.
-
-Der Alte ruft den muntern Buben, seinen Pflegesohn, und so deutlich ist
-dieser Ruf im Hause des Propstes zu hören, daß man glauben möchte, es
-riefe jemand dicht unter dem Fenster, an welchem die Pröpstin sitzt.
-Von demselben Gemüsefeld schallt ein lautes Kinderlachen herüber, man
-hört das Wasser plätschern, nackte Kinderfüßchen laufen klatschend
-über die Brückenbohlen, und hellauf bellt ein spielender Hund. Alles
-das scheint so nah, daß die Mutter Pröpstin von ihrem Platz am Fenster
-aufspringt und die Arme nach vorn ausstreckt. Sie meint, das laufende
-und lachende Kind müsse ihr gleich in den Schoß fallen. Aber als sie
-sich umschaut, erkennt sie die Täuschung. Sie tritt vom Fenster in das
-Innere des Zimmers zurück, zündet eine der auf der Kommode stehenden
-Kerzen an und ruft ein kleines, etwa zwölfjähriges Mädchen zu sich
-heran.
-
-»Weißt du nicht, Feklinka, wo unser Vater Propst ist?« fragt sie.
-
-»Er spielt Dame beim Polizeichef, Mütterchen.«
-
-»Ah so, beim Polizeichef. Schon recht. Wir wollen ihm das Bett machen,
-Feklinka, damit alles fertig ist, wenn er heimkommt.«
-
-Feklinka bringt aus dem Nebenzimmer zwei Kissen in die Wohnstube, ein
-Bettuch und eine gelbe wollene Steppdecke; die Pröpstin einen weißen
-Pikee-Schlafrock und ein großes rotseidenes Tuch. Das Bett wird dem
-Propst auf dem großen, ziemlich harten Sofa aus Masernbirkenholz
-gemacht. Zu Häupten wird die Decke zurückgeschlagen; der weiße
-Schlafrock über einen Lehnstuhl zu Füßen des Bettes ausgebreitet, und
-auf den Schlafrock das Seidentuch gelegt. Sowie alles gemacht ist,
-schiebt die Pröpstin mit Feklinka einen ovalen Tisch auf massivem Fuße,
-ebenfalls aus Masernholz, neben das Kopfende des Bettes, und stellt
-eine Kerze, ein Glas Wasser, ein Tellerchen mit gestoßenem Zucker und
-eine Glocke darauf. Alle diese Vorbereitungen und die Genauigkeit,
-mit der sie vorgenommen werden, zeugen von der großen Aufmerksamkeit,
-mit der die Pröpstin allen Gewohnheiten ihres Gatten entgegenkommt.
-Erst als sie alles gewohnheitsmäßig geordnet hat, beruhigt sie sich
-wieder, löscht die Kerze aus und setzt sich an ihr einsames Fenster,
-um auf den Gatten zu warten. Wer sie hätte sehen können, würde eine
-gewisse Unruhe in dieser Erwartung bemerkt haben, welche ihre guten
-Gründe hatte: Tuberozow, der seit langem schon unfroh schien, war
-heute den ganzen Tag mürrisch gewesen und das beunruhigte seine treue
-Gefährtin. Er war auch sehr müde, denn er hatte heute auf die Felder
-der Vorstadtbewohner hinausgemußt, um einen Bittgottesdienst anläßlich
-der andauernden Trockenheit abzuhalten. Nach dem Essen hatte er sich
-etwas niedergelegt und war dann spazierengegangen. Später hatte er den
-Polizeichef aufgesucht, und war bei ihm sitzen geblieben. Die kleine
-Pröpstin wartete erst eine halbe Stunde und dann noch eine ganze, aber
-er kam nicht. Tiefe Stille herrschte überall. Plötzlich klingt es von
-der Hügelseite herüber wie Gesang. Die Pröpstin horcht auf. Es ist der
-Diakon Achilla; sie kennt diese angenehme tiefe Stimme gut. Er steigt
-den Batawin-Berg herab und singt:
-
- Es ruht die Welt im Frieden
- Der lauen Frühlingsnacht,
- Längst haben alle Müden
- Die Augen zugemacht.
-
-Der Diakon ist unten angekommen, geht über die Brücke und singt weiter:
-
- Da klopft mit seinem Stecken
- Cupido an mein Tor,
- Und ich in jähem Schrecken
- Fahr' aus dem Traum empor.
-
-Die Pröpstin hört dem Gesang des Achilla mit Vergnügen zu. Sie hat
-den Mann gern, weil er ihren Gatten so liebt, und sie mag auch seinen
-Gesang. In Träumerei versinkend merkt sie gar nicht, wie der Diakon
-die Brücke hinter sich läßt und immer näher und näher kommt. Als er
-endlich dicht vor ihrem Fensterlein steht, donnert er plötzlich mit
-schauerlichem Pathos:
-
- Wer -- frag ich -- ist der Kühne,
- Der da zu klopfen wagt?
-
-Die aus ihren Träumen aufgeschreckte Pröpstin schreit leise auf und
-eilt in das Innere des Zimmers zurück.
-
-Als der Diakon ihren Schreckensruf hört, unterbricht er sofort seinen
-Gesang.
-
-»Ihr schlaft noch nicht, Natalia Nikolajewna?« fragt er, packt dabei
-mit beiden Händen das Fensterbrett und schwingt sich auf das Gesimse.
-
-»Wir haben Frieden!« ruft er.
-
-»Was?« fragt die Pröpstin.
-
-»Friede,« antwortet der Diakon, »Friede.«
-
-Achilla fährt mit der Hand durch die Luft und fügt hinzu:
-
-»Der Vater Propst ... hat ein Ende gemacht.«
-
-»Was redest du da. Was für ein Ende?« fragt die Pröpstin erregt.
-
-»Schluß! ... Der Streit mit mir hat ein Ende! ... Von nun an herrscht
-Frieden und Wohlgefallen. Den wievielten haben wir heute? Den vierten
-Juni. Notiert's Euch: ›am vierten Juni Frieden und Wohlgefallen‹. Denn
-Friede soll mit allen sein. Der Lehrer Warnawka kriegt's jetzt aber zu
-spüren.«
-
-»Was hast du? Nach Branntwein riechst du nicht und schwindelst doch.«
-
-»Ich schwindeln! Ihr sollt bald sehen, wie ich schwindle! Heut ist der
-vierte Juni, der Tag des heiligen Methodius von Pesnosch, -- notiert
-Euch das auch, denn mit diesem Tage geht es los.«
-
-Der Diakon richtet sich auf den Ellenbogen noch höher auf und flüstert,
-sich fast bis zum Gürtel ins Fenster hineinschiebend:
-
-»Ihr wißt wohl gar nicht, was der Lehrer Warnawka getan hat?«
-
-»Nein, Freundchen, ich habe nichts gehört. Was hat der Tunichtgut denn
-getan?«
-
-»Etwas Entsetzliches! Er hat einen Menschen im Topf gekocht.«
-
-»Diakon, du lügst!« ruft die Pröpstin.
-
-»Nein, er hat ihn gekocht!«
-
-»Ganz gewiß, du lügst! Ein Mensch hat doch in einem Kochtopf nicht
-Platz.«
-
-»Er hat ihn im Aschenkasten gekocht,« fuhr der Diakon unbekümmert fort,
-»und obgleich ihm diese greuliche Tat vom Polizeichef und vom Arzt
-gestattet war, wird er doch dafür meinen Händen ausgeliefert.«
-
-»Diakon, du lügst. Das sind alles Lügen.«
-
-»Nein, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, nicht eine Silbe ist
-gelogen,« erwiderte der Diakon mit heftigem Kopfschütteln und die Worte
-wirbelten noch schneller von seinen Lippen. »Warnawka hat tatsächlich
-einen Menschen mit Genehmigung der Obrigkeit, das heißt: des Arztes
-und des Polizeichefs, gekocht. Es war eine Wasserleiche. Aber dieser
-Gekochte quält jetzt ihn und seine Mutter, die Frau Hostienbäckerin,
-aufs grausamste, und ich habe das alles in Erfahrung gebracht und
-beim Polizeichef dem Vater Propst erzählt, und der Vater Propst hat
-dem Herrn Polizeichef dafür ein tüchtiges -- ~coppe vachée~ heißt's
-auf französisch -- gemacht. Der Polizeichef hat gesagt: ›Ich will --
-sagt er -- Soldaten holen und der Sache ein Ende machen.‹ Ich aber
-fügte dazu: ›Hol du nur deine Soldaten, ich bin selber Soldat!‹ Und
-von morgen ab, Euer Hochwürden, ehrenwerteste Frau Pröpstin Natalia
-Nikolajewna, werdet Ihr sehen, wie der Diakon Achilla den Lehrer
-Warnawka strafen wird, ihn, den Gotteslästerer, der die Lebenden irre
-macht und die Toten martert. Jawohl, heute ist der vierte Juni, der
-Gedächtnistag des heiligen Methodius von Pesnosch! Ihr solltet Euch das
-notieren ...«
-
-Hier wurde der Redestrom des Diakons Achilla plötzlich unterbrochen,
-denn aus der Ferne vom Hügel ließ sich ein Husten vernehmen, das nur
-vom Vater Propst kommen konnte.
-
-»Halloh! Da kommt der Propst Sawelij!« ruft Achilla, springt vom Gesims
-auf die Erde und geht seines Weges.
-
-Die Pröpstin erhebt sich, zündet zwei Kerzen an und blickt bei ihrem
-Scheine den eintretenden Gatten scharf an. Der Propst küßt die Frau
-leise auf die Stirn, nimmt die Kutte ab, zieht den weißen Schlafrock
-über, bindet das rote Seidentuch um den Hals und setzt sich ans
-Fenster. Die Pröpstin hat alles vergessen, was ihr eben noch der Diakon
-vorgeredet, und fragt den Gatten gar nicht danach. Sie geleitet ihn
-in das kleine längliche Nebenzimmer, das ihr als Schlafzimmer dient
-und wo sie jetzt den Abendimbiß für den Vater Sawelij bereitgestellt
-hat. Vater Sawelij setzt sich an den kleinen Tisch, verzehrt die zwei
-weichgekochten Eier, spricht sein Dankgebet und wendet sich dann seiner
-Frau zu, um ihr Gute Nacht zu sagen. Die Pröpstin selbst ißt abends
-nie etwas. Sie sitzt ihrem Gatten gegenüber und leistet ihm allerhand
-kleine Dienste, indem sie ihm bald etwas reicht, bald etwas fortträgt.
-Dann erheben sich beide, beten vor dem Heiligenbild und beginnen
-unmittelbar darauf, sich gegenseitig zu bekreuzigen. Diesen Abendsegen
-erteilen sie einander immer zu gleicher Zeit und mit solcher
-Gewandtheit und Geschwindigkeit, daß man sich nur wundern kann, wie
-ihre hin- und herwirbelnden Hände kein einziges Mal gegeneinander
-stoßen oder aneinander hängen bleiben.
-
-Hierauf wechseln die Gatten den Abschiedskuß, wobei der Propst seiner
-kleinen Frau die Stirne, sie ihm aber das Herz küßt. Dann trennen sie
-sich. Der Propst geht in sein Wohnzimmer, um sich niederzulegen.
-
-Aber heute konnte der Alte keine Ruhe finden. Schon war eine Stunde
-vergangen, und immer noch ging er auf und ab in seinem weißen
-Pikeeschlafrock, mit dem roten Seidentuch um den Hals. Endlich trat
-er an einen kleinen roten Schrank, der auf einer hohen Kommode mit
-abgezogener Platte stand. Aus diesem Schränkchen nahm er ein in dicken
-blauen Demi-Coton mit gelbem Juchtenrücken gebundenes Exemplar des
-»Kalenders« des Eugenios, legte das Buch auf den ovalen Tisch, der vor
-seinem Bette stand, zündete zwei Sparkerzen an und horchte auf: es
-schien, als ob seine Frau noch nicht schliefe. So war es auch.
-
-»Willst du noch lesen?« fragte in diesem Augenblick aus dem Nebenzimmer
-die sanfte, besorgte Stimme der Pröpstin.
-
-»Ja, liebe Natascha, ich will noch ein wenig lesen,« antwortete Vater
-Tuberozow. »Du aber tu mir den Gefallen und schlafe --«
-
-»Gewiß werde ich schlafen, gewiß, mein Lieber,« erwiderte die Pröpstin.
-
-»Ja, ich bitte dich, schlafe.« ... Und mit diesen Worten setzte der
-Propst eine große silberne Brille auf seine stolze römische Nase und
-begann langsam in seinem blauen Buch zu blättern. Er las nicht, sondern
-blätterte nur, und dabei interessierte ihn nicht das, was in dem Buch
-gedruckt stand, sondern die von seiner eigenen Hand beschriebenen
-Einschaltblätter. Diese Notizen waren zu verschiedenen Zeiten gemacht
-und weckten in dem alten Priester eine ganze Welt von Erinnerungen, zu
-denen er hin und wieder gern zurückkehrte.
-
-Da wir nun zwischen den Propst Sawelij und seine Vergangenheit geraten
-sind, wollen wir auch still und ehrfürchtig dem leisen Flüstern der
-Greisenlippen lauschen, das durch die dumpfe Stille der Mitternacht
-dringt.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
-Das Demi-Cotonbuch des Propstes Tuberozow.
-
-
-Tuberozow betrachtete seinen Kalender von dem ersten Einschaltblatte
-an, auf dem zu lesen stand: »Nachdem ich am 4. Februar 1831 durch den
-Hochwürdigen Gawriil die Priesterweihe empfangen, erhielt ich von ihm
-dieses Buch als Belohnung für meine guten wissenschaftlichen Leistungen
-im Seminar und mein gutes Betragen.« Auf diese erste Notiz, die am
-ersten Tage nach der Ordination gemacht war, folgte als zweite: »Zum
-erstenmal im Dom gepredigt, nachdem der Bischof die Messe gehalten.
-Zum Thema der Predigt hatte ich das Gleichnis von den Söhnen des
-Weinbergsbesitzers genommen. Der eine sprach: ich gehe nicht, -- und
-ging doch, der andere aber sprach: ich gehe, -- und ging nicht. Ich
-bezog dieses auf die guten Handlungen und die guten Vorsätze, wobei
-ich mir einige Anspielungen auf die Beamten erlaubte, die ihren
-Diensteid ablegen und dann nicht einhalten. Dabei wies ich auch ganz
-vorsichtig auf die Machthaber und Vorgesetzten hin. Ich sprach fließend
-und weniger feierlich als natürlich. Seine Eminenz belobten diesen
-meinen Versuch. Aber später riefen Seine Eminenz mich zu sich und
-bemerkten nach einem allgemeinen Lobe meiner Rede im besonderen, daß
-ich mich hüten solle, in meinen Predigten direkt auf die Wirklichkeit
-hinzuweisen, vor allem aber die Herren Beamten aus dem Spiele lassen,
-denn je weiter man sie sich vom Leibe halte, desto gottwohlgefälliger
-sei das. Für das aber, was ich schon gesagt hatte, machte er mir keine
-Vorwürfe, sondern schien es sogar zu billigen.«
-
-»1832 am 18. Dezember wurde ich zum Bischof gerufen und erhielt eine
-Ernennung nach Stargorod, wo das Schisma sehr stark sein soll. Ich
-erhielt die Weisung, ihm auf jede Art entgegenzuwirken.«
-
-»1833 am 8. Februar fuhr ich mit meiner Gattin aus dem Dorfe
-Blagoduchowo nach Stargorod und gelangte am 12. zur Frühmesse daselbst
-an. Unterwegs wären wir fast von Wölfen gefressen worden. In der
-Gemeinde fand ich viel Unordnung vor. Die Altgläubigen sind im Besitz
-großer Macht. Nachdem ich mich etwas umgeschaut hatte, sah ich, daß der
-Kampf gegen das Schisma nach den konsistorialen Vorschriften wenig Wert
-hat. Ich schrieb das ans Konsistorium und erhielt einen Verweis.«
-
-Der Propst überschlug ein paar Eintragungen und blieb dann wieder
-bei der folgenden stehen: »Nachdem ich einen Verweis für Untätigkeit
-erhalten, die man daraus zu ersehen meint, daß ich nicht mit
-reichlichen Denunziationen aufwarte, suchte ich mich zu rechtfertigen,
-indem ich darauf hinwies, daß die Schismatiker nichts anderes täten,
-als was man schon längst von ihnen wisse, und fügte diesem Bericht
-noch hinzu, daß vor allem der orthodoxe Klerus in äußerster Armut
-lebe, und infolgedessen, in Anbetracht der Schwäche der menschlichen
-Natur, gegen Bestechung nicht unempfindlich sei und sogar selber der
-Ketzerei Vorschub leiste, gleich anderen Verteidigern der Orthodoxie,
-indem er Spenden von den Ketzern annehme. Ich schloß damit, daß man
-mit der Befreiung der Geistlichkeit aus ihrer schweren Abhängigkeit
-beginnen müsse, wenn man die Schäden der Kirche heilen wolle. Für
-selbigen Versuch erhielt ich abermals einen Verweis und wurde zu einer
-persönlichen Aussprache zitiert, bei der ich ein »unehrerbietiger Ham«
-genannt wurde, der »die Blöße seines Vaters aufdeckt«.«
-
-Etwas weiter, nach einigen anderen Notizen, stand zu lesen: »Ich war
-in Geschäften in der Gouvernementsstadt, und als ich mich dem Bischof
-vorstellte, berichtete ich ihm persönlich von der Armut des Klerus.
-Seine Eminenz zeigten sich sehr gerührt, aber sie bemerkten, daß auch
-unser Herr selber nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen sollte, und
-doch nicht müde ward zu lehren. Er riet mir, ich solle den Klerikern
-das Buch ›Von der Nachfolge Christi‹ zur Lektüre empfehlen. Darauf
-erwiderte ich Seiner Eminenz nichts, und es wäre auch unnütz gewesen,
-denn bei unserer Armut können wir dieses Buch gar nicht beschaffen.
-
-Höchst politisch brachte ich bei der Abendtafel beim Vater Schließer
-von der Domkirche das Gespräch nochmals auf diesen Gegenstand. An
-der Tafel nahmen noch der Vater Propst und der Konsistorialsekretär
-teil. Aber sie zogen meine Worte ins Scherzhafte. Der Sekretär sagte
-spöttisch, daß der Arme leichter ins Himmelreich komme, -- was wir auch
-ohne Seine Wohlgeboren schon wußten, der Vater Schließer aber erzählte
-bei dieser Gelegenheit eine nicht üble Anekdote von einem Studenten
-der Akademie, der später ein berühmter Gottesmann und Prediger wurde.
-Dieser hätte nämlich noch als Laie auf die Frage des Bischofs, ob er
-irgend Vermögen besitze, geantwortet:
-
-»Freilich besitze ich welches, Eminenz.«
-
-»Bewegliches oder unbewegliches?« fragte dieser, worauf jener erwiderte:
-
-»Sowohl bewegliches, wie unbewegliches.«
-
-»Was besitzest du denn an beweglichem Gut?« fragte abermals der
-Bischof, indem er des Jünglings ärmliches Gewand betrachtete.
-
-»An beweglichem Gut besitze ich ein Haus im Dorf,« antwortete der
-Befragte.
-
-»Wie kann denn ein Haus als bewegliches Gut gelten? Bedenke, wie dumm
-deine Antwort ist.«
-
-Jener aber, nicht im geringsten verlegen, entgegnete, seine Antwort
-wäre ganz richtig, denn sein Haus sei solcher Art, daß, sobald der Wind
-es anblase, es in heftige Bewegung gerate.
-
-Dem Bischof erschien diese Antwort so eigenartig, daß er den Studiosus
-nicht mehr für einen Dummkopf zu halten vermochte, sondern höchst
-interessiert weiterfragte:
-
-»Was nennst du denn dein unbewegliches Gut?«
-
-»Mein unbewegliches Gut,« sprach der Student, »ist meine Mutter, die
-Küstersfrau, und unsere braune Kuh, die beide ihre Füße nicht bewegen
-konnten, als ich die Heimat verließ, die Mutter vor Altersschwäche, die
-Kuh wegen Futtermangels.«
-
-Alle lachten sehr darüber, obgleich ich an der Geschichte mehr
-Trauriges und Tragisches fand als Komisches. Ich beginne, bei allen
-eine große Lachlust und einen Leichtsinn zu bemerken, wovon ich wenig
-Gutes erwarte.
-
-Mein Leben geht in Schlafen und Essen dahin. Das Schisma kann ich auf
-keine Weise bekämpfen, denn ich bin in allem gebunden, sowohl durch
-meinen halbverhungerten Klerus, als durch den allzu satten Polizeichef.
-Es empört mich, daß ich gleichsam zum Spott als Missionar hierher
-gesandt bin. Ich soll predigen -- und keiner will mich hören; ich
-soll lehren -- und keiner will lernen. Der Polizeichef predigt viel
-besser als ich, denn er hat so ein gewisses Missionsinstrument mit
-zwei Enden, -- von mir aber verlangt man Denunziationen. Eminenz! Was
-sollen diese Denunziationen, was soll in sie eingewickelt werden?
-Mir verbietet, soweit ich die Sache verstehe, mein Amt, dergleichen
-zu schreiben. Lieber will ich, wenn es nötig ist, reines Papier
-hergeben ...«
-
-»Heute morgen, am 18. März 1836, deutete meine Pfarrerin Natalia
-Nikolajewna an, daß sie sich gesegneten Leibes fühle. O Herr, schenke
-uns diese Freude! Zu erwarten Ende November.«
-
-»Am 9. Mai, dem Tage des heiligen Nikolaus, wurde auf obrigkeitlichen
-Befehl die altgläubige Kapelle in Dejewo zerstört. Es war ein
-schauerliches, unwürdiges und wahrhaft empörendes Schauspiel. Zu
-allem andern riß noch das Eisenkreuz von der Kuppel ab und blieb an
-den Ketten hängen. Als die Zerstörer mit ihren Feuerhaken es voller
-Erbitterung ganz herabzuzerren sich bemühten, stürzte es plötzlich
-herunter und zerschmetterte einem Feuerwehrsoldaten den Schädel, daß er
-tot liegen blieb. Er war ein Jude. O wie weh tat es mir, das alles mit
-ansehen zu müssen! Herr, mein Gott! Sie sollten doch wenigstens keine
-Juden beauftragen, das Kreuz herabzureißen! Abends versammelte sich das
-Volk auf der Trümmerstätte und ihre und unsere Geistlichkeit kam auch
-hin, und alle haben wir geweint und zuletzt fielen wir uns in die Arme.«
-
-»10. Mai. Die Obrigkeit hat einen großen Fehler begangen. Kurz vor
-Mitternacht verbreitete sich das Gerücht, das Volk habe eine heilige
-Lampe auf die Steine gestellt und halte eine Gebetsversammlung beim
-zerstörten Gotteshaus ab. Wir gingen alle hinaus und fanden die Leute
-wirklich beim Gebet. Ein alter Mann hielt die Lampe in der Hand und sie
-erlosch nicht. Der Stadthauptmann gab leise Befehl, die Feuerspritzen
-heranzufahren und die Menge mit Wasser zu begießen. Das war höchst
-unbedacht, ich kann sogar sagen: dumm -- denn das Volk zündete Kerzen
-an und ging heim. Dabei sang es vom »grausamen Pharao« und rief:
-»Der Herr hilft dem verfolgten Glauben und der Wind verlöscht die
-Lichter nicht!« Ich machte den Stadthauptmann darauf aufmerksam, wie
-unvorsichtig seine Verordnung gewesen, die Kapelle zu zerstören, das
-Kreuz herabzureißen und das Marienbild fortzuschaffen. Aber was kümmert
-er sich drum?«
-
-»12. Mai. Die Eitelkeit hat mich übermannt: ich habe mir von der
-Wirtschafterin der Frau Adelsmarschall zwei seidene Kleider der
-Gnädigen auf Kredit geben lassen und habe sie in die Stadt zum
-Färben geschickt. Daraus will ich mir dann eine seidene Kutte machen
-lassen. Es geht nicht anders, man muß sich akkurat kleiden. Ich komme
-allmählich in alle adeligen Häuser, und ich will nicht über die Achsel
-angesehen werden.«
-
-»17. Mai. Die Pfarrerin Natalia Nikolajewna deutete heute an, daß sie
-sich betreffs ihres Zustandes getäuscht habe.«
-
-»20. Juni. Auf einen Bericht des Stadthauptmanns, daß ich zu Ostern
-nicht auch in die Häuser der Altgläubigen mit dem Kreuze gegangen,
-wurde ich wieder nach der Gouvernementsstadt zitiert. Ich legte die
-ganze Sache dem Bischof eingehend dar. Nicht aus Fahrlässigkeit hätte
-ich die Häuser der Altgläubigen gemieden, denn auch meine Tasche hätte
-ja davon Schaden gehabt. Ich tat es, um die Schismatiker fühlen zu
-lassen, daß ihnen die Ehre nicht gebühre, von mir und dem gesamten
-Klerus besucht zu werden. Der Bischof wurde nachdenklich und ließ
-sodann diese meine Erklärung gelten. Allein nicht umsonst sagt das
-Volk, daß, wenn der Zar auch gnädig sei, sein Hundejunge es noch nicht
-zu sein brauche. Weil die Sache meiner unterlassenen Amtshandlung zum
-Teil auch die weltliche Obrigkeit angeht, schickte der Bischof mich
-zum Gouverneur, damit ich ihm eine Erklärung in der hochwichtigen
-Angelegenheit abgebe ... War das eine Erklärung! ... Wehe mir armen
-Sünder, was ich auszustehen hatte! Wehe auch euch, ihr meine Nächsten,
-meine Brüder, Vertrauten und Freunde, ob der Schmach und Erniedrigung,
-die ich von diesem kurzschwänzigen Glaubensfeind erdulden mußte! Der
-Gouverneur, der als Deutscher die Ambitionen seines Luther hochhalten
-zu müssen wähnt, ließ den russischen Popen überhaupt nicht zu sich
-heran, sondern schickte mich zur Erörterung der Angelegenheit zu seinem
-Kanzleivorsteher. Dieser, ein Pole, war aber nicht geneigt, die Sache
-wie der Bischof anzusehen, sondern er fiel über mich her mit Geschrei
-und Gebrüll, sagte, ich leiste den Ketzern Vorschub und widersetze
-mich dem Willen meines Kaisers. Wehe dir, du aussätziger Pole, daß du
-mit deinem löcherigen Gewissen dich unterstehst, mir Widersetzlichkeit
-gegen meinen Kaiser vorzuwerfen! Allein ich nahm es hin und ging
-schweigend von dannen, des Sprichwortes gedenkend: Wie der Herr, so's
-Gescherr. Und so gewinnt es den Anschein, als wäre alles Geschilderte
-nur geschehen, um meine neue seidene Kutte einzuweihen, welche, wie ich
-hier bemerken will, sehr akkurat gefertigt ist, und der man es nur bei
-Sonnenschein ein wenig ansieht, daß sie aus zwei verschiedenen Stoffen
-gefertigt ist.«
-
-»23. März 1837. Heute, am Karsamstag, kamen die Kleriker und der Diakon
-zu mir. Prochor bittet, wir sollten zu Ostern durchaus auch in die
-Häuser der Altgläubigen mit dem Kreuz gehen, denn es brächte ihnen zu
-viel Schaden, wenn wir es unterließen. Ich gab ihnen vierzig Rubel
-von meinem Gelde, weil ich mich der Schmach nicht unterziehen wollte,
-vor den Türen der reichen Bauern um Almosen zu bitten. Jetzt scheint
-es mir eine Torheit, daß ich mir die seidene Kutte machen ließ; ich
-wäre auch ohne sie ausgekommen und hätte dann mehr für den Klerus
-übriggehabt. Ich gedachte eben: Kleider machen Leute.«
-
-»24. April. Eine Schmach ist mir widerfahren, die mich weinen und
-schluchzen ließ. Ich bin erneut denunziert worden. Nochmals stand
-ich vor jenem Gouvernementskanzleivorsteher und mußte mich wegen
-Nichtbesuches der Altgläubigen verantworten. Mein eigener Klerus hat
-mich denunziert. Wie ertrag' ich diese Niedrigkeit und Undankbarkeit!
-Du Denker und Administrator! Betrachte in deinem aufgeklärten Geiste,
-woraus das Leben eines russischen Popen sich zusammensetzt! Auf dem
-Heimwege haderte ich die ganze Zeit mit mir selber, daß ich nicht auf
-die Akademie gegangen war. Von dort wäre ich zur Klostergeistlichkeit
-gegangen, wie so viele andere. Mit der Zeit wäre ich Archimandrit
-geworden und Bischof. In einer Kutsche wäre ich gefahren und hätte
-selber kommandiert, statt daß man mich kommandierte. Es war mir eine
-boshafte Freude, mich diesen eiteln Gedanken hinzugeben; immer wieder
-sah ich mich als Bischof. Aber als ich heimgekehrt war, wurde ich so
-zärtlich von meiner Pfarrerin empfangen, daß ich Gott dem Herrn dankte,
-der alles so gefügt hat, wie es ist.«
-
-»25. April. In der Gouvernementsstadt haben sie mir Schmach angetan;
-allein das ist nichts dagegen, wie ich heute zu Hause beschämt worden
-bin. Einem Schulbuben gleich. Gestern erst schrieb ich die Memorabilien
-meiner Bekümmernisse und Ärgernisse nieder. Heute stand ich früh
-auf, setzte mich ans Fenster, und in Gedanken versunken schaute ich
-auf das Gemüsefeld des bettelarmen Pizonskij, das sich gerade vor
-meinem Fenster ausbreitet. Voriges Jahr wurde auf diesem Felde ein
-schwachsinniges Mädchen, eine gewisse Nastia, die ein vorüberziehender
-Soldat verführt hatte, von einem Knäblein entbunden, worauf sie sich
-in den Fluß stürzte und ertrank. Pizonskij hatte dieses Kind als
-Trost seines einsamen Alters zu sich genommen, und dann hatten alle
-die Geschichte bald vergessen. Ich als einer der ersten ebenfalls.
-Heut aber blicke ich von oben herab auf das Land dieses Pizonskij und
-denke an meine Angelegenheiten, da bemerke ich, daß dieser frisch
-aufgerissene, schwarze, sogar ein wenig bläuliche Erdboden ganz
-ungemein lieblich anzuschauen ist, wie er so von der Morgensonne
-übergossen daliegt. Die Furchen entlang schreiten hagere schwarze
-Vögel und stärken ihren hungernden Leib mit frischem Gewürm. Der alte
-Pizonskij selbst, den kahlen Kopf im hellsten Sonnenlicht badend, stand
-auf einer Treppe vor einem auf Pfählen befestigten Treibbeet, hielt
-in der einen Hand eine Schale mit Samen und legte mit der andern die
-Körner in die Erde, immer kreuzweise in ganz kleinen Prisen. Und dabei
-blickte er zum Himmel empor und sprach bei jedem Korn ein Wort des
-Spruches: »Herr, laß wohlgelingen, wachsen und gedeihen, auf daß ein
-jeder sein Teil habe, der Hungernde und der Verwaiste, der Wünschende,
-der Bittende und der Fordernde, der Segnende und der Undankbare.« Kaum
-hatte er zu Ende gesprochen, da schrien alle schwarzglänzenden Vögel,
-die auf dem Acker umhergingen, die Hühner gackerten, der Hahn krähte
-aus vollem Halse und schlug laut mit den Flügeln, und von seiner Matte
-schob sich jenes Kind, das Söhnlein der Blödsinnigen, das der alte
-Sonderling zu sich genommen. Es lachte hell auf in kindischer Freude,
-klatschte in die Händchen und kroch lachend über den weichen Erdboden.
-Es war mir wie eine Vision. Der alte Pizonskij war glückselig und sang
-laut Halleluja! ... Halleluja, Herr mein Gott! -- sang auch ich still
-für mich vor Entzücken, und Tränen der Rührung entströmten meinen
-Augen. In diesen heilenden Tränen löste sich mein Groll und ich sah
-ein, wie töricht mein Kummer gewesen war. Vermehre und laß wachsen,
-Herr, deine Gaben auf dieser Erde, daß ein jeder sein Teil erhalte, der
-Wünschende, der Bittende, der Fordernde und der Undankbare. ... Mir ist
-ein solches Gebet in keinem gedruckten Buch vorgekommen. Gott, mein
-Gott! Dieser alte Mann gedachte auch des dem Diebe zukommenden Teiles
-und betete für ihn! O du mein weichherziges Rußland, wie bist du schön!«
-
-»6. August, Christi Verklärung. Was für ein entzückendes Weib ist meine
-Pfarrerin Natalia Nikolajewna! Wieder frage ich: wo, außer im heiligen
-Rußland, kann es solche Frauen geben? Ich sagte ihr einmal, wie mich
-die Zärtlichkeit des bettelarmen Pizonskij zu den Kindern rühre, und
-gleich verstand oder erriet sie meine Gedanken und meine Sehnsucht:
-sie umarmte mich und mit der Schamröte, die ihr so schön zu Gesichte
-steht, sprach sie: »Warte nur, Vater Sawelij, vielleicht schenkt uns
-Gott doch noch -- --« ein Kindlein wollte sie sagen. Aber ich hab' es
-zu oft schon erfahren, daß diese ihre Hoffnungen sich als trügerisch
-erwiesen, daher fragte ich sie gar nicht nach den Einzelheiten, -- --
-und es kam auch wirklich wieder so, daß man sich nur vergeblich gefreut
-hatte. Aber auch aus diesem blinden Lärm ward mir ein rührendes
-Erlebnis. Heute predigte ich von der Notwendigkeit einer beständigen
-inneren Wandlung, daß man Kraft gewinne, in allen Kämpfen gleich einem
-starken und geschmeidigen Metall geschmiedet zu werden, und nicht dem
-Ton gleichwerde, der sich plattdrücken läßt, und wenn er trocken wird,
-noch die Spur des Fußes zeigt, der zuletzt auf ihn trat. Und wie ich
-so redete, ließ ich mich zu einer Improvisation hinreißen und wies
-das Volk auf Pizonskij hin, welcher an der Tür stand. Zwar nannte
-ich nicht seinen Namen, aber ich redete von ihm als von einem, der
-sich in unserer Mitte befinde, der zu uns gekommen sei nackt und bloß
-und von allen Narren ob seiner Armut verspottet, der aber doch nicht
-nur selbst nicht zugrunde gegangen sei, sondern auch das Größte getan
-habe, was ein Mensch tun könne, da er unbefiederte Vöglein gerettet und
-aufgezogen habe. Ich sprach davon, wie süß das sei, den wehrlosen Leib
-der Kleinen zu wärmen und in ihre Seelen die Saat des Guten zu streuen.
-Als ich das ausgesprochen hatte, fühlte ich meine Wimpern von Tränen
-feucht und sah, daß auch viele von den Zuhörern ihre Augen trockneten
-und jenen suchten, den meine Seele meinte, Kotin den Bettler, Kotin
-den Ernährer der Waisen. Und als ich merkte, daß er nicht mehr da war,
-denn er war demütig hinausgegangen, weil er meine Andeutung verstanden
-hatte, da ergriff mich eine gewisse Beklemmung, daß ich ihn durch mein
-Lob verwirrt hatte, und ich sprach: »Er weilt nicht mehr unter uns,
-liebe Brüder! Denn er bedarf dieses meines schwachen Wortes nicht, weil
-das Wort der Liebe längst schon mit dem Flammenfinger Gottes in sein
-demütiges Herz geschrieben ist. Ich bitte euch,« sprach ich und neigte
-mich tief, -- -- »ihr alle, die ihr hier versammelt seid, ehrenwerte
-und angesehene Mitbürger, vergebt mir, daß ich in meiner Ansprache euch
-keinen hochberühmten Feldherrn als Muster der Kraft und als Beispiel
-zur Nachahmung hingestellt habe, sondern einen von den Geringen, und
-wenn euch das ärgern sollte, so legt das meiner Armut zur Last, denn
-euer sündiger Pfarrer Sawelij hat oft, wenn er auf diesen Geringen
-schaute, gefühlt, daß er neben ihm kein Priester des höchsten Gottes
-sei, sondern in diesem Gewande, das meine Unwürde verhüllt, nichts als
-ein übertünchter Sarg. Amen.«
-
-Ich weiß nicht, was in diesen meinen schlichten Worten, die ich ganz
-~ex promptu~ gesprochen hatte, Weises und Schönes enthalten war.
-Ich muß aber sagen, daß meine andächtige Gemeinde etwas dieser Art
-herausgehört hatte, und als ich bei der Entlassung meine Hand den
-einzelnen darreichte, fiel mehr denn eine Träne darauf. Doch das ist
-noch nicht alles: das Wichtigste sollte für mich erst kommen.
-
-Gewissermaßen als Belohnung für mein aufrichtiges Wort über das
-Glück, nicht bloß für die eigenen, sondern auch für fremde Kinder
-sorgen zu können, hat der Allgegenwärtige und Allwaltende auch meine
-Unwürdigkeit in seine Vaterhand genommen. Er hat mir heute den ganzen
-wahren Wert des Schatzes offenbar gemacht, den ich dank seiner
-unermeßlichen Milde besitze. Eben komme ich mit fünf nach der Messe
-geweihten Äpfeln heim, da erwartet mich an der Schwelle eine alte
-gute Bekannte: meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna. Sie war während
-des Schlußgesanges leise hinausgeschlichen und hatte mir daheim nach
-Gewohnheit den Tee nebst einem leichten Frühstück bereitet. Nun steht
-sie kerzengerade auf der Schwelle, nicht mit leeren Händen, sondern
-mit einem Strauß von Wasserlilien und Gartenlevkojen. »Nun, bist du
-nicht ein hinterlistiges Weib, Natalia Nikolajewna!« sage ich, der
-ihr sonst nie Hinterlist vorgeworfen. Aber sie begriff, daß es im
-Scherz gesagt war, umhalste mich und begann leise zu weinen. Woher
-diese Tränen? -- Das ist ihr Geheimnis, allein für mich ist dieses
-dein Geheimnis nicht geheimnisvoll, liebes Weib, daß du nicht weißt,
-wie es seinen Gatten trösten soll, und das ihm den Trost Israels,
-den kleinen Benjamin, nicht schenken darf. Ja, nur mit Wasserlilien
-und Gartenlevkojen begrüßte mich an diesem Tage ihr in Liebe und
-Wohlwollen weit aufgetanes Herz! In stiller Bekümmernis setzten wir
-zwei Kinderlosen uns an den Teetisch, doch nicht der Tee, sondern
-unsere Tränen wurden uns zum Trank; und Hand in Hand sanken wir nieder
-vor dem Bilde des Heilandes und lange und heiß beteten wir zu ihm um
-den Trost Israels. Natascha entdeckte mir später, daß sie gleichsam
-eine Engelstimme vernommen habe, und ob ich gleich verstand, daß dieses
-nur eine Frucht ihrer Phantasie gewesen, so wurden wir doch beide froh
-wie die Kindlein. Ich muß aber bemerken, daß auch in dieser Stimmung
-Natalia Nikolajewna mich, den rohen Mann, an Findigkeit des Geistes und
-an Würde der erhabenen Gefühle weit übertraf.
-
-»Sage mir, Vater Sawelij,« fragte sie lieblich kosend, »sage mir,
-Lieber, hast du nicht irgendeinmal, ehe du mich gefunden, gegen das
-Gebot der Keuschheit gesündigt?«
-
-Eine solche Frage, muß ich gestehen, machte mich äußerst verlegen, denn
-ich begriff plötzlich, warum meine unartige Gattin etwas ihr so wenig
-Geziemendes erfahren wollte.
-
-Aber mit ihrer ganzen ausgezeichneten Bescheidenheit und all jener
-weiblichen Koketterie, die sie auch als Pfarrersfrau von der Natur
-geerbt hat, begann sie mich mit Erinnerungen aus meiner verflossenen
-Jugendzeit zu locken, und wies darauf hin, daß das, was sie angedeutet,
-sehr leicht hätte geschehen können, denn ich sei damals so schmuck
-gewesen, daß alle Mädchen, nicht nur aus geistlichen, sondern auch
-aus weltlichen Häusern, mir nachgeseufzt hätten, als ich in die
-Stadt Fatesh gekommen sei, um bei ihrem Vater um sie anzuhalten. So
-erheiternd das auch war, so suchte ich doch alle ihre Zweifel über
-meine Jugend zu zerstreuen, was mir auch nicht schwer fiel, denn ich
-brauchte nur die reine Wahrheit zu sagen. Allein je eifriger ich sie
-beruhigte, desto betrübter ward sie, und ich konnte nicht fassen,
-warum meine Rechtfertigung sie gar nicht erfreute, sondern nur immer
-trauriger machte, bis sie endlich sagte:
-
-»Denke nach, Vater Sawelij, vielleicht, wenn du doch leichtsinnig
-gewesen ... gibt es irgendwo noch ein Waisenkind ...«
-
-Nun erst verstand ich, was sie klar auszusprechen sich geschämt
-hatte: sie will mein illegitimes Kind ausfindig machen, das gar nicht
-vorhanden ist! Welche Herzensgüte! Wie ein Stier, den die Bremse
-gestochen hat, riß ich mich von meinem Platze, stürzte nach dem
-Fenster und richtete meine Blicke in die himmlische Ferne hinaus,
-daß nur der Himmel mich sehe, mich, den sein Weib so durch seine
-Güte und Sorglichkeit beschämt hatte. Sie aber, meine Lilien- und
-Levkojenfreundin, meine weiße, keusche, süß duftende Rose, mit leichten
-Schritten schlich sie mir nach und legte ihre kleinen Pfötchen mir auf
-die Schultern und sprach:
-
-»Denke nach, Liebster: vielleicht ist irgendwo ein Vöglein vorhanden,
-und ist es so, dann lasse uns gehen und es holen!«
-
-Nicht nur aufsuchen will sie das Kind, -- sie hat es schon lieb,
-sie bemitleidet es wie ein noch unbefiedertes Vöglein! Das ward mir
-zu viel, ich biß mich in den Bart, fiel vor ihr in die Knie, neigte
-mich tief zur Erde und brach in jenes Schluchzen aus, das keiner auf
-Erden zu schildern vermag. Und in Wahrheit, saget mir, alle Zeiten
-und Völker, -- wo außer in unserem heiligen Rußland, werden Frauen
-geboren, wie diese Tugend? Wer hat sie das alles gelehrt? Wenn nicht
-Du, allgütiger Gott, der Du sie deinem unwürdigen Knecht gegeben hast,
-daß er Deine Größe und Deine Güte näher fühlen solle!«
-
-Hier war im Tagebuch des Vaters Sawelij fast eine ganze Seite mit Tinte
-begossen und unter dem Fleck standen die Zeilen:
-
-»Weder will ich diesen Fleck entfernen noch eine gewisse
-Ungeschicklichkeit und Monotonie des Ausdrucks, die ich in den letzten
-Zeilen finde, verbessern; mag alles so bleiben, denn alles, was dieser
-Augenblick mir geschenkt hat, ist mir in seiner gegenwärtigen Gestalt
-teuer. Meine Pfarrerin konnte heut von ihren Schelmereien nicht lassen,
-obgleich es schon auf Mitternacht geht und sie gewöhnlich um diese Zeit
-schon zu schlafen pflegt. Ich aber ziehe es vor, mich in der Stille
-der Nacht noch an einem passenden Buch zu erquicken, oder auch meine
-Memorabilien aufzuzeichnen, und oft, wenn ich etwas geschrieben habe,
-trete ich an ihr Lager und küsse die Schlafende, und wenn mich etwas
-betrübt hat, so schöpfe ich aus diesem Kusse neuen Mut und neue Kraft,
-und schlummere dann friedlich ein. Heut aber ist es anders gegangen.
-Nach diesem Tage, der mir eine solche Menge verschiedenartigster
-Empfindungen gebracht hat, war ich so in die Schilderung alles dessen,
-was auf den vorhergehenden Blättern geschrieben steht, vertieft, daß
-ich mein arges Weiblein gleichsam in meiner Seele selbst fühlte, und da
-meine Seele sie küßte, dachte ich nicht daran, an ihr Bett zu treten
-und sie zu küssen. Sie aber, die Feine und Arglistige, hatte diese
-meine Unterlassung wohl bemerkt und machte sie in unglaublich eigener
-Weise gut: vor einer Stunde kam sie zu mir, legte mir ein reines
-Schnupftuch auf den Tisch, gab mir einen Kuß und ging dann, scheinbar
-ganz ernst, zur Ruhe. Aber welch unfaßbare weibliche Schlauheit muß
-ich an ihr entdecken! Wie ich so ganz ernst dasitze und schreibe, sehe
-ich, daß mein Tuch sich scheinbar bewegt und auf den Boden fällt. Ich
-bückte mich, legte es wieder auf den Tisch und schrieb weiter; aber das
-Tuch fiel wieder auf den Boden. Ich nahm den Flüchtling und fesselte
-ihn, indem ich das Tintenfaß auf ihn stellte, aber er entwich von neuem
-und riß sogar das Tintenfaß mit, welches umfiel und meinen Kalender
-mit diesem mächtigen Fleck zierte. Was sollte nun diese Leinwandflucht
-bedeuten? Sie bedeutet, daß meine Pfarrerin eine ausgemachte Kokette
-ist, und zwar eine von ganz seltener Art, denn sie kokettiert nicht
-mit andern guten Leuten, sondern mit dem eigenen Ehgemahl. Sie hatte
-an das Tuch, das sie mir gebracht, heimlich einen recht langen Faden
-befestigt, durch die Türritze bis zu ihrem Bette gezogen, und während
-sie ganz still daliegt, zupft sie scherzend an dem Faden, so daß mir
-das Tuch aus der Hand gleitet. Und ich dickfelliger Kerl entdeckte dies
-nur, weil bei dem letzten Fallen des Tuches hinter der Tür ein leises
-fröhliches Lachen ertönte, und ich ihre nackten Füßchen stampfen hörte!«
-
-»7. August. Die ganze vorige Nacht habe ich vor Glück nicht schlafen
-können, und ich lüge nicht, wenn ich hinzufüge, daß auch Natascha an
-dieser Nachtwache nicht unbeteiligt war. Wie die Verliebten vor St.
-Peter auf die Sonne warten, so saßen wir im sechsten Jahr unserer Ehe
-im Fenster und harrten des Sonnenaufgangs. Meine Liebste gestand mir,
-daß sie oft nicht schlafe, wenn ich schreibe, und sich nur schlafend
-stelle. Auch manches andere gestand sie mir noch; so, daß sie gestern
-in der Kirche, als sie meiner Predigt zuhörte, die ihr ganz besonders
-gefallen habe, das Gelübde abgelegt habe, zu Fuß nach Kiew zu pilgern,
-sobald sie sich gesegneten Leibes fühle. Ich billigte das nicht, denn
-eine solche Wanderung ist den Kräften einer Schwangeren gar nicht
-angemessen; ich erlaubte ihr aber doch, das Gelübde zu erfüllen, denn
-bei einer so großen Freude würde ich selbstverständlich auch mitgehen
-und wenn sie ermüdet, würde ich sie tragen. Wir machten gleich einen
-Versuch. Ich trug sie lange auf meinen Armen durch den Garten und
-träumte, sie wäre schon guter Hoffnung und ich behütete sie, daß ihr
-auf der Wanderung kein Unheil zustoße. Und so sehr gewann dieser
-Sehnsuchtstraum Gewalt über mich, daß ich, als Natascha sich scherzend
-auf die Schaukel setzte, welche das kleine Mädchen der Köchin sich
-an einem Apfelbaum befestigt hatte, diese Schaukel herunternahm und
-sie ganz hoch in den Baum warf, damit in Zukunft nichts dergleichen
-geschehe, worüber Natascha sehr lachte. Allein, obgleich auch mein
-Leben nicht reich ist an Dingen, die sorgfältig geheimgehalten werden
-müßten, so ist es dennoch gut, daß der Wirt unseres Hauses seinen
-Garten mit einem festen Zaun umgeben hat, und Gott längs diesem Zaun
-die Himbeersträucher recht dicht hat wachsen lassen, denn sonst hätte
-am Ende dieser oder jener gesagt, daß es keine Sünde wäre, den Popen
-Sawelij einmal auch einen Hansnarr zu nennen.«
-
-»9. August. Ich notiere eine höchst erheiternde Begebenheit, wie
-meine Gattin heut mit dem Sohne des Diakon, einem Seminaristen der
-Rhetorikklasse, in richtigen Streit geriet. Das war ein Kasus und eine
-Komödie zugleich. Sie stritten darüber, wer der klügste Mann auf Erden
-gewesen. Der Rhetor sagte: Salomo, meine Pfarrerin aber behauptet,
-ich sei's, und ich muß zugeben, daß diesesmal der üppige König von
-Zion einen weit weniger standhaften Advokaten fand, als ich. O, wie
-hab' ich gelacht! Was nicht alles in dieser Welt passieren kann! Ich
-hörte das alles aus dem Schlafzimmer, wo ich meine Nachmittagsruhe
-hielt; als ich erwacht war, wagte ich die Disputation nicht mehr zu
-unterbrechen, und die zwei redeten mächtig aufeinander ein. Der Rhetor,
-der für die Weisheit Salomonis eintrat, berief sich auf die Worte der
-Schrift, daß »Salomo weiser war, denn alle Menschen«, meine Eheliebste
-aber schlug ihn mit folgendem Argument: »Was reibt Ihr mir Euer ›also‹
-und ›denn‹ und ›sintemal‹ unter die Nase? All diese ›denn‹ und ›also‹
-haben gar keine Bedeutung, weil das alles geschrieben wurde, bevor
-der Vater Sawelij geboren war.« Jetzt mengte sich in diesen Diskurs
-noch der Pfarrer von St. Nikita, Vater Zacharia Benefaktow, hinein,
-der dem ganzen Streite zugehört hatte, und ihn zum Schluß brachte,
-indem er meiner Gattin recht gab. Es sei richtig, sagte er, -- will
-heißen, richtig in dem Sinne, daß ich damals noch nicht auf der Welt
-war. So behielt ein jeder von diesen drei Kritikern recht. Ich allein,
-dem alle ihre kritischen Meinungen zur Antikritik vorgelegt wurden,
-blieb im Unrecht: vorerst betrübte ich meine Natascha, indem ich ihre
-Meinung, ich sei der klügste von allen, verwarf, und auf ihre Frage,
-wer denn klüger sei als ich, antwortete, sie selber sei es. Dem ward
-verzweifelter Widerstand entgegengesetzt, wie er sich nur gegen die
-Wahrheit richten kann: »Die Klugen,« -- sagte sie, -- »können über alle
-Dinge urteilen, ich aber kann das gar nicht und diskutiere niemals.
-Woher kommt das?« Da faßte ich sie leise an ihrem kleinen Näschen und
-erwiderte: »Du mischst dich darum nicht gerne in die Diskussion, weil
-du statt einer widerspenstigen Nase nur dieses kleine sanftmütige
-Knöpfchen hast.« Sie verstand wohl, was ich mit diesem Scherz sagen
-wollte, -- nämlich ihre Herzensmilde ins rechte Licht rücken -- und
-sie suchte nun es zu widerlegen, indem sie daran erinnerte, wie sie
-einmal mit der Postmeistersfrau handgemein geworden sei, um ihr ein
-Dienstmädchen zu entreißen, das jene unmenschlich hart strafen wollte.«
-
-»15. August, Mariä Himmelfahrt. Während ich mich so meiner
-Gattin freute, hatte ich gar nicht bemerkt, daß meine Predigt am
-Verklärungstage, von der Natascha so erbaut gewesen, auf andere
-Leute anders gewirkt hatte, und daß ich eine mir höchst unerwünschte
-Mißstimmung unter einigen Leuten in der Stadt hervorgerufen hatte.
-Meine andächtigen Zuhörer, natürlich nicht alle, aber einige, und
-unter diesen in erster Linie die Postmeisterin Timonowa, fühlen
-sich gekränkt, daß ich sie durch meine Anspielung auf Pizonskij
-herabgesetzt habe. Indessen, das sind alles nur Torheiten müßiger und
-unkluger Geister. Nach und nach wird das an dem Selbstgefühl der hohen
-Herrschaften wieder abtrocknen, wie die Wunden am Fell des Hundes.«
-
-»3. September. Ich war in einem großen Irrtum befangen. Die
-Angelegenheit ist keineswegs erledigt. Aus dem Konsistorium kam eine
-Anfrage, ob ich wirklich eine Predigt mit Hinweis auf eine lebende
-Person improvisiert hätte? Ach Gott, was für eine Angst hat man bei uns
-vor allem Lebendigen! Nun, ich habe denn auch geantwortet, ich hätte
-dieses und das gesagt. Ich meine, man wird mich dafür nicht hängen und
-mir den Kopf nicht abhauen, -- und doch ist mir gegen meinen Willen
-unbehaglich zumute, und meine Ruhe ist hin.«
-
-»20. Oktober. Gewiß können sie einem den Kopf nicht abschlagen, aber
-den Mund können sie einem stopfen, und das haben sie denn auch nicht
-ermangelt zu tun. Am 15. September wurde ich zur Rechenschaft gezogen.
-Schon diese Hast ließ wenig Gutes vermuten, denn mit dem Guten haben's
-die Leute bei uns nicht eilig, am allerwenigsten die Machthaber. --
-Trotzdem machte ich mich voller Mut auf den Weg. Dieser wurde zuerst
-dadurch abgekühlt, daß ich 36 Tage ohne Bescheid blieb, und dann der
-Befehl kam, hinfort alles, was ich zu sagen gedenke, vorerst dem Zensor
-Troadij vorzulegen. Das wird niemals geschehen, lieber will ich stumm
-sein wie ein Fisch. Vergib mir meinen Hochmut, Allwalter, aber ich kann
-das Amt des Predigers nicht mit kalter Leidenschaftslosigkeit ausüben.
-Ich fühle mitunter, wie etwas über mich kommt, wenn meine geliebte
-Gabe wirken will. Dann erfaßt mich eine, ich kann wohl sagen heilige
-Unruhe; meine Seele bebt und glüht und die Worte fallen wie feurige
-Kohlen von meinen Lippen. Nein, dann trägt meine Seele ihr eigenes
-Zensurgesetz in sich! ... Und sie verlangen, ich soll an Stelle der
-lebendigen Rede, die vom Herzen zum Herzen geht, rhetorische Übungen
-hervorbringen!
-
-Nein! lieber mögt ihr euch schließen, ihr Lippen, die ihr nicht zu
-schmeicheln wißt, lieber sollst du schweigen, mein schlichtes Wort!
-Gezwungen predigen mag ich nicht.«
-
-»23. November. Ich kann wahrhaftig nicht behaupten, daß mein Leben
-aller Abwechslung entbehrt. Im Gegenteil, es geht alles bunt
-durcheinander, so daß die Spannung keinen Augenblick nachläßt. Achtzehn
-Werst von unserer Stadt, in dem großen Kirchdorf Plodomasowo, lebt die
-Besitzerin dieses Dorfes, die Bojarin Marfa Andrejewna Plodomasowa.
-Dieser Knüppel ist von so altem Holz, daß man schon längst keinerlei
-Lebenszeichen an ihm bemerkt hat; man weiß nur aus alten Erinnerungen,
-daß sie eine Frau von nicht geringem Geiste war. An die zwanzig Jahre
-schon kann kein Fernerstehender sich rühmen, die Bojarin Plodomasowa
-gesehen zu haben.
-
-Vorgestern, kurz vor zwölf Uhr mittags, war ich unsagbar erstaunt, als
-ich eine große herrschaftliche Droschke, mit drei Füchsen bespannt,
-vor meinem Hause vorfahren sah. Im Wagen saß ein absonderlich kleines
-Männlein, in einer haarigen Filzmütze mit langem Schirm und in einem
-braunen Mantel, den eine Menge übereinanderliegender Kapuzen und
-Pelerinen zierten.
-
-Was, dachte ich, kann das für eine seltsame Person sein, und kommt
-sie auch wirklich zu mir oder hat sie nur irrtümlicherweise den Weg
-zu mir genommen? Diese meine Zweifel wurden aber sehr bald durch jene
-geheimnisvolle Person selbst gelöst, die in mein Wohnzimmer trat, mit
-jenem überaus feinen Anstand, welcher mir stets so wohlgefiel. Vorerst
-bat der Gast um meinen Segen, dann machte er mit seinem ausnehmend
-kleinen Füßchen einen Kratzfuß, trat mit einer Verbeugung zwei Schritte
-zurück und sprach:
-
-»Meine Herrin, Marfa Andrejewna Plodomasowa, haben mir einen Gruß an
-Euch aufgetragen, Vater Sawelij, und bitten Euch, alsbald mit mir zu
-ihr zu kommen.«
-
-»Darf ich nun meinerseits,« sprach ich, »erfahren, mein Herr, aus
-wessen Munde ich das alles höre?«
-
-»Ich bin,« erwiderte der Kleine, »ein Leibeigener Ihrer Exzellenz, der
-gnädigen Frau Marfa Andrejewna, und nenne mich Nikolai Afanasjew.«
-
-Nachdem dieses winzige Persönchen sich mir so vorgestellt hatte,
-erinnerte es mich nochmals daran, daß seine Herrin mich erwarte.
-
-Während ich mich im Nebenzimmer ankleidete, knüpfte dieser interessante
-Zwerg eine Unterhaltung mit Natalia Nikolajewna an und brachte sie
-durch seine Reden in helles Entzücken. Und wahrlich, es liegt in den
-Worten und in der ganzen Redeweise dieses winzigen Greises etwas
-unaussprechlich Liebliches. Dazu kommt noch sein feiner Anstand
-und eine große Freundlichkeit. Dem Dienstmädchen, das ihm ein Glas
-Wasser brachte, legte er einen Zwanziger auf das Tablett, und als sie
-zögerte, das Geld zu nehmen, wurde er selbst verlegen und sagte: »Nein,
-meine Beste, tun Sie das mir nicht an, es ist das nun mal so meine
-Gewohnheit.« Und als meine Pfarrerin zu mir hinausgegangen war, um mir
-die Haare zu salben, nahm er das schmutzige Mädelchen der Köchin, das
-der Mutter nachgelaufen war, bei der Hand und sagte: »Hör mal, wie die
-Entchen da unten am Flusse schwatzen. Die Ente, die feine Dame, sagt
-zum Enterich, dem Kavalier: Kauf mir 'ne Kappe, kauf mir 'ne Kappe!
--- und der Enterich antwortet: Hab schon, hab schon, hab schon!« Das
-Kind lachte laut, und auch ich konnte mich bei dieser Auslegung des
-Entengeschnatters eines Lächelns nicht erwehren. Dessen hätte sich auch
-der Herr Lafontaine oder unser Iwan Krylow nicht zu schämen brauchen.
-
-Die Fahrt verlief mir im Gespräch mit diesem wunderbaren Zwerge so
-schnell, daß ich kaum etwas vom Wege sah. So viel Verstand, Reinheit
-und Gesundheit fand ich in allen seinen Reden.
-
-Nun aber kommt die Hauptsache: die Stunde der Begegnung mit der
-einsamen Bojarin nahte.
-
-Es wundert mich nicht wenig, daß ich in der Erwartung, obschon ich
-von Natur keineswegs schüchtern bin, doch so etwas wie eine kleine
-Verzagtheit verspürte. Nikolai Afanasjewitsch führte mich durch eine
-Reihe Gemächer, deren Prunk und äußerste Sauberkeit mich staunen
-machten, und blieb endlich in einem runden Zimmer mit zwei Reihen
-Fenstern stehen, deren Wölbungen mit bunten Scheiben geziert waren.
-Hier fanden wir eine alte Frau, die nur um ein Geringes größer war als
-Nikolai. Als wir eintraten, stand sie da und drehte den Griff einer
-großen Orgel. Fast hätte ich sie für die Herrin selbst gehalten und
-ihr eine Verbeugung gemacht. Aber als sie uns erblickte, -- dank der
-weichen Teppiche, die in allen Gemächern den Fußboden bedeckten, waren
-wir unhörbar eingetreten -- verstummte sofort ihre Musik, und mit
-einer etwas tierischen Hast eilte sie in den Nebenraum, dessen Eingang
-ein großer Vorhang aus weißem Atlasstoff schloß, der mit allerlei
-chinesischen Figürlein in farbiger Seide bestickt war.
-
-Diese Frauensperson, welche mit solcher Hast hinter dem Vorhang
-verschwand, war, wie ich später erfuhr, die leibliche Schwester
-des Nikolai und ebenfalls eine Zwergin. Es fehlte ihr aber die
-Liebenswürdigkeit, die aus der ganzen äußern Erscheinung ihres sanften
-Bruders sprach.
-
-Nikolai folgte seiner Schwester hinter den Vorhang, nachdem er mich
-gebeten hatte, auf einem Sessel Platz zu nehmen. Während der halben
-Stunde, welche ich warten mußte, empfand ich eine gewisse Bitterkeit im
-Munde, die mir noch aus meiner Kindheit, von den Schulprüfungen her, so
-gut im Gedächtnis geblieben war. Aber auch das nahm ein Ende. Hinter
-dem Vorhang vernahm ich die Worte: »Nun zeig mir mal den klugen Popen,
-der, wie ich höre, gewohnt ist, die Wahrheit zu reden.«
-
-Wie auf den Wink eines Zauberers, an unsichtbaren Schnüren gezogen,
-teilte sich der Vorhang plötzlich, und die Bojarin Plodomasowa
-stand vor mir. Ihre Stimme, die ich zuvor gehört hatte, widerlegte
-schon meine Meinung von ihrer Hinfälligkeit, und ihre Erscheinung
-tat es noch mehr. In einer Fülle der Kraft, die, schien es, nie
-versiegen konnte, stand die Bojarin vor mir. Von Wuchs nicht groß
-und auch nicht besonders üppig, scheint sie gleichsam über allem
-zu herrschen. Auf ihrem Antlitz liegt der Ausdruck einer großen
-Strenge und Wahrhaftigkeit, und, nach den Zügen zu schließen, muß es
-einstmals sehr schön gewesen sein. Ihr Gewand ist seltsam und zu der
-heutigen Zeit wenig passend, ein Halbrock aus hellem Tuch, darunter
-ein Sammetrock, grell orangegelb, und gelbe Stiefelchen auf hohen
-silbernen Absätzen. Um den Kopf windet sich mehrfach, wie bei einer
-Türkin, ein großer brauner Schal. In der Hand hält sie einen Stock mit
-einem Amethyst-Knopf. Zu ihrer Rechten stand Nikolai Afanasjewitsch,
-zur Linken Maria Afanasjewna, hinter ihr der Pfarrer der Dorfkirche,
-Vater Alexei, ein entlassener Leibeigener, der auf ihre Anordnung zum
-Priester geweiht worden war.
-
-»Guten Tag,« sagte sie, ohne den Kopf auch nur im geringsten zu senken.
-»Es freut mich, daß ich dich zu sehen bekomme.«
-
-Ich erwiderte ihren Gruß mit einer Verbeugung, welche recht ungeschickt
-war, glaube ich.
-
-»Komm her und segne mich,« sagte sie.
-
-Ich trat zu ihr und segnete sie. Sie ergriff meine Hand, um sie zu
-küssen, was ich auf jede Weise zu verhindern suchte.
-
-»Zieh deine Hand nicht weg,« sagte sie, als sie es bemerkte. »Ich
-huldige nicht dir, sondern deinem Amte. Setze dich jetzt, und wir
-wollen ein wenig miteinander bekannt werden.«
-
-Wir setzten uns, -- das heißt sie, ich und der Vater Alexei. Die Zwerge
-stellten sich zu beiden Seiten der Herrin auf.
-
-»Vater Alexei hat mir gesagt, dir sei die Gabe der Rede und ein klarer
-Verstand verliehen. Er selber versteht nichts davon, er hat's aber wohl
-von den Leuten gehört. Ich habe lange schon keine klugen Leute gesehen,
-und da wollt' ich dich einmal zu meiner Zerstreuung anschauen. Sei mir
-alten Frau deswegen nicht böse.«
-
-»Man hat dich hergeschickt,« fuhr sie fort, »die Altgläubigen zu
-bekehren?«
-
-»Ja,« erwiderte ich, »mit meiner Ernennung hierher war auch diese
-Absicht verbunden.«
-
-»Ich meine,« sagte sie, »es ist ein nutzloses Unterfangen. Den Dummen
-belehren und den Toten kurieren zu wollen ist eins des andern wert.«
-
-Ich weiß nicht mehr, in was für Worte ich meine Antwort, daß ich nicht
-alle Altgläubigen für dumm halte, kleidete.
-
-»Nun, wenn du sie für so klug hältst, -- wie viele hast du schon auf
-den rechten Weg geleitet?«
-
-»Noch kann ich mich keiner Erfolge rühmen,« entgegnete ich, »aber das
-hat seine Gründe.«
-
-Sie: »Was für Gründe meinst du?«
-
-Ich: »Man behandelt sie nicht in der entsprechenden Weise, und das Übel
-wächst infolge des Wankelmuts, den sie in der orthodoxen Gemeinde und
-auch bei der Geistlichkeit selbst beobachten.«
-
-Sie: »Du sagst ›Übel‹. Was ist denn an ihnen so Übels? Harmlose Narren
-vor dem Herrn sind sie, deren ganze Sünde darin besteht, daß sie zuviel
-Bücher gelesen haben.«
-
-Ich: »Allein, der rechtgläubige Altar leidet unter solcher Spaltung.«
-
-Sie: »Ihr solltet diesem Altar treuer dienen und ihn nicht zum
-Kramladen machen, dann würde keiner von euch abfallen. Ihr handelt ja
-aber alle mit dem Heil, wie andere Leute mit Tuch.«
-
-Ich schwieg.
-
-Sie: »Bist du verheiratet oder Witwer?«
-
-Ich: »Verheiratet.«
-
-Sie: »Nun, wenn Gott dich mit Kindern segnet, dann nimm mich zur
-Taufpatin. Ich tu's gerne. Selber komm ich nicht zur Taufe, ich schicke
-meine Zwergin. Aber wenn du das Kind hierherbringst, will ich's selber
-halten.«
-
-Ich dankte und fragte sie:
-
-»Eure Exzellenz haben Kinder wohl gerne?«
-
-»Welcher gescheite Mensch hat sie denn nicht lieb? Ihrer ist das Reich
-Gottes.«
-
-»Exzellenz leben schon lange allein?«
-
-Sie: »Ganz allein, sehr, sehr lange schon.« Und sie seufzte.
-
-Ich: »Die Einsamkeit ist oft sehr schwer zu tragen.«
-
-Sie: »Bist du denn nicht einsam?«
-
-Ich: »Wie kann ich einsam sein, wenn ich eine Frau habe?«
-
-Sie: »Ja, versteht denn deine Frau alles, was dich, als Mann von
-Verstand, quälen und betrüben kann?«
-
-Ich: »Meine Frau macht mich glücklich und ich liebe sie.«
-
-Sie: »Du liebst sie? Ja, aber du liebst sie mit dem Herzen, und mit den
-Gedanken deiner Seele bist du doch einsam. Bedaure mich nicht, daß ich
-so einsam bin: jeder, der in seinem Hause über die Nase seines Bruders
-hinaussieht, ist einsam mitten unter den Seinigen. Ich habe auch einen
-Sohn, aber es sind bald drei Jahre, daß ich ihn nicht mehr gesehen
-habe. Es ist ihm wohl zu langweilig in meiner Gesellschaft.«
-
-Ich: »Wo befindet sich Ihr Herr Sohn?«
-
-Sie: »In Polen. Er ist Regimentskommandeur.«
-
-Ich: »Es ist ein ruhmvolles Werk, die Feinde des Vaterlandes zu
-bezwingen.«
-
-Sie: »Ich weiß nicht, wieviel Ruhm uns das bringt, daß wir uns mit
-diesen Polacken immer noch herumschlagen. Meiner Ansicht nach zeugt das
-nur von unserer Schlamperei.«
-
-Ich: »Wir werden schon fertig, die Zeit kommt noch.«
-
-Sie: »Die kommt nie, weil sie schon vorüber ist. Wir haben immer so
-dagestanden wie die Schnepfe im Sumpf: der Schnabel ist zu lang, und
-der Schwanz ist zu lang. Ziehn wir den Schnabel raus, bleibt der
-Schwanz stecken; ziehn wir den Schwanz raus, steckt der Schnabel
-drin. Wir schaukeln hin und her, daß alle Narren ihre Freude dran
-haben: einmal kommen wir den Polen mit der Knute, und das andere Mal
-küssen wir ihren schlauen Polinnen die Händchen. Es ist eine Sünde und
-Schande, die Leute so zu verderben.«
-
-»Und doch,« sagte ich, »hält unsere Armee die Polen im Zaum, daß sie
-uns keinen Schaden zufügen können.«
-
-»Niemanden hält sie im Zaum,« antwortete sie, »und diese Polen wären
-uns gar nicht gefährlich, wenn wir uns gegenseitig nicht fressen
-wollten.«
-
-»Dieses Urteil Eurer Exzellenz,« meinte ich, »scheint mir doch etwas zu
-schroff.«
-
-Sie: »Die Wahrheit ist nie zu schroff.«
-
-»Sie erinnern sich doch gewiß noch des Jahres 1812,« bemerkte ich, »was
-für eine Einmütigkeit zeigte Rußland damals!«
-
-Sie: »Jawohl, ich erinnere mich sehr gut: ich selbst habe aus diesem
-Fenster zugesehen, wie unsere Kosaken meine Bauern prügelten und meine
-Speicher plünderten.«
-
-»Nun,« sagte ich, »so etwas kann ja vorgekommen sein, ich will die
-Kosaken keineswegs verteidigen, aber wir haben uns trotz allem
-heldenmütig behauptet gegen den Mann, vor dem ganz Europa im Staube
-lag.«
-
-Sie: »Ganz recht, weil der liebe Gott und der Frost uns zu Hilfe kamen,
-haben wir uns behauptet.«
-
-Dieses ebenso verächtliche als ungerechte Urteil machte auf mich einen
-so unangenehmen Eindruck, daß ich, ohne mein Unbehagen zu verbergen,
-erwiderte:
-
-»Glauben Exzellenz im Ernst, daß in Rußland einzig der Zufall regiert?
-Einmal mag's Zufall sein und noch einmal Zufall, aber beim dritten Male
-lassen Sie doch auch die Weisheit und den Heldenmut der Führer des
-Volkes gelten.«
-
-»Alles ist Zufall, mein Bester, und in allem, was mit diesem Reiche
-geschieht, sehe ich neben dem Willen Gottes bisher nichts als
-Zufälligkeiten. Hätten deine Altgläubigen den langen Peter umgebracht,
-so säßen wir heute noch auf unserm vielgerühmten Grund und Boden nicht
-als mächtiger Staat, sondern als so was, wie die Bulgaren in der
-Türkei, und würden diesen selben Polen die Hände küssen. Eins nur
-gereicht uns zum Lobe: daß unser so viele sind. Es dauert lang, bis
-wir einander aufgefressen haben. Das ist uns eine gute Gewähr für die
-Zukunft.«
-
-»Das ist traurig,« sagte ich.
-
-»Laß dich's nicht bekümmern. Andere Länder bauen auf ihren Ruhm,
-unseres wird auch durch Schimpf stark. Aber nun haben wir genug
-geredet, ich bin schon müde geworden. Leb wohl. Und wenn was Schlimmes
-passiert, komm nur zu mir und beklage dich. Sieh nicht darauf, daß ich
-solch ein verschrumpfter Pilz bin. Der Pilz steht zwar im Wald, aber
-man weiß auch in der Stadt von ihm. Und wenn sie über dich herfallen,
-so freue dich drüber; wärst du ein Kriecher oder ein Dummkopf, so täten
-sie es nicht, sondern würden dich loben und den andern als Beispiel
-hinstellen.«
-
-Nachdem sie gesprochen, wandte sie sich zur Zwergin, welche während
-unseres ganzen Gespräches ein Paket in der Hand hielt, ließ es sich
-geben, reichte es mir und sagte:
-
-»Bring das in meinem Namen deiner Pfarrerin, es sind Korallen, die ich
-früher getragen, zwei Stück Stoff zu Kleidern, und Leinwand für den
-Hausgebrauch. Und für dich hab' ich hier einen Rubinring.«
-
-Dieses Geschenk machte mich bei aller schlichten Herzlichkeit,
-mit der es überreicht wurde, doch etwas verlegen, und während ich
-die Korallenketten, die Seidenstoffe und den hell leuchtenden
-Rubin betrachtete, sagte ich: »Exzellenz, ich bin Ihnen für diese
-schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr dankbar. Die Sachen sind aber so
-prächtig, und meine Gattin ist eine ganz schlichte Frau ...«
-
-»Nun,« unterbrach sie mich, »um so besser, wenn du eine einfache Frau
-hast; wo der Mann und die Frau alle beide die Hosen anhaben, da kommt
-nichts Gescheites heraus. Es ist immer das beste, wenn die Frau ihren
-Weiberrock anbehält, -- also mag sie sich aus dem da ein paar Röcke
-nähen.«
-
-Hiermit war unser Gespräch beendet und ich muß gestehen, diese Frau
-erfüllte mich mit großer Bewunderung. Was mich aber am meisten wundert,
-das ist meine Unsicherheit ihr gegenüber. Woher kam es, daß mir die
-Zunge am Gaumen kleben blieb, als wenn ich etwas zu fürchten hätte?
-Und wenn ich dann zu reden versuchte, so kam alles so armselig heraus.
-Sie aber lenkte das Gespräch ganz nach ihrer Laune, und gab ich mir
-Mühe, recht klug zu scheinen, damit ihre Enttäuschung nicht gar so
-groß sei, so achtete sie gar nicht darauf. Ihre Worte kamen scheinbar
-ganz unvorbereitet, sie schien's auf eine Prüfung meines Verstandes
-nicht abgesehen zu haben, -- und doch kann ich sie nicht vergessen!
-Worin liegt diese ihre Gewalt? Ich glaube, in jener feinen Weltbildung,
-welche unsere geistlichen Erzieher verachten, ohne zu bedenken, daß
-sie uns dadurch der so sehr notwendigen Findigkeit und Gewandtheit im
-Verkehr mit Menschen der großen Welt berauben.
-
-Aber dieser Tag sollte damit noch nicht schließen. Es kam noch ein
-seltsames Erlebnis. Kaum hatte ich mich an der Freude meiner biedern
-Natascha über die Geschenke geweidet, da packte auch dieser ehrenwerte
-Zwerg Nikolai Afanasjewitsch seine Gaben aus. Zuerst überreichte
-er mir ein Paar gestrickte baumwollene Hosenträger, weiß mit roter
-Borte, und meiner Gattin ein Kopftüchlein aus zarter Kaninchenwolle.
-Während ich noch über die Seltsamkeit dieser neuen unerwarteten Gaben
-staunte, entnahm er seiner Tasche ein Paar wollener Strümpfe für unsere
-Dienstmagd Axinia, die eben den Samowar brachte. »Was ist denn das für
-ein Schenktag!« rief ich unwillkürlich aus, und wagte nicht, den Geber
-durch eine Ablehnung zu kränken. Er antwortete mir, es seien alles
-Arbeiten seiner eigenen Hand. »Da ich, dank meiner Wohltäterin, nicht
-zu arbeiten brauche und nichts anderes gelernt habe, so beschäftige
-ich mich immer mit Stricken, um nicht müßig zu sein und die Freude zu
-haben, diesem und jenem etwas von meinen Erzeugnissen zu schenken.«
-Diese Herzenseinfalt gefiel mir so, daß ich den kleinen Mann umarmte
-und ihn mit Küssen fast erstickte.
-
-Werde ich meinen heutigen Bericht überhaupt je zu Ende bringen? Mit
-dem Weggang des Dieners der Bojarin Plodomasowa nahmen die Wunder des
-Tages immer noch kein Ende; denn als Axinia die Türe des Vorzimmers
-für die Nacht schließen wollte, entdeckte sie, daß am Kleiderständer
-etwas hing, was nicht uns zu gehören schien, und als Natascha und ich
-auf ihren Ruf hinauskamen, fanden wir: erstens einen dunkelbraunen
-Leibrock aus französischem ~Gras-de-Naples~-Stoff, zweitens einen
-reichgestickten Kammgarn-Gürtel mit purpurroten Bändern, drittens eine
-Kutte aus kostbarem, grünem, unzerschnittenem Sammet, und viertens, in
-ein langes Stück Kaliko gewickelt, ein vollständiges Meßgewand.
-
-Wir waren alle ganz verblüfft über diesen Fund und wußten nicht,
-wie wir uns seine Herkunft erklären sollten. Da bemerkte Axinia als
-erste ein Kärtchen am Knopf des Kragens der Kutte befestigt, auf dem
-mit runder Schrift, sozusagen ägyptischen Stils, geschrieben stand:
-»Gedenke, mein Freund Vater Sawelij, in deinen Gebeten der Magd Gottes
-Marfa.« Wir wußten uns vor Erstaunen nicht zu lassen, aber was war
-zu tun? Indem wir das neue Meßgewand auf dem Tisch ausbreiteten,
-erlebten wir eine neue Überraschung. Als Natascha das Schultertuch
-auseinanderfaltet, fällt ein versiegeltes Kuvert mit meiner Adresse
-heraus, welches fünfhundert Rubel und einen winzigkleinen Zettel
-enthält, auf dem von derselben Hand geschrieben steht: »Damit das Los
-deiner Familie im Fall eines Unglücks dich nicht beunruhige, wenn du
-vor dem Altar stehst, kaufe dir eine Kate und pflanze Kürbisse an. Dann
-wirst du ungestörter an den Ausbau des Gottesreiches denken können.«
-
-Wofür wird mir das zuteil? Warum denkt sie nicht so, wie der
-Konsistorialsekretär und der Schließer, daß es leichter sei, am Reiche
-Gottes zu bauen, wenn man nichts habe, auf dem man sein Haupt hinlege?
-
-Nun ist auch der Pope Sawelij nicht mehr heimatlos! Jetzt soll auch
-er sein Hüttlein haben. Aber ach! Es muß gesagt werden, dem Zufall
-verdankt er das!«
-
-»6. Dezember. Gestern brachte ich das von der Gutsherrin geschenkte
-Meßgewand in die Sakristei und heute amtierte ich darin. Es paßt
-mir ausgezeichnet. Sonst, wenn ich die Gewänder meines verstorbenen
-Vorgängers anlegen mußte, der von sehr kleiner Statur war, erschien ich
-langer Kerl nicht in aller Herrlichkeit der Kirche, sondern sah aus wie
-ein Sperling, dem man die Schwanzfedern ausgezupft hatte.«
-
-»9. Dezember. Sonderbar! Der Propst zieht mir ein schiefes Gesicht,
-aber da ich mir keiner Schuld ihm gegenüber bewußt bin, bin ich ganz
-ruhig.«
-
-»12. Dezember. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen mir und dem
-Propst. Weswegen? Wegen des Plodomasowschen Meßgewandes: es sei nicht
-in der vorschriftsmäßigen Weise nach der Kirche geschaffen worden, --
-und dann fügte er noch hinzu, es »gingen allerlei Gerüchte, daß Ihr
-noch etwas von ihr erhalten hättet«. Soll das etwa heißen, daß ich
-nicht alles, was der Kirche zukommt, abgeliefert habe, sondern etwas
-davon gestohlen habe?«
-
-»1. Januar. Segne das neue Jahr mit deiner Gnade, Herr, und den Popen
-Sawelij zu seiner neuen Fahrt in die Gouvernementsstadt. Ich glaube,
-daß vor diesen Widersachern auch kein Weihwasser schützt.«
-
-»20. Januar. Diese Zeilen schreibe ich in der schmutzigsten Kammer
-des bischöflichen Hofes, im Seminarflügel. Dem Gouverneur ist
-mitgeteilt worden, daß mein Subdiakon Lukian den Schismatikern eines
-ihrer alten Psalmenbücher zurückgegeben hat, welches mit den andern
-bei der Aufhebung der Dejewschen Kapelle konfiszierten Büchern bei
-mir in Verwahrung war. Die Begebenheit ist wahr, ich hatte sie aber
-verheimlicht, erstens weil sie mir unwichtig dünkte, zweitens, weil ich
-den wahren Grund kannte: die Armut, die den Subdiakon Lukian soweit
-gebracht hatte. Aber diese Bagatelle wird mir nun als furchtbares
-Verbrechen angerechnet, ich bin unter Aufsicht gestellt und in die
-Seminarbrauerei geschickt worden, um Kwas zu brauen.«
-
-»9. April. Ich habe meine Zeit abgebüßt und bin zum häuslichen Herde
-zurückgekehrt. Tief rührten mich die Tränen meiner Frau, die sich
-bitter um mich gehärmt hat, aber noch mehr rührten mich die Tränen der
-Frau des Subdiakon Lukian. Von sich schwieg die gute Frau ganz und
-dankte nur mir, daß ich für ihren Mann gelitten. Den Lukian selbst hat
-man in ein entferntes Kloster verbannt, allerdings nur für ein Jahr.
-Die Frist ist so kurz, daß die Seinen nicht umzukommen brauchen, auch
-wenn sie nichts zu essen bekommen. Sie kommen so dem lieben Gott näher,
-wie die Herrn im Konsistorium behaupten.«
-
-»20. April. Der liebenswürdige Zwerg war wieder hier und teilte mir
-mit, Marfa Andrejewna hätte angeordnet, daß ich alljährlich dreimal --
-zu St. Nikolai im Sommer, im Winter und zu Epiphanias -- aufgefordert
-werde, in der Kirche von Plodomasowo die Messe zu zelebrieren, wofür
-mir durch den Verwalter ein Gehalt von 150 Rubel, also 50 Rubel für
-jede Messe, abgezahlt werden solle. O diese Zufälle! Weiß Gott, ich
-werde bald anfangen, sie zu fürchten.«
-
-»15. August. Der Glöckner Jewticheitsch ist aus der Gouvernementsstadt
-zurückgekehrt und hat erzählt, zwischen dem Bischof und dem Gouverneur
-sei ein Zwist wegen einer gegenseitigen Visite ausgebrochen.«
-
-»2. Oktober. Das Gerücht vom Visitenstreit bestätigt sich. Der
-Gouverneur hat, wenn er an Staatsfeiertagen dem Gottesdienst im Dom
-beiwohnt, die Gewohnheit, sich dabei laut zu unterhalten. Da beschloß
-der Bischof, ihm dies abzugewöhnen und schickte seinen Stabträger zu
-seiner Exzellenz mit der Bitte, dieselben wollten sich doch anständiger
-betragen. Der Gouverneur nahm die Botschaft mit sehr hochfahrender
-Miene entgegen und fing nach kurzer Zeit wieder an, laut mit dem
-Gendarmenoberst zu sprechen. Diesmal aber unterbrach der Bischof die
-Liturgie und sagte vernehmlich: »Gut, Exzellenz, ich werde warten. Wenn
-Sie fertig sind, fahre ich fort.« Ich kann diese Handlungsweise des
-Bischofs nur billigen.«
-
-»8. November. Ich habe das Epigonation erhalten. Ich weiß nicht, wie
-ich zu dieser Auszeichnung komme. Soll ich es etwa dem Visitenstreit
-zuschreiben und dem Umstande, daß der Gouverneur mir nicht grün ist?«
-
-»6. Januar 1837. Wieder eine Neuigkeit! Der Bischof hat zu Neujahr die
-Tochter des Gouverneurs zurückgewiesen, als sie in Handschuhen zu ihm
-hintrat, um den Segen zu empfangen. »Zieh erst das Hundefell von deiner
-Hand,« sagte er ihr.«
-
-»17. März. Der Oberpfarrer von der Epiphaniaskirche kam nachts mit
-dem Venerabile von einem Kranken und wurde von einer Patrouille auf
-die Polizeiwache gebracht, -- angeblich weil er betrunken war. Am
-nächsten Tage machte ihm der Bischof einen Besuch im vollen Ornat. O
-du polackischer Kanzleivorsteher, dieses Stücklein kann dir teuer zu
-stehen kommen!«
-
-»18. Mai. Der Bischof ist in eine andere Diözese versetzt worden.«
-
-»16. August. Ich war beim neuen Bischof. Er scheint ein verständiger
-und charakterfester Mann zu sein. Wir sprachen über die Lage der
-Geistlichkeit und er befahl mir, einen Bericht darüber aufzusetzen. Er
-sagte, ich wäre ihm von seinem Vorgänger aufs beste empfohlen worden.
-Dank dir, armer, schmählich geschlagener Alter, für dein gutes Wort!«
-
-»25. Dezember. Ich weiß nicht, was ich von mir denken soll, wozu ich
-geboren und berufen bin. Meine Pfarrerin macht mir Vorwürfe, daß ich
-sogar am heutigen Weihnachtstage arbeite, aber es gibt für mich kein
-schöneres Vergnügen als diese Arbeit. Ich schreibe meinen Bericht über
-die Lage der Geistlichkeit mit einer Freude und einer Liebe, die ich
-gar nicht auszudrücken vermag. Betitelt habe ich die Schrift: »Über die
-Lage der orthodoxen Geistlichkeit und über die Mittel, durch welche sie
-zum Nutzen der Kirche und des Staates gebessert werden könnte.« Ich
-glaube, es ist gut so. Nie noch habe ich mich so glücklich und so stolz
-gefühlt, so gütig und so reich an Kraft und Verstand.«
-
-»1. April. Mein Bericht ist dem Bischof eingereicht. Meine Pfarrerin
-meinte, ich hätte es heute nicht tun sollen; denn der erste April sei
-ein trügerischer Tag. Wollen sehen.«
-
-»10. August. Ich bin Oberpfarrer geworden.«
-
-»4. Januar 1839. Heute kam ein Schreiben aus dem Konsistorium und mein
-ahnungsvolles Herz schlug freudig, -- aber es bezog sich nicht auf
-meinen Bericht, sondern meldete nur, daß mir das Brustkreuz verliehen
-sei. Vielen, vielen Dank. Aber das Schicksal meines Berichts bekümmert
-mich doch.«
-
-»8. April. Ich bin zum Propst ernannt. Von meinem Bericht ist immer
-noch nichts zu hören. Ich weiß nicht, wie man diese Posaunen zum Tönen
-bringen soll.«
-
-»10. April 1840. Nun bin ich schon ein Jahr Propst. Von meinem Bericht
-ist immer noch nichts zu vernehmen. Der Aberglaube der Pfarrerin ist
-doch nicht so unvernünftig. Heute machte sie mich wieder lachen: sie
-meinte, ich hätte meine Sache vielleicht sehr gut geschrieben, aber
-nicht richtig unterschrieben.«
-
-»20. Juni 1841. Ich ging trocken mitten durch das Meer und ward
-gerettet von der Ägypter Bosheit, darum will ich lobsingen dem
-Herrn, solange ich lebe ... Was hat sich mit mir begeben? Was habe
-ich erdulden müssen und wie bin ich nach alledem wieder an Gottes
-Tageslicht gekommen? Neugierig bin ich, was du wohl tun magst, du
-Dichter von Fabeln, Balladen, Erzählungen und Romanen, wenn du in
-dem Leben, das dich umgibt, keine Fäden zu entdecken behauptest, die
-es wert wären, in deine vergnüglich zu lesende Fabel geflochten zu
-werden? Oder kümmert dich, der du der Menschen Sitten zu bessern dich
-vermissest, jenes wirkliche Leben gar nicht, das die Erdenmenschen
-leben, sondern suchest du nur nach einem Vorwand zu leerem Geschwätz?
-Ist dir bekannt, was für ein Leben ein russischer Pope führt; dieser
-»unnütze Mensch«, den man deiner Meinung nach vielleicht unnötigerweise
-herbeirief, deinen Eintritt ins Leben zu begrüßen, und den man abermals
--- auch wider deinen Willen -- rufen wird, daß er dich zum Grabe
-geleite? Weißt du, daß das elende Leben dieses Popen nicht arm ist,
-sondern überreich an Nöten und Abenteuern, -- oder meinst du, daß
-seinem Weihrauchherzen edle Leidenschaften fremd sind und daß es keine
-Schmerzen empfindet? Oder willst du von deiner Dichterhöhe mich, den
-Popen, deiner Aufmerksamkeit überhaupt nicht würdigen? Oder wähnst du,
-meine Zeit sei schon vorbei, und das Land, das dich und mich geboren
-und aufgezogen, brauche mich nicht mehr? O du Blinder, sage ich, wenn
-du das erste denkst; o du Narr, sage ich, wenn du das zweite denkst und
-dich bemühst, nicht mich aufzurichten und zu beleben, sondern einen
-Stein auf mich zu wälzen und des Erstickenden zu spotten.
-
-Aber ich wende mich vom Philosophieren zu jener Begebenheit, die mich
-philosophieren gemacht hat.
-
-Ich bin nicht mehr Propst und hätte fast auch mein Priesteramt
-verloren. Wofür? Dafür! Ich will die ganze Geschichte ausführlich
-erzählen. Im März dieses Jahres besuchte der Gouverneur auf der
-Durchreise unsere Stadt, aus welchem Anlaß der Adelsmarschall ein Fest
-gab. Ich benutzte diese Gelegenheit, um mich beim Gouverneur über
-die Gutsherren zu beschweren, welche ihre Bauern mit Arbeiten auch
-an Sonntagen und sogar an den zwölf großen Festtagen überhäufen, so
-daß das arme Volk noch ärmer wird, denn in vielen Dörfern ist jetzt
-weder Roggen noch Hafer zu finden. ... Kaum aber hatte ich dieses Wort
-»Hafer« ausgesprochen, als der hohe Herr in heftigen Zorn geriet, von
-mir abrückte, als wäre ich ein giftiges Tier, und schrie: »Was kommt
-Ihr mir mit Eurem Hafer auf den Hals?« Und dann ging es los: ich bin
-dies und das und jenes, -- und zuletzt: »Ich bin doch nicht der heilige
-Nikolaus, ich handle nicht mit Hafer!« Das konnte ich nicht dulden und
-erwiderte: »Ich muß Eure Exzellenz, als eine mit den Glaubenslehren
-wenig bekannte Persönlichkeit, vor allem darauf aufmerksam machen, daß
-St. Nikolaus Bischof war und keinerlei Handel trieb. Ferner aber müßten
-Sie wissen, daß unser rechtgläubiges Volk der Priester und Diakonen
-bedarf, denn das ist bisher das Einzige, was wir noch nicht von den
-Deutschen übernommen haben.« Der Gouverneur lachte boshaft und sagte:
-»Nur keine Furcht, Herr Pfarrer, wenn der Pfuhl erst da ist, kommen
-die Teufel von selbst.« Diese letzte Rede war für mich bitterer als
-die erste. Wer sind diese Teufel, und was meint dein Schandmaul mit
-dem Pfuhl? So dachte ich im Zorne und konnte nicht stillschweigen,
-sondern sagte zu dem Herrn, daß ich aus Achtung vor meinem Amte ihn
-auch diesmal nicht als Teufel bezeichnen wolle. Und was war die Folge?
-Heute bin ich Propst +gewesen+, und ich danke dir, Herr, mein Gott, daß
-ich nicht auch des Priesteramtes beraubt und exkommuniziert bin. Nein,
-solche Dinge mögt ihr modernen Geschichtenschreiber nicht behandeln.
-Ihr denkt nicht daran, den Leuten zu erzählen, wie schwer mir ums Herz
-ist.«
-
-»3. September. Das Herbstwetter stimmt mich unsagbar trübe. Ich war
-gewohnt, immer in Tätigkeit zu sein, und nun quält mich das Nichtstun.
-Ich treibe die Torheit schon so weit, daß ich oft insgeheim, wenn meine
-Gattin es nicht sehen kann, still für mich weine.«
-
-»27. Januar 1842. Ich habe mir bei einem Juden für sieben Rubel eine
-Spieldose und ein Damespiel gekauft.«
-
-»18. Mai. Ich habe mir einen Zeisig angeschafft und lehre ihn zur
-Spieldose singen.«
-
-»2. März 1845. Drei Jahre sind vergangen, ohne daß sich in meinem
-Leben etwas geändert hätte. Ich habe mein Haus bestellt und in den
-Kirchenvätern und Geschichtschreibern gelesen. Zu zwei Schlüssen bin
-ich gekommen und möchte sie gerne beide für falsch halten. Der erste
-ist, daß das Christentum in Rußland überhaupt noch gar nicht gepredigt
-worden ist, und der zweite, daß die Ereignisse sich wiederholen und
-man sie voraussagen kann. Über den ersten Schluß redete ich einmal
-mit meinem sehr verständigen Amtsbruder, dem Vater Nikolaus, und war
-sehr erstaunt, wie er das aufnahm und mir beistimmte. »Ja,« sagte er,
-»das ist unbestreitbar, wir werden in Jesu Namen getauft, aber wir
-nehmen Jesum nicht in uns auf.« Also bin ich es nicht allein, der das
-sieht, andere sehen es auch. Warum erscheint es aber ihnen allen nur
-lächerlich, während es mich bis aufs Blut peinigt.«
-
-»Neujahr 1846. Es sind mehrere Polen zu uns in die Verbannung
-geschickt. Über das Schicksal meines Berichts ist mir noch immer nichts
-bekannt. Ich interessiere mich lebhaft für die politischen Wirren, die
-im Westen im Anzuge sind und habe in Anbetracht dessen eine politische
-Zeitung abonniert.«
-
-»6. Mai 1847. Es sind noch zwei neue Polen zu uns gekommen, der Pater
-Aloysius Konarkiewicz und Pan Ignacij Czemernicki. Letzterer ist noch
-ein ganz junger Mann, aber bereits eine komplette Kanaille. Unsere
-Stadthauptmannsfrau, die ja selber Polin ist, hat sich mit einem ganzen
-Schwarm von Landsleuten umgeben und begünstigt letzteren vor allen
-anderen.«
-
-»20. November. Ich bemerke etwas ganz Erstaunliches und
-Unbegreifliches. Die Polen werfen sich bei uns geradezu zu Herren
-auf. Man kann durch sie bei der Gouvernementsverwaltung alles
-erreichen, denn der Czemernicki erweist sich als intimer Freund jenes
-Kanzleivorstehers, den ich in so guter Erinnerung habe.«
-
-»5. Februar 1848. Was ich mein Lebtag nicht hatte tun wollen, habe
-ich jetzt getan. Ich habe mich über die Polen beschwert, denn ihr
-Benehmen übersteigt jegliches Maß. Nicht genug, daß sie sich seit
-langem schon öffentlich über die Zeitungsmeldungen lustig machen
-und behaupten, es sei gar nicht so, wie die Blätter berichteten,
-sondern gerade umgekehrt: nicht wir schlügen die Feinde, sondern wir
-würden geschlagen, -- sie gehen auch schon von bloßen Worten zu Taten
-über. Bei der Totenmesse für die gefallenen Krieger erhoben sie mit
-der Stadthauptmannsfrau ein derart unziemliches Gelächter, daß der
-Oberpfarrer einen Kirchendiener zu ihnen schickte mit der Bitte, sich
-entweder ruhig zu verhalten oder die Kirche zu verlassen, worauf sie
-lächelnd hinausgingen. Und als wir mit dem Klerus nach Beendigung des
-Gottesdienstes am Kolonialwarenladen der Gebrüder Lialin vorübergingen,
-trat einer von den Polen mit einem Glase Punsch in der Hand vor die Tür
-und rief, die Stimme des Diakons nachahmend: »Mir noch 'nen Heißen!«
-Ich begriff, daß es eine Verspottung des »Kyrie eleison« sein sollte,
-und habe es in meiner Beschwerde auch so erwähnt.«
-
-»1. April. Abends. Meine Beschwerde über das Benehmen der Polen hat,
-so scheint es, wenn auch spät, doch eine gewisse Wirkung gehabt. Heute
-früh kam der Chef der Gendarmen in die Stadt und berief mich zu sich
-und fragte mich lange nach allen Einzelheiten. Ich erzählte ihm, wie es
-gewesen, und er teilte mir mit, daß all diesen polnischen Gemeinheiten
-bald ein Ende gemacht werden solle. Ich fürchte nur, daß alles dies
-wieder mal, recht zum Possen, am ersten April gesagt sein wird. Ich
-fange an zu glauben, daß dieser Tag wirklich ein trügerischer Tag ist.«
-
-»7. September. Der erste April scheint diesmal doch nicht
-getrogen zu haben. Konarkiewicz und Czemernicki sind beide in die
-Gouvernementsstadt versetzt worden.«
-
-»25. November. Unser Stadthauptmann nebst Gemahlin haben uns verlassen.
-Er ist zum Polizeimeister in der Gouvernementsstadt ernannt worden.
-+Die+ Strafe ist noch zu ertragen.«
-
-»5. Dezember. Der neue Stadthauptmann ist angekommen. Er nennt sich
-Hauptmann Mratschkowskij. Der Name kommt vom Worte »~mrak~« -- die
-Finsternis. O Herr, Du allein weißt, wann auch etwas vom Licht zu uns
-kommen wird!«
-
-»9. Dezember. Heute war ich beim neuen Stadthauptmann zum Frühstück.
-Liebenswürdig sind sie beide, er sowohl wie die Gattin. Nachdem er
-gehörig getrunken hatte, sang er uns vor: »Denkst du daran, mein
-tapfrer Kampfgenosse?« Und sein Söhnchen, ein munterer Bub in einem
-russischen Hemd, sang auch: »Heil dir, Meister Frost, bist ein wackrer
-Russe!« Das sind mir doch Neuigkeiten! Aus dem Gespräch mit besagtem
-Mratschkowskij ist mir vor allem die Geschichte von einem Professor der
-Moskauer Universität bemerkenswert, der seinen Abschied erhalten haben
-soll, weil er in einer Festrede gesagt hatte: »~Nunquam de republica
-desperandum~«, -- was bedeuten sollte: man darf niemals am Staat
-verzweifeln. Aber ein Kanzleiweiser legte es so aus, er hätte sagen
-wollen, man dürfe nie an der +Republik+ verzweifeln. Daraufhin ward der
-Professor gebeten, sein Entlassungsgesuch einzureichen. Es ist kaum
-glaublich.«
-
-»20. Dezember. Nein, der erste April ist nicht nur trügerisch, sondern
-auch rätselhaft. Ich will hier nicht alles erzählen, was mir bei
-meiner diesmaligen Fahrt nach der Gouvernementsstadt widerfuhr; nur
-das eine sei gesagt, daß ich beschimpft und geschmäht worden bin in
-jeder Weise. Es fehlte nur noch, daß sie mich für meine Beschwerde
-geschlagen hätten. Ich weiß nicht, wem ich es zu verdanken habe, da
-+er selbst+ auf mich losfuhr und mich anschrie, man hätte meine Ränke
-schon satt; ich vermochte nichts zu erwidern, denn so wie ich nur
-die Lippen bewegte, hieß es gleich: »Schweig!« So mußte ich alles
-hinunterschlucken und bin nun wieder daheim. Wie eine Henne, die man
-mit Nesseln verprügelte. Nur das eine begreife ich nicht: warum
-erklärt man meine Tat, die ja vielleicht unvorsichtig war, durch nichts
-anderes, durch meine Unbildung oder durch mein Ungeschick, sondern
--- was meint ihr wohl? -- durch Mißgunst! Weil nämlich jene Polen
-mich nicht in ihre Gesellschaft aufgefordert und mich nicht trunken
-gemacht, -- obzwar ich, Gott sei gelobt, niemals ein Trinker gewesen.
-Von diesem Geringen auf das Große schließend, gedenke ich der Worte
-der französischen Jungfrau Charlotte Corday d'Armont, welche sie in
-ihrem letzten Brief vor ihrer Hinrichtung schrieb, daß sich nämlich
-»unter den neuen Völkern wenig Patrioten fänden, welche die einfache
-patriotische Leidenschaft verstehen und an die Möglichkeit, ihr Opfer
-zu bringen, glauben können. Überall nur Egoismus und alles wird durch
-ihn erklärt.« Wenn ich nur unsere Leute sehe, so bin ich geneigt,
-Charlotte Corday d'Armont recht zu geben, richte ich meinen Blick
-dann aber auf die Polen, denen jeder Zugvogel ein Lied von der Heimat
-singt, oder auf unsere Altgläubigen, die trotz allen Kränkungen und
-Unterdrückungen nicht aufhören, ihr russisches Land zu lieben, dann muß
-ich ihr widersprechen und behaupten, es gibt doch noch Vaterlandsliebe
-unter den Menschen. So weit kommt man auf seine alten Tage, daß man
-sogar an den Polacken etwas zu loben findet! Allein ich will mich
-fortan an das Wort halten, das ich neulich so viele Male zu hören
-bekam: »Schweig!« ~Nunquam de republica desperandum.~«
-
-»2. Januar 1849. Ich bin bei allen Altgläubigen gewesen und habe mir
-die Silberlinge herausschicken lassen. Ich kann mich dem nicht mehr
-widersetzen, allein es tut mir hin und wieder bitter weh. Ich mußte es
-aber tun, damit meine Pfarrerin nächstens nicht noch zur Subdiakonsfrau
-wird, denn nach dem, was ich erlebt habe, ist alles möglich.«
-
-»1. Januar 1850. Das Jahr ist still und friedlich dahingegangen.
-Ich habe meine Wohltäterin, Marfa Andrejewna Plodomasowa, zu Grabe
-getragen. Sie starb, nachdem sie fünf Kronenträger überlebt hatte:
-Elisabeth, Peter, Katharina, Paul und Alexander; mit zweien von ihnen
-hat sie auf Gesellschaften getanzt. Nächstes Jahr will ich einen Anbau
-an mein Häuschen machen, denn ich bin einer Schwäche verfallen: ich
-finde viel Vergnügen am Preferance-Spiel und habe mir aus Langerweile
-das Rauchen angewöhnt, das macht neue Ausgaben. Anfangs rauchte ich nur
-spaßeshalber beim Stadthauptmann, aber jetzt habe ich mir auch zu Hause
-allen Zubehör angelegt. Eigentlich sollte ich es lassen.«
-
-»10. Januar 1857. Ich erkenne mich selbst nicht mehr. Sieben Jahre
-lang keine einzige Zeile hier hineingeschrieben. Mein Leben ist
-seltsam, denn es ist ein sattes und behagliches geworden. Ich las eben
-alles nach, was ich seit dem Tage meiner Ordination eingetragen. Es
-ist bemerkenswert, wie so ganz anders ich in diesen Jahren die Dinge
-betrachten gelernt habe. Ich kämpfe nicht mehr, belästige niemand und
-werde von keinem belästigt. Steter Tropfen höhlt den Stein!«
-
-»20. Oktober. An Stelle unseres entschlafenen Diakons, des sanften
-Prochor, ist aus der Gouvernementsstadt ein neuer Diakon eingetroffen,
-namens Achilla Desnitzyn. Dieser ist größer und dicker als wir alle.
-Wenn man seine Physiognomie und seine Statur betrachtet, muß man die
-Schöpferkraft der Natur bewundern. Am meisten aber gefällt mir an dem
-Manne seine Gutmütigkeit. Er zeigte mir die Abschrift seines Zeugnisses
-aus dem Seminar, in dem geschrieben stand: »Sittliches Verhalten gut,
-aber sehr tragfähig.« Was bedeutet denn das? fragte ich. »Ach, nichts
-von Belang,« erklärte er, »als ich wegen Fieber im Seminarlazarett
-lag, trug ich den kranken Theologen heimlich Schnaps zu. Und zwar in
-gehöriger Quantität.««
-
-»7. Dezember. Der Subdiakon Sergej macht mich darauf aufmerksam, daß
-unser neuer Diakon Achilla ein wenig vorlaut ist: aus falschem Ehrgeiz
-gibt er vielen Betern vom Lande heimlich den priesterlichen Segen. Ich
-habe ihm gesagt, daß er sich das in Zukunft nicht unterstehen dürfe.«
-
-»15. August. Auf einem Festmahl beim Stadthauptmann kam es fast zu
-einem Skandal, wieder durch einen Streit um den Verstand, und das
-erinnerte mich an den alten Streit, der mich einst so lachen gemacht.
-Der Diakon Achilla und der Arzt stritten über mich. Der Arzt leugnete
-meinen Verstand, der Diakon pries ihn himmelhoch. Auf ihren Lärm und
-besonders auf das Geschrei des Arztes kamen wir ins Zimmer und sahen
-den Arzt hoch oben auf dem Schranke sitzen und verzweifelt mit den
-Beinen strampeln und stoßen. Achilla aber saß seelenruhig mitten im
-Zimmer in einem Lehnstuhl und meinte: »Nehmt ihn bitte nicht herunter,
-ich habe ihn sozusagen an Wasserflüssen Babylons an die Weiden gehängt
-für seine Widerspenstigkeit.« Ich konnte mich des Lachens kaum
-erwehren, hielt aber dem Diakon eine ordentliche Strafpredigt und
-sagte ihm, Gewalt sei kein Beweis. Er aber machte mir dafür eine tiefe
-Verbeugung und wandte sich hierauf zum Arzte: »Nun? Jetzt siehst du's
-wohl selbst, daß er der Justizminister ist.« Es ist wunderbar, wie
-dieser kosakische Diakon es gleichsam fühlt, daß ich ihn von ganzem
-Herzen liebhabe. Ich weiß selbst nicht warum. Aber er hat mich auch
-lieb.«
-
-»25. August. Welch große Freude! Die katholische Geistlichkeit in
-Litauen hat Nüchternheitsvereine gegründet: sie predigen gegen die
-Trunksucht, und die Trunksucht läßt nach. Die Leute kommen zur Vernunft
-und die Blutsauger, die Branntweinpächter, platzen. Ach, wie gern
-würde ich auch in dieser Art predigen!«
-
-»5. September. In einigen orthodoxen Gemeinden ist dasselbe versucht
-worden. Ich fürchte, ich halt's nicht aus und sage ein Wort! Aber da
-ich ohne Zensur nicht predigen darf, so will ich eine schlaue Intrige
-einfädeln und einen Mäßigkeitsverein gründen. Was soll man machen,
-notgedrungen folgt man dem Beispiel des Ignatius Loyola, wenn man auf
-geradem Wege nicht gehen darf.«
-
-»7. Oktober. Wir haben die Statuten unseres Vereins entworfen,
-aber bestätigt ist er noch nicht. Dagegen schreibt man, daß der
-Branntweinpächter sich bei dem Minister über die Prediger beklagt habe,
-welche das Volk vom Trinken abhalten. O du freche Kanaille! Wagst es
-noch zu klagen, und noch gar dem Minister gegenüber!«
-
-»20. Oktober. Eine wahnsinnige Nachricht! Die Zeitungen melden,
-im Juli dieses Jahres hätten die Branntweinpächter beim Minister
-des Innern über die orthodoxen Geistlichen, welche das Volk zur
-Nüchternheit anhalten, Beschwerde geführt, und der Herr Minister
-hätte sie dem Oberprokurator des Heiligen Synods weitergegeben,
-welcher geantwortet hätte, daß der Synod den Geistlichen seinen Segen
-gebe, an dem verdienstlichen Werke des Kampfes gegen den Mißbrauch
-berauschender Getränke nach Kräften mitzuwirken. Aber die Pächter gaben
-sich nicht zufrieden und petitionierten noch einmal um Aufhebung der
-Verordnung des Heiligen Synods. Hierauf soll der Finanzminister dem
-Oberprokurator des Heiligen Synods mitgeteilt haben, daß ein völliges
-Verbot des Gebrauchs geistiger Getränke nicht zulässig sei, wenn es
-durch religiöse Drohungen, die stark auf das Gemüt des einfachen
-Mannes wirken, und durch Ablegung von Gelübden durchgesetzt werde,
-weil dieses nicht nur der allgemeinen Anschauung von dem Nutzen eines
-mäßigen Weingenusses widerspreche, sondern auch gegen die gesetzlichen
-Verordnungen verstoße, auf Grund deren die Regierung die Schanksteuern
-verpachtet habe. Infolgedessen soll eine Verordnung getroffen worden
-sein, die Beschlüsse der Stadt- und Landgemeinden bezüglich der
-Branntweinverbote aufzuheben und keinerlei Gemeindeversammlungen in
-dieser Angelegenheit mehr zuzulassen. Sauf, mein armes Volk, sauf dich
-zu Tode!«
-
-»8. November. Am Tage des Anführers aller heiligen und himmlischen
-Heerscharen, des Erzengels Michael, ward mir von der hohen Obrigkeit
-eine ellenlange Nase zuteil. Nicht nur von dem verbrecherischen Plan
-der Gründung eines Mäßigkeitsvereins hätte ich lassen sollen, sondern
-auch predigen dürfte ich nicht darüber, in Anbetracht von diesem und
-jenem und aus solchen Erwägungen und derartigen Rücksichten ... bloß
-der einfache Nutzen der Menschheit zählt nicht mit ... Aber habe ich
-nicht schon genug davon geschrieben? Soll ich denn immer nur meine
-eigene Schmach zu Papier bringen?«
-
-»1. Januar 1860. Sogar den Jahresbeginn lasse ich jetzt unbeachtet!
-Wie heiß faßte ich früher alles auf und wie gleichgültig bin ich jetzt
-geworden. Meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna sagt freilich, ich wäre
-auch heute noch geradeso wie einst, aber wie könnte das sein! Ihr mag
-das mitunter wohl so vorkommen, denn auch sie hat mittlerweile das
-Alter der Mutter Sarah erreicht, ich aber sehe das besser ... Der Leib
-ist gesund und sogar fett, aber was nutzt das, wenn die Seele schon
-gleichsam mit einer Rinde zu bewachsen beginnt.«
-
-»27. März. Frühlingslüfte wehen und die Wasserbäche stürzen von den
-Hügeln. Der Diakon Achilla bringt schon seine Sättel in Ordnung und
-wird bald wieder als Steppenkirgise dahersprengen. Wohl ihm, daß er
-sich die Zeit so vertreiben kann.«
-
-»23. April. Achilla erschien heute mit Sporen, die er sich für seine
-Spazierritte eigens von Pizonskij hatte anfertigen lassen. Schlimm,
-daß er in Nichts Maß zu halten versteht und jedes Ding gleich bis zum
-Äußersten treiben muß. Um ihn sofort in seine Schranken zu weisen,
-brach ich mit einem einzigen Tritt die Sporen von den Stiefeln des
-Achilla ab und verbot ihm zur Strafe für diese Albernheit das Reiten
-für dieses ganze Jahr. Somit muß er mir jetzt Buße tun. Was soll
-man aber machen, wenn er nicht anders gebändigt werden kann? Er ist
-imstande und gürtet sich nächstens noch ein Schwert um.«
-
-»14. September. Der Subdiakon Sergej kam heute angeblich nach einer
-Bütte zu Sauerkraut und erzählte mir dabei scheinbar ganz von ungefähr,
-daß diesen Abend in der Scheune der Ziegelei ein zugereister Komödiant
-einen Riesen und Kraftmenschen vorführe, und der Diakon Achilla
-der Vorstellung beiwohnen wolle. Einen gemeinen und hinterhältigen
-Charakter hat dieser Sergej.«
-
-»Am 15ten. Ich habe mir die Vorstellung angesehen. Ohne selbst
-gesehen zu werden, schaute ich durch eine Ritze im Hintertor. Achilla
-war wirklich da, aber nicht bloß als Zuschauer, sondern sozusagen
-als Mitwirkender. Er erschien in einem mächtigen Schafpelz, dessen
-Kragen hochgeschlagen war, und hatte ein gemustertes Tuch umgebunden,
-das seine Haare und den größten Teil des Gesichts bis an die Augen
-verdeckte. Ich erkannte ihn sofort, was nicht schwer war, weil er, als
-der vom Komödianten vorgeführte Riese und Athlet in fleischfarbenem
-Trikot erschien, in jeder Hand ein Fünf-Pud-Gewicht, und damit, ein
-wenig schwankend, die Bänke entlang wanderte, sich so weit vergaß, daß
-er mit seiner gewöhnlichen Stimme laut rief: »Was ist denn an all
-dem so Wunderbares?« Als hierauf der Riese in frechem Ton fragte, ob
-jemand mit ihm ringen wolle, und sich keine Liebhaber für solch einen
-Wettstreit fanden, trat Achilla, das Gesicht tief in das gemusterte
-Tuch vergrabend, vor und griff den Riesen an. Ich meinte, ihre Knochen
-müßten zerbrechen. Aber endlich überwand Achilla jenen hochmütigen
-Deutschen, und nachdem er ihm die Beine kreuzweis übereinandergelegt,
-wie man in feinen Häusern die gebratenen Poularden serviert, nahm
-er jene zehn Pud und den Kraftmenschen selber und begann mit dieser
-ganzen Last vor dem Publico auf- und abzugehen. Alles schrie »Bravo!«
-Am wunderbarsten aber war das Finale, das mein guter Achilla zum
-besten gab. »Meine Herrschaften,« wandte er sich ans Publikum,
-»vielleicht fällt es jemandem ein, zu behaupten, ich wäre wer anders.
-Bitte seid so gut und spuckt dann dem Kerl ins Gesicht, denn ich bin
-bloß der Kleinbürger Iwan Morozow aus Sewsk.« Als ob ihn jemand um
-diese Erklärung gebeten hätte. Aber mir war das doch immerhin eine
-recht heitere Zerstreuung. Ach, wie geht unser Leben dahin! Wie ist
-es schon hingegangen! Als ich von der Schaustellung wieder heimging,
-kamen mir Tränen in die Augen -- ich weiß selbst nicht weshalb. Ich
-fühlte nur das eine, daß etwas da ist, das ich beweinen muß, wenn
-ich an die kühnen Pläne meiner Jugend denke und sie mit dem weiteren
-Verlauf meines Lebens vergleiche! Als mir einst jene große Kränkung
-widerfuhr, da träumte ich, ich könnte immer noch ein würdig Leben
-führen, nicht im Wirken nach außen, sondern in stiller Arbeit an der
-eigenen inneren Vervollkommnung; aber ich bin kein Philosoph, sondern
-ein Bürger; mir ist das nicht genug: ich plage mich und leide ohne
-Tätigkeit, und darum kann ich die Lebhaftigkeit meines lieben Achilla
-nicht immer verurteilen. Gott verzeihe ihm und segne seine entzückende
-Herzenseinfalt, in der ihn alles erfreut und erheitert. Dem Subdiakon
-Sergej habe ich gesagt, er hätte gelogen, und ich habe ihm verboten,
-noch weiter gegen den Achilla zu hetzen. Ich fühle, daß ich mit aller
-Schwäche eines Vaters diesen guten Menschen liebgewonnen habe.«
-
-»14. Mai 1861. In was für seltsame Dinge kann den Menschen sein
-Leichtsinn verwickeln! Als ob wir nicht auch ohne den Diakon Achilla
-Hansnarren genug hätten. Der Stadthauptmann wollte bei seinem
-Schwiegervater, dem Verwalter der fürstlichen Güter Glitsch, ein
-Pferd für sein Sechsgespann kaufen, welches dieser aber nicht zu
-verkaufen gedachte. Da haben sie gewettet, daß der Stadthauptmann in
-den Besitz des Pferdes gelangen werde. Darauf hat der Stadthauptmann
-einen beschäftigungslosen Kleinbürger, namens Danilka, den sie hier
-den Kommissar nennen, für zwei Rubel gedungen, ihm das Pferd beim
-Herrn Glitsch zu stehlen. Einen zum Diebstahl anzustiften paßt sich
-vorzüglich für einen Stadthauptmann -- sei es auch nur im Scherz. Was
-aber das Tollste war: mein Achilla erbot sich, dem Danilka bei dieser
-Sache zu helfen. Wieder war es der Subdiakon Sergej, der mir davon
-Mitteilung machte, und ich ließ den Achilla rechtzeitig zu mir kommen,
-um ihn für diesen Tag unter Aufsicht meiner Natalia Nikolajewna, für
-die er Butter schlagen mußte, zu stellen; nachts jedoch ließ ich ihn
-in meiner Stube auf dem Fußboden schlafen, und, damit er sich nicht
-davonmachen könne, verwahrte ich seine Kleider und Schuhe bis zum
-Morgen unter Schloß und Riegel. Heute früh aber wurden wir durch einen
-großen Lärm aufgeweckt: Nach dem Hause des Stadthauptmanns jagte ein
-mit drei Pferden bespannter Leiterwagen, in dem der Kommissar Danilka
-zwischen zwei Bauern saß und wie ein Wahnsinniger schrie. Wir gingen
-hinaus, um zu erfahren, aus welchem Grunde er so brüllte, und sahen,
-wie man dem Danilka die Hosen herunterzog, die ganz mit Nesseln
-vollgestopft waren. Es stellte sich heraus, daß der Herr Glitsch
-ihn ertappt und zur Strafe in die Nesseln gesetzt hatte, worauf die
-Gutsknechte ihn zu dem zurückgeschafft hatten, der ihn ausgesandt.
-Ich fragte den Diakon, wie ihm wohl zumute gewesen wäre, wenn er das
-Schicksal des Danilka hätte teilen müssen? Er erwiderte, das hätte ihm
-nicht passieren können. Wenn selbst ihrer zehn über ihn hergefallen
-wären, würde er sich ihnen nicht ergeben haben. »Nun, und wenn es
-zwanzig gewesen wären?« fragte ich. »Ja, mit zwanzig,« meinte er,
-»wär' ich auch nicht fertiggeworden,« und erzählte, wie er einmal als
-Schüler mit seinem Bruder zu den Ferien nach Hause gewandert wäre und
-sie gleichzeitig mit einer vorüberziehenden Abteilung Soldaten einen
-Holderstrauch mit ein paar Zweigen voller Beeren bemerkt, sich auf
-diese doch fast zu nichts zu gebrauchenden Beeren gestürzt hätten --
-Achilla und sein Bruder und an die vierzig Soldaten. »Es kam,« sagte
-er, »zwischen uns zu einem gewaltigen Handgemenge und mein Bruder
-Finogescha blieb für tot liegen.« Wie naiv und einfach das ist! Jede
-seiner Geschichten ist ein Ereignis! Das Leben ist ihm wirklich keinen
-Heller wert!«
-
-»29. September 1861. Aus der Gouvernementsstadt ist der Sohn der
-Hostienbäckerin von St. Nikita, der Marfa Nikolajewna Prepotenskaja,
-Warnawa, hier eingetroffen. Er hat das Seminar als einer der ersten
-absolviert, aber nicht Geistlicher werden wollen und ist jetzt als
-Rechenlehrer an der hiesigen Kreisschule angestellt. Auf meine Frage,
-warum er den geistlichen Stand verschmäht habe, antwortete er kurz, er
-wolle kein Betrüger ein. Ich konnte diese dumme Antwort nicht ungerügt
-lassen und sagte ihm, er sei ein Narr. Aber so gering ich auch diesen
-Menschen und alle seine Meinungen achte, seine Antwort hat mir doch weh
-getan, wie der Stich einer giftigen Wespe.«
-
-»27. Dezember. Achilla legt mitunter einen derartigen Leichtsinn an den
-Tag, daß man in seinem eigenen Interesse hart gegen ihn sein muß. Der
-schon mehrfach erwähnte Konstantin Pizonskij bat ihn jüngst, er möge
-den Knaben, den der arme Alte bei sich aufgenommen und großgezogen, ein
-recht schönes Gedicht lehren, mit dem das Kind den Bürgermeister zum
-Weihnachtsfest beglückwünschen könne, -- Achilla hat sich gleich dazu
-bereit erklärt und dem Buben folgende Verse beigebracht:
-
- Heute ward unser Heiland geboren.
- Herodes hat den Verstand verloren.
- Herr Bürgermeister ehrenwert,
- Werd' Euch von Gott das gleiche beschert!
-
-Nein, man muß ihn mit mehr Strenge behandeln.«
-
-»1. Januar 1862. Der Arzt hat in Erfüllung seiner Amtspflicht die
-Leiche eines plötzlich Verstorbenen geöffnet, und der Lehrer Warnawa
-Prepotenskij ist mit mehreren Schülern der Kreisschule zur Sektion
-gekommen, um sie mit den Grundbegriffen der Anatomie bekannt zu machen.
-In der Klasse hat er sie später gefragt: »Habt ihr den Körper gesehen?«
--- »Ja,« sagten die Knaben. -- »Und die Knochen habt ihr gesehen?«
--- »Die Knochen auch.« -- »Habt ihr alles gesehen?« -- »Alles.« --
-»Habt ihr auch die Seele gesehen?« -- »Nein, die Seele haben wir nicht
-gesehen.« -- »Nun, wo ist sie denn?« Und so bewies er ihnen, daß
-es keine Seele gäbe. Ich machte den Inspektor konfidentiell darauf
-aufmerksam und sagte, daß ich bei der nächsten Direktorenrevision
-bestimmt die Rede darauf bringen würde.
-
-Nun bist du wieder nötig geworden, armer Pope! Du hast mit den
-Altgläubigen Krieg geführt und bist mit ihnen nicht fertig geworden;
-du hast mit den Polen gekämpft und kriegtest sie nicht klein. Jetzt
-sieh zu, was du mit dieser Narretei anstellst, denn da wächst schon die
-Frucht deiner Lenden auf. Wirst du damit fertig werden? Zähl's doch an
-den Knöpfen ab!«
-
-»9. Januar. Ich bin an der Grippe erkrankt und kann das Haus nicht
-verlassen. Die Religionsstunden in der Kreisschule gibt Vater Zacharia
-an meiner Statt. Gestern kam er verwirrt und verstört zurück und
-erklärte unter Tränen, er könne mich in der Schule nicht länger
-vertreten. Die Ursache ist folgende: in der vorletzten Stunde hatte
-Vater Zacharia in der dritten Klasse von der göttlichen Vorsehung
-gesprochen, und heute prüfte er die Jungen daraufhin. Da sagt ihm
-plötzlich ein Schüler, der Sohn des Kolonialwarenhändlers Lialin,
-Alioscha, ein sehr begabter Bub, er »könne Gott den Schöpfer wohl
-gelten lassen, aber Gott den Fürsorger erkenne er nicht an«. Erstaunt
-ob einer solchen Antwort, fragte Vater Zacharia, worauf der junge
-Theologe seine Anschauung denn begründe, -- und jener erwiderte darauf,
-daß in der Natur sehr viel Ungerechtigkeit und Grausamkeit zu finden
-sei; er wies dabei vor allem auf den Tod hin, der für den Sündenfall
-eines einzigen ungerechterweise dem ganzen Menschengeschlecht auferlegt
-sei. Vater Zacharia, der diese freche Antwort nicht unerwidert lassen
-konnte, fing nun an, den Jungen zu erklären, daß wir, angesichts der
-Unvollkommenheit unserer Vernunft, über diese Dinge nicht gut urteilen
-könnten, und unterstützte seine Worte mit dem Hinweis, daß, wenn wir
-in unserer Sündhaftigkeit ewig wären, auch die Sünde und mit ihr
-alles Schlechte und Böse ewig sein müßte, -- und, um die Sache noch
-deutlicher zu erläutern, fügte er hinzu, daß dann auch der blutgierige
-Tiger und der grimmige Hai ewig sein müßten, und überzeugte sie damit
-denn auch alle. Aber in der zweiten Stunde, als Vater Zacharia in
-der unteren Klasse war, kam derselbe Bub dort hinein und widerlegte
-den Vater Zacharia vor all den Kleinen, indem er sagte: »Was könnten
-der Tiger und der Hai uns denn anhaben, wenn wir unsterblich wären?«
-Vater Zacharia fand in seiner Gutmütigkeit und bei seinem Mangel an
-Schlagfertigkeit keine andere Antwort als: »Darüber haben sich schon
-klügere Leute als du und ich den Kopf zerbrochen.« Das ging aber dem
-alten Manne so nahe, daß er wohl eine Stunde bei mir geweint hat.
-Und ich muß zum Unglück immer noch krank sein und kann nicht aus dem
-Hause, um diesem Unfug zu steuern, hinter dem sicher der Lehrer Warnawa
-steckt.«
-
-»13. Januar. Wie gut ich's erraten habe! Alioscha Lialin hat von seinem
-Vater für seine Freigeisterei die wohlverdienten Prügel bekommen und
-unter Tränen gestanden, daß der Lehrer Prepotenskij ihn jene Frage und
-die spätere Antwort gelehrt habe. Ich bin ganz entrüstet, aber unser
-Arzt meint, ich dürfe das Haus noch nicht verlassen, denn ich hätte
-eine Rezidiv-Angina, und könnte leicht den Weg ~ad patres~ finden.
-Was ich doch noch nicht möchte. Ich habe dem Inspektor geschrieben.
-Als Antwort erhielt ich die Mitteilung, dem Prepotenskij sei auf
-meine Beschwerde hin ein Verweis erteilt worden. Jawohl, ein Verweis!
-Der die Geister verwirrt, der sich an den Kleinen versündigt, den
-ehrenwertesten, sanftmütigsten, man kann wohl sagen: musterhaftesten
-Diener des Altars kränkt -- erhält einen Verweis! Und wenn ein
-hungernder Subdiakon ein altes Psalmenbuch gegen ein neues eintauscht,
-wird seine Familie für ein ganzes Jahr des Ernährers beraubt ... O du
-arglistiges Geschlecht! ...«
-
-»27. Ich bin in der größten Aufregung. Mit dem abscheulichen Warnawa
-ist kein Auskommen. In der Stunde erzählte er neulich, daß der
-Prophet Jonas unmöglich vom Walfisch verschluckt werden konnte, denn
-dieses riesengroße Tier hätte doch eine sehr enge Gurgel. Ich kann
-das unmöglich dulden, aber ich wage es nicht, mich beim Direktor zu
-beschweren, denn am Ende läuft es wieder auf einen flüchtigen Verweis
-hinaus.«
-
-»17. Februar. Prepotenskij bringt mich ganz aus der Fassung. Ich kann
-ihn nach dem, was er sich jetzt wieder erlaubt hat, kaum noch für einen
-Menschen halten, und habe darüber nicht seinem Direktor, sondern dem
-Adelsmarschall Tuganow Bericht erstattet. Was mir von diesem alten
-Voltairianer kommen wird, weiß ich nicht, aber immerhin ist er ein
-bodenständiger Mensch und kein Mietling und wird daher vielleicht ein
-Einsehen haben. Warnawka treibt Dinge, wie sie nur der Wahnsinn einem
-eingeben kann. Weil der Lehrer Gonorskij erkrankt ist, hat Prepotenskij
-zeitweilig den Geschichtsunterricht übernehmen müssen, -- und hat
-gleich damit angefangen, von der Unsittlichkeit des Krieges zu reden
-und es direkt auf die Begebenheiten in Polen bezogen. Indessen das war
-ihm noch nicht genug, er begann über die Zivilisation zu spotten, den
-Patriotismus und die nationalen Prinzipien zu verhöhnen, und zuletzt
-sich auch noch lustig über die Anstandsregeln zu machen, welche er zum
-Teil sogar als unsittlich bezeichnete. Als Beispiel führte er an, daß
-die gebildeten Völker den Akt der Geburt des Menschen verheimlichen,
-den des Mordes aber nicht, indem sie sich sogar mit Kriegswaffen
-öffentlich sehen lassen. Was will dieser Narr? Wahrlich, das ist so
-dumm, daß man sich schämen muß, und doch ärgere ich mich. Es ist ja nur
-eine Kleinigkeit; aber ich muß ja nach den Kleinigkeiten sehen, denn
-über Kleinem bin ich gesetzt.«
-
-»28. Februar. Oho! Mein Voltairianer liebt nicht zu scherzen. Der
-Direktor ist hergekommen. Ich konnt' es nicht länger ertragen und ging
-trotz aller Drohungen des Arztes zu ihm hin und berichtete ihm von den
-Ungebührlichkeiten des Prepotenskij, aber der Herr Direktor haben zu
-alledem nur herzlich gelacht. Wie lachlustig sie alle sind! Er gab dem
-Ganzen eine scherzhafte Wendung und sagte, deswegen werde Moskau nicht
-in Flammen aufgehen, -- »und übrigens,« fügte er hinzu, »wo soll ich
-denn andere hernehmen? Sie sind heutzutage alle so.« Und so stand ich
-wieder da, wie ein Narr, der unnütz Krakeel macht. Aber das muß wohl so
-sein.«
-
-»1. März. Ich bin wirklich ein alter Narr geworden, über den alle sich
-lustig machen. Heute besuchten mich der Arzt und der Stadthauptmann,
-und ich sagte ihnen, daß meine Gesundheit infolge des gestrigen
-Ausgangs nicht im geringsten gelitten habe; da fingen sie beide an zu
-lachen und erwiderten, der Arzt habe mich zum Spaß in der Stube sitzen
-lassen, denn er habe mit irgend jemand gewettet, daß er, wenn er wolle,
-mich einen ganzen Monat lang zu Hause halten könne. Deshalb redete er
-mir von einer Gefahr vor, die gar nicht vorhanden war. Pfui!«
-
-»20. Juni. Ich habe eine Reise durch das Kirchspiel gemacht, die mir
-ausgezeichnet bekommen ist. Es ist so frisch und schön draußen in der
-Natur, und unter den Menschen herrscht Friede und Zufriedenheit. In
-Blagoduchowo haben die Bauern auf eigene Kosten die Kirche ausbauen
-und ausmalen lassen, aber auch bei einer so einfachen Sache hat sich
-wieder etwas Scherzhaftes hineingemengt. An der Wand der Vorhalle haben
-sie einen ehrwürdigen Greis abgebildet, der auf einem Ruhebette liegt,
-mit der Inschrift: »Und Gott ruhete am siebenten Tage von allen seinen
-Werken, die er machte.« Ich wies den Vater Jakob darauf hin und befahl
-das Bild zu übertünchen.«
-
-»11. Juli. Vorgestern war der Bischof auf der Durchreise hier und hat
-im Dom die Messe gelesen. Ich fragte den Vater Troadij, ob das Bild
-in Bogoduchowo entfernt worden sei, und erfuhr, daß es noch immer
-vorhanden, was mich einigermaßen erregte. Aber Vater Troadij beruhigte
-mich, meinte, das habe nichts zu sagen, es sei doch »volkstümlich« und
-fügte noch eine Anekdote hinzu von den Seelen der Erlösten, die der
-Maler in Schuhen dargestellt hatte, und so lief wieder alles auf einen
-Scherz hinaus. Ach, was die Leute alle lustig sind!«
-
-»20. Juli. Ich war in Blagoduchowo und ließ das Bild in meiner
-Gegenwart abkratzen. Ich halte es nicht für angebracht, diese dumme Art
-von Volkstümlichkeit zu pflegen. Ich fragte nach dem Verfertiger des
-Bildes; und es stellte sich heraus, daß der Glöckner Pawel es gemalt
-hatte. Um dem scherzhaften Geist der Zeit entgegenzukommen, befahl ich
-diesem Künstler, sich neben meinen Kutscher auf den Bock zu setzen,
-und nachdem wir vierzig Werst weit gefahren waren, ließ ich ihn zu Fuß
-nach Hause wandern, damit er unterwegs über seine malerische Phantasie
-nachdenken könne.«
-
-»12. Oktober. Der neue Gouverneur ist zur Revision hier gewesen. Er
-besuchte den Dom und die Schule und beide Male, hier wie dort, wollte
-er durchaus, daß ich ihn segne. Er ist ein echter Russe sowohl dem
-Namen, wie dem Benehmen nach. Noch sehr jung, hat er jene privilegierte
-Lehranstalt, die Rechtsschule, absolviert, und war bisher noch nie aus
-Petersburg herausgekommen, was auch leicht zu bemerken ist, denn alles
-interessiert ihn. Besonders angelegentlich erkundigte er sich nach den
-Gegensätzen zwischen Geistlichkeit und Adel; leider konnte ich seine
-Neugier wenig befriedigen, denn sowohl unser Kreisadelsmarschall
-Plodomasow, als auch der Gouvernementsmarschall Tuganow sind würdige
-Männer, und von Gegensätzen ist keine Rede.«
-
-»14. November. Es wird erzählt, daß ein Gutsbesitzer sich bei dem
-Gouverneur über die Bauern beschwert habe, die ihren Verpachtungen
-nicht nachkämen. Der Gouverneur habe seine Klagelitanei unterbrochen
-mit den Worten: »Ich bitte, wenn Sie vom Volke reden, nicht zu
-vergessen, daß ich Demokrat bin.««
-
-»20. Januar 1863. Ich notiere die außerordentliche und höchst
-belehrende »Geschichte vom Surrogat«. Es wird folgendes Kuriosum von
-der ersten Begegnung des neuen Gouverneurs mit unserm Adelsmarschall
-Tuganow erzählt. Dieser von höherer Politik durchdrungene Petersburger
-Kavalier stellte sich auch unserem Voltairianer als Demokrat vor, wofür
-ihn Tuganow auf dem Adelsball vor allen höchlich lobte und hinzufügte,
-diese Richtung sei die allerbeste, besonders in der gegenwärtigen Zeit,
-denn in drei Kreisen unseres Gouvernements herrsche eine ziemlich
-starke Hungersnot und da biete sich reichlich Gelegenheit, sich als
-Volksfreund zu bewähren. Der Gouverneur zeigte sich darüber sehr
-erfreut, daß die Leute hungern, und war nur ungehalten, daß er bisher
-nichts davon gewußt hatte; er rief seinen Kanzleivorsteher und machte
-ihm heftige Vorwürfe, daß er ihn nicht früher davon unterrichtet habe,
-und als richtiger Heißsporn ordnete er an, daß darüber sofort nach
-Petersburg berichtet werde. Aber der Vorsteher, der sich rechtfertigen
-wollte, sagte, daß von einer richtigen Hungersnot in jenen Kreisen
-nicht geredet werden könnte, denn wenn auch die Kornernte schlecht
-gewesen sei, so sei die Hirse doch sehr gut geraten. Damit fing nun
-die Geschichte an. »Was ist das -- Hirse?« rief der Gouverneur. »Hirse
-ist ein Surrogat für Brotkorn,« erwiderte der gelehrte Vorsteher,
-statt einfach zu sagen, daß man aus Hirse Brei koche, was unseren
-Rechtsgelehrten vielleicht vollständig befriedigt hätte, denn in
-der Kunst, einen Brei anzurühren, muß er Meister sein. Aber nun war
-einmal das Wort Surrogat gefallen. »Schämen Sie sich,« sagte der hohe
-Politiker, als er dieses Wort vernahm, »schämen Sie sich, mich so
-zu betrügen. Man braucht ja nur in einen Obstladen zu treten, um zu
-sehen, wozu Hirse gebraucht wird. In Hirse werden Trauben verpackt.«
-Tuganow schwieg mit ernstem Gesicht, tags darauf aber schickte er dem
-Gouverneur durch die Verpflegungskommission eine Liste der Kornfrüchte
-Rußlands. Der Gouverneur wurde verlegen, als er hier auch Hirse
-verzeichnet fand, ließ seinen Kanzleivorsteher rufen und sagte zu ihm:
-»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen damals nicht glauben wollte. Sie haben
-recht. Hirse ist ein Getreide.« Du tust mir von Herzen leid, mein
-lieber Demokrat! Der Deutsche meinte wohl, daß St. Nikolaus mit Hafer
-gehandelt habe, aber solche Weintraubenscherze machte er nicht.«
-
-»6. Dezember. Es kommen immer wieder Nachrichten von Konflikten
-zwischen dem Adelsmarschall Tuganow und dem Gouverneur, der, wie man
-sagt, eine Gelegenheit sucht, dem Marschall für die Hirse etwas am
-Zeuge zu flicken, und wie es scheint, hat er endlich etwas gefunden.
-Der Gouverneur steht immer für die Bauern ein und jener, der Voltaire,
-verteidigt seine Rechte und Freiheiten. Dem einen hat das Rechtsstudium
-den Verstand aus dem Geleise gebracht, und des andern Hochmut kommt dem
-Berg Ararat gleich. Er läßt keinerlei fremdes Recht gelten. Es kommt
-sicher noch zu einer regelrechten Bataille.«
-
-»20. Dezember. Die Seminaristen sind für die Weihnachtsferien nach Haus
-gekommen und der Sohn des Vaters Zacharia, der Privatstunden in guten
-Familien gibt, erzählt eine ganz unglaubliche und wüste Geschichte:
-ein abgedankter Soldat hätte sich in einem Winkel der Marienkirche
-versteckt gehabt und die Krone von dem wundertätigen Bilde St. Johannis
-des Kriegers geraubt. Als die Krone dann in seinem Hause gefunden
-wurde, behauptete er, er hätte sie nicht gestohlen, sondern er hätte
-vor dem Bilde des Heiligen über die traurige Lage der dienstentlassenen
-Soldaten geklagt, und den heiligen Krieger in brünstigem Gebet
-angefleht, ihm in seiner Not zu helfen. Hierauf habe der Heilige, der
-seine Worte vernommen, gesagt: »Sie sollen ihrer Strafe in jener Welt
-nicht entgehen, du aber nimm vorläufig dieses hin« -- und mit diesen
-teilnehmenden Worten habe er angeblich die kostbare Krone von seinem
-Haupte genommen und gesagt: »Da!« Verdient eine solche Ausrede auch
-nur die geringste Beachtung? Aber unter dem Eindruck der Hirse denkt
-man anders, und also kam vom Gouverneur eine Anfrage ans Konsistorium:
-ob ein derartiges Wunder möglich sei? Selbstverständlich war nun das
-Konsistorium in einer sehr schwierigen Lage, denn es konnte doch nicht
-erwidern, daß ein Wunder unmöglich sei. Aber wo will das alles hinaus?
-Der Adelsmarschall Tuganow legte dagegen vertraulich Protest ein und
-schrieb, er halte diese Handlungsweise für unvernünftig, und meinte,
-sie bezwecke nur eine Erschütterung des Glaubens und eine Verhöhnung
-der Geistlichkeit. So wird dieser alte Freigeist zum Anwalt der
-Geistlichkeit, und der Rechtskundige, der sie verteidigen sollte, macht
-sie zum Gespötte. Nein, es kommt scheinbar wirklich die Stunde und sie
-ist schon da, wo der gesunde Menschenverstand nichts mehr von allem,
-was geschieht, für sonderbar halten wird. Auch über Tuganows Eintreten
-für die Kirche, so nützlich es in diesem Fall war, kann man sich nicht
-freuen, denn es geschah nicht aus Eifer für den Glauben, sondern aus
-Feindschaft gegen den Gouverneur, und was kann da Gutes kommen, wenn
-immer nur einer den andern schikaniert, ohne dessen eingedenk zu sein,
-daß sie beide derselben Krone den Eid geschworen haben und demselben
-Lande dienen? Es ist schlimm!«
-
-»9. Januar 1864. Tuganow war neulich in Plodomasowo, -- ich weiß nicht
-weswegen. Aber ich konnte nicht anders -- ich besuchte ihn dort, um
-etwas über seinen Kampf um St. Johannes den Krieger zu erfahren.
-Seltsam! Dieser Tuganow, einst ein Verehrer Voltaires, redete zu mir in
-freundschaftlichstem und betrübtem Tone. Er meint, sein Protest wäre
-noch nicht stark genug gewesen, denn »wie ich selber für mich über
-alle Wunder denke, das geht nur mich etwas an und das behalte ich auch
-für mich, aber ich kann diese nichtsnutzigen Bestrebungen doch nicht
-unterstützen, die darauf hinauslaufen, dem Volke das einzige zu nehmen,
-was ihm wenigstens eine Ahnung davon einflößt, daß es einer höheren
-Daseinssphäre angehört, als sein gestreiftes Schwein und seine Kuh.«
-Wie dürr und trocken ist diese Weisheit! Aber ich widersprach nicht ...
-Was ist da zu machen?! Herr, hilf du wenigstens +diesem Unglauben+,
-sonst kommen wir doch noch dazu, daß wir wieder in Rudeln umherlaufen,
-Wurzeln fressen und wie Pferde wiehern!«
-
-»21. März. Der Gutsherr Plodomasow ist aus der Residenz heimgekehrt und
-hat mir und dem Vater Zacharia und dem Diakon Achilla sehr kostbare
-Stäbe aus echtem Rohr mitgebracht. Auch zeigte er uns eine kleine
-gläserne Lampe mit einer brennenden Flüssigkeit, »Petroleum« oder
-Steinöl genannt, die aus Naphtha gewonnen wird.«
-
-»9. Mai. Ich habe mich so kleinlich gezeigt, daß ich mich vor mir
-selber schämen muß. Und das alles kam von den eben erwähnten Stäben.
-Mein ganzes vergangenes Leben ist über mich gefallen wie ein Sieb
-und hat mich zugedeckt. Ich sitze unter diesem Sieb wie eine Krähe,
-der böse Buben die Federn ausgerupft haben, und die sie nun gefangen
-halten, um ihren Spott mit ihr zu treiben. Das ist das Traurigste
-bei dieser allgemeinen Lebensverflachung: ich selber bin flach und
-klein geworden, so flach, daß ich nicht einmal imstande bin, meine
-ganze Eitelkeit dem stummen Papier anzuvertrauen. Ich will mich ganz
-kurz fassen. Es ärgerte mich, daß ich und Zacharia ganz gleiche Stäbe
-erhalten hatten und daß auch der des Achilla sich kaum von den zwei
-andern unterschied. O Gott! War ich denn auch früher schon so? Nein,
-mit solchen Kleinigkeiten gab ich mich nicht ab! Ich trug mich mit
-hohen Gedanken, wie ich hier in diesem irdischen Jammertal immer
-vollkommener werden könnte, um einst das ewige Licht zu schauen und dem
-Herrn das mir anvertraute Pfund mit reichen Zinsen zurückzugeben.«
-
-Damit schlossen die alten Tuberozowschen Aufzeichnungen, und als der
-Greis zu Ende gelesen, nahm er die Feder, trug ein neues Datum ein und
-begann danach mit ruhigen, strengen Schriftzügen zu schreiben:
-
-»Es ist seinerzeit von mir vermerkt worden, wie einmal der Sohn der
-Hostienbäckerin, der Lehrer Warnawa Prepotenskij, die unschuldigen
-Kinder an ihrem Glauben irre zu machen suchte, indem er sie eine
-Leiche sehen ließ und behauptete, es gäbe keine Seele, weil ihr
-Wohnsitz im Körper nirgends aufzufinden sei. Mein Zorn über diesen
-törichten, aber schädlichen Menschen wurde dazumal von klugen Leuten
-für übertrieben erklärt, und von der Veranlagung zu diesem Zorn hieß
-es, sie sei der Beachtung gar nicht wert. Jetzt hat sich wieder
-etwas Neues begeben. Beim letzten Hochwasser wurde eine unbekannte
-Leiche an unser Ufer gespült. Die Mutter des Warnawa, die arme
-Hostienbäckerin, sagte mir heute unter Tränen, daß der Arzt und der
-Stadthauptmann, wohl aus Bosheit gegen ihren Sohn oder um ihn zu
-verhöhnen, ihm jenen Toten geschenkt hätten, und Warnawa hätte aus
-Dummheit dieses Geschenk angenommen, und die Leiche in der Bütte,
-darin sie bisher friedlich ihre Wäsche in Asche gelegt, ausgekocht
-und die Brühe unter den Apfelbaum im Garten gegossen, die Knochen
-aber in die Gouvernementsstadt gebracht. Und nun fürchte sie, man
-werde ihren teuren Sohn mit jenen Knochen als Mörder festnehmen.
-Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und bat den Stadthauptmann
-um eine Erklärung, zu welchem Zwecke der Leichnam des Ertrunkenen,
-der nach der Sektion kirchlich bestattet werden mußte, dem Lehrer
-Warnawa ausgehändigt worden sei? Ich erhielt zur Antwort, das sei im
-Interesse der Aufklärung geschehen, d. h. damit er, Warnawa, an dem
-Skelett naturwissenschaftliche Studien treiben könne. Diese Sorge um
-die Wissenschaft kann einen lachen machen bei Leuten, die ihr so fern
-stehen, wie der Stadthauptmann Porochontzew, der sein halbes Leben
-im Kavalleriepferdestall zugebracht hat, wo man nichts lernt, als
-wie man den Pferden die Schwänze bindet, oder dieses Lügenmaul von
-Arzt, der jene Wissenschaft vertritt, deren Anhänger von den wahren
-Gelehrten für Ignoranten angesehen werden, was durch seine blödsinnige
-Behauptung bewiesen wird, er habe einmal bei Plodomasow versehentlich
-statt Branntwein ein Glas Leucht-Petroleum ausgetrunken, und da habe
-sein Bauch eine ganze Woche lang geleuchtet! Wie dem nun aber auch
-sei, der von dem Lehrer gekochte Leichnam hat sich in ein Skelett
-verwandelt. Warnawa brachte die Knochen zu einem Heilgehilfen am
-Gouvernementskrankenhaus. Dieser Meister der Anatomie fügte all die
-Knochen kunstvoll aneinander und setzte ein Gerippe zusammen, das nun
-wieder in unsere Stadt zurückgebracht wurde und sich gegenwärtig bei
-Prepotenskij befindet, der es dicht bei seinem Fenster befestigt hat.
-Da steht es nun und lockt immer wieder die Straßenmenge an und gibt zu
-allen möglichen Streitigkeiten Anlaß und zu einem ewigen häuslichen
-Zwist zwischen dem Warnawa und seiner einfältigen Mutter. Der Tote
-fängt an Rache zu nehmen. Jede Nacht erscheint er der unglückseligen
-Mutter des großen Gelehrten im Traum und fordert immer wieder sein
-christliches Begräbnis. Die Arme hat den Sohn auf den Knien angefleht,
-ihr dieses Skelett zu geben, daß sie es bestatte, aber natürlich
-widersetzt er sich dem mit aller Entschiedenheit. Da entschloß sie sich
-zu einer verzweifelten Maßnahme, sammelte in Abwesenheit des Sohnes die
-Knochen in eine kleine Holzkiste, trug sie in den Garten und vergrub
-sie mit ihren schwachen Greisenhänden unter dem nämlichen Apfelbaum,
-unter welchen Warnawa die zerkochten Fleischteile des Unglücklichen
-ausgeschüttet hatte. Aber sie hatte kein Glück damit, denn der gelehrte
-Sohn grub die Knochen wieder aus, und damit ging eine neue Geschichte
-an, die auch heut noch nicht beendet ist. Es ist ebenso lächerlich
-wie schmachvoll, was noch weiter folgte. Sie raubten sich die Knochen
-gegenseitig so lange, bis mein Diakon Achilla, der sich in alles
-mischen muß, diese Sache zum Abschluß brachte und mit solcher Hast
-ans Werk ging, daß es ganz unmöglich war, ihm Einhalt zu gebieten.
-Auch haben mich die Reden des Arztes und des Stadthauptmanns sehr
-verstimmt, die mir Vorwürfe machten wegen meiner eifernden (so nannten
-sie es) Intoleranz gegen den Unglauben, denn, meinen sie, wirklich
-gläubig sei heutzutag keiner mehr, auch die nicht, welche offiziell
-für den Glauben eintreten. Das glaub' ich auch! Ich kann nicht daran
-zweifeln. Aber ich wundere mich, woher bei uns dieser erbitterte Haß
-und diese Feindschaft gegen den Glauben kommen. Vom Freiheitsdrang?
-Aber wen hindert denn der Glaube, mit allem Eifer nach voller Freiheit
-in allen Dingen zu streben? Warum haben die wirklichen Denker nicht so
-gesprochen?«
-
-Vater Sawelij seufzte tief, legte die Feder hin und trat ans Fenster.
-Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt und schon fielen einzelne
-Regentropfen klatschend in den dicken Staub. Das war der Regen, um
-den Tuberozow am vergangenen Tage gebeten hatte. Der Alte flüsterte
-entzückte Worte des Dankes und des Lobes und merkte nicht, wie leise
-Tränen über seine Wangen liefen. Die Regentropfen aber fielen immer
-dichter und dichter, und endlich war es, als würde oben ein ganz feines
-Sieb geschüttelt, und die feuchte Kühle spielte erfrischend um den
-leicht erhitzten Kopf des Priesters. So am Fenster sitzend, das Haupt
-auf die weißen Hände gestützt, schlief Vater Sawelij ein.
-
-Inzwischen ging der sanfte Regen, den kein Gewitter begleitet hatte,
-vorüber, die Luft war frisch und rein geworden, der Himmel klar, und
-im Osten färbte die graue Dämmerung sich silbern, um dem Morgenrot den
-Weg zu bereiten, dem Morgenrot des Tages, der dem Gedächtnis unseres
-heiligen Vaters Methodius von Pesnosch geweiht ist, des Tages, dem, wie
-wir uns erinnern müssen, der Diakon Achilla eine so große Bedeutung
-zuschrieb.
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-Sechstes Kapitel.
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-Der Osten wurde immer heller, und während sich die Sonne im Nebel
-hinter dem dampfenden Walde wusch, reckten sich die goldenen Pfeile
-ihrer Strahlen schon in scharfen Strichen über den Horizont. Ein
-leichter Nebel wallte über dem Flusse auf und kletterte das zerklüftete
-Ufer entlang; unter der Brücke ballte er sich zusammen und blieb an
-den schwarzen, nassen Pfählen kleben. Durch diesen Nebel sieht man das
-Gemüsefeld bläulich schimmern und den weißen Streifen der Landstraße
-hinüberleuchten. Über allem liegen noch die Schatten des Halbdunkels,
-und nirgends, weder in den Häusern, noch auf den Plätzen und Straßen,
-merkt man etwas vom Erwachen.
-
-Aber da, auf dem höchsten Punkte der steilen Hügelseite von Stargorod,
-über dem schmalen Zickzackweg, der den steinigen Abhang hinab zum
-Wasser führt, heben sich zart und durchsichtig die Umrisse einer
-höchst seltsamen Gruppe ab. In dem schwachen Licht, das sie bescheint,
-wirkt sie ganz phantastisch. In der Mitte steht ein Mann, von dessen
-Schultern ein langes, im Gürtel leicht geschürztes Gewand bis zur Erde
-niederwallt. Ganz plötzlich ist diese Gestalt aus dem allmählich dünner
-werdenden Nebel aufgetaucht und steht unbeweglich, wie ein Gespenst.
-
-Ein abergläubischer Mensch könnte denken, es wäre der Hauskobold von
-Stargorod, der, ehe die Stadt erwacht, noch ein paar Klageseufzer über
-ihr anstimmen will.
-
-Aber je heller es wird, desto deutlicher erkennt man, daß es kein
-Hauskobold, noch sonst ein Geist ist, trotzdem aber auch nicht etwas
-ganz Alltägliches. Wir sehen jetzt, daß die Figur ihre Hände in die
-Taschen gesteckt hat. Aus der einen Tasche guckt eine sehr lange Gerte
-hervor, an deren Ende eine Schleuder oder eine Angelschnur gebunden
-ist. Aus der anderen hängt an vier Fäden etwas, das wie eine schwere
-Keule aussieht. Ein leiser Wind erhebt sich, die Oberfläche des
-schläfrigen Flusses beginnt sich leicht zu kräuseln, ein Zittern fährt
-durch die Zweige der Birken hinter dem schöngemusterten Gittertor des
-Domes, und die leeren Falten am weiten Gewande der Gestalt auf dem
-Berge geraten in Bewegung und enthüllen ein paar dünne Beine in weißen
-Unterhosen. In demselben Augenblick, wo diese dünnen Beine sichtbar
-werden, tauchen hinter ihnen plötzlich vier Hände auf, welche zwei
-anderen Gestalten gehören, die sich mehr im Hintergrunde gehalten
-hatten. Diese diensteifrigen Hände fassen die wehenden Enden des
-Gewandes, schlagen sie wieder zusammen und verhüllen aufs neue die
-dünnen, weißen Beine des Standbildes. Jetzt braucht man nur etwas
-schärfer hinzusehen, um auch die zwei anderen Gestalten zu erkennen.
-Rechts zeigt sich eine Frau. Sie fällt vor allem durch die ungeheure
-Wölbung ihres Leibes auf, über dem sich eine schmale Tunika hoch
-emporbläht. In der Hand hält sie einen glänzenden Metallschild, in
-dessen Mitte ein großer Büschel Haare befestigt ist, die soeben erst
-mit der Haut vom Kopfe des Feindes gelöst zu sein scheinen. Auf der
-anderen Seite, also zur Linken der hohen Gestalt, zeigt sich ein
-kurzbeiniger, schwarzer Wilder mit breitem Bart. Unter dem linken Arm
-hält er etwas wie ein Folterinstrument, und in der Rechten hat er
-einen blutigen Sack, aus dem zwei Menschenköpfe heraushängen, bleich,
-haarlos, wohl die unglücklichen Opfer der grausamen Folter. Um diese
-drei Gestalten scheint der ganze Zauber der nordischen Sage zu wehen.
-Nun steigt die helle Sonne noch ein wenig höher, und der Sagenzauber
-löst sich in nichts auf. Die drei stehen noch einen Augenblick da und
-eilen dann den Hügel hinab. Nachdem sie etwa zehn Schritte gemacht
-haben, bleiben sie wieder stehen, und der Größte, der vorausging, sagt
-leise:
-
-»Schau mal, Freund Komar, es ist heut noch nichts von ihnen zu sehen.«
-
-»Ja, es ist nichts zu sehen,« erwidert der schwarzbärtige Komar.
-
-»Sieh besser zu!«
-
-Komar blickt scharf über den Fluß hin:
-
-»Es lohnt gar nicht hinzuschauen, es ist keiner da.«
-
-»Und die Stille in der Stadt, ach du lieber Gott!«
-
-»Das schlafende Königreich,« spricht leise die Gestalt, die den Schild
-unter dem Arm hält.
-
-»Was sagst du, Felicie?« fragt der Lange, der nicht recht gehört hat.
-
-»Ich melde Ihnen, Woin Wasiljewitsch, daß die Stadt dem schlafenden
-Königreich gleicht,« antwortet die Frau.
-
-»Ja, dem schlafenden Königreich; aber bald werden sie erwachen. Schau
-mal hin, Komar, da drüben, scheint mir, platscht eben einer hinein.«
-
-Die Gestalt weist nach der Insel, von der sich ein leichter Dampf
-erhebt und leise nach der Brücke hin schwebt.
-
-»Ganz recht,« sagt Komar, und seine Blicke verfolgen zwei dünne Kreise
-auf dem stillen Wasser, die immer breiter werden. Im Mittelpunkt des
-vorderen Kreises schwankt und dreht sich etwas, das wie ein überreifer
-gelber Kürbis aussieht.
-
-»Ach, die Kanaille ist wieder zuerst reingesprungen, ohne auf die
-Obrigkeit zu warten.«
-
-»Der drüben ist auch fertig,« sagt Komar gleichgültig.
-
-»Nicht möglich, -- du lügst, Komar.«
-
-»Sehn Sie doch hin! Da ist er schon dicht am Wasser!«
-
-Alle drei legen die Hände über die Augen und blicken hinüber. Drüben
-sehen sie etwas Großes, Dickes zum Wasser herabschreiten. Es ist ganz
-in ein weißes schleppendes Gewand gehüllt und erinnert auffallend an
-die Statue des Komtur aus dem »Don Juan«, bewegt sich auch genau so
-langsam und feierlich und ebenso unbeirrt seinem Ziel entgegen.
-
-Jetzt ist aber auch der strahlende Phöbus auf seinem Feuerwagen ein
-gutes Stück höher hinaufgekommen; der zerflatternde Nebel schimmert in
-Bernsteintönen. Die ganze Landschaft leuchtet in Purpur und Blau und in
-diesem grellen, mächtigen Licht, ganz von Sonnenstrahlen überflutet,
-zeigt sich in den Wellen des Flusses ein nackter Recke mit einer
-mächtigen Mähne schwarzer Haare auf dem gewaltigen Haupte. Er sitzt
-auf einem mächtigen Rotfuchs, der seines Reiters würdig und mit seiner
-breiten Brust die Wellen kräftig teilt, zornig mit den feuerfarbenen
-Nüstern schnaubend.
-
-Der Reiter im Flusse und alle oben geschilderten Fußgänger streben dem
-nämlichen Punkte zu. Wollten wir Verbindungslinien von dem einen zum
-andern ziehen, sie würden sich alle bei einem großen Steine kreuzen,
-der in der Mitte des Flusses aus dem Wasser herausragt. In der ersten
-Gestalt, die den Berg herabsteigt, erkennen wir den Polizeichef von
-Stargorod, Rittmeister a. D. Woin Wasiljewitsch Porochontzew. Er hat
-einen himbeerfarbenen seidenen Schlafrock an und eine spitz zulaufende
-Kalotte aus Kamelgarn auf dem Kopfe. Aus der einen Tasche, in der seine
-rechte Hand steckt, guckt ein dünner Peitschenstiel, an dem eine lange
-Peitschenschnur hängt, und bei der andern, in die der Polizeichef
-seine Linke gelegt hat, sieht man eine riesengroße, ganz schwarz
-gerauchte Meerschaumpfeife und einen orientalischen Tabaksbeutel aus
-Saffian an einem Jagdriemen baumeln.
-
-Links von ihm schreitet langsam sein Kutscher, der längst schon
-seinen Taufnamen verloren hat und von allen nur noch Komar (Mücke)
-genannt wird. In seinen Händen befinden sich weder Folterinstrumente
-noch Totenköpfe, noch ein blutbesprengter Leinwandsack, sondern er
-trägt bloß eine Bank, einen alten roten Fußteppich und ein Paar
-straff aufgeblasener Schwimmblasen, die mit einem Tuchstreifen
-zusammengebunden sind.
-
-Die dritte Gestalt, die uns vor einer Viertelstunde so grausig
-erschien, mit ihrem Schlachtschild unter dem Arm, entpuppt sich als
-die sehr bescheidene Gattin des Komar. »Mütterchen Felizata«, wie sie
-von dem Hausgesinde genannt wird, trägt freilich eine sehr schwere
-Last, die sich aber ganz und gar nicht zu kriegerischen Aktionen
-eignet. Vor allem trägt die gute Frau ihren eigenen Leib, in dem ein
-künftiger kleiner Komar junior dem Leben entgegenträumt. Unter dem
-Arm aber hat sie eine hell in der Sonne glitzernde Messingschüssel,
-in der ein Bastwisch liegt, mit einem Badehandschuh aus Tuch, im
-Handschuh ein Stückchen Kampherseife, und auf dem Kopfe ein vierfach
-zusammengefaltetes Badetuch.
-
-Also ein durch und durch friedliches Bild.
-
-Die weiße Gestalt, die am jenseitigen Ufer langsam zum Wasser
-hinabschreitet, hat inzwischen auch alles Imponierende und damit
-auch jede Ähnlichkeit mit dem Standbild des Komturs verloren. Der
-Mann hat sich in ein weißes Badetuch gehüllt, und als er das Wasser
-erreicht und das Tuch fallen läßt, ist es nicht mehr schwer, in ihm
-den wohlbeleibten und ungefügen semmelblonden Kreisarzt Pugowkin zu
-erkennen.
-
-Der nackte Reiter auf dem langmähnigen roten Roß aber ist kein
-anderer als der Diakon Achilla, und sogar der im Gekräusel der
-Wellen auftauchende Kürbis gewinnt nach und nach ein wohlbekanntes
-menschliches Aussehen: zwei sanfte blaue Augen und eine eingeknickte
-Nase zeigen, daß wir es nicht mit einem Kürbis zu tun haben, sondern
-mit dem Kahlkopf des alten Konstantin Pizonskij, dessen Greisenleib
-ganz im kühlen Wasser steckt.
-
-Es sind die Badeliebhaber von Stargorod, die von alters her an jedem
-schönen Sommermorgen hier zusammenkommen und gemeinschaftlich sich des
-frischen Wassers erfreuen.
-
-Als erster stürzt sich der Arzt mit einem mächtigen Anlauf kopfüber in
-den Fluß und schwimmt auf den großen breiten Stein zu, der sich in der
-Mitte des Flusses einen Fuß hoch aus dem Wasser erhebt.
-
-Mit ein paar mächtigen Schlägen hat er ihn erreicht, klettert auf seine
-glatte obere Platte hinauf.
-
-»Ich bin wieder der erste im Wasser!« ruft er lachend. Und brüllt dem
-Achilla zu:
-
-»Schwimm doch schneller, du Pharao! -- Kahlkopf, komm herauf! Kahlkopf,
-komm herauf!«
-
-Inzwischen ist Felizata zu dem Polizeichef getreten. Sie löst seinen
-Gürtel, hilft ihm aus dem Schlafrock, so daß er in Unterhosen und einer
-bunten Flanelljacke dasteht. Der Arzt auf dem Stein plätschert mit den
-Füßen im Wasser, pfeift lustig vor sich hin und klatscht plötzlich den
-herangeschwommenen Diakon Achilla so laut und kräftig mit der flachen
-Hand auf den nackten Rücken, daß dieser aufschreit, nicht vor Schmerz,
-sondern vor Schreck über das laute Klatschen.
-
-»Was haust du mich mit solchem Lärm?«
-
-»Pack mich nicht am Leib,« erwidert der Arzt.
-
-»Wenn das aber meine Gewohnheit ist?«
-
-»Gewöhn dir's ab,« antwortet der Arzt und pfeift laut.
-
-»Ich gewöhn mir's auch ab, aber ich vergesse mich immer wieder.«
-
-Der Arzt erwidert nichts und pfeift weiter. Der Diakon schüttelt den
-Kopf, spuckt aus, bindet die Schnur auf, mit der sein Heldenleib
-gegürtet ist, nimmt die daranhängende Bürste und den Striegel ab und
-beginnt mit ebensoviel Eifer wie Sachkenntnis die Mähne seines Pferdes
-zu reinigen. Das mächtige Tier, welches sich an der langen Leine
-ziemlich frei bewegen kann, biegt den breiten Rücken und schlägt mit
-seinen Knien das Wasser zu Schaum.
-
-Dieses Landschafts- und Genrebild zeigt uns die Schlichtheit des
-Stargoroder Lebens, wie die Ouvertüre die Musik der Oper andeutet. Aber
-die Ouvertüre ist noch nicht zu Ende.
-
-
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-Siebentes Kapitel.
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-Am linken Flußufer, wo der Stadthauptmann immer noch zögert, hat der
-Kutscher Komar den Teppich ausgebreitet, die mitgebrachte Bank darauf
-gestellt, und nachdem er sich durch kräftiges Schütteln noch überzeugt
-hat, daß sie feststeht, ruft er:
-
-»Setzen Sie sich, Woin Wasiljewitsch, sie steht fest.«
-
-Porochontzew geht schnell auf die Bank zu, rüttelt sie erst noch einmal
-eigenhändig und setzt sich erst, nachdem er sich genügend überzeugt
-hat, daß sie tatsächlich ganz feststeht. Kaum hat der Herr sich
-gesetzt, so packt Komar ihn von hinten an den Schultern, und seine
-Frau, welche die Schüssel nebst Bastwisch und Badetuch auf den Teppich
-gestellt hat, beginnt den kriegerischen Stadtgewaltigen auszukleiden.
-Erst nimmt sie ihm die Kalotte ab, dann die gestrickte Unterjacke, die
-Pantoffeln und die Socken, legt hierauf ihre Handflächen vorsichtig an
-die dürren Rippen des Rittmeisters und bleibt so unbeweglich stehen,
-den Kopf etwas seitwärts gebogen.
-
-»Nun, Felicie, geht es schon? Kann ich schon reiten?« fragt
-Porochontzew.
-
-»Nein, Woin Wasiljewitsch, noch schlägt der Puls,« antwortet Felizata.
-
-»Na, wenn er noch schlägt, muß man warten. Aber du kannst hineinhupfen,
-Komar.«
-
-»Ich tu's auch gleich.«
-
-»Hupf nur, Bruder, hupf! Schwimm einmal herum und komm dann wieder
-raus. Dann wird geritten.«
-
-»Wenn ich dann nur nicht zu schlüpfrig bin, Woin Wasiljewitsch. Dann
-fallen Sie wieder runter, wie neulich.«
-
-»Nein, nein, ich fall schon nicht.«
-
-Komar wirft, hinter dem Rücken seines Herrn stehend, das Hemd ab und
-stürzt sich mit einem mächtigen Anlauf ins Wasser, wo er alsbald
-gewaltig mit den Armen zu arbeiten beginnt.
-
-»Famos schwimmt dein Komar,« sagt Porochontzew.
-
-»Ausgezeichnet,« entgegnet die Frau, welche sich anscheinend nicht im
-geringsten geniert und auch keinen der Badenden durch ihre Anwesenheit
-stört.
-
-Felizata, eine frühere Leibeigene Porochontzews, ist es seit langem
-gewohnt, ihren kränklichen Herrn zu bedienen, und bei dieser
-Beschäftigung gibt es für sie keinen Geschlechtsunterschied. Inzwischen
-ist Komar rund um den Stein geschwommen, auf dem die Badenden sitzen,
-und wieder aus dem Wasser gekrochen und steht nun, den gekrümmten
-Rücken einem Herrn zugewendet, vor der Bank. Woin Wasiljewitsch
-klettert auf den Rücken, umfaßt den Hals des Kutschers mit beiden
-Armen und reitet ins Wasser hinein. Der Rittmeister macht es fast
-immer so, denn er liebt es nicht, barfuß auf dem scharfen Kies zu
-gehen. Kaum hat jedoch das Wasser die Achselhöhlen Komars erreicht,
-so bleibt er stehen und meldet, nun seien keine Steine mehr da, denn
-er fühle reinen Sand unter seinen Sohlen. Woin Wasiljewitsch klettert
-von seinem Roß hinunter und legt sich auf die Schwimmblasen. Auch
-heute war der Vorgang derselbe: der dürre Stadtgewaltige legt sich
-hin, Komar gibt ihm einen tüchtigen Stoß und beide schwimmen nach dem
-Steine, den sie beide erklettern. Dieser nicht sehr große Stein, dessen
-über dem Wasser aufragende glatte, runde Fläche einen Durchmesser
-von etwa zwei Fuß haben mag, bietet fünf Personen Unterkunft, von
-denen vier -- Porochontzew, Pizonskij, der Arzt und Achilla -- sich
-an den Rand gesetzt haben, so daß sie einander den Rücken zukehren,
-während Komar mitten in dem engen Viereck steht, das eben diese Rücken
-bilden, und seinem Herrn den Kopf wäscht. Es wird eifrig diskutiert;
-Pizonskij erzählt unter beständigem Zucken seiner schiefen Nase, daß
-gestern abend in der Dämmerung irgendwo unterhalb der Brücke im Schilf
-sich zwei Schwäne niedergelassen und nachts, während es regnete,
-unausgesetzt geschrien hätten.
-
-»Wenn die Schwäne schreien, so verkünden sie irgend jemandes Ankunft,«
-meint Komar, indem er den Kopf seines Herrn eifrig mit Seife einreibt.
-
-»Nein, das verheißt bloß einen schönen Tag,« wendet Pizonskij ein.
-
-»Wer sollte auch zu uns kommen?« mischt sich der Arzt ins Gespräch.
-»Wir leben ja hier wie die reinen Waldteufel: in hundert Jahren
-passiert nichts Neues.«
-
-»Was soll uns auch das Neue?« sagt Pizonskij. »Wir haben ja alles; das
-Wetter ist schön, wir sitzen gemütlich auf unserm Stein und keiner
-verübelt es uns. Käme aber ein neuer Mensch her, so nähme er vielleicht
-Anstoß, es gäbe ein Gerede und ...«
-
-»Ein Gerede: warum sitzen sie so nackigt da?« unterbricht ihn Komar
-ungeniert.
-
-»Was ist das für ein Stadthauptmann, der sich von einem Frauenzimmer
-waschen läßt?« wirft der Arzt ein.
-
-»Ja, das ist wahr,« ruft der Rittmeister und schaut sich beunruhigt um.
-
-Komar bläst sich in den Schnurrbart, lächelt und sagt leise:
-
-»Und dann wird's heißen: was hat der Polizeichef auf dem Komar ins
-Wasser zu reiten?«
-
-»Halt's Maul, Komar!«
-
-»Auch das, auch das wird Fragen veranlassen,« sagt wieder der sanfte
-Pizonskij und seufzt, indem er fortfährt: »Und jetzt sitzen wir hier
-ohne alle Neuigkeiten wie im Paradiese. Selber sind wir nackt, aber
-wir sehen alle Schönheit der Welt: wir sehen den Wald, sehen die
-Berge, sehen die Tempel Gottes, das Wasser, das Grün der Wiesen; dort
-im Uferschilf piepen die jungen Entlein; vor uns im Wasser spielt das
-Völklein der kleinen Fische so fröhlich. Groß ist deine Güte, o Herr!«
-
-Die letzten Worte hatte Pizonskij mit erhobener Stimme gesprochen, sie
-hallten weit über den Fluß hin, wurden von den Hügeln zurückgeworfen
-und klangen dann noch ein drittes Mal etwas dumpfer von dem flachen
-Ufer wider. Pizonskij horcht auf, streckt den Zeigefinger über seinem
-kahlen Kopfe zum Himmel empor und sagt:
-
-»Dreimal antwortet dir die Güte des Herrn: was kann es Schöneres geben,
-als in solchem Frieden zu leben und in ihm sein Dasein zu vollenden.«
-
-»Wahr, sehr wahr,« antwortet der Rittmeister mit einem Seufzer.
-»Da haben der Arzt und ich uns eine kleine Neuerung gestattet: wir
-erlaubten dem Warnawa eine Leiche auszukochen. Wozu hat das nicht
-geführt! Übrigens, Diakon, vergiß nicht, daß du versprochen hast, dem
-Warnawa die Knochen wegzunehmen.«
-
-»Warum sollte ich's vergessen? Ich bin kein Manichäer, den man
-hundertmal mahnen muß. Was ich versprochen habe, das halte ich auch.«
-
-»Hast du? Hast du's wirklich schon?«
-
-»Natürlich hab' ich's.«
-
-»Du flunkerst, Diakon!«
-
-Achilla schweigt.
-
-»Warum redest du denn nicht? Erzähle doch, wie du ihm die Knochen
-weggenommen hast. Nun? Was Teufel bist du denn heut so solide?«
-
-»Warum soll ich nicht solid sein, wenn meine Taille es mir gestattet?«
-erwidert Achilla selbstbewußt. »Ihr zwei, du und der Arzt, macht
-Dummheiten, und ich muß sie wieder gutmachen. Na, da bin ich eben zum
-Warnawa ins Fenster hineingestiegen, hab die Knochen alle in einen Sack
-gesteckt ...«
-
-»Nun und dann, Achilla? Was dann, mein Lieber?«
-
-»Dann ging es ganz dumm.«
-
-»Ja wie denn? So erzähle doch!«
-
-»Was soll ich erzählen, wo ich selber nichts weiß? Dann hat mir jemand
-die Knochen wieder wegstibitzt.«
-
-Porochontzew springt auf und schreit:
-
-»Was? Wieder gestohlen?«
-
-»Ja, wie soll ich sagen? Gestohlen ist vielleicht nicht das richtige
-Wort. Ich weiß nur, daß ich den ganzen Kram zu mir nach Haus brachte
-und ihn in meinen Karren schüttete, um heut damit zur Begräbnisstätte
-zu fahren. Aber wie ich morgens nachseh, ist nichts mehr da -- bis auf
-das kleine Schwänzchen hier.«
-
-Der Arzt bricht in ein lautes Gelächter aus.
-
-»Was lachst du?« fragt der Diakon geärgert.
-
-»Ein Schwänzchen ist übriggeblieben, sagst du?«
-
-Achilla wird böse.
-
-»Nun ja, ein Schwänzchen,« erwidert er, »oder was soll das sonst sein?«
-
-Der Diakon löst von dem Striegel einen menschlichen Fußknöchel, den er
-mit einem Endchen Bindfaden daran befestigt hatte, reicht ihn dem Arzt
-hin und sagt trocken: »Da, sieh's dir an, wenn du mir nicht glaubst.«
-
-»Haben denn die Menschen Schwänze?«
-
-»Etwa nicht?«
-
-»Du hast also auch einen Schwanz?«
-
-»Ich?!« fragt Achilla.
-
-»Ja, du.«
-
-Der Arzt lacht wieder aus vollem Halse, der Diakon aber wird bleich und
-sagt:
-
-»Hör mal, mein lieber Meister Quacksalber, scherzen kannst du, -- aber
-mit Maß, wenn ich bitten darf. Vergiß nicht, daß ich eine geistliche
-Person bin.«
-
-»Na, schon recht! Aber sag mir mal erst, wo hast du deinen Astragalus?«
-
-Das unbekannte Wort »Astragalus« macht auf den Diakon einen
-verblüffenden Eindruck: die Fachbezeichnung für das unschuldige
-menschliche Sprungbein scheint ihm etwas äußerst Kränkendes, er
-schüttelt den Kopf, stößt einen tiefen Seufzer aus und sagt langsam:
-
-»Für so niederträchtig hätte ich dich allerdings nicht gehalten.«
-
-»Ich niederträchtig?«
-
-»Jawohl! Einer geistlichen Person mit derartigen dummen Fragen zu
-kommen ist niederträchtig. Aber merk dir: deinen faulen Scherz mit dem
-Schwanz hab' ich dir nachgesehen, aber jetzt nimm dich in acht!«
-
-»O wie schrecklich!«
-
-»Ja, hab' dich nur! Ich mein' es ernst. Eure Freigeisterei hängt mir
-längst zum Halse heraus.«
-
-»Ja, ist denn das Freigeisterei, wenn man Astragalus sagt?«
-
-»Kusch!« schreit der Diakon.
-
-»Schafskopf« meint der Arzt achselzuckend.
-
-»Kusch!« donnert Achilla und hebt drohend die Faust. Seine Augen
-funkeln grimmig.
-
-»Ist das ein Esel! Kein vernünftiges Wort kann man mit ihm reden.«
-
-»Was? Ein Esel bin ich? Man kann nicht mit mir reden? Na warte! Ich bin
-euch kein sanfter Sawelij! Runter in den Sumpf!«
-
-Mit diesen Worten hat der Diakon die Leine seines Pferdes aus der
-rechten Hand in die linke genommen, packt den Arzt mit der Rechten um
-den Leib und reißt ihn ins Wasser hinab. Sie tauchen unter, werden
-wieder sichtbar und verschwinden aufs neue. Obgleich das Verhalten des
-Diakons deutlich verriet, daß er keineswegs die Absicht hatte, den
-Arzt zu ertränken, sondern ihn nur etlichemal untertauchen wollte, --
-er hielt auch, während sie so zappelten, immer nach dem Ufer zu -- so
-versetzte das verzweifelte Gebrüll des Medikus die Drei auf dem Steine
-und die am Ufer stehende Felizata doch in eine so unbeschreibliche
-Angst, daß auch sie ein lautes Geschrei erhoben, welches die ganze
-Umgegend alarmieren mußte.
-
-So begann der Diakon Achilla seinen Ausrottungskampf gegen die in
-Stargorod um sich greifende gemeingefährliche Freigeisterei, und
-wir werden sehen, was für gewaltige Folgen dieser energische Anfang
-zeitigen sollte.
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-
-Der Lärm und das Geschrei der Badenden hatten den Propst, der an seinem
-Fenster kaum ein wenig eingeschlummert war, aufgeweckt. Der Alte
-erschrickt, springt auf, sieht auf den Fluß hinaus, kann aber ganz und
-gar nicht begreifen, was eigentlich geschehen. In diesem Augenblicke
-hält vor seinem Hause ein eleganter, von einem grauen Vollblutpferde
-gezogener Jagdwagen. Darin sitzt eine schwarzgekleidete junge Dame: sie
-kutschiert selbst, neben ihr ein kleiner Groom. Die Dame ist die junge
-verwitwete Gutsbesitzerin Alexandra Iwanowna Serbolowa, seine ehemalige
-Lieblingsschülerin.
-
-»Alexandra Iwanowna, seien Sie mir herzlichst willkommen,« erwidert der
-Propst ihren Gruß. »Meine Frau steht gleich auf, und dann sind Sie so
-freundlich, eine Tasse Tee mit uns zu nehmen.«
-
-Die Dame dankt. Sie sagt, sie sei in die Stadt gekommen, um eine
-Totenmesse für ihren verstorbenen Gatten lesen zu lassen, und bittet
-Tuberozow, doch recht bald in die Kirche zu kommen.
-
-»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
-
-»Vielen Dank. Ich will jetzt nur noch für einen Augenblick zur alten
-Prepotenskaja, sonst ist sie gekränkt.«
-
-Sie nickt dem Priester zu und im nächsten Augenblick ist der leichte
-Wagen verschwunden. Der Propst schickt das Dienstmädchen zum Küster
-mit dem Befehl, zur Frühmesse läuten zu lassen und den Diakon Achilla
-in die Kirche zu beordern; dann tritt er vor den Heiligenbilderschrein,
-seine Morgenandacht zu verrichten. Eine halbe Stunde später schlägt
-die Domglocke an, und gleich darauf kommt das Mädchen zurück mit der
-Meldung, sie habe den Diakon Achilla nicht finden können, niemand
-wisse, wo er sei. Zum Warten ist aber keine Zeit mehr und so nimmt der
-Propst seinen Stab mit der Inschrift »Der Stecken Aarons erblühte«
-und begibt sich in den Dom. Er ist noch keine zehn Minuten fort, als
-die Pröpstin Natalia Nikolajewna durch das plötzliche Erscheinen des
-Diakons Achilla höchlich überrascht wird. Er ist ganz außer sich.
-
-»Mütterchen,« ruft er, »alles, was ich Euch gestern von den
-Totengebeinen versprochen hatte, ist zuschanden geworden.«
-
-»Das habe ich mir doch gleich gedacht,« erwidert Natalia Nikolajewna.
-
-»Nein, bitte sehr, Ihr müßt erst wissen, warum es zuschanden geworden
-ist. Wie ich es Euch gestern versprach, so habe ich's auch gemacht.
-Ganz wie sich's gehört, habe ich die Überreste dieses Menschen, den
-der Warnawka gekocht hat, durchs Fenster gestohlen, in den Sack
-gesteckt und zu mir nach Haus getragen. Dann habe ich sie in den Karren
-geschüttet. Aber als ich heute nachschaue, ist der Karren leer! Kann
-ich dafür?«
-
-»Ja, wer beschuldigt dich denn?«
-
-»Das ist es ja eben. Mich überkam sogar ein Zweifel, ob ich sie nicht
-schon nachts vergraben hätte, aber heut früh im Bade war der Arzt so
-frech gegen mich, daß ich gleich aus dem Bad zum Warnawka gerannt bin.
-Alle Fensterläden waren geschlossen. Ich guckte durch eine Ritze, und
-da seh' ich, daß der Gekochte wieder heil und ganz am Nagel hängt! Wo
-ist der Vater Propst? Ich muß ihm gleich alles erzählen!«
-
-Natalia Nikolajewna schickte den Diakon ihrem Gatten nach, und der
-schnellfüßige Achilla hatte den Propst auch bald eingeholt.
-
-»Was rennst du so ... und fauchst und schnaufst und stampfest?« fragt
-ihn Sawelij, als er seine Schritte hinter sich hört.
-
-»Das ... das tu ich immer, Vater Sawelij, wenn ich laufe. Habt Ihr es
-nie bemerkt?«
-
-»Nein, bisher nicht. Aber sprich doch mit dem Arzt, er hilft dir
-vielleicht.«
-
-»Jawohl, der Arzt! Redet mir nur nicht von dem, Vater Sawelij! --
-Er hat mich heute ganz aus der Fassung gebracht. Denkt Euch diese
-Frechheit, Vater Propst ...« Der Diakon beugt sich zu dem Ohre des
-Propstes, und nachdem er ihm die Gemeinheit des Arztes leise mitgeteilt
-hat, fügt er laut hinzu: »Nun sagt selbst, ist das nicht furchtbar
-unverschämt?«
-
-»Ich finde nichts dabei,« erwidert der Propst, indem er langsam die
-Stufen vor dem Domportal emporsteigt. »Astragalus ist ein Fußknöchel,
-und ich verstehe nicht recht, was dich in solche Wut versetzt hat.«
-
-Der Diakon tritt einen Schritt zurück und ruft erstaunt: »Ein
-Fußknöchel?«
-
-»Ja freilich.«
-
-Achilla schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn:
-
-»Ich Dummkopf!«
-
-»Was hast du gemacht?«
-
-»Nein, ich bitt' Euch, seid so gut, nennt mich einen Dummkopf!«
-
-»Ja, weswegen denn?«
-
-»Nein, nein, nennt mich nur so. Ich hätte diesen Arzt beinahe ersäuft.«
-
-»Nun gut, mein Lieber, ich erfülle deinen Wunsch: du bist wahrhaftig
-ein Narr, und ich sage dir's voraus, wenn du von dergleichen
-Narrengewohnheiten nicht bald lässest, so kommt es noch einmal dahin,
-daß du jemand ums Leben bringst.«
-
-»Erbarmt Euch, Vater Sawelij, ich bin doch nicht ganz von Sinnen.«
-
-»Überall, überall folgt dir der Unfrieden auf dem Fuße!«
-
-»Ich weiß nicht, woher das kommt. Ich bin für Frieden und Ordnung, aber
-es kommt immer anders.«
-
-Hierauf erzählt Achilla in großer Hast, aber mit allen Einzelheiten,
-wie er gestern das Gerippe gestohlen und wie es dann wieder
-verschwunden und an seinem alten Platze erschienen sei. Tuberozow hört
-ihm zu. Seine Augen werden immer größer und größer, und unwillkürlich
-tritt er ein paar Schritte zurück, indem er ausruft:
-
-»Großer Gott, was für ein unseliger Mensch!«
-
-»Wer, Vater Sawelij?« meint Achilla, nicht weniger erstaunt.
-
-»Du, mein Bester, du!«
-
-»Aus welchem Grunde bin ich unselig?«
-
-»Welch böser Geist treibt dich zu alledem?«
-
-»Wozu?«
-
-»Zum Einbrechen, Rauben, Zanken.«
-
-»Ihr habt mich dazu angetrieben,« erwidert der Diakon ganz ruhig und
-freundlich. »Ihr sagtet: so oder so -- der Sache muß ein Ende gemacht
-werden. Und da hab' ich ihr ein Ende gemacht. Ich habe nur Euren Wunsch
-erfüllt.«
-
-Tuberozow schüttelt den Kopf, wendet sich dem Portal zu und tritt in
-die Vorhalle, wo er die Serbolowa in stillem Gebete kniend erblickt.
-In einer Ecke aber sitzt der Lehrer Prepotenskij auf einer Totenbahre
-und klopft sich den Staub von den Beinkleidern. Sein Gesicht strahlt.
-Er schaut den Propst und den Diakon mit triumphierendem Lächeln an. Was
-konnte ihn, den Gottesleugner, in die Kirche geführt haben? Darüber
-erstaunte Tuberozow nicht weniger als Achilla; nur vermochte Achilla
-diesen Gedanken auch während der Messe nicht zu bannen, während der
-ernste Sawelij ihn bereits von sich gewiesen hatte, als sich die Tür
-zum Altarraum vor ihm auftat, denn er war gewohnt, mit Furcht und
-Zittern vor das Angesicht seines Gottes zu treten.
-
-Eine Stunde war vergangen und die Totenmesse beendet. Die Serbolowa
-und ein entfernter Vetter von ihr, ein gewisser Darjanow, hatten beim
-Propst Tee getrunken und waren fortgegangen. Die Serbolowa wollte
-gegen Abend, wenn die Sonne nicht mehr so heiß brannte, auf ihr Gut
-zurückkehren. Jetzt aber gedachte sie etwas zu ruhen. Darjanow sollte
-mit ihr bei der alten Prepotenskaja Mittag essen, wohin Tuberozow
-später ebenfalls kommen wollte, um ein Gläschen Tee zu trinken und
-seinem lieben Beichtkinde das Geleite zu geben.
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-
-Öde, traurig und eintönig ist der Anblick der menschenleeren
-Straßen unserer Kreisstädte zu jeder Zeit; aber nie erscheinen sie
-so ausgestorben wie an einem heißen Sommermittag. Der dicke, graue
-Staub, den stellenweise die Spuren von Wagenrädern durchfurchen, das
-schläfrige, welke Gras, das die ungepflasterten Straßen an der Seite,
-wo die Trottoirs anzunehmen sind, umsäumt, die grauen, halbverfaulten,
-schiefen Zäune, die Kirchentüren mit ihren schweren Hängeschlössern,
-die Holzbuden, die von ihren Besitzern verlassen und mit zwei übers
-Kreuz geschlagenen Brettern verbarrikadiert sind, -- alles das
-schlummert in der Mittagshitze so verführerisch, daß der Mensch, der
-verurteilt ist, in dieser Umgebung zu leben, ganz von selbst alle
-Munterkeit verliert und auch matt wird und einschläft.
-
-Um diese Stunde war es, als Valerian Nikolajewitsch Darjanow, nachdem
-er einige öde Straßen durchschritten hatte, in ein enges Gäßchen
-einbog, das durch einen alten Gitterzaun völlig abgeschlossen ward.
-Hinter dem Zaun war eine Kirche sichtbar. Darjanow bückte sich tief
-und trat durch das niedrige Pförtchen in den Kirchhof. Hier stand
-in einer Ecke das kaum bemerkbare Hüttchen des Kirchenwächters, und
-weiter hinten, inmitten eines ganzen Waldes verfallener Grabkreuze,
-verbarg sich das niedrige, dreifenstrige Häuschen der Hostienbäckerin
-Prepotenskaja.
-
-Der Friedhof war frei von dem Staube, der in dicker Schicht alle
-Straßen und Plätze der Stadt bedeckte. Hier wuchs schönes grünes
-Gras, und zwei Hühner, die sich im weichen Staube im Sonnenschein
-ausliegen wollten, mußten vor die Pforte hinaus und sich unter der
-Schwelle in den weichen Staub eingraben, so daß man sie kaum sehen
-konnte. Dort lagen sie meist den ganzen Tag, fest überzeugt, daß keiner
-sie stören werde. Als Darjanow über sie hinwegschritt, rührten sie
-sich nicht; jedes öffnete nur eins seiner bernsteinfarbenen Augen,
-begleitete den Gast mit einem schläfrigen Blick und schloß dann die
-grauen Lider wieder. Darjanow ging geradewegs auf das Pförtchen des
-Prepotenskijschen Hauses zu und schlug mit dem schweren eisernen
-Ring gegen das Holz. Alles blieb stumm. Kein Hund bellte, keine
-menschliche Stimme ließ sich vernehmen. Darjanow klopfte noch einmal,
-aber wieder erfolglos. Dann ließ er alle Hoffnung fahren, kroch unter
-dem Lattenwerk hindurch ins Himbeergesträuch, welches das Haus der
-Hostienbäckerin dicht umgab, und schaute in eins der Fenster. Diese
-waren gegen die Sonnenhitze durch Läden geschlossen, aber durch die
-breiten Ritzen konnte man den ganzen Innenraum übersehen. Es war ein
-großes, hohes Zimmer, fast ohne Möbel, mit zwei Türen, durch deren eine
-man in eine zweite, winzige blaue Kammer mit einem hohen Bett blickte,
-über welchem eine aus Kattunflicken zusammengenähte Decke lag.
-
-Das große, leere Zimmer gehörte dem Lehrer Warnawa, die kleine Kammer
-seiner Mutter. Das ganze Haus bestand nur aus diesem zwei Räumen, denn
-die winzige Küche, in der man sich kaum umdrehen konnte, zählte nicht
-mit.
-
-Augenblicklich standen beide Zimmer leer, aber Darjanow hörte im
-Vorhause hinter der Tür eifrig jemand mit dem Hackmesser arbeiten,
-und im Garten unter dem Fenster schien entweder Ziegel gerieben oder
-Eisen gefeilt zu werden. Durchaus überzeugt, alles Klopfen führe zu
-nichts, trat Darjanow an den Zaun, der das Gärtchen umgab, und begann
-eine neue Musterung durch den Spalt, den er zwischen den Brettern
-entdeckte. Es war aber nicht so leicht, denn an den Zaun lehnte sich
-dichtes Gesträuch, das den Menschen, der da mit den Ziegeln oder
-der Feile arbeitete, nicht sehen ließ. Darjanow mußte sich einen
-neuen Beobachtungspunkt suchen. Er trat mit der Fußspitze auf ein
-vorspringendes Brett, faßte mit der Hand den oberen Rand des Zaunes
-und schwang sich empor. Jetzt konnte er den ganzen kleinen, aber
-dichtbewachsenen und sehr reinlich gehaltenen Garten übersehen. Quer
-hindurch ging ein von der Hostienbäckerin eigenhändig angelegter,
-sauber mit gelbem Sand bestreuter Weg, auf welchem der Lehrer Warnawa
-saß. Er hielt die ausgestreckten Beine auseinandergespreizt, wie Kinder
-beim Ballspielen. Zwischen seinen Knien lag auf dem Sande ein ganzer
-Haufen Menschenknochen und ein Bogen blaues Packpapier. In jeder Hand
-hielt er einen Ziegelstein und rieb sie mit gewaltiger Kraftanstrengung
-aneinander. Der Schweiß floß in Strömen über sein Gesicht, obgleich er
-im Schatten saß und alle irgend überflüssigen Toilettenstücke abgelegt
-hatte. Er war barfuß und nur mit Hemd und Hose, welch letztere nur
-durch einen Träger gehalten wurde, bekleidet.
-
-»Warnawa Wasiljewitsch, machen Sie mir auf!« rief Darjanow ihm zu, aber
-dieser Ruf verhallte ergebnislos.
-
-Eher hätten die Toten auf dem verfallenen Friedhof dem Gast Bescheid
-geben können, als der ganz in seine Arbeit vertiefte Lehrer. Sobald
-Darjanow das begriffen hatte, verzichtete er auf weiteres Rufen und
-sprang vom Zaun mitten in den Garten hinein. Er sprang leicht und
-gewandt, aber die alten, wackligen Bretter schlugen trotzdem krachend
-aneinander und erschreckten den Lehrer dermaßen, daß er in größter
-Hast seine Ziegelsteine fallen ließ und, auf allen Vieren stehend, die
-Knochen zusammenzusuchen begann.
-
-»Na, Warnawa Wasiljewitsch, guter Freund! Sie sind aber vertieft in
-Ihre Arbeit! Man kann sich ja die Lunge aus dem Halse schreien!«
-begrüßte ihn der Gast hervortretend. Als Warnawa ihn erkannte, ging
-ein Leuchten über sein Antlitz, und er zwinkerte mit den Augen, als er
-sagte:
-
-»Ah, Sie sind's! Und ich dachte, es wäre der Achilla.«
-
-Mit diesen Worten breitete der Lehrer freudig die Arme aus, und der
-ganze Haufen Knochen plumpste auf den Weg, als würde plötzlich das
-Innere des Mannes ausgeschüttet.
-
-»Ach, Valerian Nikolajewitsch,« meinte er, »wenn Sie wüßten, was
-hier vorgeht. Nein, hol's der Teufel, -- da soll man noch in diesem
-verfluchten Rußland bleiben!«
-
-»Um Gotteswillen, was ist denn passiert? Wollen Sie es mir nicht
-verraten?«
-
-»Ja gewiß, wenn ... wenn Sie kein Spion sind.«
-
-»Ich glaube nicht.«
-
-»Dann setzen Sie sich auf die Bank und ich will weiter arbeiten. Setzen
-Sie sich nur, mir ist Ihre Gegenwart sogar sehr angenehm; ich habe so
-wenigstens einen Zeugen.«
-
-Der Gast kam der Aufforderung nach und bat den Lehrer noch einmal,
-zu berichten, was für ein Leid ihn betroffen hätte und wie alles so
-gekommen wäre.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-
-»Mein Leiden begann mit meiner Geburt, Valerian Nikolajewitsch,« fing
-der Lehrer an, »und wurzelt in der Hauptsache darin, daß ich von meiner
-Mutter geboren bin.«
-
-»Trösten Sie sich, lieber Freund, alle Menschen sind von ihren Müttern
-geboren,« entgegnete Darjanow und wischte sich den Schweiß von der
-Stirn. »Nur Macduff wurde aus dem Mutterleibe geschnitten, und auch
-nur, damit Macbeth von keinem besiegt werde, den ein Weib gebar.«
-
-»Na ja, Macbeth! ... Was schert mich euer Macbeth? Wir brauchen keinen
-Macbeth, wir brauchen Aufklärung. Aber was soll man machen, wenn man
-hier nicht studieren kann? Ich kann es ohne weiteres beschwören, daß
-weder in Petersburg, noch in Neapel, noch sonstwo in der Welt der
-Mensch, der etwas lernen will, auf solche Hindernisse stößt, wie hier
-bei uns. Da redet man von Spanien ... Aber wie ist's mit Spanien? In
-Spanien ist die Lutherbibel verboten. Schön! Dafür aber haben sie
-auch Verschwörungen und Aufstände und Gott weiß was alles. Ich bin
-überzeugt, wenn sich dort jemand ein Skelett zu wissenschaftlichen
-Zwecken anschafft, so wird niemand was dagegen einzuwenden haben. Aber
-hier? Kaum hatte ich die Knochen präpariert, so ließ meine eigene
-Mutter mir keine Ruhe mehr. ›Sei lieb, Warnawa, mein Kind, ich will ihn
-beerdigen.‹ Was heißt das: ›ihn‹? Was ist das für ein ›Er‹? Warum sind
-diese Knochen ein Er und keine Sie? Hab' ich recht oder nicht?«
-
-»Vollkommen recht.«
-
-»Ausgezeichnet. Jetzt sagt man, daß ich meiner Mutter nicht vernünftig
-zuzureden verstehe. Ja, was soll ich denn noch sagen? ›Mütterchen, laßt
-die Knochen in Ruhe,‹ sprach ich. ›Ihr versteht nichts davon. Ich habe
-sie nötig, ich studiere den Menschen daran.‹ Aber was soll ich machen,
-wenn sie mir stets darauf antwortet: ›Weißt du, lieber Warnascha, es
-ist doch besser, wenn ich ihn begrabe.‹ -- -- Das ist doch nicht zum
-Aushalten.«
-
-»Allerdings.«
-
-»Ich sagte ihr, um sie los zu werden: ›Was quält Ihr Euch um ihn,
-Mutter, er war ein Jude.‹ Aber sie glaubt mir nicht. ›Du lügst,‹
-meint sie, ›das gibt dir der Teufel ein. Ich weiß es doch besser, die
-Juden haben alle Schwänzchen.‹ Niemals, sage ich, haben die Menschen,
-gleichviel ob Juden oder Nichtjuden, Schwänze gehabt. Und dann fängt
-der Zank an. Ich trete, wie sich's gehört, für die Juden ein, und sie
-widerspricht mir. Ich beweise ihr, sie hätten keine Schwänze, aber sie
-besteht darauf: Ja -- nein -- mit Schwanz -- ohne Schwanz ... heißt es.
-Und wenn sie sich gar nicht mehr zu helfen weiß, dann zischt sie nur
-noch: Kusch -- kusch -- kusch -- und fuchtelt mir mit den Händen vor
-der Nase herum, als wär' ich ein Huhn, das sie von den Gemüsebeeten
-verjagen will. Und da verlangt man noch, man solle den Frauen Freiheit
-geben. Ich bin gewiß für die Emanzipation, aber man muß die Sache mit
-Vernunft anfangen: einer jungen, entwickelten Frau, die sich in ihrem
-Tun keinen Zwang auferlegen will, soll man die Freiheit geben, aber
-diesen alten Weibern -- -- Nein, dagegen bin ich durchaus, und wundere
-mich, daß noch niemand diese Frage öffentlich behandelt hat. Hinter
-all dem stecken die Pfaffen mit diesem Tuberozow an der Spitze.«
-
-»Sie übertreiben!«
-
-»Warum nicht gar! Ich habe die Beweise dafür in der Hand. Tuberozow hat
-mich nie leiden mögen, jetzt aber haßt er mich einfach wegen meiner
-naturwissenschaftlichen Studien. Ich habe ihn ja einmal geschnitten.«
-
-»Wie haben Sie denn das gemacht?«
-
-»Nicht einmal, hundertmal hab' ich ihn schon geschnitten, -- zuletzt
-noch in der vorigen Woche. Damals in der Schule, im Sprechzimmer des
-Inspektors, fing er an zu predigen, die Feiertage seien etwas ganz
-Besonderes, -- da hab' ich ihn in aller Gegenwart geschnitten. Ich
-wies ihn einfach darauf hin, es sei mathematisch bewiesen, daß die
-Festlegung der Feiertage fehlerhaft sei. Wie steht's denn um unsere
-Feste? fragte ich. Wir feiern Weihnachten, und im Auslande haben sie es
-schon dreizehn Tage früher gefeiert. Hab' ich nicht recht?«
-
-»Es sind aber nur zwölf Tage, nicht dreizehn.«
-
-»Nun gut, zwölf, darauf kommt es nicht an. Aber er schlug gleich mit
-der flachen Hand auf den Tisch und schrie: ›Paß auf, du Mathematikus,
-daß man dir dafür nicht noch mal in die Physik fährt!‹ Ich frage Sie:
-was meint er mit dem Worte Physik? Sie werden mich verstehen, -- so
-redet doch nur ein Ignorant oder Zyniker, -- und: ist das überhaupt
-eine Antwort, frage ich Sie?«
-
-Der Gast lachte und sagte, eine Antwort sei es schon, aber freilich
-eine höchst merkwürdige.
-
-»Einfach dumm ist sie. Aber so geht es tagaus, tagein. Gestern abend
-erst komme ich von der Biziukina, und wenige Schritte vor mir geht der
-Kommissar Danilka, -- wissen Sie, jener Herumtreiber, der für zwei
-Rubel das Pferd beim Glitsch wegführte, als Achilla Butter schlagen
-mußte. Ich kam mit ihm ins Gespräch. Wo warst du, Danilka? frag'
-ich ihn. Er antwortet, er sei beim Polizeichef gewesen und habe ihm
-Beeren von der Postmeisterin gebracht. Dort habe man gerade von mir
-gesprochen, der Diakon sei dagewesen, bemerkte er noch. Ich geriet
-natürlich in Aufregung, aber er suchte mich zu beruhigen: ›Nicht von
-Ihnen selbst war die Rede, sondern von dem toten Menschen, den Sie
-bei sich haben.‹ Begreifen Sie das Intrigenspiel? Ich gab dem Danilka
-zwanzig Kopeken. Was sollte ich machen? Es ist ja nicht schön, aber
-es geht nicht ohne Spione. Und nun berichtete er mir, der Diakon habe
-gesagt, es sei ein großer Fehler, mir den Ertrunkenen überlassen zu
-haben. Aber man kann es noch wieder gutmachen. Der Stadthauptmann kennt
-natürlich meinen Charakter und meinte deshalb auch, ich würde die
-Knochen nicht wieder zurückgeben, -- und ich geb' sie auch bestimmt
-nicht heraus! Achilla aber riet: ›Man nimmt sie ihm einfach fort und
-bestattet sie in aller Ruhe.‹ Da meinte der Stadthauptmann: ›Sollte man
-vielleicht einen Schutzmann nach den Knochen schicken?‹ Jedoch dieser
-Bandit antwortet: ›Ich brauche keinerlei polizeiliche Hilfe. Ich hole
-sie einfach, lege sie in einen Kindersarg und die Sache ist erledigt.‹«
-
-Plötzlich stürzte Prepotenskij auf die Gebeine los, breitete die Hände
-über sie aus, wie eine Henne ihre vor dem Habicht flüchtenden Küchlein
-mit den Flügeln bedeckt, und sagte mit erregter Stimme:
-
-»Bitte sehr! Solange ich am Leben bin, wird die Sache nicht gemacht! Es
-ist schon genug, daß Ihr alles verzögert!«
-
-»Was verzögern ›sie‹ denn?«
-
-»Als ob Sie das nicht wüßten!«
-
-»Etwa die Revolution?«
-
-Der Lehrer brach seine Arbeit ab und nickte spöttisch.
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
-
-»Nachdem ich dies alles von Danilka gehört hatte,« fuhr Warnawa fort,
-»begab ich mich zur Biziukina zurück, um sie davon in Kenntnis zu
-setzen, und eine Stunde später, als ich nach Hause kam, waren alle
-Knochen schon fort. ›Wo sind sie geblieben? Wo?‹ schrei' ich, -- und
-diese Dame, meine Frau Mama, antwortet: ›Sei nicht bös, mein lieber
-Warnaschenka (haben sie mir schon so einen scheußlichen Namen gegeben,
-muß er jetzt auch noch so ekelhaft verdreht werden), sei nicht bös,
-die Obrigkeit hat sie holen lassen.‹ -- ›Was ist das wieder für ein
-Blödsinn,‹ schrei' ich, ›von was für einer Obrigkeit quasselt Ihr
-denn?‹ -- ›Während du fort warst,‹ sagt sie, ›kam der Diakon Achilla
-ans Fenster und hat sie alle mitgenommen.‹ Was sagen Sie dazu? ›Seit
-wann gehört der Diakon zur Obrigkeit?‹ -- ›Ja, Lieber,‹ sagt sie,
-›wieso denn nicht? Er hat doch die Weihen empfangen.‹ Wie soll man mit
-einer solchen Person reden? Sie lachen, Ihnen kommt das komisch vor,
-mir aber war gar nicht lächerlich zumute, als ich selber zu diesem
-Banditen hingehen mußte. Jawohl! Achilla nennt mich feige und alle
-glauben es, aber gestern habe ich bewiesen, daß ich kein Feigling bin;
-geradewegs begab ich mich zu Achilla. Als ich hinkam, schnarchte er
-bereits. Ich klopfte ans Fenster und rief: ›Gebt mir meine Knochen
-heraus, Achilla Andrejewitsch.‹ Es dauerte eine Weile, bis er erwachte,
-und sofort mit seinen Unverschämtheiten loslegte: ›Was willst du mit
-den Knochen? (Was soll dies familiäre Du? Seit wann sind wir so intim?)
-Du bist ohne Knochen viel netter.‹ -- ›Das geht Euch gar nichts an, ob
-und wann ich netter bin.‹ -- ›Im Gegenteil, das geht mich sogar sehr
-viel an, denn ich bin eine geistliche Person.‹ -- ›Aber Ihr habt nicht
-das Recht, fremdes Eigentum fortzunehmen.‹ -- ›Sind denn Totengebeine
-Eigentum? Du solltest erst mal kapieren, daß du solches Eigentum gar
-nicht besitzen darfst.‹ Darauf erwiderte ich ihm, daß der Diebstahl
-den geistlichen Personen doch wohl auch nicht gestattet sei: er kenne
-wahrscheinlich die englischen Gesetze nicht. In England könne er dafür
-gehenkt werden. Und was antwortet er mir? ›Wenn du mir von allerlei
-Gesetzen vorschwatzen willst, dann bedenke gefälligst, daß du dafür
-nach der Gendarmeriekanzlei gebracht werden kannst. Da schiebt man dich
-bis zum Gürtel ins Kellerloch und dann setzt es Rutenhiebe mit zwei
-Bündeln zugleich. Dann hast du dein England.‹ Und damit schmeißt er
-sich wieder auf sein Bett. Jetzt war mir alles klar. Ich ging sofort
-zu Biziukins, um gleich alles Daria Nikolajewna zu erzählen, die ganz
-meiner Meinung war. Wie ich ihr gestern meine Vermutungen über den
-Diakon Achilla mitteilte, sagte sie sofort: ›Natürlich ist er ein
-Spion! In Ihrer gegenwärtigen, gefährlichen Lage muß es Ihre Hauptsorge
-sein, wieder in den Besitz der Knochen zu gelangen und sie dann aufs
-allereifrigste zu Lehrzwecken auszunutzen. Achilla kann sie jetzt bei
-Nacht noch nicht fortgeschafft haben, und wenn Sie sich gleich zu ihm
-schleichen, so können Sie sie wiederbekommen. Passen Sie nur auf, daß
-er Sie nicht erwischt, sonst könnte er Sie arg verhauen ...‹«
-
-»Verhauen?«
-
-»So meinte sie, weil sie die Gewohnheiten des Achilla gut kennt, und
-fügte noch hinzu: ›Lassen Sie sich aber nicht beirren. Nehmen Sie mein
-dickes, gemustertes Tuch und wickeln Sie es sich um den Hals. Auf den
-Kopf setzen Sie meine wattierte Winterkappe. Wenn er Sie dann wirklich
-ertappt und zuschlägt, so sind Sie geschützt und es tut Ihnen nicht
-weh.‹ Ich legte alles an und zog los. So kam ich denn zum zweitenmal
-in den Hof dieses Viehes. Der Hund schlug an, aber Daria Nikolajewna
-hatte auch das vorausgesehen und mir ein Stück Kuchen für den Köter
-mitgegeben. Ich fütterte ihn und ging weiter, bis ich vor mir einen
-Karren stehen sah. Ich stürze auf ihn zu, -- und richtig, da lagen sie
-alle drinnen, alle meine Knochen.«
-
-»Sie machten sich natürlich gleich an die Arbeit?«
-
-»Versteht sich! Ich nahm die Kappe vom Kopf, wickelte die Knochen
-hinein und raste im schnellsten Tempo davon.«
-
-»Und damit war die Geschichte zu Ende?«
-
-»Zu Ende? Nein, jetzt war sie erst in vollem Gange. Soll ich
-weitererzählen?«
-
-»Ich bitte darum!«
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
-
-»Erst muß ich Ihnen noch erklären, wie und warum ich heute in die
-Kirche gekommen bin. Früh fährt Alexandra Iwanowna Serbolowa bei uns
-vor. Sie kennen sie sicher besser als ich. Sie ist strenggläubig
-und ihre Anschauungen sind überhaupt stark rückständig, aber sie
-unterstützt meine Mutter in diesem und jenem, und deshalb bringe ich
-das Opfer und vermeide es, mit ihr zu streiten. Aber wozu sage ich das?
-Ach ja, -- wie sie gekommen war, sagte meine Mutter zu mir: ›Steh auf,
-mein lieber Warnaschenka, und begleite Alexandra Iwanowna zur Kirche,
-damit die Hunde des Akziseeinnehmers ihr nichts zu Leide tun.‹ So ging
-ich mit. Sie wissen, ich betrete die Kirche sonst nie; aber schließlich
-können mir weder Achilla noch Sawelij dort etwas anhaben, und so tat
-ich's eben. Aber wie ich da stehe, fällt mir plötzlich ein, daß ich
-meine Zimmertür nicht abgeschlossen habe. Ich laufe deshalb so schnell
-ich kann nach Hause, finde aber meine Mutter nirgends. Ich werfe einen
-Blick auf die Wand, -- die Knochen sind weg!«
-
-»Sie hatte sie begraben?«
-
-»Jawohl!«
-
-»Ohne Scherz?«
-
-»Als ob man mit +der+ Frau scherzen könnte! Ich bat und bettelte:
-›Liebes, gutes Mütterlein, ich will Euch lieben und ehren, aber sagt
-mir, wo habt Ihr meine Knochen gelassen?‹ ›Frage nicht, Warnascha,
-mein Liebling, sie haben jetzt Ruhe.‹ Ich versuchte, was ich konnte,
-ich weinte, drohte mit Selbstmord, versprach ihr endlich sogar, fortan
-jeden Tag zu beten, -- es half alles nichts! Voller Wut ging ich zur
-Schule, fest entschlossen, heute nacht den Spaten zu nehmen, eins
-der alten Gräber hier auf dem Friedhof aufzugraben und mir ein neues
-Skelett zu verschaffen; denn diesen Triumph durfte ich der Bande nicht
-gönnen. Ich hätte es auch ganz bestimmt getan. Wäre das nicht ein
-sogenanntes Verbrechen gewesen?«
-
-»Sogar ein großes.«
-
-»Sehen Sie. Und wer hätte mich dazu gebracht? Die eigene Mutter! Sicher
-wäre es so gekommen, wenn nicht zu meinem Glück ein Junge in die Klasse
-getreten wäre, der erzählte, am Flußufer hätte ein Schwein Knochen
-ausgegraben. Ich stürze hin, fest überzeugt, daß es meine Knochen sind,
--- was auch der Fall war. Das Volk schwatzt von Wiederbegraben, ich
-jedoch jage das Pack zu allen Teufeln. Plötzlich höre ich den Achilla
-nahen. Ich raffe meine Knochen rasch zusammen und renne, was ich rennen
-kann. Achilla kriegt mich am Rock zu fassen. Ich wende mich um, --
-krach! Der Rockschoß ist zum Teufel. Achilla packt mich am Kragen, --
-wieder kracht's, und der Kragen ist auch zum Teufel. Nun hat er mich
-bei der Weste. Krach! Die Weste ist mitten entzwei gerissen. Er will
-mir nun an den Hals. Ich aber renne, was ich rennen kann, -- und sitze
-jetzt hier und säubere die Knochen. Da kamen Sie und erschreckten mich
-von neuem. Ich meinte, es wäre Achilla.«
-
-»Aber was denken Sie, Achilla wird doch nicht über Ihren Zaun steigen!
-Er ist doch Diakon.«
-
-»Jawohl, Diakon! Sie haben gut reden. Der kümmert sich viel darum.
-Mir sagte der Kommissar Danilka gestern, Achilla hätte beim Abschied
-zu Tuberozow geäußert: ›Nun, Vater Sawelij, bis ich diesen Warnawa
-kleingekriegt habe, sollt Ihr mich nicht Achilla den Diakon, sondern
-Achilla den Krieger nennen.‹ Mag er Krieg führen soviel er will,
-ich fürchte ihn nicht. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Ich bin
-nämlich zu der Überzeugung gekommen, daß ich hier nicht länger bleiben
-kann. Ich korrespondiere mit verschiedenen Leuten in Petersburg, von
-denen einer ein großes Unternehmen plant, an dem ich mitwirken kann.
-Freilich macht sich bereits auch dort die Gemeinheit breit, -- und
-die gesinnungstüchtigsten Zeitungen fangen schon an, sich über die
-wachsende Begeisterung für die Naturwissenschaften lustig zu machen.
-Haben Sie es gelesen?«
-
-»Ja, ich glaube etwas Ähnliches gelesen zu haben.«
-
-»Aha! Also auch Ihnen leuchtet es ein! Nun sagen Sie mal, wozu
-haben sie uns denn dann immerfort dazu angetrieben, an Fröschen zu
-experimentieren und so weiter?«
-
-»Das weiß ich nicht.«
-
-»Das wissen Sie nicht? Nun, dann will ich es Ihnen sagen! Das soll den
-Leuten nicht so durchgehen! Ich packe meine Knochen zusammen, fahre
-nach Petersburg und hau sie ihnen einfach in die Fratzen, mitten in die
-Fratzen! Dann mögen sie mich vor ihren Friedensrichter schleppen --«
-
-
-
-
-Dreizehntes Kapitel.
-
-
-»Hahaha! Da tun Sie recht daran!« rief plötzlich die Serbolowa, die,
-von den beiden Männern unbemerkt, hinter einem Kirschstrauch gestanden
-hatte.
-
-Prepotenskij schlug sein aufgeknöpftes Hemd über der Brust zusammen,
-richtete sich auf und sagte, indem er zugleich die ganz mit Ziegelstaub
-bestreuten Hosen mit der anderen Hand in die Höhe zog:
-
-»Entschuldigen Sie, Alexandra Iwanowna, daß ich so mangelhaft bekleidet
-bin ...«
-
-»Macht nichts. Mit einem Arbeitsmann rechtet man nicht wegen seiner
-Toilette. Aber kommen Sie jetzt. Ihre Frau Mutter bittet, zum Essen zu
-kommen.«
-
-»Nein, Alexandra Iwanowna, ich komme nicht. Ich kann mit meiner Mutter
-nicht mehr zusammenleben. Zwischen uns ist alles aus.«
-
-»Sie sollten sich schämen, so zu reden. Ihre Mutter liebt Sie doch so
-sehr.«
-
-»Ihr Vorwurf trifft mich nicht. Sie hält es mit meinen Feinden, sie
-vergräbt meine Knochen. -- Wenn ich mir eine Zigarette an dem Lämpchen
-vor dem Heiligenbilde anzünde, spielt sie gleich die Gekränkte.«
-
-»Warum müssen Sie aber auch Ihre Zigaretten ausgerechnet am
-Heiligenlämpchen anstecken? Als ob Sie nicht anderswo Feuer bekommen
-können!«
-
-»Trotzdem ist das doch zu dumm!«
-
-Alexandra Iwanowna lächelte und sagte:
-
-»Besten Dank!«
-
-»Sie meine ich doch nicht! Ich rede von dem Lämpchen. Feuer ist Feuer.«
-
-»Eben darum können Sie Ihre Zigarette auch sonstwo anzünden.«
-
-»Ach, man kann es ihr doch nie recht machen. Gestern gab ich unserem
-Hunde etwas Suppe von unserer Schüssel, da fängt die Mutter gleich
-jämmerlich an zu heulen und schlägt zuletzt vor Ärger die Schüssel in
-Stücke. ›Ich kann sie nun doch nicht mehr brauchen,‹ meint sie, ›da
-der Hund sie angerochen hat.‹ Ich bitte Sie, meine Herrschaften, --
-Sie, Valerian Nikolajewitsch, haben doch auch Physik studiert, kann
-man etwas ›anriechen‹?! Beriechen kann man eine Sache, herausriechen
-kann man etwas, -- aber anriechen?! Nur ein kompletter Dummkopf kann so
-reden!«
-
-»Sie hätten dem Hunde sein Essen aber auch in einem andern Gefäß geben
-können!«
-
-»Gewiß. Aber warum?«
-
-»Um Ihrer Mutter nicht weh zu tun.«
-
-»Ach, so sehen Sie die Sache an! Meiner Ansicht nach ist alles Lavieren
-eines ehrlichen Menschen unwürdig.«
-
-Die Serbolowa lachte leise, reichte Darjanow den Arm und beide gingen
-zum Essen, den Lehrer mit seinem Knochenhaufen allein lassend.
-
-
-
-
-Vierzehntes Kapitel.
-
-
-Die Hostienbäckerin Prepotenskaja, ein kleines altes Frauchen mit einem
-winzigen Gesicht und ewig erstaunten, gutmütigen Äuglein, über welchen
-die Brauen gleich Apostrophen hingen, bat Darjanow um Entschuldigung,
-daß sie sein Klopfen nicht gehört habe, beugte sich über den Tisch zu
-ihm hinüber und fragte flüsternd:
-
-»Haben Sie meinen Warnascha gesehen?«
-
-Darjanow bejahte.
-
-»Er bringt mich zur Verzweiflung, Valerian Nikolajewitsch,« klagte die
-Alte.
-
-»Was sorgen Sie sich deshalb so sehr? Er ist jung, und Jugend hat keine
-Tugend. Wenn er älter wird, wird er auch vernünftiger. Und wenn er erst
-eine Frau hat ...«
-
-»Eine Frau? Wie soll ich ihn denn dazu bringen, daß er heiratet? Das
-ist ganz unmöglich. Er ist ja ganz verdreht. An den lieben Gott glaubt
-er nicht; Fleisch und Milch genießt er an allen Fastentagen, sogar in
-der Karwoche, und ich muß Ihnen gestehen, lieber Freund, ich fürchte
-mich, besonders abends ...«
-
-Die schwarzen Apostrophe über den Äuglein der winzigen, ängstlichen
-Alten schoben sich unruhig hin und her. Sie zuckte zusammen und
-flüsterte:
-
-»Und zu alledem, lieber Freund, habe ich immer schreckliche Träume,
-so daß ich beim Erwachen gleich bete: ›Sankt Simeon, deute mir mein
-Traumgesicht.‹ Könnte ich mich mit jemand im Hause darüber aussprechen,
-so ertrüge ich es viel leichter; aber so bin ich immer und ewig allein
-mit den Totengebeinen. Ich fürchte keinen Toten, über dem die Gebete
-gesprochen sind, aber Warnascha erlaubt es ja nicht, daß ich die Gebete
-lesen lasse.«
-
-»Zürnen Sie ihm nicht, er ist trotz alledem ein guter Kerl.«
-
-»Gewiß, gut ist er schon. Ich will auch nichts Böses von ihm sagen. Ich
-war seine glückliche Mutter, und er war früher so gut gegen mich, bis
-er in die Philosophieklasse kam. Damals, wenn er zu den Ferien nach
-Hause kam, ging er auch in die Kirche, und ich führte ihn zum Vater
-Sawelij, und der Vater Sawelij war freundlich gegen ihn und half ihm
-auch in diesem und jenem, -- bis es dann plötzlich über ihn kam, ich
-weiß selbst nicht wie und woher: er fing an, den Weisen zu spielen.
-Seitdem wurde es mit jedemmal, wenn er aus dem Seminar kam, schlimmer
-und schlimmer. Sagen Sie, was Sie wollen, ich kann es mir nicht anders
-erklären, als daß er behext ist. Vater Zacharia hat mir neulich aus dem
-›Familienblatt‹ vorgelesen, wie ein Sohn aus gutem Hause vom Teufel
-besessen war, so daß zehn Mann nicht mit ihm fertig werden konnten.
-Gerade so ist es mit Warnawa auch.«
-
-Die Alte sprang auf, schlüpfte in die Küche, wischte sich dort die
-Tränen aus den Augen, kam wieder ins Zimmer zurück und berichtete
-weiter:
-
-»Ich will es Ihnen nur gestehen, ich gebe ihm jeden Tag geweihtes
-Wasser zu trinken. Er weiß natürlich nichts davon und merkt es nicht.
-Ich geb's ihm aber. Es hilft nur leider nichts, und eine Sünde ist es
-auch. Vater Sawelij sagt immer wieder, er verdiente, irgendwohin nach
-Taschkent verschickt zu werden. Warum soll man es denn nicht noch
-einmal mit Güte versuchen? denke ich. Er aber meint, mit Güte sei
-da nichts zu machen, weil ihm alle natürlichen Gefühle fremd sind.
-Aber wenn auch, mir ist es doch leid um ihn.« Und die Hostienbäckerin
-verschwand wieder.
-
-»So ein unglückliches Wesen,« sagte die junge Frau leise.
-
-»Ja, freilich,« stimmte Darjanow ihr bei. »Und der Rüpel spielt noch
-Komödie und kommt nicht mal zum Essen.«
-
-»Gehen Sie doch noch mal hinaus und holen Sie ihn.«
-
-»Er ist ja so störrisch wie ein Pferd und wird nicht kommen.«
-
-»Das wollen wir doch sehen. Sagen Sie ihm, ich befehle es, ich sei
-Agent der Geheimpolizei und wünschte ihn sofort hier zu sehen,
-widrigenfalls ich Meldung mache, daß er nach Petersburg zu ziehen
-beabsichtige.«
-
-Darjanow lachte und ging hinaus, um Warnawa zu holen. Inzwischen hatte
-der Lehrer seine Schätze in Sicherheit gebracht, und da die Arbeit
-seinen Appetit mächtig angeregt hatte, fiel es ihm nicht leicht, sich
-charakterfest zu zeigen und die Aufforderung zum Essen zurückzuweisen.
-
-Um den freiwilligen Märtyrer aus seiner schwierigen Lage zu bringen,
-beugte sich der Abgesandte an sein Ohr und flüsterte ihm mit
-geheimnisvoller Miene zu, was die Serbolowa gesagt hatte.
-
-»Sie Spionin!« rief Warnawa und wurde ganz rot.
-
-»Ja.«
-
-»Und vielleicht --«
-
-»Was?«
-
-»Vielleicht auch Sie ...«
-
-»Ja, ich auch.«
-
-Warnawa drückte ihm freundschaftlich die Hand:
-
-»Ich danke Ihnen, daß Sie kein Geheimnis daraus machen.«
-
-Dann ging er mit reinem Gewissen zum Mittagessen.
-
-»Ich muß Ihnen ja gehorchen ...«
-
-
-
-
-Fünfzehntes Kapitel.
-
-
-Der Plan war also gelungen. Warnawa hatte jetzt einen Vorwand zum Essen
-zu kommen, ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Er trat ins Zimmer mit
-der Miene eines unglücklichen Opfers feindlicher Gewalten und setzte
-sich an das schmale Ende des Tisches, Darjanow gegenüber. Zwischen
-ihnen, an der Längsseite, nahm Alexandra Iwanowna Platz, während die
-vierte Seite frei blieb. Die Hostienbäckerin selbst setzte sich fast
-nie mit ihrem Sohne zu Tisch, und auch jetzt begnügte sie sich damit,
-die Gäste zu bedienen, ohne mitzuessen. Die Alte war entzückt, ihren
-gelehrten Sohn wiederzuhaben, Freude und Kummer wechselten auf ihrem
-Antlitz, ihre Augenlider waren gerötet, die Unterlippe zitterte leise
-und ihre alten Füßchen gingen nicht, sondern liefen in großer Hast,
-wobei sie unausgesetzt bemüht war, sich so zu stellen und zu wenden,
-daß man ihr Gesicht nicht sehen konnte.
-
-Die Gäste suchten durch allerlei Listen die Alte zum Bleiben zu
-bewegen, und lobten ihre Kochkunst. Aber die Gute wies alles Lob zurück
-und meinte, sie verstünde nur die allereinfachsten Speisen zu bereiten.
-
-»Aber gerade diese einfachen Speisen schmecken uns ausgezeichnet.«
-
-»Ach, wie sollen sie schmecken! Bloß gesund sollen sie sein, sagt man.
-Aber Gott weiß, ob dem wirklich so ist. Warnawa ißt doch immer, was
-ich gekocht habe, -- und sehen Sie ihn bloß an: ganz wie leer ist er.«
-
-»Hm!« brummte Warnawa, sah die Mutter vorwurfsvoll an und schüttelte
-den Kopf.
-
-»Ach Gott, was willst du wieder? Wirklich, Warnawa, du bist leer.«
-
-»Sagt das doch noch einmal!« knurrte der Lehrer.
-
-»Es ist doch nichts Kränkendes, Warnascha! Milch trinkst du morgens
-bis zur Unendlichkeit; Tee mit Weißbrot nimmst du auch bis zur
-Unendlichkeit; Braten und Grütze auch, -- aber wenn du vom Tische
-aufstehst, bist du wieder leer bis zur Unendlichkeit. Das ist doch
-sicher eine Krankheit. Ich sage dir schon, lieber Sohn, hör' auf
-mich ...«
-
-»Mutter!« unterbrach sie der Lehrer zornig.
-
-»Was ist denn dabei, Warnascha? Ich sage dir, wenn du frühmorgens
-aufstehst, mußt du beten: ›Herr Gott, fülle meine Leere‹ -- und dann
-erst essen ...«
-
-»Mutter!« rief Warnawa noch lauter.
-
-»Was ärgerst du dich denn, Närrchen? Ich sage dir, du mußt beten: ›Herr
-Gott, fülle meine Leere‹ und dann ein Stückchen geweihte Hostie essen,
-denn, Sie müssen wissen,« wandte sie sich an die Gäste, »ich hole mir
-immer für ihn und für mich je ein Stückchen von der Hostie aus der
-Kirche, damit wir einst drüben in demselben Zelt sind. Aber er will es
-nie essen. Warum?«
-
-»Warum? Ihr wollt wissen, warum? Schön! Weil ich mit Euch nirgends
-zusammen sein will, weder in dieser noch in irgendeiner andern Welt!«
-
-Ehe noch der Lehrer diese Worte gesprochen hatte, erbleichte die Alte.
-Sie zitterte so, daß die beiden Fayenceteller, welche sie in der Hand
-hielt, ihr entglitten und klirrend in Scherben zersprangen.
-
-»Warnascha,« rief sie, »du sagst dich los von mir?«
-
-»Ja, ja, ja, ich sage mich los! Ihr seid mir auch hier schon zuwider,
-und mich verlangt nicht im mindesten darnach, Euch noch in jener Welt
-auf dem Halse zu haben.«
-
-»St! St! St!« suchte die Alte bitterlich weinend ihn zu unterbrechen,
-und fing an, dicht vor seinem Gesicht in die Hände zu klatschen, damit
-sie seine furchtbaren Worte nicht höre. Jedoch Warnawa schrie viel
-lauter, als seine Mutter klatschte. Da stürzte sie zum Heiligenbild
-und rief außer sich, mit den gespreizten Fingern ihrer mageren Hände
-fuchtelnd:
-
-»Höre ihn nicht, Gott, höre ihn nicht, höre ihn nicht!«
-
-Und dann fiel sie schluchzend in der Ecke vor dem Bilde zu Boden.
-
-Diese traurige und ganz unerwartete Szene hatte alle Anwesenden in
-Erregung versetzt, ausgenommen Prepotenskij. Der Lehrer blieb völlig
-ruhig und aß mit seinem gewöhnlichen, nie versagenden Appetit. Die
-Serbolowa war aufgestanden und der Alten, welche aus dem Zimmer
-stürzte, gefolgt. Darjanow sah durch die offene Tür, wie die
-Hostienbäckerin Alexandra Iwanowna umarmte. Er stand auf, schloß die
-Tür und stellte sich ans Fenster.
-
-Prepotenskij aß ruhig weiter.
-
-»Wann fährt Alexandra Iwanowna nach Hause?« fragte er, gemächlich
-kauend.
-
-»Sobald die Hitze nachläßt,« antwortete Darjanow trocken.
-
-»Erst!« sagte Prepotenskij gedehnt.
-
-»Ja, Tuberozow will sie hier noch aufsuchen.«
-
-»Tuberozow? Bei uns? In unserem Hause?«
-
-»Ja, in Ihrem Hause. Aber er kommt nicht zu Ihnen, sondern zu Alexandra
-Iwanowna.«
-
-Darjanow stand während dieses Gespräches mit dem Rücken zu Prepotenskij
-und blickte in den Hof hinaus, aber bei den letzten Worten wandte er
-sich um und fügte mit einem kaum merklichen Lächeln hinzu:
-
-»Es scheint, Sie haben eine Mordsangst vor Tuberozow.«
-
-»Ich? Ich Angst vor Tuberozow?«
-
-»Ja freilich. Es sieht so aus, als wäre sogar Ihre Nase ganz grün
-geworden, wie ich sagte, er wolle hierher kommen.«
-
-»Meine Nase grün geworden? Ich versichere Sie, das kommt Ihnen nur so
-vor. Wie wenig ich ihn fürchte, will ich Ihnen heute noch beweisen.«
-
-Mit diesen Worten erhob sich Prepotenskij und ging hinaus. Der
-Gast ahnte nicht, was für kühne Gedanken in diesem Augenblick im
-verzweifelten Gehirn Warnawas keimten und reiften. Der geneigte Leser
-aber soll es im nächsten Kapitel erfahren.
-
-
-
-
-Sechzehntes Kapitel.
-
-
-Nachdem er das Zimmer verlassen, schlüpfte Prepotenskij in eine kleine
-Scheune, entledigte sich seiner Oberkleider und kletterte auf den
-Heuboden. Mit großer Anstrengung schob er zwei Deckbretter auseinander
-und kroch durch den ziemlich engen Spalt in einen kleinen, von außen
-verschlossenen Speicher. Bunt durcheinander lagen dort Töpfe und
-Bütten, an der Decke hing ein Schinken, auf Stöckchen waren Bündel von
-Bohnenkraut, Pfefferminz und Dill gespießt. Der Lehrer ließ alle diese
-Gegenstände unberührt. Er stieg auf eine hohe Truhe aus Tannenholz mit
-schrägem Deckel und holte einen großen, leicht gewölbten Trog herunter,
-der so blank wie das Schaufenster eines Spiegelgeschäfts gescheuert
-war. Mit dem Trog kroch er wieder in die Scheune zurück, wo er die
-unseligen Totengebeine sehr geschickt versteckt hatte.
-
-Niemand dachte daran, dem Lehrer nachzuspüren, er aber war es schon so
-gewohnt, seine »Lage« für »gefährdet« zu halten, daß er sich nirgends
-sicher fühlte. Immer mußte er sich verkriechen und verstecken, weil er
-dachte, sonst wäre es ihm unmöglich, sein Unternehmen zu beginnen und
-im geeigneten Augenblick mit allem Pomp zur Ausführung zu bringen.
-
-Eine Stunde mochte seit Warnawas Verschwinden vergangen sein, und
-es begann zu dämmern, als der Ring an dem wackeligen Pförtchen der
-Prepotenskijschen Behausung klirrte.
-
-Tuberozow war gekommen. Warnawa hörte in seiner Scheune, wie unter dem
-festen Tritt des beleibten Propstes die Stufen des alten Holztreppchens
-knarrten und sich bogen, und wie der Gast die Serbolowa und die alte
-Hostienbäckerin begrüßte.
-
-»Nun, meine liebe Witwe von Nain, was macht dein gelehrter Sohn?«
-wandte sich Vater Sawelij an die Alte, die eben den kleinen weißen
-Tisch auf die offene Veranda hinaustrug, wo die Gäste den Tee trinken
-sollten.
-
-»Mein Warnascha? Gott weiß, Vater Propst. Er hat wohl Angst bekommen
-und sich irgendwo vor Euch versteckt.«
-
-»Du lieber Himmel, was hat er denn von mir zu fürchten? Er sollte sich
-lieber mehr um sich selber kümmern und vorsichtig sein,« und Tuberozow
-erzählte Darjanow und der Serbolowa von den nächtlichen Abenteuern
-Achillas.
-
-»Wer hat ihn darum gebeten? Wer hat es ihm befohlen?« fragte der
-Alte und antwortete selbst: »Niemand! Er hat es ganz für sich allein
-beschlossen, mit Warnawa Wasiljewitsch abzurechnen, und die ganze Stadt
-haben sie in Aufregung versetzt.«
-
-»Habt Ihr es ihm denn nicht befohlen, Vater Propst?« fragte die Alte.
-
-»Wie käme ich dazu, solche Dummheiten zu befehlen?« erwiderte Tuberozow
-und fing von anderen Dingen zu reden an. So verging noch eine halbe
-Stunde und die Gäste brachen auf. Warnawa war immer noch unsichtbar,
-aber als der Wagen der Serbolowa vorfuhr, flog die Pforte der Scheune,
-in welcher der Lehrer sich verborgen hielt, weit auf, und langsam und
-feierlich schritt Warnawa Prepotenskij auf die erstaunten Gäste zu.
-
-Er trug seine gewöhnliche Kleidung und hielt in beiden Händen hoch über
-seinem Haupte den neuen Waschtrog, den er der Mutter geraubt und in dem
-jetzt in schönster symmetrischer Anordnung die wohlbekannten Gebeine
-lagen.
-
-Ehe noch jemand begreifen konnte, was die Erscheinung des Lehrers
-mit dieser seltsamen Trophäe zu bedeuten hatte, war Prepotenskij
-bereits majestätisch an der Veranda vorübergeschritten, hatte dem dort
-stehenden Tuberozow die Zunge gezeigt und war dann über den Friedhof
-auf die Straße hinausgegangen.
-
-Die Hostienbäckerin zitterte am ganzen Leibe, kaute krampfhaft an den
-Spitzen ihrer fest zusammengedrückten Finger und flüsterte:
-
-»Was hat er da? Was trägt er durch die Stadt?«
-
-Als sie es endlich begriffen hatte, heulte sie laut auf und stürzte
-mit einer Geschwindigkeit, die man ihren Jahren gar nicht zugetraut
-hätte, dem Sohne nach. Die Alte hüpfte und hopste, wie gewisse Vögel,
-die, bevor sie auffliegen, erst einen Anlauf nehmen müssen. Trotzdem
-Warnawa langsam schritt, erschien es fraglich, ob die Hostienbäckerin
-selbst bei diesem schnellen Tempo imstande sein werde, ihren Sprößling
-einzuholen, der schon am entgegengesetzten Ende der Straße angelangt
-war. Allein ein unerwartetes Ereignis, durch das die ganze Prozession
-und die Verfolgung eine völlig neue Wendung nehmen sollte, trat ein.
-
-Irgendwo von oben her ertönte plötzlich ein lautes und lustiges:
-
-»Hallo! Hurra! Nicht hauen! Nicht hauen! Nicht hauen!«
-
-Die Zeugen dieser Szene sahen sich nach der Richtung um, aus welcher
-das Geschrei kam, und erblickten auf dem Vorsprung eines der
-Nachbardächer einen zerlumpten Kerl, der in der Hand eine dünne Stange
-hielt, wie sie Taubenzüchter brauchen, um ihre Tümmler aufzuscheuchen.
-Dieser Schreier war der Ausrufer und das Faktotum von Stargorod,
-der Proletarier und beschäftigungslose Kleinbürger Danilka, den sie
-in der Stadt den »Kommissar« nannten. Er war just mit seinen Tauben
-beschäftigt und benutzte die Gelegenheit, um spaßeshalber auch den
-Lehrer zu erschrecken. Diesen Zweck erreichte er vollkommen, denn kaum
-hatte Prepotenskij den Warnungsruf vernommen, so schlug er sofort ein
-schnelleres Tempo an und stürmte wie ein gehetztes Reh vorwärts. Aber
-während er einer Gefahr zu entgehen hoffte, lief er einer andern, weit
-schlimmern in die Arme; denn an der nächsten Wegkreuzung tauchte vor
-den entsetzten Blicken des Lehrers in Riesengröße -- er schien heute
-viel gewaltiger als gewöhnlich -- der grimme Diakon Achilla auf.
-
-Wie sagt das Sprichwort? Links die Backpfeife und rechts der
-Rippenstoß.
-
-
-
-
-Siebzehntes Kapitel.
-
-
-Kaum hatte der arme Lehrer den Diakon erblickt, so knickten seine
-Knie kraftlos zusammen. Doch schon im nächsten Augenblick reckten sie
-sich wieder auf wie Sprungfedern, und mit drei mächtigen Sätzen legte
-er eine Entfernung zurück, die ein normaler Mensch in zehn Sprüngen
-nicht hätte überwinden können. Dadurch schien Warnawa gerettet,
-denn er befand sich jetzt gerade unter dem Fenster der Gattin des
-Akziseeinnehmers Biziukin, und zu seinem großen Glück stand die
-aufgeklärte Dame selbst am offenen Fenster.
-
-»Nehmen Sie dies!« rief Prepotenskij ganz außer Atem.
-
-»Ich werde verfolgt von Spionen und Pfaffen!«
-
-Bei diesen Worten schob er den Trog mit den Knochen zum Fenster hinein,
-er war aber selbst so erschöpft, daß er sich nicht mehr rühren konnte
-und an die Mauer lehnen mußte. Im selben Augenblick stand auch schon
-Achilla, ebenfalls ganz außer Atem, neben ihm und packte seinen Arm.
-
-Sein Blick traf mitten auf der Straße zwei aus dem Staube emporragende
-menschliche Rippen. Sich zu Prepotenskij wendend sagte er:
-
-»Warum hebst du deine Astragalusse nicht auf?«
-
-»Tretet beiseite, dann will ich sie aufheben.«
-
-»Gut, ich will zurücktreten,« -- und der Diakon ging an das Fenster,
-stellte sich auf die Zehenspitzen, guckte ins Zimmer hinein und fuhr
-fort:
-
-»Hören Sie mal, Frau Rätin, Sie tun sehr unrecht, wenn Sie sich für
-diesen Lehrer so ins Zeug legen.«
-
-Statt der erwarteten Antwort der »Rätin« erschien der liberale
-Akziseeinnehmer Biziukin selbst am Fenster und hielt dem Diakon den
-kahlen Schädel des Skeletts vor Augen.
-
-»Sei mal so gut und lege das Ding fort, sonst werde ich böse,«
-entgegnete Achilla höflich. Von innen ertönte nur ein höhnisches
-Gelächter, und der Einnehmer ließ den Schädel laut und schauerlich mit
-den Zähnen klappern.
-
-»Ich schlag euch alle zu Brei,« brüllte Achilla, indem er mit beiden
-Händen einen mächtigen Stein packte, der neben dem Fundament lag und
-gut zwei Zentner wiegen mochte. Im selben Augenblick, als er mit
-flammenden Augen dieses ungeheure Geschoß emporhob, um es gegen seine
-Widersacher zu schleudern, fiel ihm von hinten jemand in den Arm, und
-eine bekannte Stimme rief gebieterisch:
-
-»Laß liegen!«
-
-Es war Tuberozow. Mit strengem Gesicht, schwer atmend und zitternd vor
-Erregung stand Propst Sawelij vor ihm. Achilla gehorchte. Noch einen
-zornigen Blick aus seinen vor Wut geröteten Augen warf er auf den
-Einnehmer, dann schleuderte er den Stein mit solcher Wucht zur Seite,
-daß er einen Zoll tief in den Boden drang.
-
-»Geh nach Hause,« flüsterte ihm Sawelij zu und wandte sich selbst zum
-Gehen.
-
-Achilla widersetzte sich auch diesem Befehl nicht und schlich leise und
-niedergeschlagen, wie ein sonst artiger Schulbub, der bei einem dummen
-Streich ertappt worden ist, von dannen.
-
-»Gott, was für eine alberne und ärgerliche Geschichte,« sagte
-Tuberozow, mühsam nach Luft schnappend, zu Darjanow, der ihn inzwischen
-eingeholt hatte.
-
-»Macht Euch keine unnützen Gedanken, die Sache wird weiter keine Folgen
-haben.«
-
-»Wieso keine Folgen? Die Folge wird sein, daß Achilla vor Gericht
-kommt. Haben Sie denn nicht gehört, was er schrie, als er mit dem Stein
-drohte? Er wollte sie alle zu Brei schlagen!«
-
-»Ihr werdet sehen, alles löst sich in Wohlgefallen und Lachen auf.«
-
-»Nein, das glaube ich nicht. Hier gibt es nichts zum Lachen. Es handelt
-sich um eine große Dummheit, die gemeine Menschen zu ihren Zwecken
-ausnutzen können.«
-
-Der Propst beschleunigte seine Schritte und eilte nach Hause, indem er
-mit seinem langen Stabe zornige Zickzacklinien durch den Straßenstaub
-zog.
-
-Im nächsten Buche unserer Chronik werden wir sehen, was für Folgen
-diese Begebenheit hatte und wer von den beiden Propheten im Recht war.
-
-
-
-
-Zweites Buch.
-
-
-
-
-Erstes Kapitel.
-
-
-Der Tag des heiligen Methodius von Pesnosch war vorüber und der
-erwachende Morgen verhieß einen heiteren und stillen Tag.
-
-Tuberozow, von der Messe zurückgekommen, saß beim Tee, auf demselben
-Sofa, auf dem er nachts geschlafen, und vor demselben Tisch, an dem
-er seine Memorabilien geschrieben hatte. Die Pröpstin bediente ihren
-Gatten, um dessen Ruhe sie so besorgt war, daß sie ihm alles an den
-Augen abzusehen suchte und nicht wagte, durch irgendeine Frage seine
-ernsten Gedanken zu stören. Flüsternd befahl sie dem Dienstmädchen, die
-beiden Pfeifen des Propstes mit Shukowschem Knaster zu stopfen und sie
-in den Ständer in der Ecke zu stellen, und dann setzte sie sich ihm
-gegenüber und wartete, das Kinn auf die Hand gestützt, bis der Propst
-das erste Glas geleert habe und ein zweites verlangen würde.
-
-Aber ehe es so weit war, wurde ihre Aufmerksamkeit durch einen
-ungewöhnlichen Lärm ganz in der Nähe des Hauses abgelenkt. Man
-vernahm hastige Schritte und wirre Stimmen, die sich hin und wieder
-zu wütendem Geschrei verdichteten. Die Pröpstin schaute zum Fenster
-ihres Schlafzimmers hinaus und sah, daß Lärm und Geschrei von einer
-Menschenmenge herüberdrangen, welche sich mit großer Hast geradewegs
-auf ihr Haus zu bewegte.
-
-»Was kann das sein?« dachte die Pröpstin, ging ins Wohnzimmer zurück
-und sagte ihrem Manne:
-
-»Sieh doch, Vater Sawelij, was da für eine Menge Leute kommt.«
-
-»Leute gibt es viel, meine Liebe, aber es sind keine Menschen
-darunter,« antwortete Sawelij ruhig.
-
-»Nein, du solltest wirklich hinaussehen, es sind ihrer furchtbar viele.«
-
-»Laß sie doch rumlaufen, soviel sie wollen; gib mir lieber noch ein
-Gläschen Tee.«
-
-Die Pröpstin nahm sein Glas, füllte es, reichte es ihm und trat wieder
-ans Fenster. Der lärmende Haufe war verschwunden. Nur drei oder vier
-aus ihm standen noch herum und blickten mit offenkundiger Verlegenheit
-nach dem Tuberozowschen Hause.
-
-»Um Gotteswillen, brennt es nicht irgendwo bei uns, Vater Sawelij!«
-rief die Pröpstin und stürzte entsetzt ins Zimmer ihres Gatten, aber
-schon an der Schwelle blieb sie stehen und begriff endlich, was
-eigentlich geschehen war.
-
-Die Tür zum Wohnzimmer ging lärmend auf und in der Wohnstube des
-Propstes erschien der Diakon Achilla, und dicht hinter ihm, feuerrot
-und ganz verwirrt, der Kommissar, welchen Achilla fest am Ohr hielt.
-
-»Vater Propst,« begann Achilla, indem er Danilka losließ und die Hände
-dem Propst entgegenstreckte.
-
-Tuberozow segnete ihn.
-
-Hierauf trat auch Danilka vor Sawelij hin und nahm den Segen in
-Empfang.
-
-Nachdem dies geschehen war, packte der Diakon ihn wieder fest am Ohr,
-riß ihn zwei Schritte zurück und fing an:
-
-»Stellt Euch vor, Vater Sawelij, eben gehe ich die Straße entlang,
-da höre ich laut reden. Ein paar Kleinbürger sprechen vom gestrigen
-Regen, den uns der liebe Gott auf unseren Bittgottesdienst gesandt
-hat, -- und jener dort« -- Achilla stieß den Zeigefinger seiner linken
-Hand dem ängstlich zwinkernden Danilka gerade in die Nase -- »wagt zu
-widersprechen!«
-
-Tuberozow hob den Kopf.
-
-»Denkt nur, er behauptete,« fuhr der Diakon fort und zog Danilka
-näher zu sich heran, »er behauptete, der Regen, den wir vorige Nacht
-nach dem Bittgottesdienst gehabt hätten, sei gar nicht infolge des
-Gottesdienstes gekommen.«
-
-»Woher weißt du denn das?« fragte Tuberozow trocken.
-
-Danilka schwieg verlegen.
-
-»Denkt doch bloß, Vater Propst! Er behauptet, der Regen sei einfach
-kraft eines Naturgesetzes gekommen.«
-
-»Zu welchem Zwecke hast du die Betrachtungen angestellt?« fragte
-Tuberozow.
-
-»Ein Zweifel regte sich in mir,« antwortete Danilka bescheiden.
-
-»Zu zweifeln hat ein so kompletter Ignorant, wie du, überhaupt nicht,
-und also hat der Täter seinen Lohn dahin. Du hast bekommen, was du
-verdientest. Und nun hinaus aus meinem Hause, du Schwätzer.«
-
-Nachdem der Freigeist Danilka auf diese Weise an die Luft befördert
-war, nahm der Propst wieder am Teetisch Platz, trank sein Glas
-schweigend aus, und als er damit fertig war, wandte er sich an den
-Diakon Achilla. »Und du, Vater Diakon, -- hast du die Absicht, noch
-lange so zu wüten? Hab' ich dich nicht ermahnt, deine Hände davon zu
-halten?«
-
-»Es geht nicht, Vater Propst; ich konnte mich nicht bezwingen; ich
-wollte Euch schon längst davon Mitteilung machen, wie er -- denkt nur
--- immer gegen die Gottheit und gegen die Schrift redet.«
-
-»Und da mußtest du dich vor allem Volke mit ihm prügeln?«
-
-»Und wenn's auch vor allem Volke war, -- was ist denn dabei, Vater
-Propst? Ich bin ein Diener des Altars und muß an jedem Ort für meinen
-Glauben eintreten. Der heilige Nikolaus hat dem Ketzer Arius auch vor
-allem Volke eins ausgewischt ...«
-
-»Du bist aber nicht der heilige Nikolaus,« fiel ihm Tuberozow ins Wort.
-»Du bist eine simple Krähe, verstehst du, und als solche hast du dich
-nicht um Dinge zu kümmern, die dich nichts angehen. Was hast du mit
-deinem Knüppel so zu fuchteln? Du hast wohl vergessen, daß ein Knüppel
-zwei Enden hat? Du verläßt dich immer auf deine Kraft, du Dromedar!«
-
-»Das tu ich.«
-
-»Tust du's? Nun, so tu es lieber nicht. Nicht deine Kraft hat dich
-gerettet, sondern das da,« -- sagte der Propst und zog den Diakon am
-Ärmel seiner Kutte.
-
-»Wollt Ihr mir das zum Vorwurf machen, Vater Propst? Ich bin mir der
-Würde meines Amtes bewußt.«
-
-»So? Du bist dir der Würde deines Amtes bewußt?«
-
-Mit diesen Worten trat der Propst dem Diakon einen Schritt näher,
-schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie und flüsterte:
-
-»Ist es Euch vielleicht bekannt, Vater Diakon, wer mit den
-Handlungsgehilfen vor dem Kolonialwarenladen sitzt und Zigaretten
-raucht?«
-
-Der Diakon wurde verlegen und erwiderte hastig:
-
-»Ja, gewiß hab' ich, Vater Propst ... Ich kann's nicht leugnen ... Aber
-das geschah nur aus Unvorsichtigkeit, Vater Propst, wirklich nur aus
-Unvorsichtigkeit.«
-
-»Seht nur, ihr Leute, was wir für einen feinen Diakon haben, wie famos
-er die Zigaretten zu drehen versteht.«
-
-»Nein, wirklich, Vater Propst, nicht deswegen war es. Was hätt' ich
-mich groß damit zu rühmen? In bezug auf das Tabakskraut sind auch
-andere geistliche Personen nicht sehr enthaltsam.«
-
-Tuberozow maß den Diakon von Kopf bis zu Fuß mit einem sehr
-vielsagenden Blick, dann warf er den Kopf zurück und fragte:
-
-»Was willst du damit sagen? Daß der Propst auch Tabak raucht, nicht
-wahr?«
-
-Der Diakon war so verlegen, daß er nichts zu erwidern vermochte.
-
-Tuberozow wies mit der Hand nach der Zimmerecke, wo seine drei Pfeifen
-standen.
-
-»Was rauche ich wohl, Vater Diakon?«
-
-Der Diakon schwieg.
-
-»Habt die Güte, mir Antwort zu geben. Was rauche ich? Rauche ich
-Pfeifen?«
-
-»Ihr raucht Pfeifen,« antwortete der Diakon.
-
-»Pfeifen? Ausgezeichnet. Und wo rauche ich sie? Rauche ich sie zu
-Hause?«
-
-»Ihr raucht sie zu Hause.«
-
-»Manchmal rauche ich auch eine bei guten Freunden, die ich besuche.«
-
-»Ihr raucht auch manchmal bei guten Freunden.«
-
-»Aber nicht mit Ladenjungen vor dem Tor!« rief Tuberozow und schlug
-mit dem rechten Zeigefinger drohend gegen die linke Handfläche. »Geh
-jetzt deines Weges und hab' Acht auf dich,« schloß er. »Es kommt eine
-neue Ordnung, es wird ein neues Gerichtsverfahren eingeführt, es kommen
-neue Gebräuche, nichts soll mehr im Verborgenen bleiben, sondern alles
-offenbar werden; dann werde ich dich nicht mehr schützen können.«
-
-Nach diesen Worten trat der Propst mit seinem großen Fuß auf einen
-Strohstuhl und langte vorsichtig den gelben Käfig mit dem Kanarienvogel
-herunter.
-
-»Pfui! Daß Gott sich erbarme! Da hab' ich den Glauben verteidigen
-wollen und wieder war's ein Reinfall!« brummte Achilla vor sich
-hin, als er das Haus des Propstes verlassen hatte und mit schnellen
-Schritten auf ein kleines gelbes Häuschen zuging, aus dessen offenen
-Fenstern ein ganzer Haufen blonder Kinderköpfchen herausguckte.
-
-Der Diakon stieg eilig die Verandastufen hinauf, trat ins Vorhaus und
-öffnete, nachdem er mit der Stirn erst gegen den Querbalken gerannt
-war, die Tür zum Wohnzimmer.
-
-In dem niedrigen Raume ging der dürre, winzige Zacharia im Leibrock,
-die Hände auf dem Rücken, eine lange silberne Kette auf der
-eingefallenen Brust, auf und ab.
-
-Achilla betrat dieses Haus mit einem ganz anderen Gesicht und in ganz
-anderer Haltung, als das des Propstes. Die Verwirrung, in der er sich
-befunden hatte, als er das Haus Tuberozows verließ, war geschwunden,
-und schon erfüllten ihn eitel Milde und Güte.
-
-»Nun, Vater Zacharia! Nun, Brüderlein, liebes ... Nun!« begann er
-ungeduldig in der Tür.
-
-»Was gibt's?« fragte Zacharia mit sanftem Lächeln. »Was drehst und
-windest du dich so?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann der dürre
-Pfarrer wieder auf- und abzulaufen.
-
-Der Diakon brach erst in ein lustiges Lachen aus und rief dann:
-
-»Ach, Freundchen, hat das wieder eine Kopfwäsche gegeben! Ach, Vater,
-sogar der Schädel tut mir weh von der Seife. Kann ich mal fix einen
-kippen?«
-
-»Einen kippen? Schön! Aber wer hat dich denn vorgekriegt?«
-
-»Wer sonst als der Justizminister!«
-
-»Vater Sawelij!«
-
-»Eben der! Es ist eine ganz ungewöhnliche Sache, Vater Zacharia.
-Ich wollte mich verdient machen, aber er hat alles herumgedreht,
-durcheinandergeschmissen. Erzählen läßt es sich gar nicht.«
-
-Aber nachdem der Diakon sich gesetzt und das ihm auf einem Teller
-präsentierte Gläschen Branntwein geleert hatte, erzählte er Vater
-Zacharia doch die ganze Geschichte seines Konflikts mit Danilka und
-mit Tuberozow in allen Einzelheiten. Zacharia hüpfte währenddem
-unausgesetzt im Zimmer hin und her und blieb nur stehen, um bald den
-einen, bald den andern der herumhuschenden Blondköpfe aus dem Wege
-zu räumen. Als der Diakon seine Erzählung beendet hatte, brummte
-Zacharia, das Ende seines dünnen Bartes zwischen die Lippen geklemmt,
-bedeutungsvoll: »Ja, ja, ja, aber das tut nichts.«
-
-»Ich kann mir's nicht anders denken, als daß er erzürnt ist und ...«
-
-»Und was noch? Packt euch raus, ihr Bälger! Also was noch?« fragte
-Zacharia, die Kinder zur Seite schiebend.
-
-»Daß es unpolitisch von mir war, die Pfeife zu erwähnen,« erklärte der
-Diakon.
-
-»Ja natürlich ... versteht sich ... zum Teil mag auch das ... Weg
-mit euch, ihr Bälger! ... Übrigens glaube ich, daß er nicht so sehr
-unzufrieden mit dir ist ... Er ist vielmehr ... nehme ich an ... Wollt
-ihr wohl Platz machen, ihr Bälger! ... Ich meine, daß er in seinem
-Herzen ... verstehst du?«
-
-»Betrübt ist?« sagte der Diakon.
-
-Vater Zacharia fuhr sich mit der kleinen Hand über die Brust, zog ein
-saures Gesicht und sagte:
-
-»Empört ist.«
-
-»Gepeinigt,« entschied Achilla. »Ich weiß, der Lehrer Warnawka bringt
-ihn immer in Zorn, aber ich nehme mir den Warnawka noch einmal
-ordentlich vor -- -- und so weiter.«
-
-Und ohne sich in weitere Auseinandersetzungen einzulassen,
-verabschiedete sich der Diakon und ging.
-
-Auf dem Heimwege traf er Danilka und hielt ihn an:
-
-»Sei so gut, lieber Danilka, und zürne mir nicht. Wenn ich dich
-gestraft habe, so geschah es nur in Erfüllung meiner Christenpflicht.«
-
-»Ihr habt mich vor dem ganzen Volke gekränkt, Vater Diakon,« antwortete
-Danilka in einem Tone, der zwar noch immer beleidigt, aber doch auch
-schon ein wenig nach Friedensbereitschaft klang.
-
-»Nun, was willst du mir dafür tun, daß ich dich gekränkt habe? Ich
-weiß, daß es eine Kränkung war, aber wenn ich streng bin ... Ich
-habe es ja nicht aus Frechheit getan. Schon im vorigen Jahr, als ich
-dich ertappte, wie du im Vorhause beim Polizeichef das Meßgewand des
-Propstes angelegt hattest und den Weihwasserwedel schwenktest, sagte
-ich zu dir: ›Du kannst über die Schrift philosophieren, soviel du
-willst, Danilka, von der Wissenschaft verstehe ich selbst nicht viel,
-aber den Ritus darfst du mir nicht antasten.‹ -- Hab' ich das gesagt
-oder nicht?«
-
-Danilka schüttelte widerwillig den Kopf und brummte:
-
-»Vielleicht habt Ihr so was gesagt.«
-
-»Nein, mein Lieber, keine Winkelzüge! Gestehen sollst du! Ich hab' es
-deutlich ausgesprochen: den Ritus nicht antasten, und damit basta! Und
-warum sagte ich das? Weil es unser Lebensinhalt ist, unsere Wesenheit,
-deshalb hast du auch deine Finger davon zu lassen. Hast du mich
-verstanden?«
-
-Danilka drehte sich nur zur Seite und lächelte. Ihm selbst war es
-furchtbar komisch vorgekommen, als der Diakon ihn am Ohr durch die
-ganze Stadt zerrte, und die andern Kleinbürger, welche Zeugen dieser
-Szene waren, hatten, im Scherz und mühsam das Lachen verbeißend, dem
-Diakon ebenfalls übermäßige Strenge vorgeworfen.
-
-»Ihr seid zu streng, Vater Diakon! Ihr seid übermäßig streng,« hatten
-sie ihm gesagt.
-
-Achilla machte nach dieser Bemerkung ein nachdenkliches Gesicht, und
-mit einem tugendhaften Seufzer seine Hände auf die Schultern der beiden
-zunächst stehenden Kleinbürger legend, meinte er:
-
-»Streng, sagt ihr? Ja, gewiß bin ich streng, da redet ihr wahr.
-Aber dafür bin ich auch gerecht. Wenn nun diese Sache vor den
-Friedensrichter käme? Da ginge es doch viel schlimmer. Er knöpft einem
-sofort drei Rubel zum Besten der Kinderbewahranstalten ab.«
-
-»Wer weiß? Mancher Friedensrichter gibt einem dafür noch einen Rubel
-Trinkgeld.«
-
-»Na siehst du wohl! Ich weiß, daß ich gerecht bin, mein Lieber.«
-
-»Gerecht? Ach nein, Vater Diakon, Eure Gerechtigkeit ist nicht weit
-her!«
-
-»Wieso?«
-
-»Weil doch der Danilka gar nicht so viel Schuld hat. Er hat doch nur
-wiederholt, was der gelehrte Mann ihm sagte. Wenn's nach Recht ginge,
-müßtet Ihr den Lehrer Warnawa zur Vernunft bringen. Er hat uns das
-erklärt, Danilka hat bloß gezweifelt, ob der Lehrer recht hat und der
-Regen von selber durchs Naturgesetz gekommen ist, oder ob ihn doch der
-Bittgottesdienst hervorgerufen hat. Wenn Ihr den Lehrer durchgewalkt
-hättet, so wäre das nur recht und billig gewesen.«
-
-»Den Lehrer?!« Der Diakon breitete die Arme weit aus, schob die Lippen
-rüsselförmig vor, stand einen Augenblick vor den Kleinbürgern und
-flüsterte dann: »Gerecht? Ja, die Gerechtigkeit verlangt es ... Aber
-Vater Sawelij will es nicht ... und also ist es unmöglich ...«
-
-
-
-
-Zweites Kapitel.
-
-
-Mehrere Tage waren vergangen. Tuberozow hatte sich überzeugt, daß
-seine Befürchtungen, die unbändigen Taten des Diakon Achilla könnten
-noch ein gerichtliches Nachspiel haben, unbegründet waren. Alles ging
-gemütlich seinen gleichen Gang. Die Leute suchten Abwechslung in ihr
-eintöniges Leben zu bringen, indem sie sich zankten, um sich wieder zu
-versöhnen, und sich versöhnten, um sich wieder zanken zu können. Nichts
-drohte die allgemeine Ruhe zu stören. Im Gegenteil, dem Propst ward ein
-wunderschöner Tag beschieden, der ihm nichts als Freude brachte. Es war
-dies der Namenstag der Frau Stadthauptmann, der sehr bald auf jenen
-Tag folgte, an dem Achilla in seinem Glaubenseifer den öffentlichen
-Skandal mit dem Kommissar Danilka hervorgerufen hatte. Als alle Gäste
-der Pastete des Herrn Polizeichefs die gebührende Ehre erwiesen hatten,
-rief der Hausherr, welcher zufällig ans Fenster getreten war, plötzlich
-laut seiner Frau zu:
-
-»Ach du lieber Gott! Sieh nur, Frau, was für Gäste wir bekommen!«
-
-»Wer kommt denn da?« fragte die Frau.
-
-»Sieh mal selber nach.«
-
-Die Hausfrau, und mit ihr alle anwesenden Gäste, stürzten ans Fenster,
-und nun sah man, daß sich ein mächtiges Dreigespann kräftiger brauner
-Pferde vorsichtig den Berg herunter bewegte, fast wie ein dreiköpfiger
-Drache, der auf dem Bauche kriecht. Das mittlere Pferd bläht sich auf
-und strampelt, wie ein alter General, der einem Untergebenen eine
-Pauke halten will. Die Seitenpferde sausen bald, wie Ulanenkornetts
-auf dem Ball, die ein Gegenüber suchen, bald drängen sie sich an
-das Mittelpferd, wie Schafe im Regen. Das rote Glöcklein schlug
-manchmal mit dem Ring gegen den Rand, dann schien es wieder wie
-festgeklebt und schwieg; nur die Schellen klirrten dumpf. Jetzt war
-der dreiköpfige Drache unten angelangt und breitete sich aus. Die
-Rücken der Pferde wurden sichtbar, der Schweif des einen Seitenpferdes
-wehte hoch im Winde; auch eine Mähne flog empor; die Pferde hielten
-gleichmäßigen Trab und der Wagen polterte über die Brücke. Deutlich
-sah man das vergoldete Krummholz mit eingeätzten Ornamenten und den
-großen altertümlichen, bronzebeschlagenen, gitarrenförmigen Wagen,
-auf dem nebeneinander, wie auf einem Sofa, zwei kleine Geschöpfe, ein
-weibliches und ein männliches, saßen; der Mann in einem dunkelgrünen
-Kamelot-Mantel und einer großen Mütze aus haarigem Plüsch, die Frau in
-einem schlafrockartigen Mantel aus himbeerfarbenem ~Gras-de-Naples~ mit
-einem lila Samtkragen und einer Haube mit braunen Bändern.
-
-»Mein Gott, das sind ja die Plodomasowschen Zwerge! -- Nicht möglich!
--- Sehen Sie doch selbst! -- Ja, richtig! -- Gewiß doch! Da -- Nikolai
-Afanasjewitsch hat uns schon bemerkt. Sehen Sie, er grüßt! Und jetzt
-nickt auch Maria Afanasjewna.«
-
-So tönte es erfreut von allen Seiten. Die Gastgeber beeilten sich,
-für die Ankömmlinge das Frühstück wieder auftragen zu lassen, und die
-Anwesenden richteten die Blicke gespannt nach der Tür, durch die die
-kleinen Leute eintreten mußten.
-
-Voran schritt ein altes Männlein, nicht größer als ein achtjähriger
-Knabe, gefolgt von einem alten Frauchen etwas größeren Wuchses.
-
-Das Männlein war ganz Sauberkeit und Wohlanständigkeit. Auf seinem
-Gesicht war nichts von gelben Flecken oder Runzeln zu sehen, wie
-sie gewöhnlich die Gesichter von Zwergen entstellen. Er hatte eine
-sehr wohlproportionierte Gestalt, einen kugelrunden Kopf, der ganz
-mit weißen, kurzgeschorenen Haaren bedeckt war, und kleine braune
-Bärenaugen. Die Zwergin machte keinen so angenehmen Eindruck wie ihr
-Bruder. Ihre Gestalt war schwammig, um den Mund spielte ein Zug von
-Dummheit und Sinnlichkeit und die Augen blickten stumpf.
-
-Der Zwerg Nikolai Afanasjewitsch trug trotz der heißen Jahreszeit warme
-Tuchstiefel, schwarze Beinkleider aus haarigem Flauschstoff, eine gelbe
-Flanellweste und einen braunen Frack mit Metallknöpfen. Seine Wäsche
-war von tadelloser Sauberkeit und seine Wangen stützten sich auf eine
-stramm gebundene, hohe Atlashalsbinde. Die Zwergin trug ein grünes
-Seidenkleid mit großem Spitzenkragen.
-
-Als Nikolai Afanasjewitsch ins Zimmer getreten war, legte er zuerst die
-Händchen an die Hosennaht, drückte dann die Rechte mit der Mütze ans
-Herz, machte einen Kratzfuß und schritt etwas breitbeinig gerade auf
-die Hausfrau zu.
-
-»Unser gnädiger Herr Nikita Alexejewitsch Plodomasow und der gnädige
-Herr Parmen Semenowitsch Tuganow,« sagte er mit leiser und eintöniger
-Greisenstimme, »haben uns in ihrem eigenen und im Namen ihrer Frau
-Gemahlin befohlen, daß wir als ihre Diener Ihnen, gnädige Frau Olga
-Arsentjewna, ihren Glückwunsch darbringen. -- Schwesterlein, wiederholt
-es,« wandte er sich an die neben ihm stehende Schwester, und als diese
-mit ihrer Gratulation fertig war, machte Nikolai Afanasjewitsch vor
-dem Polizeichef ebenfalls einen Kratzfuß und fuhr fort:
-
-»Und auch Ihnen, gnädiger Herr Woin Wasiljewitsch, und der ganzen
-geehrten Gesellschaft einen herzlichen Glückwunsch zum frohen
-Familienfest. Und ferner habe ich, gnädiger Herr, Ihnen zu melden,
-daß mein gnädiger Herr und Parmen Semenowitsch Tuganow, die mich und
-meine Schwester als Gratulanten hierher gesandt haben, es gütigst zu
-entschuldigen bitten, daß sie ihren Glückwunsch durch uns unwürdige
-Knechte darbringen lassen; aber sie können leider über ihre Zeit
-nicht verfügen. Sie wollen sich heute abend noch persönlich deswegen
-entschuldigen.«
-
-»Parmen Semenowitsch will herkommen?« rief der Polizeichef.
-
-»Mit meinem gnädigen Herrn Nikita Alexejewitsch Plodomasow, der sich
-auf der Durchreise nach Petersburg hier aufhält, und um Vergebung
-bittet, wenn er im Reiseanzug erscheint.«
-
-Der Gesellschaft bemächtigte sich bei dieser Mitteilung eine leichte
-Erregung, welche der Zwerg benutzte, um auf Tuberozow zuzugehen und
-seinen Segen entgegenzunehmen. Dabei sagte er leise:
-
-»Parmen Semenowitsch bittet, Ihr möchtet heute abend auch hier sein.«
-
-»Sag' ihm, Lieber, ich würde kommen,« erwiderte Tuberozow.
-
-Der Zwerg empfing dann auch von Zacharia den Segen. Der Diakon Achilla
-ergriff die Hand des kleinen Mannes, der sich ehrerbietig vor ihm
-verbeugte und dabei lächelnd sagte:
-
-»Ich bitte Euch nur, werter Herr, versucht Eure Heldenkraft nicht an
-mir.«
-
-»Ist er denn so kräftig, Nikolai Afanasjewitsch?« scherzte der Hausherr.
-
-»Er gibt gern Proben seiner Kraft,« antwortete der Alte. »Aber lohnt es
-sich an einem Krüppel?«
-
-»Wie steht's mit der Gesundheit, Nikolai Afanasjewitsch?« fragten die
-Damen, welche den Zwerg von allen Seiten umringt hatten und seine
-Händchen drückten.
-
-»Ach was Gesundheit, meine werten Damen! Es ist ein Spott und eine
-Schande! Wie ein Ferkelchen bin ich geworden. Der Sommer ist längst da,
--- und ich friere beständig.«
-
-»Sie frieren?«
-
-»Ei freilich. Schauen Sie mich bloß an. Ich bin ja ganz in Hasenwolle
-eingenäht. Aber was ist daran auch verwunderlich, werte Herrschaften?
-Ich unnützer Mensch habe doch schon die Achtzig hinter mir.«
-
-Nikolai Afanasjewitsch wurde von allen Seiten mit Fragen überschüttet.
-Man setzte ihn an den Tisch, reichte ihm die Speisen. Er antwortete
-allen klug und gewandt, rührte aber von den Speisen nichts an: er äße
-längst schon sehr wenig, und auch dann nur höchstens ein leichtes
-Gemüse. »Aber die Schwester wird essen,« sagte er, sich zu dieser
-wendend. »Eßt nur, Schwesterlein, eßt. Geniert Euch nicht. Wollt Ihr
-aber ohne mich nicht essen, dann bitte ich Olga Arsentjewna um etwas
-Möhrenfüllung aus der Pastete hier auf dieses kleine Tellerchen ...
-So ist's recht. Danke schön, danke! Was brauch' ich überhaupt noch zu
-essen? Ich kann ja gar nichts mehr. Nicht einmal einen Zwirnstrumpf
-bring' ich mehr ordentlich fertig. Und früher konnte ich doch viel
-besser stricken als die Schwester, sogar ~Broderies anglaises~ verstand
-ich zu flechten; aber jetzt lasse ich beständig die Maschen fallen.«
-
-Der Propst sah dem Zwerge mit glücklichem Lächeln in die Augen:
-
-»Wenn ich dich betrachte, Nikolai, so denke ich an ein lieber altes
-Märchen, mit dem man sterben möchte.«
-
-»Ach, Väterchen, unser liebes Märchen ist vor uns heimgegangen.«
-
-»Vergißt du sie nicht schon, deine Herrin? Die Bojarin Marfa
-Andrejewna?« fragte, sich ihm nähernd, der Diakon Achilla, welchen der
-Zwerg immer noch ein wenig zu fürchten schien.
-
-»Zum Vergessen bin ich schon zu alt, Vater Diakon, ich denke lange
-schon daran, daß es für mich Zeit wird, ihr in jener Welt wieder zu
-dienen,« erwiderte er leise und sich halb dem Diakon zukehrend.
-
-»Sie war eine trostreiche Frau, diese Alte,« sagte der Diakon, ohne
-seine Rede an eine bestimmte Person zu richten.
-
-»In welchem Sinne trostreich? Wie meinst du das?« fragte Tuberozow.
-
-»Spaßig war sie.«
-
-Der Propst lächelte und machte eine abwehrende Handbewegung. Nikolai
-Afanasjewitsch aber fiel Achilla ins Wort und sagte sehr bestimmt:
-
-»Keine Spaßmacherin war sie, sondern eine wirkliche Trösterin, werter
-Herr.«
-
-»Was belehrst du ihn, Nikolai! Erzähle lieber, wie sie dich erbittert
-hat. Und wie sie dann alles wieder zum Besten kehrte,« rief der Propst.
-
-»Ach, Hochwürden, das ist eine so alte Geschichte.«
-
-»Er weiß von dieser seiner Erbitterung mit so viel Wärme zu erzählen,«
-wandte sich Tuberozow an die Gäste.
-
-»Ja, Väterchen, sie, meine gnädige Herrin, verstand es, einen Menschen
-so zu erbittern und dann so zu trösten, wie nur ein Engel Gottes zu
-trösten vermag,« fiel der Zwerg sofort ein.
-
-»Nun, so erzähle doch.«
-
-»Ja, Nikolascha, erzähle, erzähle!«
-
-»Nun, werte Herrschaften, ob Sie sich über mich lustig machen oder
-ob es Sie wirklich interessiert, -- wenn die ganze Gesellschaft es
-wünscht, so will ich mich nicht widersetzen und Ihnen die Geschichte
-erzählen.«
-
-Und er begann.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
-
-»Es war kaum ein Jahr, nachdem meine gnädige Herrin mich von meiner
-früheren Herrschaft gekauft hatte. Ein Jahr in bittern Schmerzen lag
-hinter mir. Ich war von meiner Heimat und von meinen Lieben für immer
-getrennt. Natürlich ließ ich meinen Kummer nicht merken. Es war jedoch
-vergebens, denn die Selige hatte ihn längst erraten. Als nun mein
-Namenstag kam, geruhte sie mir zu sagen:
-
-›Was soll ich dir denn zum Namenstage schenken, Nikolai?‹
-
-›Mütterchen,‹ sag' ich, ›was brauch' ich Narr noch beschenkt zu werden?
-Ich bin auch so völlig zufrieden.‹
-
-›Nein,‹ geruhte sie zu sagen, ›einen Rubel sollst du wenigstens haben.‹
-
-Natürlich wagte ich nicht zu widersprechen und küßte ihr die Hand:
-
-›Vielen Dank, Euer Gnaden!‹ sprach ich nur.
-
-Und setzte mich wieder auf das Fußbänkchen gegenüber ihrem Sessel und
-strickte meinen Strumpf weiter. Nach einiger Zeit fragt sie wieder:
-
-›Was wirst du mit dem Rubel anfangen, Nikolai, den ich dir morgen
-schenken will?‹
-
-›Den schicke ich bei Gelegenheit meinem Vater.‹
-
-›Und wenn ich dir zwei schenke?‹
-
-›So bekommt mein Mütterchen den zweiten.‹
-
-›Und wenn es drei werden?‹
-
-›Dann soll auch mein Bruder Iwan Afanasjewitsch einen haben.‹
-
-Da schüttelte sie den Kopf:
-
-›Du hast aber viel Geld nötig, wenn du alle bedenken willst! Das kannst
-du, so klein wie du bist, ja dein Lebtag nicht verdienen.‹
-
-›Dem lieben Gott hat es gefallen, mich so zu schaffen,‹ antwortete
-ich und fing leise zu weinen an. Mein Herz krampfte sich zusammen,
-wissen Sie, ich ärgerte mich selbst über meine Tränen und doch mußte
-ich weinen. Sie aber, die Selige, guckte und guckte mich an, bis sie
-auf einmal mir schweigend winkte: ich fiel ihr zu Füßen und sie legte
-meinen Kopf auf ihren Schoß, und ich weinte nun erst recht und sie
-weinte auch. Dann stand sie auf und sprach:
-
-›Haderst du nie mit dem lieben Gott, Nikolai?‹
-
-›Wie soll ich mit dem lieben Gott hadern, Mütterchen? Niemals tu ich
-das.‹
-
-›So wird Er dich auch trösten.‹
-
-Und er hat mich wirklich getröstet.«
-
-Als der Zwerg in seiner Erzählung so weit gekommen war, fingen seine
-dünnen Augenlider plötzlich heftig zu zucken an, er sprang hastig von
-seinem Stuhl auf, lief in eine Ecke, wischte sich dort mit einem weißen
-Tüchlein die Augen und kehrte mit verschämtem Lächeln auf seinen Platz
-zurück. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, begann er mit einer ganz
-anderen, feierlichen Stimme:
-
-»Ich war früh aufgestanden, werte Herrschaften, war ganz leise mich
-waschen gegangen, denn ich schlief ja zu Füßen ihres Bettes, hinter
-einem Schirm auf einem Teppich. Dann war ich in die Kirche gegangen,
-um beim Vater Alexei einen Dankgottesdienst nach der Frühmesse zu
-bestellen. Wie ich nun, werte Herrschaften, in die Kirche komme,
-gehe ich geradewegs nach dem Altar, um vom Vater Alexei den Segen zu
-empfangen, und sehe, daß Vater Alexei ein so seltsam frohes Gesicht
-macht und mir so herzlich zur großen Freude gratuliert. Ich bezog das
-natürlich auf den Festtag und auf meinen Namenstag. Aber was sollte
-nun kommen, meine lieben und werten Herrschaften! Ich trete auf den
-linken Altarflügel hinaus, -- und sehe plötzlich mitten im Volke mein
-Mütterlein und meinen Vater und meinen Bruder Iwan Afanasjewitsch. Den
-Vater und die Mutter fand ich in der Menge nicht gleich heraus, aber
-der Bruder Iwan Afanasjewitsch ... der war ja der reine Gardehusar. Ihn
-sah ich sofort. Erst dachte ich, es wäre eine Vision! Denn ich hatte
-mich an diesem Tage so sehr nach ihnen gesehnt. Aber nein, es war keine
-Vision! Ich sah meine Mutter -- sie war eine Bäuerin -- bitterlich
-weinen und dachte, sie habe ihre Herrschaft um Urlaub gebeten und den
-weiten Weg gemacht, um ihr Kind wiederzusehen. Natürlich wollte ich den
-Gottesdienst nicht stören und ging wieder in den Altarraum zurück. Wie
-ich aber nach Schluß der Messe heraustrete, da erblicke ich vor dem
-Betpult mit dem Heiligenbilde Marfa Andrejewna selber; und hinter ihr
-meine Schwester Maria Afanasjewna, die Sie hier sehen, meine Eltern und
-meinen Bruder. Ich gehe auf Marfa Andrejewna zu, um sie zu begrüßen.
-Sie aber schiebt mich leise mit der Hand beiseite und sagt:
-
-›Geh erst und begrüße deine Eltern.‹
-
-So begrüßte ich den Vater, die Mutter, den Bruder, unter Tränen. Nur
-meine Schwester Maria Afanasjewna weinte nicht, denn sie hat einen
-besseren Charakter. Ich aber bin so schwach, daß ich immer weinen muß.
-Nun traten wir aus der Kirche heraus und meine gnädige Herrin nimmt ein
-Beutelchen aus der Tasche -- ich hatte selbst gesehen, wie sie diesen
-Beutel strickte, aber ich wußte natürlich nicht, für wen er bestimmt
-war -- und sagt zu mir: ›Nun beschenke die Deinigen, Nikolascha.‹ Ich
-greife in den Beutel, dem Vater gab ich einen Silberrubel, der Mutter
-einen Silberrubel, dem Bruder Iwan Afanasjewitsch einen Rubel. Es waren
-lauter ganz neue Rubel! Im Beutel aber lagen noch vier Rubel. ›Wer soll
-denn die noch bekommen, Mütterchen?‹ frage ich meine gnädige Herrin.
-Aber da sehe ich schon den Verwalter Dementij, der mir meine Schwägerin
-und ihre drei Kinder zuführt, alle in langen Röcken. Dank der großen
-Gnade meiner Herrin konnte ich auch sie noch beschenken, ehe wir aus
-der Kirche alle zusammen nach Hause gingen. Vor dem Herrenhaus bemerkte
-ich drei Wagen, mit den Gutspferden meiner gnädigen Herrin bespannt.
-Die beiden Pferdchen meines Bruders waren hinten angebunden, und das
-ganze Gepäck der Eltern und des Bruders lag auf dem Wagen. Dies machte
-mich ganz verwirrt, und ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte.
-Marfa Andrejewna war die ganze Zeit mit dem Vater Alexei vorausgegangen
-und hatte von der Ernte gesprochen und mich anscheinend gar nicht
-beachtet. Jetzt aber, wie sie eben die Verandastufen hinauf will,
-wendet sie sich nach mir um und geruht also zu sprechen: ›Hier hast du
-einen Freibrief, mein braver Knecht, deine Eltern und dein Bruder nebst
-Kindern sind von mir losgekauft.‹ Und damit schob sie mir das Papier
-hinter die Weste ... Das war zu viel für mich ...«
-
-Nikolai Afanasjewitsch hob die Hände bis zur Höhe seines Gesichts und
-sagte:
-
-»›Du!‹ rief ich wie wahnsinnig, ›du willst mich durch das Übermaß
-deiner Güte ganz erdrücken!‹ Es schnürte mir die Kehle zusammen, meine
-Schläfen hämmerten, vor meinen Augen zuckten bunte Flämmchen, und ich
-fiel bewußtlos vor dem Wagen meines Vaters nieder, den Freibrief an
-die Brust gedrückt.«
-
-»Ach du, Alter! So viel Gefühl hast du!« rief der Diakon Achilla
-gerührt und schlug Nikolai Afanasjewitsch auf die Schulter.
-
-»Ja,« fuhr der Zwerg fort, nachdem er sich den Mund gewischt hatte.
-»Ich kam erst nach neun Tagen wieder zu mir, denn ich war an einem
-schweren Fieber erkrankt. Und wie ich mich umschaute, sah ich meine
-gnädige Herrin zu Häupten meines Bettes sitzen: ›Vergib mir um Christi
-willen, Nikolascha,‹ sprach sie, ›ich verrücktes Frauenzimmer hätte
-dich beinahe umgebracht!‹ So ein gewaltiger Mensch war sie, die gnädige
-Bojarin Plodomasowa!«
-
-»Ach du allerliebster Alter!« rief wieder der Diakon Achilla und packte
-den Zwerg scherzend an einem Knopfe seines Fracks, diesen scheinbar
-abreißend.
-
-Der Kleine faßte schweigend nach dem Knopf, und als er sich überzeugt
-hatte, daß er heil und ganz an seinem Platze geblieben war, meinte er:
-
-»Ja, ja, ich bin doch ein ganz unbedeutendes Wesen, aber sie war immer
-besorgt um mich und schenkte mir ihr Vertrauen; sogar ihren Kummer
-teilte sie mir mit, besonders als die Trennung von ihrem Sohne Alexei
-Nikititsch ihr so nah ging. Bekam sie mal einen Brief, dann las sie ihn
-erst ganz schnell für sich und später las sie ihn mir vor. Sie sitzt
-und liest vor und ich stehe mit meinem Strickstrumpf daneben und höre
-zu. Und wenn sie zu Ende ist, sprechen wir über den Brief. ›Jetzt wird
-er wohl bald Offizier,‹ sagt sie zu mir. Und ich antworte: ›Ja, sicher
-muß die Reihe schon an ihn gekommen sein.‹ Und sie wieder: ›Was meinst
-du, Nikolascha, da wird man ihm wohl mehr Geld schicken müssen.‹ --
-›Gewiß hat er jetzt mehr nötig, Mütterchen,‹ sage ich. ›Ei freilich,
-wir haben hier das Geld ja gar nicht nötig.‹ ›Natürlich, Mütterchen,
-wozu brauchen wir Geld?‹ Meine Schwester Maria Afanasjewna aber
-schweigt still, und das ist meiner gnädigen Herrin nicht recht und sie
-wird gleich böse. ›Ach, du Holzklotz,‹ sagt sie. ›Ja, die wußten, was
-sie taten, als sie dich mir umsonst als Zugabe zum Bruder überließen.‹«
-
-Nikolai Afanasjewitsch besann sich plötzlich, wurde ganz rot und sagte
-zu seiner stumpfsinnigen Schwester:
-
-»Nehmt mir's nicht übel, Schwesterlein, daß ich das erzähle.«
-
-»Erzählt nur, erzählt nur, es tut nichts,« antwortete Maria
-Afanasjewna, mit der Zunge gegen die Backe stoßend.
-
-»Nun, und euch beiden hat sie die Freiheit nicht geben wollen?« fragte
-jemand.
-
-»Die Freiheit? Nein, freigegeben hat sie uns nicht. Meine Schwester
-Maria Afanasjewna stand wohl mit drin im Freibrief, den sie meinen
-Eltern gegeben, aber mich wollte sie nicht fortlassen. Mitunter sagte
-sie: ›Wenn ich tot bin, magst du leben, wo du willst (denn sie hatte
-ein kleines Kapital als Pension für mich angelegt), aber solange ich am
-Leben bin, lasse ich dich nicht frei.‹ -- ›Ach, Mütterchen,‹ sagte ich
-darauf, ›was soll ich mit der Freiheit? Mich hacken doch die Spatzen
-tot!‹«
-
-»Ach, du kleiner Kerl!« rief Achilla gerührt.
-
-»Er war ja in allem ihre rechte Hand, unser Nikolai Afanasjewitsch,«
-fiel Tuberozow ein.
-
-»Ja, Vater Propst, ich habe ihr gedient, so gut ich's verstand. Wenn
-die Selige nach Moskau oder Petersburg reiste, nahm sie nie eine Zofe
-mit. Sie konnte weibliche Bedienung auf Reisen nicht leiden. Oft
-sagte sie: ›So eine Prinzessin Pumfia tut nichts weiter als quasseln
-und im Gasthof im Korridor herumlungern und Bekanntschaften machen.
-Mein Nikolascha aber sitzt hübsch still im Winkel, wie ein Hase.‹ Sie
-betrachtete mich gar nicht als Mann, sondern nannte mich immer nur
-Hase.«
-
-»Ein Karnickelchen,« sagte Achilla lachend und streichelte die
-Schultern des Kleinen.
-
-»So ganz konnte sie dich aber doch nicht für einen Hasen halten, wenn
-sie dich sogar verheiraten wollte?« sagte der Polizeichef Porochontzew.
-
-»Ja, das hat sie gewollt, Woin Wasiljewitsch. Freilich, freilich,«
-erwiderte der Kleine, die Stimme immer mehr dämpfend, »das hat sie
-gewollt.«
-
-»Wirklich, Nikolai Afanasjewitsch?« riefen mehrere Stimmen zugleich.
-
-Nikolai Afanasjewitsch wurde ganz rot und flüsterte:
-
-»Lügen wäre Sünde, -- ja es war so.«
-
-Und nun stürmte die ganze Gesellschaft auf den Zwerg ein:
-
-»Erzählen, Nikolai Afanasjewitsch, erzählen!«
-
-»Ach, werte Herrschaften, was ist da zu erzählen?« suchte Nikolai
-Afanasjewitsch lachend und errötend und die Hände ausstreckend die
-Zudringlichen abzuwehren.
-
-Man gab nicht nach. Die Damen faßten seine Hände, küßten ihn auf die
-Stirn; er fing die Damenhände, die sich nach ihm ausstreckten, im
-Fluge auf und küßte sie, wollte aber trotzdem nicht erzählen, weil
-er meinte, die Geschichte wäre zu lang und uninteressant. Da schlug
-plötzlich etwas dröhnend gegen den Fußboden, die Hausfrau, die in
-diesem Augenblick vor dem Lehnstuhl des Zwerges stand, trat erschrocken
-zurück, und den erstaunten Blicken von Nikolai Afanasjewitsch zeigte
-sich der Diakon Achilla, kniend mit hoch emporgereckten Armen.
-
-»Herzchen!« flehte er mit heftigen Kopfbewegungen. »Erzähle, wie sie
-dich verheiraten wollten.«
-
-»Ja, ja, ich will alles erzählen, steht nur auf, Vater Diakon.«
-
-Achilla erhob sich, klopfte den Staub von seiner Kutte und rief
-selbstzufrieden:
-
-»Nun? Was sagt ihr nun? Er wird nicht erzählen, meintet ihr! Da sagte
-ich: Ich setze es durch, -- und ich hab's durchgesetzt! Jetzt bitte
-wieder Platz zu nehmen, meine Herrschaften, und hübsch still sein, und
-die gnädigste Hausfrau ist so gut und läßt dem Nikolascha für seine
-Erzählung ein Glas Wasser mit rotem Wein geben, wie das in feinen
-Häusern Brauch ist.« --
-
-Alle setzten sich. Man brachte Nikolai Afanasjewitsch ein Glas Wasser,
-in das er selbst ein paar Tropfen Rotwein goß, und dann fing er von
-neuem zu erzählen an.
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
-
-»Es war bald nach dem Frieden mit Frankreich, meine werten
-Herrschaften, als ich mit dem in Gott entschlafenen Kaiser sprach.«
-
-»Sie haben mit dem Kaiser gesprochen?« unterbrachen den Erzähler sofort
-mehrere Stimmen.
-
-»Ja, was denken Sie?« sagte der Zwerg sanft lächelnd. »Mit Seiner
-Kaiserlichen Majestät Alexander Paulowitsch habe ich gesprochen und
-habe Verstand genug gehabt, ihm zu antworten.«
-
-»Hahaha! Ist das ein Kerl, dieser Nikolaurus, Gott straf mich!« brüllte
-der Diakon Achilla entzückt und schlug sich mit der flachen Hand auf
-die Schenkel. »Seht ihn doch an, -- so ein winziger Floh und hat mit
-dem Kaiser geredet.«
-
-»Sitz ruhig, Diakon, und sei still,« sagte Tuberozow ernst.
-
-Achilla gab durch eine Handbewegung zu verstehen, daß er den Erzähler
-nicht mehr unterbrechen werde und setzte sich.
-
-Der Zwerg fuhr fort:
-
-»Die ganze Sache nahm scheinbar mit diesem meinem Gespräch mit dem
-Kaiser überhaupt ihren Anfang. Meine gnädige Herrin Marfa Andrejewna
-hatte den Wunsch, nach Moskau zu reisen, als der Kaiser nach seinem
-weltberühmten Siege über Napoleon Bonaparte dort erwartet wurde.
-Natürlich mußte auch ich sie wieder auf dieser Reise begleiten. Die
-Selige war dazumal schon in hohen Jahren, und weil auch ihre Gesundheit
-zu wünschen übrigließ, leicht erzürnt und gekränkt. Da verschaffte
-nun Alexei Nikititsch seiner Mutter eine Einladung zu einem Ball,
-zu dem auch der Kaiser kommen sollte. Marfa Andrejewna gestand mir
-offen, daß ihr das ein großes Vergnügen bereitet hatte. Sie ließ sich
-zu diesem Ball ein kostbares Kleid machen, und für mich wurde bei
-einem französischen Schneider ein blauer Frack aus englischem Tuch
-mit goldenen Knöpfen bestellt, dazu -- entschuldigen Sie, meine Damen
--- Pantalons, Weste, Halsbinde -- alles weiß; ein Spitzenvorhemd und
-Schnallenschuhe, -- zweiundvierzig Rubel hat sie bezahlt. Alexei
-Nikititsch hatte, um seiner Mutter eine Freude zu machen, es so
-eingerichtet, daß sie mich mitnehmen durfte. Dem ~Maitre d'hôtel~
-wurde befohlen, mich in die Orangerie zu führen und gerade gegenüber
-dem Saale, in den der Kaiser eintreten sollte, irgendwo in einer Ecke
-zwischen den Gewächsen aufzustellen. So geschah es denn auch, werte
-Herrschaften, aber doch nicht ganz, wie es beabsichtigt war. Der
-~Maitre d'hôtel~ sagte mir, ich sollte mich ruhig verhalten und sehen,
-soviel ich von meinem Platz nur sehen könnte. Aber was war von da zu
-sehen? Nichts. Da machte ich es wie Zachäus, der Zöllner, wissen Sie,
-und kletterte -- hoppla -- auf so einen kleinen künstlichen Felsen,
-wo ich nun unter einer Palme stand. Der Saal war voll Glanz und Lärm
-und Musik, aber auch von meinem Felsen konnte ich nur die Frisuren
-der Herrschaften sehen. Plötzlich aber gerieten all diese Köpfe in
-lebhafte Bewegung, sie schoben sich auseinander und der Kaiser ging
-mit dem Fürsten Golitzyn geradewegs nach der Orangerie, um sich etwas
-zu erfrischen. Und -- denken Sie sich nur -- nicht allein, daß er sich
-nach der Orangerie begibt, er geht auch gerade auf die entfernte Ecke
-zu, wo man mich versteckt hatte. Ganz starr war ich, meine Damen, wie
-angewachsen an den Felsen und konnte nicht herunter.«
-
-»Da war dir wohl bange?« fragte Tuberozow.
-
-»Wie soll ich sagen? Bange eigentlich nicht, aber doch gewissermaßen
-aufgeregt war ich.«
-
-»Ich wäre davongelaufen,« sagte der Diakon, außerstande, noch weiter zu
-schweigen.
-
-»Warum denn davonlaufen, werter Herr? Ich will nicht sagen, daß ich
-keine Angst verspürt hätte, aber ans Davonlaufen dachte ich doch nicht.
-Seine Majestät kamen indes immer näher und näher. Ich hörte schon
-deutlich, wie Ihre Stiefel klipp-klapp, klipp-klapp machten. Ich sah
-bereits Ihr sanftes Gesicht, den freundlichen Blick, und wissen Sie, in
-meiner Verwirrung dachte ich gar nicht mehr daran, daß ich gleich Ihren
-Augen sichtbar werden mußte. Da wandte der Kaiser den Kopf und, ich
-sah's, er richtete den Blick direkt auf mich und sah mich an.«
-
-»Nun?« schrie der Diakon und wurde ganz bleich.
-
-»Ich machte eine Verbeugung.«
-
-Der Diakon atmete auf, drückte die Hand des Zwerges und flüsterte:
-
-»Erzähle, sei so gut, erzähle schnell weiter!«
-
-»Der Kaiser sah mich also an und geruhte auf Französisch zum Fürsten
-Golitzyn zu sagen: ›Ach, was für ein Miniaturexemplar! Wem mag es
-gehören?‹ Der Fürst Golitzyn war, wie ich sah, in Verlegenheit,
-was er antworten sollte, -- und da ich die französische Rede wohl
-verstehen konnte, antwortete ich selber: ›Der gnädigen Frau Plodomasow,
-Kaiserliche Majestät!‹ Da wandte sich der Kaiser zu mir und geruhte
-zu fragen: ›Welcher Nation sind Sie?‹ -- ›Ein treuer Untertan Eurer
-Majestät,‹ antwortete ich. ›Und geborener Russe?‹ fragte er weiter
-und ich antwortete: ›Ein Bauer und treuer Untertan Eurer Majestät.‹
-Da lachte der Kaiser. ›Bravo,‹ scherzte er, ›bravo, ~mon petit sujet
-fidèle~!‹ und faßte meinen Kopf mit der Hand und zog mich an sich.«
-
-Nikolai Afanasjewitsch dämpfte seine Stimme und sagte mit einem leisen
-Lächeln im Flüstertone, als handele es sich um ein großes politisches
-Geheimnis:
-
-»Er faßte mich um, wissen Sie, und dabei drückte ein Knopf seines
-Ärmelaufschlags mir die Nase zusammen, daß es mir ordentlich wehe tat.«
-
-»Nun und du? Du schriest doch nicht?« rief der Diakon.
-
-»Nein, Väterchen, nein, warum sollte ich schreien? Wie kann man
-schreien, wenn der Zar einen liebkost? Nein, als er mich losließ, küßte
-ich seine Hand ... für das Glück und die Ehre ... und das war mein
-ganzes Gespräch mit Seiner Kaiserlichen Majestät. Später natürlich, als
-sie mich vom Felsen heruntergenommen hatten und man mich in der Kutsche
-nach Hause fuhr, da hab' ich die ganze Zeit geweint.«
-
-»Warum hast du denn nachher geweint?« fragte Achilla.
-
-»Warum? Als ob ich nicht Grund genug gehabt hätte? Vor Rührung weint
-der Mensch!«
-
-»So klein ist er und hat so viel Gefühl!« rief Achilla ganz begeistert.
-
-»Nun, erlauben Sie mal,« fing der Erzähler wieder an. »Die
-Aufmerksamkeit, die Seine Majestät mir zufällig erwiesen, wurde in
-verschiedenen Moskauer Häusern bekannt, Marfa Andrejewna nahm mich
-überall mit hin und zeigte mich den Leuten, und -- ich sage Ihnen die
-reine Wahrheit, ich lüge nicht -- ich war damals der allerkleinste
-Zwerg in ganz Moskau. Aber das dauerte nicht lange, nur einen einzigen
-Winter.«
-
-In diesem Augenblick prustete der Diakon plötzlich überlaut und fing
-dann, den Kopf zurückwerfend, leise zu kichern an.
-
-Als er merkte, daß er durch sein Lachen den Erzähler unterbrochen
-hatte, setzte er sich wieder gerade hin und sagte:
-
-»Es ist nichts! Erzähle nur weiter, Nikolaurus, ich lache über meine
-eigene Sache. Wie einmal der Graf Klenychin mit mir gesprochen hat.«
-
-»Nein, sprechen Sie sich nur aus, werter Herr, sonst unterbrechen Sie
-mich wieder,« sagte der Zwerg.
-
-»Ach, es ist gar nichts Besonderes, eine ganz einfache Geschichte,«
-erwiderte Achilla. »Der Graf Klenychin besichtigte unser
-Seminargebäude, ich machte ihm eine Verbeugung und da sagte er: ›Pack
-dich weg, Schafskopf!‹ Und das war unser ganzes Gespräch, über das ich
-lachen mußte.«
-
-»Es ist auch wirklich komisch,« sagte der Zwerg lächelnd und fuhr fort:
-
-»Im nächsten Winter brachte die Generalin Wichiorowa aus Petersburg
-eine finnische Zwergin namens Meta mit, die war noch um einen Finger
-breit kleiner als ich. Die selige Marfa Andrejewna konnte das gar nicht
-hören. Anfangs behauptete sie immer, das sei keine natürliche Zwergin,
-sondern eine, der man in der Kindheit Blei eingegeben habe; aber als
-sie angekommen war und meine gnädige Herrin die Meta Iwanowna mit
-eigenen Augen sah, da wurde sie furchtbar böse, daß sie so wohlgebaut
-und weiß war. Sogar im Traum ließ es ihr keine Ruhe: immer nur dachte
-sie daran, wie sie die Meta Iwanowna kaufen könnte. Aber die Generalin
-wollte von Verkauf nichts wissen. Da fing nun Marfa Andrejewna mit
-allerlei spitzigen Reden an: ihr Nikolai wäre ein kluger Kopf und
-hätte mit dem Kaiser selbst gesprochen, das Mädel aber sehe bloß nett
-aus und weiter nichts. So zankten sich die beiden Damen unsertwegen.
-Marfa Andrejewna sagte, jene solle ihr das Mädchen verkaufen, und diese
-wiederum wollte mich kaufen. Da fuhr Marfa Andrejewna einmal heftig
-auf: ›Ich will sie doch nicht bloß zum Spaß haben,‹ sagte sie, ›ich
-will sie doch verheiraten, der Nikolai soll sie zur Frau nehmen.‹ Die
-Frau Wichiorowa aber meinte: ›Ich kann ja die beiden auch verheiraten,
-wenn sie mir gehören.‹ Marfa Andrejewna erwiderte: ›Wenn sie Kinder
-kriegen, sollst du ein Paar davon haben.‹ Jene aber versprach, daß sie
-ihr ebenfalls ein paar Kinder überlassen wolle, wenn es welche geben
-würde. Bis auf zehntausend Rubel waren sie nach und nach gekommen,
-meine werten Herrschaften, aber immer wurde nichts aus der Sache, denn
-wenn meine gnädige Herrin zehntausend für die Meta bot, so bot die
-Generalin elftausend für mich. Wohl war Marfa Andrejewna eine Frau von
-starkem und unbezwinglichem Geiste, die mit Pugatschow gestritten und
-mit drei Kaisern getanzt hatte, -- aber mit der Generalin Wichiorowa
-wurde sie doch nicht fertig. Und auf mich war sie auch böse. ›Du bist
-auch so ein dummer Rüpel,‹ geruhte sie zu mir zu sagen, ›der dem Mädel
-nicht ordentlich den Kopf verdrehen kann, daß es selber drum bittet,
-deine Frau werden zu dürfen.‹ -- ›Mütterchen, Marfa Andrejewna,‹ sagte
-ich, ›wie soll ich ihr denn den Kopf verdrehen? Geben Sie mir Ihre
-Hand, Mütterchen, daß ich Narr sie küsse.‹ Da wurde sie noch böser.
-›O, du dummer, dummer Kerl,‹ sagte sie, ›nichts verstehst du als die
-Handküsserei.‹ Da schwieg ich schon lieber ganz.«
-
-»O dieser kleine Kerl! Er kann ja nichts dergleichen, der Arme,«
-erklärte der Diakon teilnahmvoll seinem Nachbarn.
-
-Der Zwerg warf ihm einen Blick zu und fuhr fort:
-
-»So ging es nun Tag für Tag, bis es Frühling wurde, und für uns kam
-die Zeit, aus Moskau wieder nach Plodomasowo zurückzukehren. Wir
-fuhren nochmals zur Wichiorowa und wurden wieder nicht handelseinig.
-Marfa Andrejewna sagte ihr: ›So erlaub doch wenigstens deiner
-Qualle, daß sie mit Nikolai vor dem Hause auf und ab geht.‹ Die
-Generalin gestattete das, und nun mußten Meta Iwanowna und ich auf
-dem Trottoir vor den Fenstern hin- und herspazieren. Das war eine
-große Freude für die selige Marfa Andrejewna, und für uns beide wurden
-die verschiedensten Kostüme genäht. Wir kamen hin und sie befahl:
-›Heute sollen Nikolai und Meta als Paysans gehen.‹ Dann erschienen
-wir beide in Holzschuhen, ich in Kamisol und Hut und Meta Iwanowna
-mit einer großen Haube, und so gingen wir vor dem Hause auf und ab,
-und die Leute auf der Straße blieben stehen und schauten uns an. Ein
-andermal mußten wir uns als Türke und Türkin zeigen. Dann als Matrose
-und Matrosenmädchen. Ferner hatten wir noch Bärenkostüme, aus braunem
-Flanell genäht, wie Futterale. In diese stopfte man uns hinein, wie man
-eine Hand in den Handschuh steckt oder den Fuß in den Strumpf, nichts
-war zu sehen als die Augen, und oben am Kopfe waren solche kleine
-Zipfel aus Tuch angemacht, wie Ohren, die hin- und herwackelten. In
-diesen Kleidern schickte man uns aber nicht auf die Straße, sondern
-ließ sie uns zuweilen anlegen, wenn die beiden Damen beim Kaffee
-saßen. Dann mußten wir auf dem Teppich vor dem Kaffeetisch miteinander
-ringen. Meta Iwanowna war sehr stark für ein Mädchen, wenn ich ihr aber
-geschickt und schlau ein Bein stellte, dann fiel sie doch gleich um.
-Aber ich gab ihr doch meist aus Mitleid mit ihrem weiblichen Geschlecht
-nach, und die Generalin pflegte auch oft ihr Bologneserhündchen zu
-Hilfe zu rufen, das mir in die Waden fuhr. Dann ärgerte sich Marfa
-Andrejewna ... Ach, ich mag gar nicht an diese Ringkämpfe denken!
-Das allerschönste Kostüm, das die Selige hatte machen lassen, habe
-ich heute noch: mich zogen sie als französischen Grenadier und Meta
-Iwanowna als Marquise an. Ich hatte eine hohe Bärenmütze, einen langen
-Waffenrock, eine Flinte mit Bajonett und Meta Iwanowna trug einen
-Reifrock und hielt einen großen Fächer in der Hand. Dann mußte ich
-mich mit der Flinte vor der Tür aufstellen und Meta Iwanowna ging mit
-ihrem Fächer an mir vorüber und ich präsentierte das Gewehr. Und dann
-fing Marfa Andrejewna wieder mit der Generalin zu feilschen an, denn
-sie wollte uns gar zu gerne verheiraten. Ich muß Ihnen aber sagen, daß
-all diese Kostüme für mich und Meta Iwanowna meine gnädige Herrin auf
-ihre Kosten machen ließ, denn sie glaubte ganz sicher, daß sie die
-Meta Iwanowna schließlich doch bekommen würde; ja, je mehr Kleider sie
-für uns machen ließ, desto mehr wurde sie in der Zuversicht bestärkt,
-daß wir beide ihr Eigentum seien. Aber die Sache sollte ganz anders
-ausgehen. Die Generalin Karolina Karlowna Wichiorowa war nicht umsonst
-eine Deutsche: wo etwas ihr von Vorteil war, da widersetzte sie sich
-nicht, sondern nahm alles an, aber nachgeben war ihre Sache nicht. Da
-kam Alexei Nikititsch -- Gott schenke ihm Gesundheit und langes Leben,
-ihm selbst war die Sache schon lange ein Dorn im Auge, und er sah, daß
-sie bös auslaufen würde -- er kam also auf den Gedanken, oder irgendein
-kluger Offizier von seinem Regiment hatte ihm den Rat gegeben, der Frau
-Mutter mitzuteilen, die Wichiorowsche Zwergin sei verschwunden. Das
-beruhigte Marfa Andrejewna noch einigermaßen, daß jetzt niemand die
-Meta Iwanowna haben sollte, und sie redete beständig davon. ›Wie ist
-sie denn verloren gegangen?‹ fragt sie. Alexei Nikititsch antwortet,
-ein Jude hätte sie gestohlen. ›Wie? Was für ein Jude?‹ Und wir fabeln
-weiter, wie's uns gerade einfällt: so ein kastanienbrauner Jude sei
-es gewesen, mit einem langen Bart, alle hätten ihn gesehen, wie er
-sie gepackt und fortgeschleppt habe. ›Warum hat man ihn denn nicht
-festgehalten?‹ fragt sie wieder. -- Ja, er sei eben aus einer Straße
-in die andere, aus einer Gasse in die andere gerannt. -- ›Sie ist aber
-auch ein dummes Frauenzimmer, daß sie sich so fortschleppen läßt und
-nicht einmal schreit! Mein Nikolai hätte sich sowas nicht gefallen
-lassen.‹ -- ›Wie werd' ich mich denn von einem Juden überwältigen
-lassen?!‹ sagte ich. Und so glaubte sie alles, wie ein kleines Kind.
-Aber da machte Alexei Nikititsch versehentlich einen kleinen Fehler,
-oder richtiger, er wollte es zu schlau anfangen. Seine Absicht war
-natürlich, Marfa Andrejewna schneller mit mir aufs Land zu schaffen,
-denn dort, glaubte er, würde sie leichter vergessen, und so sagte er
-zu seiner Mutter: ›Seien Sie unbesorgt, liebe Mutter. Man wird die
-Zwergin sicher wiederfinden, denn sie wird überall gesucht, und wenn
-man sie gefunden hat, schreibe ich Ihnen sofort aufs Land.‹ Die Selige
-klammerte sich nun an dieses Wort. ›Nein,‹ sagte sie, ›wenn man sie
-sucht, dann will ich lieber hier abwarten. Vor allem aber möchte ich
-den Juden sehen, der sie geraubt hat.‹ Ja, meine Herrschaften, da
-mußten wir noch einen Polizisten anstellen, daß er uns lügen half.
-Jeden Tag kam er und meldete, die Kleine würde gesucht, sei aber
-immer noch nicht gefunden. Sie gab ihm jeden Tag fünf Rubel, mich
-aber schickte sie tagtäglich zur Frühmesse, daß ich Sankt Johannes
-dem Krieger einen Bittgottesdienst abhalten lasse um Rückkehr der
-entflohenen Sklavin ...«
-
-»Sankt Johann dem Krieger? Du sagst, zu Sankt Johann dem Krieger
-hättest du beten lassen?« unterbrach ihn der Diakon.
-
-»Ja, Sankt Johannes dem Krieger.«
-
-»Na, dann gratuliere ich, mein Lieber. Da habt ihr gar nicht zu dem
-richtigen Heiligen gebetet.«
-
-»Wirst du wohl Ruhe halten, Diakon? Sei so gut,« fiel Vater Sawelij
-ein.
-
-»Bitte, Nikolai, erzähle weiter.«
-
-»Ja, Hochwürden, was ist da noch viel zu erzählen? Meine Geschichte
-ist so gut wie zu Ende. Einmal kamen wir mit Marfa Andrejewna von der
-Kapelle der Iberischen Mutter Gottes, als uns in der Petrowka-Straße
-der Wagen der Generalin Wichiorowa entgegenkam, in dem neben der
-Generalin auch Meta Iwanowna saß. Da begriff Marfa Andrejewna alles und
-... Sie mögen mir glauben, meine werten Herrschaften, oder nicht, --
-sie fing in der Kutsche leise, aber bitterlich zu weinen an.«
-
-Der Zwerg schwieg.
-
-»Nun, Nikola,« suchte der Propst ihn anzuspornen.
-
-»Ja, was nun? Als wir nach Hause gekommen waren, sagte sie zu Alexei
-Nikititsch: ›Mein liebes Söhnchen, du bist ein rechter Schafskopf, daß
-du dich unterstehen konntest, deine Mutter zu betrügen und mir noch den
-Polizisten auf den Hals zu schicken.‹ Und damit ließ sie ihre Sachen
-packen und fuhr aufs Land.«
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
-
-Nikolai Afanasjewitsch drehte sich auf seinem Stühlchen den Gästen zu
-und sagte: »Ich hatte Sie ja schon darauf aufmerksam gemacht, daß es
-eine ganz einfache und wenig interessante Geschichte sein würde. Und
-nun, Schwesterlein,« dabei stand er auf, »müssen wir auch fahren.«
-
-Maria Afanasjewna erhob sich ebenfalls, aber der Diakon fing wieder an:
-Nikolai Afanasjewitsch habe nicht zum richtigen Heiligen beten lassen.
-
-»Das ist nicht meine Sache, werter Vater Diakon,« rechtfertigte sich
-Nikolai Afanasjewitsch, während er seine Mütze suchte.
-
-»Wieso denn nicht? Natürlich ist es deine Sache! Du mußt doch wissen,
-zu welchem Heiligen du betest!«
-
-»Erlaubt mal, als ich zum erstenmal deshalb in die Kirche kam, gab
-ich dem Priester einen Zettel mit der Aufschrift ›um Rückkehr einer
-entflohenen Sklavin‹ und ein Fünfzigkopekenstück, darauf hielt der
-Priester einen Bittgottesdienst vor Sankt Johannes dem Krieger ab, und
-so ging es denn auch später.«
-
-»Wenn die Dinge so stehen, taugt eben der Priester nichts.«
-
-»Wieso? Wieso? Wieso? Wieso taugt der Priester nichts?« mischte sich
-plötzlich Vater Zacharia Benefaktow ins Gespräch.
-
-»Weil er die Befugnisse seines Amtes nicht kennt,« erwiderte Achilla
-höchst selbstbewußt. »Wer betet denn um Rückkehr eines entflohenen
-Knechtes zu Sankt Johann dem Krieger?«
-
-»Ja, was meinst du? Zu wem denn sonst? Zu wem? Zu wem?«
-
-»Zu wem? Ihr habt es wohl vergessen? Neben dem Platz des
-Kirchenältesten hing früher an der Wand ein Blatt. Jetzt ist es
-fortgenommen. Allein ich erinnere mich noch ganz genau, welche Heiligen
-bei den verschiedenen Gelegenheiten anzurufen sind.«
-
-»So.«
-
-»Jawohl! und wenn Ihr's wissen wollt, -- zu dem Heiligen Theodor Tyron
-hätte gebetet werden müssen.«
-
-»Du hast unrecht. Es war ganz richtig, daß sie den Johannes anriefen.«
-
-»Blamiert Euch nicht, Vater Zacharia.«
-
-»Ich sage dir, es war ganz richtig.«
-
-»Ich aber sage Euch, Ihr blamiert Euch ganz unnützerweise. Ich weiß die
-ganze Tabelle auswendig.«
-
-Er schob den breiten Ärmel seiner Kutte weit auf den Ellenbogen hinauf
-und bog mit der rechten Hand den Daumen der Linken ein, als ob er ihn
-abbrechen wollte.
-
-»Um Heilung von der fallenden Sucht,« begann er, »betet man zum
-heiligen Maroas.«
-
-»Zum heiligen Maroas,« wiederholte Benefaktow zustimmend.
-
-»Um Heilung von der zehrenden Sucht -- zum heiligen Märtyrer Artemios,«
-fuhr Achilla fort und bog in derselben Weise den Zeigefinger ein.
-
-»Artemios,« wiederholte Benefaktow.
-
-»Um Erlösung von Unfruchtbarkeit -- zum Wundertäter Romanus; wenn
-der Gatte sein Weib verschmäht -- zu den Märtyrern Gurios, Samon und
-Abebas; wenn man vom Teufel geplagt wird -- zum heiligen Nyphon; gegen
-die wollüstige Leidenschaft -- zur heiligen Thomais ...«
-
-»Und zum heiligen Moses Ugrinos,« fügte Benefaktow, der bisher nur im
-Takt mit dem Kopf geschüttelt hatte, leise hinzu.
-
-Der Diakon, der schon alle fünf Finger der linken Hand eingebogen
-hatte, sann einen Augenblick nach, indem er den Vater Zacharia scharf
-ansah, dann öffnete er die linke Faust, um nun die Finger der Rechten
-einzubiegen, und meinte:
-
-»Ja, man kann auch zum Moses Ugrinos beten.«
-
-»Bitte weiter.«
-
-»Gegen die Trunksucht -- zum Märtyrer Bonifatius.«
-
-»Und zum Moses Murinos.«
-
-»Wie?«
-
-»Zum Bonifatius und zum Moses Murinos,« wiederholte Vater Zacharia.
-
-»Ganz recht,« stimmte der Diakon ihm bei.
-
-»Bitte weiter.«
-
-»Zum Schutz gegen bösen Zauber -- zum heiligen Märtyrer Cyprianus.«
-
-»Und zur heiligen Justina.«
-
-»So hört endlich auf mit Eurem Vorsagen, Vater Zacharia!«
-
-»Wenn's aber doch mit russischen Buchstaben deutlich gedruckt steht:
-und der heiligen Justina.«
-
-»Schön, sei's drum! Und der heiligen Justina. Um Wiedergewinnung
-gestohlener Gegenstände und um Rückkehr entflohener Knechte (der Diakon
-betonte jedes einzelne Wort) -- zu dem Theodor Tyron, dessen Gedächtnis
-wir am siebzehnten Februar feiern.«
-
-Jedoch kaum hatte Achilla sein letztes Wort gleich einem
-Trompetensignal herausgeschmettert, als auch schon Zacharia mit
-derselben leisen und leidenschaftslosen Stimme in der Aufzählung
-fortfuhr:
-
-»Und zum heiligen Johannes dem Krieger, dessen Gedächtnis wir am
-zehnten Juli feiern.«
-
-Achilla riß die Augen weit auf und schrie:
-
-»Jetzt fällt mir's ein, ja, man kann auch zu Johannes dem Krieger
-beten.«
-
-»Aber weshalb habt Ihr denn eine ganze Stunde gestritten, Vater
-Diakon?« sagte Nikolai Afanasjewitsch, ihm zum Abschied sein Händchen
-entgegenstreckend.
-
-»Daß mir sowas passieren mußte! Ich hatte die Duplikate vergessen,
-deshalb stritt ich,« verteidigte sich der Diakon.
-
-»Das ist genau wie im Sprichwort, werter Herr: ich suche meine Mütze
-und habe sie auf dem Kopfe. Meinen ehrerbietigsten Gruß, Vater Diakon.«
-
-»Ich suche meine Mütze! ... Ach, du Kleiner!« grinste Achilla, kriegte
-den Zwerg am Rockschoß zu packen und setzte ihn auf seine Hand, indem
-er rief:
-
-»Der ist ja so leicht wie eine Flaumfeder!«
-
-»Laß sein,« befahl Vater Tuberozow.
-
-Der Diakon stellte den Zwerg wieder auf den Boden und bemerkte
-scherzend, in Anbetracht seiner Leichtigkeit sei es unmöglich, ihn nach
-Gewicht zu verkaufen. Doch der Propst, den das vorlaute Gebaren des
-Diakons schon zu ärgern begann, wandte ein:
-
-»Weißt du, wen man nach Gewicht schätzt?«
-
-»Nun, wen?«
-
-»Den Wicht.«
-
-»Schönsten Dank!«
-
-»Bitte sehr, recht gern geschehen.«
-
-Der Diakon wurde verlegen, fuhr mit seinem Baumwolltaschentuch über den
-haarigen Filz seines Hutes und brummte:
-
-»Ihr könnt auch nie und nirgends ohne Politik auskommen!«
-
-Und schritt mit gekränkter Miene zur Tür hinaus.
-
-Bald begannen sich auch die andern Gäste zu verabschieden und gingen
-ein jeder seines Weges.
-
-Den Zwerg und seine Schwester trug der bronzebeschlagene Wagen schnell
-von dannen, Tuberozow aber nahm seinen Weg in Begleitung desselben
-Darjanow, mit dem wir ihn im Häuschen der Hostienbäckerin Prepotenskaja
-gesehen haben, langsam über die Brücke.
-
-Als sie das jenseitige Ufer erreicht hatten, machten sie einen
-Augenblick Halt. Von alter Erinnerung überwältigt meinte der Propst:
-
-»Ist es nicht seltsam, daß dieses alte Märchen, welches uns der Zwerg
-erzählt und das ich schon so oft gehört habe, daß dieses kindliche
-Märlein von den Stricknadeln der Alten mich nicht nur erfrischt,
-sondern auch beruhigt hat nach all der Aufregung, in welche mich die
-jüngste Wirklichkeit versetzt hatte? Ist das nicht ein deutlicher
-Beweis dafür, daß ich alt geworden bin und in der Vergangenheit zu
-leben beginne? Aber nein, das ist es nicht. Ich bin von klein auf so
-gewesen. Mir fällt eben ein Erlebnis ein: als Student kam ich einmal
-in das Dorf, in dem ich meine Kindheit verbrachte und sah, wie man
-die alte Holzkirche niederriß, um an ihrer Stelle ein neues schönes
-Gotteshaus aus Stein zu errichten ... Damals brach ich in Tränen aus.«
-
-»Warum denn?«
-
-»Es war mir leid um das hölzerne Kirchlein. Einen schönen, lichten,
-neuen Tempel will man in Rußland bauen, und die Enkel, die darin
-beten werden, werden sich freuen an der Fülle von Licht und Wärme,
--- und dennoch tut es weh, wenn die alten Balken ohne Erbarmen
-auseinandergezerrt werden.«
-
-»Ja, lohnt sich's denn wirklich, etwas zu bewahren aus jener alten
-Zeit, die nichts Besseres wußte, als mit Stricknadeln zu klappern und
-sich an Zwergenhochzeiten zu erfreuen?«
-
-»Ja, sehen Sie mal, ärmlich genug ist das ja, -- und doch fühlte ich
-etwas vom russischen Geiste darin. Ich gedachte der alten Bojarin und
-mir wurde so wohl und frei dabei, und das scheint mir der schönste
-Lohn für meine Pietät. Lebt in gutem Einvernehmen mit eurem alten
-Märchen, ihr jungen russischen Leute! Solch ein altes Märchen ist ein
-wunderbares Ding! Wehe dem, der in seinem Alter keines hat! Euren Ohren
-klingt das Klappern der alten Stricknadeln eintönig, mir aber erzählt
-es süße Mären! ... O wie gerne möchte ich in Frieden mit meinem alten
-Märchen sterben!«
-
-»Das wird ja wohl auch so werden.«
-
-»Wie soll man das wissen? Wie soll man wissen, wer es sein wird?
-Aber erlauben Sie, -- was ist denn das?« unterbrach der Propst sich
-plötzlich und sah nach einer Staubwolke, die sich auf dem Berge zeigte
-und einen mit drei Pferden bespannten Reisewagen, in dem zwei Männer
-saßen, begleitete. Der eine von ihnen war groß, fleischig, schwarz, mit
-feurigen Augen und einer unverhältnismäßig großen Oberlippe; der andere
-klein, glatt rasiert, mit einem völlig leidenschaftslosen Gesicht und
-hellen, wässerigen Augen.
-
-Der Wagen mit den Fremden fuhr schnell über die Brücke und bog auf dem
-anderen Ufer links ab.
-
-»Was für unangenehme Gesichter,« sagte der Propst und wandte sich ab.
-
-»Wißt Ihr auch, wer das war?«
-
-»Gott sei Dank, nein.«
-
-»Dann kann ich es Euch zu Eurer Betrübnis sagen. Es ist der
-Regierungsbeamte Fürst Bornowolokow, welcher seit einiger Zeit hier
-erwartet wird. Ich habe ihn sofort erkannt, obgleich ich ihn lange
-nicht gesehen habe. Richtig, sie halten vor dem Biziukinschen Hause.«
-
-»Sagen Sie, bitte, welcher von beiden ist Bornowolokow?«
-
-»Links, der Kleine, ist Bornowolokow.«
-
-»Und der andere?«
-
-»Wohl sein Sekretär. Auch eine Berühmtheit eigener Art.«
-
-»Ein tüchtiger Jurist?«
-
-»Hm! Davon habe ich eigentlich nichts gehört. Aber wegen irgendeiner
-Studentengeschichte wurde er einmal zu Festungshaft verurteilt.«
-
-»Um Gottes willen! Wie nennt sich dieser Mann?«
-
-»Ismail Termosesow!«
-
-»Termosesow?«
-
-»Ja, Termosesow; Ismail Petrowitsch Termosesow.«
-
-»Himmel, was für Leute unser Zar in seine Dienste nimmt!«
-
-»Wie meint Ihr das?«
-
-»Aber, ich bitte! Dies Gesicht, diese Lippen, und auf Festung hat er
-gesessen und ist wieder freigekommen, und Termosesow heißt er auch
-noch.«
-
-»Das ist entsetzlich, nicht wahr?« rief Darjanow laut lachend.
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel.
-
-
-Wir müssen nun, unter dem Zwange der Verhältnisse, welche den Gang
-unserer Chronik bedingen, den Stargoroder Propst für einige Zeit
-verlassen, um die Bekanntschaft eines ganz anderen Kreises derselben
-Stadt zu machen. Wir treten in das Haus des Akzisebeamten Biziukin, in
-dem die längst erwarteten Petersburger Gäste soeben eingetroffen sind:
-der Fürst Bornowolokow, ein alter Studiengenosse des Akziseeinnehmers,
-welcher irgend etwas revidieren oder einführen soll, und sein Sekretär
-Termosesow, ebenfalls ein alter Bekannter und Gesinnungsgenosse
-Biziukins. Es ist vormittags und der Postwagen, welcher die Gäste nach
-Stargorod gebracht hat, macht eben vor dem Hause Halt.
-
-Biziukin selbst war nicht zu Hause, und so mußte ihn seine Gattin
-vertreten. Diese interessante Frau, die sich viel mit Politik
-beschäftigte, sah dem Besuche des Gastes nicht ohne innere Bewegung
-entgegen. Sie wollte sich ihm von ihrer besten und vorteilhaftesten
-Seite zeigen, und war vom frühen Morgen darauf bedacht, daß ihr
-Haus den besten Eindruck auf die Ankommenden mache. In aller Frühe
-prüfte sie sämtliche Gemächer und fand, daß eigentlich nichts ihrem
-Wunsche entsprach. In der Mitte des reinlichen, freundlich möblierten
-Wohnzimmers blieb sie stehen und dachte verzweifelt:
-
-»Nein, das ist zum Tollwerden! Hier sieht es ja genau so aus, wie
-bei Porochontzews oder bei Darjanows oder beim Postmeister, -- mit
-einem Wort, wie überall, vielleicht etwas besser. Die Uhr auf dem
-Kamin, diese Armleuchter, und da steht das Klavier ... Nein, das darf
-unmöglich so bleiben, um dieser Kleinigkeiten willen will ich nicht
-die Verachtung der modernen Männer auf mich laden. Ich weiß, wie man
-moderne Männer der Tat aufnimmt! Ja, aber, wo soll ich hin mit all
-dem Kram? Soll ich alles hinauswerfen? Das wäre doch zu schade. Die
-Sachen werden verderben, sie haben Geld gekostet. Und was nützt es, sie
-hinauszuwerfen, wenn ringsherum ... Im Schlafzimmer zum Beispiel die
-Spitzengardinen ... Na ja, ins Schlafzimmer werden die Gäste ja nicht
-hineinschauen ... Ich bringe nur meines Mannes Zimmer in Ordnung!«
-
-Und damit rief die junge Beamtenfrau ihre Dienstboten und ließ sie
-sofort alles ihrer Meinung nach Überflüssige aus dem Arbeitszimmer
-ihres Gatten auf den Speicher bringen, so daß nichts weiter übrigblieb
-als ein Tisch, ein Stuhl und zwei Sofas.
-
-»Ausgezeichnet,« dachte die Biziukina. »Wenigstens ein Zimmer im Hause,
-das anständig aussieht.«
-
-Sie machte noch zwei große Tintenflecke auf den Schreibtisch und stieß
-den Spucknapf in der Ecke um, so daß der Sand sich über den Fußboden
-streute. Aber o Himmel, als sie wieder in den Saal zurückkehrte,
-bemerkte sie, daß sie das Allerärgste fast übersehen hätte: an der Wand
-hing ein Heiligenbild!
-
-»Jermoschka! Jermoschka! Schaff sofort dies Heiligenbild hinaus ... ich
-will es in die Kommode legen!«
-
-Das Bild wurde fortgeschafft und die besorgte Hausfrau begab sich in
-ihr Boudoir, öffnete einen großen Nußbaumschrank, wählte aus ihrer
-reichhaltigen Garderobe die allerschlechtesten Stücke, rief ihr
-Dienstmädchen und ließ sich ankleiden.
-
-»Marfa, du liebst die Herrschaften wohl gar nicht?«
-
-»Warum sollte ich sie nicht lieben?«
-
-»Warum solltest du nicht? Nun so, ganz einfach! Wofür sollst du sie
-denn lieben?«
-
-Das Mädchen wußte nicht, was es antworten sollte.
-
-»Was haben sie dir denn Gutes getan?«
-
-»Gutes, nichts, gnädige Frau.«
-
-»Nun, du dumme Person, dann kannst du sie auch nicht lieben, und in
-Zukunft bitt' ich dich, die dummen Redensarten ›zu Befehl‹ und ›gnädige
-Frau‹ und so weiter gefälligst zu lassen. Sag einfach ›ja‹ und ›nein‹
-und ›was‹ und ›warum‹. Verstanden?«
-
-»Zu Befehl.«
-
-»Zu Befehl!? Kannst du nicht einfach ›ja‹ sagen?«
-
-»Warum denn, gnädige Frau?«
-
-»Weil ich es so wünsche.«
-
-»Zu Befehl.«
-
-»Schon wieder? Ich hab' dir doch eben erst befohlen: einfach ›ja‹ und
-›nein‹ zu sagen.«
-
-»Ja. Aber es wird mir sehr schwer, gnädige Frau.«
-
-»Schwer? Um so leichter wird dir's später werden. Alle werden einmal so
-sprechen. Hörst du?«
-
-»Zu Befehl.«
-
-»Zu Befehl! Pack dich, dumme Gans! Ich schmeiß dich raus, wenn du mir
-noch einmal so antwortest. Einfach ›ja‹ -- und mehr nicht. Bald wird es
-überhaupt keine Herrschaften mehr geben; verstehst du? Überhaupt keine
-mehr! Sie werden bald alle ... in Stücke gehackt. Verstanden?«
-
-»Ja,« sagte das Mädchen, um sie irgendwie loszuwerden.
-
-»Jetzt geh und schick mir den Jermoschka her.«
-
-»Nun ist aber noch etwas unbedingt nötig. Ich muß eine Schule hier
-haben.« Und Madame Biziukina gab ihrem Jermoschka zehn kupferne
-Fünfkopekenstücke und befahl ihm, möglichst viele Straßenjungen
-herbeizuschaffen. Er sollte jedem von ihnen sagen, daß er von ihr noch
-einen zweiten Fünfer bekommen würde.
-
-Nach zehn Minuten kehrte Jermoschka in Begleitung einer ganzen Horde
-zerlumpter Gassenbuben zurück.
-
-Die Biziukina gab jedem fünf Kopeken, ließ sie im Kabinett ihres Mannes
-Platz nehmen und sagte zu ihnen:
-
-»Jetzt werde ich euch unterrichten und dafür kriegt jeder noch einen
-Fünfer. Ist's euch recht so?«
-
-Die Jungen rümpften die Nase:
-
-»Na ja, warum nicht?«
-
-»Wir verstehen doch nicht, aus Büchern zu lesen,« sagte einer von den
-Klügeren.
-
-»Ich will euch ein Lied lehren, da braucht ihr keine Bücher.«
-
-»Na, wenn's ein Lied sein soll, ist's uns recht.«
-
-»Jermoschka, setze dich auch dazu.«
-
-Jermoschka setzte sich und hielt verlegen die Hand vor den Mund.
-
-»Also jetzt singt ihr alle mit.«
-
- »Aus der Schmiede kommt der junge Schmied.«
-
-Die Buben sangen nach, so gut sie konnten.
-
-»Heil!« sang Madame Biziukina vor.
-
-»Heil!« wiederholten die Kinder.
-
- »Und drei scharfe Messer trägt er unterm Rock! Heil!«
-
-In diesem Ausblick hob Jermoschka den Kopf, sah aus dem Fenster und
-rief:
-
-»Es kommt Besuch, gnädige Frau!«
-
-Die Biziukina ließ das Lineal fallen, mit dem sie den Takt geschlagen
-hatte und stürzte in den Saal.
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
-
-Der Fürst Bornowolokow und sein Sekretär Termosesow erschienen. Bei
-genauer Betrachtung machten sie einen viel interessanteren Eindruck,
-als sie Tuberozow bei ihrer flüchtigen Begegnung vorgekommen waren.
-
-Der Revisor selbst sah wie ein eingeschlafener Stichling aus. Er war
-klein, mit gesträubten Haaren, breiten Schultern und Augen, über denen
-ein feuchter, schläfriger Schleier lag. Er schien zu nichts fähig und
-zu nichts brauchbar. Er war eben kein Mensch, sondern ein schläfriger
-Stichling, der sich in allen Meeren und Seen herumgetrieben hatte, nun
-aber eingeschlafen und so mit Tang bewachsen war, daß in ihm nichts
-mehr glühte und leuchtete.
-
-Termosesow dagegen erinnerte an einen Kentauren. Er war riesengroß,
-wie es nur ein Mann sein kann, aber der Bau seines mächtigen Körpers
-hatte etwas Weibliches. Die Schultern waren sehr schmal, die Hüften
-übermäßig breit und voll wie Pferdeschinken, die Knie fleischig und
-rund, die Arme dürr und sehnig; der Hals lang, aber nicht mit stark
-hervortretendem Adamsapfel, wie bei den meisten hochgewachsenen
-Menschen, sondern mit einer Vertiefung, wie bei einem Pferde. Um den
-Kopf flatterte eine mächtige Mähne nach allen Seiten; das Gesicht,
-mit einer langen, armenischen Nase und einer unverhältnismäßig großen
-Oberlippe, die schwer auf der untern lastete, war von sehr dunkler
-Färbung; die Augen waren braun mit tiefschwarzen Pupillen, der Blick
-scharf und klug.
-
-Die Biziukina beobachtete alles durch das Fenster, ohne von den Fremden
-gesehen zu werden, und zermarterte sich das Hirn, wer von den beiden
-wohl der Revisor Bornowolokow und wer Termosesow sei. Endlich kam sie
-zu dem Schlusse, der Große müßte unbedingt der Fürst Bornowolokow sein,
-denn er hatte eine Mütze mit einer Kokarde auf dem Kopfe, der andere
-im Reitfrack und dem bunten Mützchen aber war sicher Termosesow, der
-unabhängige Mann, der in einem ganz freien Dienstverhältnis zum Fürsten
-stand. Allein noch eine zweite Frage quälte die Hausfrau: wie sollte
-sie die Gäste empfangen? Sollte sie ihnen entgegengehen? Das wäre
-gar zu zeremoniell gewesen. Nichts tun, dasitzen und warten, bis sie
-kommen? ... Das wirkte zu gezwungen! Ein Buch vornehmen? Ja, das wäre
-das Richtigste, das Natürlichste!
-
-Und sie ergriff das erste beste Buch, blickte aber noch einmal darüber
-hinweg durch das Fenster und bemerkte, daß Termosesow, den sie für
-Bornowolokow hielt, ziemlich schmutzige Hände hatte, während ihre
-wohlgepflegten, müßigen Hände rein waren, wie weißer Schaum.
-
-Sofort nahm Madame Biziukina etwas Erde aus einem auf dem Fensterbrett
-stehenden Blumentopf, zerrieb sie zwischen ihren Handflächen und setzte
-sich mit ihrem Buche auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters, die
-Beine übereinanderschlagend.
-
-In diesen Augenblick ließ sich im Hausflur eine fröhliche, recht
-freundliche Baßstimme vernehmen, und in das Vorzimmer traten beide
-Gäste: zuerst Termosesow und hinter ihm Fürst Bornowolokow.
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-
-Die Hausfrau saß da und rührte sich nicht. Es fiel ihr jetzt erst
-auf, wie unpassend den Gästen der Blumentopf auf dem Fensterbrett
-erscheinen mußte, und so verwirrt sie auch war, sie hatte doch noch
-Zeit zu überlegen, wie man ihn wohl am leichtesten aus dem Fenster
-hinausbefördern könnte. Dieser Gedanke beschäftigte sie so lebhaft,
-daß sie sogar die erste Frage überhörte, mit der sich einer der beiden
-Gäste an sie wandte, wodurch sie tatsächlich den Eindruck einer ganz in
-ihre Lektüre vertieften Person hervorrief.
-
-Termosesow musterte sie über die Schwelle mit einem scharfen Blick und
-wiederholte seine Frage.
-
-»Wer sind Sie? Vielleicht Frau Biziukina selbst?« fragte er, ruhig in
-den Saal eintretend.
-
-»Ich bin Frau Biziukina,« antwortete die Hausfrau, ohne aufzustehen.
-
-Termosesow ging auf sie zu:
-
-»Ich bin Termosesow, Ismail Petrowitsch Termosesow, ein Schulkamerad
-Ihres Mannes, mit dem ich später wegen einer Dummheit auseinanderkam;
-und dies ist der Fürst Afanasij Fedosejewitsch Bornowolokow,
-Regierungsbeamter und Revisor aus Petersburg. Wir wollen hier allen die
-Hölle heiß machen. Guten Tag!«
-
-Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie ergriff sie, während sie mit der
-andern das Buch auf die Fensterbank legte und bei dieser Gelegenheit
-den Blumentopf umstieß, so daß er auf die Straße kollerte.
-
-»Was ist das? Sie haben Ihre Blume zum Fenster hinausgeworfen?«
-
-»Das hat nichts zu sagen. Es war keine Blume. Nur Gras zum Auflegen auf
-Schnittwunden. Aber es taugt auch schon nichts mehr.«
-
-»Selbstverständlich taugt es nichts. Wer legt heute noch Gras auf
-Schnittwunden! Aber vielleicht gibt es noch solche Esel. Wo ist denn
-Ihr Mann?«
-
-Die Biziukina sah den Revisor an, der ohne ein Wort zu sagen auf dem
-kleinen Sofa Platz genommen hatte, und erwiderte Termosesow, ihr Mann
-sei nicht zu Hause.
-
-»Nicht zu Hause? Na, macht nichts, wir sprechen uns noch. Wir waren
-dicke Freunde, bis uns eine Dummheit auseinanderbrachte. Aber ich muß
-offen bekennen, Sie passen nicht zu diesem Mann. Nein, wirklich ganz
-und gar nicht, darüber ist kein Wort zu verlieren. Er ist ein Hohlkopf,
-weiter nichts, und es ist sein Glück, daß Sie ihm zu dieser Stelle
-in der Akzise verhelfen konnten. Sie aber sind ein Prachtkerl, der
-alles ganz famos gedeichselt hat, -- dem Mann die Stelle verschafft
-und -- fein ist's hier bei Ihnen!« fügte er hinzu, indem er mit einem
-schnellen Blick alle vom Saale aus sichtbaren Räume der Wohnung
-musterte. Als er in dem allen Schmuckes beraubten Kabinett die
-Kinderschar bemerkte, die sich an der Schwelle drängte, meinte er:
-
-»Ah, so etwas wie eine Schule haben Sie auch hier. Schäbig genug ist
-das Zimmerchen, aber als Schulraum geht's noch an. -- Zu was Deubel
-unterrichten Sie die Lausebande eigentlich?« schloß er plötzlich
-schroff.
-
-Die Biziukina geriet in Verlegenheit, aber Termosesow half ihr selbst
-darüber hinweg. Er ging auf die Jungen zu, faßte einen von ihnen unter
-das Kinn und fragte: »Na? Verstehst du Erbsen zu mausen? Lern's, mein
-Junge, und wenn sie dich nach Sibirien expedieren, mag mein Segen dich
-begleiten. Lassen Sie sie laufen, Biziukina! Marsch nach Hause, ihr
-Halunken! Fix ans Erbsenstehlen!«
-
-Die Jungen kamen langsam einer nach dem andern aus dem Kabinett und
-zogen im Gänsemarsch durch den Saal. Dann ging es in beschleunigtem
-Tempo durch das Vorhaus und über den Hof.
-
-»Wozu all diese Schulen? Nichts als Zeitvergeudung!«
-
-»Das finde ich auch,« sagte die Hausfrau kleinlaut.
-
-»Versteht sich. Bekommen Sie eine Unterstützung?«
-
-»Nein. Wo sollte die auch herkommen?«
-
-»Warum nicht? Andere bekommen sie doch! -- Und das ist wohl Ihr
-Früchtchen?« fragte er, indem er auf den herausgeputzten Jermoschka
-zeigte, der eben eingetreten war. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte
-er sich an den Jungen:
-
-»Geh mal, mein liebes Goldsöhnchen, und sag dem Dienstmädchen, daß wir
-uns waschen wollen.«
-
-»Das ist gar nicht mein Sohn,« sagte die Hausfrau verlegen.
-
-Aber Termosesow hörte es nicht. Er glaubte nun einmal, den Sohn der
-Hausfrau vor sich zu haben, und hielt dieser eine Predigt, wie und wozu
-sie ihn erziehen solle.
-
-»Bereiten Sie ihn für den Staatsdienst vor. Daß er nur keine
-literarischen Neigungen kriegt! Sehn Sie mich an. Ich dürfte
-eigentlich gar nicht Staatsbeamter sein, aber durch Hintertüren und
-auf Hintertreppchen hab' ich mich doch rangeschlängelt. Jawohl! Und
-bin doch früher selbst Nihilist gewesen und ärgerte mich sogar über
-Ihren Mann, als er Akzisebeamter wurde. Dumm war das! Warum soll
-unsereins nicht Staatsbeamter sein? Als Beamter kann man sich beliebt
-machen, als Beamter hat man Geld, als Beamter gewinnt man Einfluß, --
-das ist etwas ganz anderes als die blöde Schriftstellerei. Dort muß
-man noch Talent haben, hier aber wird es nur störend empfunden. Als
-Staatsbeamter kann ich die Leute sortieren. Was bist du für ein Kerl?
--- Du kommst hierher. Und du bist so einer? -- Du kommst dahin. Du bist
-keiner von den unsern? So zwing' ich dich, ersticke dich, zerbreche
-dich, -- und der Staat muß mich dafür bezahlen. -- Na, was starren
-Sie mich so an? Es kommt Ihnen wohl sonderbar vor, was ich da aus der
-Praxis erzähle?«
-
-Die verblüffte Hausfrau schwieg, der Gast aber fuhr fort:
-
-»Ihr richtet hier Schulen ein, -- na ja, wenn man sich an die
-landesübliche Schablone der roten Hähne halten wollte, müßte man das
-loben, aber Termosesow als praktischer Mensch tut das nicht. Termosesow
-sagt: Zum Teufel mit den Schulen, sie sind vom Übel; wenn das Volk zu
-lesen versteht, nimmt es die heiligen Bücher vor. Sie glauben, die
-Bildung gehört zu den zerstörenden Elementen? Keineswegs. Sie ist ein
-aufbauendes Element, wir aber wollen vor allem zerstören.«
-
-»Es heißt doch aber, eine Revolution wäre jetzt bei dem Bildungsstand
-unseres Volkes nicht möglich,« wagte die Hausfrau einzuwerfen.
-
-»Zu was Teufel brauchen wir sie denn, die Revolution, wenn es auch ohne
-Revolution ganz nach unsern Wünschen geht? Aber sehn Sie, da steht Ihr
-Söhnlein und spitzt die Ohren. Warum erlauben Sie ihm zuzuhören, was
-die Erwachsenen reden?«
-
-»Das ist gar nicht mein Sohn,« sagte die Dame.
-
-»Nicht Ihr Sohn? Wer ist es denn?«
-
-»Ein Diener.«
-
-»Ein Diener! Und so herausstaffiert! Fix, Waschwasser, du
-Teufelsbraten!«
-
-»Ist schon fertig,« antwortete Jermoschka schroff, wie es ihm
-vorgeschrieben war.
-
-»Warum hast du es denn nicht gleich gesagt? Marsch hinaus!«
-
-»Das ist nun ein wahrhaft kluger Mensch,« dachte Frau Daria Biziukina,
-als sie wieder allein geblieben war, und starrte unverwandt nach der
-Tür, durch die Termosesow hinausgegangen war. »Alle andern sind so
-streng, -- dies kann man nicht und das soll man nicht, hier aber ist
-alles erlaubt, alles möglich, und doch fürchtet dieser Mann sich vor
-nichts. Mit so einem Mann zu leben wäre leicht; ja es wäre süß, sich
-ihm zu unterwerfen.«
-
-Der arglistige Fremde hatte das Herz Darias völlig erobert. Alles an
-dem Gaste begann ihr zu gefallen. Was hatte er für eine Stimme! Wie
-stark war er! Überhaupt, -- was war er für ein Mann! ... Wie entzückend
-war er! Kein Seladon, wie ihr Gatte; kein Trantopf, wie Prepotenskij,
--- nein, er war entschlossen, unbeugsam, ein ganzer Mann ... Der würde
-nie nachgeben! Er war wie der Sturmwind ... er kommt ... reißt fort ...
-vernichtet ...
-
-Wo bist du nun, du armer Akziseeinnehmer? Juckt dir nicht schon die
-Stirn wie einem jungen Böcklein, dem die Hörner wachsen wollen?
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-
-Zu den Ohren der verliebten Biziukina war aus dem Kabinett längst
-schon bald ein sanftes Entenplätschern, bald ein wildes Spritzen und
-seltsames Gurgeln gedrungen. Plötzlich jedoch war alles still geworden
-und immer noch zeigte sich Termosesow nicht. Hatte er denn wirklich
-so viel mit diesem wortkargen Fürsten zu reden? Oder schlief er? ...
-Das konnte der Fall sein, denn die Reise mußte ihn ermüdet haben.
-Oder las er vielleicht? Was konnte er lesen? Und was brauchte er zu
-lesen, wenn er selbst klüger war als alle Bücherschreiber? ... Aber
-während sie so grübelte, ging die Tür auf und auf der Schwelle erschien
-Jermoschka mit einer Waschschüssel voll Seifenwasser. Er schloß die
-Tür nicht hinter sich, so daß Daria Nikolajewna ins Zimmer hineinsehen
-konnte. Ganz hinten am Fenster entdeckte sie die schmächtige Figur des
-Fürsten. Dicht vor ihm, etwas näher zur Tür, erhob sich der fleischige
-Torso Termosesows. Beide, der Revisor und sein Sekretär, waren im
-Negligé. Bornowolokow in Beinkleidern und einem schneeweißen Hemde
-aus holländischer Leinwand, über das sich kreuzweise die zwei roten
-Streifen der seidenen Hosenträger legten. Sein kleines blondes Köpfchen
-war glatt gekämmt, und er bemühte sich, es mit Hilfe einer Metallbürste
-noch mehr zu glätten. Termosesows Gestalt zeigte sich in ihrer ganzen
-plastischen Vollendung, der Kragen seines Hemdes war aufgeknöpft und
-die weit über den Ellbogen aufgeschürzten Ärmel ließen die muskulösen,
-dicht behaarten Arme deutlich erkennen.
-
-Mit diesen Armen hob Termosesow ein langes russisches Handtuch, an
-dessen Enden rote Hähne gestickt waren, und bearbeitete damit seine
-sich wild sträubenden nassen Haare aufs kräftigste.
-
-Aus der Energie, mit welcher der liebenswürdige Ismail Petrowitsch
-dieses Geschäft betrieb, ließ sich ohne weiteres erraten, daß die
-fröhlichen, machtvollen und ungenierten Fiorituren, die eben noch
-durch die geschlossene Tür bis in den Saal gedrungen waren, von
-Termosesow herrührten, während Bornowolokow nur wie eine Ente zischen
-und plätschern konnte. Der zurückkehrende Jermoschka, welcher die Tür
-zuschlug, zerstörte das holde Bild.
-
-Aber Termosesow hatte genügend Zeit gehabt, um das Feld mit seinem
-Adlerblick zu überschauen, und er ließ sich die Gelegenheit nicht
-nehmen, die Hausfrau durch sein Erscheinen ohne den Fürsten zu
-erfreuen. Er warf schnell seinen weiten Mantel über seine höchst
-unvollkommene Toilette und stieß den armen Jermoschka, ihn am Ohr
-packend, ins Vorzimmer hinaus mit den Worten:
-
-»Daß du deine Nase hier nicht zu zeigen wagst, bis ich dich rufen
-werde!«
-
-Dann schloß er die Tür zum Kabinett, in dem sich der Fürst noch befand,
-und setzte sich in seinem immerhin recht seltsamen Kostüm ungeniert
-neben die Hausfrau.
-
-»Hören Sie mal, Biziukina, so geht das nicht, Herzchen,« fing er an und
-faßte sie ohne weiteres bei der Hand. »Sie haben Ihren Lausbuben gar zu
-sehr verwöhnt. Ich nannte ihn ein Ferkel, weil er dem Fürsten die Ärmel
-beplantscht hatte, worauf er mir: ›Meine Mutter ist keine Sau, sondern
-eine Frau!‹ antwortete. Daran sind Sie natürlich schuld, Sie haben ihn
-so emanzipiert, nicht wahr?«
-
-Und mit völlig veränderter Stimme fuhr er zärtlich fort: »Sie sind
-es? Ja? Sagen Sie -- ja?« Dieses Ja wurde in einem Ton gesagt, der
-das Herz der Biziukina erschauern machte. Sie begriff, daß die
-gewünschte Antwort gar nicht der gestellten Frage galt, sondern einer
-unausgesprochenen, deren heimlicher Sinn sie durch seinen Realismus
-geradezu erschreckte, und darum schwieg sie. Aber Termosesow ließ nicht
-locker.
-
-»Ja oder nein? Ja oder nein?« drängte er mit wachsender Ungeduld.
-
-Zu langem Überlegen war keine Zeit. Die Biziukina sah Termosesow
-ängstlich an und begann schüchtern:
-
-»Ja, ich weiß n...«
-
-Aber Termosesow unterbrach sie hart:
-
-»Ja!« rief er. »Ja! Und damit genug! Weiter brauchst du mir nichts zu
-sagen. Gib mir dein Händchen. Gleich auf den ersten Blick habe ich
-erkannt, daß wir zueinander gehören, und eine andere Antwort habe ich
-von dir nicht erwartet. Jetzt keine Zeit verloren! Beweise mir deine
-Liebe durch einen Kuß.«
-
-»Wollen Sie nicht ein Glas Tee?« stammelte Daria Nikolajewna, als ob
-sie diese Worte nicht gehört hätte.
-
-»Komm mir nicht mit solchen Geschichten! Ich bin kein Teekessel,
-sondern ein Dampfkessel.«
-
-»Dann ist Ihnen Wein vielleicht lieber?« flüsterte Daria, sich von ihm
-losmachend.
-
-»Wein?« wiederholte Termosesow. »Du bist süßer als Myrrhen und Wein!«
-Und damit zog er Madame Biziukina an sich. »Laß uns verschmelzen in
-seligem Kusse«, flüsterte er und schloß ihr rotes Mündchen mit seinen
-Pferdelippen.
-
-»Jetzt aber sag mir mal, warum bist du eine so renitente Monarchistin?«
-fragte er unmittelbar nach dem Kusse, die Hand der Dame seinen Augen
-nähernd.
-
-»Ich bin gar nicht Monarchistin,« beteuerte die Biziukina hastig.
-
-»Wem gilt denn deine Hoftrauer? Dem Maximilian von Mexiko?«
-
-Und Termosesow wies lachend auf die schwarzen Streifen an ihren
-Fingernägeln, schob sie zur Seite und sagte: »Geh, wasch deine Hände!«
-
-Daria Nikolajewna wurde feuerrot und war nahe daran zu weinen.
-Sie hatte sonst immer tadellos saubere Nägel. Sie eilte in ihr
-Schlafzimmer, wusch dort die Hände und kam lächelnd zurück.
-
-»So,« sagte sie, »jetzt bin ich wieder Republikanerin, ich habe ganz
-weiße Hände.«
-
-Der Gast aber drohte ihr mit dem Finger und meinte, der Republikanismus
-sei nur ein dummer Spaß.
-
-»Was brauchen wir uns um die Republik zu kümmern?« sagte er. »Man kann
-damit bös reinfallen. Aber ich habe die photographischen Bildnisse
-sämtlicher regierender Herrschaften mit. Soll ich sie dir schenken, daß
-wir sie hier an die Wand hängen?«
-
-»Ich habe sie ja selbst.«
-
-»Wo sind sie denn? Wohl versteckt? He? Ich schwör's beim Satan selber,
-daß ich's erraten habe: du erwartetest unsern Besuch aus Petersburg,
-und um mit deinem Liberalismus zu prahlen, hast du sie versteckt! Dumm
-ist das, mein Töchterchen, sehr dumm! Bring sie mal fix her, ich hänge
-sie dir wieder auf.«
-
-Die ertappte Einnehmersfrau wurde wieder bis an die Ohren rot, holte
-aber die eingerahmten Bildnisse aus dem Tischkasten heraus und brachte
-auf Termosesows Befehl Hammer und Nägel, worauf der Gast sich gleich an
-die Arbeit machte.
-
-»Ich denke, wir bringen sie gleich hier an dieser Wand an,« sagte er,
-mit dem Finger durch die Luft fahrend.
-
-»Wie Sie meinen.«
-
-»Was nennst du mich immer noch Sie, wenn ich dich duze? Du sollst du
-sagen. Und nun gib mal die Bilder her.«
-
-»Die hat alle mein Mann gekauft.«
-
-»Sehr richtig von ihm, daß er die Obrigkeit hochachtet! Die Herren
-Minister hängen wir alle hier unten nebeneinander auf. Her damit!
-Wer ist das? Gortschakow. Der Kanzler. Ausgezeichnet! Er hat Rußland
-gerettet! Sehr nett von ihm! Dafür wird er als Erster aufgehängt.«
-
-Als alle Bilder an der Wand befestigt waren, ergriff Termosesow die
-rechte Hand der Biziukina und drückte sie an seine Brust.
-
-»Nicht wahr, ich habe ein heißes Herz?« fragte er, ihre Verlegenheit
-ausnutzend.
-
-Aber Daria Nikolajewna riß ihre Hand los und erwiderte zornig: »Sie
-werden aber zu frech.«
-
-»Tä--tä--tä--tä--! Zu frech! Ganz und gar nicht ›zu‹, sondern gerade,
-wie sich's gehört,« spottete Termosesow und legte den andern, freien
-Arm um ihren Leib.
-
-»Sie sind ein ganz unverschämter Mensch! Sie vergessen, daß wir uns
-kaum kennen,« schrie Daria Nikolajewna entrüstet und riß sich von ihm
-los.
-
-»Ich bin nicht unverschämt und ich vergesse auch nichts! Termosesow
-ist bloß klug, schlicht, natürlich und praktisch -- weiter nichts.
-Termosesow denkt einfach so: wenn du ein vernünftiges Frauenzimmer
-bist, dann weißt du, warum du mit einem Mann so intim redest, wie du
-mit mir geredet hast; weißt du aber selber nicht, warum du dich so
-benimmst, dann bist du eine Gans und es hat keinen Sinn, dich schonend
-zu behandeln.«
-
-Madame Biziukina wollte natürlich klug sein.
-
-»Sie sind sehr schlau,« sagte sie, das Gesicht abwendend.
-
-»Schlau! Was braucht's hier Schlauheit? Ja, wenn du mich liebst oder
-ich dir gefalle ...«
-
-»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich Sie liebe?«
-
-»Laß doch das Flunkern!«
-
-»Nein, ich rede die Wahrheit. Ich liebe Sie gar nicht und Sie gefallen
-mir nicht im geringsten.«
-
-»Quatsch keinen Blödsinn! Du liebst mich nicht? Nein, laß dir mal
-ganz was anderes sagen: ich fühle dich und verstehe dich und will dir
-offenbaren, wer ich bin, aber nur, wenn wir ganz allein und ungestört
-sind.«
-
-Daria Nikolajewna schwieg.
-
-»Verstehst du, wie ich es meine? Damit wir einander ganz kennen lernen,
-müssen wir mal zusammenkommen ... Ein Rendezvous -- verstehst du --
-natürlich zu politischen Zwecken.«
-
-Daria Nikolajewna schwieg wieder. Termosesow seufzte, ließ ihre Hand
-leise los und sagte:
-
-»O ihr Weiber im heiligen Rußland! Und ihr wollt es noch den Polinnen
-gleichtun! Nein, meine Lieben, mit denen nehmt ihr es noch lange nicht
-auf! Gebt den Ismail Termosesow einer Polin, sie würde nicht von ihm
-lassen und in Gemeinschaft mit ihm den Ararat auf den Kopf stellen!«
-
-»Die Polinnen sind ganz was anderes,« sagte Daria Nikolajewna.
-
-»Warum?«
-
-»Sie lieben ihr Vaterland und wir hassen unseres.«
-
-»Was ist denn dabei? Die Feinde der Polinnen sind also alle Feinde der
-Unabhängigkeit Polens und eure Feinde sind alle russischen Patrioten.«
-
-»Das ist wahr.«
-
-»Nun, wer ist also hier dein schlimmster Feind? Nenn ihn mir und du
-sollst sehn, wie er die ganze Schwere der Hand Termosesows spüren wird!«
-
-»Ich habe viele Feinde.«
-
-»Nenn mir die schlimmsten! Die allerschlimmsten!«
-
-»Die schlimmsten sind zwei.«
-
-»Die Namen dieser Unseligen! Die Namen!«
-
-»Der eine ist ... der hiesige Diakon Achilla.«
-
-»Es sterbe der Diakon Achilla!«
-
-»Der andere ist der Propst Tuberozow.«
-
-»Wehe dem Propst Tuberozow!«
-
-»Hinter ihm steht die ganze Stadt, das ganze Volk.«
-
-»Nun, und was tut das? Termosesow kennt die Obrigkeit und fürchtet
-daher keine Stadt und kein Volk.«
-
-»Die Obrigkeit ist nicht sehr gut auf ihn zu sprechen.«
-
-»Nicht gut zu sprechen? Um so leichter kommen wir ihm an den Kragen.
-Jetzt aber merke dir nur folgendes: Gewinn mich lieb und werde mein,
-Herodias!«
-
-Madame Biziukina küßte ihn ohne Bangen.
-
-»Das war ehrlich!« rief Termosesow, und nachdem er sie ausgefragt
-hatte, was sie von ihren Feinden Tuberozow und Achilla zu leiden
-gehabt, drückte er ihr lächelnd die Hand und ging in das Kabinett
-zurück, wo sein Gefährte die ganze Zeit über geblieben war.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-
-Der durchlauchtige Gefährte Termosesows lag in einem weißen Jackett auf
-dem für ihn aufgeschlagenen Bette, hatte die Füße mit einem leichten
-Plaid zugedeckt und schien mit geschlossenen Augen vor sich hin zu
-träumen.
-
-Termosesow wollte sich überzeugen, ob sein Vorgesetzter schlafe oder
-sich bloß schlafend stelle, darum trat er leise an das Bett, beugte
-sich über das Gesicht des Fürsten und nannte ihn beim Namen.
-
-»Schlafen Sie?« fragte er.
-
-»Ja,« antwortete Bornowolokow.
-
-»Was soll das heißen? Wenn Sie mir antworten, können Sie nicht
-schlafen.«
-
-»Ja.«
-
-»Das ist also ein Blödsinn.«
-
-Termosesow begab sich zu dem zweiten Sofa, warf seinen Mantel ab und
-streckte sich ebenfalls aus.
-
-»Während Sie sich hier rekelten, habe ich schon sehr viel geleistet,«
-sagte er, sich zurechtlegend.
-
-Bornowolokow antwortete wieder nichts als »Ja«, es war aber ein ganz
-besonderes Ja, sozusagen ein neugieriges Ja, das eher wie eine Frage
-klang.
-
-»Jawohl, ja! Ich kann sagen, daß ich einige für uns sehr bedeutsame
-Entdeckungen gemacht habe.«
-
-»Mit dieser Dame?«
-
-»Die Dame? Die ist eine Sache für sich. Erinnern Sie sich aber noch,
-was ich Ihnen sagte, als ich Sie in Moskau auf der Sadowaja fing?«
-
-»Ach ja!«
-
-»Ich sagte: ›Eure Durchlaucht, gnädigster Fürst! So geht man mit alten
-Kameraden nicht um, -- daß man sie nämlich fallen läßt. Nur Lumpen
-handeln so.‹ Habe ich Ihnen das gesagt oder nicht?«
-
-»Ja, Sie haben das gesagt.«
-
-»Aha, Sie erinnern sich noch! Nun, dann müssen Sie sich auch noch
-erinnern, wie ich Ihnen meine Gedanken weiter entwickelte und bewies,
-daß Sie als unser heutiger Prinz Egalité nicht das Recht haben, auf
-Ihre Herkunft und Ihre bevorzugte amtliche Stellung zu pochen und über
-uns alte Montagnards, Ihre einstigen Freunde, die Nase zu rümpfen. Ich
-habe Ihnen das alles haarklein auseinandergesetzt.«
-
-»Ja, ja.«
-
-»Schön! Sie verstanden, daß mit mir nicht gut Kirschen essen ist, und
-zeigten sich sehr nachgiebig. Dafür lob' ich Sie. Sie begriffen, daß
-Sie mich nicht so am Wege liegen lassen durften, denn Hunger ist ein
-böser Berater, und einem Hungrigen fällt alles mögliche ein. Termosesow
-hat zudem noch ein vorzügliches Gedächtnis und einen scharfen Riecher.
-Als Sie noch ein feuerroter Umstürzler waren, wußte er schon, daß Sie
-bestimmt mal Kehrt machen würden.«
-
-»Ja.«
-
-»Sie beschlossen, mich als Ihren Sekretär mitzunehmen ... Das heißt,
-um der Wahrheit die Ehre zu geben und Sie nicht durch Schmeichelei
-zu kränken, Sie entschlossen sich nicht selbst dazu, sondern ich
-zwang Sie, mich mitzunehmen. Ich machte Ihnen Angst, ich könnte Ihre
-Korrespondenz mit gewissen Freunden an der Weichsel bekannt geben.«
-
-»Ach!«
-
-»Tut nichts, mein Fürst, seufzen Sie nicht. Was ich Ihnen damals in
-Moskau auf der Sadowaja sagte, als ich Sie am Rockknopf festhielt
-und Sie vor mir davonlaufen wollten, das sag' ich Ihnen auch heute
-wieder: seufzen Sie nicht und jammern Sie nicht, daß Termosesow über
-Sie gekommen ist. Ismail Termosesow wird Ihnen noch einen großen
-Dienst leisten. Sie und Ihre gegenwärtige Partei, in der keine solchen
-Halunken zu finden sind wie Termosesow, sondern viel feinere Kunden,
-gründen Zeitungen und suchen auf diese oder jene Art Fühlung mit dem
-Volk zu gewinnen.«
-
-»Ja.«
-
-»Das wird Ihnen aber nie gelingen.«
-
-»Warum nicht?«
-
-»Weil ihr ungeschickt seid. Die Patrioten erkennen euch sofort an den
-Klauen, packen euch am Schopf und schmeißen euch auf die Gasse hinaus.«
-
-»Hm!«
-
-»Jawohl! Aber laßt ihr die Zeitungen schwimmen und haltet euch an
-Termosesow, so deichselt er euch die ganze Geschichte glänzend. Seien
-Sie mein Märchenprinz Iwan, so will ich Ihr grauer Wolf sein.«
-
-»Ein Wolf sind Sie schon.«
-
-»Das ist es eben. So ein grauer Wolf schafft Ihnen die goldmähnigen
-Rosse und den Feuervogel und die Prinzessin und setzt Sie zu guter
-Letzt auf den Königsthron.«
-
-Und damit sprang der graue Wolf von seiner Lagerstätte auf, lief an das
-Bett seines Prinzen Iwan und sagte leise:
-
-»Rücken Sie mal ein bißchen zur Wand, ich will Ihnen was ins Ohr
-flüstern.«
-
-Bornowolokow gehorchte, und Termosesow setzte sich auf den Bettrand,
-legte seinen Arm um den Fürsten und fing mit leiser Stimme an:
-
-»Versetzen Sie mal der Kirche eins. Da steckt das Gift! Jagt ihren
-Bonzen mal einen heilsamen Schrecken ein.«
-
-»Ich verstehe nichts.«
-
-»Das Christentum macht die Menschen doch gleich, nicht wahr? Es hat
-doch Staatsmänner genug gegeben, die in der Übersetzung der Bibel in
-die Volkssprache eine Gefahr sahen. Nein, das Christentum ... man kann
-es sehr leicht ... wissen Sie, in gefährlichem Sinne auslegen. Und
-solch ein Ausleger kann jeder beliebige Pope sein.«
-
-»Das klingt ganz plausibel.«
-
-»Na also. Danken Sie Ihrem Schicksal, daß es Ihnen Termosesow gesandt
-hat! Ich stelle Ihnen einen Bericht zusammen, daß sogar Ihre Feinde
-Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und Sie für ein administratives
-Genie erklären.«
-
-Termosesow dämpfte die Stimme noch mehr und fuhr fort:
-
-»Erinnern Sie sich noch, wie wir schon hier in der Gouvernementsstadt
-auf dem Heimweg aus dem Klub mit dem Kanzleivorsteher sprachen, und wie
-er einen freisinnigen Popen erwähnte, welcher sogar frech gegen Seine
-Exzellenz geworden sei?«
-
-»Ja.«
-
-»Daran haben Sie natürlich nicht gedacht, daß dieser Pope Tuberozow
-heißt und daß er hier, in dieser Stadt amtiert, wo Sie sich auf dem
-Lotterbette rekeln und nichts über ihn zu melden imstande sein werden.«
-
-Bornowolokow fuhr in die Höhe und fragte, aufrecht auf dem Bette
-sitzend:
-
-»Wie können Sie wissen, was der Kanzleivorsteher mir gesagt hat?«
-
-»Sehr einfach. Ich ging damals leise hinter Ihnen. Es ist gut, wenn
-man Sie immer im Auge behält. Aber das ist jetzt Nebensache. Wir
-müssen unsere Taktik zuerst an diesem Tuberozow erproben und seine
-Gemeingefährlichkeit, wie überhaupt die Gemeingefährlichkeit derartiger
-unabhängiger Charaktere unter den Geistlichen erweisen. So kommen wir
-zu dem logischen Ergebnis, daß die Religion überhaupt nur als ein
-Zweig der Verwaltung geduldet werden kann. Sobald aber der Glaube als
-wirklicher Glaube auftritt, ist er gefährlich und muß eingeschränkt,
-muß unter Kontrolle gestellt werden. Diesen Gedanken werden Sie als
-Erster verkünden, und man wird ihn stets in Verbindung mit Ihrem Namen
-wiederholen, wie man die Gedanken eines Macchiavelli und Metternich
-wiederholt. Sind Sie zufrieden mit mir, mein Herr und Gebieter?«
-
-»Ja.«
-
-»Und geben mir Vollmacht zu handeln?«
-
-»Ja.«
-
-»Wie soll ich dieses Ja verstehen? Heißt das, daß Sie es ebenfalls
-wollen?«
-
-»Ja, ich will es.«
-
-»Also! Manchmal heißt Ihr Ja nämlich zugleich Ja und Nein.«
-
-Termosesow erhob sich vom Bette seines Gebieters und sagte:
-
-»Wir armen Sklaven können nicht lange untätig sein. Uns hat keine
-gütige Fee die Mittel in die Hand gegeben, vom Nihilisten im
-Handumdrehen zum Satrapen zu werden. Ich sorge für Sie, aber auch für
-mich. Ich mag nicht mehr hungern. Wo immer ich mich auch zeige, immer
-heißt's ›ein Roter‹ -- und niemand will mich nehmen.«
-
-»Waschen Sie sich weiß.«
-
-»Wo soll ich die Seife hernehmen?«
-
-»Warum haben Sie sich nicht in Petersburg als Spion gemeldet?«
-
-»Ich hab's versucht,« antwortete Termosesow ungeniert, »aber wir leben
-in einem realistischen Zeitalter: alle einträglichen Stellen waren
-schon besetzt. Man muß sich erst irgendwie bewährt haben, wurde mir
-gesagt.«
-
-»So bewähren Sie sich doch.«
-
-»Geben Sie mir Gelegenheit, zu zeigen, was ich kann. Sonst fang' ich,
-bei Gott, mit Ihnen an.«
-
-»Vieh!« zischte Bornowolokow.
-
-»M--m--m--mu--u--uh!« brummte Termosesow ganz laut.
-
-Bornowolokow sprang auf, faßte sich entsetzt an den Kopf und rief:
-
-»Was soll das noch?«
-
-»Was? Das schwarze Vieh brüllt, weil es fressen will, und es bittet das
-weiße, es etwas höflicher zu behandeln,« sagte Termosesow ruhig.
-
-Bornowolokow knirschte vor Wut mit den Zähnen und drehte sich
-schweigend zur Wand.
-
-»Aha! So ist's schon besser! Zähme deinen Zorn, edler Fürst, und bilde
-dir nicht so viel darauf ein, daß du weiß bist, sonst mal' ich dich
-so schön an, daß du grau-gelb-grün schimmern wirst und im Schatten
-blau mit schwarzen Pünktchen. Vergiß nicht, daß ich dir als Zuchtrute
-mitgegeben bin; ich bin der Dorn in den Blättern deines Kranzes. Trage
-mich mit Ehrfurcht.«
-
-Der gemarterte Bornowolokow unterdrückte einen Seufzer und stellte sich
-schlafend. Der triumphierende Sieger aber schlief wirklich ein.
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
-
-Daria Nikolajewna war mit ihrer gesamten Dienerschaft eifrig bemüht,
-ihren Appartements das frühere Aussehen wiederzugeben. An den Wänden
-reihte sich bald wieder Bild an Bild, vor den Kamin stellte sie einen
-kostbaren Schirm, auf den Kamin selbst eine schwarze Marmoruhr mit
-einem Perpendikel in Gestalt eines Sternes, über die Tische breiteten
-sich neue kostbare Decken; Lampen, Porzellan, Bronzen, Statuetten
-und allerlei Kleinkram bedeckten jeden freien Platz im Salon und
-Schlafzimmer, so daß die Wohnung bald an das Logement einer reichen
-Halbweltdame erinnerte, die sich von ihren Verehrern die unnützesten
-Dinge ohne Sinn und Verstand hatte schenken lassen.
-
-Noch als die Arbeit im besten Gange war, erschien unerwartet der Lehrer
-Prepotenskij und war völlig verblüfft. Natürlich konnte er diesen
-»Schick« nicht billigen. Als aber Daria Nikolajewna, die ihn gar nicht
-beachtete, die Unverschämtheit hatte, den Dienstboten zu befehlen, in
-Gegenwart des Lehrers die Überzüge von den Möbeln abzunehmen, da wurde
-es ihm zu viel, und er fragte:
-
-»Und Sie schämen sich nicht?«
-
-»Ganz und gar nicht.«
-
-»Das ist einfach unverschämt!« rief Prepotenskij, setzte sich in eine
-Ecke und nahm ein neues Buch vor.
-
-In diesem Augenblick hörte man Termosesow im Nebenzimmer husten. Kurz
-entschlossen meinte die Biziukina:
-
-»Gehn Sie raus!«
-
-Das kam so unerwartet, daß sogar Prepotenskij den harten Sinn dieser
-Worte nicht begriff und die Dame ihren Befehl wiederholen mußte.
-
-»Raus?« fragte der verblüffte Lehrer noch einmal.
-
-»Ja. Ich wünsche Sie nicht mehr in meinem Hause zu sehn.«
-
-»Meinen Sie das im Ernst?«
-
-»Vollkommen im Ernst.«
-
-Im Zimmer der Gäste wurde es wieder laut.
-
-»Gehn Sie bitte hinaus, Prepotenskij,« rief die Biziukina ungeduldig.
-»Hören Sie? Hinaus!«
-
-»Aber ich bitte Sie, ich störe doch gar nicht.«
-
-»Doch, Sie stören!«
-
-»Ich kann mich ja bessern.«
-
-»Sie sind unverbesserlich,« widersprach die Hausfrau ungeduldig und
-suchte den Gast von seinem Platze zu vertreiben.
-
-Allein auch Prepotenskij zeigte sich als Mann von Charakter und
-verlangte ruhig, aber fest eine Erklärung, warum sie ihn für
-unverbesserlich halte.
-
-»Weil Sie ein kompletter Esel sind!« schrie endlich die Biziukina ganz
-außer sich.
-
-»Ah, das ist etwas anderes,« sagte Prepotenskij aufstehend. »In diesem
-Falle bitte ich nur um Rückgabe meiner Knochen.«
-
-»Fragen Sie Jermoschka danach. Ich hab' ihm befohlen, sie
-hinauszuwerfen.«
-
-»Hinauszuwerfen!« schrie der Lehrer und stürzte in die Küche. Als er
-nach einer halben Stunde zurückkam, war Daria Nikolajewna bereits in
-einer so blendenden Toilette, daß der Lehrer, als er sie erblickte,
-sich am Ofen festhalten mußte, um nicht umzufallen.
-
-»Ah, Sie sind noch nicht fort?« fragte sie streng.
-
-»Nein, ich bin nicht gegangen und kann nicht gehn ... denn Ihr
-Jermoschka ...«
-
-»Nun?«
-
-»Er hat die Knochen an einen Ort geworfen, daß für mich keine Hoffnung
-mehr ...«
-
-»O, ich sehe, Sie wollen hier noch lange predigen!« rief die Biziukina
-in wildem Zorn, packte den Lehrer bei den Schultern und stieß ihn ins
-Vorzimmer. In demselben Augenblick ging die Tür des Kabinetts auf und
-Termosesow erschien auf der Schwelle.
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
-
-»Bah! Bah! Bah! Was bedeutet denn das?« fragte er die Biziukina und
-rieb sich die verschlafenen Augen.
-
-»Ach, gar nichts, das ist ... ein dummer Mensch, der früher bei uns
-verkehrte,« antwortete sie und ließ den Lehrer los.
-
-»Weshalb soll er denn jetzt hinausgeworfen werden? Was hat er denn
-getan?«
-
-»Nichts, gar nichts,« sagte Prepotenskij.
-
-Termosesow sah ihn an und fragte:
-
-»Wer sind Sie denn?«
-
-»Der Lehrer Prepotenskij.«
-
-»Wodurch haben Sie die Dame verletzt?«
-
-»Durch nichts, durch gar nichts.«
-
-»So kommen Sie her, ich will Sie versöhnen.«
-
-Prepotenskij kam sofort zurück.
-
-»Weshalb nennen Sie ihn eigentlich dumm?« fragte Termosesow die
-Hausfrau und hielt dabei den Lehrer an beiden Händen fest. »Ich kann es
-nicht finden.«
-
-»Ja, versteht sich, Sie können mir glauben, ich bin gar nicht dumm,«
-sagte Warnawa lächelnd.
-
-»Ganz richtig, und das Verhalten unserer Frau Wirtin Ihnen gegenüber
-kann ich nicht billigen. Aber zum Zeichen der Versöhnung soll sie uns
-Tee geben. Ich trinke gern ein Glas Tee, wenn ich geschlafen habe.«
-
-Daria Nikolajewna ging hinaus, um den Tee zu bestellen.
-
-»Na, und Sie, Herr Lehrer, nehmen Sie Platz und plaudern wir ein
-bißchen. Ich sehe, Sie sind ein guter Kerl, mit dem sich leben
-läßt,« begann Termosesow, als er mit Warnawa allein war, der ihn in
-fünf Minuten in sein ganzes trauriges Schicksal daheim und draußen
-eingeweiht hatte. Nichts wurde vergessen, weder die Mutter, noch die
-Totengebeine, noch Achilla, noch Tuberozow, bei dessen Namen Termosesow
-seine Aufmerksamkeit verdoppelte. Endlich erzählte der Lehrer auch noch
-von der Vormittagsschlacht des Diakons mit dem Kommissar Danilka.
-
-Bei diesem Bericht räusperte sich Termosesow, klopfte Prepotenskij auf
-das Knie und sagte leise:
-
-»Also, Herr Professor, ich beauftrage Sie hiermit, mir morgen früh
-diesen Kleinbürger unbedingt herbeizuschaffen.«
-
-»Den Danilka?«
-
-»Ja, den der Diakon beleidigt hat.«
-
-»Das ist ja eine Kleinigkeit.«
-
-»Also her mit ihm!«
-
-»Morgen in aller Frühe ist er hier.«
-
-»Recht so. Sie sind ein Prachtkerl, Prepotenskij!« lobte ihn
-Termosesow, und da in diesem Augenblick die Hausfrau wieder eintrat,
-wandte er sich an sie: »Hören Sie, er gefällt mir ausnehmend, und wenn
-er mich mit dem Popen Tuberozow bekannt macht, so nenn' ich ihn einen
-ganz klugen Kopf.«
-
-»Ich kann ihn nicht ausstehn und rate Ihnen nicht, seine Bekanntschaft
-zu machen,« stammelte Warnawa, »wenn Sie es aber für nötig halten ...«
-
-»Es ist sehr nötig, lieber Freund.«
-
-»Dann kommen Sie heute mit zum Abendessen beim Polizeichef, dort lernen
-Sie unsere ganze Gesellschaft kennen.«
-
-»Schön. Ich geh überall hin. Aber ich muß doch eingeladen sein.«
-
-»Ach, das ist ganz leicht zu machen,« fiel ihm der Lehrer ins Wort.
-»Ich werde sofort zum Polizeichef gehen und ihm im Namen von Daria
-Nikolajewna mitteilen, sie bäte um Erlaubnis, abends ihren Petersburger
-Gast mitzubringen.«
-
-»Prepotenskij, komm in meine Arme!« rief Termosesow, und als der
-Lehrer aufstand und auf ihn zuging, küßte er ihn. Dann drehte er ihn
-linksherum und sagte: »Geh und handle!«
-
-Stolz und seines Ruhmes nun völlig sicher, nahm Warnawa seine Mütze
-und ging. Nach einer Stunde, die Termosesow dazu benutzt hatte, der
-Biziukina klarzumachen, daß man keinen Dummkopf merken lassen dürfe,
-für wie dumm man ihn halte, kam der Lehrer mit der Botschaft zurück,
-Porochontzews wären sehr erfreut, die Herrschaften heute abend bei sich
-zu sehen.
-
-»Und was den Kleinbürger Danilka betrifft, den Sie kennen lernen
-wollten,« fügte er endlich hinzu, »so habe ich ihn bereits ausfindig
-gemacht. Er steht draußen vor dem Tor.«
-
-Termosesow belobte Warnawa nochmals für seine Findigkeit, stand auf
-und bat den Lehrer, ihn an irgendeinen stillen Ort zu führen, wo er
-ungestört mit Danilka reden könne.
-
-Prepotenskij führte Ismail Petrowitsch in die leere Kanzlei des
-Akziseeinnehmers und stellte ihm dort den Kommissar vor.
-
-»Guten Tag, Bürger,« begrüßte ihn Termosesow. »Wie hat Sie der hiesige
-Diakon neulich morgens beleidigt?«
-
-»Er hat mich gar nicht beleidigt.«
-
-»Gar nicht? Sagen Sie mir alles frei und offen, wie dem Popen in der
-Beichte, denn ich bin ein Freund des Volkes, kein Feind. Der Diakon
-Achilla hat Sie gekränkt?«
-
-»Nein, er hat mich nicht gekränkt. Wir haben das schon unter uns
-erledigt.«
-
-»Wie kann man das erledigen? Er hat Sie doch am Ohr durch die Stadt
-gezerrt!«
-
-»Was ist denn dabei? Das sind ja nur Dummheiten.«
-
-»Wieso Dummheiten? Eine Beleidigung ist es. Bedenken Sie, Bürger, er
-hat Sie am Ohr gerissen!«
-
-»Es war aber doch nur Scherz. Darin finden wir keine Beleidigung.«
-
-»Wie, Bürger? Ist es möglich, so etwas nicht als Beleidigung anzusehen?
-Er soll es doch vor allem Volke getan haben!«
-
-»Ja freilich.«
-
-»Da müssen Sie doch eine Klage einreichen.«
-
-»Wem denn?«
-
-»Nun, dem Fürsten, der mit mir gekommen ist.«
-
-»Schon recht.«
-
-»Also wollen Sie klagen oder nicht?«
-
-»Worauf soll ich denn klagen?«
-
-»Er kann zu hundert Rubel Strafe verurteilt werden.«
-
-»Das stimmt.«
-
-»Sie sind also einverstanden. So ist's recht, Prepotenskij! Setz dich
-und schreib, was ich dir diktieren werde.«
-
-Und Termosesow diktierte eine Beschwerde an Bornowolokow, kurz, aber
-gehaltvoll; auch der Propst war darin nicht vergessen: er hätte der
-Lynchjustiz des Diakons Vorschub geleistet und dem Kläger sogar gesagt,
-daß die ihm zuerteilte Lektion wohlverdient gewesen.
-
-»Nun unterzeichne, Bürger!« Und Termosesow stopfte Danilka die Feder
-gewaltsam in die Hand, aber der »Bürger« erklärte plötzlich, er wolle
-nicht unterschreiben.
-
-»Was? Sie wollen nicht?«
-
-»Nein, ich bin damit nicht einverstanden.«
-
-»Was soll das heißen? Teufel noch einmal! Erst schweigst du, und
-nachdem man dir die Beschwerde gratis aufgesetzt hat, willst du nicht
-unterschreiben!«
-
-»Nein, ich will nicht.«
-
-»Man soll dir wohl noch einen Rubel geben, damit du unterschreibst? Das
-ist zu viel verlangt, mein Lieber. Sofort unterschreibst du!«
-
-Termosesow packte den Widerspenstigen wütend beim Kragen und zerrte ihn
-zum Tisch.
-
-»Ich ... wie es Eurer Gnaden gefällt ..., aber ich unterschreibe
-nicht,« stotterte der Kleinbürger und ließ die Feder absichtlich fallen.
-
-»Ich will dich lehren! Wie's Eurer Gnaden gefällt! Und wenn es mir nun
-gefällt, deiner Gnaden ein Dutzend mal in die Fresse zu hauen?«
-
-Der Bürger fuhr entsetzt zurück und stammelte:
-
-»Euer Hochwohlgeboren, erbarmen Sie sich, zwingen Sie mich nicht! Meine
-Klage wird doch zu nichts führen!«
-
-»Warum nicht?«
-
-»Ich hab' schon einmal klagen wollen, als der fürstliche Verwalter
-Glitsch mich mit Nesseln auspeitschen ließ, weil ich auf die Wette des
-Polizeichefs hin sein Pferd stehlen wollte. Damals rieten alle mir ab.
-Klage nicht, Danilka, sagten sie, denn dann kommt es zu einer großen
-Untersuchung, und dann sagen wir alle, daß du längst schon in Sibirien
-sein müßtest. Ja, und ich kannte mich selber zu gut, um zu wissen, daß
-ich kein Recht mehr habe, meine Ehre zu verteidigen.«
-
-»Wie du über deine Ehre denkst, das kommt hier gar nicht in Betracht.«
-
-»Und die hiesigen Herren Beamten wissen auch ...«
-
-»Deine hiesigen Herren Beamten mögen wissen, was sie wollen, wir sind
-aber keine hiesigen, wir sind aus Petersburg. Verstehst du das? Aus der
-Residenz, aus Petersburg! Und ich befehle dir: sofort unterschreibst
-du, du gottverdammtes Luder, ohne alle Widerrede, sonst ... sonst
-fliegst du auch ohne Untersuchung nach Sibirien.«
-
-Und der bärenstarke Termosesow drückte mit der Rechten die Hand und mit
-der Linken die Kehle des Kommissars so kräftig zusammen, daß Danilka im
-Nu rot wurde, wie ein gekochter Krebs, und kaum noch hörbar röchelte:
-
-»Um Gottes willen, lassen Sie mich los! Ich unterschreibe ja alles!«
-
-Ächzend und hustend setzte er seine Krakelfüße unter das Gesuch.
-
-Termosesow steckte das Papier in die Tasche, hielt Danilka die Faust
-unter die Nase und sagte drohend:
-
-»Bürger, wenn du dich irgendwie vor der Zeit verplapperst, daß du dich
-beschwert hast ...«
-
-Danilka, der immer noch hustete, machte nur eine abwehrende Bewegung
-mit der ganz erstarrten Hand.
-
-»... Dann schlag ich dir die ganze Fratze zu Brei, multipliziere die
-Wangen, subtrahiere die Nase und verwandle die Zähne in Brüche!«
-
-Der Kleinbürger winkte mit beiden Händen ab.
-
-»Jetzt hast du aber genug gekrächzt! ~Allez, marchez~ zur Tür hinaus!«
-kommandierte Termosesow, schob den Haken von der Tür zurück und gab
-Danilka auf der Schwelle einen so kräftigen Stoß, daß er über den an
-das Haus angebauten Hühnerstall hinwegflog und auf den warmen Rasen zu
-sitzen kam. Er sah sich nur noch einmal um, spuckte aus und rollte dann
-auf allen vieren zum Tor hinaus. Er hustete nicht einmal mehr.
-
-Prepotenskij war von dieser Kraftprobe so entzückt, daß er laut
-applaudierte.
-
-»Was fällt dir ein?« fragte Termosesow.
-
-»Sie sind stärker als Achilla! Jetzt brauch' ich ihn nicht mehr zu
-fürchten!«
-
-»Das brauchst du auch nicht.«
-
-
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-Drittes Buch.
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-Erstes Kapitel.
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-Als Termosesow und seine Genossen beim Polizeichef erschienen,
-hatte Tuberozow schon eine Stunde abseits von den übrigen Gästen
-mit dem Adelsmarschall Tuganow geplaudert. Der alte Propst brachte
-dem vornehmen Gaste wieder all die Klagen vor, welche wir in seinem
-Tagebuche gelesen haben, -- und erhielt die alten Scherzworte zur
-Antwort.
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-»Was soll aus dieser Zerrüttung noch werden?« fragte der Propst und
-runzelte die Brauen. Der Adelsmarschall aber erwiderte ihm lachend:
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-»Wer kann wissen, was noch werden wird, mein Lieber?«
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-»Ohne Ideale, ohne Glauben, ohne Achtung vor den Taten der großen
-Vorfahren ... Das ... das muß Rußland zugrunde richten.«
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-»Nun, wenn es zugrunde gehen soll, wird es eben zugrunde gehen,« sagte
-Tuganow gleichgültig und stand auf. »Aber weißt du, -- gehen wir wieder
-zu den Gästen. Unser Gespräch führt doch zu nichts. Du bist ein Maniak.«
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-Der Propst trat einen Schritt zurück und sagte gekränkt:
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-»Wieso bin ich ein Maniak?«
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-»Was drängst du dich den Leuten auf und läßt niemand seine Ruhe? Ideal!
-Glauben! Was soll man tun, guter Freund, wenn die Zeit dafür vorüber
-ist?«
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-Tuberozow lächelte, seufzte leise und antwortete, nicht die Zeit des
-Glaubens und der Ideale sei vorüber, sondern die Zeit der +Worte+.
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-»Nun, so vollbringe +Taten+, Freund.«
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-»Auch Taten sind noch nicht genug.«
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-»Was brauchen wir denn?«
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-»Großtaten.«
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-»So vollbringe Großtaten. Aber in welcher Art?«
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-»Im Geiste der Kraft, im Wehen des Sturmes. Daß die, so das Feuer
-löschen wollen, selber von der Flamme ergriffen werden.«
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-»Ja, ja, du willst wieder streiten. Halt lieber Frieden, Vater.«
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-»Parmen Nikolajewitsch, ich höre so viel von diesem Frieden reden.
-Aber wie soll man Frieden schließen mit einem, der gar nicht um Pardon
-bittet? So ein Frieden taugt nicht viel, und unsere Altvordern sagten
-nicht umsonst: ›Eh du den Gevatter nicht verprügelt hast, kannst du ihm
-keinen Friedenstrunk reichen‹.«
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-»Ohne Prügel geht's bei ihm nicht.«
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-»Gewiß nicht, Freund.«
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-»Du bist noch der richtige Seminarist.«
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-»Ich will auch gar nicht den großen Herrn spielen.«
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-»Sag mal, willst du durchaus leiden? Das tut man nicht einer
-Kleinigkeit wegen. Spare deine Kräfte für eine bessere Sache.«
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-»Sparsame Leute gibt es ohne mich genug. Ich muß meine Pflicht
-erfüllen.«
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-»Der letzte wäre ich, der dich abhielte, deine Pflicht zu erfüllen,
-wie dein Gewissen sie dir vorschreibt. Geh hin und versuch es, die
-Schamlosen zu beschämen. Wenn du es kannst, heißest du Hans. Aber jetzt
-laß uns zu den Gastgebern gehen. Ich muß bald fort.«
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-Der Propst folgte ihm. Er versuchte sich zusammenzunehmen, war aber
-sehr entmutigt. Er hatte etwas ganz anderes von dieser Zusammenkunft
-erwartet, ohne sich wohl selbst sagen zu können, was eigentlich.
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-Zweites Kapitel.
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-Die beiden alten Herren saßen schon in dem kleinen Wohnzimmer, als die
-Hausfrau Warnawa und Termosesow hineinführte. Die Mehrzahl der andern
-Gäste befand sich im Saal. Man plauderte, spielte Klavier und versuchte
-zu singen. Die Biziukina, welche sich sonst überall zu Hause fühlte,
-hatte nicht den Mut, ihren Kavalieren ins Wohnzimmer zu folgen; da ihr
-andererseits die Gesellschaft der Damen nicht sympathisch war, nahm sie
-nahe der Tür Platz.
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-Das Wohnzimmer war ein schmaler Raum. Auf dem Sofa vor dem Tisch saßen
-Tuganow und Tuberozow, während der sanfte Benefaktow, Darjanow und
-der Kreisadelsmarschall Plodomasow auf Stühlen Platz genommen hatten.
-Achilla stand hinter einem leeren Sessel und stützte die Hand auf
-die Lehne. Die Biziukina bemerkte, wie Termosesow das Zimmer betrat,
-sich höchst ehrerbietig verneigte, und -- was wohl keiner für möglich
-gehalten hatte -- plötzlich auf Tuberozow zuschritt und um seinen
-Segen bat. Am meisten erstaunt darüber war wohl Vater Sawelij selbst.
-Er wußte im ersten Augenblick nicht recht, was er tun sollte, und als
-er dem Gast den erbetenen Segen erteilte, sah man ihm die Verwirrung
-deutlich an. Als Termosesow aber seine Hand küssen wollte, verlor
-der Propst so vollkommen die Fassung, daß er mit einer schnellen,
-energischen Bewegung Termosesows Hand nach unten zog und so fest
-drückte und schüttelte, als wäre es die Hand seines besten Freundes.
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-Termosesow bat auch Zacharia um seinen Segen, und der sanfte Benefaktow
-erwies sich diesmal findiger als Tuberozow. Er erteilte dem Gast nicht
-nur den Segen, sondern schob auch ganz ungeniert sein gelbes Händchen
-an den Mund des Abenteurers.
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-Einmal im Zuge, ging Termosesow nun noch auf Achilla zu, um sich von
-ihm auch segnen zu lassen. Aber dieser machte einen gewandten Kratzfuß
-und meinte:
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-»Ich bin bloß Diakon.«
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-Hierauf drückten sie einander die Hände und Achilla lud Termosesow
-ein, es sich in dem Lehnsessel, hinter dem er stand, bequem zu machen.
-Termosesow jedoch lehnte diese Ehre höflich ab und setzte sich auf
-den zunächst stehenden Stuhl, während Prepotenskij, den hergebrachten
-Anschauungen seiner »Richtung« treu bleibend, sich möglichst weit
-entfernte, um gegenüber der weitgeöffneten Saaltür Platz zu nehmen.
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-Hiermit wollte er erstens andeuten, daß er mit der Gesellschaft im
-Wohnzimmer nichts gemein habe, und dann konnte er von seinem Platz
-aus die Biziukina sehen, welche alles hören sollte, was er sagte. Der
-Lehrer empfand die dringende Notwendigkeit, sein Ansehen wieder zu
-heben, welches durch das Erscheinen Termosesows stark beeinträchtigt
-worden war, und wartete auf eine günstige Gelegenheit, Streit vom
-Zaun zu brechen und der Biziukina, wenn auch nicht die Überlegenheit
-seines Geistes, so doch wenigstens die Reinheit seiner Überzeugung zu
-beweisen. Und da derjenige, welcher Streit sucht, in jedem Wort einen
-willkommenen Anlaß erblickt, so brauchte Warnawa auch nicht lange in
-Schweigen zu verharren.
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-Drittes Kapitel.
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-Beim Eintreten der neuen Gäste erzählte der Adelsmarschall Plodomasow
-dem Propst gerade von den jüngsten Reformen im Kirchenwesen.
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-»Seine Eminenz ist ein Mann von großen Geistesgaben,« meinte der Propst.
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-»Und auch ein großer Humorist,« bemerkte Tuganow. »Wir haben hier einen
-ungeheuer arroganten Gendarmenoffizier, der sich einbildet, alles zu
-können.«
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-»Das ist immer so, die Gendarmen können alles,« fiel Prepotenskij ein,
-ohne daß man auf ihn achtete.
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-»Dieses Herrchen hatte in Erfahrung gebracht,« fuhr Tuganow fort, »daß
-bei unserm Bischof noch nie jemand zu Mittag gespeist hätte, -- und
-wettete im Klub mit dem Polizeimeister, er werde schon mal bei dem
-Alten essen. Ausgerechnet muß der Bischof Wind davon bekommen.«
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-»O weh, o weh!« sagte Zacharia gedehnt.
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-»Besagter Kavallerist macht also Seiner Eminenz seinen Besuch am frühem
-Morgen und geht einfach nicht fort. Als es bereits sechs Uhr vorüber
-ist, kann er's natürlich vor Hunger nicht mehr aushalten und will sich
-verabschieden. Aber der schweigsame Bischof, der ihm die ganze Zeit
-zugehört hatte, ohne selbst zu reden, meinte sehr freundlich: ›Wollen
-Sie nicht zum Essen bleiben?‹ Na, denkt er, die Wette ist gewonnen!
-Aber der Bischof ließ ihn noch eine Stunde hungern, ehe es zu Tische
-geht.«
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-»Das war doch unnütz,« warf Zacharia ein, »ganz unnütz.«
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-»Warten Sie nur. Sie treten also ins Eßzimmer ein. Der Bischof bleibt
-vor dem Gottesbilde stehen und beginnt zu beten, -- ein Gebet, dann
-noch eins, und ein drittes. -- Es vergeht wieder eine ganze Stunde und
-der hungrige Gast ist fast dem Verenden nahe. ›So, nun kann das Essen
-aufgetragen werden,‹ sagt Eminenz endlich. Und zwei winzige Teller
-mit Erbsensuppe und Zwieback werden gebracht. Als sie verzehrt sind,
-erhebt sich der Bischof wieder und sagt: ›Danken wir jetzt dem Herrn,
-der uns gesättigt hat.‹ Das ward dem Kriegsmann denn doch zu viel, und
-während der Bischof betete, schlich er sich unbemerkt aus dem Zimmer.
-Der Alte erzählte es mir gestern: ›Dieser Geist läßt sich durch nichts
-austreiben, es sei denn durch Beten und Fasten,‹ schloß er.«
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-»Er ist ein Mann von Geist und von feinem und angenehmem Benehmen,«
-sagte Tuberozow, dem diese Anekdötchen wenig Freude zu machen schienen.
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-»Ja, aber er klagt und jammert auch, es gäbe keine Leute. ›Wir fahren
-über ein tiefes Meer,‹ sagt er, ›auf schwankem Schiff mit trunkenen
-Matrosen. Gott bewahre uns vor einem Sturm.‹«
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-»Ein bitteres Wort,« warf Tuberozow ein.
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-»Übrigens,« begann Tuganow von neuem, »meinte er, Euere Stadt mache ihm
-keine Sorgen. ›Ich habe dort zwei Popen,‹ bemerkte er, ›der eine ist
-klug und der andere fromm.‹«
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-»Der Kluge ist Vater Sawelij,« bestätigte Zacharia.
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-»Wieso meint Ihr, daß gerade Vater Sawelij der Kluge sei?«
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-»Weil ... weil er weise ist,« erwiderte Zacharia verlegen.
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-»Und Vater Zacharia ist in die zweite Reihe gerückt,« fiel der Diakon
-ein.
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-Tuberozow sah mit einem mißbilligenden Kopfschütteln zu ihm hinüber.
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-Um seine Taktlosigkeit wieder gut zu machen, fuhr Achilla schnell fort:
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-»Seine Eminenz haben den Vater Zacharia fromm genannt, weil sich noch
-nie jemand über den Vater Zacharia beschwerte.«
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-»Ja, beschwert hat sich noch niemand,« seufzte Zacharia.
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-»Der Vater Sawelij aber ist ein unruhiger Kopf,« scherzte Tuganow.
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-Dieser Augenblick erschien dem Lehrer willkommen, und er warf
-schnell ein, die unruhigen Köpfe unter der Geistlichkeit seien
-die Denunzianten; das religiöse Gewissen aber müsse frei sein.
-Unvorsichtigerweise antwortete Tuganow darauf, Gewissensfreiheit sei
-allerdings notwendig und es sei sehr zu bedauern, daß man sie in
-Rußland noch nicht habe.
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-»Ja, und unsere arme Kirche wird deshalb von allen Seiten mit
-unverdienten Vorwürfen überschüttet,« fügte Tuberozow hinzu.
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-»Worüber habt Ihr Euch denn zu beklagen?« fiel ihm Prepotenskij lebhaft
-ins Wort.
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-»Wir beklagen uns über die Unduldsamkeit,« erwiderte Tuberozow trocken.
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-»Ihr leidet darunter ja nicht.«
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-»O doch. Bitter leiden wir. Ihr predigt laut und frei, den Glauben
-solle man abschaffen, und es geschieht euch nichts dafür. Wenn aber wir
-auch nur ganz leise sagen, es wäre besser, eure Lehren würden nicht
-überall verkündigt, so ...«
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-»Ach -- so meint Ihr das!« unterbrach ihn der Lehrer. »Ihr wollt gegen
-uns hetzen, damit man uns den Garaus macht.«
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-»Nein, Ihr wollt uns den Garaus machen.«
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-Prepotenskij wußte nicht, was er antworten sollte. Leugnen wollte er es
-nicht, fürchtete sich jedoch, es einfach zuzugeben. Tuganow half ihm
-aus der Schwierigkeit und erklärte, der Vater Propst sei nur ungehalten
-darüber, daß es Leute gebe, die es sich zur Aufgabe machten, schlichte
-Herzen um ihren Glauben zu bringen.
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-»Am meisten aber bekümmert mich, daß es ihnen gelingt, weil man ihnen
-Vorschub leistet.«
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-Prepotenskij lächelte.
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-»Es gelingt,« sagte er, »weil der Glaube ein Luxus ist, der dem Volk
-sehr teuer zu stehen kommt.«
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-»Wohl nicht teurer als der Suff,« sagte Tuganow kühl.
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-»Ja, aber die neuen Menschen,« -- fing der Lehrer wieder an.
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-»Taugen nichts, und eben deshalb ist der Teufel los.«
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-»Weil die Spione ihnen ins Handwerk pfuschen.«
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-»Ach wo! Einfach Halunken sind es.«
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-»Halunken?«
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-»Jawohl. Immer noch, wenn es irgendwo eine Gärung gegeben hat, haben
-sich zu guter Letzt Halunken der Bewegung bemächtigt, weil sich im
-Trüben gut fischen läßt. Da hat man sich bei uns so lange mit diesen
-... Nihilisten -- so heißen sie doch wohl -- geplagt. Erst schlug sich
-die Regierung mit ihnen herum, Gesellschaft und Presse sind heute noch
-nicht mit ihnen fertig geworden, -- Schluß mit ihnen machen werden aber
-die Halunken, die sich ihnen zum Schein anschließen, um ihnen später
-den Hals umzudrehen, und dann kommt die große Wendung der Dinge.«
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-Prepotenskij warf einen ängstlichen Blick auf die Biziukina. Es
-verwirrte ihn, daß Tuganow seine kühnen Tiraden so einfach in nichts
-auflöste, wie der Frühlingsnebel die Schneeflecken auf dem Felde
-verschlingt. Warnawa suchte Hilfe und wandte seine Blicke deshalb
-Termosesow zu, welcher aber nicht zu ihm hinüberschaute. Der Diakon
-Achilla, der schon lange vergeblich versuchte, dem Lehrer durch Zeichen
-zu verstehen zu geben, daß er schweigen solle, rief jetzt laut:
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-»Halt den Mund, Warnawa Wasiljewitsch, es ist langweilig!«
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-Der Lehrer geriet in Wut, besonders als auch Tuganow sich von ihm
-abgewandt hatte. Er wollte deshalb die Bombe zum Platzen bringen.
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-
-Viertes Kapitel.
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-Prepotenskij sprang von seinem Platz auf und lief auf Tuganow zu, der
-sich wieder mit dem Propst unterhielt.
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-»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche ... Aber ich ... ich stehe
-für die Freiheit.«
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-»Ich auch,« sagte Tuganow und neigte sich wieder zum Propst.
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-»Lassen Sie mich doch ausreden!« rief der Lehrer.
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-Nun wandte sich Tuganow ihm zu.
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-»Wissen Sie, daß die Freiheit nicht gegeben wird, sondern genommen?«
-fragte Warnawa.
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-»Nun und --?«
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-»Wer soll sie denn nehmen, wenn die neuen Menschen nichts taugen?«
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-»Die Entwicklung der Dinge wird sie nehmen.«
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-»Also wird sie doch genommen und nicht gegeben. Ich habe recht. Ich
-sagte es: sie wird genommen werden.«
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-»Das sagt man dir doch auch!« rief ihm Achilla zu.
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-»Aber das ist doch meine Meinung: sie wird genommen werden!«
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-»Hat denn jemand etwas anderes gesagt? Parmen Semenowitsch spricht ja
-die ganze Zeit davon,« unterstützte plötzlich Termosesow den Diakon und
-suchte dabei den Namen Tuganows möglichst deutlich und im herzlichsten
-Ton auszusprechen.
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-»Für mich wird's aber Zeit,« sagte Tuganow leise und erhob sich, um in
-den Saal zu gehen, aber der Lehrer überfiel ihn von neuem.
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-»Noch ein Wort,« drängte er. »Mir scheint, es ist Ihnen unangenehm, daß
-jetzt alle gleich sind.«
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-»Nein, es tut mir leid, daß nicht alle gleich sind.«
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-Prepotenskij stockte einen Augenblick. Dann sprach er:
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-»Das ist doch eine Tatsache, alle müssen gleich sein.«
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-»Parmen Semenowitsch sagt Ihnen das ja: alle müssen gleich sein,«
-mischte sich nun Termosesow hinein, der neben Tuganow getreten war und
-den Lehrer von ihm fortzudrängen sich bemühte.
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-»Aber erlauben Sie,« -- er suchte von der andern Seite heranzukommen,
-wo ihm aber Achilla den Weg vertrat.
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-»Laß doch,« sagte er, »du redest doch bloß dummes Zeug.«
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-»Erlauben Sie, seien Sie so gut,« wehrte sich Prepotenskij und
-versuchte nun einen Frontangriff. »Ich meine bloß: Ihnen gefällt es
-wohl in England, weil da die Lords sind ... Sie sind unzufrieden, daß
-die Standesprivilegien aufgehoben sind?«
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-»Sind sie das?«
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-»Geh weg, du weißt nichts,« stieß Achilla den Lehrer zur Seite, aber
-dieser lief noch einmal um Tuganow herum und versuchte einen zweiten
-Frontangriff.
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-»Über jedes Ding kann man verschiedene Meinungen haben.«
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-»Was wollen Sie eigentlich von mir?« rief Tuganow lachend.
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-»Ich meine, man kann verschieden urteilen.«
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-»Bloß, daß ein Urteil vernünftig ist und das andere dumm,« mischte sich
-Termosesow wieder hinein.
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-»Sagen wir lieber: gerecht und ungerecht,« bemerkte Tuganow in
-versöhnlichem Tone.
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-»Auch Gott kennt nur eine Wahrheit,« rief der Diakon.
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-»Zwischen zwei Punkten kann man nur eine gerade Linie ziehen,« sagte
-Termosesow.
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-Prepotenskij geriet außer sich.
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-»Was ist denn das? So kann man ja gar nicht reden!« rief er. »Ich bin
-allein unter lauter Kriechern und Heuchlern. Da habt ihr leichtes
-Spiel. Ich weiß nur eines: ich achte nichts Althergebrachtes.«
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-»Das eben ist althergebracht. Wann hat man bei uns je Achtung vor der
-Geschichte gehabt?«
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-»Weißt du was? Sei jetzt ganz still, du Schaf,« sagte Achilla in
-freundschaftlichstem Tone. Die Biziukina wandte sich verächtlich vom
-Lehrer ab, Termosesow versuchte noch einmal, ihn zur Seite zu schieben
-und trat ihm dabei auf den Fuß, so daß der Lehrer, der sich in der
-Aufregung leicht versprach, laut aufschrie:
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-»Au! Sie haben mir auf mein liebstes Hühnerauge getreten!«
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-Das »liebste Hühnerauge« rief ein schallendes Gelächter hervor, während
-dessen sich Tuganow von der Hausfrau verabschiedete.
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-Schellen erklangen und ein Sechsgespann frischer Postpferde fuhr den
-Tuganowschen Reisewagen vor das Haus. Wenn Prepotenskij sich noch
-rehabilitieren wollte, mußte es sofort geschehen, hastig riß er sich
-von Achilla und Termosesow los, die ihn festhalten wollten, und hüpfte
-auf seinem »liebsten Hühnerauge« zu Tuganow, indem er rief:
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-»Und ich werde doch immer weiter gegen den Adel und für das Naturrecht
-kämpfen.«
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-Tuganow drehte sich in der Tür um und sagte zu Warnawa:
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-»Die natürlichste Lebensform ist doch ... das Leben der Pferde da, die
-mich gleich fortschaffen sollen. Aber sehn Sie, man spannt sie vor den
-Wagen, damit sie einen Edelmann ziehen.«
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-»Und wird sie unterwegs noch mit der Peitsche bearbeiten, daß sie fixer
-vorwärts kommen,« fiel der Diakon ein.
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-»Das Vieh wird immer geschlagen,« pflichtete Termosesow ihm bei.
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-»Wieder fallen alle über einen her!« schrie der Lehrer, »aber ich lasse
-nicht ab!«
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-»Dann bist du also ein Stänker,« sagte Achilla.
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-»Du rufst den Abgrund gegen den Abgrund auf,« bemerkte Zacharia.
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-»Wißt Ihr denn, was das heißt: der Abgrund ruft den Abgrund herbei?«
-erwiderte Warnawa voller Wut. »Das heißt: ein Pope ladet den andern zu
-Besuch!«
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-Diese Äußerung erregte ein helles Gelächter, das durch den Saal
-ertönte. Nur Tuberozow zog die Brauen zornig zusammen, riß krampfhaft
-an dem Bande seines Brustkreuzes und ging in das Wohnzimmer zurück.
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-»Der Alte ist ganz zum Maniak geworden,« sagte Tuganow, ihm
-nachblickend.
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-»Leider Gottes. Er liest die Zeitungen und regt sich auf und klagt und
-seufzt und kann über nichts mehr ruhig sprechen,« antwortete Darjanow.
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-»Er hört uns,« flüsterte Achilla leise.
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-Sawelij hatte wirklich alles gehört ...
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-Warnawa fühlte sich wieder. Er glaubte durch seinen Witz mit dem
-Abgrund seine Chancen bedeutend gebessert zu haben, und das gab ihm den
-Mut, dem Propst ganz unvermittelt nachzulaufen, ihn am Ärmel zu fassen
-und zu sagen:
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-»Ich möchte Euch etwas fragen: vorgestern war ich in der Kirche und
-hörte, wie ein Priester plötzlich das Wort ›Schafskopf‹ aussprach. Was
-hat der Klerus zu singen, wenn der Priester ›Schafskopf‹ ruft?«
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-»Der Klerus singt dreimal: ›Ist der Lehrer Prepotenskij‹,« erwiderte
-Sawelij.
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-Ob dieser unerwarteten Antwort waren alle einen Augenblick ganz
-verblüfft und brachen gleich darauf in ein dröhnendes Gelächter aus.
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-Prepotenskij hatte das Spiel verloren.
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-Fünftes Kapitel.
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-Je tiefer der Stern des Lehrers sank, desto höher stieg derjenige
-Termosesows. Spielend gewann er die Gunst der gesamten Weiblichkeit;
-der Frau Postmeisterin machte er geradezu den Hof, und zwar in
-einer Weise, die dem Lehrer aufs äußerste mißfiel; denn Termosesow
-huldigte ihr nicht als Dame, sondern gewissermaßen als Vertreterin der
-Staatsgewalt.
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-Beim Abendessen ließ Termosesow die Damen mehr oder weniger im Stich
-und hielt sich an die Herren. Mit jedem stieß er an und leerte dabei
-eine recht beträchtliche Zahl Gläser, ohne daß irgendeine Wirkung zu
-bemerken gewesen wäre. Schnell war er gut Freund mit Achilla, Darjanow
-und Vater Zacharia. Auch Tuberozow redete er wiederholt an, aber der
-Alte zeigte sich sehr wenig entgegenkommend. Dafür begann Achilla, nach
-einem etwa halbstündigen Gespräch, zur nicht geringen Verwunderung der
-Anwesenden, den Petersburger Gast plötzlich zu duzen, drückte ihm die
-Hand, küßte seine wulstige Lippe und verlieh ihm sogar Kosenamen.
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-»Bei Gott, dieses Termoseslein ist ein Mordskerl,« predigte der
-Diakon. »Haben wir zwei es dem Lehrer nicht fein gegeben? Nicht? Nein,
-Bruder Termosesselchen, du darfst nicht fort von hier. Was hast du
-in Petersburg zu suchen? Hier können wir zwei beide im Winter Füchse
-fangen. Das ist ein Hauptspaß, Brüderlein. Nicht?«
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-»Freilich, freilich,« antwortete Termosesow und begann nun seinerseits
-den Diakon zu preisen und nannte auch ihn einen Mordskerl. Und dann
-küßten die beiden Mordskerle sich wieder.
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-Als das Fest sich zu seinem Ende neigte und Zacharia und Tuberozow
-schon heimgehen wollten, hielt Termosesow den Diakon am Ärmel zurück
-und sagte: »Du hast doch keine Eile?«
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-»Eigentlich nicht,« antwortete Achilla.
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-»Dann warte noch etwas, wir gehen zusammen.«
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-Achilla erklärte sich bereit und Termosesow schlug noch ein Tänzchen
-vor. Er tanzte zuerst mit der Postmeisterin, dann mit ihren Töchtern,
-dann mit noch zwei oder drei andern Damen, und zu allerletzt mit der
-Biziukina. Dann aber kriegte er den Diakon zu fassen, drehte ihn im
-Walzertakt ein paarmal herum und führte, als er ihn, wie eine Dame, an
-seinen Platz gebracht hatte, seine Hand an die Lippen, küßte aber die
-eigene.
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-Achilla, der darauf nicht im mindesten gefaßt war, geriet in
-Verlegenheit und riß seine Hand hastig zurück, Termosesow jedoch lachte
-unbändig und sagte:
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-»Hast du dir wirklich eingebildet, ich würde deine Kutschertatze
-küssen?«
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-Der Diakon war gekränkt und dachte: ›Am Ende hätt' ich mich lieber
-nicht mit dem Kerl einlassen sollen.‹ Aber da man sich gleich darauf
-auf den Heimweg machte, so schloß er sich der Gesellschaft an. Die
-Familie des Postmeisters, der Diakon, Warnawa, Termosesow und Madame
-Biziukina gingen zusammen. Erst wurde die Frau Postmeisterin mit ihren
-Töchtern nach Hause gebracht, und bei dieser Gelegenheit hörte Achilla,
-wie sie beim Abschied zu Termosesow sagte:
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-»Ich hoffe, wir sehen uns häufiger.«
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-»Daran zweifle ich keinen Augenblick,« antwortete Termosesow und
-fügte noch hinzu: »Sie fanden es so hübsch, daß der Polizeichef
-sein Wohnzimmer mit den Bildnissen der ganzen kaiserlichen Familie
-geschmückt hat?«
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-»Ja, ich wünsche sie mir schon so lange.«
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-»Diesen Wunsch kann ich Ihnen morgen erfüllen.«
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-Und damit trennten sie sich.
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-
-Sechstes Kapitel.
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-Kaum hatte man sich von der Postmeisterin verabschiedet, so erklärte
-Termosesow, es müßten unbedingt alle noch einen Augenblick mit ihm bei
-der Biziukina vorsprechen.
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-»Du gestattest es doch?« fragte er, halb zu ihr gewendet.
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-Es schien ihr nicht sehr angenehm, aber sie sagte trotzdem ja.
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-»Irgendein Gesöff wird sich bei dir wohl finden?«
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-Daria Nikolajewna wurde verlegen. Gerade heute hatte sie vergessen,
-Wein holen zu lassen, und erinnerte sich auch, daß man heute mittag
-die letzte Flasche Xeres so gut wie leer getrunken hatte. Termosesow
-bemerkte ihre Verlegenheit und sagte:
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-»Na, Bier wird es doch wenigstens geben?«
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-»Bier ist da.«
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-»Das wußte ich. Bier haben die von der Akzise immer. Hast du auch Meth?«
-
-»Ja.«
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-»Das ist ja famos! Nun, meine Herrschaften, wir haben Bier und Meth,
-und da braue ich euch ein Blachdnublach zusammen, daß ihr ...«
-Termosesow küßte seine Finger und beschloß: »daß ihr zum Schluß die
-eigene Zunge mit verschlucken sollt.«
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-»Was ist das für ein Blech und Blech?« fragte Achilla.
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-»Nicht Blech und Blech, sondern Blachdnublach -- ein Getränk aus Bier
-und Meth. Vorwärts!« Und er zog Achilla am Ärmel.
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-»Warte doch,« widersetzte sich der Diakon. »Was ist denn das für
-ein Blech und Blech? Bei Begräbnissen trinkt man es und nennt es
-›Biermeth‹.«
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-»Ich sage dir aber, es ist kein Biermeth, sondern Blachdnublach.
-Vorwärts!«
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-»Nein, warte!« protestierte der Diakon wieder. »Ich kenne diesen
-Biermeth ... Eins, zwei, drei, liegt man da wie ein Klotz. Ich trink'
-das Zeug nicht.«
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-»Ich sag' dir doch, es gibt Blachdnublach und nicht Biermeth!«
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-»Und doch sollten wir's heut nicht mehr trinken,« antwortete der
-Diakon. »Sonst gibt's morgen einen wüsten Brummschädel.«
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-Prepotenskij war derselben Ansicht, aber keiner von beiden besaß
-Charakterfestigkeit genug, seine Meinung durchzusetzen, und so blieb
-Termosesow schließlich Sieger und schleppte sie in die Wohnung der
-Biziukina. Sein Plan war, das Gesöff in der Laube einzunehmen, und
-so wurden alsbald eine Unmenge Bier- und Methflaschen nebst dem dazu
-gehörigen Imbiß dorthin gebracht, und Termosesow begann sofort mit der
-Bereitung des Blachdnublach.
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-Warnawa Prepotenskij hatte sich neben Termosesow gesetzt. Der Lehrer
-wollte den Gast sofort zur Rede stellen, weshalb er vor Tuganow
-so gekatzbuckelt und ihn bei seinen Angriffen gegen ihn, Warnawa,
-unterstützt hatte.
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-Aber zum größten Erstaunen Prepotenskijs schien Termosesow nicht die
-geringste Lust zu haben, mit ihm zu plaudern, denn statt der erwarteten
-freundlichen Antwort kam es schroff und ungeduldig von seinen Lippen:
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-»Wir sind alle gleich: Kleinbürger, Adel und niederes Volk. Lassen Sie
-mich mit Ihrer Politik in Frieden, ich will jetzt trinken.«
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-»Aber Sie müssen doch zugeben, daß Leute mit Besinarmildung etwas
-Besseres sind, als ...« stammelte Warnawa verwirrt.
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-»Da haben wir's!« unterbrach ihn Termosesow. »Erst das liebste
-Hühnerauge, und jetzt die Besinarmildung! Der richtige Cicero!«
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-»Das passiert ihm oft, wenn er aufgeregt ist. Er will ein Wort sagen
-und es kommt ein anderes heraus,« trat Achilla für Prepotenskij ein
-und erzählte, wie der Lehrer infolge dieses Defekts einmal beinahe
-um den Verkehr in einem sehr feinen Hause gekommen wäre. »Er hatte
-zu der Wirtin sagen wollen: ›Matrona Iwanowna, darf ich noch um ein
-Zitronenscheibchen bitten?‹ -- und sagte statt dessen: ›Zitrona
-Iwanowna, bitte noch ein Matronenscheibchen!‹ was die Dame natürlich
-als Beleidigung auffaßte.«
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-Termosesow wollte sich ausschütten vor Lachen, faßte aber plötzlich
-Warnawas Hand, beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr:
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-»Geh sofort und schreib mir auf, was die Pfaffen und Edelleute heut
-geredet haben. Ich meine das von der Gewissensfreiheit und der
-Unduldsamkeit ... Mit einem Wort: alles, alles ...«
-
-»Wozu denn?« fragte der Lehrer erstaunt.
-
-»Das geht dich nichts an. Geh nur und schreib's auf. Du wirst später
-schon sehen, wozu. Wir unterschreiben es und schicken es an die
-richtige Adresse.«
-
-»Was? Was wollen Sie tun?« rief Prepotenskij laut und fuchtelte erregt
-mit den Armen. »Eine Denunziation! Um nichts in der Welt!«
-
-»Aber du haßt sie doch!«
-
-»Nun und?«
-
-»So schneid ihnen doch die Kehle durch, wenn du sie haßt.«
-
-»Ja gewiß, schneiden will ich schon, aber ich bin kein Lump, der eine
-Denunziation ...«
-
-»Dann raus mit dir!« unterbrach ihn Termosesow und stieß ihn gegen die
-Tür.
-
-»Aha! Raus?! So hab' ich Sie doch richtig erkannt! Sie halten's mit
-Achilla!«
-
-»Raus, sage ich!«
-
-»Ja, ja! Erst fordert Ihr mich zum Blachdnublach auf und dann ...«
-
-»Da hast du dein Blachdnublach!« antwortete Termosesow und gab
-dem Lehrer einen kräftigen Stoß in den Nacken, so daß er zur Tür
-hinausflog. Dann schob er den Riegel vor.
-
-Achilla, der diesen Auftritt mit angesehen hatte, stand verwirrt auf
-und nahm seinen Hut.
-
-»Wo willst du hin?« fragte Termosesow, sich wieder an den Tisch setzend.
-
-»Ich bitte um Entschuldigung, ich muß nach Hause.«
-
-»Trink doch erst dein Blachdnublach aus.«
-
-»Nein, mag es zum Teufel gehn, ich will nicht mehr. Leben Sie wohl. Ich
-habe die Ehre.«
-
-Er reichte Termosesow die Hand. Dieser nahm sie aber nicht, sondern riß
-dem Diakon den Hut fort, warf ihn unter seinen Stuhl und befahl:
-
-»Setz dich!«
-
-»Ich will nicht,« erwiderte Achilla.
-
-»Setz dich, sag' ich dir!« schrie Termosesow noch lauter und riß ihn so
-heftig am Arm, daß er auf die Bank niederfiel.
-
-»Willst du Pfarrer werden?«
-
-»Nein.«
-
-»Warum nicht?«
-
-»Weil ich dessen weder wert noch fähig bin.«
-
-»Aber der Propst kränkt dich doch?«
-
-»Nein, das tut er nicht.«
-
-»Er soll dir doch mal einen Stock weggenommen haben.«
-
-»Was ist denn dabei?«
-
-»Und einen Dummkopf hat er dich genannt?«
-
-»Ich weiß nicht, vielleicht hat er mich auch mal so genannt.«
-
-»Wollen wir ihn für seine heutigen Reden denunzieren?«
-
-»Wa--a--a--as?«
-
-»Das!!«
-
-Termosesow bückte sich, holte Achillas Hut unter dem Stuhl hervor und
-warf ihn vor die Schwelle.
-
-»Du bist eine Petersburger Kanaille,« sagte der Diakon und bückte
-sich nach dem Hute. In diesem Augenblick aber traf ihn ein dröhnender
-Schlag in den Nacken und er lag mit der Nase im Sande des Gartenweges,
-wohin ihm sein Hut alsbald nachgeflogen kam und wo ein paar Schritte
-weiter auch der Lehrer hockte. Der Diakon begriff erst gar nicht, wie
-das gekommen war, aber als er Termosesow in der Tür stehen und ihm mit
-einem Spaten drohen sah, wurde es ihm klar, warum der Schlag so schwer
-gewesen war und eine so breite Fläche getroffen hatte. Er sagte:
-
-»Das nennt sich also Blachdnublach. Danke für freundliche Belehrung.«
-
-Hierauf wandte er sich zum Lehrer:
-
-»Nun? Gehen wir heim, lieber Freund?«
-
-»Ich kann nicht,« sagte Warnawa.
-
-»Warum nicht?«
-
-»Ich bin voll blauer Flecke und der Wopf tut mir keh.«
-
-»Laß den Wopf nur keh tun, das geht vorüber. Komm nach Hause. Ich
-begleite dich.« Und mitleidig half der Diakon dem Lehrer auf und führte
-ihn zum Gartentor hinaus.
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
-
-Aufs äußerste erregt und verstört kam der Propst heim. Da das Fest
-beim Polizeichef so lange dauerte, hatte die daheimgebliebene Natalia
-Nikolajewna, wider ihre sonstige Gewohnheit, die Heimkehr ihres
-Gatten nicht abgewartet und sich zu Bett gelegt, die Tür nach ihrem
-Schlafzimmer aber offen gelassen. Sie wollte durchaus aufwachen, wenn
-ihr Mann zurückkehrte.
-
-Tuberozow wußte, was die offene Türe zu bedeuten hatte und rief beim
-Eintreten seine Frau beim Namen. Sie erwachte und erwiderte seinen Gruß.
-
-»Du schläfst nicht?«
-
-»Nein, Liebster, Sawelij Jefimytsch, ich schlafe nicht.«
-
-»Das ist gut, ich möchte mit dir reden.«
-
-Der Alte setzte sich auf den Bettrand und erzählte seiner Gattin das
-Gespräch mit dem Adelsmarschall und beklagte sich, wie gleichgültig
-alle sich zu der immer mehr in Rußland aufkommenden Anschauung
-verhalten, daß sich ein gebildeter Mensch des Glaubens schämen müsse.
-Er drückte ihr seine Befürchtungen aus, daß die guten Sitten und die
-hohen Ideale in Verfall geraten könnten, ja müßten.
-
-Natalia Nikolajewna unterbrach ihn mit keiner Silbe, denn er sprach mit
-einem Freimut, wie er ihn sonst nirgendwo hätte zum Ausdruck bringen
-dürfen.
-
-»Und denke dir, Natascha!« schloß er, als er bemerkte, daß der Morgen
-graute und sein Kanarienvögelchen, eben erwacht, den Schnabel zu
-wetzen begann. »Denke dir, meine liebe Alte, daß er, der Tuganow,
-keines meiner Worte widerlegen konnte, daß er mir in allem recht gab,
-daß er selbst zugestand, wir stünden, wie die selige Marfa Andrejewna
-mal sagte, gleich Schnepfen im Sumpf. Der Schwanz ist zu lang und der
-Schnabel ist zu lang, und so wackeln wir hin und her: ziehen wir den
-Schnabel heraus, bleibt der Schwanz stecken; ziehen wir den Schwanz
-heraus, steckt der Schnabel im Sumpf. Das alles gab er zu, aber von
-der seelischen Erregung, die man in einer solchen Lage doch empfinden
-müßte, ließ er nichts merken ... O diese entsetzliche Gleichgültigkeit!«
-
-Natalia Nikolajewna schwieg.
-
-»Zu guter Letzt nannte er mich noch einen Maniak! Sage bitte selbst,
-wieso und warum verdiene ich diesen Namen?« Sawelij dämpfte die Stimme.
-»Mich nennt er einen Maniak, und er selbst sagt ... Ich meinte: alles,
-worauf ich hingewiesen hätte, seien vielleicht Kleinigkeiten, aber
-trotzdem so bezeichnend für den in unserer Gesellschaft herrschenden
-Geist, und wenn wir jetzt mit diesen Kleinigkeiten nicht fertig
-würden, wie sollen es unsere Machthaber werden, nachdem alles erst
-mal großgewachsen ist! Er antwortete mir in seinem mir so verhaßten
-spöttischen Tone, den wir Russen so gern anschlagen, mit einer
-Anekdote, die sehr gut paßte und die ich aus Rücksicht auf mein Amt nur
-dir allein erzählen kann: Ein Offizier kam einst in ein Quartier, wo er
-im Nebenzimmer ein wunderschönes Mädchen entdeckte. Er war von ihr so
-entzückt, daß er, wie das im Regiment Brauch ist, seinen Burschen rief
-und ihn fragte: ›Wie könnte ich wohl die Bekanntschaft dieser Schönen
-machen?‹ Der Bursche überlegte, und da er im Begriff war, Kohlen in
-den Samowar zu legen, rief er plötzlich: ›Hier riecht's nach Rauch!‹
-Der Offizier sprang auf und stürzte in das Zimmer seiner Nachbarin:
-›Meine Gnädige, hier bei Ihnen riecht es nach Rauch. Ich komme, Sie und
-Ihre Schönheit aus dem Feuer zu retten!‹ Auf diese Weise machte er die
-gewünschte Bekanntschaft. Der Bursche aber erhielt ein Geldgeschenk
-und einen Schnaps. Als der Frauenjäger nach einiger Zeit in ein neues
-Quartier kam, wo er ebenfalls eine schöne Dame entdeckte, jedoch nicht
-nebenan, sondern im gegenüberliegenden Hause, -- sagte er wieder zu
-seinem Burschen: ›Verhilf mir zu ihrer Bekanntschaft!‹ Der aber wußte
-nichts anderes zu antworten, als sein altes ›Hier riecht's nach Rauch!‹
-Da erkannte der Offizier, daß er sich zu Unrecht auf den Verstand
-seines Helfershelfers verlassen hatte und die erwünschte Bekanntschaft
-durch ihn nicht machen konnte. Jetzt merke, was das für ein Gleichnis
-ergibt: bei uns geziemt es sich für einen aufgeklärten Mann, daß er
-ungläubig sei, seines Vaterlandes spotte, die Menschen verachte, die
-Heiligkeit der Familienbande nicht gelten lasse, in seinen Mitteln
-nicht wählerisch sei; jene Schöne jedoch, die äußere Zivilisation,
-haben wir leicht gewonnen; allein jetzt gilt es, eine andere Schöne
-kennen zu lernen, jetzt, wo wir geistige Selbständigkeit zeigen sollen,
-... aber da sitzt die Schöne drüben am Fenster, und die Frage ist, wie
-kriegen wir sie? Da sehnen wir uns wohl und seufzen: ›Ach, wie könnten
-wir am leichtesten ihre Bekanntschaft machen?‹ Aber der ungeschickte
-Bursche weiß darauf nichts zu sagen, als: ›Hier riecht's nach Rauch!‹
-Doch was nützt es uns, wenn es nach Rauch riecht?«
-
-»Ja,« sagte Natalia Nikolajewna und seufzte.
-
-»Das ist es eben! Begreifst du es auch? Wer ist denn nun der Maniak?
-Ich, der ich alles klar sehe und mich deswegen beunruhige, oder jene,
-denen es ebenso klar ist, die sich aber den Kopf nicht weiter darüber
-zerbrechen: ›Wir kommen noch so durch, und hinterher mag's gehn, wie es
-will!‹ Heißt das nicht: ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Nicht wahr, meine
-Liebe?«
-
-»Ja, Liebster, das Mädel stellt wohl den Samowar auf,« sagte Natalia
-Nikolajewna mit schläfriger Stimme.
-
-Da begriff Tuberozow, daß er die ganze Zeit in die Luft gesprochen
-hatte, die keine Ohren für ihn hatte, und er senkte lächelnd sein
-weißhaariges Haupt.
-
-Er gedachte der Worte, die einst die verstorbene Bojarin Marfa
-Plodomasowa zu ihm gesprochen: »Und bist du denn nicht einsam? Was sagt
-denn das, daß du eine gute Frau hast, die dich liebt? Was dich quält,
-wird sie doch nicht verstehen. Und so ist jeder, der weiter sieht als
-sein Bruder, einsam inmitten der Seinigen.«
-
-»Ja, einsam, unsagbar einsam!« flüsterte der Alte. »Und es ist am
-stärksten zu fühlen, wenn man am innigsten verlangt, es nicht zu
-sein; denn ... mag ich nun ein Maniak sein oder nicht ... ich habe
-beschlossen, das nicht länger zu dulden, und was ich beschlossen,
-das vollbringe ich auch.« Leise stand der Alte vom Bette auf, um die
-Schlafende nicht zu stören, segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes,
-stopfte dann seine Pfeife und ging in den Hof hinaus, um sich vor dem
-Hause niederzusetzen.
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-
-Tief in Gedanken versunken saß der alte Mann. Die dünnen
-Tabakswölkchen, die sich von seinem weißen Schnurrbart lösten und
-in der Luft zerflatterten, glänzten bernsteinfarbig im Lichte der
-aufgehenden Sonne. Die Hühner flogen von ihren Stangen herunter,
-kamen aus dem Stall, schüttelten sich und strichen ihr Gefieder.
-Jetzt klang von der Brücke die Lindenholzflöte des Hirten herüber,
-am Ufer klirrten die leeren Eimer, mit denen ein barfüßiges Weib
-nach Wasser ging; überall hörte man die Kühe brüllen, und die eigene
-Dienstmagd des Propstes kam gähnend, das Zeichen des Kreuzes über dem
-weitaufgerissenen Munde machend, aus dem Stall und trieb die Kuh mit
-einer Gerte vor sich her. Drinnen am Fenster sang der Kanarienvogel aus
-voller Kehle.
-
-Im vollen Glanze war der junge Tag erschienen.
-
-Vom Dom her ertönte der erste Glockenschlag.
-
-Vor dem Pförtchen erschien eine junge Zigeunerin mit einem Kinde an
-der Brust, einem zweiten auf dem Rücken und dreien, die sich an ihre
-zerlumpten Kleider klammerten.
-
-»Gib mir was, frommer Vater, gib mir was, du Glücklicher,
-Segensreicher!« bettelte sie den Propst an.
-
-»Was soll ich dir geben, du Unglückliche, Ungesegnete? Meine Frau
-schläft, und ich habe kein Geld bei mir.«
-
-»Gib mir etwas, was du nicht brauchst, dafür soll dir Ehre und Glück
-werden.«
-
-»Was brauche ich denn nicht? Halt! du hast recht gesprochen! Ich hab'
-hier etwas, was ich nicht brauche!«
-
-Und Tuberozow ging ins Zimmer und brachte seine sämtlichen Pfeifen
-heraus, den perlengestickten Tabaksbeutel und die Blechschachtel, in
-welche er die Asche zu schütten pflegte. Alles gab er der Zigeunerin
-und sagte:
-
-»Da, du Zigeunerweib, bring das deinem Mann, ihm steht es besser zu.«
-
-Natalia Nikolajewna schlief noch immer. Der Propst schrieb sich die
-Schuld zu, weil er sie durch seine lange Abwesenheit und seine Reden am
-Einschlafen gehindert hatte. Zwar hatte sie ihm nicht zugehört, aber
-ihre Ruhe hatte er doch gestört.
-
-Er ging in den Stall und gab seinen zwei kleinen braunen Pferden selbst
-die doppelte Portion Hafer. Dann wollte er leise über den Hof ins Haus,
-als er plötzlich den Botengänger des Akziseeinnehmers Biziukin durch
-das Pförtchen kommen sah, welcher ein Buch unter dem Arm hatte.
-
-Der Propst nahm das Buch, schlug es auf und wurde ganz rot im Gesicht.
-Im Buch lag ein Schreiben mit folgender Aufschrift: »An den Propst
-des Stargoroder Kirchspiels, Oberpfarrer Sawelij Tuberkulow.« Das
-Wort »Tuberkulow« war flüchtig durchstrichen und darüber geschrieben
-»Tuberozow«.
-
-»Es wird um sofortige Empfangsbestätigung gebeten,« sagte der Bote.
-
-»Wer hat drum gebeten?«
-
-»Der Sekretär des angereisten Beamten.«
-
-»Der kann warten.«
-
-Der Propst fühlte, daß die Sache nicht so harmlos war. Er merkte, daß
-man ihn herausfordern wollte und auch schon ein Mittel gefunden hatte,
-ihm beizukommen.
-
-»Was kann das sein? Es ist noch so früh ... Sie scheinen die Nacht
-nicht geschlafen zu haben, nur um eine Gemeinheit auszuhecken ... ja,
-Leute, die nichts zu tun haben!«
-
-Mit solchen Gedanken beschäftigt, trat Tuberozow in sein vom
-Sonnenglanz durchflutetes Wohnzimmer, setzte seine große silbergefaßte
-Brille auf und öffnete den interessanten Brief.
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-
-Das fatale Schreiben war ein höchst formloses Dokument, in jenen
-unangenehmen, vieldeutigen Ausdrücken abgefaßt, an denen die
-Kanzleisprache so reich ist. Es stellte an den Propst Tuberozow
-»konfidentiell« das Ersuchen oder die Forderung, beim Regierungsbeamten
-Bornowolokow zu erscheinen »zwecks Abgabe näherer Erklärungen über
-einige wichtige Punkte, sowie auch über das anstößige und unpassende
-Betragen des Diakons Achilla Desnitzyn.«
-
-»Ei zum Donnerwetter, sollte das nicht ein dummer Scherz sein? ...
-Wollen sie sich jetzt auf diese Weise über mich lustig machen?! Aber
-nein, das ist kein Scherz! Da steht's: Tuberkulow ... Mein Name ist in
-der offenkundigen Absicht, mich zu kränken, so verdreht worden. Und
-dann: »das anstößige und unpassende Betragen des Diakons Achilla.« Was
-bedeutet das alles, wo will man hinaus? Um ihnen den Spaß zu verderben
-und keinen Fehler zu begehen, wollen wir uns an die Methode des
-Abwartens halten, die einzig richtige in unklaren Fällen.«
-
-Der Propst nahm die Feder und schrieb unter das formlose Dokument: »Der
-Propst Tuberozow hält sich, da er über die Vollmachten der ihn zu sich
-auffordernden Person nicht unterrichtet ist, nicht für verpflichtet,
-der Aufforderung Folge leisten zu müssen.«
-
-Darauf legte er das Blatt in denselben Umschlag, in dem er es erhalten
-hatte, und schrieb quer über die Adresse: »Zurück an den, dessen Titel
-und Würden ich nicht kenne.«
-
-Nachdem er das Paket wieder in das Quittungsbuch gelegt hatte, ging
-er hinaus und gab es dem Boten. Dem langen Subdiakon Pawliukan, der
-inzwischen gekommen war, befahl er, den Wagen zu schmieren und in einer
-Stunde zu einer Fahrt ins Kirchspiel bereit zu sein. Dann schickte er
-die Magd nach dem Diakon Achilla.
-
-Unterdessen war Natalia Nikolajewna aufgestanden und machte sich,
-nachdem sie sich mehrmals bei ihrem Gatten wegen ihres gestrigen
-Einschlafens entschuldigt hatte, eifrig daran, sein Reiseköfferchen zu
-packen. Höchst erstaunt war sie aber, als er auf ihre Frage, wohin sie
-den Tabak legen solle, kurz antwortete, er habe das Rauchen aufgegeben,
-und sich dann gleich dem eben eingetretenen Diakon zuwandte.
-
-»Ich muß gleich eine Amtsreise machen und habe dich kommen lassen, um
-dich noch einmal zu warnen,« begann er, doch Achilla unterbrach ihn
-sofort.
-
-»Schönsten Dank, Vater Propst, aber ich bin schon gewarnt.«
-
-»Das hat nicht viel zu sagen und macht mir keine Sorge. Jedenfalls
-bitte ich dich nur, wenigstens in meiner Abwesenheit etwas solider zu
-sein.«
-
-»Ja, Vater Propst, jetzt ... Auch wenn Ihr kein Wort gesagt hättet, es
-ist doch schon alles aus.«
-
-Tuberozow blieb vor ihm stehen und sah ihn mit einem scharfen,
-durchdringenden Blick an. Gestalt und Gesicht des Diakons sahen nicht
-gerade vorteilhaft aus. Die dichten, natürlichen Locken machten den
-Eindruck einer schief aufgesetzten Perücke: die rechte Seite der Stirn
-war viel zu weit entblößt, die linke fast bis zum Auge verdeckt.
-
-Der Propst dachte nach, was denn wohl noch mit dem unvorsichtigen
-Diakon geschehen sein mochte, dieser aber sagte, die Augen starr auf
-den Hut gerichtet, den er in der Hand hin- und herdrehte:
-
-»Ich habe schon gestern, Vater Propst ... gleich nachdem ich von der
-Biziukinschen heimgekommen war ... denn wir waren alle vom Polizeichef
-noch dorthin gegangen ... zu meiner Bedienerin gesagt: ›Nein,‹ sagt'
-ich, ›Esperance, der Vater Sawelij hat recht: der Starke rühme sich
-nicht seiner Kraft und baue nicht auf seine Macht.‹«
-
-Statt ihm zu antworten, ging der Propst auf den Diakon zu und strich
-die Haare zurück, welche die linke Seite seines Gesichtes so übermäßig
-bedeckten.
-
-»Nein, Vater Sawelij, hier ist nichts, aber da,« sagte Achilla leise
-und schob die Hand des Propstes auf seinen Nacken.
-
-»Schäme dich, Diakon,« sagte Tuberozow.
-
-»Es tut auch weh, Vater Propst,« sagte Achilla, sich an die Brust
-schlagend, und fing bitterlich zu weinen an. »Dafür werde ich mich nun
-täglich und stündlich martern.«
-
-Tuberozow schüttete keinen Tropfen mehr in diesen Leidenstrank des
-armen Achilla. Im Gegenteil. Er machte ein paar Schritte durchs Zimmer
-und sagte dann, den Diakon am Arme fassend:
-
-»Weißt du noch, wie du mir Vorwürfe machtest wegen der Pfeife?«
-
-»Verzeiht.«
-
-»Nicht doch, ich bin dir dankbar dafür, und wenn ich im Rauchen auch
-nichts besonders Schlechtes sehe und diese Gewohnheit gehabt habe, so
-habe ich doch heute, um dem Gerede ein Ende zu machen, davon abgelassen
-und alle meine Pfeifen einem Zigeuner geschenkt.«
-
-»Einem Zigeuner!« rief der Diakon mit strahlendem Gesicht.
-
-»Ja. Es kann dir übrigens gleich sein, wem ich sie gegeben habe; gib
-aber auch du deine Wildheit irgend jemandem. Du bist kein Jüngling
-mehr, sondern bald fünfzig, und du bist auch kein Kosak, denn du trägst
-die Kutte. Und jetzt sage ich dir noch einmal Lebewohl, denn ich muß
-fahren.«
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-
-Im Biziukinschen Hause ließ sich der neue Tag wenig freundlich an: die
-gnädige Frau vermißte ein kostbares Brillantenkollier, das sie gestern
-abend getragen hatte und das heute nirgends zu finden war. Die ganze
-Dienerschaft war auf den Beinen, und die Herrschaft ebenfalls. Man
-suchte das Verlorene in der Laube und im ganzen Hause, aber es war und
-blieb verschwunden.
-
-Bornowolokow hatte mit der Revision angefangen, und auch
-Termosesow war ungeheuer beschäftigt. Zunächst nahm er aus seiner
-Photographiensammlung einige Bildnisse der kaiserlichen Familie,
-dann schrieb er einen Brief an einen Petersburger Freund, der in
-Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Er schilderte die Schönheit
-der Natur, die gelbrosa Färbung der Wolken, sprach von seiner
-Freundschaft mit Bornowolokow und seinen Aussichten auf eine glänzende
-Beamtenlaufbahn und auf eine Erbschaft im Gouvernement Samara. Zum
-Schluß entwarf er eine flüchtige Skizze der gestrigen Gesellschaft,
-wobei er die Stargoroder Herrschaften schonungslos kritisierte und nur
-hinsichtlich der Postmeisterin eine Ausnahme machte. »Diese Frau,«
-schrieb er, »ist es durchaus wert, daß man etwas bei ihr verweilt.
-Stelle dir vor, ich spüre hier so etwas wie Schicksalsgewalt; ich sah
-sie und wurde sofort von einer Art Sohnesgefühl zu ihr erfaßt. Ich
-sag' dir, wenn es ihr einfallen würde, mich auspeitschen zu lassen,
-ich würde ihr dankbar die Hand küssen. Doch -- ich weiß selber noch
-nicht, wie das enden wird, denn sie hat zwei Töchter. Die eine ist ganz
-die Mutter, die andere verspricht ebenfalls so schön zu werden. Wer
-vermöchte zu sagen, Freund, warum das unerforschliche Geschick mich der
-Familie dieser hochgeachteten Frau zugeführt hat? Vielleicht werde auch
-ich demnächst singen müssen: ›O goldne Freiheit, lebe wohl!‹«
-
-Nachdem Termosesow den Brief an einen Herrn Nikolai Iwanowitsch
-Iwanow adressiert hatte, preßte er das versiegelte Kuvert zwischen
-zwei Fingern fest zusammen, überzeugte sich, daß man auf diese
-Weise seine ganze Charakteristik der Frau Postmeisterin durchlesen
-konnte, räusperte sich und sagte: »Na, nun wollen wir mal sehen, ob
-Prepotenskij gestern die Wahrheit gesagt hat, daß sie die Briefe
-aufmacht! Tut sie das, so bin ich fein heraus.«
-
-Er nahm den Brief und die Bilder und begab sich auf das Postamt. Außer
-diesem Brief hatte er noch ein Schriftstück in der Tasche, das er in
-derselben frühen Morgenstunde abgefaßt hatte, als er die Aufforderung
-an Tuberozow schickte. Es lautete folgendermaßen:
-
-»Das Komplott der demokratischen Sozialisten, die sich hinter der Larve
-des Patriotismus verbergen, macht sich überall bemerkbar. Hier setzt
-es sich aus äußerst verschiedenartigen Elementen zusammen, und das
-Schädlichste dabei ist, daß die Geistlichkeit bereits in hohem Maße
-daran beteiligt ist -- was äußerst gefährlich ist, da sie dem Volke
-sehr nahesteht. Die Resultate der traurigen liberalen Duldsamkeit
-treten hier besonders kraß und zahlreich zutage.
-
-Der Stargoroder Propst Sawelij Tuberozow, der schon mehr als einmal
-die Aufmerksamkeit der Behörden durch seinen wilden und frechen
-Charakter und durch seine schlechte Gesinnung auf sich gelenkt hat,
-wurde bereits mehrmals für sein unzulässiges Betragen gemaßregelt,
-ohne daß es auf ihn Eindruck gemacht zu haben scheint, denn er ist von
-revolutionären Tendenzen ganz durchdrungen.
-
-Ich wage es nicht zu entscheiden, wieweit er den Absichten der
-Regierung Schaden bringen könne, allein nach meiner Ansicht ist dieser
-Schaden unermeßlich groß. Der Propst Tuberozow genießt hohes Ansehen
-in der ganzen Stadt, und ist ein Mann von großem Verstande und von
-einer Kühnheit, die dank der jahrelangen Nachsicht seiner Vorgesetzten
-heute vor nichts mehr zurückschreckt. Alles, was ein Mensch wie er tut,
-sollte von Rechts wegen unter strengster Kontrolle stehen. Er jedoch
-redet was er will, ohne sich den geringsten Zwang anzutun, und genießt
-dabei noch das Vorrecht, öffentlich in der Kirche sprechen zu dürfen.
-
-Dieses geistliche, dem Volke so nahestehende Element scheint aber
-auch noch mit dem flachen Lande, d. h. mit dem grundbesitzenden Adel
-Fühlung zu suchen. So genießt dieser verdächtige Propst Tuberozow
-anscheinend die Gunst und den Schutz des Adelsmarschalls Tuganow,
-dessen Persönlichkeit und Anschauungen Ihnen ja wohlbekannt sind.
-Herr Tuganow, der hier an einer Abendgesellschaft im Hause des
-Polizeichefs teilnahm, meinte u. a.: ›man lasse die Sonne nicht auf
-die Erde scheinen‹ -- wobei unter der ›Sonne‹ zweifellos der Monarch
-zu verstehen ist, und unter der ›Erde‹ das Volk. Wer aber sich vor die
-Sonne stellt, ist nicht schwer zu erraten. Ja, er hat es sogar selbst
-klar ausgesprochen, als er dann noch bemerkte, er sei ein Mann der
-Scholle, der Gouverneur dagegen nur ›ein Kalif für eine Stunde‹. Als
-ein hiesiger Lehrer, Prepotenskij, ein ganz dummer, aber politisch
-durchaus unbescholtener Mensch, ihm sagte, wir alle könnten nicht
-sagen, wie und von wem Rußland regiert werde, antwortete er mit
-zynischer Frechheit: ›Ich halte mich in diesem Falle an die Worte des
-Grafen Panin aus der Zeit Katharinas, der zu sagen pflegte, Rußland
-werde durch die Gnade Gottes und die Dummheit des Volkes regiert.‹
-Auf all das habe ich die Ehre, Eure Exzellenz aufmerksam zu machen
-und halte es für meine Pflicht, vor Eurer Exzellenz die unschätzbaren
-Dienste des mich begleitenden Kanzleibeamten Ismail Petrowitsch
-Termosesow nachdrücklich zu betonen. Seiner feinen Beobachtungsgabe,
-sowie seiner Fähigkeit, in alle Schichten der Gesellschaft
-einzudringen, verdanke ich eine Menge wertvoller Informationen, und ich
-wage es, den Gedanken auszusprechen, daß, wenn die Obrigkeit diesem
-begabten Manne einen selbständigen Beobachtungsposten anvertrauen
-wollte, er dem Staate von unermeßlichem Nutzen sein könnte.«
-
-Dieses Blatt in der Tasche ging Termosesow seines Weges und fragte
-sich: »Wird diese Kanaille von Bornowolokow das wohl unterschreiben?
-Ach was, -- wenn man ihn nur ordentlich drückt, unterschreibt er
-alles.«
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
-
-Termosesow gab seinen Brief auf und ging dann sofort zur Frau
-Postmeisterin. Die Begrüßung war sehr freundschaftlich. Er küßte ihre
-Hand, sie gab ihm einen Schmatz auf die Stirn und dankte ihm für die
-Ehre seines Besuchs.
-
-»O bitte, ich muß Ihnen danken,« erwiderte Termosesow. »Es war ja so
-entsetzlich langweilig. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil
-ich immer mit Angst und Grauen denken mußte: wo bin ich? unter was für
-Leuten?«
-
-»Ja, ich sagte schon gestern zu meinen Töchtern: Unser Petersburger
-Gast muß sich wohl köstlich amüsieren.«
-
-»Ach, gar zu schlimm wollen wir es auch nicht machen. Ich diene ja
-nicht um des Mammons willen, sondern um das Land kennen zu lernen.«
-
-»Dann finden Sie bei uns eine Unmenge Beobachtungsstoff.«
-
-»Ganz recht -- Beobachtungsstoff! Aber da hab' ich Ihnen mit Ihrer
-Erlaubnis die Bilder mitgebracht, von denen wir gestern sprachen.
-Gestatten Sie mir, sie aufzuhängen.«
-
-Die Postmeisterin wußte gar nicht, wie sie ihm danken sollte.
-
-»Ich will mich mit Vergnügen dieser Arbeit unterziehen, bis Ihre
-Fräulein Töchter erscheinen ... Ich darf doch hoffen, sie zu sehen?«
-
-Die Postmeisterin erwiderte, die Mädchen seien noch nicht angezogen, da
-sie in der Wirtschaft zu tun hätten, kämen aber trotzdem bald.
-
-»Ach, ich bitte Sie darum, ich bitte sehr!« flehte Termosesow, und als
-die geschmeichelte Hausfrau das Zimmer verlassen hatte, begann er die
-Kaiserbildnisse an der Wand zu befestigen. Die Nägel dazu hatte er
-mitgebracht.
-
-Die Toilette der jungen Damen nahm fast eine Stunde in Anspruch, und in
-dieser ganzen Zeit ließ sich auch die Postmeisterin nicht sehen.
-
-»Das ist ein gutes Zeichen!« dachte Termosesow. »Gewiß studiert sie
-mein Opus.«
-
-Endlich erschienen die Töchter in Begleitung ihrer Mutter. Termosesow
-maß die Postmeisterin mit einem schnellen, durchdringenden Blick. Sie
-strahlte vor Wonne und Begeisterung.
-
-»Das Fischlein hat angebissen!« schloß er und verzehnfachte seine
-Liebenswürdigkeit. Um aber seiner Sache ganz sicher zu sein, fing er
-wieder von Literatur und von seinen Reiseskizzen an zu reden.
-
-»Porträts! Um Gottes willen mehr Porträts! Mehr Naturstudien!« bat die
-Postmeisterin.
-
-»Ja, eigentlich habe ich schon die ganze hiesige Gesellschaft
-porträtiert und -- entschuldigen Sie -- auch Ihrer und Ihrer Fräulein
-Töchter Erwähnung getan ... Wissen Sie, so ganz flüchtig ... Wenn ich
-meinen Brief zurückbekommen könnte, den ich eben aufgegeben habe ...«
-
-»Ach nein, wozu denn?« rief die Postmeisterin errötend.
-
-»Angebissen, angebissen!« frohlockte Termosesow, und bestand darauf,
-den Damen vorzulesen, was er über sie geschrieben hatte. Eine Zeitlang
-hörte man im Zimmer nichts als: »Ach, wozu denn lesen, wir glauben
-Ihnen auch so!« und: »Ja, warum denn nicht lesen? Wodurch habe ich denn
-so großes Zutrauen verdient?«
-
-Termosesows Einwände wirkten zu verführerisch auf die Neugier der
-Mädchen. Bald erbot sich die eine, bald die andere, ins Bureau zum
-Vater zu laufen und den interessanten Brief des Gastes zu bringen.
-
-Vergebens suchte die Mutter sie durch Worte und Zeichen zurückzuhalten,
-die Mädchen verstanden sie nicht und gaben keine Ruhe. Termosesow
-dagegen hatte alles ausgezeichnet verstanden: der Brief befand sich in
-den Händen der Hausfrau, es galt jetzt nur noch, sie zur Rückgabe zu
-zwingen und sie dadurch selbst völlig in die Hände zu bekommen.
-
-Ohne viel Bedenken sprang Termosesow von seinem Platz auf und stürzte
-diensteifrig, der Zurufe der Damen, die ihn zurückhalten wollten,
-nicht achtend, nach dem Postbureau: er sei, rief er, selbst nicht
-mehr imstande, sich den Genuß zu versagen, den Damen die bescheidene
-Darstellung seiner tiefen Bewunderung für sie vorzutragen.
-
-Keine Bitten konnten ihn bewegen, von seinem Vorhaben abzustehen. --
-Aber auf dem Bureau war kein Brief zu finden.
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
-
-Termosesow machte ein sehr verlegenes Gesicht, als er zu den Damen
-zurückkehrte. Ihre Verwirrung aber war noch viel größer. Die Mädchen
-sprangen auf und liefen hinaus, um ihre Tränen zu verbergen, die
-infolge der ihnen von der Mutter gehaltenen Pauke reichlich flossen.
-Die Postmeisterin selbst blieb als Opferlamm im Salon.
-
-Termosesow stellte sich schweigend vor sie hin und lächelte.
-
-»Ich sehe Sie an,« sagte die Dame geziert, »und schäme mich.«
-
-»Sie haben den Brief?«
-
-»Die Versuchung war zu groß. Hier ist er.«
-
-Termosesow nahm das versiegelte Kuvert aus ihrer Hand.
-
-»Ich schäme mich ganz entsetzlich ... aber was soll ich machen ... ich
-bin ein Weib ...«
-
-»Ach, lassen Sie doch! Ein Weib! Um so besser, daß Sie ein Weib sind!
-Das Weib ist ein viel besserer Freund als der Mann und ich bin ein so
-vertrauensseliger Narr, daß ich wirklich warme aufrichtige Freundschaft
-... ich meine, weibliche Freundschaft sehr nötig habe! Jetzt habe ich
-mich an Herrn Bornowolokow angeschlossen ... Wir sind schon lange
-Freunde und er ist auch jetzt mehr mein Freund als mein Vorgesetzter
-... wenigstens scheint es mir ...«
-
-»Ja, ich sehe, ich sehe, Sie sind sehr treuherzig und vertrauensselig!«
-
-»Ich bin einfach ein Narr in dieser Beziehung! Ein völliger Narr! Ein
-kleines Kind kann mich nasführen!«
-
-»Das ist aber nicht gut, gar nicht gut!«
-
-»Was kann ich gegen meine Natur? Jemand, der meine Freundschaft mit
-Bornowolokow genau beobachtet hatte, sagte mir einmal: ›Paß auf, Ismail
-Petrowitsch, du bist zu leichtgläubig! Baue nicht zu sehr auf diese
-hinterlistige Freundschaft! Bornowolokow zeigt hinter deinem Rücken ein
-ganz anderes Gesicht, als du zu sehen gewohnt bist!‹ ... Aber ich kann
-nicht anders -- ich muß ihm glauben!«
-
-»Warum tun Sie es?«
-
-»Gott, ich bin nun mal so! ... Ja, wenn man mir Beweise vorlegte! Wenn
-ich hören könnte, wie er in meiner Abwesenheit von mir spricht! Wenn
-ich einen Brief von ihm sehen könnte! Den Freundesdienst würde ich mein
-Leben lang nicht vergessen!«
-
-Die Postmeisterin bedauerte, daß sie diesen hinterlistigen Bornowolokow
-nie zu Gesicht bekommen habe, und fragte, ob Termosesow vielleicht eine
-Photographie des Verräters besäße?
-
-»Leider nicht. Aber einen Brief von ihm. Hier, sehen Sie seine
-Handschrift.«
-
-Und er zeigte ihr einen Fetzen Papier von Bornowolokows Hand
-beschrieben. Beim Fortgehen ließ er ihn wie von ungefähr auf dem Tische
-liegen.
-
-
-
-
-Dreizehntes Kapitel.
-
-
-Diese zweite Angel war noch glücklicher ausgeworfen als die erste.
-Gegen Abend, als Termosesow mit Bornowolokow und Biziukin beim Kaffee
-saß, kam ein Postbote mit dem Auftrage, Ismail Petrowitsch sofort zur
-Frau Postmeisterin zu bitten.
-
-»Ach richtig! Ich hatte versprochen, heute einen Ausflug mit ihr
-zu machen! Wie konnte ich das nur vergessen!« sagte Termosesow und
-entfernte sich mit dem Boten.
-
-Er traf die Postmeisterin im Salon allein. Sie drückte ihm die Hand,
-schloß die Tür und nahm schweigend einen Brief aus der Tasche, welchen
-sie ihm reichte.
-
-»Lesen Sie, es stört uns hier niemand.«
-
-Termosesow las den Brief, in dem sich Bornowolokow bei seiner
-Petersburger Kusine Nina bitter über sein Geschick beklagte, welches
-ihn in Moskau mit Termosesow zusammengeführt hatte. Er nannte ihn einen
-»ausgemachten Lumpen und Halunken« und bat die Kusine, »mit allen
-Mitteln und unter Heranziehung all ihrer ausgezeichneten Verbindungen
-darauf hinzuwirken, daß dieser gemeine Kerl eine gute Stelle in Polen
-oder in Petersburg erhalte, sonst könne er, weil er über alle alten
-Dummheiten unterrichtet sei, das entsetzlichste Unheil anstiften.«
-
-»Haben Sie Ihren Freund nun erkannt?« fragte die Postmeisterin.
-
-»Das hätte ich nicht erwartet! Gott strafe mich, -- das nicht!« sagte
-Termosesow, indem er seinen Kopf schüttelte und seufzte.
-
-»Behalten Sie den Brief und vernichten Sie ihn,« sagte die
-Postmeisterin.
-
-»Vernichten? Warum? Nein, ich vernichte ihn nicht! Mag er an seine
-Adresse gelangen, -- aber eine Abschrift möchte ich haben. Gestatten
-Sie mir, sie zu nehmen.«
-
-Termosesow hatte sofort begriffen, daß der Brief für seine Ehre
-zwar wenig schmeichelhaft war, aber sehr vorteilhaft, weil man ihm
-angesichts seiner Gefährlichkeit ganz sicher eine sehr gute Anstellung
-verschaffen würde.
-
-Mit der Abschrift steckte er auch das Original zu sich und ging heim.
-
-Das Ehepaar Biziukin war bereits zu Bett gegangen, und Bornowolokow saß
-allein und schrieb.
-
-»Immer fleißig, Eure Durchlaucht? Schon wieder bei der Schreiberei?«
-sagte Termosesow heiter.
-
-Ein kurzes kaltes »Ja« war die Antwort.
-
-»Da wird wohl wieder irgendeine Gemeinheit verfaßt?«
-
-Bornowolokow fuhr zusammen.
-
-»Na also!« sagte Termosesow gelangweilt, schloß plötzlich die Tür ab
-und steckte den Schlüssel in die Tasche.
-
-Bornowolokow sprang auf und versuchte schnell das Blatt, an dem er
-geschrieben hatte, zu zerreißen.
-
-
-
-
-Vierzehntes Kapitel.
-
-
-»Gott, was Sie sich aufregen!« lachte Termosesow. »Ich schloß die Tür
-nur, um mich mit Ihnen gemütlich und ungestört unterhalten zu können,
-und Sie reißen gleich Ihr ganzes Geistesprodukt in Fetzen.«
-
-Bornowolokow setzte sich wieder.
-
-»Unterzeichnen Sie dieses Papier. Aber bitte schön -- nicht zerreißen!«
-
-Damit legte Termosesow ihm jenes formlose Skriptum vor, in dem er
-Wahrheit und Dichtung über Tuberozow und Tuganow zusammengebraut und
-sich selbst so glänzend attestiert hatte.
-
-Bornowolokow las es ruhig von Anfang bis zu Ende.
-
-»Nun?« fragte Termosesow, als er sah, daß er mit dem Lesen fertig war,
-»wollen Sie unterschreiben oder nicht?«
-
-»Ich könnte Ihnen sagen, daß ich erstaunt bin, aber ...«
-
-»Ich habe Ihnen das Staunen schon abgewöhnt! Das weiß ich sehr gut, und
-auch bei Ihnen wundere ich mich über nichts mehr!«
-
-Damit reichte er Bornowolokow die Abschrift des Briefes an die Kusine
-Nina und fügte hinzu:
-
-»Das Original habe ich auch.«
-
-»Sie haben es? Wie konnten Sie sich unterstehen?«
-
-»Wie konnten +Sie+ sich unterstehen? Und das nennt sich Freund und
-Bruder! Da will man gemeinschaftlich ganz Rußland auf den Kopf stellen
--- und dann kommt so ein liebenswürdiges Attest! Nein, mein Lieber,
-das geht nicht. Da werden Sie mir ein ganz anderes Zeugnis ausstellen
-müssen.«
-
-Bornowolokow sprang auf und fing an im Zimmer hin und her zu laufen.
-
-»Nehmen Sie nur wieder Platz, das Rennen nützt Ihnen gar nichts,«
-meinte Termosesow. »Wir wollen uns doch friedlich auseinandersetzen.
-Sie wissen, wohin ich Sie mit diesem Brieflein, mit dem Hinweise
-darauf, daß Ihre werte Vergangenheit nicht so ganz sauber ist,
-expedieren kann? Da holt Sie kein Polack und keine Kusine heraus!«
-
-Bornowolokow schlug sich ungeduldig auf die Schenkel und rief:
-
-»Wie konnten Sie meinen Brief stehlen, wenn ich ihn selbst in den
-Kasten geworfen hatte?«
-
-»Raten Sie! Wie ich's fertig gekriegt habe, ist meine Sache, Ihnen aber
-sag' ich nun zum letztenmal: unterschreiben Sie! Auf das erste Blatt
-setzen Sie Ihren Vor- und Familiennamen, Amt und Rang, und auf dem
-zweiten bestätigen Sie die Richtigkeit der Abschrift und fügen dann
-noch zwei Worte hinzu, die ich Ihnen diktieren werde.«
-
-»Sie ... Sie wollen mir diktieren?«
-
-»Allerdings. Ich diktiere, Sie schreiben und dann geben Sie mir tausend
-Rubel Reugeld.«
-
-»Reugeld?! Wofür?«
-
-»Dafür, daß Sie dann Ruhe vor mir haben.«
-
-»Ich habe nicht so viel.«
-
-»Mir genügt ein Schuldschein. Hundert bis hundertfünfzig in bar, das
-übrige hat Zeit ... Aber lange mit Ihnen diskutieren tue ich nicht.
-Wollen Sie, so ist's recht; wollen Sie nicht, so ist mir's auch recht.
-In diesem Fall habe ich die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
-
-»Ich will unterschreiben!« sagte Bornowolokow kurz.
-
-»Bitte ...«
-
-Termosesow wischte die Feder an seinem Rockschoß ab, tauchte sie ein
-und reichte sie Bornowolokow.
-
-»Was soll ich schreiben?«
-
-Termosesow räusperte sich und diktierte:
-
-»Der Hundsfott Termosesow ...«
-
-Bornowolokow stutzte und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
-
-»Wollen Sie wirklich, daß ich diese Worte schreibe?«
-
-»Selbstverständlich. Schreiben Sie nur: ›Der Hundsfott Termosesow‹.«
-
-»Danke ergebenst. Bitte, weiter.«
-
-
-
-
-Fünfzehntes Kapitel.
-
-
-Der Sekretär stand hinter dem Stuhle Bornowolokows und blickte über
-seine Schulter, während er weiterdiktierte: »Der Hundsfott Termosesow
-ist auf eine ebenso unbegreifliche wie geniale Weise in den Besitz
-meines eigenhändigen Briefes an Sie gelangt, in welchem ich so
-unvorsichtig war, alles das zu schreiben, was Sie auf diesem Blatte von
-der Hand eben dieses Halunken Termosesow geschrieben lesen.«
-
-»Schluß?«
-
-»Nein, noch etwas. Bitte, schreiben Sie: ›Wie er sich den Brief hat
-verschaffen können, den ich persönlich zur Post brachte, vermag
-ich nicht zu ergründen. Die Tatsache aber mag Ihnen ein Beweis für
-die Kühnheit und Gewandtheit dieses Lumpen sein, der es sich zur
-Aufgabe gemacht hat, mir keine Ruhe zu lassen und mich so lange zu
-schikanieren, bis Sie ihm einen einträglichen Posten verschafft haben.
-Ich beschwöre Sie deshalb um unser beider Wohlergehen willen, für ihn
-selbst das Unmögliche möglich zu machen. Im anderen Falle droht er
-damit, alles aufzudecken, was wir in der Zeit unserer revolutionären
-Dummheiten begangen haben.‹«
-
-»Kann der letzte Satz nicht geändert werden?«
-
-»Nein. Ich bin wie Pilatus: was ich geschrieben habe, das habe ich
-geschrieben.«
-
-Bornowolokow schrieb das Bekenntnis seiner Schmach zu Ende und schob
-das Papier weg.
-
-»Nun haben Sie hier noch den Bericht über die Geistlichkeit und die
-gefährliche Stimmung in der Gesellschaft zu unterzeichnen.«
-
-Bornowolokow nahm die Feder wieder, las das Schriftstück noch einmal
-durch, überlegte und sagte:
-
-»Was haben diese Leute, Tuberozow und Tuganow, Ihnen eigentlich getan?«
-
-»Nicht das geringste.«
-
-»Vielleicht sind es ausgezeichnete Menschen.«
-
-»Sehr möglich.«
-
-»Warum verleumden Sie sie denn? Was hier steht, ist doch Verleumdung?«
-
-»Nicht durchweg, nur ein wenig.«
-
-»Ja, wozu dies alles?«
-
-»Was soll ich machen? Ich muß zeigen, was ich kann. Ihr Blaublütigen
-habt Onkel und Tanten, die sich für Euch bemühen, Parvenüs wie wir
-müssen alles selber machen.«
-
-Bornowolokow seufzte und unterschrieb.
-
-Termosesow steckte die Denunziation ein.
-
-»Jetzt wäre noch das Dritte zu erledigen,« fuhr er fort, »dann setze
-ich meinen Hut auf und sage Adieu. Hier ist ein Wechselformular. Es
-lautet auf achthundert Rubel. Zweihundert erbitte ich mir in bar.«
-
-Bornowolokow saß mit aufgestützten Armen da und betrachtete Termosesow
-schweigend.
-
-»Nun? Sie haben sich wohl in die Zunge gebissen?«
-
-»Nein, ich bewundere Sie bloß.«
-
-»Bitte sehr. Ich bin so, wie das Leben mich gemacht hat. Aber jetzt
-unterschreiben Sie den Wechsel und geben Sie mir das Geld.«
-
-»Wofür, Herr Termosesow, wofür?«
-
-»Wofür?! Für Ihre einstigen geheimen Vergnügungen in stillen Nächten im
-heiligen Moskau und im sündhaften Petersburg; für Ihre Unterhaltungen,
-Pläne, Schriftstücke, für alle die schönen Stunden, an die ich in
-meinen Taschen und in meinem Kopf genug Erinnerungen behalten habe, um
-Ihre ganze Karriere vernichten zu können.«
-
-Bornowolokow unterschrieb den Wechsel und warf das Geld hin.
-
-»Verbindlichsten Dank,« sagte Termosesow, indem er Wechsel und Geld
-einsteckte, »es freut mich sehr, daß es ohne Feilschen abgegangen ist.«
-
-»Was wäre dann geschehen?«
-
-»Dann hätte ich das Doppelte verlangt.«
-
-Nachdem er alle Dokumente beisammen hatte, suchte Termosesow seine
-Mütze. »Ich werde draußen im Wagen schlafen,« sagte er, »hier ist es zu
-schwül für zwei.«
-
-»Wollen Sie mir nicht erst meinen Brief wiedergeben?«
-
-»Fällt mir gar nicht ein. So war es nicht gemeint.«
-
-»Ja, wozu brauchen Sie ihn noch?«
-
-Termosesow lachte.
-
-»Wollen Sie noch Geld dafür haben?«
-
-»Nein, ich bin nicht habgierig, ich habe genug.«
-
-»Pfui, was sind Sie für ein ...«
-
-»Vieh, wollen Sie sagen? Bitte, bitte, genieren Sie sich nicht. Ich
-höre nicht hin und gehe schlafen.«
-
-»So beantworten Sie mir wenigstens noch nur eine Frage: wo sind die
-verschwundenen Brillanten der Biziukina?«
-
-»Woher soll ich das wissen?«
-
-»Sie ... Sie waren doch irgendwo mit ihr ... in einer Laube, -- nicht
-wahr?«
-
-»Was ist denn dabei? Es waren auch noch andere Leute da: der Lehrer und
-der Diakon.«
-
-»Gewiß. Aber sagen Sie mir wenigstens, -- sind diese Brillanten nicht
-irgendwo unter meine Sachen gesteckt?«
-
-»Wie kann ich das wissen?«
-
-»O Gott! Dieser Mensch macht mich wahnsinnig!« rief Bornowolokow in
-höchster Erregung.
-
-»Noch eins,« flüsterte Termosesow und drückte Bornowolokows Arm fest
-zusammen. »Daß Sie sich's nicht einfallen lassen, Ihren Kusinen
-vorzuflunkern ... denn die Briefe wurden nicht nur von mir gelesen.«
-
-
-
-
-Sechzehntes Kapitel.
-
-
-Die verschwundenen Brillanten der Biziukina, das Blachdnublach,
-die Niederlage Achillas und Prepotenskijs, die Liebelei mit Daria
-Nikolajewna und die Eroberung der Postmeisterin, endlich die
-Mattsetzung Bornowolokows, -- alle diese Ereignisse, die sich in knapp
-vierundzwanzig Stunden abgespielt hatten, waren Termosesow selbst ein
-wenig zu Kopf gestiegen. Er fühlte ein unüberwindliches Verlangen nach
-Schlaf und streckte sich auf dem Heu des Wagens aus, wo er sofort
-einschlief und erst sehr spät am Morgen wieder erwachte. Die kühle
-Scheune, welche Termosesow zu seinem Schlafgemach gewählt hatte, blieb
-geschlossen und Ismail Petrowitsch rekelte sich noch lange nach dem
-Erwachen auf seinem Lager, kratzte sich die Fußsohlen und dachte nach.
-
-Seine Gedanken waren insofern bemerkenswert, als das Vergangene
-und Geschehene für sie absolut nicht vorhanden war; ebensowenig
-beschäftigten sie sich mit einer der neuen Personen, gegen die
-Termosesow mit so kühner Ungeniertheit vorgegangen war. So seltsam
-das auch klingen mag, -- Termosesow besaß wirklich eine gewisse
-Harmlosigkeit, die sich mit einer maßlosen sittlichen Laxheit und
-Frechheit und einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen alle Menschen
-und ihr Urteil paarte. Er dachte nie daran, daß die Person, mit der
-er im Augenblick zu tun hatte, schon früher existiert hätte, ehe sie
-ihm in den Weg gekommen, und daß sie auch weiterhin existieren wolle;
-daß sie infolgedessen auch ihr eigenes Verhältnis zur Vergangenheit
-und ihre eigenen Zukunftsaussichten habe. Ihm kam es so vor, als
-tauchten die Menschen vor ihm auf wie Wasserblasen oder Pilze, nur
-für den Moment, wo er sie zu Gesicht bekam, und darum glaubte er über
-sie völlig nach Belieben verfügen und sie ausbeuten zu dürfen, was er
-denn auch in der unverschämtesten Weise tat. Hatte er aber erreicht,
-was er wollte, so vergaß er den andern bald ganz und gar. In seiner
-zynischen Redeweise drückte er das ganz naiv aus: »Wenn ich jemanden
-gekränkt habe, bin ich später nie böse auf ihn.« Und so war es auch.
-Wenn jetzt plötzlich Achilla oder Prepotenskij zu ihm in die Scheune
-gekommen wären, so hätte er sie ganz freundschaftlich angeredet, ohne
-auch nur im geringsten an die gestrigen Ereignisse zu denken. Als er
-auf Bornowolokow, den er längst vergessen hatte, stieß, packte er ihn:
-»An dem bleib' ich hängen!« meinte er. Und blieb an ihm hängen. Als er
-die Biziukina traf, kam's ihm in den Sinn, ihr den Hof zu machen --
-und er machte ihr den Hof. Als er -- der Teufel mag wissen, zu welchem
-Zweck -- ihr seine höhere politische Weisheit beibrachte, kam ihm der
-Gedanke, sich ihre Brillanten anzueignen, und alsbald ward dieser
-Gedanke ausgeführt. Dabei wurden die Brillanten so schlau versteckt,
-daß, falls die Biziukins es zu einer Haussuchung hätten kommen lassen,
-sie sich natürlich nicht bei Termosesow, sondern bei Bornowolokow
-gefunden hätten, der diese Kostbarkeiten fast am eigenen Leibe trug:
-Termosesow hatte sie nämlich in das Futter seines Mantels eingenäht.
-Die Person des Propstes Tuberozow beschäftigte die Gedanken Termosesows
-überhaupt nicht; als die Biziukina über ihn zu klagen begann, versprach
-er leichtfertig, den Alten aus dem Wege zu räumen, -- und dann erst kam
-ihm die Idee, Tuberozow als Beweisobjekt für seine »Beobachtungsgabe«
-zu benutzen. Jetzt aber hätte keine Gewalt der Erde ihn mehr von dem
-hartnäckigen Streben nach Verwirklichung dieses Planes abbringen können.
-
-Hätte der alte Propst dies gewußt, er würde die ihm zugedachte Rolle
-als bitterste Kränkung empfunden haben. Allein er hatte keinerlei
-Ahnung von dem, was ihm bevorstand, und fuhr auf seinem Klapperwagen
-von Dorf zu Dorf, von Kirche zu Kirche, durchwanderte weite
-Waldstrecken zu Fuß, ruhte auf Wiesen und an Feldrainen und schöpfte
-neue Kraft aus der Berührung mit der Mutter Natur.
-
-In der Stadt aber war inzwischen, dank den unermüdlichen Bemühungen
-Termosesows, die Schlinge schon ausgelegt. Die Beschwerde des
-Kleinbürger Danilka war den Instanzenweg gegangen, eine Bagatelle war
-zu einer Angelegenheit geworden, die auf gesetzlichem Wege entschieden
-werden mußte.
-
-
-
-
-Siebzehntes Kapitel.
-
-
-Die aufregenden Berichte vom Mißgeschick des Diakons Achilla und davon,
-daß man auch ihn, den Propst selbst, in diese nichtige Sache verwickelt
-hatte, trafen den Vater Sawelij in einem weit abgelegenen Kirchdorf,
-von dem er wenigstens zwei Tage zu reisen hatte, bis er die Stadt
-erreichte.
-
-Es war unerträglich heiß. Vom letzten Dorf, in dem Tuberozow
-übernachtet hatte, waren es noch etwa fünfzig Werst bis zur Stadt. Der
-Propst war ziemlich spät ausgefahren und hatte noch kaum die Hälfte des
-Weges zurückgelegt, als die Hitze so groß wurde, daß Tuberozow seine
-armen, von Schweiß und Schaum triefenden braunen Pferdchen gar nicht
-mehr ansehen mochte. Er beschloß deshalb, noch einmal Halt zu machen,
-um die Tiere zu füttern und sie ausruhen zu lassen. Aber keine Herberge
-wollte er aufsuchen: er erinnerte sich eines wunderschönen Plätzchens
-am Waldrand, der sogenannten »Zaunkönigshöhe«, dorthin zog es ihn, um
-in der Kühle zu rasten.
-
-Von dem weiten flachen Abhang, der sich hier niedersenkt, erblickt man
-auf einer Entfernung von mehr als zwanzig Werst die goldenen Kuppeln
-der städtischen Kirchen, während der jahrhundertealte Wald sich im
-Rücken endlos hinzieht. Tiefe Stille und Ruhe herrschen hier.
-
-Von der Glut ermattet, hatte Tuberozow eben den Wagen verlassen,
-als ihn ein ungemein wohliges Gefühl übermannte. Trotz der ringsum
-herrschenden Hitze strömte das dichte dunkelblaue junge Eichengehölz
-eine belebende Kühle aus. An den elastischen, wie in grünes Wachs
-getauchten Blättern der Jungeichen war kein Stäubchen zu entdecken.
-Überall warme, weiche, beruhigende Farben. Unter den bunten krausen
-Blättern des Farnkrautes guckt die leuchtendrote Wolfsbeere hervor.
-Von der Sonne vergoldet, reckt sich ein trockener Haselstrauch in die
-Luft, und auf dunkelbraunem Torfboden erheben sich ganze Pilzfamilien,
-zwischen denen rote Steinbeeren wie Korallen glänzen.
-
-Während Pawliukan, in Unterwäsche und Weste, die erhitzten Pferde
-ausspannte und umherführte, ging der Propst ein wenig im Walde
-spazieren. Er holte sich aus dem Wagen einen kleinen Teppich und trug
-ihn zu einer grünen Vertiefung, aus der lärmend und schäumend eine
-Quelle sprang. Hier wusch er sich mit dem frischen Wasser und streckte
-sich zur Ruhe auf dem Teppich aus. Das gleichmäßige Murmeln des Baches
-und die Kühle umwehten wohltuend das von der Hitze ganz benommene Haupt
-des Alten, und ohne es selbst zu merken, war er wider seinen Willen
-eingeschlafen. Der Schlaf war stärker, er warf ihn nieder und hielt ihn
-fest. Er wollte dem Pawliukan etwas sagen, aber der Schlaf hielt ihm
-mit weicher Hand den Mund zu.
-
-Der Traumgott hatte den Propst so in seiner Gewalt, daß Pawliukan
-ihn vergebens an den Schultern rüttelte, um ihn zum Essen einer
-vorzüglichen Grütze aus Buchweizen und frischen Pilzen aufzufordern.
-Tuberozow blinzelte nur mit den Augen: »Iß, mein Lieber, ich schlafe so
-süß,« -- und lag alsbald in noch tieferem Schlummer.
-
-So verzehrte Pawliukan sein Mittagessen allein und folgte dann dem
-Beispiel seines Vorgesetzten. Auch die Pferde wurden still, ließen die
-Köpfe hängen und schlummerten ein.
-
-Ringsum schien alles in einem Zauberschlaf zu liegen. Eine so
-tiefe Stille herrschte, daß ein Hase, der aus der Waldestiefe
-hinausgesprungen kam und sich, leise mit dem Schnurrbart wackelnd, auf
-die Hinterbeine setzte, plötzlich ganz verlegen wurde und mit weit
-zurückgeworfenen Ohren eiligst wieder im Walde verschwand.
-
-Tuberozow ertappte sich beim Erwachen dabei, daß seine Lippen mit
-großer Anstrengung die Worte »guten Tag« herausbrachten -- allem
-Anschein nach als Erwiderung auf einen Gruß.
-
-»Wen begrüße ich da? Wer war hier bei mir?« fragte er sich, den Schlaf
-abschüttelnd. Und es wollte ihn bedünken, als hätte soeben jemand
-neben ihm gestanden, kühl und still, in einem Gewande von der Farbe
-einer reifenden Pflaume ... So deutlich empfand er alles, daß er
-sich schnell, auf den Ellbogen gestützt, aufrichtete, aber nur den
-schlafenden Pawliukan, seine braunen Pferde und den Wagen sah. Der
-langen Ruhe satt, suchte das Seitenpferd sich den Halfter vom Kopfe zu
-streifen. Es trat zur Seite, warf sich nieder, wälzte sich im Grase,
-stand wieder auf und reckte witternd den Hals. Tuberozow war noch immer
-im Halbschlaf. Das Pferd ging weiter, bückte sich nach dem dichten
-Grase am Waldrand und biß die Spitze eines jungen Eichbäumchens ab.
-Endlich kam es bis zu dem mit wildem Klee bewachsenen Grenzpfad und
-zog die warme Luft ein. Sawelij sah immer noch vor sich hin und konnte
-seinen Zustand nicht begreifen. Es war weder Schlaf noch Wachen. Die
-Feuchtigkeit seines Ruheplatzes schien ihn betäubt zu haben; ihm war,
-als wogten Dämpfe in seinem Kopf. Er rieb sich die Augen und blickte
-in die Höhe: droben im Blauen über seinem Kopfe schwebte ein Rabe.
-Oder war es ein Geier? Nein, es mußte ein Rabe sein. Er hielt sich
-fester und zog weitere Kreise ... Jetzt kam es von oben herab wie
-eine hingeworfene Handvoll Erbsen: ku--urlu. So schreit nur ein Rabe.
-Wonach mag er spähen? Was will er? Vielleicht ist er des Kreisens müde
-und möchte von dem Wasser unten trinken. Tuberozow kam eine Legende in
-den Sinn, die sich auf diese Quelle bezog. Sie sollte einen wunderbaren
-Ursprung haben. Das reine durchsichtige Becken der Quelle glich einer
-in die Erde gegrabenen Schale von Kristall, welche einem Blitzstrahl
-ihre Entstehung verdankte, der vom Himmel kam und tief in das Innere
-der Erde drang. Gerade an der Stelle, wo vor sehr, sehr langer Zeit
-ein vom Kampf ermatteter russischer Held hingesunken sein sollte, den
-eine gewaltige Übermacht der Ungläubigen von allen Seiten umzingelte.
-Rettung schien für den Ritter, der allein war, ganz unmöglich. Er
-flehte zum Heilande, daß er ihn vor schimpflicher Gefangennahme
-bewahre. In demselben Augenblick, so berichtet die Sage, zückte aus
-völlig klarem Himmel ein Blitzstrahl nieder und sprang wieder in die
-Höhe. Ein Donnerschlag folgte, so gewaltig, daß die Rosse der Tataren
-in die Knie sanken und ihre Reiter abwarfen. Als sie sich erhoben, war
-der Ritter verschwunden. An der Stelle aber, an welcher er sich eben
-noch befunden, stieg, schäumend und wie tausend Diamanten glitzernd,
-ein mächtiger Strahl kalten Quellwassers in die Höhe; in wildem Zorn
-peitschte er die Wände des Erdkessels und als silbernes Bächlein floß
-er weiter über die grüne Wiesenfläche.
-
-Ein Wunder dünkt diese Quelle allen und das Volk behauptet, ihrem
-Wasser sei eine Zauberkraft eigen, die selbst die Tiere und die Vögel
-kennen. Alle wissen das, allen ist es bekannt, denn alle fühlen
-hier die immerwährende geheimnisvolle Gegenwart des entrückten
-Glaubenskämpen. Hier tut der Glaube Wunder und darum ist alles hier
-so mächtig und so stark, vom Gipfel der hundertjährigen Eiche bis zum
-Pilz, der sich zwischen ihren Wurzeln verbirgt. Sogar das scheinbar
-ganz Abgestorbene wird hier wieder lebendig: Da steht der dünne,
-vertrocknete Haselstrauch; er ist vom Blitz gestreift, aber auf der
-Rinde, dicht über der Wurzel, bemerkt man, wie mit grünem Wachs
-aufgestrichen, ein »Peterskreuz«, und von hier wird bald ein neues
-Leben ausgehen ... Ja, die Gewitter sollen hier böse sein, heißt es.
-
-»Freilich, freilich, es gibt bekanntlich solche Gegenden mit
-außerordentlich starker elektrischer Spannung,« dachte Tuberozow, und
-es kam ihm vor, als bewegten sich die grauen Haare auf seinem Kopfe.
-Kaum war er aufgestanden, so erblickte er nur wenige Schritte entfernt
-ein kleines blaßgelbes Wölkchen, dessen Umrisse sich fortwährend
-veränderten, während es langsam den Grenzpfad entlang kroch, auf dem
-sich das freigekommene Pferd herumtrieb. Es schien direkt auf das Pferd
-loszusteuern. Aber als es bis zu ihm gekommen war, fing es plötzlich
-zu hüpfen an, wirbelte empor und zerflatterte, wie der Rauch aus einem
-Kanonenrohr. Das Pferd schnaufte wild und stürmte, kaum den Boden
-berührend, angsterfüllt vorwärts.
-
-Tuberozow sprang hastig auf, weckte Pawliukan, half ihm auf das andere
-Pferd klettern und schickte ihn dem Flüchtling nach, von dem schon jede
-Spur verschwunden war.
-
-»Beeil dich, hol es ein,« sagte Sawelij zum Subdiakon und warf einen
-Blick auf seine silberne Uhr: es war etwas über drei Uhr nachmittags.
-
-Der Alte setzte sich barhäuptig in den Schatten, gähnte und fuhr
-plötzlich zusammen, da er in der Ferne ein schweres Dröhnen vernommen
-zu haben glaubte.
-
-»Was ist das? Ein Gewitter?«
-
-Er stand wieder auf, ging an den Waldrand hinaus und sah, daß von Osten
-her wirklich eine dunkle Wolke heraufzog. Das Gewitter überraschte ihn
-ganz allein.
-
-Noch ein Schlag! Das Feld wogte heftiger und kalt wehte es darüber hin.
-
-An die schwarze Wolke, welche den Osten ganz bedeckte, rückten von
-unten her kleinere Wolkenballen heran, gleichsam von ihr heraufgezogen
-wie Kulissen. Ab und zu brach eine Flamme zwischen ihnen durch. So
-überschaut ein Zauberkünstler, der eine schauerliche Vorstellung geben
-will, mit der Laterne in der Hand, noch einmal die dunkle Bühne, bevor
-er alle Lichter anzündet und den Vorhang hochzieht. Die schwarze Wolke
-kroch weiter und je näher sie rückte, desto undurchdringlicher schien
-sie. Vielleicht läßt der liebe Gott sie vorüberziehen? Vielleicht
-entlädt sie sich irgendwo weiter draußen? Doch nein! Schon zuckt
-über ihren oberen Rand leise ein feuriger Streif und Blitze flimmern
-und flackern plötzlich leuchtend durch die ganze finstere Masse. Die
-Sonne ist nicht mehr zu sehen: Wolken haben ihre Scheibe bedeckt,
-ihre langen, degenartigen Strahlen zucken noch einmal hell auf, um
-dann auch zu verschwinden. Ein Wirbelwind erhebt sich pfeifend und
-dröhnend. Wie Fahnen flattern die Wolken. Über das reifende Roggenfeld
-laufen weiße Flecken wild hin und her. Einer scheint unmittelbar vom
-Himmel herabzufallen, ein anderer setzt sich dick und breit hin.
-Plötzlich laufen beide auf einander los, fließen in eins zusammen und
-verschwinden. Am Feldrain schüttelt der Wind die Ähren so seltsam,
-daß man meinen könnte, es wäre nicht der Wind, sondern ein lebendes
-Wesen hätte sich am Boden versteckt und treibe wütend seinen Unfug.
-Der Wald ist voll Lärm. Eine Zickzacklinie flammt über dem Walde auf;
-eine andere zuckt hoch über den Wipfeln, und dann wird es still ...
-ganz still! ... Kein Blitz, kein Wind: alles ist wie gebannt. Das
-ist die Stille vor dem Sturm: alles, was noch nicht Zeit gehabt hat,
-sich vor dem Unwetter zu verstecken, sucht diesen letzten stillen
-Augenblick noch auszunutzen: ein paar Bienen fliegen an Tuberozow
-vorüber, es ist, als flögen sie nicht, sondern als würden sie von
-einem Windstoß fortgerissen. Aus dem dunklen Gesträuch, das jetzt ganz
-schwarz erscheint, hüpfen ein paar erschrockene Hasen heraus und legen
-sich in eine Furche. Über das Gras, das bei der Beleuchtung grau wie
-Asphalt aussieht, rollt ein silberner Knäuel und verschwindet unter
-der Erde. Es war ein Igel. Alles verbirgt sich, so gut es kann. Da als
-letzter stürzt sich auch der Rabe, welcher vorhin so hoch schwebte, die
-Flügel hart an den Rücken gedrückt, hinab auf den Wipfel eines hohen
-Eichbaums, wo man ihn jetzt schwerfällig rascheln hört.
-
-
-
-
-Achtzehntes Kapitel.
-
-
-Tuberozow war nicht furchtsam, aber sehr nervös, und solche Menschen
-werden bei starken elektrischen Entladungen von einer unwillkürlichen
-und unbezwinglichen Unruhe befallen. Diese Unruhe verspürte auch er,
-als er sich umschaute und überlegte, wo er wohl am besten vor dem
-Gewitter, dessen Ausbruch unmittelbar bevorstand, geschützt wäre.
-
-Seine erste Bewegung war, nach seinem Wagen zu laufen, einzusteigen
-und sich zuzudecken; aber kaum hatte er hier Platz genommen, so begann
-es im Walde zu knarren und zu krachen, und der Wagen wurde hin und her
-geschüttelt, wie eine Kinderwiege. Auf diesen Unterschlupf war also
-kein Verlaß: der Wagen konnte sehr leicht umgeworfen werden und ihn
-erdrücken.
-
-Tuberozow sprang wieder hinaus und lief ins Kornfeld. Der Wirbelwind
-packte ihn bald von vorn, bald von der Seite, zwang ihn, stehen zu
-bleiben, riß ihn an den Schößen zurück, pfiff, trompetete, winselte und
-brüllte ihm in die Ohren.
-
-Tuberozow lief wieder zur Quelle. Aber in dem Kristallbecken herrschte
-eine noch größere Unruhe: das Wasser brauste und kochte, und durch
-die Kreise, die es bildete, schien ein in der Tiefe verborgenes Wesen
-sich emporarbeiten zu wollen. Plötzlich flammte es über der dunkeln,
-bleiernen Wassermasse blutigrot auf. Es war ein Blitzschlag, aber
-was für ein seltsamer Schlag! Wie ein Pfeil fuhr er, in zweimaligem
-Zickzack gebrochen, von oben herab, spiegelte sich im Wasser wider
-und wirbelte im selben Augenblick, ebenso gezackt, wieder zum Himmel
-empor, als hätten Himmel und Erde einen feurigen Gruß getauscht. Ein
-knatternder Schlag folgte, als stürzten sämtliche Dachplatten von
-einem Hause herab, und eine gewaltige Wolke von Wasserstaub und Schaum
-sprudelte springbrunnenartig aus der Quelle empor.
-
-Tuberozow legte die Hände vor das Gesicht, sank auf ein Knie und befahl
-Seele und Leben dem Allmächtigen. Jetzt brach auf den Feldern und im
-Walde eine jener Gewitterkanonaden los, welche dem Menschen seine
-völlige Hilflosigkeit gegenüber den Naturgewalten so besonders klar vor
-Augen führen. Blitze flammten auf. Krachend folgte Schlag auf Schlag.
-Mit einem Male sah Tuberozow, wie auf den dunklen Eichenstamm vor ihm
-gleich einer trüben Lampe schimmernd eine Kugel zuschwebte. Mitten im
-Gezweig des Baumes leuchtete der Funke plötzlich in blendendem Lichte
-auf, wuchs zu einem großen Klumpen und zerstob. Ein furchtbares Getöse
-erschütterte die Luft, dem alten Manne ging der Atem aus, um seine
-Finger und Zehen drehten sich glühende Ringe, der Körper reckte sich
-krampfhaft empor, knickte zusammen und fiel hin ...
-
-Ein Bewußtsein erfüllte ihn noch: daß alles zusammenbrach. Daß das Ende
-nahe! Weiter konnte er nichts denken ... Als er zu sich kam, wußte er
-nicht, wieviel Zeit seit dem Augenblick vergangen war, da der Schlag
-ihn getroffen, und wie lange er bewußtlos gelegen hatte. Er hörte nur
-noch ein letztes, dumpfes, langsames Rollen weit droben, -- dann trat
-völlige Ruhe ein. Das Wetter zog ab. Sawelij hob den Kopf, blickte um
-sich und bemerkte in seiner nächsten Nähe auf dem Boden etwas Riesiges,
-Unförmiges. Es war ein Haufen Zweige, der Wipfel des gewaltigen
-Eichbaums. Wie mit einem Messer war der Baum dicht über der Wurzel
-abgeschnitten und lag auf der Erde. Aus seinem Gezweig, das sich mit
-den Kornähren des Feldes mischte, erklang das widerliche Kreischen des
-Raben, der mit dem Baum gestürzt war. Ein schwerer Ast hatte ihn an
-die Erde gedrückt, und nun riß er seinen purpurroten Rachen weit auf,
-zuckte in Krämpfen und schrie verzweifelt.
-
-Angewidert durch dies Schauspiel sprang Tuberozow mit einer
-Geschwindigkeit und Leichtigkeit zur Seite, als wäre er nicht siebzig
-Jahre alt, sondern siebzehn.
-
-
-
-
-Neunzehntes Kapitel.
-
-
-Das Gewitter hatte sich ebenso schnell verzogen, wie es gekommen war.
-An Stelle der schwarzen Wolke hob sich vom blauen Grunde ein rosiger
-Streifen ab. Auf dem nassen Hafersack, der auf dem Bock des Wagens
-lag, saßen schon fröhlich zwitschernde Spatzen und zogen frech nasse
-Körner durch die Löcher der feuchten Leinewand. Der Wald wurde wieder
-lebendig. Irgendwoher kam ein leises, einschmeichelndes Pfeifen, und
-auf den Rain ließ sich laut girrend ein Taubenpärchen herab. Das
-Weibchen streckte seinen Flügel über dem Boden aus, strich ihn mit
-seinem roten Pfötchen und richtete ihn segelartig empor, um sich vor
-dem Freunde zu verbergen. Der Tauber blies den Kropf auf, machte eine
-tiefe Verbeugung und sagte gefühlvoll: »Nur du!« Auf diese Begrüßung
-folgten Küsse, und fieberhaft bebten die Flügel im dichten Gewirr der
-Wermutstauden. Das Leben nahm wieder seinen Lauf. Pferdegetrappel
-ertönte in nächster Nähe: Pawliukan kam zurück. Er ritt auf dem einen
-Pferde und führte das andere am Zügel.
-
-»Nun, lebt Ihr noch, Vater!« rief er lustig, auf den Wagen zureitend
-und absteigend. »Ich eilte, was ich konnte, daß Ihr nicht allein vom
-Unwetter überrascht würdet, aber wie der Donner plötzlich so dreinfuhr,
-da bin ich, müßt Ihr wissen, vom Pferde runter einfach platt auf den
-Boden gefallen ... Und hier hat's ja den Eichbaum abgeschnitten!«
-
-»Ja, mein Freund, das hat es. Aber laß uns nun anspannen und fahren.«
-
-»Gott, muß das eine Gewalt gewesen sein!«
-
-»Ja, Freund, aber fahren wir.«
-
-»Es weht jetzt so ein frischer Wind, da wird sich's herrlich fahren.«
-
-»Ja, herrlich, aber spann nur schnell an.«
-
-Und Tuberozow machte sich in seiner Ungeduld selbst an die Arbeit.
-
-In wenigen Minuten waren die im Regen gebadeten Pferde angespannt, und
-der Wagen des Propstes sauste dahin, fröhlich in den zahllosen Lachen
-des furchenreichen Landweges plätschernd.
-
-Die Luft war wunderbar frisch und rein. Ein warmes Licht lag über der
-Landschaft. Leichter Dampf stieg von den Feldern auf. Es roch nach
-feuchten Haselzweigen. Tuberozow fühlte sich in seinem Wägelchen so
-wohl wie seit langem nicht. Er zog immer wieder tief Atem und freute
-sich, daß er es so leicht konnte. Er kam sich vor wie ein Adler, dem
-neue Flügel gewachsen waren.
-
-Vor der Stadt begrüßte ihn helles Glockengeläute, das die Andächtigen
-zum Vespergottesdienste rief.
-
-
-
-
-Zwanzigstes Kapitel.
-
-
-Der Wagen Tuberozows rollte in den Hof.
-
-»Ach Gott, Vater Sawelij, wie hab' ich mich um dich gebangt!« schrie
-Natalia Nikolajewna und stürzte ihrem Gatten entgegen. »Das furchtbare
-Gewitter, -- und du warst ganz allein, mein Herz!«
-
-»Ja, Liebste, ich war nur einen Schritt vom Tode entfernt.«
-
-Und der Propst erzählte seiner Frau alles, was er an der Quelle erlebt
-hatte, und fügte hinzu, daß er von nun an gleichsam ein zweites Leben
-lebe, nicht mehr sein eigenes, sondern das eines andern. Es sei ihm
-dies eine Lehre und zugleich ein Vorwurf, nie an die Vergänglichkeit
-und Nichtigkeit seines kurzen Lebens gedacht zu haben.
-
-Natalia Nikolajewna zwinkerte nur mit den Äuglein und sagte seufzend:
-
-»Willst du jetzt nicht etwas essen?« -- Und als der Gatte daraufhin nur
-verneinend den Kopf schüttelte, fragte sie, ob er Durst habe.
-
-»Durst?« wiederholte Sawelij. »Ja, ich dürste.«
-
-»Willst du Tee?«
-
-Der Propst lächelte, küßte seine Frau auf den Scheitel und sagte:
-
-»Nein, mich dürstet nach Wahrheit.«
-
-»Ei was! Dank sei deinem Gotte! Alles, was du tust, ist gut.«
-
-»Schon recht, schon recht, -- aber jetzt will ich mich waschen. Und du
-erzählst mir indes, was sie hier mit dem Diakon anstellen.«
-
-Und der Propst trat vor das glänzende kupferne Waschgerät und wusch
-sich, und Natalia Nikolajewna berichtete ihm alles, was sie von Achilla
-wußte, und zog daraus den Schluß, es werde damit nichts anderes
-bezweckt, als ihm, ihrem Manne, etwas Böses anzutun.
-
-Der Propst schwieg. Als er seine Toilette beendet hatte, nahm er Hut
-und Stab und begab sich zur Kirche, wo der Vespergottesdienst bereits
-begonnen hatte.
-
-Fünf Minuten später stand er im Altarraum seitwärts vom Opfertisch am
-Fenster und schrieb etwas auf ein Blatt Papier, welches er gegen das
-schräge, von der untergehenden Sonne hell beleuchtete Fensterbrett
-stützte. Was mag er da schreiben? Wir können es über seine Hand hinweg
-ganz gut lesen. Folgendes stand auf dem an den Polizeichef Porochontzew
-adressierten Blatte: »Da ich die Absicht habe, morgen anläßlich des
-hohen Festtages eine feierliche Messe in der Domkirche abzuhalten,
-so erachte ich es für meine Pflicht, Euer Hochwohlgeboren davon in
-Kenntnis zu setzen, und knüpfe daran die ergebenste Bitte, heute noch
-rechtzeitig allen Beamten davon schriftlich, gegen Empfangsbestätigung,
-Mitteilung zu machen, damit dieselben in der Kirche erscheinen können.
-Insonderheit bitte ich dieses denjenigen Herren Beamten zu empfehlen,
-die am meisten dazu neigen, diese ihre Pflicht zu vernachlässigen, denn
-ich bin entschlossen, über das schlechte Beispiel, das sie damit geben,
-der Obrigkeit unverzüglich Bericht zu erstatten. Den Empfang dieses
-Schreibens bitte ich Euer Hochwohlgeboren mir gütigst bestätigen zu
-wollen.«
-
-Der Propst ließ sich das Botenbuch bringen, setzte eine Nummer auf sein
-Schreiben, trug es eigenhändig ins Buch ein und schickte den Glöckner
-damit zu Porochontzew.
-
-
-
-
-Einundzwanzigstes Kapitel.
-
-
-Die Nacht, welche diesem Abend im Hause Sawelijs folgte, erinnert uns
-an jene, da wir den Alten über seinem Tagebuche sahen: er war ebenso
-allein in seiner Stube, ging ebenso auf und ab, setzte sich ebenso hin,
-schrieb und sann nach, -- aber sein Buch lag diesmal nicht vor ihm. Auf
-dem Tisch, an den er immer wieder herantrat, lag ein kleines doppelt
-gefaltetes Blättchen, und auf dieses Blättchen setzte er in winziger,
-aber doch deutlich lesbarer Schrift folgende fragmentarische Notizen:
-
-»Gott, gib Dein Gericht dem Könige und Deine Gerechtigkeit des Königs
-Sohne.«
-
-»Übliche Einleitung: meine gestrige Lage während des Gewitters. Der
-Rabe: wie er sich vor dem Unwetter in der mächtigen Eiche verbergen
-wollte und den Tod dort fand, wo er Rettung gesucht hatte.
-
-Wie lehrreich mir das Beispiel dieses Raben scheint. Ist das Heil dort,
-wo wir es wähnen, die Not dort, wo wir sie fürchten?
-
-Unser maßloses Grübeln, das die Vernunft zu seinem Sklaven macht. Die
-Gelehrsamkeit, welche die Möglichkeit einer Erkenntnis des bisher
-Unfaßbaren leugnet.
-
-Die Unvollkommenheit und die Unsicherheit unseres Wissens von der
-Seele. Das mangelnde Verständnis für die Natur des Menschen und die
-daraus folgende leidenschaftslose Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse
-und die falsche Beurteilung menschlicher Handlungen: Rechtfertigung
-des nicht zu Rechtfertigenden und Verurteilung des Lobenswerten.
-Verdient Moses, der den Ägypter schlug, vom verkehrten Standpunkt
-gewisser Liberaler, die das heiße Vaterlandsgefühl verwerfen, nicht
-Tadel? Verdient Judas der Verräter vom Standpunkt der ›blind im Gesetz
-Ruhenden‹ nicht Lob, da er doch ›das Gesetz eingehalten‹, als er seinen
-Meister verriet, den die Machthaber verfolgten? (Innozenz von Cherson
-und seine Auslegung.) Auch unsere Tage sind reich an Verführung:
-Vorwürfe gegen jene, die den Listen der heimlichen Feinde des Staates
-nicht gleichgültig gegenüberstehen können. Der große Verlust der Sorge
-um das Heil des Vaterlandes und als letztes Beispiel die Nachlässigkeit
-in der Erfüllung der Gebetspflichten an den großen Festtagen des
-Volkes, die zur bloßen Formalität geworden sind.
-
-Auslegung der Worte: ›Gott, gib Dein Gericht dem Könige‹ in dem Sinne,
-›daß wir ein geruhig und stilles Leben führen mögen‹ (St. Paulus).
-Welchen Wert hat ein solches Leben? Beispiel: Rehabeam nach Salomo,
-umringt von Freunden und Gespielen, die vor sein Antlitz treten und
-ihm arglistig vorstellen, daß die Last des Volkes erleichtern eine
-Erniedrigung seiner eigenen königlichen Würde bedeute, -- und wie er
-infolge ihres Rates die Not Israels vergrößerte.
-
-›Mein Vater hatte ein schweres Joch auf euch gelegt; ich aber will zu
-eurer Last noch zulegen‹ (1. Kön. 11, 12). Das Unglück, das dadurch
-entstand und die Teilung des Reiches.
-
-Hieraus geht klar hervor, daß wir wünschen und beten müssen, daß das
-Herz des Herrschers sich in niemandes Händen befinde, es sei denn in
-den Händen Gottes.
-
-Wir aber achten in unserer Sündhaftigkeit dieser Sorge nicht, und wenn
-ich an einem solchen Tage das Gotteshaus nicht leer sehe, so weiß
-ich erst gar nicht, wie ich das deuten soll! Ich suche nach Gründen
-und sehe, daß sich dieses einzig durch die Angst vor meiner Drohung
-erklären läßt, und daraus schließe ich, daß alle diese Beter ungetreue
-und faule Knechte sind, und daß ihr Gebet kein Gebet ist, sondern ein
-Schacher, ein Schacher im Tempel, angesichts dessen unser Herr und
-Heiland Jesus Christus nicht nur in seinem göttlichen Geiste ergrimmte,
-sondern auch eine Geißel nahm und sie aus dem Tempel vertrieb.
-
-Seinem göttlichen Beispiele folgend, tadle und verurteile ich diesen
-Gewissensschacher, den ich im Gotteshause vor mir sehe. Der Kirche ist
-das Gebet solcher Mietlinge ein Greuel. Vielleicht sollte auch ich eine
-Geißel ergreifen und die Krämer hinaustreiben, die sich heut in diesem
-Tempel breit machen, auf daß kein treues Herz Ärgernis nehme an ihrer
-Arglist ... Doch mag mein Wort ihnen als Geißel dienen. Mag lieber das
-Gotteshaus leer stehen, mich soll das nicht irren: ich will auf meinem
-Haupte den Leib und das Blut meines Herrn in die Wüste tragen und vor
-den wilden Steinen im Meßgewande singen: ›Gott, gib Dein Gericht dem
-Könige und Deine Gerechtigkeit des Königs Sohne,‹ -- auf daß Rußland in
-Ewigkeit erhalten bleibe, dem Du wohlgetan zu allen Zeiten!
-
-Schlußwort: Laß, o Herr und Schöpfer, unser Land nicht zum Gespötte
-der Fremden werden, um der Arglist seiner gewissenlosen und ungetreuen
-Diener willen!«
-
-
-
-
-Zweiundzwanzigstes Kapitel.
-
-
-Das war der Entwurf zu einer Predigt, die Sawelij am folgenden Tage
-zu halten beabsichtigte und auch wirklich vor der versammelten
-Beamtenschaft hielt, -- um damit nicht nur seiner Tätigkeit als
-Prediger, sondern auch seiner ganzen Amtstätigkeit ein jähes Ende zu
-bereiten.
-
-Die Intelligenz von Stargorod war der Meinung, es sei keine Predigt,
-sondern ein Aufruf zur Revolution, und wenn der Propst weiterhin
-so reden würde, werde sich bald kein Beamter auch nur auf der
-Straße zeigen dürfen. Sogar die besten Freunde Sawelijs warfen ihm
-unvorsichtige Aufhetzung der Leidenschaften des Pöbels vor. Eine
-Ausnahme machten nur die beiden Fremden: Bornowolokow und Termosesow.
-Sie hatten die Predigt ebenfalls angehört, aber nichts dazu gesagt und
-keinerlei Verstimmung gezeigt. Im Gegenteil, als sie aus der Kirche
-kamen, war Termosesow mit gefalteten Händen auf Bornowolokow zugegangen
-und hatte mit freudestrahlendem Gesicht gesagt: »Herr, nun lässest du
-deinen Diener in Frieden fahren.«
-
-»Was soll das heißen?« fragte der Vorgesetzte.
-
-»Das soll heißen, daß ich Sie verlasse. Leben Sie wohl und lassen
-Sie sich's gut gehen, aber erweisen Sie mir noch einen letzten
-Liebesdienst: melden Sie der Obrigkeit, der Pope, über den Sie schon
-einmal berichteten, hätte heute, aller Ehrfurcht bar, die einem so
-hohen Festtage geziemte, eine äußerst empörende Rede gehalten, über
-welche der von Ihnen eigens dazu abdelegierte Sekretär Termosesow die
-Ehre haben werde, persönlich eingehend Bericht zu erstatten.«
-
-»Hol Sie der Teufel! Schreiben Sie's auf, ich will's unterzeichnen.«
-
-Die Freunde wollten sich eben voneinander verabschieden, als der
-Kleinbürger Danilka, bleich und entsetzt, von Wasser triefend, in
-zerfetztem Hemde hineingestürzt kam, Bornowolokow zu Füßen fiel und
-jammerte:
-
-»Gnädiger Herr, schicken Sie mich fort, soweit Sie wollen, -- aber hier
-kann ich nicht bleiben! Sie stehen alle am Ufer und jeder will mir in
-die Fresse fahren!«
-
-Und Danilka erzählte, man hätte schon gedroht, ihn totzuschlagen, weil
-er sich über den Propst beschwert hätte, -- und zum Beweis zeigte er
-sein nasses und zerrissenes Gewand; das Volk hätte ihn eben von der
-Brücke in den Fluß geworfen.
-
-»Famos! Aufruhr und Empörung!« rief Termosesow freudig und setzte,
-mitten im Zimmer stehend, seine Mütze auf. »Sehn Sie, so macht man's!«
-fügte er zu Bornowolokow gewandt hinzu.
-
-Und dann reiste er ab. Unmittelbar darauf verließ auch Bornowolokow die
-Stadt in entgegengesetzter Richtung, um anderweitig für Ordnung und
-Gesetzlichkeit zu wirken.
-
-
-
-
-Dreiundzwanzigstes Kapitel.
-
-
-Schon fing man in Stargorod an, Tuberozows Predigt zu vergessen,
-als gegen Abend des dritten Tages ein Postkarren zwei eigentümliche
-Gäste in die Stadt brachte: einen langen hageren Polizeiwachtmeister
-und einen dicken Konsistorialbeamten, rund und schwammig, wie ein
-Bauernpfannkuchen, mit einem winzigen Knöpfchen als Nase.
-
-Es waren die Sendboten, die nach Sawelijs Seele kamen: Unter ihrer
-Obhut sollte der Propst in die Gouvernementsstadt gebracht werden. In
-einer halben Stunde wußte es die ganze Stadt. Vor dem Hause Tuberozows
-stand bald eine große Menschenmenge, und nach einer Stunde ging die Tür
-des Hauses auf, aus der Vater Sawelij völlig reisefertig heraustrat.
-Natalia Nikolajewna ging neben ihm, ihr Taubenköpfchen an seinen
-Ellbogen drückend.
-
-Sie hatten sich gegenseitig zu beruhigen gewußt und jetzt offenbarte
-auch nicht eine Träne ihre etwaige Schwäche.
-
-Das Volk, das auf den Propst gewartet hatte, drängte lärmend vorwärts.
-Tuberozow nahm den Hut ab und verneigte sich tief nach allen Seiten.
-
-Der Lärm verstummte; vielen traten die Tränen in die Augen und alle
-bekreuzigten sich.
-
-Der mit drei Pferden bespannte Postwagen, welcher bisher, auf Befehl
-des zartfühlenden Polizeichefs, hinter dem Hause verborgen gestanden
-hatte, fuhr vor.
-
-Der Propst setzte den Fuß auf den Tritt und faßte mit der Hand die
-Lehne des Wagensitzes. In diesem Augenblick griff ihn der Wachtmeister
-unter den Ellbogen und der Konsistorialbeamte zog ihn an der andern
-Hand empor ... Von Ekel erfaßt fuhr der Alte zusammen. Sein Kopf begann
-heftig zu wackeln wie der einer Puppe, die eine Drahtfeder im Halse hat.
-
-Natalia Nikolajewna trat neben ihren Mann, faßte seine Hand und
-flüsterte: »Schone dein Leben, Liebster!«
-
-Tuberozow sah sie an und erwiderte:
-
-»Sei unbesorgt. Das Leben ist schon zu Ende. Jetzt beginnt das
-Erdenwallen.«
-
-
-
-
-Viertes Buch.
-
-
-
-
-Erstes Kapitel.
-
-
-»Das Leben ist zu Ende, das Erdenwallen beginnt,« hatte Tuberozow im
-letzten Augenblick vor seiner Abreise gesagt. Dann war das Dreigespann
-den Berg hinaufgesaust und hatte ihn den Blicken der Seinigen entzogen.
-
-Die Leute, die ihm das Geleit gegeben, blieben noch eine Zeitlang,
-bis endlich ein jeder seines Weges ging. Die Nacht brach herein, alle
-Pforten und Pförtchen wurden verschlossen und verriegelt und der Mond
-konnte aus seiner blauen Höhe auf dem vereinsamten Pfarrhofe nur noch
-die ebenfalls vereinsamte Natalia Nikolajewna erblicken.
-
-Sie beeilte sich nicht, ins Haus zurückzugehen, sondern saß weinend
-auf der Veranda, von der ihr Mann vor kurzem heruntergestiegen war.
-Schluchzend drückte sie ihren kleinen Kopf gegen das Geländer, -- ach,
-sie hatte keinen Freund, keinen Tröster! Doch nein! Ein Freund war da,
-ein treuer, zuverlässiger Freund ...
-
-Plötzlich wurde das Pförtchen weit aufgerissen und vor die weinende
-Alte trat der Diakon Achilla. Er war barhäuptig, in einem kurzen dicken
-Leibrock und weiten Hosen und mit mehreren Säcken beladen. Hinter
-sich zog er zwei Pferde, deren jedes ein großes schweres Bündel auf
-dem Rücken trug. Natalia Nikolajewna sah schweigend zu, wie Achilla
-die Pferde in den Hof führte, sie von ihrer Last befreite, und wieder
-zum Pförtchen ging, das er mit der Energie eines sorgsamen Hausvaters
-verschloß und den Schlüssel in die Tasche steckte.
-
-»Diakon! Du kommst zu mir!« rief Natalia Nikolajewna, welche seine
-Absicht begriffen hatte.
-
-»Ja, du leidende Mutter, ich bin gekommen, dich zu behüten.«
-
-Sie umarmten und küßten sich, und Natalia Nikolajewna begab sich in
-ihr Schlafzimmer, um dort weiter zu wachen, Achilla aber brachte seine
-Pferde in die Scheune, breitete dann eine Filzdecke auf der Veranda
-aus, streckte sich lang auf derselben aus und vertiefte sich in den
-Anblick des Sternenhimmels. Während der ganzen Nacht schlief er nicht.
-Er dachte nur daran, wie er seinem Justizminister helfen könnte. Das
-war etwas anderes, als den Warnawka verprügeln! Hier war Verstand
-nötig. Aber was kann der Verstand allein, wenn ihm keine äußere Gewalt
-zur Seite steht? Ja, hätte man, wie es in dem Märchen erzählt wird,
-einen Zaubermantel oder Siebenmeilenstiefel. Oder eine Tarnkappe! Dann
-würde er gewußt haben, was er zu tun hätte! So aber, so! Der Diakon
-wußte sich absolut keinen Rat, und dennoch mußte etwas unternommen
-werden.
-
-Als Achillas Gedanken beim Zaubermantel und bei der Tarnkappe angelangt
-waren, da kam es dem an keinerlei sophistische Grübeleien Gewohnten
-vor, als fiele eine kaum noch zu tragende, schwere Last ihm von der
-Seele, er atmete auf und flog selbst auf dem Zaubermantel in die Ferne
-hinaus. Unsichtbar trat er in den Siebenmeilenstiefeln und mit der
-Tarnkappe zu dem einen und dem andern der hohen Würdenträger, zu
-denen er ohne Zaubermittel nicht hoffen konnte zu gelangen. Er weckte
-sie durch einen sanften Rippenstoß aus dem Schlaf und sagte: »Tut dem
-Pfarrer Sawelij kein Leid an. Ihr werdet's sonst, wenn es zu spät ist,
-zu bereuen haben.«
-
-Als die hohen Herren die Stimme des Unsichtbaren vernahmen, warfen
-sie sich unruhig auf ihrem Lager hin und her, sprangen plötzlich
-auf, liefen hinaus und schrien: »Um Gottes willen, nehmt euch des
-Pfarrers Sawelij an!« ... Aber das alles läßt sich in unseren Tagen
-nur mit Hilfe von Siebenmeilenstiefeln und einer Tarnkappe erreichen,
-und es war gut, daß Achilla rechtzeitig daran gedacht und sich damit
-versehen hatte. Dank ihnen allein konnte der Diakon in seiner gelben
-Nankingkutte in einen strahlenden Palast dringen, dessen Glanz ihn
-so unerträglich blendete, daß er selbst nicht froh war, sich dort
-hineingewagt zu haben. Die Stätte, welche er vorher besucht hatte,
-hätte schließlich wohl auch genügt, aber die Siebenmeilenstiefel waren
-in Schuß gekommen und hatten ihn an einen Ort gebracht, wo er infolge
-der blendenden Helle kaum etwas unterscheiden konnte, so daß er Sawelij
-und seine Mission am Ende ganz vergaß und nur noch dachte, wie er
-wieder fortkommen könnte. Die geschwinden Stiefel aber trugen ihn immer
-höher und höher hinauf, und das Zauberwort, das ihnen Halt gebieten
-konnte, hatte er vergessen ...
-
-»Ich verbrenne, bei Gott, ich verbrenne!« schrie der Diakon
-und versuchte sich hinter einem vor ihm auftauchenden kleinen
-Schattenfleckchen zu verbergen, -- als ihm zu seiner Verwunderung aus
-diesem Fleckchen die sanfte Stimme des Zwerges Nikolai Afanasjewitsch
-entgegentönte.
-
-»Hört doch auf, Vater Diakon, im Schlaf zu schreien, daß Ihr verbrennt!
-Allenfalls vor Scham müßten wir alle verbrennen!« sprach der Zwerg,
-das Gesicht des Diakons durch seine kleine Gestalt vor der Sonne
-schützend.
-
-Achilla sprang auf, stürzte zur Wasserbütte und leerte zweimal
-hintereinander den großen eisernen Schöpfkrug.
-
-»Von was für einer Scham redest du da, Nikola?« fragte er, seine Locken
-mit Wasser anfeuchtend.
-
-»Ei, wo ist unser Propst? He?«
-
-»Der Propst, Freund Nikolaurus, ist futsch. Gestern haben sie ihn
-weggeschafft.«
-
-»Was heißt das -- ›futsch‹, mein Herr? Wir müssen ihn freibekommen!«
-
-»Liebster, ich hab' die ganze Nacht darüber gegrübelt, aber ich kriege
-nichts raus.«
-
-»Das ist es eben. Einen Stein ins Wasser werfen kann jeder, -- aber ihn
-zurückbekommen?«
-
-Und Nikolai Afanasjewitsch wackelte auf seinen knarrenden Stiefelchen
-in das Zimmer der Pröpstin, hielt sich hier einen Augenblick auf und
-bat dann den Diakon, ihn zu begleiten. Beide begaben sich erst zum
-Polizeichef und nachher zum Richter. Mit beiden hatte der Zwerg eine
-lange Beratung, aber weder der eine noch der andere konnte ihm etwas
-Tröstliches sagen.
-
-»Das einzige, was ich tun kann,« sagte plötzlich der Richter, »ist, an
-den Staatsanwalt in der Gouvernementsstadt zu schreiben. Er ist ein
-Studiengenosse von mir und wird sicher gern bereit sein, irgend etwas
-für den Propst zu tun.«
-
-Der Vorschlag fand lebhaften Beifall beim Polizeichef. Nikolai
-Afanasjewitsch dachte anders darüber, hielt es aber für unangebracht,
-zu widersprechen.
-
-Nun fragte sich's, wie man den Brief an seine Adresse gelangen ließ?
-Die nächste Post ging erst in zwei Tagen, eine Estafette schien beiden
-Beamten zu pomphaft, zudem konnte die Postmeisterin, die Freundin
-Termosesows, den alle nach den von Achilla gemachten Angaben für den
-eigentlichen Denunzianten hielten, diesem Ehrenmann mit derselben
-Estafette Nachricht geben.
-
-Als er von dieser Schwierigkeit vernahm, erklärte der Diakon, er würde
-schon alles regeln; wenn der Brief nur fertig sei, setze er seinen Kopf
-zum Pfande, daß er sich morgen in den Händen des Adressaten befinde.
-
-Abends, als es schon dunkelte, erschien vor dem Hause des Vaters
-Zacharia ein riesiger schwarzer Reiter, klopfte sacht ans Fenster und
-rief den »sanften Popen« beim Namen.
-
-Zacharia öffnete das Fenster und fragte, als er den Reiter erblickte:
-
-»Bist du es, der da als Schreckgespenst kommt?«
-
-»Pst ... Ruhe und Schweigen tun not!« antwortete der Reiter
-geheimnisvoll und suchte sein ungeduldiges Roß durch kräftigen
-Schenkeldruck ruhig zu halten.
-
-Zacharia sah sich nach allen Seiten um -- Straße und Ufer waren
-menschenleer -- und flüsterte:
-
-»Wohin willst du und was beabsichtigst du?«
-
-»Ich kann Euch nichts mitteilen, denn ich habe mein Wort gegeben,«
-antwortete der Reiter mit derselben geheimnisvollen Miene wie vorhin.
-»Ich bitte Euch nur, sucht mich morgen nicht und fragt nicht nach dem
-Zweck meines Ritts ... Doch, ob ich auch mein Wort gegeben, ich will's
-Euch allegorisch sagen:
-
- Nordwärts zieht's den Kosaken hin
- Und nicht nach Ruhe steht sein Sinn,
-
-in der Mütze aber hab' ich
-
- Ein Schreiben an den Zaren Peter
- Über den Hetman, den Verräter ...
-
-Habt Ihr verstanden?«
-
-»Nichts hab' ich verstanden.«
-
-»So muß es auch bei einer richtigen Allegorie sein.«
-
-Der Reiter schlug sich mit der Faust gegen die Brust und sagte:
-
-»Das eine sollt Ihr noch wissen, Vater Zacharia, daß der Reiter kein
-Kosak ist, sondern der Diakon Achilla, und daß mein Herz die Kränkung
-nicht dulden mag, mein Verstand aber kein Mittel findet, ihm zu helfen.«
-
-Nach diesen Worten ließ der Diakon seinem Pferde die Zügel fahren,
-drückte es mit den Knien zusammen und ritt nicht, sondern flog davon,
-so daß seine Locken, die langen Enden und weiten Ärmel seiner Kutte,
-der Schweif und die Mähne des Pferdes wild flatternd vom dunkelblauen
-Hintergrund des nächtlichen Himmels abstachen.
-
-
-
-
-Zweites Kapitel.
-
-
-Nikolai Afanasjewitsch hatte mit Recht nicht viel von dem Brief
-erwartet, mit dem der Diakon davongeritten war. Achilla blieb eine
-ganze Woche fort, und als er gesenkten Hauptes auf mattem Pferde
-heimkam, berichtete er, daß er mit seinem Briefe nichts ausgerichtet
-habe und auch nichts habe ausrichten können.
-
-»Warum denn das?« fragte man ihn.
-
-»Sehr einfach! Weil der Vater Sawelij selbst zu mir sagte: ›Laß ab,
-mein Lieber, wir Geistlichen haben keinen, der sich unser annimmt.
-Bitte alle, daß sie mir den Gefallen tun, sich nicht für mich zu
-verwenden.‹«
-
-Und der Diakon wollte darüber weiter gar nicht reden.
-
-Viel lieber erzählte Achilla, wie er den Propst angetroffen und was
-dieser in der einen Woche erlebt hatte.
-
-»Der Bischof«, so berichtete er, »ist gar nicht so böse auf ihn, ja
-eigentlich überhaupt nicht erzürnt, er hat ihn bloß aus Politik der
-Marter überantwortet, um es mit der weltlichen Obrigkeit nicht zu
-verderben. Deswegen allein wurde der Vater Sawelij in die Stadt geholt.
-Jawohl! Und der Vater Sawelij könnte die ganze Schuld von sich abwälzen
-und zu uns zurückkommen, denn der Bischof hält es insgeheim mit ihm ...
-Jawohl! Gleich am nächsten Tage wurde ihm eine geheime Mitteilung vom
-Bischof, daß er zum Herrn Gouverneur gehen solle und um Entschuldigung
-bitten ... Jawohl! Aber der Vater Sawelij hat in seiner Hartnäckigkeit
-sehr schroff darauf geantwortet: ›Ich bin mir keiner Schuld bewußt,
-kann also auch nicht um Vergebung bitten!‹ Dadurch hat er nun auch den
-Bischof aufgebracht. Jawohl! Aber auch jetzt war der Zorn nicht groß,
-denn den Beschluß des Konsistoriums, eine Untersuchung wegen jener
-Predigt einzuleiten, hat er mit einem großen blauen ~X~ durchstrichen
-und alle Gemüter im stillen beruhigt, indem er den Vater Sawelij dem
-niedern Klerus am Bischofshofe zuzählen ließ. Jawohl!«
-
-»Und Vater Sawelij dient jetzt?« fragte Zacharia.
-
-»Jawohl! Er liest die Hora und die Parömie, aber seinen Sinn ändert er
-nicht, und auf die politische Frage der Eminenz: ›Worin hast du dich
-vergangen?‹ -- antwortete er noch politischer, als hätte er die Frage
-nicht verstanden: ›In diesem Leibrock, hohe Eminenz!‹ -- und hat sich
-dadurch nur geschadet. Jawohl!«
-
-»A--a--ach!« rief Zacharia und schüttelte verzweifelt den kleinen Kopf,
-sich die Ohren mit den Händchen zuhaltend.
-
-»Er hat sich bei einem Gendarmenwachtmeister in der Klostervorstadt ein
-gelbes Stübchen für zweiundeinenhalben Silberrubel monatlich gemietet
-und läuft jeden Morgen mit seinem Krug an den Fluß hinunter nach
-Wasser. Aber Gesicht und Gestalt sind sehr spitz geworden, und er läßt
-Euch sagen, Natalia Nikolajewna, Ihr möchtet recht bald zu ihm kommen.«
-
-»Morgen noch reise ich hin,« antwortete die Pröpstin weinend.
-
-»So, das wären sämtliche Neuigkeiten. Der Staatsanwalt aber, dem ich
-den Brief brachte, sagte nur: ›Die ganze Sache geht mich gar nichts
-an, ihr habt eure eigene Obrigkeit.‹ Er hat mir auch keinen Brief
-mitgegeben, sondern nur schön grüßen lassen. Nehmen Sie also, bitte,
-hiermit seinen Gruß entgegen, wenn Ihnen was dran liegt. Und noch einen
-Gruß an Sie alle habe ich, vom Herrn Termosesow. Ich traf ihn in der
-Stadt; er kam in einem feinen Wagen vorbeigefahren und rief, wie er
-mich sah: ›Warte mal ein wenig hier vor dem Tor, Diakon, ich bring dir
-gleich etwas. Eure Postmeisterin nebst Töchtern hat mir bei meiner
-Abreise ihr Stammbuch aufgehalst. Ich sollte ihr da ein paar Verse
-hineinschreiben. Ich hab's versehentlich mitgenommen, und nun weiß ich
-nicht, wie ich's ihr zurückschicken soll. Sei so gut und nimm's mit!‹
-Ich denke mir: Hol dich dieser und jener! Gib her, sag' ich, um ihn
-loszuwerden. Hier ist es!«
-
-Der Diakon holte aus der Tasche seines Leibrocks ein dünnes Büchlein
-mit bunten Blättern und las vor:
-
- »Auf das letzte Blatt Papier
- Schreibe ich der Zeilen vier,
- Voller Ehrfurcht, meine Damen ...
- Wohl bekomm's in Teufels Namen!
-
-Damit bezeugt er Euch seine Ehrfurcht, -- nehmt sie also hin als den
-Lohn, der Euch gebührt.«
-
-Und Achilla warf das Album mit der Ehrfurchtsbezeigung Termosesows auf
-den Tisch und begab sich in den Pferdestall, um sich dort nach den
-Reisestrapazen auszuschlafen.
-
-Am Tage darauf reiste Natalia Nikolajewna zu ihrem Gatten, und der
-Diakon blieb allein in dem Hause des Verbannten zurück.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
-
-Ein Tag verging wie der andere. Die Stadt unterhielt sich mit
-Neuigkeiten, die mit unserer Geschichte nichts zu tun haben. Tuberozow
-blieb in Acht und Bann und seine Freunde schienen sich vollständig
-damit beruhigt zu haben, daß »hier nichts zu machen« wäre. Die Feinde
-des Propstes zeigten sich etwas besser als die Freunde: wenigstens
-einige von ihnen hatten ihn nicht vergessen. Für ihn setzte sich zum
-Beispiel die feine Frau Postmeisterin ein, die Termosesow die ihr
-angetane schwere Beleidigung nicht vergessen konnte und noch weniger
-geneigt war, der Gesellschaft ihre Schadenfreude zu verzeihen. Sie
-wollte ihr vielmehr zeigen, daß sie allein feinfühliger, klüger,
-weitsichtiger, ja auch ehrlicher sei, als sie alle.
-
-Dazu bot sich ihr nun eine Gelegenheit, die sie wiederum sehr fein
-und boshaft auszunutzen wußte. Sie beschloß, die Gesellschaft durch
-unerhörten Glanz zu blenden und ihre Autorität in den Augen der biedern
-Stargoroder auf eine bisher nie dagewesene Höhe zu heben.
-
-Etwa sechs Werst von der Stadt entfernt hatte eine Petersburger Dame,
-Frau Mordokonaki, ihren Sommeraufenthalt auf einem wunderschönen
-Landgut. Der alte Mann dieser jungen und sehr hübschen Frau hatte, als
-er noch Branntweinpächter war, bei einer der Postmeisterstöchter Pate
-gestanden. Das schien nun der Frau Postmeisterin eine völlig genügende
-Veranlassung, die junge Gattin des alten Mordokonaki zum Namenstag des
-Patenkindes ihres Mannes einzuladen, und bei der Gelegenheit wollte
-sie die Bitte aussprechen, die bekannte Philantropin und Freundin der
-Kirche möge sich doch des verfolgten Tuberozow annehmen.
-
-Das war nicht übel ausgedacht. Die junge und fabelhaft reiche
-»Wohltäterin« hatte Einfluß in der Residenz und genoß bei den
-Gewalthabern im Gouvernement hohe Achtung. Jedenfalls hätte sie, wenn
-sie wollte, für den gemaßregelten Propst mehr tun können, als sonst
-jemand. Ob sie es aber wollte? Darum eben sollte die ganze Gesellschaft
-sie bitten.
-
-Die Dame langweilte sich in ihrer Einsamkeit und nahm daher die
-Einladung der Postmeisterin dankend an. Die giftige Frau Postmeisterin
-triumphierte. Sie zweifelte nun nicht mehr, daß sie die Honoratioren
-der Stadt durch ihr unerwartetes Eintreten für den alten Tuberozow
-verblüffen werde, und daß infolgedessen alle sich notgedrungen ihr
-anschließen würden, gleichsam als Chorus, als zweite Garnitur.
-
-Die Postmeisterin schwelgte in solcherlei süßen Träumen, -- bis endlich
-der Tag ihrer Erfüllung gekommen war.
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
-
-Die Hausfrau begrüßte die Gäste und war glückselig, als sie merkte, daß
-keiner sich mit ernsten Gedanken trug, daß das Schicksal des verbannten
-Priesters längst niemanden mehr beschäftigte.
-
-Die Gäste waren sämtlich in fröhlichster Stimmung. Als erster erschien
-der »Kreiskommandant«, Invalidenhauptmann Powerdownia, ein rothaariger
-Offizier mit großen runden Augen, der sich vom Proviantschreiber
-hinaufgedient hatte.
-
-Die große, üppige Madame Mordokonaki überstrahlte die ganze
-Gesellschaft und alles wirkte neben ihr matt und unbedeutend. Sogar
-Daria Biziukina schien ganz klein geworden. Die Hausfrau floß über von
-Schmeichelreden, führte dem Gast die interessantesten Leute zu und bat
-den Hauptmann Powerdownia und den Lehrer Warnawa Prepotenskij, die
-Dame aufs beste zu unterhalten. Leute, die sich zur Unterhaltung mit
-der Petersburgerin nicht eigneten, wurden beiseite geschafft, wie der
-Bürgermeister, welcher die Gewohnheit hatte, im Gespräch oftmals die
-Redensart anzuwenden: »Da spuck mir einer ins Maul«, sowie ein alter
-Major, der im Kaukasus gedient und die Veranlassung zur Entstehung des
-schönen Vergleichs gegeben hatte: »Dumm wie ein kaukasischer Major«,
-und schließlich der Diakon Achilla. Diese drei Personen waren sehr
-glücklich in einer kühlen Kammer untergebracht, wo die Weine und
-kalten Speisen bereitstanden. Sie waren über ihre Verbannung keineswegs
-betrübt. Ganz ungeniert und in nächster Nähe der Speisen führten
-sie äußerst lebhafte Gespräche und philosophierten sogar. Der Major
-wollte wissen, »woher die Frechheit komme«, und erklärte sie daraus,
-daß die Menschen heutzutage sehr verwöhnt seien -- was er durch eine
-ganze Menge von Argumenten zu beweisen suchte. Achilla aber wollte so
-viele Gründe nicht gelten lassen und sagte, die Frechheit hätte zwei
-Ursachen: »den Zorn und noch häufiger den Wein.«
-
-Der Major dachte nach und meinte dann, es gebe allerdings eine
-Frechheit, die vom Wein komme.
-
-»Glauben Sie mir, es ist so,« meinte der Diakon und leerte ein großes
-Glas Likör. »Ich kann mich selbst als Beispiel anführen. Im Dusel bin
-ich ein sehr netter Kerl, denn ich werde weder wild, noch habe ich böse
-Gedanken; aber, meine lieben Freunde, ich prahle im Dusel nur zu gerne.
-Bei Gott! Und nicht, daß ich irgendeine Absicht damit verfolge, nein,
-es ist, als ob meine Natur es verlangte.«
-
-Der Bürgermeister und der Major lachten.
-
-»Wahrhaftig!« fuhr der Diakon fort. »Ich fange zum Beispiel an zu
-erzählen, die Gemeinde habe sich an den Bischof gewandt mit der Bitte,
-mich zum Pfarrer zu ordinieren, was ich selber nicht mal wünsche;
-oder ein andermal behaupte ich, die Kaufmannschaft des Gouvernements
-petitioniere um meine Ernennung zum Protodiakon; oder ...« Der Diakon
-sah sich ängstlich um und fuhr dann im Flüstertone fort: »Einmal
-platzte ich heraus, ich wäre in jungen Jahren mit der Tochter des
-Konsistorialsekretärs verlobt gewesen! Also, ich sag' Ihnen, ich hätte
-mich am liebsten umgebracht, als man mir später von dieser meiner
-bodenlosen Frechheit erzählte.«
-
-»Wenn der Sekretär das erfahren hätte, hätte es schlimm werden können,«
-bemerkte der Major.
-
-»Und wie schlimm! Ganz scheußlich!« bestätigte der Diakon und kippte
-noch ein Gläschen.
-
-»Na, wenn wir schon mal davon reden, will ich Ihnen noch etwas
-erzählen.« Und seine Stimme noch mehr dämpfend, fuhr er fort: »Ich bin
-durch diese meine Flunkerei einmal schon in eine so üble Lage gekommen,
-daß ich aufs Haar einer öffentlichen Exekution unterworfen worden wäre.
-Haben Sie nichts davon gehört?«
-
-»Nein, absolut nichts.«
-
-»Es war eine ganz böse Sache. Man hätte mich einfach henken können --
-auf Grund des ersten Paragraphen im Gesetz!«
-
-»Unmöglich!« rief der Major, ganz aufgeregt.
-
-»Warum unmöglich? Es hätte ganz leicht geschehen können, wenn ein guter
-Mensch mich nicht gerettet hätte.«
-
-»So erzählt uns doch die Geschichte, Vater Diakon!«
-
-»Ja, sofort, ich will nur noch erst ein Schnäpschen nehmen.«
-
-Achilla leerte noch ein Gläschen und begann den Bericht über sein
-Verbrechen gegen den ersten Gesetzesparagraphen.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
-
-»Das kam alles daher,« fing der Diakon an, »daß ich vor Ostern nach
-der Gouvernementsstadt fuhr -- mit zwei Pferden. Eins war meines
-und das andere gehörte dem Subdiakon Serioga. Wir hatten sie beide
-vor einen Wagen gespannt. Serioga wollte seine Kinder aus der Stadt
-abholen, und was ich da zu suchen hatte, das mag der Teufel wissen.
-Ich wollte wohl ein paar gute Bekannte wiedersehen. Als wir nun vor
-die Stadt kamen, sahen wir, daß die Brücke fort war und eine Fähre
-die Leute hinüberschaffte. Am Ufer herrschte ein fürchterliches
-Gedränge; Kopf an Kopf standen die Menschen da; im Zollhäuschen aber
-hatte ein Soldat einen Branntweinausschank. Na, da die Reihe an uns
-noch nicht so bald kommen konnte, gingen wir hinein und tranken ein
-jeder zwei Gläschen, uns zu erwärmen. Auch hier war alles voll von
-Leuten: Mönche und Fuhrleute und Soldaten und Beamte -- das sind die
-allerschlimmsten -- und auch einige Amtsbrüder. Es fanden sich auch
-ein paar Bekannte aus unserer Gegend, und so mußte man, anläßlich des
-frohen Wiedersehens, gleich noch zwei Gläschen kippen. Ein Schreiber,
-ein ungeheuer freches Maul, fing an, uns aufzuziehen. Ich sagte ihm:
-›Geh hin, wo du hergekommen bist. Du gehörst nicht zu uns.‹ Darauf er:
-›Ich bin ein Offizier meines Kaisers!‹ Und ich: ›Ich selbst bin so
-gut wie ein Stabsoffizier, mein Bester!‹ -- ›Stabsoffizier‹, sagt er
-drauf, ›ist der Pope, du bist aber sein Untergebener.‹ Da sage ich,
-vor dem Throne Gottes stünde ich allerdings unter dem Popen meinem
-Amte nach, in der Politik aber seien wir beide gleich. Da ging der
-Streit los. Ich wurde immer hitziger, infolge der vielen Gläschen,
-und rief schließlich: ›Du Tintenseele, was verstehst denn du davon?
-Du kannst doch die Heilige Schrift gar nicht verstehen, denn du hast
-keine Gedärme im Kopf. Sag doch mal, hat je ein Pope auf dem Zarenthron
-gesessen?‹ ›Nein,‹ sagt er. ›Na also! Ein Diakon aber ist Zar gewesen
-und hat die Krone auf dem Haupt getragen!‹ -- ›Wer war denn das?‹ fragt
-er. ›Wann ist das gewesen?‹ -- ›Ja, wann? Ich bin kein Arithmetikus und
-hab' die Jahreszahlen nicht alle im Kopf, aber nimm mal ein Buch zur
-Hand und lies nach, was Grigorij Otrepiew war, bevor er als Demetrius
-Zar wurde, dann wirst du sehen, was ein Diakon wert ist.‹ -- ›Nu ja,‹
-sagt er, ›das war Otrepiew, aber du, du bist eben kein Otrepiew!‹ --
-Besoffen, wie ich bin, platz ich auf einmal los: ›Woher kannst du denn
-das wissen? Vielleicht bin ich noch viel mehr? Der sah dem Demetrius
-ähnlich, und ich habe vielleicht ein Gesicht wie irgendein Franziskus
-Venezianus oder ein Mahmud und werde auch König!‹ Kaum hatt' ich das
-gesagt, meine Lieben, so erhebt dieser verfluchte Federfuchser ein
-Geschrei, ruft Zeugen auf, bringt die Sache zu Papier. Man packte
-mich, band mich, setzte mich in einen Wagen, gab mir einen Polizisten
-mit und schaffte mich in die Stadt. Na und dann -- Gott schenke ihm
-Gesundheit und langes Leben und nach dem Tode die ewige Seligkeit --
-dem Gendarmenoberst Albert Kasimirowitsch, der damals an der Spitze
-der Geheimpolizei stand! Am Morgen ließ er mich zu sich kommen, rief
-seine Frau herbei und sagte: ›Da, sieh mal, Herzchen, so sieht ein
-Thronprätendent aus.‹ Und dann lachte er mich noch tüchtig aus und
-ließ mich laufen. ›Geh nur, Vater Mahmud,‹ sagte er, ›und in Zukunft
-zähle die Gläser, die du leerst.‹ Gott schenke ihm ein langes Leben!«
-wiederholte der Diakon noch einmal und hob sein Glas. »Ich will auch
-heut noch auf sein Wohl trinken!«
-
-»Da seid Ihr noch glücklich aus der Klemme gekommen,« sagte der Major
-langsam.
-
-»Und ob! Ich sag's ja: der Pole ist ein guter Kerl. Der Pole liebt die
-Regierung nicht, und wo es gegen sie geht, ist er immer nachsichtig.«
-
-Gegen Mitternacht wurde die Unterhaltung der drei Einsiedler
-unterbrochen; denn die Stunde war gekommen, in der auch sie sich der
-Gesellschaft anschließen durften: man bat sie zu Tische.
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel.
-
-
-Das Fest sollte jetzt seinen Höhepunkt erreichen.
-
-Kaum hatten alle Platz genommen, so sprang auch schon der Hauptmann
-Powerdownia wieder auf und apostrophierte die Petersburger Dame
-folgendermaßen:
-
- »Die uns gesandt ein gütiger Himmel,
- Du Holde, Schöne!
- Dich grüßen aus dem irdischen Gewimmel
- Meiner Leier Töne!
- Steig hernieder zu uns aus des Äthers Bläue
- Und laß dich's nicht verdrießen
- Von dieses Festes Gaben zu genießen,
- Die wir dir spenden in Begeisterung und Treue!«
-
-Die Aristokratin aus dem Geschlecht der Branntweinpächter hörte dem
-Dichter mit lieblichem Erröten zu und empfing aus seinen Händen ein
-Blättchen, auf dem, nicht ganz orthographisch, aber mit kunstreichen
-Schnörkeln, das Gedicht verewigt war.
-
-Die Hausfrau war entzückt, aber die Gäste waren sowohl über das
-Gedicht, als auch über die Wahl des Augenblicks für seinen Vortrag sehr
-verschiedener Meinung.
-
-Doch wie dem auch sei, die ganze Gesellschaft wurde ungemein lustig,
-was der Postmeisterin gar nicht recht paßte. Man redete so laut und
-lebhaft durcheinander, daß es der Hausfrau unmöglich wurde, eine etwa
-eintretende Pause zu benutzen, um an den verbannten Propst zu erinnern.
-Die Petersburgerin schien sich übrigens sehr gut zu unterhalten. Sie
-wisse gar nicht, meinte sie zur Postmeisterin, wie sie ihr danken solle
-für das Vergnügen, das ihre Gäste ihr verschafft, und wenn ihr etwas
-leid tue, so sei es nur der Umstand, den Diakon und den Hauptmann
-Powerdownia erst so spät kennen gelernt zu haben. Als Powerdownia
-dieses Urteil hörte, sprang er auf und machte der Dame eine tiefe
-Verbeugung. Auch der Diakon nahm das Lob nicht gleichgültig hin: er gab
-Prepotenskij einen Rippenstoß und sagte:
-
-»Siehst du wohl, du Schafskopf, wie hoch man uns schätzt! Von dir sagt
-keiner was.«
-
-»Selber Schafskopf!« erwiderte der geärgerte Lehrer ebenso leise.
-
-Powerdownia sann einen Augenblick nach, dann packte er den Diakon fest
-am Arm, stand mit ihm zusammen auf und sagte in beider Namen:
-
- »Wir wollen heilig dein Gedächtnis ehren,
- Und sollten Jahre vorübergehen.
- O lichter Geist, laß dich erflehen:
- Woll unserer Bitte Erhörung gewähren!«
-
-Hierauf setzten sie sich wieder unter donnerndem Applaus.
-
-»Siehst du wohl? Und du weißt wieder nichts zu sagen,« wandte sich
-Achilla vorwurfsvoll an den Lehrer. Powerdownia aber war schon wieder
-aufgesprungen und redete die Hausfrau also an:
-
- »Du bist genannt Matrona
- Und aller Frauen Krona!
- Hurra!«
-
-»O dieser Hauptmann! Er ist die Seele der Gesellschaft,« meinte die
-Postmeisterin geschmeichelt.
-
-»Und du bringst immer noch nichts fertig,« ließ der Diakon dem Warnawa
-keine Ruhe.
-
-»Wollen wir alle Verse deklamieren!«
-
-»Ja, alle! Der Polizeichef muß anfangen!«
-
-»Warum nicht? Ich will's gerne versuchen!« sagte der Polizeichef. »Ganz
-ungeniert: wer nichts weiß, braucht nicht mitzumachen.«
-
-»Anfangen! Fix, Herr Rittmeister! Was soll das? Anfangen!«
-
-Der Rittmeister Porochontzew stand auf, hob sein Glas bis zur Höhe
-seines Gesichtes, sah durch den Wein gegen das Licht und fing an:
-
- »Als der Despot entsagte seinem Thron,
- Um so durch abgefeimte Lügen
- Sein Opfer, Rußland, in den Schlaf zu wiegen,
- Und es alsdann noch schlimmer zu bedrohn, --
- Da ließ die Freiheit ihre Stimm' erschallen,
- Und hätte Rußland drauf gehört,
- Ihm wär' ein neuer Tag beschert,
- Die Fesseln wären abgefallen.
- Doch gleich dem Diebe, den der Morgen schreckt,
- Hast schmählich du dich vor dem Freund versteckt!
- Der rief: Der Juden Greueltaten,
- Der schnöde Abfall der Uniaten,
- Und alle Sünden der Sarmaten, --
- Es komme alles auf mein Haupt,
- Ich trag' es ohne viel Bedenken,
- Könnt' ich dem Volk der Russen wieder schenken
- Die Freiheit, die man ihm geraubt!
- Hurra!«
-
-»Alle tragen etwas vor, nur du nicht,« fing der Diakon, sich an
-Prepotenskij wendend, wieder an.
-
-»Nein, Freundchen, sag was du willst, -- wenn du trinkst und nichts
-vorzutragen weißt, dann bist du kein Mensch, sondern bloß eine Bütte
-voll Wein.«
-
-»Laßt mich mit Eurer Bütte in Frieden! Ihr seid selbst eine!«
-antwortete der Lehrer.
-
-»Wa--a--as?!« schrie Achilla gekränkt. »Ich eine Bütte? Und das wagst
-du mir ins Gesicht zu sagen! Ich eine Bütte?«
-
-»Ja, natürlich!«
-
-»Wa--a--as?!«
-
-»Ihr könnt ja selber nichts vortragen!«
-
-»Ich nichts vortragen? O du dreifacher Dummkopf! Wenn ich bloß will, so
-trage ich dir so etwas vor, daß du aufspringen und mir stehend zuhören
-mußt!«
-
-»Na, versucht es doch mal!«
-
-»Gleich werd ich's auch, damit du dich überzeugst, daß ich tatsächlich
-auch den Oberkiefer bewegen kann!«
-
-Mit diesen Worten erhob sich Achilla, sah die ganze Gesellschaft mit
-weitaufgerissenen Augen an, richtete den Blick schließlich starr auf
-ein Salzfaß, das in der Mitte des Tisches stand, und fing mit seinem
-tiefen weichen Baß an:
-
- »Ein geru--u--u--hig und friedli--i--i--ch Leben,
- Gesu--u--undheit und Wo--o--ohlergehen ... und heilsa--a--ames
- Wirken und Scha--a--a--ffen ... und Sieg über die Feinde ...«
- usw. usw.
-
-Achillas Stimme griff immer höher, Stirne, Kinnbacken, Schläfe, die
-ganze obere Hälfte seines breiten Gesichtes waren mit Schweiß bedeckt
-und glühten in feurigem Rot; die Augen krochen aus ihren Höhlen, auf
-den Wangen und an den Mundwinkeln zeigten sich weiße Flecke, der Mund
-war weit aufgerissen wie eine Trompete und mit Dröhnen und Krachen
-entstieg ihm das »Heil und Segen«, das alle unbelebten Wesen im Hause
-erzittern machte und die Lebendigen zwang, sich von den Plätzen zu
-erheben und, ohne die erstaunten Augen von dem geöffneten Munde des
-Diakons zu wenden, gleich nachdem der letzte Ton verklungen, im Chor
-einzufallen: »Heil und Segen! Heil und Se--e--egen!«
-
-Warnawa allein wollte bei seiner Beschäftigung bleiben und gemächlich
-weiteressen, aber Achilla riß ihn mit Gewalt in die Höhe und sang, ihn
-fest am Arm haltend: »Heil und Se--e--e--gen! Heil und Se--e--e--egen!«
-
-Der Bürgermeister gab seinem Nachbar eine blaue Fünfrubelnote, die er
-dem Diakon weitergeben sollte.
-
-»Was heißt denn das?« fragte Achilla.
-
-»Der ganzen Verwaltung. Sing noch ›der ganzen Verwaltung und dem
-christlichen Heer‹,« bat der Bürgermeister.
-
-Der Diakon steckte die Note in die Tasche und stimmte nochmals an:
-
-»Und der ganzen Verwaltung und dem chri--i--istlichen Hee--e--e--ere
-Heil und Se--e--e--gen!«
-
-Hier übertraf Achilla sich selbst, und als er schloß, wagten nur noch
-der Vater Zacharia, der an die Stimme des Diakons gewöhnt war, und der
-Bürgermeister einzufallen: alle übrigen Gäste waren auf ihre Stühle
-gesunken und hielten sich an den Lehnen, dem Tisch oder ihren Nachbarn
-fest.
-
-Der Diakon war höchst befriedigt.
-
-»Sie haben einen wunderbaren Baß,« sagte die Petersburger Dame, die
-zuerst wieder zu sich gekommen war.
-
-»Ach Gott, es war ja nicht deswegen, ich wollte nur zeigen, daß ich
-kein Feigling bin und sehr gut etwas vortragen kann.«
-
-»Schau, schau, wer ist denn hier feige?« mischte sich Zacharia ins
-Gespräch.
-
-»Vor allem Ihr selber, Vater Zacharia! Ihr könnt ja nicht mal mit den
-Vorgesetzten richtig sprechen: Ihr fangt gleich an zu stottern.«
-
-»Das ist wahr,« bestätigte Zacharia, »ich komme leicht ins Stottern,
-wenn ich mit einem Vorgesetzten rede. Aber du? Du hast gar keinen
-Respekt vor Höherstehenden?«
-
-»Ich? Mir ist's ganz gleich, ob ich mit dem Bischof selber oder mit
-einem einfachen Manne rede! Der Bischof sagt zu mir: ›So und so, mein
-Bester,‹ -- und ich antworte ihm gerade so: ›Ganz recht, so und so,
-Eure Eminenz!‹ Weiter nichts.«
-
-»Ist das wahr, Vater Zacharia?« fragte der Arzt, der dem Diakon gern
-etwas am Zeuge flicken wollte.
-
-»Er flunkert,« sagte Benefaktow mit der größten Seelenruhe, ohne seine
-sanften Augen vom Diakon zu wenden.
-
-»Er knickt auch vor dem Bischof zusammen?«
-
-»Allerdings.«
-
-»Nie und nimmer! So was kommt bei mir nicht vor!« rief der Diakon,
-sich in die Brust werfend. »Wie wäre das auch möglich? Wollte ich
-mich um alle kümmern, ich wüßte nicht, wo ich hin sollte. Was hat
-denn der Bischof so viel zu bedeuten, wenn ich jetzt Tag für Tag von
-einer Person beobachtet werde, die viel mehr zu sagen hat, als so ein
-Bischof!«
-
-»Du meinst wohl mich?« sagte der Arzt.
-
-»Wie sollte ich denn darauf kommen? Nein, dich meine ich nicht.«
-
-»Wen denn sonst?«
-
-»Hast du die neuesten Zeitungen gelesen?«
-
-»Was hat denn drin gestanden?« fragte die Petersburger Dame, die sich
-wie ein Kind amüsierte.
-
-»Auf Befehl des Oberhofpredigers Baschanow ist der kaiserliche
-Kirchenmusikdirektor auf Reisen geschickt worden, um in ganz Rußland
-Bässe für die Hofkapelle Seiner Majestät anzuwerben. Er steht im Range
-eines Generals und hat eine Unmenge Orden. Der Bischof ist nichts neben
-ihm, denn bei Seiner Majestät ist ja schon der Kutscher, der auf dem
-Bock sitzt, Oberst. Na, also dieser Musikmeister reist nun unerkannt,
-als ganz einfacher Mann gekleidet, damit die Bässe sich in seiner
-Gegenwart nicht absichtlich anstrengen, denn er will wissen, was sie
-für gewöhnlich zu leisten imstande sind.«
-
-Der Diakon wußte nicht, was er weiter sagen sollte, aber der Arzt ließ
-nicht locker.
-
-»Nun, und was weiter?«
-
-»Was weiter? Der Herr Musikdirektor befindet sich jetzt schon vier
-Wochen hier in der Stadt. Merkst du was? Ich sehe ihn jeden Sonntag in
-seinem blauen Rock unter den Kleinbürgern in der Kirche stehen. Er ist
-meinetwegen da, aber wie verhalte ich mich dazu? Ein anderer würde sich
-rein die Beine ausreißen, um dem kaiserlichen Abgesandten zu gefallen,
-würde ihn zu sich einladen, ihm Schnaps und Tee vorsetzen, -- nicht
-wahr? Aber ich tue nichts dergleichen. Mag er zehnmal kaiserlicher
-Musikus sein, mir ist's ganz wurst! Ich halte mich ans Gesetz. Du hast
-mir nach dem Gesetz zu handeln, mein Lieber, und magst du das nicht,
-dann adieu! Glückliche Heimreise!«
-
-»Das ist natürlich alles Schwindel?« wandte sich der Arzt an Zacharia.
-
-»Schwindel,« erwiderte dieser seelenruhig. »Er hat ein wenig über den
-Durst getrunken, da hören wir bis morgen kein wahres Wort mehr. Er wird
-jetzt ohne Ende phantasieren und großtun.«
-
-Achilla war trotzdem gekränkt. Es schien ihm, als glaubte man jetzt
-auch nicht mehr, daß er kein Feigling sei; was ihm unerträglich war.
-Daher fing er wieder von seiner Tapferkeit an zu sprechen und wollte
-sofort auf die schwerste Probe gestellt sein.
-
-»Ich will allen beweisen, daß ich hier der Tapferste bin, und ich werde
-es!«
-
-»Prahlt lieber nicht damit, Vater Diakon,« sagte der Major. »Manchmal
-wird auch der Tapferste von Angst gepackt, und der Feigling leistet,
-was keiner von ihm erwartet hätte.«
-
-»Da pfeif' ich drauf! Los!«
-
-»Ja, was soll denn eigentlich losgehen? Ich will Euch lieber ein
-Beispiel vorführen.«
-
-»Auch gut! Nur immer zu!«
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
-
-»Als ich aus dem Kaukasus nach Rußland zurückversetzt wurde,« fing der
-Major an, »hatten wir einen Oberst, der ein urfideler Herr und ein
-ausgezeichneter Soldat war. Er besaß sogar einen goldenen Ehrensäbel.
-Unter ihm machte ich anno Achtundvierzig den ungarischen Feldzug mit.
-In einer Nacht mußten damals Freiwillige vorgeschickt werden, als
-wir gerade beim Wein saßen. Der Oberst fragte: ›Wieviel haben sich
-denn gemeldet?‹ ›Hundertzehn,‹ antwortet der Adjutant. ›Oho!‹ meinte
-der Oberst und legte die Karten hin, denn man hatte sich eben ans
-Preferance gemacht. ›Das ist ein bißchen viel. Sind gar keine Hasenfüße
-drunter?‹ -- ›Nein,‹ erwiderte der Adjutant. ›Na,‹ meint der Oberst,
-›trommeln Sie mal die Kerls zusammen.‹ Das geschieht. ›Nun,‹ fängt der
-Oberst an, ›machen wir mal die Probe. Wer ist der Tapferste? Wer gilt
-als Obmann?‹ Man nennt ihm irgendeinen Iwanow oder Sergejew. ›Schafft
-ihn mir her! Bist du der Obmann?‹ -- ›Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!‹
--- ›Bist du nicht feige?‹ -- ›Nein, Euer Hochwohlgeboren!‹ -- ›Nicht
-ein bißchen?‹ -- ›Ganz und gar nicht, Euer Hochwohlgeboren!‹ --
-›Wirklich nicht?‹ -- ›Nein.‹ -- ›Nun, wenn du nicht feige bist, so
-zupf' mich am Bart!‹ Der Soldat steht da und rührt sich nicht und
-wagt's nicht. Man ruft einen zweiten, -- dieselbe Geschichte! Einen
-dritten, vierten, fünften, zehnten -- keiner wagt's. Alle erwiesen sie
-sich als Feiglinge.«
-
-»Ach, hol ihn dieser und jener! Das war ein Spaß!« rief Achilla
-hocherfreut. »Wenn du nicht feige bist, ei, so zupf' mich am Bart!
-Ha--ha--ha! Das ist famos! Hauptmann, alter Freund, laß dich mal vom
-Lehrer Warnawa am Bart zupfen!«
-
-»Mit Vergnügen,« sagte der Hauptmann.
-
-Prepotenskij weigerte sich, aber da fing man so bösartig über seine
-Feigheit zu spotten an, daß er ja sagen mußte.
-
-Achilla stellte einen Stuhl in die Mitte des Zimmers, der Hauptmann
-Powerdownia setzte sich drauf und stemmte die Arme in die Hüften.
-
-Um ihn herum standen der Polizeichef, Zacharia, der Bürgermeister und
-der Major.
-
-Der Lehrer pustete, krümmte und schüttelte sich, schlug bald die Augen
-schüchtern nieder und riß sie bald weit auf, machte einen Schritt
-vorwärts und trat wieder zurück.
-
-»Also du bist doch ein Feigling,« sagte Achilla, »aber denke mal nach,
-Schafskopf: wovor fürchtest du dich denn eigentlich? Es ist ja zum
-Lachen!«
-
-Warnawa dachte nach, wurde aber davon nur noch schwächer. Powerdownia
-jedoch saß da wie ein Götzenbild, fühlte sich als »Seele der
-Gesellschaft« und freute sich über die neue Überraschung, die er im
-Schilde führte.
-
-»Du bist ein Feigling, mein Bester, ein ganz elender Feigling!«
-flüsterte Achilla dem Lehrer ins Ohr.
-
-»Das geht doch nicht, die Gäste warten,« bemerkte der Major.
-
-Prepotenskij zeigte mit dem Finger auf den Polizeichef und sagte: »Ich
-will lieber Woin Wasiljewitsch am Bart zupfen.«
-
-»Nein, mich sollst du zupfen,« erklärte der Hauptmann mit sehr ernstem
-Gesicht.
-
-»Feigling, Feigling,« flüstert es wieder von allen Seiten. Warnawa hört
-es, kalter Schweiß läuft ihm übers Gesicht, es kribbelt ihn am ganzen
-Körper; die Angst packt ihn, wie eine unerträgliche, lähmende, quälende
-Krankheit, sein Ausdruck bekommt etwas Starres, Schreckliches.
-
-Achilla, der ihn genau beobachtete, hatte das zuerst bemerkt. Als
-er die Augen des Lehrers aufflammen sah, gab er dem Polizeichef ein
-Zeichen, etwas zur Seite zu treten, den Vater Zacharia aber nahm er
-ganz einfach beim Ärmel, zog ihn zurück und sagte:
-
-»Steht nicht so dicht bei ihm, Vater Zacharia. Seht Ihr nicht? Er
-träumt!«
-
-Warnawa tat einen Schritt vorwärts. Noch einen zweiten. Die zitternde
-Hand des Feiglings gerät in Bewegung, sie hebt sich langsam, bewegt
-sich vorwärts, -- aber nicht nach dem Barte des Hauptmanns, sondern
-geradewegs nach dem Gesichte des Polizeichefs.
-
-»Der Teufel mag wissen, was in dem Kerl vorgeht!« rief Achilla und
-winkte dem Polizeichef noch einmal zu. Geh lieber fort, sollte das
-heißen, siehst du nicht, daß der Mann von Sinnen ist?
-
-In diesem selben Augenblick jedoch hatte Prepotenskij, die Augen
-zugekniffen, ganz von ferne den Schnurrbart Powerdownias gestreift:
-sofort stieß der Hauptmann ein grimmiges Knurren aus und fing dann an
-laut zu bellen.
-
-Das war dem armen Warnawa zu viel. Er schrie wild auf, stürzte sich wie
-ein Panther auf den Polizeichef und schlug sinnlos um sich.
-
-Hierauf war niemand gefaßt. Der Effekt war großartig. Die umgestürzte
-Lampe, das aufflammende Petroleum, die wild flüchtenden Gäste, das
-Entsetzen des Polizeichefs, das Geheul Warnawas, der in einem Winkel
-sich mit wütenden Schlägen vor dem Gespenst, das ihn packen wollte, zu
-schützen suchte, alles machte eine Fortsetzung des Festes unmöglich.
-
-Die Petersburger Dame verabschiedete sich, und Prepotenskij, der alle
-Ein- und Ausgänge im Hause des Postmeisters sehr gut kannte, benutzte
-diesen Augenblick, um in den Korridor und ins Bureau zu schlüpfen, wo
-er sich hinter einen Schrank verkroch ...
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-
-Die Frau Postmeisterin hatte ihre Nachtjacke angezogen und ging erregt
-in ihrem Zimmer auf und nieder. Ihre Gedanken beschäftigten sich
-unablässig mit der einen Frage: Wer war an dem gräßlichen Vorfall
-schuld? Wer hatte diesen Spaß angezettelt?
-
-»Der Spaß war ja an sich nicht mal so übel,« dachte sie, »aber wer
-hat den Prepotenskij eingeladen? Nein, auch das ist nicht so wichtig
-... aber wer hat mich mit ihm bekannt gemacht? Wer denn anders, als
-mein Herr Gemahl! Eines Tages kam er: ›Hier, bitte, stelle ich dir
-Warnawa Wasiljewitsch vor!‹ Na warte nur, ich will dir den Warnawa
-Wasiljewitsch schon eintränken ... Aber wo ist denn mein Mann?«
-fragte sie sich und sah sich im Zimmer um. »Schläft er schon? Er kann
-schlafen, nachdem so etwas geschehen! ... Nein, das geht nicht,«
-erklärte die Postmeisterin kategorisch und stürzte ungeduldig in den
-Saal, wo ihr Gatte zu schlafen pflegte, wenn er wegen irgendwelcher
-Familienzwistigkeiten aus dem ehelichen Schlafgemach verbannt wurde.
-Aber zu ihrer nicht geringen Verwunderung fand die Dame ihren Gatten
-hier nicht.
-
-»Aha, er versteckt sich vor mir. Er liegt jetzt auf dem Sofa im Bureau
-und schnarcht ... Ich will dich schnarchen lehren.«
-
-Und die Frau Postmeisterin begab sich nach dem Bureau.
-
-Ihre Vermutung war richtig: der Postmeister schlief tatsächlich im
-Bureau, aber darin irrte sie, daß sie ihn auf dem Sofa zu finden
-meinte. In Wirklichkeit lag er auf dem Tische. Auf dem Sofa aber
-schlief Prepotenskij, der nach allem, was vorgefallen war, nicht
-nach Hause zu gehen wagte, weil er fürchtete, Achilla könnte ihm an
-irgendeiner Straßenecke auflauern. Deshalb hatte er den Postmeister
-um Erlaubnis gebeten, seiner Sicherheit wegen im Hause übernachten
-zu dürfen. Der Postmeister war um so lieber damit einverstanden, als
-er die Erregung seiner Frau sehr wohl bemerkt hatte und es auch ihm
-vorteilhaft erschien, unter diesen Umständen noch jemand in seiner Nähe
-zu haben. Darum stellte er dem Lehrer das Sofa im Bureau zur Verfügung
-und machte es sich selbst auf dem großen Tisch bequem, an dem sonst die
-Briefe sortiert wurden.
-
-Die Tür aus dem Korridor in das Bureau, in dem beide schliefen, war
-geschlossen. Das brachte die energische Dame erst recht auf, denn nach
-ihrem Hausgesetz durfte keine einzige Innentür ohne ihre Genehmigung
-geschlossen werden, und im Bureau fühlte sie sich ebenso als Herrin,
-wie in ihrem Schlafgemach!
-
-Die Postmeisterin kochte vor Wut. Sie griff noch einmal nach der Tür,
-sie ging nicht auf. Wohl knackte der Haken, aber er saß fest. Und dabei
-hörte sie drinnen ganz deutlich zwei Menschen atmen. Zwei! Man male
-sich das Entsetzen der Ehefrau bei dieser plötzlichen Entdeckung aus!
-
-In ihren geheiligten Rechten als Gattin und Herrin des Hauses gekränkt,
-rannte sie wieder durch den Korridor zurück, stürzte in die Küche,
-geradewegs auf den Tisch los. Wühlte lange im Dunkeln in der Schublade
-herum, in der es von Schwaben wimmelte, bis sie endlich gefunden hatte,
-was sie brauchte: Ein Messer!
-
-Die ungeheure Spannung, die diese Zeile entfesselt, zwingt uns, hier
-haltzumachen, um dem Leser Zeit zu geben, sich auf das Fürchterliche
-vorzubereiten, das nun kommen soll.
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-
-Vor Erregung am ganzen Leibe zitternd, das riesige Küchenmesser in
-der Hand, den rechten Ärmel der Nachtjacke hinaufgeschoben, ging die
-Postmeisterin direkt auf die Tür zum Bureau los und legte das Ohr noch
-einmal an den Spalt. Es war kein Zweifel möglich: das unselige Paar
-lag im süßesten Schlaf; man hörte ganz deutlich, wie das eine stärkere
-Wesen tiefe Kehllaute von sich gab, während das andere, zartere, sich
-auf ein ganz sanftes Pfeifen beschränkte.
-
-Die Postmeisterin steckte das Messer in den Türspalt, schob den Haken
-zurück und die leichte Tür ging mit leisem Knarren auf.
-
-Es war noch früh am Morgen, kaum hoben sich die Fenster durch
-ihr mattes Grau von der Finsternis ab, doch das geübte Auge der
-Postmeisterin erkannte sowohl den Tisch mit der Postwage, als auch den
-zweiten langen Tisch in der Ecke und das Sofa.
-
-Mit der linken Hand sich an der Wand entlang tastend, bewegte sich
-die zürnende Dame direkt auf das Sofa zu und erreichte ohne besondere
-Schwierigkeiten den Schnarcher, der mit tief herabhängendem Kopfe ganz
-am Rande lag. Er hatte nichts gehört, und als die Postmeisterin vor ihn
-hintrat, schien er sogar mit ganz besonderem Eifer und Genuß in den
-lieblichsten Säuseltönen zu schwelgen, als ob er ahnte, daß die Sache
-bald ein Ende haben werde und daß es ihm heute nicht mehr vergönnt
-sein werde, sich diesem Vergnügen hinzugeben.
-
-So kam es denn auch.
-
-Noch war der Schläfer mit seiner letzten Fioritur nicht ganz fertig,
-als die Linke der Frau Postmeisterin ihn kräftig an den Haaren emporriß
-und die Rechte, nachdem sie das Messer fallen gelassen, ihm eine
-schallende Ohrfeige verabfolgte.
-
-»Mmmm ... Warum denn? Warum?« brummte der Erwachende, aber statt einer
-Antwort erhielt er eine zweite Ohrfeige, dann eine dritte, eine fünfte,
-zehnte, eine immer kräftiger und dröhnender als die andere.
-
-»Au, au, au,« schrie er und versuchte vergeblich, den aus der
-Finsternis auf ihn herabhagelnden Backpfeifen auszuweichen, bis diese
-plötzlich durch ein weniger lautes, aber nicht minder schmerzhaftes
-Zausen und Schütteln ersetzt wurden.
-
-»Herzchen! Was tust du denn, Herzchen! Das bin ja gar nicht ich! Das
-ist doch Warnawa Wasiljewitsch!« kam vom Tische her die Stimme des
-aufgeschreckten Postmeisters.
-
-Die Postmeisterin hielt verblüfft ein, ließ die Mähne Warnawas los,
-schrie laut auf: »Was machst du mit mir, du Ungeheuer!« -- und stürzte
-sich auf ihren Gatten.
-
-»Ja, ja, das bin ich,« hörte Warnawa den Postmeister rufen, und ohne
-etwas zu begreifen -- außer der Notwendigkeit, sich eiligst aus dem
-Staube zu machen -- sprang er vom Sofa auf und rannte, wie er war, in
-Unterhosen und Strümpfen, durch die glücklich gefundene Tür auf die
-Straße hinaus.
-
-Er war gründlich verdroschen worden, und als er sich das Gesicht mit
-dem Ärmel wischte, bemerkte er, daß seine Nase blutete.
-
-In demselben Augenblick ging die Tür leise auf und seine Kleider fielen
-vor ihm hin. Er bückte sich, um sie aufzuheben, als eine Minute später
-auch die Stiefel über den Zaun geflogen kamen.
-
-Warnawa setzte sich auf den Boden und zog die Stiefel an, fuhr, so gut
-es ging, in Hosen und Rock und trottete nach Hause.
-
-Eine Woche darauf verließ der Lehrer Prepotenskij mit einem
-Urlaubschein und einigen wenigen Spargroschen in der Tasche die Stadt.
-Die Ursache dieser plötzlichen Flucht war und blieb für alle ein ewiges
-Geheimnis.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-
-An demselben Tage, wo es in Stargorod so lustig herging, spielte sich
-weit draußen in dem gelben Stübchen des verbannten Propstes eine Szene
-anderer Art ab. Natalia Nikolajewna bereitete sich zum Sterben.
-
-Gewissenhaft und sparsam, wie sie war, hatte die Pröpstin während der
-ganzen Zeit ihres Aufenthaltes bei ihrem gemaßregelten Gatten sich ohne
-Bedienung beholfen und allerlei Arbeit auf sich genommen, an die sie
-nicht gewohnt war und die ihre Kräfte weit überstieg. Als sie bei dem
-letzten Fünfundzwanzigrubelschein in ihrer Schachtel angelangt war,
-erschrak sie, daß sie bald ganz ohne Geld sein würde, und beschloß,
-ihren Hauswirt, den Gendarm, zu bitten, ihnen die Miete zu stunden, bis
-der Propst wieder begnadigt sei. Der Gendarm ging darauf ein, Natalia
-Nikolajewna aber hielt das vor ihrem Gatten streng geheim und suchte
-auf jede Weise das Geld beim Hauswirt abzuverdienen: sie grub mit
-seiner Magd Kartoffeln, hackte Kohl und spülte ihre Wäsche selbst im
-Fluß.
-
-Jedoch das war zu viel für ihre Jahre und ihre schwache Gesundheit. Sie
-erkrankte und mußte das Bett hüten.
-
-Der Propst machte ihr Vorwürfe wegen ihrer übergroßen Sorgsamkeit.
-
-»Du glaubst, du hilfst mir,« sagte er, »aber als ich hörte, was du
-getan hast, verdoppelte das meine Qualen.«
-
-»Vergib,« flüsterte Natalia Nikolajewna.
-
-»Was heißt: vergib? Vergib du mir,« antwortete der Propst und faßte
-ihre Hand, die er leidenschaftlich küßte. »Ich habe dich mit meiner
-starren Unbotmäßigkeit so weit gebracht, aber wenn du willst ... sage
-nur ein Wort und ich gehe und demütige mich dir zuliebe.«
-
-»Was fällt dir ein? Nie werde ich dieses Wort sagen! Soll ich deine
-Lehrmeisterin sein, der du alles weißt und alles zum Rechten wendest?«
-
-»Um meiner Ehre willen +muß+ ich dieses tragen, Liebste.«
-
-»Und Gott möge dir helfen, an mich aber sollst du nicht denken.«
-
-Der Propst küßte noch einmal die Hände seiner Frau und ging an sein
-Tagewerk, Natalia Nikolajewna aber wickelte sich in ihre Decke und
-schlief ein. Und da sah sie im Traum den Diakon Achilla, der zu ihr
-ins Zimmer trat und sprach: »Warum betet Ihr denn nicht, daß der
-Vater Sawelij sein Leid leichter trage?« -- »Wie denn?« fragt Natalia
-Nikolajewna, »lehre mich, wie ich zu beten habe.« -- »Nun,« antwortet
-Achilla, »Ihr sollt bloß sagen: Herr, hilf uns auf den Wegen, die du
-kennst.« -- »Herr, hilf uns auf den Wegen, die du kennst,« wiederholte
-Natalia Nikolajewna andächtig, und plötzlich war ihr, als nähme der
-Diakon sie auf seine Arme und trüge sie in das Allerheiligste, --
-der Raum war unendlich groß: Säule reihte sich an Säule, und der
-Altar reckte sich bis zum Himmel empor und flammte in tausend hellen
-Lichtern; hinter ihnen aber, von wo sie gekommen waren, schien alles
-winzig klein, so klein, daß sie gelacht hätte, wenn es sie nicht
-beunruhigt hätte, daß sie doch ein Weib sei, das Allerheiligste also
-gar nicht betreten dürfe. »Bist du bei Sinnen, Diakon!« sagte sie zu
-Achilla, »man wird dich deines Amtes entsetzen, wenn man erfährt, daß
-du eine Frau ins Allerheiligste getragen hast.« Er aber erwiderte:
-»Ihr seid keine Frau, sondern eine +Kraft+!« Und mit einem Male war
-Achilla und das Allerheiligste und der Altar und die Lichter -- alles,
-alles verschwunden, und Natalia Nikolajewna schlief nicht mehr, sondern
-wunderte sich nur, warum alles um sie herum immer noch so klein aussah:
-der Samowar da drüben war gar kein richtiger Samowar, sondern ein
-Spielzeug, und die Teekanne darauf war nur eine Eierschale ...
-
-In diesem Augenblick kam Tuberozow aus dem Kloster zurück und fing an,
-freundlich zu ihr zu sprechen, sie aber wehrte mit beiden Händen ab.
-
-»Still,« sagte sie, »still: ich muß ja bald sterben.«
-
-Der Propst blickte sie ganz erstaunt an.
-
-»Was fällt dir ein, Natascha? Gott behüte uns in Gnaden!«
-
-»Nein, Liebster, ich muß sterben. Ich lebe nur noch halb.«
-
-»Wer hat dir das gesagt?«
-
-»Wer mir's gesagt hat? Ich sehe alles nur halb.«
-
-Der Arzt kam, fühlte den Puls, besah die Zunge und sagte: »Nichts
-Besonderes, Erkältung und Übermüdung.«
-
-Tuberozow wollte ihm sagen, daß die Kranke alles nur halb sehe, aber er
-genierte sich.
-
-»Du hast sehr recht getan, es ihm nicht zu sagen,« meinte Natalia
-Nikolajewna, als er es ihr erzählte.
-
-»Siehst du wirklich alle Gegenstände nur halb?«
-
-»Ja! Ist das droben am Himmel der Mond?«
-
-»Freilich ist es der Mond, der auf uns zwei Alte durchs Fenster
-herabschaut!«
-
-»Und mir erscheint er wie ein Fischauge.«
-
-»Das kommt dir nur so vor, Natascha.«
-
-»Nein, es ist wirklich so, Vater Sawelij.«
-
-Um seine Frau von ihrem Irrtum zu überzeugen, nahm Tuberozow den
-verhängnisvollen Fünfundzwanzigrubelschein aus der Schachtel und zeigte
-ihn ihr.
-
-»Nun sag mal, was ist das?«
-
-»Zwölf und ein halber Rubel,« erwiderte Natalia Nikolajewna sanft.
-
-Tuberozow erschrak. Das war ihm unbegreiflich. Natalia Nikolajewna aber
-faßte lächelnd seine Hand und flüsterte, indem sie die Augen schloß:
-
-»Du scherzest und ich scherze auch. Ich habe wohl gesehen, daß das
-unser Schein war. Aber alles sieht winzig klein aus. Doch sobald ich
-die Augen zumache, seh' ich alles groß, riesengroß. Alle wachsen: du
-und Nikolai Afanasjewitsch, unser Freund, und der liebe Diakon Achilla,
-und Vater Zacharia ... Mir ist so wohl, so wohl, weckt mich nicht.«
-
-Und Natalia Nikolajewna entschlief für immer.
-
-
-
-
-Fünftes Buch.
-
-
-
-
-Erstes Kapitel.
-
-
-Nicht nur den Zwerg Nikolai Afanasjewitsch erschütterte die
-schauerliche Ruhe des Gesichtsausdrucks und der wackelnde Kopf
-Tuberozows, der langsam durch den tiefen Schlamm der ungepflasterten
-Straßen hinter dem Sarge seiner entschlafenen Gattin herging, sondern
-in dem großen und stummen Schmerz tiefangelegter Menschen liegt
-unzweifelhaft eine unwiderstehliche Kraft, die von allen empfunden
-wird und bei kleinen Naturen, welche gewohnt sind, ihr Weh in lauten
-Seufzern und Geschrei ausströmen zu lassen, Angst und Grauen erweckt.
-Das fühlte jetzt jeder, der irgend etwas mit dem verwaisten Greise
-zu tun gehabt hatte, dessen treue Gefährtin dahingegangen war. Als
-die Erdschollen an den Sargdeckel schlugen und der in den Bann getane
-Priester sich umwandte, um von dem hohen Erdhaufen herabzusteigen,
-traten alle Umstehenden zurück und gaben ihm den Weg frei, den er
-nun auch ganz allein mit entblößtem Haupte durch den ganzen Friedhof
-entlang schritt.
-
-Am Tor blieb er stehen, betete vor dem Heiligenbild der Kapelle, setzte
-seinen Hut auf und wandte sich noch einmal um. Erstaunt trat er zurück.
-Vor ihm stand der Zwerg Nikolai Afanasjewitsch, der von der Grabstätte
-an in einer Entfernung von zwei Schritt hinter ihm hergegangen war.
-
-Etwas wie Freude zuckte über das Gesicht des Propstes. Es tat ihm
-augenscheinlich wohl, seinem »alten Märchen« in einem so trüben
-Augenblick zu begegnen. Er wandte sich seitwärts den schwarzen Feldern
-zu, auf denen noch kümmerlich und frierend die Wintersaat sproßte, und
-aus seinen Augen fiel eine schwere Träne, einsam und schnell, wie ein
-Tropfen Quecksilber, und verlor sich in seinem grauen Barte, gleich
-einem im Walde verirrten Waisenkind.
-
-Der Zwerg bemerkte diese Träne. Er wußte, was sie bedeutete und schlug
-still ein Kreuz. Sie machte Sawelijs vom Übermaß des Schmerzes beengte
-Brust leicht. Er holte tief Atem, und als der Zwerg ihn aufforderte, in
-seinen Wagen zu steigen, erwiderte er:
-
-»Ja, Nikolascha, es ist gut, ich will mit dir fahren.«
-
-Schweigend fuhren sie dahin, bis der Wagen vor dem Häuschen des
-Gendarmen in der Klostervorstadt hielt. Tuberozow drückte dem Zwerg
-stumm die Hand und ging in seine Wohnung.
-
-Nikolai Afanasjewitsch folgte ihm nicht. Er empfand, daß Tuberozow
-jetzt allein sein wollte. Erst am Abend besuchte er den Witwer, und
-nachdem er eine Zeitlang dagesessen hatte, bat er um Tee unter dem
-Vorwande, daß ihn friere; in Wirklichkeit wollte er Sawelij von seinem
-Schmerz ablenken und das Gespräch auf den eigentlichen Zweck seines
-Besuchs bringen. Der Plan gelang vollkommen, und als Tuberozow den
-dampfenden Samowar hineingetragen hatte, die Tassen aus dem Schrank
-holte und sich anschickte, den Tee zu bereiten, begann der Zwerg
-leise zu erzählen, was sich in all der Zeit in Stargorod zugetragen.
-Schritt für Schritt ging er vorwärts, ließ einen Tag nach dem andern
-vorüberziehen, bis zu dem Augenblick, wo er hier am Teetisch saß. In
-diesem Bericht war natürlich sehr viel die Rede von der Betrübnis der
-Städter über das Mißgeschick des Propstes, den man so sehr vermißte und
-ganz zu verlieren fürchtete.
-
-Der Propst, der dem Zwerg anfangs ernst und ruhig, beinahe teilnahmlos
-zugehört hatte, wurde aufmerksamer, als die Rede auf das Verhalten
-der Gemeinde seiner Maßregelung gegenüber kam. Und als der Zwerg,
-nachdem er sich erst umgesehen hatte, mit gedämpfter Stimme zu erzählen
-fortfuhr, sie hätten im Namen der ganzen Gemeinde ein Gesuch aufgesetzt
-und unterzeichnet, und er, Nikolai Afanasjewitsch, hätte es von Achilla
-empfangen und auf seiner Brust verborgen, da zuckte die Unterlippe des
-Alten krampfhaft und er sagte:
-
-»Ein braves Volk. Ich danke.«
-
-»Ja, es ist brav, unser Volk, sogar sehr brav, aber es weiß noch nicht
-recht, wie es eine Sache anfangen soll.«
-
-»Finsternis, Finsternis über dem Abgrund ... doch über allem schwebt
-der Geist des Herrn,« sagte der Propst, seufzte tief und bat um das
-Papier, von dem der Zwerg gesprochen hatte.
-
-»Wozu braucht Ihr es denn, Vater Propst, dieses Papier?« fragte der
-Zwerg schlau lächelnd. »Morgen wird es dem überreicht, an den es
-gerichtet ist --«
-
-»Gib es mir, ich will es besehen.«
-
-Der Zwerg knöpfte seinen Rock auf, um seinen Brustbeutel herauszuholen,
-schien sich aber plötzlich auf etwas zu besinnen.
-
-»Nun, so gib doch her,« bat Sawelij.
-
-»Aber werdet Ihr ... werdet Ihr es nicht zerreißen, Vater Propst?«
-
-»Nein,« sagte Tuberozow fest, und als der Kleine ihm das Blatt
-hinreichte, das mit winzigen und riesengroßen, deutlichen und ganz
-unleserlichen Unterschriften bedeckt war, murmelte Sawelij andächtig:
-
-»Zerreißen? Dieses kostbare Dokument zerreißen? Nein, nein! Mit ihm ins
-Gefängnis; mit ihm ans Kreuz! In den Sarg sollt ihr es mir legen!«
-
-Und zum nicht geringen Entsetzen des Zwerges rollte er das Blatt
-schnell zusammen und verbarg es auf seiner Brust unter dem Leibrock.
-
-»Aber, Vater Propst, das soll doch eingereicht werden!«
-
-»Nein, das soll es nicht!«
-
-Ihm das Papier jetzt fortzunehmen, war unmöglich. Man konnte sicher
-sein, daß er sich eher von seinem Leben, als von diesem Blatt mit den
-kostbaren Krakelfüßen seiner Gemeinde trennen würde.
-
-Dies sah der Zwerg ein und versuchte vorsichtig, sich dem Gedankengang
-Sawelijs anzupassen. Er fing an davon zu reden, wie bedeutungsvoll und
-erfreulich dieses Eintreten der Gemeinde für ihren Pfarrer sei, und
-wies weiter darauf hin, daß der Wille der Gemeinde für jeden Einzelnen
-bindend und heilig sein müsse.
-
-»Sie weinen und wehklagen jetzt, Vater Propst, daß sie Euch nicht mehr
-sehen sollen.«
-
-»Das ist nicht zu ändern,« sagte der Propst seufzend. »Meine Tage sind
-ohnedies schon gezählt.«
-
-»Aber ich, Vater Propst? Wie steh' ich da? Was hat die Gemeinde mir
-anvertraut und womit kehr' ich zu ihr zurück?«
-
-Tuberozow stand auf, durchschritt ein paarmal sein enges Zimmerchen,
-blieb in der Ecke vor dem Heiligenbilde stehen, zog das Blatt wieder
-hervor, küßte es noch einmal und reichte es dann dem Zwerg mit den
-Worten:
-
-»Du hast recht, mein lieber Freund, tu, wie die Gemeinde dir befohlen.«
-
-
-
-
-Zweites Kapitel.
-
-
-Nikolai Afanasjewitsch hatte viel Mühe, um seinen Auftrag auszuführen,
-aber er war ebenso unermüdlich wie geschickt. Dieser kleine Abgesandte
-der großen Gemeinde kannte weder Ermattung noch Überstürzung. Wie eine
-Klette hängte er sich an alle, die ihm förderlich sein konnten, und
-ließ sie nicht los. Den Propst besuchte er allabendlich, doch erzählte
-er ihm nichts von seinen Bemühungen, und Sawelij selbst dachte nicht
-daran, ihn zu fragen. Inzwischen rückte aber die Sache so gut vorwärts,
-daß am neunten Tage nach dem Tode Natalia Nikolajewnas, als der Propst
-vom Friedhof gekommen war, der Zwerg zu ihm sagen konnte:
-
-»Nun, lieber Vater Propst, macht Euch zur Heimreise fertig. Man entläßt
-Euch.«
-
-»Der Wille des Herrn sei über mir,« erwiderte Tuberozow gleichgültig.
-
-»Man verlangt nur eines von Euch, Ihr sollt Euch schriftlich
-verpflichten, dieses hinfort nicht mehr zu tun.«
-
-»Gut; ich will's nicht mehr tun ... werde es nicht tun ... ich bin
-schwach und zu nichts mehr zu brauchen.«
-
-»Wollt Ihr Eure Unterschrift geben?«
-
-»Ja ... ich will ... ich bin bereit.«
-
-»Und dann bittet man noch ... Ihr sollt Euch schuldig bekennen und um
-Verzeihung bitten.«
-
-»Schuldig? Wessen beschuldigt man mich?«
-
-»Des Übermuts. Das heißt -- sie nennen es so: Übermut.«
-
-»Übermut? Ich war nie übermütig und habe stets auch andere, soviel ich
-vermochte, davon zurückgehalten. Ich kann mich also nicht einer Sünde
-schuldig bekennen, die ich nicht begangen habe.«
-
-»Aber sie nennen es so.«
-
-»So sage ich ihnen, daß ich mir keines Übermuts bewußt bin.«
-
-Tuberozow blieb stehen, hob den Zeigefinger der rechten Hand in die
-Höhe und rief:
-
-»Der Prophet ward nicht übermütig genannt, da er für den Herrn eiferte.
-Geh hin und sage ihnen: der Priester, den ihr in den Bann getan, läßt
-euch melden, daß der Eifer des Herrn ihn getrieben, und daß er, wie er
-als Eiferer geboren, so auch sterben werde. Und jetzt will ich kein
-Wort von Vergebung mehr hören.«
-
-Mit dieser kategorischen Antwort mußte der Fürsprecher sich entfernen,
-und wieder lief er von Tür zu Tür, bat, flehte, drohte sogar mit dem
-menschlichen und göttlichen Gericht, aber alles war vergeblich.
-
-Der Zwerg wurde krank und mußte sich zu Bett legen; die Unmöglichkeit,
-die Sache zum Austrag zu bringen, die er auf sich genommen, hatte die
-Kraft und die Geduld des eigenartigen Anwalts gebrochen.
-
-Nun tauschten die beiden Alten ihre Rollen, und wie bisher Nikolai
-Afanasjewitsch den Propst täglich besucht hatte, so wanderte jetzt
-Sawelij, wenn er die vorgeschriebene Menge Holz gesägt und die Vesper
-im Kloster mit angehört hatte, nach dem großen Plodomasowschen Hause,
-wo der Kranke in einem kleinen Hinterstübchen lag.
-
-Der arme Zwerg tat dem Propst unsagbar leid, er fühlte alle seine
-Schmerzen mit ihm und sagte seufzend:
-
-»Das hatte noch gefehlt, daß du um meinetwillen leiden mußtest.«
-
-»Ach, Vater Propst, was redet Ihr von mir altem Hasen? Wozu bin ich
-denn überhaupt noch auf der Welt? Denkt lieber an Euch, und an ihn,
-an Euren Hohepriester! Er +bittet+ Euch doch, daß Ihr Euch demütigt!
-Tröstet ihn, gebt nach, bittet um Vergebung.«
-
-»Ich kann nicht, Nikolai, ich kann nicht.«
-
-»Demütigt Euch.«
-
-»Ich demütige mich vor der Gewalt, aber was höher ist als die irdische
-Gewalt, das hat mehr Macht über mich ... Ich stehe unter dem Gesetz.
-Sirach hat es uns zur Pflicht gemacht, für die Ehre unseres Namens
-Sorge zu tragen, und der Apostel Paulus protestierte gegen die
-Mißachtung seiner Bürgerrechte; ich habe nicht das Recht, mich zu
-erniedrigen um einer Abbitte willen.«
-
-Der Zwerg gab alle Hoffnung auf und begann, sich zur Heimreise
-nach Stargorod zu rüsten. Sawelij widersetzte sich dem nicht; im
-Gegenteil, er riet ihm selbst, schneller abzureisen und gab ihm
-keinerlei Aufträge, was er daheim sagen oder antworten sollte. Bis
-zum letzten Augenblick, als er den Zwerg aus der Stadt hinaus bis zum
-Zollschlagbaum begleitete, bestand er auf seinem Willen und kehrte
-ruhig in die Stadt und auf den Klosterhof zurück, um sein Holz zu sägen.
-
-Der Kummer des Zwerges war grenzenlos. Er hatte ganz anders gehofft
-heimzukehren, und seine Gedanken umkreisten unablässig denselben
-Gegenstand. Plötzlich jedoch kam ihm Erleuchtung -- ein einfacher,
-klarer, rettender, glänzender Gedanke, wie sie dem Menschen nur selten
-kommen und fast immer so unverhofft, als würden sie ihm von oben
-gesandt.
-
-Etwa zehn Werst weit war der Zwerg gefahren, als er dem Kutscher
-befahl, wieder nach der Stadt zurückzukehren. Sofort begab er sich
-zu Sawelijs Vorgesetzten und bat flehentlich, man möge dem Propst
-+befehlen+, Abbitte zu tun.
-
-Da man des halsstarrigen alten Mannes lange überdrüssig war, erfüllte
-man seinen Wunsch ohne weiteres. Er erschien daher wieder bei Tuberozow
-und erklärte:
-
-»Nun, stolzer Vater Propst, Ihr wolltet Euch nicht bestimmen lassen, --
-jetzt habt Ihr's so weit gebracht, daß Ihr Euch der Strenge fügen müßt.
-Ich bin beauftragt, Euch mitzuteilen, daß die Obrigkeit Euch kraft der
-ihr zukommenden Gewalt befiehlt, Abbitte zu tun.«
-
-»Wo soll ich denn den Kniefall tun: hier, oder auf dem Marktplatz, oder
-in der Kirche?« fragte Tuberozow trocken. »Mir ist es gleich. Was man
-mir befiehlt, muß ich tun.«
-
-Der Zwerg antwortete, daß kein Mensch eine derartige Demütigung von ihm
-verlange; er habe schriftlich Abbitte zu leisten.
-
-Sofort setzte sich Tuberozow hin und schrieb das Gewünschte nieder. Als
-Überschrift wählte er die Worte: »Befohlenes ergebenstes Gesuch.«
-
-Der Zwerg bemerkte, daß das Wort »befohlen« hier ganz unpassend sei,
-jedoch Sawelij wies ihn energisch zurück:
-
-»Ich hoffe, man hat dich nicht noch beauftragt, mir Unterricht in der
-Logik zu erteilen. Ich habe genug davon im Seminar gelernt. Du sagtest,
-es würde mir befohlen, und also schreibe ich auch ›befohlenes Gesuch‹.«
-
-Die Sache endete damit, daß man den Vater Sawelij, um ihn endlich
-einmal los zu sein, ziehen ließ, weil aber sein ergebenstes Gesuch
-zugleich als »befohlenes« bezeichnet worden war, so erfolgte darauf der
-Bescheid, daß der Propst noch ein halbes Jahr lang keine Amtshandlungen
-ausüben dürfe.
-
-Sawelij nahm das sehr kühl auf, dankte allen, denen er Dank zu schulden
-glaubte, und reiste mit dem Zwerge nach Stargorod. Die lange, qualvolle
-Verbannung war vorüber.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
-
-Unterwegs redeten sie nicht viel, und immer nur war es der Zwerg,
-welcher anfing. Er wollte den Propst, der stumm mit den in alten
-Wildlederhandschuhen über den Knien gefalteten Händen dasaß, zerstreuen
-und erheitern. Nikolai Afanasjewitsch fing bald von diesem, bald von
-jenem an, Tuberozow jedoch schwieg oder gab nur ganz kurze Antworten.
-Der Kleine erzählte, wie die Gemeinde um den Propst geklagt und geweint
-hätte, wie die Postmeisterin ihren Mann verprügeln wollte und statt
-dessen den Lehrer verprügelt hätte, wie dieser, von der Biziukina
-verfolgt, aus der Stadt geflohen sei, aber der Alte schwieg und schwieg.
-
-Nikolai Afanasjewitsch sprach von Tuberozows Hause: es werde baufällig
-und müsse repariert werden.
-
-Seufzend meinte der Propst:
-
-»Für mich ist das alles nur Staub, und es ekelt mich, daß ich mein Herz
-daran hängen konnte.«
-
-Der Zwerg fing von Achilla an, der immer einen Zeitvertreib zu finden
-wisse: jetzt habe er z. B. ein Hündchen zu sich ins Haus genommen, das
-er noch blind am Flußufer ausgesetzt gefunden, und triebe immer neuen
-Spaß mit ihm.
-
-»Mag er doch, wenn es ihm Vergnügen macht,« sagte der Propst leise.
-
-Nikolai Afanasjewitsch fuhr lebhafter fort:
-
-»Ja, und es passieren ganz seltsame Geschichten mit diesem Hündchen,
-Vater Propst. Er hat diesen Hund, wie schon seine früheren, lachen
-gelehrt, und wenn er zu ihm sagt: ›Lache, mein Hündchen‹ -- dann zeigt
-es gleich die Zähnchen. Nun machte ihm aber der Gedanke Sorge, wie er
-das Tierchen nennen sollte.«
-
-»Als ob es dem Vieh nicht ganz gleichgültig sei, wie man es nennt,«
-sagte der Propst scheinbar gelangweilt.
-
-Aber der Zwerg hatte schon gemerkt, daß sein Gefährte den Geschichten
-vom Diakon Achilla mehr Teilnahme entgegenbrachte als seinen sonstigen
-Reden, und fuhr deshalb fort:
-
-»Man sollte es meinen. Aber dem Vater Diakon ist es nicht gleichgültig.
-Er ist nun mal so ein Charakter: hat er sich was in den Kopf gesetzt,
-dann hat er auch keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht. ›Ich habe‹, sagt
-er, ›dies Hündlein bei einer besondern Gelegenheit in sehr erregter
-Stimmung heimgebracht, und ich will, daß es zur Erinnerung an diesen
-Tag auch einen besondern Namen habe, einen Namen, wie er sonst nicht
-vorkommt.‹«
-
-Der Propst lächelte.
-
-»So kam Vater Achilla eines Tages zu mir nach Plodomasowo geritten,
-hielt auf seinem Rosse vor meinem und meines Schwesterleins Fenstern
-an und rief mit Donnerstimme: ›Nikolascha! Heda, Nikolascha!‹ Ich
-dachte: ›Herrgott, was ist denn da passiert?‹ schaute zum Fenster
-hinaus und fragte: ›Ist am Ende dem Vater Sawelij noch etwas Schlimmes
-widerfahren, Vater Diakon?‹ -- ›Nein,‹ entgegnete er, ›nichts
-dergleichen, aber ich habe ein wichtiges Anliegen an dich, Nikolascha.
-Ich muß dich um Rat fragen.‹ -- ›Um was handelt sich's denn?‹ rief ich
-hinunter. ›Macht schnell, wertester Herr, denn mir wird's kalt, wenn
-ich so lange am offenen Fenster stehe. Ich vertrage das nicht.‹ --
-›Du hast dich‹, sagte er, ›von klein auf in herrschaftlichen Häusern
-umgetan und mußt alle Hundenamen wissen.‹ -- ›Da verlangt Ihr zu viel,‹
-sagte ich. ›Ein jeder nennt seinen Hund so, wie's ihm paßt.‹ -- ›Na
-also,‹ schrie er zurück, ›dann leg mal los!‹ -- Ich antwortete, der
-Name richte sich doch meistens nach der Rasse. Die Windspiele nenne man
-›Mylord‹, unsere einfachen Hunde ›Barbos‹, die englischen ›Fanny‹, die
-kurländischen ›Charlotte‹ ... ›Aber‹, unterbrach mich der Vater Diakon,
-›du sollst mir einen Namen nennen, der sonst nirgends vorkommt. Du mußt
-einen solchen wissen!‹ ›Herrgott, wie beruhige ich den Menschen nur?‹
-dachte ich.«
-
-»Nun, und was hast du schließlich gemacht?« fragte Tuberozow neugierig.
-
-»Ich fror derart am offenen Fenster, daß ich, nur um ihn schneller
-loszuwerden, meinte: ›Ich kenne noch einen Hundenamen, werter Herr,
-aber ich habe nicht den Mut, ihn Euch zu sagen.‹ -- ›Tut nichts,‹
-schrie er, ›sag ihn ruhig!‹ -- ›Ich kannte einen Herrn, dessen Hund
-hieß Wiesie.‹ Vater Achilla machte ein ganz verdutztes Gesicht. ›Was
-ist das für Unsinn, du bist wohl verrückt geworden?‹ -- ›Nein,‹ sagte
-ich, ›verrückt bin ich nicht, ich weiß nur ganz genau, daß in Moskau
-ein Fürst einen Hund hatte, der hieß Wiesie.‹ Achilla Andrejewitsch
-geriet nun in fürchterliche Wut, gab seinem Pferd die Sporen, ritt
-hart an die Mauer heran und schrie: ›Wie darfst du alter schamloser
-Kerl solche Dinge reden? Weißt du nicht, daß ich einen christlichen
-Namen trage und daß ich ein Diener des Altars bin?‹ Mit Müh und Not
-konnte ich ihn beruhigen, Vater Propst, und ihm erklären, was es mit
-dem Wiesie für eine Bewandtnis hatte. Darauf schwang er sich auf sein
-Pferd, holte das Hündchen aus seinem Pelz, wo er es verborgen gehalten
-hatte, heraus und rief: ›Guten Tag, Wiesiechen!‹ Und sprengte fröhlich
-von dannen.«
-
-»Das große Kind!« sagte Sawelij lächelnd.
-
-»Ja, er muß immer spaßen.«
-
-»Tadele ihn nicht. Das Kind muß sein Spielzeug haben, damit es nicht
-weint. Er hat eine schwere Last zu tragen. Rundherum liegt alles in
-tiefstem Schlaf und in ihm brennen tausend Leben.«
-
-»Sehr richtig. Ich kann mir auch gar nicht denken, wie er einmal
-sterben wird.«
-
-»Ich auch nicht,« meinte der Propst lächelnd. »Er ist die verkörperte
-Verneinung des Todes. Was aber wurde weiter aus dem Wiesie?«
-
-»Ja, was meint Ihr wohl? Seinetwegen gab es noch Zank und Streit ohne
-Ende. Es konnte ja auch gar nicht anders sein. Der Vater Diakon hatte
-sich nämlich folgendes angewöhnt: Wenn er besonders große Sehnsucht
-nach Euch bekam, nahm er sein Wiesiechen auf den Arm und begab sich
-zur Poststation. Dort setzte er sich vor die Tür und wartete. Kaum
-zeigte sich nun ein vornehmer Reisender oder eine Dame, so sagte er
-gleich: ›Lache, mein Hündchen!‹ Und das kleine Vieh lachte. Das machte
-den Reisenden Spaß und sie fragten: ›Wie heißt denn das Hündchen, Herr
-Pfarrer?‹ Er antwortete: ›Ich bin kein Pfarrer, sondern bloß Diakon,
-meinen Pfarrer haben die Hunde gefressen.‹ ›Wie heißt denn aber das
-Hündchen?‹ fragten sie erneut. ›Das Hündchen, das heißt Wiesie.‹ Auf
-diese Weise geriet er mit allen in Streit. ›Ich will sie so alle ins
-Gesicht Hunde nennen,‹ sagte er, ›und der Friedensrichter kann mir doch
-nichts anhaben.‹ So nimmt er Rache für Euch, Vater Sawelij; aber was er
-eigentlich damit erreicht, das bedenkt er gar nicht. Dem Vater Zacharia
-ist es seinetwegen schon einmal schlimm ergangen: der Propst sah den
-Hund bei ihm und fragte, wie er hieße. ›Er heißt Wiesie, Hochwürden‹ --
-sagte Zacharia und zog sich einen ernsten Verweis zu.«
-
-Sawelij lachte Tränen. »Dieser ehrliche Zacharia ist köstlich. Ein
-Gefäß Gottes und ein Beter, wie ich keinen zweiten gesehen. Ich sehne
-mich, ihn wieder zu umarmen.«
-
-Von der Anhöhe, welche die Reisenden jetzt erreichten, ward plötzlich
-die ganze Stadt sichtbar, diese alte, eigentümliche Stadt, die für
-Tuberozow so viele Erinnerungen barg; sie überkamen den Alten mit einer
-solchen Macht, daß er sich zurücklehnen und die Augen schließen mußte,
-als hätte ihn zu grelles Sonnenlicht geblendet.
-
-Sie ließen den Kutscher langsamer fahren, denn erst, wenn es dämmerte,
-wollten sie in der Stadt sein. Als sie im Halbdunkel mit dem eisernen
-Ring gegen das wohlbekannte Tor schlugen, ertönte von innen Achillas
-Stimme: »Wer da?« Tuberozow wischte sich eine Träne aus dem Auge und
-bekreuzigte sich.
-
-»Wer denn sonst als ich und Vater Sawelij,« antwortete der Zwerg.
-
-Der Diakon schrie laut auf, flog die Verandastufen herunter, öffnete
-das Tor weit, rollte wie eine Lawine in den Wagen hinein und
-umklammerte den Hals des Propstes.
-
-So saßen beide umarmt im Wagen und schluchzten lange und bitterlich,
-während der Zwerg daneben stand und seine sanften, befreienden Tränen
-leise mit der kleinen, frosterstarrten Faust wegwischte.
-
-Als der Diakon sich ausgeweint hatte, fing er an zu sprechen. Beinahe
-hätte er nach Natalia Nikolajewna gefragt, aber er besann sich noch im
-rechten Augenblick und gab dem Gespräch schnell eine andere Wendung,
-indem er dem Propst das Hündchen zeigte, das zu seinen Füßen spielte.
-
-»Das ist mein neuer Hund, Vater Propst, mein Wiesiechen. Ein ganz
-famoses Vieh. Wir brauchen bloß zu befehlen, dann lacht er. Was sollen
-wir wegen unnützer Dinge Trübsal blasen!«
-
-»Wegen unnützer Dinge!« klang es unerträglich schmerzvoll in Vater
-Sawelijs Herzen nach, aber er sprach die Worte nicht aus, sondern
-drückte nur des Diakons Hand, so fest er konnte.
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
-
-Als der Propst sein Haus betreten hatte, dessen einziger Bewohner und
-Herr so lange Zeit der Diakon Achilla gewesen war, küßte er den wilden
-Riesen auf den trockenen Scheitel seines Lockenkopfes, ging dann mit
-ihm durch alle Zimmer, machte das Zeichen des Kreuzes über dem leeren,
-verwaisten Bettchen Natalia Nikolajewnas und sprach:
-
-»Nun, alter Freund, jetzt hat es wohl keinen Sinn mehr, daß wir uns
-wieder trennen? Bleiben wir zusammen.«
-
-»Mit tausend Freuden. Ich hatte es mir selbst auch schon so gedacht,«
-entgegnete Achilla und schloß den Propst wieder in seine Arme.
-
-So hausten sie denn zu zwei hier. Achilla sang in der Kirche und sorgte
-für die Wirtschaft, Tuberozow saß zu Hause, las seinen John Bunian,
-dachte und betete.
-
-Er lebte das intensive, konzentrierte Leben eines Geistes, der mit sich
-selbst ins Reine zu kommen sucht.
-
-Achilla hielt ihm alle kleinen Alltagssorgen fern und gab dem Alten die
-Möglichkeit, ganz und gar der innern Sammlung zu leben.
-
-Aber dieses Glück sollte nicht lange dauern. Dem Diakon ward eine
-große Ehre zuteil: der Bischof, der zur Session des Heiligen Synods
-berufen war, nahm ihn mit nach Petersburg, weil der Protodiakon der
-Gouvernementskathedrale erkrankt war.
-
-Der Abschied des Diakons von Tuberozow war rührend. Achilla, der in
-seinem Leben noch keinen Brief geschrieben hatte, nicht wußte, wie man
-einen schreibt noch absendet, erklärte nicht nur, daß er dem Propst
-regelmäßig schreiben werde, sondern er tat es auch wirklich.
-
-Seine Briefe waren ebenso eigenartig und seltsam wie seine ganze
-Denk- und Lebensweise. Zuerst erhielt Tuberozow einen Brief aus der
-Gouvernementsstadt, und in diesem Brief, dessen Umschlag die Aufschrift
-trug: »An den Vater Propst Tuberozow geheim und eigenhändig«, meldete
-Achilla, daß er während seines Aufenthaltes im Kloster für Tuberozow
-Rache an dem Zensor Troadij genommen habe: er habe dem Kater des
-Zensors eine Wurst auf den Rücken gebunden mit der Aufschrift:
-
- »Diese Wurst bring ich, der Kater,
- Meinem Herrn, dem frommen Vater«
-
-und ihn in den Klosterhof laufen lassen.
-
-Einen Monat später schrieb Achilla aus Moskau, wie sehr ihm die Stadt
-gefallen hätte; doch seien die Leute dort gar arglistig, insbesondere
-die Kirchensänger, die ihn zweimal aufgefordert hätten, mit ihnen
-Blachdnublach zu trinken, er aber habe »aus der Praxis wohl wissend,
-was sothanes Blachdnublach zu bedeuten habe, sich ob dieser ihrer
-Sängerfrechheit nicht wenig verwundert«.
-
-Einige Zeit später schrieb er aus Petersburg:
-
-»Mein vielgeliebter Freund und Euer Hochwürden Vater Sawelij. Freuet
-Euch. Ich lebe herrlich im Klostergasthof, in dem es freilich an
-Versuchungen jeglicher Art nicht fehlt, denn es geht hier fast ebenso
-zu, wie mitten im Lärm der großen Stadt. Und doch sehne ich mich sehr
-nach Euch. Wenn wir zusammen hier wären, könnten wir gemeinschaftlich
-viel schöner und mit viel mehr Freude alles bewundern. Eure weisen
-Ratschläge habe ich mir wohl gemerkt und werde von allen mit größter
-Achtung behandelt, was Euch ja das Moskauer Blachdnublach beweist,
-welches mitzutrinken ich mich weigerte. Ich trinke nur ganz wenig,
-und auch nur deshalb, weil ich sonst fürchte, gute Bekanntschaft zu
-verlieren. An Schönem ist hier kein Mangel, bloß einen richtigen
-Diakon, wie man ihn sich bei uns wünscht, habe ich noch nicht
-gefunden. Alle sind sie Tenöre, die nach unsern Begriffen nur zu
-Friedhofsgottesdiensten zu brauchen wären, und obgleich einige sich
-sehr aufspielen, so sind sie doch an Gestalt im Vergleich zu uns gar
-jämmerlich und ihr Gesang ist ein halbes Sprechen, wobei sie nicht
-mal die richtige Note treffen, und die Sänger mit ihnen gar nicht
-ordentlich zurechtkommen können. Ich aber, der ich mein Handwerk
-kenne, mache ihre Mode nicht mit, sondern singe die Messe so, wie
-ich es gewohnt bin, und, obgleich ich ein Fremder bin, hat mich die
-Kaufmannschaft doch aufgefordert, beim Dankgottesdienst vor der
-Markthalle mitzusingen, und ich habe dafür, außer der Renumeration
-in barem Gelde, noch drei Tücher aus Seidenfoulard erhalten, wie Ihr
-sie so gerne habt und welche ich Euch als Gastgeschenk mitzubringen
-gedenke. Wohl bekomm's! Langeweile habe ich oft. Man bekommt hier
-meistens Kaffee vorgesetzt. Wegen der weiten Entfernungen mache ich
-nur wenig Besuche. Fast alle wohnen in Nebenstraßen; und da ich auf
-dem Imperial fahre, komme ich in keine Nebenstraßen hinein. Doch Ihr
-als Provinzler werdet das gar nicht verstehen: man sitzt wie auf einem
-Hause, hoch oben auf dem Dache, und wenn man von da hinunter will, so
-muß man sehr gewandt sein, um abspringen zu können. Dem weiblichen
-Geschlecht ist dieses wegen seiner Kleidung überhaupt nicht gestattet.
-Die Droschkenkutscher aber sind hier, wie ich bemerke, große Spötter.
-Und wenn einer von uns geistlichen Personen einen mieten will und er
-bietet einen niedrigen Preis, dann schreien gleich alle andern: ›Mit
-dem sollt Ihr nicht fahren, Vater, der hat erst gestern einen Priester
-in den Schmutz fallen lassen.‹ Deshalb lasse ich mich mit ihnen lieber
-nicht ein. Unsern Warnawa habe ich einmal getroffen, sprach ihn aber
-nicht. Denn wir fuhren aneinander im Imperial vorüber, und ich konnte
-ihm nur von ferne drohen. Im übrigen sieht er halb krepiert aus. Was
-Euer Unglück betrifft, daß Ihr noch unter dem Bann steht und nicht für
-Euch in der Messe beten könnt, so grämt Euch deshalb nicht. Ich habe
-das alles wohl überlegt und eingerichtet und der Allmächtige sieht
-es. Seid getrost: Wenn Ihr auch für Euch selbst im Kreisstadttempel
-nicht beten könnt, in der Residenz ist ein Mann, durch den steigt
-das Gebet für Euch zum Himmel empor, -- aus der Kasankathedrale, wo
-der Erretter des Vaterlandes, der durchlauchtigste Fürst Kutusow,
-beigesetzt ist, und aus der Isaakskathedrale, die von außen ganz von
-Marmor ist. Und dieser Beter in der Residenz bin ich, denn sobald ich
-die große Fürbitte verlesen habe, so verkünde ich laut die Namen, die
-mir vorgeschrieben sind, aber heimlich flüsternd nenne ich still für
-mich auch Deinen Namen, mein Freund Vater Sawelij, und sende mein
-allerheißestes Gebet für Dich zum Höchsten hinauf, und klage ihm, wie
-Du vor aller Welt von Deinen Vorgesetzten gekränkt worden bist. Und ich
-bitte Euch noch ganz besonders, nicht mehr an jenes Wort, Eure Tage
-seien gezählt, zu denken, es nicht auszusprechen, denn das wäre für
-mich und den Vater Zacharia über alle Maßen schmerzlich, und ich würde
-Dich, auf Ehrenwort, nur ganz kurze Zeit überleben.«
-
-Unterzeichnet war der Brief: »Zeitweiliger Residenzstellvertreter
-des Protodiakons seiner Parochie, Diakon am Dom zu Stargorod Achilla
-Desnitzyn.«
-
-Es kam noch ein zweiter Brief von Achilla, in dem er berichtete, daß er
-»durch einen glücklichen Zufall doch mit Prepotenskij zusammengekommen
-sei und sich mit ihm wegen der vergangenen Dinge habe schlagen wollen;
-daß die Sache aber eine ganz andere Wendung genommen habe und er sogar
-in seiner Redaktion gewesen sei.« Denn Warnawa war jetzt Redakteur und
-Achilla hatte verschiedene »Literaten« bei ihm getroffen und sich mit
-ihm ausgesöhnt. Als Grund zu dieser Versöhnung wurde angegeben, Warnawa
-(nach Achillas Behauptung) sei ein sehr unglücklicher Mensch geworden,
-weil er sich kürzlich mit einer Petersburger jungen Dame verheiratet
-hätte, die weit strenger wäre, als jede ältere Frau, und immer gegen
-die Ehe spreche. Auch solle sie Warnawa häufig prügeln. Er wäre gar
-nicht mehr so wie früher: »Er hat mir selber offen eingestanden, wenn
-er nicht eine solche große Angst vor seiner Frau hätte, so würde
-er in seiner Zeitung sogar für den lieben Gott eintreten; und dann
-schimpft er fürchterlich auf die Frau Biziukina und insonderlich den
-Herrn Termosesow, der sich anfangs hier sehr gut eingerichtet hatte
-und ein hohes Gehalt bezog im Geheimdienst, indem er ehrliche Leute
-auszukundschaften hatte. Aber der böse Feind verführte ihn durch seine
-Habsucht: er fing an falsches Papiergeld in Umlauf zu bringen, und nun
-sitzt er im Gefängnis.« Am meisten aber rühmte Achilla sich dessen, daß
-er eine Theatervorstellung mit angesehen habe. »Einmal (schrieb er)
-bin ich mit den Kirchensängern in bürgerlichem Gewande auf die höchste
-Galerie zur Oper ›Das Leben für den Zaren‹ gegangen, und habe nachher
-von dem schönen Gesang fast die ganze Nacht vor Entzücken weinen
-müssen. Ein andermal bin ich dann, wiederum als Zivilist verkleidet,
-hingegangen, den König Achilla selber zu sehen. Aber mit mir hatte
-er auch nicht die geringste Ähnlichkeit: Es kam ein Komödiant
-herausstolziert, ganz in Gold gepanzert, und klagte über seine Ferse.
-Hätte man mir solch eine Montur angezogen, ich hätte es viel dröhnender
-gemacht. Das andere Spiel aber ist ganz heidnisch mit einer Offenheit
-bis hierher, und auf einen Witwer oder einzelnstehenden Mann wirkt das
-äußerst beunruhigend.«
-
-Und dann kam endlich noch ein dritter Brief, in dem Achilla
-meldete, er käme jetzt bald zurück, und an einem trüben Herbsttag
-erschien er plötzlich bei Tuberozow, strahlend, als brächte er eine
-Freudenbotschaft.
-
-Sawelij begrüßte ihn und lief sofort auf die Straße, um die
-Fensterläden zu schließen, weil kein Neugieriger von der Heimkehr des
-Diakons erfahren sollte.
-
-Ihre Unterredung dauerte sehr lange. Achilla trank in der Zeit einen
-ganzen Samowar leer, Vater Tuberozow aber füllte seine Tasse immer von
-neuem und sagte:
-
-»Trink nur, Lieber, trink nur noch,« -- und wenn Achilla die Tasse
-geleert hatte, meinte der Propst: »Nun erzähle weiter, Freund, was hast
-du noch alles gesehen und erlebt?«
-
-Und Achilla erzählte. Gott weiß, woher er das alles hatte, -- Wichtiges
-und Unwichtiges bunt durcheinander. Was aber den Vater Sawelij am
-meisten wunderte, waren die vielen seltsamen Worte, die Achilla
-erbarmungslos in seine Rede mengte, mochten sie passen oder nicht,
-Ausdrücke, wie er sie vor seiner Petersburger Reise nicht nur nie
-gebraucht, sondern wohl auch gar nicht gekannt hatte.
-
-So fing er zum Beispiel plötzlich ganz unvermittelt an: »Denk
-dir einmal, Vater Sawelij, diese Kumbination ...« (Das ›u‹ wurde
-unbarmherzig scharf betont.)
-
-Oder:
-
-»Wie er mir das sagte, da sah ich ihn an und antwortete: ›Nein, mein
-Bester, ~je vous perdu~! Das wäre mir gerade der rechte Türlütütü!‹«
-
-Mit welch großer Teilnahme Vater Tuberozow auch seinem Diakon zuhörte,
--- als diese und ähnliche Ausdrücke sich immer häufiger wiederholten,
-runzelte er die Stirn und rief endlich ungeduldig:
-
-»Was soll das eigentlich? Wo hast du all diese dummen Redensarten
-gelernt?«
-
-Aber der begeisterte Achilla war so eifrig dabei, dem Propst alle seine
-aus der Residenz mitgebrachten Herrlichkeiten zu zeigen, daß er auch
-vor den tollsten Wortbildungen nicht zurückschreckte.
-
-»Hab' nur keine Furcht, guter Vater Sawelij, solche Worte haben nichts
-zu sagen -- sie sind nicht verboten.«
-
-»Wieso nichts zu sagen? Sie klingen häßlich.«
-
-»Ihr seid sie nur nicht gewohnt. Mir kann man jetzt sagen, was man
-will. Es ist alles Quatsch mit Sauce.«
-
-»Schon wieder!«
-
-»Was denn?«
-
-»Was hast du da wieder für ein gemeines Wort gebraucht?«
-
-»Quatsch mit Sauce!«
-
-»Pfui!«
-
-»Was ist denn dabei? Alle Literaten gebrauchen es.«
-
-»Mögen sie es tun, in der Residenz sind sie eben so feine Herrschaften;
-da geht's nicht ohne Sauce. Wir einfachen Leute aber haben an dem
-Quatsch allein schon mehr als genug. Meinst du nicht?«
-
-»Sehr richtig,« sagte Achilla und fügte nach einigem Nachdenken hinzu,
-er fände eigentlich auch, daß Quatsch ohne Sauce viel besser klinge.
-
-»Denkt einmal,« widerlegte er sich selbst, »wenn unsereins einen
-Quatsch zum Besten gibt, dann lacht alles; aber die Leute geben gleich
-auch noch eine scharfe Sauce hinzu -- zum Beispiel, es gebe keinen Gott
-oder ähnliche Torheiten, so daß einem angst und bange wird, und nachher
-gibt's dann allemal Zank und Streit.«
-
-»Es muß einem dabei immer angst werden,« flüsterte Tuberozow.
-
-»So streng darf man auch nicht sein, Vater Sawelij. Wenn sie's einem
-beweisen -- wo soll man dann hin?«
-
-»Was beweisen? Was redest du da? Was hat man dir bewiesen? Daß es
-keinen Gott gibt?«
-
-»Ja, Vater Sawelij, das hat man mir bewiesen ...«
-
-»Was faselst du da, Achilla? Du bist doch ein ehrlicher Kerl und
-Christ! Bekreuzige dich! Was hast du da gesagt?!«
-
-»Was soll man denn machen? Ich bin ja selbst nicht froh. Aber gegen ein
-Faktum kann man nicht ankämpfen.«
-
-»Was für ein Faktum? Was hast du denn entdeckt?«
-
-»Ach, Vater Sawelij, was soll ich Euch ärgern? Lest Ihr nur Euren
-Bunian und glaubt in Eurer Einfalt, wie Ihr bisher geglaubt habt.«
-
-»Laß du meinen Bunian in Ruh und kümmere dich nicht um meine Einfalt.
-Bedenke nur, wie du dich selbst bloßstellst!«
-
-»Was soll man machen? Es ist ein Faktum!« erwiderte Achilla seufzend.
-
-Tuberozow stand erregt auf und verlangte, Achilla solle ihm sofort das
-Faktum nennen, auf das sich sein Zweifel an der Existenz Gottes gründe.
-
-»Dieses Faktum hüpft auf jedem Menschen herum,« antwortete der Diakon
-und erklärte dann, er meine damit den Floh. Einen Floh könne jeder aus
-Sägespänen hervorbringen, und also hätte auch die Welt von selbst
-entstehen können.
-
-Auf dieses naive und offenherzige Geständnis wußte Tuberozow zuerst
-gar nichts zu erwidern, Achilla aber begann nun, nachdem das
-Gespräch einmal diese Wendung genommen hatte, seine Petersburger
-Aufklärungsideen weiter zu entwickeln.
-
-»Wozu arbeitet der Mensch? Um des Essens willen. Er möchte satt sein
-und keinen Hunger leiden. Wenn wir nicht essen müßten, würden wir
-überhaupt nichts tun. Man nennt das den Kampf ums Dasein. Ohne den gäb'
-es gar nichts.«
-
-»Nun sieh mal,« sagte Tuberozow, »Gott hat das alles gar nicht nötig
-gehabt und hat doch die Welt geschaffen.«
-
-»Das ist wahr,« sagte der Diakon, »Gott hat sie geschaffen.«
-
-»Wie kannst du ihn dann aber leugnen?«
-
-»Ich leugne ja gar nicht,« antwortete Achilla, »ich sage nur, daß,
-wenn man vom Faktum ausgeht, so kann, wie der Floh aus Sägespänen, die
-Welt auch aus sich selbst heraus entstanden sein. Ihr Gott ist, heißt
-es, der »Sauerstoff«. Aber der Teufel mag wissen, was das wieder für
-ein Stoff ist! Und nun seht einmal: wenn Ihr das wieder von der andern
-Seite betrachtet habt, versteh ich rein gar nichts mehr.«
-
-»Wo ist denn dein Sauerstoff hergekommen?«
-
-»Ich weiß nicht ... Lassen wir das lieber, Vater Sawelij.«
-
-»Nein, das kann ich nicht. Es muß wieder heraus aus dir. Also sag'
-einmal: wo hat er seinen Anfang, dein Sauerstoff?«
-
-»Bei Gott, ich weiß es nicht, Vater Sawelij! Laßt es doch, Liebster!«
-
-»Vielleicht ist dieser Sauerstoff ohne Anfang?«
-
-»Das mag der Teufel wissen! Der soll ihn überhaupt holen!«
-
-»Und er hat auch kein Ende?«
-
-»Vater Sawelij! ... Was geht uns dieser verfluchte Sauerstoff an? Mag
-er doch ohne Anfang und ohne Ende sein! Was kümmert's uns?«
-
-»Begreifst du, was das heißt: ohne Anfang und ohne Ende?«
-
-Achilla erwiderte, er begreife es, und fuhr mit lauter Stimme fort:
-
-»Es ist ein Gott, der in der Dreifaltigkeit angebetet wird, der ewig
-ist, nicht Anfang noch Ende seines Seins hat, sondern immer war, ist
-und sein wird.«
-
-»Amen,« sagte Sawelij lächelnd, und immer noch lächelnd stand er auf,
-faßte freundlich Achillas Hand und sagte:
-
-»Komm, ich will dir etwas zeigen.«
-
-»Gerne,« erwiderte der Diakon.
-
-Und Hand in Hand gingen sie aus dem Zimmer, durchschritten den ganzen
-Hof und blieben schließlich in der Mitte des mit glänzendem frischen
-Schnee bedeckten Gemüsegartens stehen. Der Alte zeigte dem Diakon das
-Kreuz des Doms, wo sie so lange Zeit zusammen vor dem Altar gestanden
-hatten; dann richtete er immer noch schweigend den Zeigefinger abwärts
-und sagte streng:
-
-»Falle nieder und bete!«
-
-Achilla kniete nieder.
-
-»Sprich: Herr, reinige mich Sünder und sei mir gnädig,« sagte Sawelij
-und beugte sich selbst als erster zur Erde.
-
-Achilla seufzte und folgte seinem Beispiel. In der feierlichen Stille
-der Mitternacht, im weißen, monderhellten, einsamen Garten stand er
-da und immer wieder schlug er mit der heißen Stirn gegen den kalten
-Schnee, und tiefe Seufzer wechselten mit der süßen Klage des Bußgebets:
-»Herr, reinige mich Sünder und sei mir gnädig« -- und dazwischen klang
-die Stimme des Propstes, der die zweite Bitte sprach: »Herr, gehe nicht
-ins Gericht mit deinem Knecht.« Der Prediger und der Büßer beteten
-zusammen.
-
-Wie groß war doch der Unterschied zwischen diesem Achilla und jenem,
-den wir einst in der Morgenröte pfeifend auf flammendem Roß durchs
-Wasser reiten sahen!
-
-Jener Achilla war wie ein frischer Morgen nach nächtlichem Regen,
-dieser flimmert wie Sonnenuntergang nach einem stürmischen Tage.
-
-Während Achilla betete, saß Tuberozow in seinem leichten grauen
-Leibrock auf der Bank vor dem Badehause und zählte, mit dem Kopfe
-wackelnd, die Verbeugungen Achillas. Als er so viele abgezählt hatte,
-wie ihm nötig schien, stand er auf, faßte den Diakon an der Hand und
-friedlich gingen sie wieder in das Haus zurück. Aber ehe er sich zu
-Bett legte, trat der Diakon noch einmal zu Tuberozow heran und sagte:
-
-»Wißt Ihr, Vater Propst, als ich betete ...«
-
-»Nun?«
-
-»Da war es mir, als ob die Erde erbebte.«
-
-»Gesegnet sei der Herr, daß er dir ein solches Gebet gab! Geh jetzt,
-leg dich nieder und schlafe in Frieden,« antwortete der Propst und
-beide schliefen friedlich ein.
-
-Aber als Achilla am nächsten Morgen erwachte, da hatte er ein Gefühl,
-als wäre er aus sich selbst herausgekommen, als hätte er unversehens
-etwas fortgeworfen und etwas anderes dafür gefunden. Etwas, das schwer
-zu tragen war und wovon man sich doch nicht trennen konnte und nicht
-wollte.
-
-Es war der Strom des lebendigen, rettenden Glaubens, der die verwirrte,
-bebende Seele überflutete.
-
-Sie mußte krank werden und sterben, um auferstehen zu können, und diese
-heilige Arbeit war in vollem Gange.
-
-Der törichte Achilla war weise geworden, er suchte die Stille, und
-eines Tages, als er sich schon etwas gefestigt fühlte, fragte er den
-Propst:
-
-»Sage mir, du gewaltiger Greis, wie soll ich mit mir zurechtkommen,
-wenn Gottes Wille es so fügt, daß ich, sei's auch nur für kurze Zeit,
-allein bleibe? Bisher war ich stolz auf meine Kraft, aber nun bin ich
-andern Sinnes geworden und weiß, daß ich mich nicht auf sie verlassen
-kann.«
-
-»Ja, du warst groß und stark, aber auch dir naht die Stunde, da
-nicht mehr du dich selbst, sondern da ein anderer dich gürten wird,«
-erwiderte Sawelij.
-
-»Aber auf meine Vernunft ist noch weniger Verlaß als auf die Kraft,
-denn Ihr wißt ja, wie leicht ich irre werde.«
-
-»Vertrau auf dein Herz, es schlägt treu und wahr.«
-
-»Was aber soll ich sagen, wenn ich einmal Rede stehen muß? Mein Herz
-ist ja stumm.«
-
-»Lausche nur, so wirst du wohl hören, was es leise zu dir flüstert.
-Aber die Flöhe, die von der schmutzigen Erde auf dich hüpfen, die
-schüttle ab.«
-
-Achilla legte die Hand aufs Herz und ging. »Wie soll das zugehen?«
-dachte er, und eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, daß er bald, sehr
-bald allein sein, daß all seine Kraft ihn verlassen und »ein anderer
-ihn gürten« werde.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
-
-Die dunkeln, bangen Ahnungen des Diakons gingen in Erfüllung: der
-schwächliche, durch die Ereignisse hart mitgenommene alte Propst
-gehörte kaum noch dieser Welt an. Er erkältete sich nachts beim Zählen
-der Verbeugungen, die der Diakon auf seinen Befehl zu machen hatte,
-und wurde krank. Er litt nur wenig Schmerzen, fühlte aber, daß der Tod
-schon die Arme nach ihm ausstreckte.
-
-Und nur eins tat ihm weh: daß der Bann immer noch nicht von ihm
-genommen war. Achilla verstand dies sehr wohl und wußte auch, was den
-Alten dabei am meisten betrübte.
-
-Tuberozow wollte nicht als Gemaßregelter sterben. Er wollte vor den
-himmlischen Richter als ein von der irdischen Gewalt Freigesprochener
-treten. Er diktierte dem Diakon einen Brief, in dem er der geistlichen
-Behörde von seiner Krankheit Mitteilung machte und in rührenden Worten
-bat, man solle ihm die Gnade erweisen und die Frist des ihm auferlegten
-Bannes verkürzen. Der Brief wurde abgesandt, blieb aber unbeantwortet.
-
-All seine Kraft, alles, was ihm lieb und teuer war, hätte Achilla
-freudig hingegeben, um diesen Schmerz von der Seele Tuberozows zu
-nehmen, aber es lag nicht in seiner Macht, auch war es schon zu spät.
-Der Todesengel schwebte bereits zu Häupten seines Bettes, um die
-scheidende Seele zu empfangen.
-
-Einige Tage später stand Achilla weinend in einer Ecke des
-Krankenzimmers und blickte auf den Vater Zacharia, der, tief über den
-Sterbenden gebeugt, dessen letzte geflüsterte Beichte entgegennahm.
-Doch was bedeutete das? Was für eine Sünde belastete das Gewissen
-des greisen Sawelij, daß der Vater Benefaktow plötzlich in so große
-Aufregung geriet? Er schien sogar völlig vergessen zu haben, daß er
-eine Sakramentshandlung vollzog, die keinerlei Zeugen duldet, denn er
-verlangte mit lauter Stimme, Vater Sawelij solle irgend jemandem irgend
-etwas vergeben! Was machte den Vater Sawelij am Rande des Grabes so
-unbeugsam?
-
-»Sei friedfertig! Sei friedfertig! Vergib!« drängte Zacharia sanft,
-aber fest. »Wenn du nicht vergibst, kann ich dir keine Absolution
-erteilen.«
-
-Der arme Achilla zitterte am ganzen Leibe und lauschte mit stockendem
-Herzschlag auf jedes Wort.
-
-»Im Namen des lebendigen Gottes flehe ich dich an, solange du noch am
-Leben ...« rief Zacharia mit lauter Stimme und stockte plötzlich, ohne
-den Satz zu Ende bringen zu können.
-
-Der Sterbende richtete sich krampfhaft empor, fiel wieder zurück, hob
-die Hand, um sich zu bekreuzigen, und nachdem er dies getan, sprach er
-langsam und mit großer Anstrengung:
-
-»Als Christ ... vergebe ich ihnen die Schmach, die sie mir angetan ...
-aber daß sie, nur auf den toten Buchstaben bedacht ... daß sie hier ...
-Gottes lebendiges Werk zugrunde richten ...«
-
-Der Augenblick wurde immer ernster und feierlicher. Es knackte etwas in
-der Gurgel Sawelijs, und er fuhr wie ein im Fieber Phantasierender fort:
-
-»Diesen Schmerz will ich vor den Thron ... des Königs der Könige ...
-und selbst dafür zeugen ...«
-
-»Sei friedfertig. Vergib! Vergib ihnen alles!« rief Zacharia
-händeringend.
-
-Sawelij zog die Brauen zusammen, seufzte und flüsterte: »Wohl mir, daß
-ich mich gedemütigt habe« -- und schloß dann mit unerwartet fester
-Stimme:
-
-»Nach dem Gerichte derer, so Deinen Namen lieben, erleuchte die
-Unwissenden und vergib dem blinden und verderbten Geschlechte seine
-Herzenshärte.«
-
-Zacharia blickte mit seligem Lächeln zum Himmel und machte das Zeichen
-des Kreuzes über Sawelijs Gesicht.
-
-Dieses Gesicht bewegte sich schon nicht mehr, die Augen blickten starr
-in die Höhe und erloschen. Das Ende nahte.
-
-Achilla stürzte laut schluchzend zum Bette und warf sich über den
-Sterbenden.
-
-Mit einer letzten Kraftanstrengung legte der Verscheidende seine Hand
-auf den Kopf des Diakons. Dann aber fing er auch schon laut zu röcheln
-an, und seltsam mischten sich diese Töne mit den sanft rieselnden
-Worten des Sterbegebets, das Zacharia mit tränenerstickter Stimme
-sprach. Das Erdenwallen des Propstes Tuberozow war zu Ende.
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel.
-
-
-Die Wirkung dieses Todes auf Achilla war entsetzlich. Er weinte und
-schluchzte nicht wie ein Mann, sondern wie ein nervöses Weib, das einen
-Verlust beklagt, den es nicht überleben zu können meint. Übrigens
-war das Hinscheiden des Propstes Tuberozow auch für die ganze Stadt
-ein großes Ereignis: es gab nicht ein Haus, in dem man nicht für den
-Entschlafenen gebetet hätte.
-
-In dem Totenhause drängten sich die Menschen: die einen kamen, um
-dem Verschiedenen ihr letztes Lebewohl zu sagen, die andern, um zu
-sehen, wie der Priester im Sarge aussah. In der Nacht, die dem Tode
-des Propstes folgte, kam vom Konsistorium die Aufhebung des über den
-Verstorbenen verhängten Banns, und so konnte Sawelij denn in vollem
-Ornat bestattet werden. Riesengroß, lang lag er da, die Scheitelkappe
-auf dem Haupte. Totenmessen wurden im Hause unausgesetzt gelesen, und
-so viel eifrige Priester auch kamen und die auf dem Betpult liegenden
-Gewänder und Binden anlegten, um die Messe zu singen, -- jeden bat
-der Diakon Achilla um seinen Segen, daß er das Orarion anlegen und
-mitsingen dürfe.
-
-Am zweiten Tage war der Sarg fertig, und nun begann, nach einer
-alten örtlichen Sitte, die auch heute noch in einigen Gegenden bei
-der Einsargung von Geistlichen ausgeübt wird, eine feierliche und
-schauerliche Zeremonie. Die versammelte Geistlichkeit, mit Kerzen
-in den Händen, in Trauergewändern, trug den toten Sawelij dreimal um
-den mächtigen Sarg herum, und Achilla hielt in der Hand des Toten ein
-rauchendes Weihrauchgefäß, so daß es aussah, als weihe der Tote selbst
-seine letzte kalte Wohnstätte. Dann legte man den entschlafenen Propst
-in den Sarg, und alle gingen fort bis auf Achilla; er verweilte die
-ganze Nacht bei seinem toten Freunde allein, und da geschah etwas, das
-Achilla selbst nicht bemerkte; wohl aber sahen es die andern für ihn.
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
-
-Seit dem Hinscheiden Sawelijs hatte der Diakon sich nicht mehr zu
-Bette gelegt und die drei schlaflosen Nächte nebst der gespannten
-Aufmerksamkeit, die er unausgesetzt dem Toten widmete, hatten die
-stahlharten Nerven Achillas in einen Zustand äußerster Erregung
-versetzt.
-
-Die Instinkte und Leidenschaften, welche sonst vor allem das Tun und
-Lassen des Diakons bestimmt hatten, schienen jetzt völlig verstummt zu
-sein und an ihre Stelle traten Seelenzustände, wie sie ihm bisher gar
-nicht eigentümlich gewesen waren.
-
-Von seiner einstigen Zerfahrenheit und seinem Leichtsinn war nichts
-mehr zu merken. Er war in sich gekehrt und ganz im Banne schwerer
-Gedanken, von denen er sich nicht zu befreien vermochte. Er war nicht
-bleich geworden und seine Augen blickten nicht matt: im Gegenteil, über
-seiner gebräunten Haut lag ein mattrosiger Schimmer. Er sah alles mit
-einer Deutlichkeit und Schärfe, daß ihm die Augen schmerzten. Jeden Ton
-hörte er, als käme er aus seinem eigenen Innern, und vieles war ihm
-verständlich geworden, woran er früher überhaupt nie mehr gedacht hatte.
-
-Er begriff jetzt alles, was der verstorbene Sawelij gewollt und
-angestrebt hatte, und er nannte den Entschlafenen einen Märtyrer.
-
-In den drei Nächten der Totenwache redete er wiederholt mit dem
-Verstorbenen und wartete allen Ernstes darauf, daß unter dem
-Brokattuch, das über das Antlitz des toten Propstes gebreitet war, eine
-Antwort erschallen würde.
-
-»Väterchen!« sprach der Diakon leise, sich im Lesen des Evangeliums
-unterbrechend und in der nächtlichen Stille an den Sarg herantretend,
--- »stehe auf! Wie? Für mich allein stehe auf! Du kannst nicht? Du
-liegst da wie Gras?«
-
-Und dann stand oder saß er einige Minuten stumm da, um endlich das
-monotone Lesen wieder aufzunehmen.
-
-In der dritten und letzten Nacht war Achilla für einen Augenblick
-eingeschlummert. Als er kurz vor Mitternacht erwachte, löste er den
-Vorleser ab und schloß die Tür hinter ihm zu.
-
-Nachdem er das Sticharion angelegt hatte, stellte er sich vor das Pult,
-berührte die Schulter des Toten mit der Hand und sagte:
-
-»Nun höre, Väterchen, heut lese ich zum letztenmal,« -- und dann fing
-er an, das Johannisevangelium zu lesen. Vier Kapitel las er, und als
-er beim fünften angelangt war, stockte er bei einem Vers, seufzte
-tief auf und wiederholte die große Verheißung zweimal: »Denn es kommt
-die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine
-Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur
-Auferstehung des Lebens.«
-
-Nachdem er diesen Satz zweimal laut gesprochen hatte, wiederholte
-Achilla ihn in Gedanken noch einige Male, -- und kam nicht weiter.
-
-»Jetzt hat er doch schon die Stimme des Gottessohnes gehört und ist zu
-neuem Leben erwacht ... Ich sehe ihn nur nicht, aber er ist hier.«
-
-Er merkte nicht, daß die Nacht schon vergangen war und am Himmel der
-erste bleiche, bernsteinfarbene Streif der Morgenröte aufleuchtete, die
-letzte Morgenröte, die auf Erden die sich auflösenden Reste dessen
-beleuchten sollte, der einst Vater Sawelij war und die Stimme seiner
-heimischen Erde so gerne hörte und so gut verstand.
-
-Als der Diakon sah, daß es hell geworden war, seufzte er, trat vom Pult
-zum Sarge, stützte sich mit den Armen auf die beiden Seitenwände, so
-daß die hohe Brust Sawelijs unter seiner Brust lag, hob sachte mit zwei
-Fingern das Brokattuch empor, das über dem Gesicht des Toten gebreitet
-lag, und sprach:
-
-»Väterchen, Väterchen, wo ist jetzt dein Geist? Wo ist dein flammendes
-Wort? Gib mir Unverständigem etwas von deinem Geiste!«
-
-Achilla fiel an die Brust des Toten, zuckte plötzlich zusammen und
-fuhr zurück: ein Schauer war ihm durch seine Glieder gefahren. Er sah
-sich nach allen Seiten um: alles war still, nur seine schwergewordenen
-Augenlider klebten zusammen und eine große Müdigkeit zog seinen Kopf
-abwärts.
-
-Der Diakon raffte sich auf, warf sich zum Gebet nieder und erschrak vor
-dem Laut seines fallenden Körpers: über sich glaubte er ein Knacken
-zu vernehmen, und es schien ihm, als sitze Sawelij aufrecht, das
-Brokattuch vor dem Gesicht und das Evangelienbuch in den todesstarren
-Händen.
-
-Achilla sprang auf und flüsterte, die Arme vorstreckend:
-
-»Friede sei mit dir! Friede! Ich lasse dir keine Ruhe!«
-
-Nach diesen Worten nahm er wieder das Buch und wollte weiterlesen, aber
-mit Staunen fand er dasselbe zugeschlagen. Und er konnte sich nicht
-mehr entsinnen, wo er stehen geblieben war.
-
-Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las: »Er war in der Welt und
-die Welt kannte ihn nicht ...«
-
-»Was suche ich denn da?« dachte er. Sein Kopf war ganz verwirrt. Er
-schlug eine andere Stelle auf. Dort stand:
-
-»Und es werden ihn sehen alle Augen und die ihn zerstochen haben.«
-
-Aber wie Achilla das Blatt umwenden will, merkt er, daß seine Hand ganz
-schwer geworden ist und jemand ihn festhält.
-
-»Was will ich denn? Was suche ich eigentlich? Welche Perikope?
-Was ist denn heute für ein Tag?« denkt Achilla und kann es nicht
-herausbekommen, denn er ist ganz von der Erde entrückt ...
-
-In der strahlend erleuchteten Kirche steht Sawelij im hellen,
-festlichen Meßgewand, mit der hohen violetten Scheitelkappe vor
-dem Altar und liest mit voller runder Stimme, jedes Wort wie eine
-leuchtende Kugel von sich stoßend: »Im Anfang war das Wort und das Wort
-war bei Gott und Gott war das Wort.«
-
-»Was ist das? Gott im Himmel! Und ich meinte, der Vater Sawelij wäre
-gestorben! Ich habe den Introitus verschlafen! Ich bin zu spät zur
-Frühmesse gekommen!«
-
-Achilla zuckte zusammen und öffnete die Augen. Er merkte, daß er
-wirklich geschlafen hatte, und draußen heller Morgen war. Das rote
-Leuchten der Begräbniskerzen erstarb in den Strahlen der aufgehenden
-Sonne. Die Luft war dick vom Qualm, trauriges Glockengeläute klang von
-draußen herüber und an die Zimmertür wurde heftig gepocht.
-
-Achilla fuhr sich hastig mit der trockenen Hand über das Gesicht und
-öffnete.
-
-»Eingeschlafen?« fragte ihn der eintretende Benefaktow leise.
-
-»Ein wenig,« erwiderte der Diakon und trat zur Seite, um den Priestern
-Platz zu machen, die dem Vater Zacharia folgten.
-
-»Aber ich ... weißt du ... ich habe nicht geschlafen: ich habe die
-ganze Nacht an der Leichenrede gearbeitet,« flüsterte Benefaktow dem
-Diakon zu.
-
-»Nun, und ist sie fertig?«
-
-»Nein, es kommt nichts heraus.«
-
-»Ja, so geht es Euch allemal.«
-
-»Vielleicht könntest du etwas sagen?«
-
-»Ich, Vater Zacharia? Ich bin doch kein Gelehrter!«
-
-»Was denn? Du hast doch das Sticharion! Das Recht hast du.«
-
-»Was hilft mir das Recht, Vater Zacharia, wenn ich weder die Gabe noch
-den Verstand dafür besitze?«
-
-»So betet recht inbrünstig um die Gabe, werter Herr, dann wird sie von
-selber kommen,« mischte sich flüsternd der Zwerg ins Gespräch.
-
-»Beten? Nein, Freund Nikolascha, vielleicht betest du für mich. Mich
-hat der Schmerz um den Verstand gebracht. Ich habe selbst in wachem
-Zustande Gesichte.«
-
-»Gut, ich will beten, wenn Ihr es wünscht,« erwiderte der Zwerg.
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-
-Ganz Stargorod geleitete den Leichnam Tuberozows zur Kirche. Der
-Trauergottesdienst wirkte infolge des Verhaltens des Diakons
-grauenhaft. Jedesmal wenn Achilla seinen Mund öffnete, versagte ihm
-die Stimme und er brach in Tränen aus. Sein Schluchzen, das man in der
-ganzen Kirche hörte, erfüllte aller Herzen mit tiefer Trauer.
-
-Nur während der Leichenrede, die einer der Priester hielt, bezwang
-Achilla seinen Schmerz, hörte aufmerksam zu und weinte nur ganz leise
-in sein Taschentuch. Als er jedoch aus der Kirche heraustrat und all
-die Plätze sah, über welche er so viele Jahre an der Seite Tuberozows
-gegangen war, da fühlte Achilla das Bedürfnis, nicht nur zu weinen,
-sondern zu heulen und zu schreien. Um dem Weh, das seine Brust zu
-zersprengen drohte, einen Ausweg zu schaffen, sang er »Heiliger,
-Unsterblicher, erbarme Dich unser«, aber mit einer derartigen
-Stimmgewalt, daß eine blinde hundertjährige Frau, die beim Herannahen
-des Trauerzuges von ihren Enkeln vor das Tor geführt worden war, damit
-sie sich vor dem Sarge neige, plötzlich die Hände zusammenschlug und in
-die Knie sinkend rief:
-
-»O, er hört es, Gott der Herr hört es, wie Achilla zum Himmel schreit!«
-
-Da war auch schon der von einem Graben und einer Weidenhecke umgebene
-Friedhof, auf dem Tuberozow abends so gerne spazieren gegangen und
-dessen Instandhaltung ihm so sehr am Herzen gelegen. Der Sarg wurde
-durch das dunkle Tor getragen; die letzte Litanei war gesungen, die
-weißen Leinenseile rollten den Erdhügel hinab und spannten sich über
-den finstern Abgrund des Grabes. Noch einen Augenblick und es ertönt
-das letzte Amen ... der Sarg sinkt in die Tiefe.
-
-Aber vorher sollte sich noch etwas ereignen, was niemand erwartet
-hatte. Achilla, der schon so viele Male in seinem Leben die Stargoroder
-in Staunen versetzt hatte, fühlte sich gedrungen, es auch dieses Mal zu
-tun, und zwar auf eine ganz neue Weise. Bleich und starr streckte er
-die Hand gegen einen der Totengräber aus, welche die Seile festhielten,
-und rief, wehmütig zu den Priestern hinüberblickend:
-
-»Ihr Väter, ich bitt' euch ... wartet noch etwas ... Ich will nur ein
-paar Worte sprechen ...«
-
-Der schluchzende Zacharia gab den Totengräbern hastig ein Zeichen,
-streckte dem Diakon beide Hände entgegen und segnete ihn.
-
-Ganz in Tränen gebadet, wischte sich Achilla mit seinem baumwollenen
-Taschentuche die mit roten Flecken bedeckte Stirn und stammelte mit
-krampfhaft verzerrten Lippen: »Er war in der Welt und die Welt kannte
-ihn nicht.« Und dann fand er keine Worte mehr, wurde feuerrot und
-mit einem wilden Blick aus seinen entzündeten Augen, der den Worten
-nachzujagen schien, die für ihn in der Luft geschrieben standen, rief
-er drohend: »Aber es werden ihn alle sehen, die ihn zerstochen haben!«
-Und damit warf er eine Handvoll Erde auf den Sarg, nahm hastig das
-Sticharion ab und verließ den Friedhof.
-
-»Ihr habt sehr schön gesprochen, werter Vater Diakon,« flüsterte ihm
-der Zwerg unter Tränen zu.
-
-»Der Geist Sawelijs war über ihn gekommen,« antwortete ihm Zacharia,
-während er sein Meßgewand ablegte.
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-
-Nach der Beerdigung Tuberozows wurde es im Hause des Propstes
-unheimlich still. Achilla war nirgends zu erblicken. Die Sonne geht auf
-und beleuchtet den vereinsamten Hof. Öde ist er und tot; Wolken ziehen
-vorüber und spiegeln sich in den Scheiben der Fenster, wie Schatten aus
-einer andern Welt -- aber drinnen regt sich nichts.
-
-Diese unheimliche Ruhe erfüllte die Nachbarn mit Angst. Man fing an,
-sich ernstlich um den Diakon zu sorgen.
-
-Zacharia besuchte ihn. Lange ging der sanfte Alte aus einem Zimmer ins
-andere und rief:
-
-»Diakon, wo bist du? Höre doch, Diakon!«
-
-Aber niemand antwortete. Endlich öffnete Vater Zacharia die Tür zur
-kleinen Kammer, welche der Diakon bewohnt hatte.
-
-»Was ruft Ihr so laut, Vater Zacharia?« kam aus der Finsternis die
-Stimme Achillas.
-
-»Du fragst noch, mein Lieber? Wo steckst du die ganze Zeit?«
-
-»Macht die Tür etwas weiter auf. Ich bin hier in der Ecke.«
-
-Benefaktow tat, wie Achilla ihm geheißen, und sah ihn auf einer an
-der Wand befestigten schmalen bretternen Lagerstatt ausgestreckt
-daliegen. Der Diakon trug ein grobes Leinenhemd mit zurückgeschlagenem
-Kragen, das nach kleinrussischer Art durch eine lange bunte Schnur
-zusammengehalten wurde, und breite gestreifte Beinkleider.
-
-»Was soll denn das, Diakon?« fragte Benefaktow und sah sich nach einer
-Sitzgelegenheit um.
-
-»Ich will ein bißchen weiterrücken,« erwiderte Achilla und schob sich
-auf das hart an die Wand stoßende Brett.
-
-»Was ist mit dir, Diakon?«
-
-»Gepeinigt,« brummte Achilla.
-
-»Was peinigt dich denn so?«
-
-»Lächerliche Frage! Was? Eben das! Der Tod des Vaters Sawelij peinigt
-mich.«
-
-»Ja, was ist da zu machen? Der Tod ... gewiß ... er ist der Natur
-zuwider ... ist ein Hemmnis aller Gedanken ... aber er ist doch
-unvermeidlich ... unentrinnbar ...«
-
-»Eben dieses Hemmnis ist's, was mich peinigt.«
-
-»Was kommst du immer mit deinem ›peinigt, peinigt‹! Das ist nicht gut,
-mein Lieber.«
-
-»Ja, was ist denn überhaupt noch gut? Nichts!«
-
-»Nun, wenn du selbst einsiehst, daß es nicht gut ist, so mußt du auch
-Vernunft haben: gegen das Naturgesetz kannst du nichts.«
-
-»Ach, was redet Ihr nun wieder vom ›Naturgesetz‹, Vater Zacharia! Wenn
-mich nun eben dieses Naturgesetz peinigt!«
-
-»Ja, was willst du denn machen?«
-
-»O du grundgütiger himmlischer Vater! So laßt mich doch mit Euren
-Gesetzen in Ruh', Vater Zacharia! Nichts will ich machen!«
-
-»Ja, wirst du denn von nun ab immer so daliegen?«
-
-Der Diakon schwieg. Dann seufzte er und sagte ganz leise:
-
-»Ich trauere immer noch sehr und Ihr kommt und redet von gleichgültigen
-Dingen. Was also wollt Ihr von mir haben?«
-
-»Raffe dich auf, denn bei all unserer Trauer sind wir doch schwache
-Menschen, die ohne Essen und Trinken nicht auskommen können.«
-
-»Gewiß, davon ist gar nicht zu reden. Essen und Trinken werden wir
-schon, aber da eben steckt's!«
-
-»Was? Was steckt da? Wo steckt was?«
-
-»Darin steckt's, daß wir das, was gewesen ist, nach und nach vergessen
-werden. Und wenn wir es eines schönen Tages ganz vergessen haben -- was
-dann?«
-
-»Ja, was ist da zu machen?«
-
-»Das ist zu machen, daß ich mit meinem Charakter ganz und gar nicht
-damit einverstanden bin, ihn zu vergessen.«
-
-»Gewiß, lieber Freund, aber die Zeit vergeht und du vergißt doch.«
-
-»Vater Zacharia, sagt mir solche Dinge nicht! Ihr wißt, wie wild ich im
-Schmerz bin!«
-
-»Das fehlte auch noch! Nein, mein Bester, die Roheiten laß du lieber
-beiseite!«
-
-»Ja, beiseite lassen! Wer kann mich jetzt noch im Zaume halten?«
-
-»Wenn du willst, tu ich es.«
-
-»Ihr wäret mir gerade der Rechte!«
-
-»Warum sollte ich es nicht sein?«
-
-»Machen wir uns doch nichts vor! Ihr habt nicht die geringste Gewalt
-über mich.«
-
-»Weißt du, Diakon, du bist einfach frech,« sagte Zacharia gekränkt.
-
-»Gar nicht frech, denn ich hab' Euch lieb; wie könnt Ihr aber Gewalt
-über mich haben, wo Ihr doch so schwach von Charakter seid, daß sogar
-der Subdiakon Sergej Euch Grobheiten sagt.«
-
-»Das tut er! Gegen mich sind alle grob! Deine Reden aber sind einfach
-dumm!«
-
-»So zeigt jetzt, was Ihr über mich vermögt, und verhindert mich, so zu
-reden.«
-
-»Ich will dich nicht verhindern, ich ... ich will nicht, weil ich als
-Freund zu dir kam und du gegen mich grob warst ... Lebe wohl!«
-
-»Wartet doch, Vater Zacharia! So war's nicht gemeint!«
-
-»Nein, nein, laß mich, du hast mir weh getan.«
-
-»So geht in Gottes Namen.«
-
-»Du bist ein Grobian, ein ganz schlimmer Grobian.«
-
-Und Zacharia ging in der Hoffnung, der Diakon werde allgemach des
-Rekelns müde werden und von selber wieder herauskommen; jedoch es
-verging noch eine ganze Woche und Achilla zeigte sich nicht.
-
-»Sie werden vergessen,« sagte er immer wieder vor sich hin, »bestimmt
-werden sie vergessen.« Und dieser Gedanke ließ ihn nicht los, und
-vergeblich strengte er sein Hirn an, wie er das Übel abwehren könnte.
-
-Um Achilla aus seiner Höhle ans Tageslicht zu locken, bedurfte es eines
-ganz besondern Ereignisses.
-
-Eines Morgens wachte Achilla früh gegen sechs auf und blickte nach
-den ersten Sonnenstrahlen, die durch das winzige Fensterlein über der
-Tür in seine Kammer zu dringen versuchten, -- da kam Vater Zacharia
-in großer Hast gelaufen und erzählte, daß an Stelle des verstorbenen
-Tuberozow ein neuer Propst ernannt sei.
-
-Achilla wurde bleich vor Ärger.
-
-»Freut es dich denn nicht?« fragte Zacharia.
-
-»Was geht es mich an?«
-
-»Wieso geht es dich nichts an? Frag doch erst, wer ernannt ist.«
-
-»Als ob mir das nicht ganz gleichgültig wäre!«
-
-»Ein Akademiker!«
-
-»Na ja, ein Akademiker! Und darüber freut Ihr Euch! Nein, bei Gott, Ihr
-steckt noch voll Eitelkeit, Vater Zacharia!«
-
-»Wieso Eitelkeit? Ein Akademiker -- das will sagen: ein kluger Kopf!«
-
-»Wieder was Neues: ein kluger Kopf! Mag er doch klug sein! Werden wir
-zwei davon etwa klüger?«
-
-»Du wirst wieder grob.«
-
-»Fällt mir gar nicht ein. Ihr denkt daran, wie Ihr den Neuen empfangen
-sollt, und ich -- daß ich den Alten nicht vergesse. Wo steckt da die
-Grobheit?«
-
-»Es lohnt gar nicht, mit dir zu reden,« sagte Zacharia und zog geärgert
-von dannen. Achilla aber erhob sich sofort, wusch sich und lief zum
-Polizeichef mit der Bitte, dieser möchte ihm behilflich sein, sobald
-wie möglich sein Haus und seine beiden Pferde zu verkaufen.
-
-»Warum denn das?« fragte Porochontzew.
-
-»Sei nicht neugierig,« antwortete Achilla. »Später, wenn ich's gemacht
-habe, wirst du alles erfahren.«
-
-»So sag' doch ungefähr, um was es sich handelt.«
-
-»Darum, daß Vater Sawelij nicht sobald vergessen wird.«
-
-»Dann soll doch Vater Zacharia in seinen Predigten öfter auf ihn
-hinweisen.«
-
-»Was kann Vater Zacharia? Nein, der liebt heute schon die
-Wissenschaften, ich aber ... ich liebe nach altem Brauch den Menschen.«
-
-Damit war die Unterredung zu Ende und Achillas Besitz wurde seinem
-Wunsche entsprechend verkauft.
-
-Indessen war man gespannt, was er weiter unternehmen würde.
-
-Der Diakon hatte für alles zweihundert Rubel bekommen und steckte die
-beiden Scheine in die Tasche seines Nanking-Leibrocks; er begebe sich
-in die Gouvernementsstadt, erklärte er. Er hatte sich bereits einen
-Wanderstab aus einer langen Latte zurechtgeschnitten, packte seine
-Sachen in ein kleines Bündel zusammen, kaufte sich auf dem Markt zwei
-große Roggenmehlfladen mit Zwiebeln, die er in dieselbe Tasche steckte,
-in der er sein Geld hatte, und wollte sich eben auf die Wanderschaft
-begeben, als unerwartet der neue Propst Irodion Grazianskij eintraf.
-Es war ein sehr wohlaussehender Herr von schwer zu bestimmendem Alter.
-Seinem Äußern nach konnte man ihm ebensogut sechsundzwanzig als auch
-vierzig Jahre geben.
-
-Achilla ging dem neuen Vorgesetzten entgegen und wollte, nachdem er den
-Segen von ihm empfangen hatte, seine Hand küssen. Allein er zog sie
-zurück und schlug dem Diakon einen brüderlichen Kuß vor. Und so küßten
-sie sich auf Mund und Wangen.
-
-»Siehst du, wie gut er ist,« sagte nach einer Stunde, als sie zusammen
-nach Hause gingen, Zacharia zum Diakon.
-
-»Wie habt Ihr denn in so kurzer Zeit so viel Güte entdeckt?« fragte
-Achilla gleichgültig.
-
-»Wie denn? Er wollte sich nicht die Hand von dir küssen lassen, sondern
-bot dir den Mund ... das zeugt doch von großer Güte.«
-
-»Ich meine, das ist nichts weiter als so eine Art von Wichtigtuerei,«
-erwiderte Achilla.
-
-Er war bereits von einer wilden Eifersucht auf den neuen Propst erfaßt
-und suchte allerlei schlechte Eigenschaften an ihm zu entdecken, die
-jeden Vergleich mit dem verstorbenen Tuberozow ausschließen mußten.
-Je mehr der neue Propst allen Stargorodern gefiel, desto heißer mußte
-Achilla ihn hassen.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-
-Am Tage darauf zelebrierte der neue Propst zum erstenmal die Messe und
-hielt eine Predigt, in der er seinen Vorgänger mit Lobeserhebungen
-überschüttete und auf die Notwendigkeit und Pflicht eines ständigen
-Gedenkens und einer Ehrung seiner Verdienste hinwies.
-
-»Wozu das? Was beabsichtigt er damit?« zürnte der Diakon, als er mit
-Zacharia aus der Kirche ging.
-
-Er fühlte selbst, daß er ungerecht war, aber er konnte sich nicht
-beherrschen, und als Zacharia ihm zuzureden versuchte und betonte,
-wie edel das ganze Verhalten Grazianskijs sei, da zerbrach Achilla
-ungeduldig das Stöckchen, das er in der Hand hielt, in zwei Stücke und
-sagte:
-
-»Das ist's ja gerade, was mich so ärgert.«
-
-»Wäre es denn besser, wenn er nicht so gut wäre?«
-
-»Natürlich ... viel, viel besser wäre das,« unterbrach ihn Achilla
-ungeduldig. »Wißt Ihr denn nicht, daß wer nicht gesündigt hat, auch
-nicht Buße tut!«
-
-Zacharia machte nur eine abwehrende Handbewegung.
-
-Achillas Pilgerfahrt nach der Gouvernementsstadt wurde von Tag zu Tag
-aufgeschoben: der Diakon wohnte noch der Revision der Schatzkammer, der
-Bücher und der Kirchengelder bei, immer schweigend und grollend. Zu
-seinem großen Kummer bot sich ihm auch nicht die geringste Gelegenheit,
-dem »Neuen« etwas am Zeuge zu flicken, -- bis Grazianskij endlich
-davon zu reden begann, daß man auf dem Grabe Tuberozows ein kleines
-Denkmal errichten müsse. Achilla sprang wie von einer Tarantel
-gestochen in die Höhe.
-
-»Warum denn ein ›kleines‹ Denkmal und kein großes? Er hat sehr lange
-unter uns gewirkt und Verdienste errungen, wie sie mancher andere nicht
-so leicht fertig brächte.«
-
-Grazianskij sah den Diakon unwillig an und schlug, ohne ihm etwas zu
-erwidern, eine Subskription zum Bau eines Denkmals für Sawelij vor.
-
-Durch die Subskription kamen zweiunddreißig Rubel zusammen.
-
-Der Diakon wollte überhaupt nichts zeichnen und fand den ganzen Plan
-verkehrt.
-
-»Weshalb bist du dagegen?« fragte ihn Benefaktow.
-
-»Weil das alles eitel ist,« antwortete Achilla.
-
-»Worin seht Ihr die Eitelkeit?« warf Grazianskij trocken dazwischen.
-
-»Wie kann man einem solchen Manne namens der ganzen Gemeinde ein
-Denkmal für zweiunddreißig Rubel setzen? So ein Denkmal ist nicht
-besser als eine Pistole für einen Groschen. Nein, diese Kränkung will
-ich ihm nicht antun. Ich bitte, mir das gütigst zu erlassen.«
-
-Am Abend erbat sich der Diakon vom neuen Propst einen vierzehntägigen
-Urlaub nach der Gouvernementsstadt, der ihm auch bewilligt wurde.
-
-So begab sich Achilla auf die Wanderschaft, die er schon so lange
-zur Verwirklichung seiner großartigen Absichten geplant hatte. Schon
-in jenen Tagen, als er noch in seinem Kämmerlein auf der bretternen
-Bettstatt lag, war ihm der Gedanke gekommen, dem Vater Tuberozow ein
-Denkmal zu setzen, aber nicht für dreißig Rubel, sondern für all sein
-Geld, für all die zweihundert Rubel, die er aus dem Verkauf seines
-durch die Arbeit eines ganzen Lebens erworbenen Gutes gelöst hatte.
-Achilla hielt diese Summe für völlig ausreichend, um ein Monument zu
-errichten, das allen Zeiten und Völkern ein Wunder dünken müßte, ein so
-gewaltiges Monument, daß sein idealer Entwurf sogar in seinem eigenen
-Kopfe nicht Platz genug hatte.
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
-
-Kalt und trübe war die Oktobernacht. Hastige Wolken krochen am Himmel
-entlang und der Wind brauste in den nackten Zweigen der Weiden. Achilla
-schritt unermüdlich vorwärts und als die späte Herbstmorgendämmerung
-graute, hatte er den halben Weg bereits zurückgelegt und konnte sich
-getrost etwas Ruhe gönnen.
-
-Er bog vom Wege ab, legte sich hinter einer großen Strohmiete, die ihn
-vor dem Winde schützen sollte, auf den Boden, deckte sich den Mantel
-übers Gesicht und schlief ein.
-
-Der Tag war genau so wie die Nacht: die kalte Sonne tauchte bald
-auf, bald verzog sie sich wieder hinter grauen Nebeln; der Wind
-heulte und brauste wild, um sich dazwischen wieder, einer zischenden
-Schlange gleich, am Boden zu winden. Das Ende des Mantels, welches
-der Diakon über seinen Kopf gezogen hatte, war längst vom Winde
-emporgerissen und flatterte hin und her, und wenn die Sonne hinter
-den Wolken hervorschaute, fielen ihre grellen Strahlen gerade auf das
-Heldenantlitz Achillas. Trotzdem erwachte er nicht. Es war schon ganz
-warm geworden und auf dem zerstampften Stoppelfeld, das Achilla sich
-zur Lagerstatt gewählt hatte, zeigten sich die letzten verspäteten
-Bewohner des toten Kornfeldes: über Achillas Stiefel kroch ein harter
-schwarzer Ohrwurm, und seinen Bart entlang kletterte mühsam und
-zitternd eine frosterstarrte Hummel. Das arme Insekt, das in dem
-dichten Barte des Diakons einen warmen Unterschlupf gefunden hatte,
-fing bald an zu krabbeln und zu zappeln, wovon der Diakon erwachte.
-Er prustete laut, reckte sich, sprang auf, warf sein Bündel über die
-Schulter und schritt der Stadt zu.
-
-Als der Abend dämmerte, hatte er auch die übriggebliebenen
-fünfunddreißig Werst zurückgelegt, und angesichts der Kreuze der
-städtischen Kirchen setzte er sich an den Rand des Straßengrabens und
-beschloß, zum erstenmal, seit er ausgewandert, etwas Speise zu sich zu
-nehmen. Die beiden Fladen holte er aus seiner Tasche, welche sie rund
-eine Woche beherbergt hatte, legte den einen auf den andern und begann
-mit großem Appetit zu kauen. Aber die ganze Portion vermochte er doch
-nicht zu zwingen und steckte den Rest wieder in die Tasche, um zur
-Stadt zu wandern. Nachdem er bei bekannten Seminaristen übernachtet
-hatte, ging er gleich früh am nächsten Morgen zum Adelsmarschall
-Tuganow, ließ sich bei ihm melden und setzte sich auf eine Bank im
-Vorzimmer.
-
-Eine Stunde verging und noch eine. Niemand kümmerte sich um Achilla.
-Mehrere Male schon hatte er den vorüberlaufenden Diener gefragt:
-
-»Herr Haushofmeister, wann wird man mich denn rufen?«
-
-Aber der Herr Haushofmeister würdigte den bäuerisch aussehenden Diakon
-in der Nankingkutte nicht einmal einer Antwort.
-
-Von der gestrigen Wanderung noch müde, wäre Achilla fast eingeschlafen,
-doch besann er sich, daß es hier doch nicht recht schicklich sei. So
-beschloß er, sich lieber die Zeit durch Essen zu vertreiben, was ihm
-die von vorgestern übriggebliebenen Stücke der Zwiebelfladen sehr gut
-ermöglichten. Kaum jedoch hatte er die Reste aus der Tasche seines
-Leibrocks herausgeholt und sich darangemacht, den Staub von ihnen zu
-blasen, als er plötzlich zur Salzsäule erstarrte, dann emporsprang und,
-wie von einem giftigen Insekt gestochen, durch die vornehmen Gemächer
-des Hauses zu rasen begann. Zufälligerweise geriet er bald in das
-Arbeitszimmer des Adelsmarschalls, und als er sich ihm von Angesicht zu
-Angesicht gegenübersah, brüllte er los:
-
-»All ihr heiligen Väter! Wer an Gott glaubt, muß mir helfen! Sehen Sie
-doch, was mir für ein Unglück passiert ist!«
-
-»Was denn? Was ist geschehen?« fragte Tuganow erstaunt.
-
-»Parmen Semenowitsch! Was hab' ich gemacht, ich Bösewicht!« jammerte
-Achilla in wahnwitziger Verzweiflung.
-
-»Hast du jemanden ermordet?«
-
-»Nein, ich kam zu Fuß zu Ihnen gelaufen, damit Sie mir einen guten Rat
-erteilen. Ich möchte dem Propst ein Denkmal setzen für zweihundert
-Rubel.«
-
-»Nun und --? Hat man dir das Geld gestohlen?«
-
-»Nein, nein, etwas viel Schlimmeres!«
-
-»Hast du es verloren?«
-
-»Nein, ich hab's aufgegessen!«
-
-Und voller Verzweiflung streckte Achilla dem Adelsmarschall die untere
-Rinde des nicht ganz aufgegessenen Fladens entgegen, an der ein kleines
-Fetzchen eines Hundertrubelscheines wie angebacken festklebte.
-
-Tuganow berührte den Fetzen mit seinen feinen Fingernägeln, löste
-ihn von der Rinde und sah, daß unter dem ersten Stückchen Papier ein
-zweites von derselben Art noch fester klebte.
-
-Der Adelsmarschall konnte nicht anders, er mußte lachen.
-
-»Ja, sehen Sie, ganz aufgefressen,« wiederholte der Diakon und kaute
-vor Verlegenheit den Nagel seines Mittelfingers. Dann wandte er sich
-plötzlich um und sagte kurz: »Nun also, ich bitte um Entschuldigung,
-daß ich Sie gestört habe. Leben Sie wohl.«
-
-Tuganow aber zeigte sich hilfsbereit.
-
-»Nicht gleich verzweifeln, mein Lieber,« sagte er. »Das hat nichts zu
-bedeuten, man wird mir in der Bank deine Papiere schon einwechseln,
-inzwischen gebe ich dir ein paar andere, dann kannst du deinem Pfarrer
-Sawelij das Denkmal setzen. Ich habe ihn ja auch sehr lieb gehabt.«
-
-Damit reichte er dem Diakon zwei neue Hundertrubelscheine und legte
-die angekauten Fetzen beiseite, um sie später in die Sammlung seiner
-Familienkuriositäten einzureihen.
-
-Diese Not war also behoben, aber eine neue nahte: es galt ein Denkmal
-auszusinnen, wie Achilla es wünschte, aber sich selbst nicht vorstellen
-konnte. Auch diese seine Sorge beichtete er dem Adelsmarschall.
-
-»Ich möchte, Parmen Semenowitsch,« meinte er, »daß das für mein Geld
-errichtete Denkmal möglichst groß und schön sei.«
-
-»So laß doch eine Pyramide aus Granit aufrichten.«
-
-Tuganow ließ sich aus dem Schrank eine Mappe reichen und nahm die
-Abbildung einer ägyptischen Pyramide heraus:
-
-»So in dieser Art.«
-
-Der Gedanke sagte dem Diakon ungemein zu, nur zweifelte er, ob er mit
-seinem Gelde auskommen würde, worauf ihm Tuganow erklärte, falls die
-zweihundert Rubel nicht reichen sollten, so wolle er, Tuganow, aus
-Verehrung für den alten Tuberozow, für den Überschuß eintreten.
-
-»Du aber«, sagte er, »sollst der Baumeister sein. Baue ganz, wie es dir
-gefällt und was du willst.«
-
-»Das ist ...« fing Achilla in höchster Verlegenheit an, aber er kam
-nicht weiter, sondern machte nur eine tiefe Verbeugung bis zur Erde und
-faßte dann plötzlich Tuganows Hand und küßte sie.
-
-Tuganow war gerührt. Er nannte Achilla einen »braven Kerl« und schlug
-ihm vor, bei ihm im Gartenhaus zu logieren.
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
-
-Der Diakon lief von einem Steinmetz zum andern, bis schließlich seine
-Wahl auf den allerschlechtesten, einen Mühlsteinfabrikanten namens
-Popygin fiel. Zwei deutsche Steinhauer hatten den Diakon in hellen
-Zorn versetzt, weil sie immer wissen wollten, ob »der Maßstab es
-gestatten werde«, eine so große Pyramide aufzubauen, wie der Diakon sie
-haben wollte, der die Fläche einfach durch Schritte und die Höhe mit
-emporgereckten Armen bezeichnete.
-
-Meister Popygin als biederer Russe verstand ihn besser: sie maßen alles
-nach Schritten und mit ausgestreckten Armen ab und schlossen einen
-mündlichen Vertrag, den sie durch Handschlag besiegelten. Damit war die
-Bestellung gemacht und der Bau der Pyramide begann. Achilla sah zu, wie
-man die riesigen Steine schob, wendete und glättete und war über ihre
-Dimensionen entzückt.
-
-»So ohne Maßstab ist's viel besser,« sagte er, »wie es uns paßt, so
-bauen wir.«
-
-Der russische Meister Popygin stimmte ihm durchaus bei.
-
-Tuganow ließ sich von Achilla über die Fortschritte der Arbeit Bericht
-erstatten und widersprach ihm weder, noch stritt er mit ihm. Er suchte
-den Recken durch das Denkmal bei Laune zu erhalten, wie man einem
-betrübten Kinde ein Spielzeug gibt.
-
-Nach einer Woche war sowohl die Pyramide als auch die Inschrift fertig,
-und der Diakon kam zu Tuganow und bat ihn, das Wunderwerk seiner
-schöpferischen Phantasie in Augenschein zu nehmen. Es erwies sich als
-furchtbar breite, etwas plattgedrückte Pyramide, mit einem Kreuz oben
-und je einem großen holzgeschnitzten, vergoldeten Cherub an den vier
-Ecken.
-
-Tuganow betrachtete das Monument. »Das lebt!« sagte er, und der Diakon
-war beglückt. Die Pyramide wurde auseinandergenommen und ihre Teile auf
-neun Schlitten nach Stargorod geschafft. Auf dem zehnten Schlitten,
-der die Karawane beschloß, saß Achilla selbst, zusammengekauert,
-in einem speckigen Schafpelz zwischen den vier vergoldeten, in
-Matten gewickelten Cherubim. Er war immer noch ganz entzückt von der
-Herrlichkeit des Denkmals, aber in dieses Entzücken mischte sich eine
-gewisse Unruhe: er fürchtete, es könnte jemandem einfallen, an seiner
-Pyramide Kritik zu üben, an dieser einzigartigen Schöpfung seines
-Geistes und Geschmacks, dem Zeugnis seiner Ergebenheit und Liebe zu
-dem entschlafenen Sawelij. Um dem zu entgehen, beschloß Achilla, den
-Aufbau möglichst im geheimen zu bewerkstelligen. Als er daher Stargorod
-erreicht hatte, ging er nachts nur zu Zacharia und erzählte ihm von
-allen Schwierigkeiten, die er bei der Herstellung der Pyramide zu
-überwinden gehabt hatte.
-
-Es gelang dem Diakon aber nicht, unbemerkt das Monument
-zusammenzustellen. Die auf den Schlitten lagernden Teile der
-Sawelij-Pyramide erregten gleich am nächsten Morgen allgemeines
-Aufsehen. Die sich scharenweise herandrängenden Städter interessierten
-sich besonders für die unter den Matten hervorblinkenden Arme und
-Flügel der vergoldeten Cherubim. Die Biederleute stritten heftig
-über die Frage, was das wohl für Engel sein mochten: silberne oder
-vergoldete.
-
-»Silbern und vergoldet und von innen mit Brillanten gespickt,« erklärte
-Achilla und trieb die Mitbürger auseinander, die sich um die Arbeiter
-drängten.
-
-Auch die feinen Herrschaften ärgerten den Diakon. Diese schienen ihm
-eigens zum hämischen Kritteln gekommen zu sein.
-
-Der sonst so wenig selbstbewußte und ehrgeizige Achilla wurde in seiner
-wachsenden Reizbarkeit zuletzt ganz unerträglich. Er konnte kein Wort
-über Tuberozow mehr ruhig anhören. Sogar wenn man den Seligen lobte,
-geriet er in Wut: er fand all und jedes Lob unangebracht.
-
-»Was gibt's denn da zu loben?« sagte er zu Benefaktow. »Ihr seid, nehmt
-mir's nicht übel, ein leichtsinniger Mensch, Vater Zacharia. Ihr redet
-von ihm, wie man von Milch redet, wenn man eine Kuh gesehen hat.«
-
-»Habe ich denn etwas Schlechtes über ihn gesagt?«
-
-»Man soll überhaupt nicht von ihm reden. Die Zeit ist nicht danach,
-über die Glaubensstarken zu streiten.«
-
-Gegen andere war Achilla noch viel schroffer als gegen Benefaktow, und
-als nach und nach alle, durch seine Empfindlichkeit abgestoßen, ihn
-zu meiden anfingen, geriet er immer mehr unter die Herrschaft eines
-Gedankens: der Vergänglichkeit alles Irdischen und des Todes.
-
-»Sagt was ihr wollt,« philosophierte er, »das ist auch keine
-Kleinigkeit, plötzlich so hinzusterben und dann Gott weiß wo an einem
-ganz andern Ort wieder zu sich kommen.«
-
-»Darüber hast du noch Zeit genug nachzudenken,« tröstete ihn Zacharia,
-»du stirbst nicht so bald.«
-
-»Woraus schließt Ihr das, Vater Zacharia?«
-
-»Aus deinem Körperbau und ... dann hast du solche Ohren ... so
-feste ...«
-
-»Ja, was meine Statur und meine Ohren betrifft, so brauchte ich in
-hundert Jahren nicht zu sterben; man müßte mich rein mit einem Knüppel
-totschlagen. Aber, wißt Ihr, das hängt doch auch von der Phantasie ab,
-und deswegen muß der Mensch auch daran denken.«
-
-Und endlich verfiel der Diakon in eine ganz trübe Hypochondrie, die
-auch den andern nicht entging. Man fing an zu reden, daß er sich den
-Tod herbeirufe.
-
-Der Propst Grazianskij besuchte den Diakon und machte ihm Vorwürfe
-wegen seines freiwilligen Exils; er sagte, es wäre unvernünftig, die
-Menschen zu fliehen; Achilla aber erwiderte ihm ruhig:
-
-»Den Vernünftigen sucht Ihr jetzt vergebens. Er liegt im Grabe.«
-
-Dem Arzt Pugowkin, den der Diakon einst beim Baden untergetaucht hatte
-und der trotzdem sein guter Freund geblieben war und jetzt zu ihm kam,
-ihn zu trösten und ihm einzureden, er sei krank und müsse sich ärztlich
-behandeln lassen, erwiderte Achilla:
-
-»Du hast recht, mein Bester, alle meine Gedanken gehen durcheinander
-... Ich grübele -- ich weiß selber nicht worüber ... und immer quält
-mich ... weißt du (Achilla zog die Brauen zusammen und schloß im
-Flüstertone) die Sehnsucht.«
-
-»Nun ja, man nennt das erhöhte Sensibilität, Reizbarkeit.«
-
-»Reizbarkeit, das ist es! Alles drückt mich. Weißt du, es ist, als ob
-ein Pfahl in meiner Brust stäke, und nachts sitze ich da und weiß lange
-nicht, weswegen ich mich quäle und weine.«
-
-Da trat unerwartet ein Ereignis ein, das den Diakon aufrüttelte: der
-Tod des Zwerges Nikolai Afanasjewitsch. In seinem Testament hatte er
-verfügt, daß Vater Zacharia und Achilla ihm das letzte Geleit geben
-sollten, jedem von den beiden hatte er dafür fünf Rubel in bar, zwei
-Paar selbstgestrickte Strümpfe und eine baumwollene Nachtmütze
-hinterlassen.
-
-Als man vom Begräbnis nach Hause ging, schien der Diakon heiterer als
-sonst. Er scherzte sogar.
-
-»Seht ihr wohl, meine Lieben, wie Er unsere Gemeinschaft auflöst?«
-sagte er, »einen nach dem andern holt Er sich: nun ist auch Nikolai
-Afanasjewitsch hin. Und dann kommt die Reihe an mich und Vater
-Zacharia.«
-
-Achilla täuschte sich nicht. Als er Seinen Besuch erwartete, stand Er,
-der Milde und Unüberwindliche, schon hinter ihm und breitete seine
-kühlen Flügel über ihn.
-
-Die Chronik muß eingehend über die letzten Taten des Recken Achilla
-berichten, denn diese Taten waren seiner durchaus würdig und gaben ihm
-die Möglichkeit, auf seine eigene, ganz besondere Weise die Fahrt nach
-dem jenseitigen Ufer des Lebensmeeres anzutreten.
-
-
-
-
-Dreizehntes Kapitel.
-
-
-Der Frühling kam und Stargorod erwachte zu neuem Leben. Der Fluß wollte
-die starre Eisdecke abwerfen, blies sich auf und wurde blau. Immer
-höher türmten sich an beiden Ufern die Berge von Getreidesäcken, und
-schon wurden die breiten Barken instand gesetzt.
-
-Aus den Dörfern, die den Winter hindurch gehungert hatten, kamen
-täglich Scharen zerlumpter Bauern in Bastschuhen und weißen Filzkappen
-in die Stadt. Sie ließen sich als Schlepper dingen, gegen Bezahlung
-ihrer Steuern und Beköstigung, und waren glücklich, das Getreide, das
-ihnen daheim so mangelte, in entfernte Gegenden schaffen zu können.
-Selbstverständlich wurden nicht alle dieses Glückes teilhaftig. Das
-Angebot übertraf die Nachfrage ganz bedeutend. Und um die Überflüssigen
-kümmerte sich kein Mensch.
-
-In einsamen und abgelegenen Gassen der Stadt begann sich, ohne
-sichtliche Veranlassung, allerlei Teufelsspuk zu zeigen. Ein solcher
-Teufel, in voller höllischer Ausrüstung, mit Hörnern und Klauen,
-überfiel nacheinander zwei Weiber, einen betrunkenen Schmied und einen
-völlig nüchternen Kanzlisten, der zu einem nächtlichen Stelldichein
-mit einer Kaufmannstochter pilgerte. Den Armen wurde alles abgenommen,
-was sie bei sich hatten, und später sagten sie aus, der Teufel, dessen
-Opfer sie geworden wären, hätte Stierhörner gehabt und Klauen ganz wie
-jene Eisenhaken, mit denen die Hafenarbeiter die Getreidesäcke auf
-die Barken zerren. Niemand wagte mehr nach Sonnenuntergang durch die
-Stadt zu gehen; aber der Teufel trieb sein Unwesen ruhig weiter. Einmal
-wurde er von den Wachtposten gesehen, die vor dem Salzdepot und vor
-dem Gefängnis standen. Er hatte sogar die Unverschämtheit, näher als
-auf Schußweite an die Soldaten heranzukommen und sie mit kläglicher
-Stimme um ein Stückchen Brot zu bitten. Man sandte daher nachts
-Patrouillen aus; eine, vom Polizeichef, dem uns längst wohlbekannten
-tapfern Rittmeister Porochontzew, selbst geführt, begegnete dem
-Teufel tatsächlich und rief ihn sogar an. Als er aber darauf: »Gut
-Freund« erwiderte -- bekamen die Leute Angst und rannten davon. Der
-Rittmeister, welcher glaubte, sich auf die Polizei nicht mehr verlassen
-zu können, wandte sich nun an den Hauptmann Powerdownia und bat um den
-Beistand seines Invalidenkommandos zur sofortigen Festnahme des die
-Stadt in so große Erregung versetzenden Teufels. Aber der Hauptmann
-wollte sich mit dem Höllenfürsten nicht einlassen, ohne vorher die
-Genehmigung seiner unmittelbaren Vorgesetzten eingeholt zu haben,
-und so spazierte der Teufel nach wie vor in der Stadt herum, und das
-Entsetzen der Bürgerschaft wuchs von Tag zu Tag. Endlich mischte
-sich der Propst Grazianskij hinein. Er wandte sich an das Volk mit
-einer Predigt über den Aberglauben und behauptete, Teufel, die den
-Leuten Mäntel und Kopftücher fortnehmen, gäbe es überhaupt nicht.
-Der nachts in der Stadt umgehende Teufel sei nichts weiter als ein
-fauler Taugenichts, welcher glaube, die Leute leichter um ihr Hab
-und Gut betrügen zu können, wenn er ihnen durch seine Teufelsmaske
-vorher einen gehörigen Schreck einjage. Diese Rede rief eine große
-Entrüstung hervor. Der Vorsteher der altgläubigen Gemeinde erklärte,
-das sei wieder einmal eine Ketzerei der neuen Kirche, und es gelang
-ihm ohne alle Mühe, ein paar Schäflein aus der Domherde für seine
-Sekte zu gewinnen. Der Teufel aber nahm noch in anderer Weise Rache an
-dem ungläubigen Grazianskij. Am Tage, welcher seiner Predigt folgte,
-entdeckte man im Vorhause der Grazianskijschen Wohnung an der Decke die
-Spuren schmutziger Stiefel. Natürlich war alle Welt darüber erstaunt
-und entsetzt; denn wer kann mit dem Kopf nach unten an der Decke
-entlang laufen?! Man neigte daher zu der Ansicht, nur der Teufel könne
-es gewesen sein, und selbst der Propst war nicht imstande, seiner
-Frau dies auszureden. Allen seinen Ermahnungen zum Trotz wuchs die
-Hochachtung vor dem Teufel erst recht; kein Mensch wagte mehr, ihn zu
-erzürnen, aber auch niemand ging in der Dämmerung mehr aus.
-
-Indessen, der Teufel hatte es doch zu toll getrieben und das bekam
-ihm schließlich übel. In den Straßen gab es für ihn schlechterdings
-nichts mehr zu erbeuten. Es begannen infolgedessen die Messingkreuze,
-die Heiligenbilderschreine und die Lämpchen auf dem Friedhofe zu
-verschwinden, wo der Vater Sawelij unter seiner Pyramide ruhte.
-
-Die Stadt, durch die verschiedenen Teufelsstreiche in Schrecken
-versetzt, schrieb auch diese neue Schändlichkeit ohne weiteres
-demselben bösen Feinde zu.
-
-Bei der Untersuchung des Schadens bemerkte man, daß auch das Denkmal
-des Vaters Sawelij gelitten hatte: das Kreuz und der vergoldete Knopf,
-welche die Pyramide krönten, waren mit Hilfe eines Brecheisens stark
-verbogen und gelockert, einer der vergoldeten Cherubim abgerissen,
-erbarmungslos mit dem Beil zerhackt und dann verächtlich weggeworfen,
-da er keinen nennenswerten Marktwert besaß.
-
-Als Achilla davon Kenntnis erhielt, unterzog er das beschädigte
-Monument einer genauen Besichtigung und meinte:
-
-»Und wenn du Beelzebub selber wärst, das wirst du mir büßen müssen.«
-
-
-
-
-Vierzehntes Kapitel.
-
-
-In der darauffolgenden Nacht, gegen elf Uhr, verließ der Diakon, ohne
-vorher jemandem etwas gesagt zu haben, leise das Haus und schlich sich
-nach dem Friedhof. Eine lange Stange und eine starke Hanfschlinge trug
-er in der Hand.
-
-Niemand kam ihm in den Weg, niemand bemerkte ihn. Kurz vor halb zwölf
-erreichte er den Friedhof. Er betrachtete das Tor: es war geschlossen
-und klapperte leise, vom frischen Frühlingswind gerüttelt. Allem
-Anschein nach pflegte der Teufel nicht durch dieses Tor zu gehen,
-sondern nahm einen andern Weg.
-
-Achilla trat zur Seite und stieß mit der Stange in den weichen
-Schnee, der den rund um den Friedhof gezogenen Graben füllte. Die
-Stange durchbohrte die dünne Eisschicht und drang etwa bis zur Hälfte
-ein. Der Graben war ungefähr zwei und eine halbe Arschin tief. Auf
-der gegenüberliegenden Seite bildete die abgegrabene Erde einen
-glitschigen, von außen leicht befrorenen Lehmwall.
-
-Achilla stieß die Stange fester in den Boden, stützte sich auf sie,
-flog drachengleich empor und gelangte glücklich hinüber. Für die
-Stange, mit deren Hilfe er diesen gigantischen Sprung allein hatte
-ausführen können, erwies sich die Wucht seines massigen Leibes
-allerdings zu schwer: sie brach in demselben Augenblick, in dem die
-Sohlen des Diakons den Wall berührten. Achilla kümmerte es nicht;
-er hoffte, auf dem Friedhof irgend etwas anderes zu finden, das ihm
-auf dem Rückwege denselben Dienst leisten könnte. Außerdem hatte ihn
-jenes Gefühl erfaßt, das sich nachts auf dem Friedhof unser so leicht
-bemächtigt. Nicht Furcht, sondern eine Art Spannung, bei der alle fünf
-Sinne erregt und scharf arbeiten. Achilla atmete tief auf, nahm das
-schwarze Tuchkäppchen vom Kopf, schüttelte die grau gewordenen Locken
-und sah mit Vergnügen, wie hell das silberne Licht des Mondes über den
-Gottesacker floß. Wehmut erfaßte ihn, und doch fühlte er sich zugleich
-so frisch, wie schon lange nicht; er gedachte der alten Zeiten und
-ihrer Kämpfe und sandte dem Monde einen scherzhaften Gruß hinauf:
-
-»Guten Abend, Kosakensonne!«
-
-Tiefe Stille ringsum! Ja, hier herrschte wirklich Frieden! ...
-
-Der Diakon ging zum Grabe Sawelijs, setzte sich auf den Hügel und
-lehnte sich mit dem Rücken gegen einen der Cherubim. Immer noch tiefe,
-durch nichts gestörte Stille, nur die Wolkenschatten zogen lautlos
-dahin. Neue und immer neue, ohne Ende.
-
-Der Diakon wurde schläfrig. Er lehnte sich fester gegen die Pyramide
-und fiel in Halbschlaf. Nur für kurze Zeit; denn plötzlich schien es
-ihm, als stampfte jemand kräftig auf. Er öffnete die Augen: gleiche
-Stille ringsum, nur der Himmel hatte sein Aussehen verändert, der Mond
-war blasser geworden und längs der Pyramide lief ein einziger langer
-und breiter Schatten. Wolken ballten sich zusammen und die Luft wehte
-morgenkühl. Achilla erhob sich und wiederum hatte er die Empfindung,
-als wandele jemand auf dem Friedhof umher.
-
-Der Diakon ging hinter die Pyramide. Niemand war zu sehen.
-
-Nur eine frische Spur. Aber auch sie konnte von früher herstammen. Wie
-sollte man das unterscheiden, wenn der Schnee schon zum dünnen Brei
-geworden war, in den der Fuß riesige, fast formlose Gruben drückte? In
-der Stadt krähten die Hähne ihren Morgengruß. Nein, heute kommt der
-Teufel nicht mehr!
-
-Achilla wandte sich langsam zu der Stelle, wo er über den Graben
-gesprungen war. Er fand sie ohne Schwierigkeit und griff ohne
-Bedenken nach der aus dem Graben emporragenden langen Stange, als er
-sich plötzlich erinnerte, daß sie gebrochen war! ... Wo kam da die
-unversehrte Stange her?
-
-»Sonderbar!« dachte der Diakon, und nachdem er sich überzeugt hatte,
-daß er sich nicht täusche, sondern tatsächlich aus dem Graben eine
-tadellose Stange hervorragte, machte er sich zum Sprung bereit, als
-sich von hinten plötzlich über seine Schultern hinweg zwei mächtige
-Tatzen auf seine Brust legten. Sie waren mit dicker, filziger schwarzer
-Wolle bekleidet und hatten gewaltige Eisenklauen.
-
-Der Teufel!
-
-
-
-
-Fünfzehntes Kapitel.
-
-
-Achilla knickte augenblicklich unter dem ihn niederdrückenden
-Teufel zusammen, packte ihn dann an den Pfoten und riß dieselben so
-kräftig, daß das Kinn des Teufels dröhnend gegen seinen Scheitel
-schlug und gleichsam daran kleben blieb. Der Teufel, der darauf nicht
-gefaßt gewesen war, fing verzweifelt an zu zappeln, sah aber die
-Vergeblichkeit seiner Bemühungen bald ein, wurde still und blieb nach
-einem dumpfen Seufzer auf dem Rücken des Diakons hängen. Es war ihm
-nicht nur unmöglich, sich loszureißen, sondern er vermochte sogar kein
-Wort herauszubringen, denn sein Kiefer war wie mit einer Presse gegen
-den Schädel Achillas gepreßt. Die einzige Bewegung, welche der böse
-Geist zu machen vermochte, war das Strampeln mit den Beinen. Diese
-Möglichkeit beutete er aber auch mit höllischer Lust und Arglist aus.
-
-Achilla, der den Teufel ebenso leicht auf seinem Rücken hielt, wie ein
-gesunder Bauer eine Garbe Erbsenstroh, tat ein paar Schritte rückwärts,
-nahm einen Anlauf und sprang über den Graben. Der gewandte Teufel
-benutzte diesen Moment, seine Beine um die ausgespreizten des Diakons
-zu schlingen, gerade als sie beide jenseits des Grabens angelangt
-waren. Der so plötzlich in seiner Bewegung gehemmte Achilla verlor das
-Gleichgewicht und stürzte mit seiner Last in den mit kaltem, schneeigem
-Brei gefüllten Graben.
-
-Beinahe hätte die furchtbare Kälte ihn veranlaßt, seine Hände zu
-öffnen und den Teufel loszulassen, doch überwand er sich und hielt
-nach anderen Rettungsmöglichkeiten Umschau. Doch schien es die nicht
-zu geben; die glatten Grabenwände bedeckte eine Eisschicht, so daß
-es unmöglich war, an ihnen emporzuklimmen, ohne sich der Hände zu
-bedienen. Dazu aber hätte Achilla den Teufel loslassen müssen und das
-wollte er durchaus nicht. Er versuchte zu schreien, doch niemand hörte
-ihn, und wenn ihn auch jemand gehört hätte, so würde er seine Tür nur
-noch fester verschlossen und gesagt haben: »Da hat der Teufel schon
-wieder einen am Wickel.«
-
-Der Diakon begriff, daß er von der geängstigten Bevölkerung keine Hilfe
-zu erwarten habe. Trotzdem wollte er den Teufel nicht loslassen, und so
-hockten beide im Graben und froren. Sie waren fast völlig erstarrt und
-hätten vielleicht hier ihren Tod gefunden, wenn nicht ein Zufall ihnen
-zu Hilfe gekommen wäre.
-
-Frühmorgens zog ein Spiritustransport nach der Stadt. Als er am
-Friedhof vorbeikam, bemerkten die Bauern im Graben eine seltsame
-Gruppe. Sie machten Halt, ergriffen aber entsetzt die Flucht, als sie
-das blaue Gesicht eines Mannes erkannten, über dem sich die gehörnte
-Teufelsfratze emporreckte. Der halberstarrte Achilla nahm seine letzte
-Kraft zusammen, rief die Leute zurück, befahl ihnen, auf den Teufel
-aufzupassen, zog die rechte Hand aus dem Graben heraus und bekreuzigte
-sich.
-
-»Es ist ein Christenmensch, Kinder!« riefen die Bauern, zogen den
-Diakon und den Teufel heraus, steckten einen Strohhalm in das Spundloch
-eines der Fässer und setzten Achilla davor. Den Teufel aber warfen sie
-vorn auf den Schlitten und fuhren weiter zur Stadt.
-
-Nachdem er etwas Spiritus eingesogen hatte, zuckte der Diakon zusammen
-und fiel der Länge nach auf den Schlitten. Er befand sich in einem
-entsetzlichen Zustande. Ganz durchnäßt und blau, wie ein Kessel,
-zitterte er so, daß er kaum atmen konnte. Der Teufel aber lag da wie
-ein Eiszapfen. So brachte man ihn in die Stadt, wo der Diakon das
-Fahrzeug vor dem Polizeiamt halten ließ.
-
-Achilla hob den Teufel aus dem Schlitten, ließ ihn in die Kanzlei
-tragen und schickte nach dem Polizeichef. Er selbst ließ sich vom
-Polizeidiener ein trockenes Hemd und einen Soldatenmantel geben und
-legte sich auf das Sofa.
-
-Trotz der frühen Stunde war bald die ganze Stadt von dem großen
-Ereignis unterrichtet, und eine dichte Menschenmenge wogte, wie
-Meereswellen um einen Felsen, um das Gebäude des Polizeiamtes, wo auch
-der Rittmeister Porochontzew seine Amtswohnung hatte. Trotz ihres Amtes
-und ihrer Würde gelang es den einflußreichsten Persönlichkeiten der
-Stadt, wie dem Propst Grazianskij, dem Vater Zacharia und dem Hauptmann
-Powerdownia, nur mit großer Mühe, sich einen Weg durch die Menge zu
-bahnen, und auch nur deshalb, weil die Menge die Anwesenheit der
-Geistlichkeit bei der an dem Teufel vorzunehmenden Exekution für eine
-religiöse Notwendigkeit hielt. Dem Hauptmann Powerdownia aber kam sein
-Säbelgriff zugute, mit dem er kräftige Hiebe und Püffe nach rechts und
-nach links austeilte.
-
-
-
-
-Sechzehntes Kapitel.
-
-
-Während draußen die Menge sich drängte und lärmte, ging es im Hause
-nicht weniger erregt zu. Der Polizeichef, Rittmeister Porochontzew,
-kam in Barchentunterhosen und einer Flanelljacke in die Kanzlei
-gestürzt und sah tatsächlich den Teufel mit Hörnern und Klauen kläglich
-zusammengekauert am Boden hocken und ihm gegenüber auf dem Sofa, das
-sonst die Bittsteller einzunehmen pflegten, eine unförmliche zitternde
-Masse, bedeckt mit einem Soldatenmantel und zwei Schafpelzen: der
-Diakon.
-
-Um den Teufel herum gruppierten sich in den verschiedensten Stellungen
-sämtliche Stargoroder Honoratioren, auf deren Gesichtern nichts von dem
-Grauen zu lesen war, das die Nähe des bösen Geistes ihnen von Rechts
-wegen hätte einflößen sollen. Jeder sah, daß dieser Teufel ein ganz
-jämmerliches Geschöpf war, welches vor Kälte bebte und schlecht und
-recht in die traurigen Reste eines Kosakenmantels aus haarigem Filz
-gewickelt war, den der Diakon Achilla einmal dem Kommissar Danilka
-geschenkt hatte, weil das Kleidungsstück zu nichts sonst zu gebrauchen
-war. Auf des Teufels Kopfe, den ein Fetzen desselben Mantels bedeckte,
-ragten zwei mit einem schmutzigen Bindfaden ungeschickt befestigte
-Kuhhörner empor, und an den Händen, die in ein paar Stückchen Schaffell
-gewickelt waren, baumelten zwei gewöhnliche Eisenhaken, wie man sie zum
-Aufwinden von Getreidesäcken verwendet. Das merkwürdigste aber war,
-daß einer der Soldaten, als er mit der Hand unter den Anzug des Teufels
-griff, eine Schnur zu packen bekam, an der ein altes Messingkreuzchen
-mit der Aufschrift: »Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreuet
-werden« hing.
-
-»Ich sagte doch, daß alles Betrug wäre,« bemerkte der Propst
-Grazianskij.
-
-»Ja, ja, dem Kostüm nach ist es ein richtiger Teufel, aber das
-Kreuzlein läßt auf anderes schließen,« stimmte Zacharia ihm bei, trat
-auf das rätselhafte Geschöpf zu und fragte: »Hör mal, mein Lieber, wer
-bist du? He? Hörst du, was ich dir sage? ... Lieber Freund! ... Heda!
-... Hörst du? ... Sprich doch! ... Sonst gibt es Prügel! ... So rede
-doch!«
-
-Hier mischte sich der Polizeichef ein und fing selbst an, den Teufel
-auszufragen, aber ebenso erfolglos.
-
-Der Teufel, der allmählich warm wurde und zu sich kam, rückte nur
-sachte hin und her und verkroch sich wie eine Schildkröte immer tiefer
-in seinen Mantel.
-
-Von den verschiedenen Seiten wurden allerlei Meinungen darüber laut:
-was man jetzt mit diesem Teufel anfangen sollte. Der Polizeichef
-neigte zu der Ansicht, man müsse ihn, so wie er sei, zum Gouverneur
-schicken und berief sich dabei auf das alte Gesetz über Ungeheuer und
-Mißgeburten. Aber alle waren so neugierig, daß sie sich diesem Beschluß
-energisch widersetzten und die mannigfaltigsten Gründe anführten, um
-den Polizeichef zu überzeugen, daß der Dämon unbedingt sofort entlarvt
-werden müsse, um die allgemeine, brennende Neugier endlich zu stillen!
-
-Zwei der Anwesenden nahmen an den Debatten keinen Anteil:
-der Bürgermeister und Vater Zacharia, denn beide waren in
-Spezialuntersuchungen vertieft. Der Bürgermeister schlich sich immer
-ganz leise an den Teufel heran, bald von der einen, bald von der
-anderen Seite, machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und sprang dann
-geschwind wieder zur Seite, um nicht mit dem Bösen gemeinsam in die
-Tiefe zu versinken. Zacharia aber riß ihn an den Hörnern und flüsterte
-ihm zu:
-
-»Hör mal, mein Lieber, sag mir nur das eine: warst du es, der beim
-Vater Propst die Decke entlang gelaufen ist? Gesteh's und du bekommst
-keine Schläge.«
-
-»Ich war's,« stöhnte der Teufel dumpf.
-
-Diese ersten Worte des Dämons riefen unter den Anwesenden eine
-unerwartete Panik hervor, welche durch das wilde Geschrei des draußen
-stehenden Volkes noch verstärkt wurde. Die Menge hatte die Geduld
-verloren und drängte ins Haus mit der Forderung, der Teufel solle ihr
-ausgeliefert werden, wobei ganz laut der Verdacht geäußert wurde, die
-Polizei beabsichtige, sich vom Teufel »schmieren« zu lassen und ihn
-dann unbehelligt in sein höllisches Reich heimzusenden. Einige machten
-den Vorschlag, die Tür aufzubrechen und den Teufel mit Gewalt den
-Händen der gesetzlichen Obrigkeit zu entreißen. Dieser Drohung folgte
-ihre Verwirklichung auf dem Fuße, denn man schlug donnernd gegen die
-Türe. Jedoch der Rittmeister fand das richtige Gegenmittel. Er gab dem
-Revieraufseher ein Zeichen, worauf dieser sofort die Feuerspritze aus
-dem Schuppen zog, mit dem Schlauch auf den Zaun kletterte und einen
-Strahl eiskalten Wassers über die Menge ergoß. Hiermit war das Signal
-zu einem wilden Tohuwabohu gegeben. Die Menge fuhr zurück, schrie,
-pfiff, lachte, dann aber wurden die heiteren Gesichter plötzlich ganz
-ernst, die Leute bissen die Zähne zusammen und drängten von neuem
-vorwärts. Das kalte Sturzbad hatte seine Schrecken verloren, die Tür
-krachte, Steine flogen ins Fenster, der Aufseher wurde an den Beinen
-vom Zaun heruntergerissen, die Menge bemächtigte sich der Spritze und
-besprengte nun den Aufseher vor den Augen seiner Vorgesetzten. Der
-Polizeichef und die Honoratioren stürzten in die innern Gemächer und
-schlossen die Türen hinter sich zu, der Hauptmann Powerdownia aber, der
-ihnen nicht so schnell hatte folgen können, rannte in der Kanzlei hin
-und her und schrie:
-
-»Meine Herren! Keine Furcht! Gott mit uns! Wer Waffen hat ... rettet
-euch!«
-
-Sein Blick fiel auf den geöffneten Aktenschrank, er sprang geschwind
-hinein und schlug die Tür hinter sich zu, durch die zerschlagenen
-Fensterscheiben aber kamen immer mehr Steine geflogen, und der Teufel
-selbst schrie laut auf vor Entsetzen und Verzweiflung.
-
-
-
-
-Siebzehntes Kapitel.
-
-
-Der Augenblick war kritisch. Er harrte seines Helden, und dieser kam.
-Die Pelze, mit denen der von allen vergessene Diakon Achilla bedeckt
-war, gerieten in Bewegung, sie fielen zu Boden, und er selbst, barfuß,
-im kurzen und engen Soldatenhemd, stürzte auf das Wesen los, das man
-noch jüngst für den Teufel gehalten hatte, und begann es heftig zu
-schütteln.
-
-»Zieh dich aus!« kommandierte er, »zieh dich aus und zeige, wer du
-bist, oder ich reiße dir das alles samt deinem eigenen Fell vom Leibe!«
-
-Ein kurzer Moment -- und der Teufel war verschwunden. An seiner Statt
-zeigte sich den erstaunten Augen des Diakons der frosterstarrte
-Kleinbürger Danilka.
-
-Achilla riß ihn ans Fenster, steckte den Kopf durch die zerbrochene
-Scheibe hinaus und rief:
-
-»Ruhe, ihr Schafsköpfe! Das ist Danilka, der sich als Teufel verkleidet
-hatte! Schaut her!«
-
-Und der Diakon hob den blaugefrorenen Danilka in die Höhe und warf zu
-gleicher Zeit seine Teufelsausrüstung Stück für Stück auf die Straße
-hinab:
-
-»Da habt ihr seine Klauen! Und seine Hörner! Und den übrigen Kram! Und
-jetzt paßt auf: ich will ihn verhören.«
-
-Und der Diakon drehte den Danilka so herum, daß dieser ihm ins Gesicht
-sehen mußte, und fragte ihn mit ungeheuchelter Freundlichkeit:
-
-»Warum hast du dich so scheußlich verkleidet, du Narr?«
-
-»Vor Hunger,« flüsterte der Kleinbürger.
-
-Achilla rief es dem Volke zu und fuhr dann mit seiner gewaltigen
-Donnerstimme fort:
-
-»Und jetzt, ihr braven Christenleute, begebt euch nach Hause, denn wenn
-die hohe Obrigkeit wieder Mut faßt, läßt sie -- was Gott verhüten möge
--- gleich schießen.«
-
-Lachend ging das Volk auseinander.
-
-
-
-
-Achtzehntes Kapitel.
-
-
-Wirklich hatte die Obrigkeit »Mut« gefaßt, kam wieder aus ihrem
-Schlupfwinkel heraus und begann Ordnung zu stiften.
-
-Der nasse und kaum noch schnaufende Danilka wurde in einen trockenen
-Arrestantenkittel gesteckt, und das peinliche Verhör begann. Er
-gestand, daß er, von Hunger und Frost geplagt, von allen wegen
-seines liederlichen Lebenswandels gemieden, lange Zeit obdachlos
-umhergeirrt sei, bis ihm der Gedanke gekommen sei, sich als Teufel
-zu verkleiden. Auf diese Weise habe er den Leuten bei Nacht Angst
-eingejagt, gemaust, was ihm irgendwie unter die Finger gekommen sei, es
-den Juden verschachert und davon gelebt. Achilla hörte aufmerksam zu.
-Als das Verhör beendet war, sah er immer noch Danilka an und bemerkte
-plötzlich, wie die Gestalt des Kommissars vor seinen Blicken sich bald
-ganz hoch emporhob, bald tief senkte. Achilla zwinkerte ein paarmal
-mit den Augen, denn ein neues Schauspiel begann: Danilka glänzte jetzt
-wie blankes Gold, dann wie weißes Silber, dann wieder schien er ganz
-in Flammen zu stehen, daß einem die Augen schmerzten, wenn man ihn
-betrachtete, dann erlosch er mit einemmal und war fort. Und er war doch
-da! Diesem kaleidoskopartigen Wechsel der Erscheinungen zu folgen war
-eine unerträgliche Marter; schloß man aber die Augen, so wurde es noch
-bunter und tat erst recht weh.
-
-»Was ist das nur!« dachte der Diakon und fuhr sich mit der Hand über
-das Gesicht. Dabei bemerkte er, daß seine Handfläche, wenn sie die
-Gesichtshaut berührte, knisterte und hängen blieb, wie wenn man mit
-Tuch über Flanell streicht. Dann war's ihm plötzlich, als liefe ein
-heißer Feuerstrom durch sein Blut, stoße gegen den Scheitel und beraube
-ihn des Gedächtnisses. Der Diakon wußte nicht mehr, warum er hier
-war, weshalb dieser Danilka da stand wie ein gerupftes Hühnchen und
-ungeniert erzählte, wie er den Leuten Angst machte, wie er sie sich
-durch allerlei Künste vom Leibe hielt und wie er unvermutet in die
-Gewalt des Vaters Diakon geriet.
-
-»Nun erzähle mal,« fragte Zacharia wieder, »erzähle mal, mein Lieber,
-wie bist du beim Vater Propst mit dem Kopf nach unten die Decke entlang
-gelaufen?«
-
-»Ganz einfach, Vater Zacharia,« antwortete Danilka. »Ich nahm meine
-Stiefel ab, steckte sie auf einen Stock und stieß sie dann mit den
-Sohlen gegen die Decke.«
-
-»So laßt ihn doch endlich gehen, was quält ihr ihn immer noch,« sagte
-endlich Achilla.
-
-Alle sahen ihn erstaunt an.
-
-»Was redet Ihr da? Wie kann man einen Kirchenschänder ziehen lassen?«
-fiel ihm Grazianskij ins Wort.
-
-»Ach was, Kirchenschänder! Der Mann hatte Hunger. Laßt ihn laufen um
-Christi willen.«
-
-Grazianskij bemerkte, ohne Achilla anzusehen, sein Eintreten zugunsten
-des Verbrechers sei völlig unpassend.
-
-»Warum denn? So ein armer Kerl ... er hungerte doch ... die Apostel
-rauften auch Ähren aus ...«
-
-»Wie kommt Ihr dazu?« sagte der Propst streng und drehte sich nach ihm
-um. »Ihr seid wohl gar Sozialist?«
-
-»Was weiß ich von Sozialisten! Die heiligen Apostel, sag ich, gingen
-über Feld und rauften Ähren aus. Ihr städtischen Pfarrerssöhne wißt
-nichts davon, aber wir Subdiakonskinder vom Lande haben in der Schule
-auch manchmal Eßwaren gemaust. Nein, laßt ihn gehen um Christi willen,
-ich gebe ihn Euch ja doch nicht heraus.«
-
-»Ihr habt wohl den Verstand verloren? Wie könnt Ihr Euch unterstehen?«
-
-Diese letzten Worte schienen dem Diakon eine so unerhörte Kränkung, daß
-er feuerrot wurde, und seinen nassen Leibrock überwerfend, aufschrie:
-
-»Ich geb' ihn Euch nicht heraus und damit Schluß! Er ist mein
-Gefangener und ich habe ein Recht auf ihn!«
-
-Mit diesen Worten wankte der Diakon auf Danilka zu, stieß ihn zur Tür
-hinaus, packte mit beiden Händen die Türpfosten, um keinen Verfolger
-durchzulassen, und wollte noch etwas sagen, als er sich plötzlich immer
-größer und breiter werden, in feurigen Gluten aufgehen und verschwinden
-fühlte. Er schloß die Augen und fiel bewußtlos nieder.
-
-Achillas Zustand war jener des seligen Vergessens, in den das Fieber
-den Menschen versetzt. Er vernahm die Worte, wie »Unfug«, »Protokoll«,
-»Schlag«, fühlte, daß man ihn berührte, umdrehte, aufhob, hörte das
-Flehen und Jammern des draußen wieder eingefangenen Danilka, aber er
-hörte das alles nur wie im Traum, und dann wuchs er wieder und dehnte
-sich unendlich weit und strömte süße Gluten aus und zerschmolz in der
-läuternden Flamme der Krankheit. Da kam es, das Ende des Lebens, der
-Tod!
-
-Achillas »Tat« wurde zu Protokoll gebracht, wobei der alte Freund und
-Kamerad, Woin Porochontzew, sich die größte Mühe gab, das Benehmen des
-Diakons in möglichst harmlosem Lichte erscheinen zu lassen. Trotzdem
-wurde das Dokument betitelt: »Von dem frechen Unfug, den der Domdiakon
-Achilla im Beisein der Stargoroder Polizeiverwaltung angestiftet.«
-
-Der Rittmeister Porochontzew konnte nur das Wort »frech« ausstreichen,
-der Unfug Achillas aber wurde zum Gegenstand einer polizeilichen Akte,
-auf die früher oder später ein strenges Urteil erfolgen mußte.
-
-
-
-
-Neunzehntes Kapitel.
-
-
-Achilla wußte nichts von alledem: er glühte ruhig und sorglos weiter
-in den Flammen seiner Krankheit. Der Arzt hatte ihn ins Krankenhaus
-schaffen lassen und erklärt, es handle sich um eine sehr schwere Form
-von Typhus, die gleich mit Bewußtlosigkeit und hohem Fieber anfange und
-zu den schlimmsten Befürchtungen Veranlassung gebe.
-
-Dem Rittmeister Porochontzew kam diese Äußerung des Arztes sehr
-gelegen. Er fragte sofort, ob man das Benehmen Achillas nicht durch
-seinen krankhaften Zustand erklären könne. Der Arzt war durchaus dieser
-Meinung. Achilla aber war schon fünf Tage ohne Bewußtsein und lebte
-immer noch in denselben unklaren, aber süßen Vorstellungen und in
-demselben Gefühl einer wohltuenden Hitze. Neben seinem Bette saß auf
-einem wackeligen Stühlchen der Vater Zacharia und hielt ein mit kaltem
-Wasser getränktes Handtuch dem Kranken auf die Stirn. Gegen Abend kamen
-noch ein paar Bekannte und der Arzt.
-
-Der mit geschlossenen Augen daliegende Diakon hörte, wie der Arzt
-sagte, daß, wenn es jemandem um die Seele des Kranken zu tun sei, er
-den ersten lichten Augenblick wahrnehmen müsse, denn die Krisis nahe
-heran, von der nicht viel Gutes zu erwarten sei.
-
-»Nehmt den Augenblick wahr,« sagte er, »der Puls ist schon ganz
-unzuverlässig.« Dann fing der Arzt mit Porochontzew und den andern an
-zu reden, die es gar nicht begreifen konnten, daß Achilla im Sterben
-liege und noch dazu infolge einer Erkältung! Dieser Recke sollte
-sterben, und Danilka, der mit ihm im kalten Bade gesessen hatte, befand
-sich in seiner Gefängniszelle ganz wohl und munter. Der Arzt erklärte
-es dadurch, daß Achilla schon seit längerer Zeit angegriffen und
-leidend gewesen wäre.
-
-»Ja, ja, Sie sprachen davon ... erhöhte Sensibilität,« stammelte
-Zacharia.
-
-»Eine merkwürdige Krankheit,« bemerkte Porochontzew. »Auch hier alles
-neu. Ich lebe nun schon so lange auf der Welt und habe noch nie von so
-einer Krankheit gehört.«
-
-»Ja, ja, ja,« sagte Zacharia zustimmend, »die Lebensgewohnheiten
-verfeinern sich und die Krankheiten werden komplizierter.«
-
-Der Diakon öffnete leise die Augen und flüsterte:
-
-»Gebt mir zu trinken!«
-
-Man reichte ihm einen Metallkrug, an den er seine flammenden
-Lippen preßte. Und während er das kühle Moosbeerengetränk gierig
-herunterschlang, musterte er die Umstehenden mit seinen entzündeten
-Augen.
-
-»Nun, wie geht es unserer lieben Orgel?« fragte der Bürgermeister
-teilnehmend.
-
-»Dumpf, dumpf,« antwortete der Diakon schwer atmend und fing nach
-einer Minute ganz unvermittelt in erzählendem Tone an: »Nach meinem
-Hündchen Wiesie -- als die Post es überfahren hatte -- wollte ich mir
-wieder eins zulegen ... Da seh' ich in Petersburg auf dem Newskij
-einen Hundejungen ... ›Verschaff mir‹, sagte ich ... ›ein nettes
-Hündchen‹ ... Da antwortete er: ›Heutzutag -- gibt's keine Hunde mehr
-... Heutzutag gibt's nur noch Pointer und Setter,‹ sagte er ... ›Was
-sind denn das für Viecher?‹ fragte ich ... ›Das‹ -- sagte er -- ›sind
-ebensolche Hunde, bloß nennt man sie anders.‹«
-
-Der Diakon stockte.
-
-»Wie kommt Ihr auf diese Geschichte?« fragte ihn der Arzt in
-freundlichem, aufmunterndem Tone, denn es schien ihm, als phantasierte
-der Kranke.
-
-»Weil Sie vorhin von neuen Krankheiten redeten. Sie alle -- man mag sie
-nennen, wie man will -- laufen doch auf ein und dasselbe Ziel hinaus --
-auf den Tod.«
-
-Hier verlor der Diakon von neuem das Bewußtsein und erwachte bis
-Mitternacht nicht mehr. Dann fing er plötzlich wieder zu phantasieren
-an:
-
-»Arkebusier, Arkebusier ... geh fort, Arkebusier!«
-
-Bei dem letzten Wort sprang er auf und setzte sich, völlig wach,
-aufrecht im Bette hin.
-
-»Du solltest beichten, Diakon«, sagte Zacharia.
-
-»Ja, ja,« sagte Achilla, »nehmt meine Beichte entgegen ... Schneller
-... ich will beichten, um nichts zu vergessen ... In allem hab' ich
-gesündigt ... Vergebt mir um Jesu Christi willen ...« Und mit einem
-Seufzer fügte er hinzu:
-
-»Schickt schnell nach dem Propst.«
-
-Grazianskij erschien sogleich.
-
-Achilla grüßte ihn von weitem mit den Augen, bat um seinen Segen und
-küßte ihm zweimal die Hand.
-
-»Ich sterbe,« sagte er, »und ich wollte Euch um Vergebung bitten. Gegen
-alle Gebote hab' ich gesündigt.«
-
-»Der Herr wird Euch vergeben,« antwortete Grazianskij.
-
-»Ich war ja nicht bösen Willens ... aber ich redete oft unverständlich.«
-
-»Laßt doch ... Ihr habt ein edles Herz.«
-
-»Nein, nein, so sollt Ihr nicht reden,« unterbrach ihn der Diakon.
-»Ich tat nicht immer das, was ich sollte ... und zuletzt ... zürnte
-ich wegen des Denkmals ... Leere Phantasien: Himmel und Erde werden
-verbrennen und alles wird versinken ... Was für ein Denkmal! Und alles
-meine Unvernunft!«
-
-»Er ist schon weise,« flüsterte Zacharia, den Kopf senkend.
-
-Der Diakon warf sich auf seinem Bette hin und her.
-
-»Vergebt mir um Christi willen,« sagte er hastig, »und zwingt Euch
-nicht, hier zu bleiben. Mich packt die Krankheit schon wieder ... Lebt
-wohl.«
-
-Der gelehrte Propst segnete den Sterbenden, worauf Zacharia ihn
-hinausbegleitete. Als er in das Zimmer zurückkam, blieb er entsetzt auf
-der Schwelle stehen.
-
-Achilla lag im Todeskampf und seine Agonie war ebenso verblüffend wie
-grauenerregend. Einige Sekunden war er ganz still, und wenn er genügend
-Luft eingesogen hatte, stieß er sie plötzlich mit einem langgedehnten
-»Hu--u--u--u« heraus; dabei fuchtelte er jedesmal mit den Armen in der
-Luft herum und richtete sich auf, als ob er sich von etwas befreie,
-etwas von sich werfe.
-
-Zacharia stand wie erstarrt, und die schwachen Bretter der Bettstelle
-bogen sich und krachten immer stärker unter der Last des Sterbenden,
-und schauerlich bebte die Wand, durch die gleichsam die so lange
-gefesselt gewesene elementare Kraft sich einen Weg bahnen wollte.
-
-»Geht es zu Ende?« erriet Zacharia plötzlich und stürzte zum Fenster
-nach dem dort liegenden Gebetbuche, aber in diesem Augenblick rief
-Achilla mit fest zusammengebissenen Zähnen:
-
-»Wer bist du? Du mit dem Feuergesicht? Laß mich durch!«
-
-Zacharia sah sich ängstlich um und machte ein verblüfftes Gesicht,
-denn kein feuriger Mann war zu sehen; aber in seiner Angst war es ihm
-vorgekommen, als hätte Achilla sich von seinem eigenen Leibe gelöst
-und wäre hier in der Stube auf jemand gestoßen, mit dem er gerungen und
-den er dann überwunden hätte ...
-
-Der ängstliche Alte bebte am ganzen Leibe, schloß die Augen und lief
-hinaus. Einige Minuten später ertönte vom Turme der Domkirche das
-traurige Geläut der Totenglocke für den verstorbenen Diakon Achilla.
-
-
-
-
-Zwanzigstes Kapitel.
-
-
-Die Chronik von Stargorod geht zu Ende, und ihr letzter Punkt soll der
-Nagel sein, der in den Sargdeckel des Vaters Zacharia geschlagen ward.
-
-Der sanfte Greis überlebte Sawelij und Achilla nicht lange. Er lebte
-nur noch bis zum großen Fest des Frühjahrs, dem Ostersonntag, und
-entschlief ganz sacht während des Gottesdienstes.
-
-Für die Klerisei von Stargorod kam eine Zeit völliger Erneuerung.
-
-
-
-
- Weitere Anmerkungen zur Transkription
-
-
- Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
- Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
-
- Korrekturen:
-
- S. 306: waren → wären
- So, das {wären} sämtliche Neuigkeiten.
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Klerisei, by Nikolaus Leskow
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KLERISEI ***
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-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
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-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
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-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
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-Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
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-business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
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-The Project Gutenberg EBook of Die Klerisei, by Nikolaus Leskow
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-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
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-
-
-Title: Die Klerisei
-
-Author: Nikolaus Leskow
-
-Translator: Arthur Luther
-
-Release Date: December 18, 2016 [EBook #53757]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KLERISEI ***
-
-
-
-
-Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="transnote">
-<p class="h2">Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Das Original ist in Fraktur gesetzt.</p>
-
-<p>Im Original gesperrter Text ist <em class="gesperrt">so ausgezeichnet</em>.</p>
-
-<p>Im Original in Antiqua gesetzter Text ist <em class="antiqua">so markiert</em>.</p>
-
-<p>Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am
-<a href="#tnextra">Ende des Buches</a>.</p></div>
-
-<div class="chapter center">
-<img src="images/cover.jpg" alt="cover" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p class="h2">Nikolaus Leskow</p>
-
-<h1>Die Klerisei</h1>
-
-<p class="center">Roman</p>
-
-<p class="center p2 gesperrt">Kurt Wolff Verlag</p>
-<hr class="chap" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p class="center">Deutsche Übertragung von Arthur Luther.</p>
-
-<p class="center">Copyright 1919 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig.</p>
-
-<hr class="chap" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_1">[1]</a></span></p>
-
-<h2 id="Erstes_Buch">Erstes Buch.</h2>
-
-<h3 id="kap1_1">Erstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Leute, deren Leben und Treiben diese Erzählung schildern
-soll, sind die Bewohner der Dompfarrei von Stargorod:
-der Propst Sawelij Tuberozow, der Pfarrer Zacharia Benefaktow
-und der Diakon Achilla Desnitzyn. Ihre Jugendjahre,
-sowie auch ihre Kindheit lassen wir unberührt. Will
-der Leser sie vor sich sehn, wie unsere Geschichte sie faßt,
-so muß er sich das Haupt der Stargoroder Geistlichkeit, den
-Propst Sawelij Tuberozow, als Mann vorstellen, der die
-Sechzig bereits überschritten hat. Vater Tuberozow ist hochgewachsen
-und von stattlicher Leibesfülle, aber noch sehr rüstig
-und beweglich. Dasselbe gilt von seinen Geisteskräften: auf
-den ersten Blick erkennt man, daß er sich alle Glut des Herzens
-und alle Energie der Jugend bewahrt hat. Seinen
-auffallend schönen Kopf ist man versucht, als Urbild männlicher
-Schönheit zu betrachten. Tuberozows Haar ist dicht,
-wie die Mähne eines gewaltigen Löwen, und weiß, wie die
-Locken des Zeus von Phidias. Es türmt sich malerisch als
-mächtiger Schopf über der hohen Stirn und fällt in drei
-großen Wellen nach rückwärts, ohne die Schultern zu erreichen.
-In dem langen zweigeteilten Bart des Propstes<span class="pagenum"><a id="Seite_2">[2]</a></span>
-und in dem kleinen Schnurrbart, der bei den Mundwinkeln
-mit dem Bart in eins zusammenfließt, blitzen hie und da
-noch ein paar schwarze Haare auf, welche dem Bart das Aussehen
-von schwarz emailliertem Silber geben. Die Brauen
-dagegen sind ganz schwarz. In zwei steilgebogenen <em class="antiqua">S</em>-Linien
-vereinigen sie sich über dem Rücken seiner ziemlich großen
-und fleischigen Nase. Die Augen sind braun, groß, kühn
-und klar. Sie haben es ein ganzes Menschenleben lang verstanden,
-der Spiegel eines regen und starken Geistes zu sein.
-Wer dem Propste nahestand, sah sie von freudiger Begeisterung
-durchstrahlt, von Schmerz umnebelt, in Tränen der
-Rührung gebadet. Mitunter flammte in ihnen das Feuer
-der Entrüstung und sie sprühten Funken des Zorns, keines
-eiteln, rechthaberischen Zornes, sondern des Zornes eines bedeutenden
-Mannes. Aus diesen Augen leuchtete die gerade
-und ehrliche Seele des Propstes Sawelij, die er in seiner
-christlichen Zuversicht unsterblich glaubte.</p>
-
-<p>Zacharia Benefaktow, der zweite Pfarrer am Stargoroder
-Dom, ist ein Wesen ganz anderer Art. Seine Person ist
-die verkörperte Sanftmut und Milde. Wie sein bescheidener
-Geist sich in keiner Weise hervorzutun begehrt, so nimmt auch
-sein winziger Leib nur ganz wenig Platz weg, als wäre es ihm
-peinlich, die Erde allzusehr zu beschweren. Er ist klein, mager,
-schmächtig und kahlköpfig. Zwei kleine Löckchen graugelber
-Haare flattern nur noch über seinen Ohren. An Stelle eines
-Bartes scheint dem Vater Zacharia am Kinn ein Stückchen
-Schwamm zu kleben. Er hat winzige Kinderhände, die er
-immer in den Taschen seines Leibrocks verbirgt. Seine Beinchen
-sind dünn und schwach, wie Strohhalme, überhaupt
-erscheint der ganze Mann wie aus Stroh geflochten. Seine
-herzensguten, grauen Äuglein sind äußerst beweglich, aber
-sie werden nur selten voll aufgeschlagen, immer suchen sie<span class="pagenum"><a id="Seite_3">[3]</a></span>
-sich gleich ein Plätzchen, wo sie sich vor unbescheidenen Blicken
-verbergen könnten. An Jahren ist Vater Zacharia etwas
-älter als Vater Tuberozow und viel schwächlicher als dieser,
-aber auch er ist gleich dem Propst gewohnt, sich stramm zu
-halten, und trotz aller Übel und Gebresten, von denen er
-heimgesucht wird, hat er sich einen lebhaften Geist und eine
-große körperliche Beweglichkeit bewahrt.</p>
-
-<p>Der dritte und letzte Vertreter der Stargoroder Domgeistlichkeit,
-der Diakon Achilla, wird durch mehrere Attribute
-gekennzeichnet, die wir alle hier mitzuteilen für gut befinden,
-damit der Leser ein möglichst klares Bild von dem gewaltigen
-Achilla gewinne.</p>
-
-<p>Der Inspektor der Kirchenschule, der den Achilla Desnitzyn
-aus der Syntax-Klasse »wegen Überreife und mangelhafter
-Fortschritte« ausgeschlossen hatte, pflegte zu ihm zu sagen:</p>
-
-<p>»Ach, du langgereckter Holzknüppel, du!«</p>
-
-<p>Der Rektor, der auf ein besonderes Bittgesuch hin den
-Achilla wieder in die Rhetorik-Klasse aufgenommen hatte,
-staunte jedesmal, wenn er den werdenden Recken zu Gesichte
-bekam, und pflegte, verblüfft über diese Riesengröße, Riesenkraft
-und Rieseneinfalt, zu äußern:</p>
-
-<p>»Es dünkt mich zu wenig, dich bloß einen Knüppel zu
-nennen, sintemalen du in meinen Augen zum mindesten
-eine volle Ladung Holz repräsentierest.«</p>
-
-<p>Der Dirigent des bischöflichen Sängerchores endlich, in
-den Achilla eingereiht wurde, nachdem er aus der Rhetorik
-entfernt und dem Klerus zugezählt worden war, nannte ihn
-»unermeßlich«.</p>
-
-<p>»Dein Baß ist gut,« sagte der Dirigent, »er donnert wie
-eine Kanone; aber unermeßlich bist du bis zum äußersten,
-so daß ich angesichts dieser Unermeßlichkeit gar nicht weiß,
-wie ich dich würdig behandeln soll.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_4">[4]</a></span></p>
-
-<p>Die vierte und gewichtigste Charakteristik des Diakons
-Achilla stammte von dem Bischof selbst, und zwar ward dessen
-Urteil an einem für den Achilla sehr denkwürdigen Tage
-ausgesprochen, dem Tage nämlich, wo er, Achilla, aus dem
-bischöflichen Chor ausgeschlossen und als Diakon nach Stargorod
-geschickt wurde. Sie lautete: »der Gepeinigte«. Es
-dürfte aber wohl angebracht sein, zu erzählen, auf welche
-Weise der brave Achilla zu diesem Namen kam.</p>
-
-<p>Der Diakon Achilla war von Jugend auf ein sehr impulsiver
-Mensch, der sich nicht nur in seinen Jünglingsjahren
-immer wieder hinreißen ließ, sondern auch in den Jahren
-des nahenden Alters.</p>
-
-<p>Trotz der »Unermeßlichkeit« seines Basses war Achilla im
-Sängerchor doch sehr geschätzt, weil er mit gleicher Leichtigkeit
-sich zu den höchsten Höhen emporzuschwingen und bis
-zur tiefsten Oktave hinabzuklettern vermochte. Eins nur
-machte dem Dirigenten bei dem unermeßlichen Achilla immer
-wieder Angst, &ndash; seine übergroße Begeisterungsfähigkeit.
-So konnte er etwa bei der Vesper sich nicht damit begnügen,
-das »Heilig ist der Herr unser Gott« nur dreimal zu singen,
-sondern ließ sich oft fortreißen, es ganz allein zum vierten
-Male anzustimmen; besonders aber konnte er den Lobgesang
-am Schluß des Gottesdienstes nie zur rechten Zeit abbrechen.
-Doch in allen diesen Fällen, die schon bekannt waren und
-die man deshalb auch voraussehen konnte, wurden vernünftigerweise
-entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen: einer
-der erwachsenen Sänger erhielt nämlich den Auftrag, den
-Achilla am Rockschoß zu ziehen oder ihn im geeigneten Moment
-durch einen kräftigen Druck auf beide Schultern zusammenknicken
-zu lassen. Indessen nicht umsonst sagt das
-Sprichwort, daß man sich nicht für jeden Augenblick vorsehen
-könne. An einem der großen zwölf Feiertage hatte<span class="pagenum"><a id="Seite_5">[5]</a></span>
-Achilla in der Kommunionsliturgie ein sehr schwieriges Baß-Solo
-auf den Text »von Schmerzen gepeinigt« zu singen.
-Die Bedeutung, die der Dirigent und der ganze Chor diesem
-Solo beimaß, machte dem Achilla nicht wenig Sorge: er
-war in großer Unruhe und dachte hin und her, wie er es
-anstellen sollte, sich nicht zu blamieren, sondern vor der Eminenz,
-die ein großer Liebhaber guten Kirchengesanges war,
-und vor dem gesamten Gouvernementsadel, der an diesem
-Tage in der Kirche sein würde, in Ehren zu bestehen. Tag
-und Nacht ging er bald in seiner Stube, bald im Korridor
-oder im Hofe, bald im bischöflichen Garten oder auf dem
-Weideplatz vor der Stadt auf und ab und sang in den verschiedensten
-Tonarten: »gepeinigt, gepeinigt, gepeinigt«. So
-brach endlich der Tag seines Ruhmes an, wo er sein »gepeinigt«
-in der gedrängt vollen Domkirche zu Gehör bringen
-sollte. Gott, wie groß und strahlend stand der gewaltige
-Achilla da, das Notenblatt in der Hand. Die wohlbekannten
-Vorschläge sind erledigt. Nun kommt das Baß-Solo. Achilla
-schiebt seinen Nachbar mit dem Ellenbogen beiseite und zählt
-leise die Takte. Jetzt ist es so weit. Der Dirigent hebt die
-Hand mit der Stimmgabel … Achilla hat die ganze Welt
-und sich selbst vergessen, und in der wunderlichsten Weise,
-der Posaune des Erzengels vergleichbar, donnert er bald
-ganz schnell, bald langsam gedehnt: »Von Schmerzen gepeinigt,
-gepeinigt, ge-pei-nigt, g-e-p-e-i-n-i-g-t,
-gepeinigt.« Mit Gewalt hält man ihn zurück, sich in weiteren
-unvorhergesehenen Variationen zu ergehen, und das Konzert
-ist beendet. Aber in dem »fortgerissenen« Geiste Achillas
-war es noch nicht zu Ende. Während die Honoratioren der
-Stadt mit leisen Begrüßungen an den Bischof herantraten,
-um seinen Segen entgegenzunehmen, ertönte es vom Chor
-plötzlich wieder, wie ein Posaunenstoß vom Himmel: »Gepeinigt,<span class="pagenum"><a id="Seite_6">[6]</a></span>
-ge-pei-nigt, g-e-p-e-i-n-i-g-t!« Das
-singt der in seiner Begeisterung ganz um den Verstand gebrachte
-Achilla. Man zupft ihn &ndash; er singt weiter. Man
-drückt ihn zu Boden, um ihn hinter den Rücken seiner Genossen
-verschwinden zu lassen, &ndash; er singt: »gepeinigt«. Man
-führt ihn endlich aus der Kirche hinaus, unentwegt singt
-er: »g-e-p-e-i-n-i-g-t!«</p>
-
-<p>»Was ist dir?« fragen ihn mitleidige Leute voller Teilnahme.</p>
-
-<p>»Gepeinigt,« singt er, sie verständnislos ansehend, und
-bleibt an der Tür der Vorhalle stehen, bis ihn endlich ein
-Strom frischer Luft von draußen ernüchtert.</p>
-
-<p>Im Vergleich zu dem Propst Tuberozow und dem Vater
-Benefaktow kann Achilla Desnitzyn als junger Mann gelten,
-aber auch er hat die Vierzig schon hinter sich und seine tiefschwarzen
-Locken sind stark angegraut. Achilla ist von Riesengestalt
-und ungeheurer Kraft, seine Bewegungen sind eckig
-und schroff; sein Gesicht zeigt einen südlichen Typus und
-er behauptet, von kleinrussischen Kosaken abzustammen, von
-denen er auch in der Tat den Leichtsinn und die Tapferkeit
-und noch manches andere zu haben scheint.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_7">[7]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_2">Zweites Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Alle diese meine altmodischen Helden wohnten auf dem
-Stargoroder Pfarrgehöft, am stillen, schiffbaren Fluß Turitza.
-Jeder von ihnen, Tuberozow, Zacharia und sogar der Diakon
-Achilla hatte sein eigenes Häuschen dicht am Ufer, gerade
-gegenüber dem jenseits des Flusses aufragenden alten Dom
-mit seinen fünf hohen Kuppeln. Aber so verschieden geartet,
-wie die drei Männer, waren auch ihre Wohnsitze. Das Haus
-des Vaters Sawelij war sehr hübsch, mit hellblauer Ölfarbe
-gestrichen und mit verschiedenfarbigen Sternchen, Quadraten
-und Schnörkeln über jedem der drei Fenster geziert. Letztere
-hatten außerdem noch holzgeschnitzte, grellbemalte Einfassungen
-und grüne Läden, die nie geschlossen wurden, denn
-das festgefügte Haus trotzte im Winter jeglichem Frost und
-der Propst liebte das Licht, liebte den Stern, der nachts vom
-Himmel in seine Stube schaute, liebte den Mondstrahl, der
-sich wie ein Brokatstreifen über den parkettartig gemusterten
-Fußboden legte.</p>
-
-<p>Im Häuschen des Propstes herrscht absolute Reinlichkeit
-und Ordnung, denn es ist niemand da, der Schmutz
-oder Unordnung machen könnte. Der Propst hat keine Kinder
-und das ist eine Quelle steter Betrübnis für ihn und
-seine Lebensgefährtin.</p>
-
-<p>Das Häuschen des Vaters Zacharia Benefaktow ist viel
-größer als das des Vaters Tuberozow. Aber es fehlt ihm<span class="pagenum"><a id="Seite_8">[8]</a></span>
-jene Eleganz und Koketterie, die den Wohnsitz des Propstes
-auszeichnet. Das fünffenstrige, etwas schiefstehende, graue
-Haus des Vaters Zacharia erinnert eher an einen großen
-Geflügelstall, und, um die Ähnlichkeit perfekt zu machen,
-drängen und stoßen sich in den engen Rahmen seiner grünen
-Fenster unausgesetzt allerlei Schnäbelchen und Schöpfchen.
-Das ist die gesamte Nachkommenschaft des Vaters Zacharia,
-den Gott gesegnet hat, wie den Jakob, und dessen Gattin
-er fruchtbar gemacht hat, wie die Rahel. Bei Vater Zacharia
-fand man nichts von der spiegelglatten Sauberkeit des Tuberozowschen
-Hauses, nichts von dessen strenger Ordnung.
-Überall stieß man auf Spuren schmutziger Kinderpfötchen;
-aus jedem Winkel guckte ein Kinderköpfchen hervor; alles
-lebte und webte mit den Kindern und um die Kinder.</p>
-
-<p>Der Diakon Achilla war Witwer und kinderlos. Wenig
-kümmerte er sich um irdische Güter und Hauswirtschaft.
-Hart am Flußrande hatte er eine lehmgestrichene, kleinrussische
-Kate, zu der aber keinerlei Nebengebäude gehörten;
-nicht einmal ein Zaun war vorhanden, nichts als eine rohe
-Lattenhürde, innerhalb derer, bis an die Knie im Stroh versinkend,
-bald ein scheckiger Hengst, bald ein falber Wallach,
-bald eine schwarze Stute umherstampfte. Die innere Einrichtung
-des Hauses war ebenfalls ganz kosakenmäßig: in
-dem vorderen, besseren Raume, den der Hausherr für sich
-selbst bestimmt hatte, stand ein hölzernes Sofa, welches
-Achilla auch als Bett diente. Eine weiße Kosaken-Filzdecke
-lag darüber gebreitet und am Kopfende ein ziselierter asiatischer
-Sattelbogen, an den sich ein kleines pfannkuchenähnliches
-Kissen in einem fettigen Nankingüberzug lehnte. Vor
-diesem Kosakenlager stand ein Tisch aus weißem Lindenholz.
-An der Wand hing eine Gitarre ohne Saiten, ein hänfener
-Fangstrick, eine Nagaika und zwei kunstvoll geflochtene Zäume.<span class="pagenum"><a id="Seite_9">[9]</a></span>
-In der Ecke auf einem kleinen Wandbrett, hinter welchem
-ein verdorrter Palmweidenzweig gesteckt war, stand ein winziges
-Heiligenbild, die Himmelfahrt Mariä darstellend, vor
-dem ein kleines Kiewer Gebetbuch lag. Sonst war nichts,
-rein gar nichts in der Behausung des Diakons Achilla zu
-finden. Nebenan in einer kleinen Kammer hauste die alte
-Nadeshda Stepanowna, genannt Esperance, die früher einmal
-Zimmermädchen in einem adligen Gutshause gewesen
-war.</p>
-
-<p>Sie war eine kleine, ältliche, gelbliche, spitznäsige, zusammengeschrumpfte
-Person von so unverträglichem und unerträglichem
-Charakter, daß sie trotz ihrer geschickten Hände
-nirgends dauernd unterkommen konnte, bis sie zu guter Letzt
-Bedienerin beim einsamen Achilla geworden war, dem sie
-vorschnattern und vorkeifen konnte soviel sie wollte, denn er
-beachtete dieses Geschnatter und Gekeife überhaupt nicht;
-nur wenn die Erregung seiner alten Hausgenossin gar zu
-arg wurde, machte er ihr im entscheidenden Augenblick durch
-ein donnerndes: »Versinke, Esperance!« ein Ende, worauf
-Esperance zumeist auch wirklich sofort verschwand, denn sie
-wußte, daß Achilla sie andernfalls in seine Arme nehmen,
-auf das Dach seiner Hütte setzen und dort bis zum Sonnenuntergang
-ihrem Schicksal überlassen würde.</p>
-
-<p>So lebten diese Leutchen hin und trugen alle mehr oder
-weniger einer des andern Lasten und suchten sich gegenseitig
-das einförmige Dasein ein wenig bunter zu gestalten durch
-allerlei leichte Streitigkeiten und Mißverständnisse, welche
-auf die durch die Ereignislosigkeit des Kleinstadtlebens erschlaffte
-menschliche Natur eine so wohltuend aufrüttelnde
-Wirkung ausüben. So hatte zum Beispiel eines Tages der
-Gutsbesitzer und Adelsmarschall Alexej Nikititsch Plodomasow
-von einer Reise nach Petersburg den von ihm sehr hochgeschätzten<span class="pagenum"><a id="Seite_10">[10]</a></span>
-Domgeistlichen verschiedene mehr oder weniger
-kostbare Geschenke mitgebracht, darunter auch drei Stöcke:
-zwei mit ganz gleichen Knöpfen aus Dukatengold für die
-beiden Pfarrer, den einen für Vater Tuberozow, den andern
-für Vater Zacharia. Der dritte Stock mit einem hübschen
-Knopf aus emailliertem Silber war für den Diakon Achilla
-bestimmt. Diese Stäbe fielen unter die Stargoroder Geistlichen
-wie die biblischen Schlangen, welche die ägyptischen
-Zauberer vor den Pharao hinwarfen.</p>
-
-<p>»Durch diese Schenkung der Stäbe ist ein Zweifel in uns
-geweckt worden,« erzählte der Diakon Achilla.</p>
-
-<p>»Was für einen Zweifel kann es denn geben, Vater Diakon?«
-fragten die Leute, denen er sein Leid klagte.</p>
-
-<p>»Ach, ihr Laien versteht von solchen Dingen nichts. Erstens
-ziemt es mir in meinem Amte als Diakon gar nicht, einen
-solchen Stab zu tragen, denn ich bin kein Pfarrer. Ferner:
-ich trage diesen Stab jetzt trotzdem, denn ich habe ihn geschenkt
-bekommen. Drittens aber tritt dabei noch eine zweifelerregende
-Gleichstellung zutage: der Vater Sawelij und der
-Vater Zacharia haben Stäbe von ganz derselben Qualität
-und gleichem Aussehen erhalten. Darf man sie aber so völlig
-gleichstellen? … Ich frage, darf man das? … Vater Sawelij
-… ihr wißt es ja selbst … Vater Sawelij … ist ein
-Weiser, ein Philosoph, ein Justizminister … und nun sehe
-ich, daß auch er sich darin nicht zu finden weiß und verwirrt
-ist, ganz furchtbar verwirrt.«</p>
-
-<p>»Was kann ihn denn so verwirren, Vater Diakon?«</p>
-
-<p>»Es verwirrt ihn, daß erstens diese völlige Gleichheit Verwechselungen
-hervorruft. Was meint ihr, wie soll man erkennen,
-wem dieser Stab gehört? Versucht es doch herauszukriegen,
-welcher Stab dem Propst und welcher dem Zacharia
-zukommt, wenn sie beide ganz gleich aussehen! Freilich,<span class="pagenum"><a id="Seite_11">[11]</a></span>
-zur Unterscheidung ließe sich ja irgendein Zeichen anbringen
-&ndash; ein Tröpfchen Siegellack auf den Knopf oder
-ein kleiner Einschnitt in das Holz. Wie steht es aber mit der
-politischen Seite der Sache? Es ist doch ganz unmöglich, daß
-der Propst und der Vater Zacharia gleich viel wert wären!
-Und der Propst fühlt das sehr wohl, und ich seh' es deutlich,
-und darum sag' ich ihm: ›Vater Propst, es ist in diesem Falle
-nichts anderes zu machen: gestattet mir, daß ich den Stab
-des Vaters Zacharia irgendwie zeichne, mit Siegellack oder
-durch einen Messerschnitt.‹ Er aber antwortet: ›Nichts dergleichen.
-Untersteh' dich nicht. Es ist nicht nötig.‹ Ja, wie
-denn nicht nötig?! ›Nun,‹ sag' ich da wieder, ›so gebt mir
-Euren Segen zu etwas anderm. Ich will ganz insgeheim
-den Stab des Vaters Zacharia mit dem Messer um einen
-Zoll kürzer machen, so daß der Vater Zacharia selber von
-dieser Verkürzung gar nichts merken soll.‹ Er aber nennt
-mich darauf einen Dummkopf. Gut denn, ich bin ein Dummkopf,
-ich hör's von ihm nicht zum erstenmal und von ihm
-kränkt's mich auch nicht, aber ich sehe doch, daß er mit alledem
-sehr unzufrieden ist, und das raubt mir alle Seelenruhe
-… Und ihr könnt mich einen dreifachen Dummkopf
-nennen,« &ndash; rief der Diakon, &ndash; »ja, ich gestatte es euch,
-nennt mich ruhig dumm, wenn er, der Vater Sawelij, nicht
-etwas ganz Politisches im Sinne hat. Ich weiß es ganz
-genau, daß er eben deswegen mich nicht gewähren läßt,
-weil er seine eigene Politik verfolgt.«</p>
-
-<p>Und der Diakon Achilla schien sich nicht geirrt zu haben.
-Noch war kein Monat seit der Beschenkung der Stargoroder
-Geistlichkeit mit den erwähnten zweifelerregenden Stäben
-vergangen, als der Propst Sawelij sich plötzlich zu einer Reise
-in die Gouvernementsstadt zu rüsten begann. Man brauchte
-dieser Fahrt keine besondere Bedeutung zuzuschreiben, denn<span class="pagenum"><a id="Seite_12">[12]</a></span>
-der Propst hatte in Amtsangelegenheiten oft genug mit dem
-Konsistorium zu verhandeln. Aber als der Vater Tuberozow
-bereits im Wagen saß, wandte er sich plötzlich zum Vater
-Zacharia:</p>
-
-<p>»Hör' mal, Vater, wo ist denn wohl dein Stab? Gib ihn
-mir mal her, ich will ihn mit in die Stadt nehmen.«</p>
-
-<p>Diese scheinbar von ungefähr gesagten Worte ließen ein
-Licht in den Gemütern aller derer aufgehen, die vor das
-Tor gekommen waren, dem Abreisenden das Geleite zu geben.</p>
-
-<p>Der Diakon Achilla räusperte sich kräftig und flüsterte dem
-Vater Benefaktow ins Ohr:</p>
-
-<p>»Nun? Sagt' ich's Euch nicht? Da haben wir die Politik!«</p>
-
-<p>»Weshalb wollt Ihr denn meinen Stab in die Stadt mitnehmen,
-Vater Propst?« fragte Vater Zacharia, und zwinkerte
-demütig mit den Augen, wobei er zugleich den Diakon
-beiseite schob.</p>
-
-<p>»Wozu? Nun, vielleicht will ich den Leuten dort zeigen,
-wie man uns hier achtet und unser gedenkt,« antwortete
-Tuberozow.</p>
-
-<p>»Alioscha, lauf hin und hol den Stock,« befahl Zacharia
-seinem kleinen Sohne.</p>
-
-<p>»Vielleicht nehmt Ihr dann auch meinen Stab mit, Vater
-Propst, um ihn dort zu zeigen?« fragte Achilla in dem sanftmütigsten
-Tone, dessen er fähig war.</p>
-
-<p>»Nein, den deinen magst du bei dir behalten,« erwiderte
-Sawelij.</p>
-
-<p>»Warum denn, Vater Propst? Ich bin doch ebenso …
-ich bin doch auch von dem Herrn Adelsmarschall ausgezeichnet
-worden,« antwortete der Diakon ein wenig gekränkt.</p>
-
-<p>Aber der Propst würdigte seinen Einspruch keiner Antwort,
-legte den ihm eben gebrachten Stab des Vater Zacharia
-neben sich hin und hieß den Kutscher zufahren.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_13">[13]</a></span></p>
-
-<p>So fuhr er dahin und die beiden zweifelerregenden Stäbe
-fuhren mit, der Diakon Achilla aber saß zu Hause und mühte
-sich vergeblich, das Rätsel zu lösen, zu welchem Zweck Tuberozow
-den Stab des Zacharia mitgenommen hatte.</p>
-
-<p>»Was geht's dich an? Was hast du dabei? Was?« beschwichtigte
-Zacharia den von Neugier gemarterten Diakon.</p>
-
-<p>»Vater Zacharia, ich sag's Euch, das ist Politik.«</p>
-
-<p>»Nun und wenn's Politik ist, &ndash; was geht's dich an?
-Mag er doch politisieren.«</p>
-
-<p>»Aber ich vergehe vor Neugier, was das für eine Politik
-sein könnte. Euren Stab zu beschneiden wollte er mir nicht
-gestatten; das wäre eine Dummheit, sagte er; ich schlug
-ihm vor, Zeichen anzubringen, aber er wies es zurück. Das
-einzige, was ich vermute&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ei nun, was kannst du Schwätzer vermuten?«</p>
-
-<p>»Das einzige wäre, daß er … Er setzt bestimmt einen
-Edelstein hinein.«</p>
-
-<p>»Ja! Nun … nun ja … Aber wo soll er den Stein
-denn einsetzen?«</p>
-
-<p>»In den Griff.«</p>
-
-<p>»In den seinen oder in den meinen?«</p>
-
-<p>»In den seinen, natürlich in den seinen. Ein Edelstein
-ist doch ein Wertstück.«</p>
-
-<p>»Sehr schön. Wozu hat hat er dann aber meinen Stab
-mitgenommen? In den seinen will er den Stein einsetzen
-lassen, und den meinen nimmt er mit?!«</p>
-
-<p>Der Diakon schlug sich mit der Hand vor die Stirn und
-rief:</p>
-
-<p>»Da wär' ich wieder mal der Narr.«</p>
-
-<p>»Hoffentlich bist du der Narr, hoffentlich,« bestätigte Vater
-Zacharia und fügte mit leisem Vorwurf hinzu: »und dabei
-hast du doch Logik gelernt, mein Lieber. Schäme dich.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_14">[14]</a></span></p>
-
-<p>»Warum soll ich mich schämen, wenn ich sie gelernt, aber
-nicht kapiert habe! Das kann jedem so gehen,« antwortete
-der Diakon.</p>
-
-<p>Er sprach fortan keinerlei Vermutungen mehr aus, nur
-im stillen verzehrte ihn nach wie vor die Neugier: was wird
-nun eigentlich geschehen?</p>
-
-<p>So verging eine Woche, bis der Propst zurückkam. Der
-Diakon Achilla, welcher gerade einen von ihm neu eingetauschten
-Steppengaul einritt, war der erste, der die schwarze Pfarrkutsche
-sich der Stadt nähern sah. Er raste durch die Straßen,
-machte Halt vor allen Häusern, in denen gute Bekannte
-wohnten, und schrie in die offenen Fenster hinein: »Er
-kommt! Der Propst Sawelij! Die edle große Seele!«</p>
-
-<p>Ein neuer Gedanke war dem Achilla plötzlich gekommen.</p>
-
-<p>»Jetzt weiß ich, was es ist,« sagte er zu den Umstehenden,
-während er vor dem Tore des Pfarrhofes vom Pferde stieg.
-»Alle meine bisherigen Vermutungen waren nichts als eitel
-Torheit. Jetzt aber kann ich euch für gewiß sagen, der Vater
-Propst hat nichts anderes getan, als griechische Lettern &ndash;
-oder auch lateinische &ndash; in die Knöpfe einätzen lassen. So
-ist es, jawohl, so und nicht anders ist es; ganz bestimmt hat
-er Lettern einätzen lassen, und wenn ich es jetzt nicht erraten
-habe, so könnt ihr mich hundertmal einen Esel nennen.«</p>
-
-<p>»Warte nur, warte, das tun wir noch; das kommt schon
-noch,« sagte Vater Zacharia und ging dem eben vorfahrenden
-Wagen entgegen.</p>
-
-<p>Ernst und würdevoll entstieg der Propst dem Wagen, trat
-in das Haus ein, betete, begrüßte seine Gattin, indem er
-sie dreimal auf den Mund küßte, bewillkommnete danach
-auch den Vater Zacharia, wobei sie sich gegenseitig auf die
-Schultern küßten, und zu guter Letzt den Diakon Achilla, der
-dem Propst die Hand küßte, während dieser mit den Lippen<span class="pagenum"><a id="Seite_15">[15]</a></span>
-seinen Scheitel berührte. Nach dieser Begrüßung ging man
-ans Teetrinken, Schwatzen, Erzählen, und langsam wich der
-Abend der Nacht, ohne daß der Propst auch nur ein Wort
-über die alle so interessierenden Stäbe geäußert hätte. Ein
-Tag verging, ein zweiter, ein dritter, mit keiner Silbe erwähnte
-Vater Tuberozow die Angelegenheit. Es schien, als
-habe er die Stäbe in die Hauptstadt gebracht und sie dort in
-den Fluß versenkt, damit alles Gerede von ihnen schweige.</p>
-
-<p>Der Diakon brannte förmlich vor Neugier und wußte nicht,
-was er ersinnen sollte, um das Gespräch auf die Stäbe zu
-bringen. Aber die Sache kam bald von selbst zur Erledigung.
-Am fünften oder sechsten Tage nach seiner Heimkehr bat der
-Vater Sawelij nach dem Hauptgottesdienst den Stadthauptmann,
-den Schulinspektor, den Arzt und den Vater Zacharia
-nebst dem Diakon Achilla zu sich zum Tee und fing wiederum
-zu erzählen an, was er alles in der Gouvernementsstadt
-gehört und gesehen habe. Er berichtete ihnen von vielerlei
-schönen Sachen, welche er in den Kaufläden gesehen hatte.
-»Es ist erstaunlich,« meinte er, »was die dortige Kunstfertigkeit
-zu leisten vermag.«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten ging der Propst ins Nebenzimmer
-und kam, in jeder Hand einen der wohlbekannten Stäbe
-haltend, wieder zurück.</p>
-
-<p>»Sehen Sie mal hier,« sagte er, indem er den Gästen
-die Oberfläche der beiden goldenen Knöpfe vor die Augen
-hielt.</p>
-
-<p>Der Diakon Achilla riß die Augen auf, um zu erspähen,
-was der Politikus zustande gebracht hatte, um die gleichwertigen
-Stäbe unterscheiden zu können. Aber ach! Es
-war kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Im Gegenteil,
-ihre Gleichwertigkeit schien nun erst vollkommen, denn in
-der Mitte eines jeden Knopfes war in ganz gleicher Weise,<span class="pagenum"><a id="Seite_16">[16]</a></span>
-von einem Strahlenkranze umgeben, ein Gottesauge eingraviert,
-um welches sich eine kurze Kursivinschrift schlang.</p>
-
-<p>»Und Lettern sind keine da, Vater Propst?« bemerkte
-Achilla, dem die Geduld ausging.</p>
-
-<p>»Was willst du noch für Lettern?« erwiderte Tuberozow,
-ohne ihn anzusehen.</p>
-
-<p>»Um sie in ihrer Gleichwertigkeit zu unterscheiden.«</p>
-
-<p>»Immer kommst du mit deinem dummen Zeug,« wandte
-sich der Propst zum Diakon, und dann stützte er den einen
-Stab gegen seine Brust und sprach:</p>
-
-<p>»Das soll meiner sein.«</p>
-
-<p>Der Diakon Achilla warf einen schnellen Blick auf den
-Knopf und las über dem Gottesauge: »Und er fand den
-Stecken Aarons blühen.«</p>
-
-<p>»Und den nimmst du, Vater Zacharia,« schloß der Propst
-und gab ihm den andern Stab.</p>
-
-<p>Auf dem Knopfe desselben war um das völlig gleiche
-Gottesauge in ganz derselben altslawischen Kursivschrift eingraviert:</p>
-
-<p>»Und er gab den Stab in seine Hand.«</p>
-
-<p>Kaum hatte Achilla diese zweite Inschrift gelesen, so knickte
-er hinter dem Rücken des Vaters Zacharia zusammen, und,
-den Kopf gegen den Bauch des Arztes stemmend, zuckte und
-strampelte er in einem unbändigen Lachanfall.</p>
-
-<p>»Na, Quälgeist, was gibt's wieder? Was gibt's?« wandte
-sich der Vater Zacharia ihm zu, während die übrigen Gäste
-noch die kunstvolle Arbeit des Juweliers an den Priesterstäben
-bewunderten.</p>
-
-<p>»Lettern? He? Lettern, du krauser Schafbock du? Wo
-sind hier die Lettern?«</p>
-
-<p>Der Diakon aber prustete und lachte nur immer toller.</p>
-
-<p>»Was lachst du? Was ficht dich an?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_17">[17]</a></span></p>
-
-<p>»Wer ist jetzt der Schafbock, he?« fragte der Diakon, die
-Worte mühsam hervorstoßend.</p>
-
-<p>»Du natürlich, wer denn sonst?«</p>
-
-<p>Achilla brach in ein neues Gelächter aus, packte den Vater
-Zacharia an den Schultern und flüsterte theatralisch:</p>
-
-<p>»Na und Ihr, Vater Zacharia, wo Ihr so viel Logik studiert
-habt, lest doch noch einmal. ›Und er gab den Stab in
-seine Hand.‹ Was sagt Eure Logik dazu? Wo soll eine solche
-Inschrift hinaus?«</p>
-
-<p>»Wo hinaus? Nun, so sag du es doch, wo sie hinaus
-soll!«</p>
-
-<p>»Wo hinaus? Dahinaus,« sagte der Diakon langsam und
-gedehnt, »daß man ihm mit dem Lineal eins auf die Pfoten
-gegeben hat.«</p>
-
-<p>»Du lügst!«</p>
-
-<p>»Ich lüge?! Und warum ist denn <em class="gesperrt">sein</em> Stecken erblüht?
-Und kein Wort davon, daß er ihm in die Hand gegeben ist?
-Warum? Weil das zum Zweck der Erhöhung geschrieben ist,
-Euch aber ist's zur Erniedrigung geschrieben, daß Euch der
-Knüppel in die Tatze gelegt ist.«</p>
-
-<p>Vater Zacharia wollte etwas erwidern, aber der Diakon
-hatte ihn wirklich irre gemacht. Achilla triumphierte, daß es
-ihm gelungen war, den sanften Benefaktow aus der Fassung
-zu bringen, doch sein Triumph war nur von kurzer Dauer.</p>
-
-<p>Kaum hatte er sich umgewandt, so sah er auch schon, daß
-der Propst ihn scharf ins Auge gefaßt hatte, und sobald er
-bemerkte, daß der Diakon unter der Wirkung dieses strengen
-Blickes verlegen zu werden begann, wandte er sich an die
-Gäste und sagte mit ganz ruhiger Stimme:</p>
-
-<p>»Die Inschriften, die Sie hier sehen, habe ich nicht selbst
-ausgedacht. Der Konsistorialsekretär Afanasij Iwanowitsch
-hat sie mir empfohlen. Auf einem Abendspaziergang kamen<span class="pagenum"><a id="Seite_18">[18]</a></span>
-wir beim Goldschmied vorbei, und da meinte Afanasij Iwanowitsch:
-Wißt Ihr, Vater Propst, was für ein Gedanke
-mir gekommen ist? Ihr solltet Inschriften auf die Stäbe
-setzen. Für Euch ›der Stecken Aarons‹ und für den Vater
-Zacharia &ndash; eben jene, die jetzt dasteht.«</p>
-
-<p>»Und du, Vater Diakon,« fuhr der Propst fort, »ich wollte
-auch etwas von deinem Stabe sagen, wie du mich gebeten
-hattest, aber ich bin der Meinung, es wäre am besten, du
-trügest den Stab überhaupt nicht, denn er kommt deinem
-Amte nicht zu.«</p>
-
-<p>Und damit schritt der Propst in aller Seelenruhe nach der
-Stubenecke, in welcher der berühmte Stab des Achilla stand,
-nahm ihn und schloß ihn in den Kleiderschrank ein.</p>
-
-<p>Dieses war der größte Zwist, der sich je in der Stargoroder
-Pfarrei abgespielt hatte.</p>
-
-<p>Wie es heißt, daß durch ein Dreierlicht einst ganz Moskau
-in Flammen aufgegangen ist, so entstand auch daraus bald eine
-ganze Geschichte, welche die verschiedensten Charakterschwächen
-und Vorzüge Sawelijs und Achillas an den Tag brachte.</p>
-
-<p>Der Diakon kannte diese Geschichte am besten, erzählte sie
-aber nur in Augenblicken äußerster Erregung.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_19">[19]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_3">Drittes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Was,« sagte Achilla, »hätte ich von Rechts wegen damals
-tun sollen? Ich hätte dem Vater Propst zu Füßen
-fallen und ihm sagen sollen: so und so stehen die Dinge,
-nicht aus Bosheit, nicht aus Gehässigkeit hab' ich das gesagt,
-sondern einzig, um dem Vater Zacharia zu zeigen, daß ich
-zwar nichts von Logik verstehe, aber darum doch nicht dümmer
-bin als er. Aber der Stolz übermannte mich und hielt mich
-zurück. Ich ärgerte mich, daß er meinen Stab in den Schrank
-geschlossen hatte, und daß dann noch der Lehrer Warnawka
-Prepotenskij dazwischenkam. … Ach, ich sag' euch, so bös
-ich auch auf mich selbst bin, es ist nichts gegen die Wut,
-welche ich auf den Lehrer Warnawka habe! Ich will nicht
-ich sein, wenn ich sterbe, ohne zuvor mit diesem Sohn der
-Hostienbäckerin abgerechnet zu haben!«</p>
-
-<p>»Das darfst du auch wieder nicht,« unterbrach Vater Zacharia
-den Achilla.</p>
-
-<p>»Warum denn nicht? Gottlosigkeit duld' ich nicht! Da
-frage ich nicht nach der Person! Und die Sache macht sich
-ganz von selbst: ich fahr' ihm mit der Faust in den Schopf,
-schüttel' ihn tüchtig durch und laß ihn dann laufen. Jetzt
-geh und beschwer' dich, daß du von einer geistlichen Person
-wegen Gottlosigkeit durchgewalkt worden bist! … Der wird
-sich hüten! … Ach, du mein Gott! Was war nur in mich gefahren,
-daß ich auf diesen Taugenichts hören konnte, und wie<span class="pagenum"><a id="Seite_20">[20]</a></span>
-ist's möglich, daß ich ihn bis heute mir noch nicht richtig vorgenommen
-habe! Den Küster Sergej hab' ich damals für sein
-Geschwätz über den Donner sofort verwichst; den Kommissar,
-den Kleinbürger Danilka, der sich in den letzten großen Fasten
-unterstand, auf offener Straße ein Ei zu essen, hab' ich unverzüglich
-vor versammeltem Volke nach Gebühr an den Ohren
-gezaust, &ndash; und diesen Lümmel laß ich immer noch frei herumlaufen,
-obgleich er mir das Ärgste angetan hat! Wäre er
-nicht gewesen, so würde es gar nicht zu diesem Zwist gekommen
-sein. Der Vater Propst hätte mir wegen meiner
-Äußerung über den Vater Zacharia gezürnt, aber nicht lange.
-Muß da dieser Warnawka kommen, und erbittert und gepeinigt,
-wie ich bin, laß ich mich von ihm aufhetzen! Er
-schwatzt mir vor: ›Diese Tuberozowsche Inschrift ist zu allem
-andern auch noch dumm!‹ Ich in meiner Pein, müßt ihr
-wissen, lechzte förmlich danach, auch dem Vater Sawelij
-was anzuhängen, und so fragte ich, was denn Dummes
-daran sei. Warnawka sagte: ›Dumm ist sie, weil die Tatsache,
-von der in ihr die Rede ist, gar nicht feststeht. Und
-nicht nur das, &ndash; sie ist überhaupt unglaubwürdig. Wer,
-sagt er, kann es denn bezeugen, daß der Stecken Aarons erblühte?
-Kann ein trockenes Stück Holz Blüten treiben?‹
-Ich fiel ihm hier in die Rede und meinte: ›Bitte sehr, Warnawa
-Wasiljitsch, solche Reden darfst du nicht führen. Der
-allmächtige Willen Gottes ist stärker als die Ordnung der
-Natur.‹ … Aber weil diese unsere Unterhaltung bei der
-Akziseeinnehmersfrau, der Biziukina, stattfand, welche allerlei
-Flüssiges aufgetischt hatte, lauter gute Weine, &ndash; nichts als
-ho&ndash;ho&ndash;ho: <em class="antiqua">Haut-Sauterne</em> und <em class="antiqua">Haut-Margaux</em>, &ndash; so
-war ich, hol mich dieser und jener, schon ein bißchen benebelt,
-und der Warnawka redete sein gelehrtes Zeug in mich hinein.
-›So war's ja auch &ndash; sagte er &ndash; dazumal mit dem<span class="pagenum"><a id="Seite_21">[21]</a></span>
-Menetekel beim Gastmahl des Belsazar. Heut haben wir's
-als reinsten Schwindel erkannt. Wollt ihr, so mach ich's
-euch gleich mit einem Phosphorstreichhölzchen vor.‹ Ich war
-starr vor Entsetzen, er aber quasselte immer weiter: ›Und
-überhaupt, sagte er, es wimmelt da nur so von Widersprüchen.‹
-Dann legte er los, wißt ihr, und redete und redete
-und widerlegte alles, und ich saß dabei und hörte zu. Und
-nun noch dieser <em class="antiqua">Haut-Margaux</em>! Ich war so schon gepeinigt
-genug, und fing am Ende selber an in freigeistigem Stil
-zu reden. Ja, sagte ich, wenn ich nicht sähe, was der Vater
-Sawelij für ein aufrechter Mann ist, denn ich weiß, er steht
-vor dem Altar und der Rauch seines Opfers steigt kerzengerade
-empor, wie beim Opfer Abels, ich möchte nur kein
-Kain sein, sonst könnte ich ihn schon … Versteht ihr wohl,
-so redete ich vom Vater Sawelij! Und diese Person, die
-Biziukina, meinte: ›Ja, versteht Ihr denn selber, was Ihr
-da schwatzt? Wißt Ihr überhaupt, was der Kain wert war?
-Was war denn &ndash; sagte sie &ndash; Euer Abel? Nichts weiter
-als ein kleines Schaf, ein Kriecher und Streber, eine Sklavennatur;
-Kain aber war ein stolzer Mann der Tat. So &ndash; sagte
-sie &ndash; hat ihn der englische Schriftsteller Biehron geschildert …‹
-Und nun legte sie los … Na, von all dem <em class="antiqua">Haut-Margaux</em>
-schon so spiritualisiert, überkam mich plötzlich ein Gefühl,
-als müßte ich zum Kain werden und damit Punktum. Als
-ich auf dem Heimweg bis zum Hause des Vater Propst gelangt
-war, blieb ich vor seinen Fenstern stehen, stemmte, wie
-ein Offizier, die Arme in die Seiten und brüllte los: ›Ich
-Zar, ich Knecht, ich Wurm, ich Gott!‹ Grundgütiger Gott,
-wie entsetzlich ist mir jetzt die bloße Erinnerung an meine
-Schamlosigkeit! Als der Vater Propst mein Gemecker vernommen,
-sprang er aus dem Bette, trat im Hemde ans
-Fenster, stieß es auf und rief mit zorniger Stimme: ›Geh zu<span class="pagenum"><a id="Seite_22">[22]</a></span>
-Bett, du wütiger Kain!‹ Ihr könnt mir's glauben, ich erbebte
-bei diesem Wort. Denn er hatte mich schon Kain genannt,
-da ich es doch erst werden wollte. Er hatte es vorausgesehen!
-Ach Gott, ach Gott! Ich konnte mich kaum
-nach Hause schleppen; meine ganze Widerspenstigkeit war hin,
-und bis auf den heutigen Tag kann ich seitdem nur trauern
-und stöhnen.«</p>
-
-<p>War er in seiner Erzählung so weit gekommen, versank
-der Diakon gewöhnlich in Gedanken, seufzte, und fuhr nach
-einer Minute in melancholischem Tone fort:</p>
-
-<p>»Und nun fliehen und fließen die Tage dahin, aber der
-Zorn des Vater Sawelij ist bis auf heute nicht von ihm
-gewichen. Ich ging zu ihm und klagte mich selber an; ich
-klagte mich an und tat Buße. Ich sprach: ›Vergebt mir,
-wie der Herr den Sündern vergibt‹ &ndash; aber ich erhielt nichts
-zur Antwort, als ›Geh.‹ Wohin? Wohin soll ich gehen,
-frage ich. Mit den Leuten da werde ich wirklich noch zum
-Kain … Ich weiß es, ich weiß es genau, nur er allein,
-nur der Vater Sawelij vermag mich in Subordination zu
-halten &ndash; und er … und er&nbsp;…«</p>
-
-<p>Bei diesen Worten kamen dem Diakon die Tränen in die
-Augen und leise aufschluchzend schloß er seinen Bericht:</p>
-
-<p>»Und er spielt ein so böses Spiel mit mir &ndash; er schweigt!
-Was ich auch sage, er schweigt! … Warum schweigst du?«
-schrie der Diakon plötzlich laut auf und fing nun wirklich an
-zu schluchzen. Dabei streckte er beide Arme in der Richtung
-aus, wo sich nach seiner Voraussetzung das Haus des Propstes
-befinden mußte. &ndash; »Meinst du, das wäre recht gehandelt?
-Ist es recht, wenn ich in meinem Amte als Diakon zu ihm
-trete und sage: ›Vater, segne mich‹ &ndash; und ich küsse dann
-seine Hand und fühle, daß sogar sie für mich eiskalt ist!
-Ist das recht? Am Pfingsttage, vor dem großen Gebet, kam<span class="pagenum"><a id="Seite_23">[23]</a></span>
-ich, in Tränen zerfließend, zu ihm und bat ihn: segne mich …
-Aber er zeigte keine Rührung. ›Sei gesegnet,‹ sagte er. Was
-soll mir dieser Formenkram, wenn alles ohne Freundlichkeit
-geschieht!«</p>
-
-<p>Der Diakon rechnete auf Trost und Unterstützung.</p>
-
-<p>»Verdien' dir seine Freundlichkeit,« sagte ihm der Vater
-Zacharia, »verdiene sie dir ordentlich, und er wird dir verzeihen
-und wieder gut zu dir sein.«</p>
-
-<p>»Wie soll ich sie mir denn verdienen, Vater Zacharia?«</p>
-
-<p>»Durch musterhaftes Betragen.«</p>
-
-<p>»Was nützt mir denn all mein Betragen, wenn er mich
-überhaupt nicht bemerkt? Glaubst du, es ließe mich kalt,
-ihn jetzt immer so bekümmert, immer so tief in Gedanken
-zu sehen? Gott im Himmel, sag' ich zu mir selbst, was mag
-ihn so beschäftigen? Am Ende gar quält er sich meinetwegen.
-… Mag er mir auch noch so sehr zürnen, er verstellt sich ja
-doch nur: ich weiß, daß er mich liebhat&nbsp;…«</p>
-
-<p>Der Diakon wandte das Gesicht ab, schlug mit der rechten
-Faust gegen die linke Handfläche und brummte:</p>
-
-<p>»Na, warte, du Hostienbäckerlümmel, das geht dir nicht
-so durch! Ich will in Wahrheit Kain und nicht der Diakon
-Achilla sein, wenn ich diesen Lehrer Warnawka nicht vor aller
-Augen zum Krüppel schlage!«</p>
-
-<p>Aus dieser Drohung allein kann der Leser schon ersehen,
-daß einem gewissen, hier erwähnten Lehrer Warnawa Prepotenskij
-seitens des Diakons Achilla eine ernste Gefahr
-drohte, und diese Gefahr rückte immer näher und drohender
-heran, je stärker und quälender Achillas Sehnsucht nach dem
-verlorenen Paradiese wurde, die Sehnsucht nach dem eingebüßten
-Wohlwollen des Vaters Sawelij. Und endlich
-schlug die Stunde, da Warnawa Prepotenskij seinen Lohn
-aus der Hand Achillas empfangen sollte, das Ereignis, mit<span class="pagenum"><a id="Seite_24">[24]</a></span>
-dem das große Stargoroder Drama beginnt, welches den Inhalt
-dieser Chronik bilden soll.</p>
-
-<p>Um den Leser in das Verständnis dieses Dramas einzuführen,
-lassen wir vorderhand alle Schleichwege beiseite, auf
-denen Achilla, gleich einem amerikanischen Pfadfinder, seinem
-Feinde, dem Lehrer Warnawka, nachspürt. Versenken wir
-uns lieber in die Tiefen der inneren Welt der dramatischsten
-Person unserer Geschichte und treten in jene Welt, die bisher
-noch allen, welche sie aus der Nähe oder aus der Ferne betrachteten,
-unbekannt und unsichtbar geblieben ist: in das
-reinliche Häuschen des Vaters Tuberozow. Vielleicht, wenn
-wir im Innern dieses Hauses stehen, finden wir ein Mittel,
-auch in die Seele seines Herrn zu schauen, wie man in einen
-gläsernen Bienenstock schaut, wo die Biene ihre wundersame
-Wabe baut, aus Wachs, das vor dem Antlitz Gottes leuchten,
-und aus Honig, der den Menschen erfreuen soll. Aber seien
-wir vorsichtig und rücksichtsvoll: ziehen wir leichte Sandalen
-an, auf daß unserer Schritte Schall den sinnenden und betrübten
-Propst nicht störe. Setzen wir die Tarnkappe aus
-dem Märchen aufs Haupt, damit unser neugierig Antlitz den
-ernsten Blick des würdigen Greises nicht verwirre, und lauschen
-wir mit offenem Ohr auf alles, was wir von ihm zu
-hören bekommen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_25">[25]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_4">Viertes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Sommerabend hat sich über Stargorod herabgesenkt.
-Längst ist die Sonne untergegangen. Die Anhöhe, auf der
-sich die spitze Kuppel des Domes erhebt, liegt in bleiches
-Mondlicht getaucht, das stille, flache Ufer drüben versinkt in
-warmer Finsternis. Über die schwimmende Brücke, welche
-beide Stadtteile miteinander verbindet, bewegen sich ab und
-zu einsame Gestalten. Sie haben es eilig; denn die Nacht
-im stillen Städtchen treibt sie früh in ihre Nester und an ihre
-Herdfeuer. Schellenklingelnd fährt ein Postwagen über die
-Brückenbohlen, wie über Klaviertasten; dann ist alles wieder
-totenstill. Von den Wäldern draußen weht eine wohltuende
-Kühle herüber. Blau schimmert auf der von zwei Armen
-der Turitza gebildeten Insel das Gemüsefeld des uralten
-schiefnäsigen Sonderlings Konstantin Pizonskij, welcher von
-allen »Onkel Kotin« genannt wird.</p>
-
-<p>»Molwoscha! Wo bist du, Molwoscha?!« schallt es von
-der Insel herüber.</p>
-
-<p>Der Alte ruft den muntern Buben, seinen Pflegesohn,
-und so deutlich ist dieser Ruf im Hause des Propstes zu hören,
-daß man glauben möchte, es riefe jemand dicht unter dem
-Fenster, an welchem die Pröpstin sitzt. Von demselben Gemüsefeld
-schallt ein lautes Kinderlachen herüber, man hört
-das Wasser plätschern, nackte Kinderfüßchen laufen klatschend
-über die Brückenbohlen, und hellauf bellt ein spielender<span class="pagenum"><a id="Seite_26">[26]</a></span>
-Hund. Alles das scheint so nah, daß die Mutter Pröpstin
-von ihrem Platz am Fenster aufspringt und die Arme nach
-vorn ausstreckt. Sie meint, das laufende und lachende Kind
-müsse ihr gleich in den Schoß fallen. Aber als sie sich umschaut,
-erkennt sie die Täuschung. Sie tritt vom Fenster in
-das Innere des Zimmers zurück, zündet eine der auf der
-Kommode stehenden Kerzen an und ruft ein kleines, etwa
-zwölfjähriges Mädchen zu sich heran.</p>
-
-<p>»Weißt du nicht, Feklinka, wo unser Vater Propst ist?«
-fragt sie.</p>
-
-<p>»Er spielt Dame beim Polizeichef, Mütterchen.«</p>
-
-<p>»Ah so, beim Polizeichef. Schon recht. Wir wollen ihm
-das Bett machen, Feklinka, damit alles fertig ist, wenn er
-heimkommt.«</p>
-
-<p>Feklinka bringt aus dem Nebenzimmer zwei Kissen in
-die Wohnstube, ein Bettuch und eine gelbe wollene Steppdecke;
-die Pröpstin einen weißen Pikee-Schlafrock und ein
-großes rotseidenes Tuch. Das Bett wird dem Propst auf
-dem großen, ziemlich harten Sofa aus Masernbirkenholz gemacht.
-Zu Häupten wird die Decke zurückgeschlagen; der
-weiße Schlafrock über einen Lehnstuhl zu Füßen des Bettes
-ausgebreitet, und auf den Schlafrock das Seidentuch gelegt.
-Sowie alles gemacht ist, schiebt die Pröpstin mit Feklinka
-einen ovalen Tisch auf massivem Fuße, ebenfalls aus Masernholz,
-neben das Kopfende des Bettes, und stellt eine Kerze,
-ein Glas Wasser, ein Tellerchen mit gestoßenem Zucker und
-eine Glocke darauf. Alle diese Vorbereitungen und die Genauigkeit,
-mit der sie vorgenommen werden, zeugen von
-der großen Aufmerksamkeit, mit der die Pröpstin allen Gewohnheiten
-ihres Gatten entgegenkommt. Erst als sie alles
-gewohnheitsmäßig geordnet hat, beruhigt sie sich wieder,
-löscht die Kerze aus und setzt sich an ihr einsames Fenster,<span class="pagenum"><a id="Seite_27">[27]</a></span>
-um auf den Gatten zu warten. Wer sie hätte sehen können,
-würde eine gewisse Unruhe in dieser Erwartung bemerkt
-haben, welche ihre guten Gründe hatte: Tuberozow, der seit
-langem schon unfroh schien, war heute den ganzen Tag mürrisch
-gewesen und das beunruhigte seine treue Gefährtin.
-Er war auch sehr müde, denn er hatte heute auf die Felder
-der Vorstadtbewohner hinausgemußt, um einen Bittgottesdienst
-anläßlich der andauernden Trockenheit abzuhalten.
-Nach dem Essen hatte er sich etwas niedergelegt und war
-dann spazierengegangen. Später hatte er den Polizeichef
-aufgesucht, und war bei ihm sitzen geblieben. Die kleine
-Pröpstin wartete erst eine halbe Stunde und dann noch eine
-ganze, aber er kam nicht. Tiefe Stille herrschte überall. Plötzlich
-klingt es von der Hügelseite herüber wie Gesang. Die
-Pröpstin horcht auf. Es ist der Diakon Achilla; sie kennt diese
-angenehme tiefe Stimme gut. Er steigt den Batawin-Berg
-herab und singt:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Es ruht die Welt im Frieden<br /></span>
-<span class="i0">Der lauen Frühlingsnacht,<br /></span>
-<span class="i0">Längst haben alle Müden<br /></span>
-<span class="i0">Die Augen zugemacht.<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Der Diakon ist unten angekommen, geht über die Brücke
-und singt weiter:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Da klopft mit seinem Stecken<br /></span>
-<span class="i0">Cupido an mein Tor,<br /></span>
-<span class="i0">Und ich in jähem Schrecken<br /></span>
-<span class="i0">Fahr' aus dem Traum empor.<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Die Pröpstin hört dem Gesang des Achilla mit Vergnügen
-zu. Sie hat den Mann gern, weil er ihren Gatten so liebt,
-und sie mag auch seinen Gesang. In Träumerei versinkend
-merkt sie gar nicht, wie der Diakon die Brücke hinter sich<span class="pagenum"><a id="Seite_28">[28]</a></span>
-läßt und immer näher und näher kommt. Als er endlich
-dicht vor ihrem Fensterlein steht, donnert er plötzlich mit
-schauerlichem Pathos:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Wer &ndash; frag ich &ndash; ist der Kühne,<br /></span>
-<span class="i0">Der da zu klopfen wagt?<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Die aus ihren Träumen aufgeschreckte Pröpstin schreit
-leise auf und eilt in das Innere des Zimmers zurück.</p>
-
-<p>Als der Diakon ihren Schreckensruf hört, unterbricht er
-sofort seinen Gesang.</p>
-
-<p>»Ihr schlaft noch nicht, Natalia Nikolajewna?« fragt er,
-packt dabei mit beiden Händen das Fensterbrett und schwingt
-sich auf das Gesimse.</p>
-
-<p>»Wir haben Frieden!« ruft er.</p>
-
-<p>»Was?« fragt die Pröpstin.</p>
-
-<p>»Friede,« antwortet der Diakon, »Friede.«</p>
-
-<p>Achilla fährt mit der Hand durch die Luft und fügt hinzu:</p>
-
-<p>»Der Vater Propst … hat ein Ende gemacht.«</p>
-
-<p>»Was redest du da. Was für ein Ende?« fragt die Pröpstin
-erregt.</p>
-
-<p>»Schluß! … Der Streit mit mir hat ein Ende! … Von
-nun an herrscht Frieden und Wohlgefallen. Den wievielten
-haben wir heute? Den vierten Juni. Notiert's Euch: ›am
-vierten Juni Frieden und Wohlgefallen‹. Denn Friede soll
-mit allen sein. Der Lehrer Warnawka kriegt's jetzt aber zu
-spüren.«</p>
-
-<p>»Was hast du? Nach Branntwein riechst du nicht und
-schwindelst doch.«</p>
-
-<p>»Ich schwindeln! Ihr sollt bald sehen, wie ich schwindle!
-Heut ist der vierte Juni, der Tag des heiligen Methodius
-von Pesnosch, &ndash; notiert Euch das auch, denn mit diesem
-Tage geht es los.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_29">[29]</a></span></p>
-
-<p>Der Diakon richtet sich auf den Ellenbogen noch höher auf
-und flüstert, sich fast bis zum Gürtel ins Fenster hineinschiebend:</p>
-
-<p>»Ihr wißt wohl gar nicht, was der Lehrer Warnawka
-getan hat?«</p>
-
-<p>»Nein, Freundchen, ich habe nichts gehört. Was hat der
-Tunichtgut denn getan?«</p>
-
-<p>»Etwas Entsetzliches! Er hat einen Menschen im Topf
-gekocht.«</p>
-
-<p>»Diakon, du lügst!« ruft die Pröpstin.</p>
-
-<p>»Nein, er hat ihn gekocht!«</p>
-
-<p>»Ganz gewiß, du lügst! Ein Mensch hat doch in einem
-Kochtopf nicht Platz.«</p>
-
-<p>»Er hat ihn im Aschenkasten gekocht,« fuhr der Diakon
-unbekümmert fort, »und obgleich ihm diese greuliche Tat
-vom Polizeichef und vom Arzt gestattet war, wird er doch
-dafür meinen Händen ausgeliefert.«</p>
-
-<p>»Diakon, du lügst. Das sind alles Lügen.«</p>
-
-<p>»Nein, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, nicht eine
-Silbe ist gelogen,« erwiderte der Diakon mit heftigem Kopfschütteln
-und die Worte wirbelten noch schneller von seinen
-Lippen. »Warnawka hat tatsächlich einen Menschen mit Genehmigung
-der Obrigkeit, das heißt: des Arztes und des
-Polizeichefs, gekocht. Es war eine Wasserleiche. Aber dieser
-Gekochte quält jetzt ihn und seine Mutter, die Frau Hostienbäckerin,
-aufs grausamste, und ich habe das alles in Erfahrung
-gebracht und beim Polizeichef dem Vater Propst erzählt,
-und der Vater Propst hat dem Herrn Polizeichef dafür
-ein tüchtiges &ndash; <em class="antiqua">coppe vachée</em> heißt's auf französisch &ndash;
-gemacht. Der Polizeichef hat gesagt: ›Ich will &ndash; sagt er &ndash;
-Soldaten holen und der Sache ein Ende machen.‹ Ich aber
-fügte dazu: ›Hol du nur deine Soldaten, ich bin selber Soldat!<span class="pagenum"><a id="Seite_30">[30]</a></span>‹
-Und von morgen ab, Euer Hochwürden, ehrenwerteste
-Frau Pröpstin Natalia Nikolajewna, werdet Ihr sehen, wie
-der Diakon Achilla den Lehrer Warnawka strafen wird, ihn,
-den Gotteslästerer, der die Lebenden irre macht und die
-Toten martert. Jawohl, heute ist der vierte Juni, der Gedächtnistag
-des heiligen Methodius von Pesnosch! Ihr
-solltet Euch das notieren&nbsp;…«</p>
-
-<p>Hier wurde der Redestrom des Diakons Achilla plötzlich
-unterbrochen, denn aus der Ferne vom Hügel ließ sich ein
-Husten vernehmen, das nur vom Vater Propst kommen
-konnte.</p>
-
-<p>»Halloh! Da kommt der Propst Sawelij!« ruft Achilla,
-springt vom Gesims auf die Erde und geht seines Weges.</p>
-
-<p>Die Pröpstin erhebt sich, zündet zwei Kerzen an und blickt
-bei ihrem Scheine den eintretenden Gatten scharf an. Der
-Propst küßt die Frau leise auf die Stirn, nimmt die Kutte
-ab, zieht den weißen Schlafrock über, bindet das rote Seidentuch
-um den Hals und setzt sich ans Fenster. Die Pröpstin
-hat alles vergessen, was ihr eben noch der Diakon vorgeredet,
-und fragt den Gatten gar nicht danach. Sie geleitet
-ihn in das kleine längliche Nebenzimmer, das ihr als
-Schlafzimmer dient und wo sie jetzt den Abendimbiß für
-den Vater Sawelij bereitgestellt hat. Vater Sawelij setzt
-sich an den kleinen Tisch, verzehrt die zwei weichgekochten
-Eier, spricht sein Dankgebet und wendet sich dann seiner
-Frau zu, um ihr Gute Nacht zu sagen. Die Pröpstin selbst
-ißt abends nie etwas. Sie sitzt ihrem Gatten gegenüber
-und leistet ihm allerhand kleine Dienste, indem sie ihm bald
-etwas reicht, bald etwas fortträgt. Dann erheben sich beide,
-beten vor dem Heiligenbild und beginnen unmittelbar darauf,
-sich gegenseitig zu bekreuzigen. Diesen Abendsegen erteilen
-sie einander immer zu gleicher Zeit und mit solcher<span class="pagenum"><a id="Seite_31">[31]</a></span>
-Gewandtheit und Geschwindigkeit, daß man sich nur wundern
-kann, wie ihre hin- und herwirbelnden Hände kein einziges
-Mal gegeneinander stoßen oder aneinander hängen bleiben.</p>
-
-<p>Hierauf wechseln die Gatten den Abschiedskuß, wobei der
-Propst seiner kleinen Frau die Stirne, sie ihm aber das
-Herz küßt. Dann trennen sie sich. Der Propst geht in sein
-Wohnzimmer, um sich niederzulegen.</p>
-
-<p>Aber heute konnte der Alte keine Ruhe finden. Schon war
-eine Stunde vergangen, und immer noch ging er auf und
-ab in seinem weißen Pikeeschlafrock, mit dem roten Seidentuch
-um den Hals. Endlich trat er an einen kleinen roten
-Schrank, der auf einer hohen Kommode mit abgezogener
-Platte stand. Aus diesem Schränkchen nahm er ein in dicken
-blauen Demi-Coton mit gelbem Juchtenrücken gebundenes
-Exemplar des »Kalenders« des Eugenios, legte das Buch
-auf den ovalen Tisch, der vor seinem Bette stand, zündete
-zwei Sparkerzen an und horchte auf: es schien, als ob seine
-Frau noch nicht schliefe. So war es auch.</p>
-
-<p>»Willst du noch lesen?« fragte in diesem Augenblick aus
-dem Nebenzimmer die sanfte, besorgte Stimme der Pröpstin.</p>
-
-<p>»Ja, liebe Natascha, ich will noch ein wenig lesen,« antwortete
-Vater Tuberozow. »Du aber tu mir den Gefallen
-und schlafe&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Gewiß werde ich schlafen, gewiß, mein Lieber,« erwiderte
-die Pröpstin.</p>
-
-<p>»Ja, ich bitte dich, schlafe.« … Und mit diesen Worten
-setzte der Propst eine große silberne Brille auf seine stolze
-römische Nase und begann langsam in seinem blauen Buch
-zu blättern. Er las nicht, sondern blätterte nur, und dabei
-interessierte ihn nicht das, was in dem Buch gedruckt stand,
-sondern die von seiner eigenen Hand beschriebenen Einschaltblätter.
-Diese Notizen waren zu verschiedenen Zeiten gemacht<span class="pagenum"><a id="Seite_32">[32]</a></span>
-und weckten in dem alten Priester eine ganze Welt
-von Erinnerungen, zu denen er hin und wieder gern zurückkehrte.</p>
-
-<p>Da wir nun zwischen den Propst Sawelij und seine Vergangenheit
-geraten sind, wollen wir auch still und ehrfürchtig
-dem leisen Flüstern der Greisenlippen lauschen, das durch
-die dumpfe Stille der Mitternacht dringt.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_33">[33]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_5">Fünftes Kapitel.</h3>
-
-<p class="center gesperrt">Das Demi-Cotonbuch des Propstes Tuberozow.</p>
-</div>
-
-<p>Tuberozow betrachtete seinen Kalender von dem ersten
-Einschaltblatte an, auf dem zu lesen stand: »Nachdem ich
-am 4. Februar 1831 durch den Hochwürdigen Gawriil die
-Priesterweihe empfangen, erhielt ich von ihm dieses Buch
-als Belohnung für meine guten wissenschaftlichen Leistungen
-im Seminar und mein gutes Betragen.« Auf diese erste
-Notiz, die am ersten Tage nach der Ordination gemacht
-war, folgte als zweite: »Zum erstenmal im Dom gepredigt,
-nachdem der Bischof die Messe gehalten. Zum Thema der
-Predigt hatte ich das Gleichnis von den Söhnen des Weinbergsbesitzers
-genommen. Der eine sprach: ich gehe nicht,
-&ndash; und ging doch, der andere aber sprach: ich gehe, &ndash; und
-ging nicht. Ich bezog dieses auf die guten Handlungen und
-die guten Vorsätze, wobei ich mir einige Anspielungen auf
-die Beamten erlaubte, die ihren Diensteid ablegen und dann
-nicht einhalten. Dabei wies ich auch ganz vorsichtig auf
-die Machthaber und Vorgesetzten hin. Ich sprach fließend
-und weniger feierlich als natürlich. Seine Eminenz belobten
-diesen meinen Versuch. Aber später riefen Seine Eminenz
-mich zu sich und bemerkten nach einem allgemeinen Lobe meiner
-Rede im besonderen, daß ich mich hüten solle, in meinen Predigten
-direkt auf die Wirklichkeit hinzuweisen, vor allem aber<span class="pagenum"><a id="Seite_34">[34]</a></span>
-die Herren Beamten aus dem Spiele lassen, denn je weiter
-man sie sich vom Leibe halte, desto gottwohlgefälliger sei
-das. Für das aber, was ich schon gesagt hatte, machte
-er mir keine Vorwürfe, sondern schien es sogar zu
-billigen.«</p>
-
-<p>»1832 am 18. Dezember wurde ich zum Bischof gerufen
-und erhielt eine Ernennung nach Stargorod, wo das Schisma
-sehr stark sein soll. Ich erhielt die Weisung, ihm auf jede
-Art entgegenzuwirken.«</p>
-
-<p>»1833 am 8. Februar fuhr ich mit meiner Gattin aus
-dem Dorfe Blagoduchowo nach Stargorod und gelangte
-am 12. zur Frühmesse daselbst an. Unterwegs wären wir
-fast von Wölfen gefressen worden. In der Gemeinde fand
-ich viel Unordnung vor. Die Altgläubigen sind im Besitz
-großer Macht. Nachdem ich mich etwas umgeschaut hatte,
-sah ich, daß der Kampf gegen das Schisma nach den konsistorialen
-Vorschriften wenig Wert hat. Ich schrieb das ans
-Konsistorium und erhielt einen Verweis.«</p>
-
-<p>Der Propst überschlug ein paar Eintragungen und blieb
-dann wieder bei der folgenden stehen: »Nachdem ich einen
-Verweis für Untätigkeit erhalten, die man daraus zu ersehen
-meint, daß ich nicht mit reichlichen Denunziationen aufwarte,
-suchte ich mich zu rechtfertigen, indem ich darauf hinwies,
-daß die Schismatiker nichts anderes täten, als was man
-schon längst von ihnen wisse, und fügte diesem Bericht noch
-hinzu, daß vor allem der orthodoxe Klerus in äußerster
-Armut lebe, und infolgedessen, in Anbetracht der Schwäche
-der menschlichen Natur, gegen Bestechung nicht unempfindlich
-sei und sogar selber der Ketzerei Vorschub leiste, gleich
-anderen Verteidigern der Orthodoxie, indem er Spenden
-von den Ketzern annehme. Ich schloß damit, daß man mit
-der Befreiung der Geistlichkeit aus ihrer schweren Abhängigkeit<span class="pagenum"><a id="Seite_35">[35]</a></span>
-beginnen müsse, wenn man die Schäden der Kirche heilen
-wolle. Für selbigen Versuch erhielt ich abermals einen Verweis
-und wurde zu einer persönlichen Aussprache zitiert,
-bei der ich ein »unehrerbietiger Ham« genannt wurde, der
-»die Blöße seines Vaters aufdeckt«.«</p>
-
-<p>Etwas weiter, nach einigen anderen Notizen, stand zu
-lesen: »Ich war in Geschäften in der Gouvernementsstadt,
-und als ich mich dem Bischof vorstellte, berichtete ich ihm
-persönlich von der Armut des Klerus. Seine Eminenz zeigten
-sich sehr gerührt, aber sie bemerkten, daß auch unser Herr
-selber nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen sollte, und doch
-nicht müde ward zu lehren. Er riet mir, ich solle den Klerikern
-das Buch ›Von der Nachfolge Christi‹ zur Lektüre empfehlen.
-Darauf erwiderte ich Seiner Eminenz nichts, und
-es wäre auch unnütz gewesen, denn bei unserer Armut
-können wir dieses Buch gar nicht beschaffen.</p>
-
-<p>Höchst politisch brachte ich bei der Abendtafel beim Vater
-Schließer von der Domkirche das Gespräch nochmals auf
-diesen Gegenstand. An der Tafel nahmen noch der Vater
-Propst und der Konsistorialsekretär teil. Aber sie zogen
-meine Worte ins Scherzhafte. Der Sekretär sagte spöttisch,
-daß der Arme leichter ins Himmelreich komme, &ndash; was wir
-auch ohne Seine Wohlgeboren schon wußten, der Vater
-Schließer aber erzählte bei dieser Gelegenheit eine nicht üble
-Anekdote von einem Studenten der Akademie, der später
-ein berühmter Gottesmann und Prediger wurde. Dieser
-hätte nämlich noch als Laie auf die Frage des Bischofs, ob
-er irgend Vermögen besitze, geantwortet:</p>
-
-<p>»Freilich besitze ich welches, Eminenz.«</p>
-
-<p>»Bewegliches oder unbewegliches?« fragte dieser, worauf
-jener erwiderte:</p>
-
-<p>»Sowohl bewegliches, wie unbewegliches.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_36">[36]</a></span></p>
-
-<p>»Was besitzest du denn an beweglichem Gut?« fragte abermals
-der Bischof, indem er des Jünglings ärmliches Gewand
-betrachtete.</p>
-
-<p>»An beweglichem Gut besitze ich ein Haus im Dorf,« antwortete
-der Befragte.</p>
-
-<p>»Wie kann denn ein Haus als bewegliches Gut gelten?
-Bedenke, wie dumm deine Antwort ist.«</p>
-
-<p>Jener aber, nicht im geringsten verlegen, entgegnete, seine
-Antwort wäre ganz richtig, denn sein Haus sei solcher Art,
-daß, sobald der Wind es anblase, es in heftige Bewegung
-gerate.</p>
-
-<p>Dem Bischof erschien diese Antwort so eigenartig, daß er
-den Studiosus nicht mehr für einen Dummkopf zu halten
-vermochte, sondern höchst interessiert weiterfragte:</p>
-
-<p>»Was nennst du denn dein unbewegliches Gut?«</p>
-
-<p>»Mein unbewegliches Gut,« sprach der Student, »ist meine
-Mutter, die Küstersfrau, und unsere braune Kuh, die beide
-ihre Füße nicht bewegen konnten, als ich die Heimat verließ,
-die Mutter vor Altersschwäche, die Kuh wegen Futtermangels.«</p>
-
-<p>Alle lachten sehr darüber, obgleich ich an der Geschichte
-mehr Trauriges und Tragisches fand als Komisches. Ich
-beginne, bei allen eine große Lachlust und einen Leichtsinn
-zu bemerken, wovon ich wenig Gutes erwarte.</p>
-
-<p>Mein Leben geht in Schlafen und Essen dahin. Das Schisma
-kann ich auf keine Weise bekämpfen, denn ich bin in
-allem gebunden, sowohl durch meinen halbverhungerten
-Klerus, als durch den allzu satten Polizeichef. Es empört
-mich, daß ich gleichsam zum Spott als Missionar hierher gesandt
-bin. Ich soll predigen &ndash; und keiner will mich hören;
-ich soll lehren &ndash; und keiner will lernen. Der Polizeichef
-predigt viel besser als ich, denn er hat so ein gewisses Missionsinstrument<span class="pagenum"><a id="Seite_37">[37]</a></span>
-mit zwei Enden, &ndash; von mir aber verlangt
-man Denunziationen. Eminenz! Was sollen diese Denunziationen,
-was soll in sie eingewickelt werden? Mir verbietet,
-soweit ich die Sache verstehe, mein Amt, dergleichen
-zu schreiben. Lieber will ich, wenn es nötig ist, reines Papier
-hergeben&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Heute morgen, am 18. März 1836, deutete meine Pfarrerin
-Natalia Nikolajewna an, daß sie sich gesegneten Leibes
-fühle. O Herr, schenke uns diese Freude! Zu erwarten Ende
-November.«</p>
-
-<p>»Am 9. Mai, dem Tage des heiligen Nikolaus, wurde auf
-obrigkeitlichen Befehl die altgläubige Kapelle in Dejewo zerstört.
-Es war ein schauerliches, unwürdiges und wahrhaft
-empörendes Schauspiel. Zu allem andern riß noch das
-Eisenkreuz von der Kuppel ab und blieb an den Ketten hängen.
-Als die Zerstörer mit ihren Feuerhaken es voller Erbitterung
-ganz herabzuzerren sich bemühten, stürzte es plötzlich herunter
-und zerschmetterte einem Feuerwehrsoldaten den Schädel, daß
-er tot liegen blieb. Er war ein Jude. O wie weh tat es mir,
-das alles mit ansehen zu müssen! Herr, mein Gott! Sie
-sollten doch wenigstens keine Juden beauftragen, das Kreuz
-herabzureißen! Abends versammelte sich das Volk auf der
-Trümmerstätte und ihre und unsere Geistlichkeit kam auch
-hin, und alle haben wir geweint und zuletzt fielen wir uns
-in die Arme.«</p>
-
-<p>»10. Mai. Die Obrigkeit hat einen großen Fehler begangen.
-Kurz vor Mitternacht verbreitete sich das Gerücht, das Volk
-habe eine heilige Lampe auf die Steine gestellt und halte
-eine Gebetsversammlung beim zerstörten Gotteshaus ab.
-Wir gingen alle hinaus und fanden die Leute wirklich beim
-Gebet. Ein alter Mann hielt die Lampe in der Hand und
-sie erlosch nicht. Der Stadthauptmann gab leise Befehl,<span class="pagenum"><a id="Seite_38">[38]</a></span>
-die Feuerspritzen heranzufahren und die Menge mit Wasser
-zu begießen. Das war höchst unbedacht, ich kann sogar sagen:
-dumm &ndash; denn das Volk zündete Kerzen an und ging heim.
-Dabei sang es vom »grausamen Pharao« und rief: »Der
-Herr hilft dem verfolgten Glauben und der Wind verlöscht
-die Lichter nicht!« Ich machte den Stadthauptmann darauf
-aufmerksam, wie unvorsichtig seine Verordnung gewesen, die
-Kapelle zu zerstören, das Kreuz herabzureißen und das Marienbild
-fortzuschaffen. Aber was kümmert er sich drum?«</p>
-
-<p>»12. Mai. Die Eitelkeit hat mich übermannt: ich habe
-mir von der Wirtschafterin der Frau Adelsmarschall zwei
-seidene Kleider der Gnädigen auf Kredit geben lassen und
-habe sie in die Stadt zum Färben geschickt. Daraus will
-ich mir dann eine seidene Kutte machen lassen. Es geht nicht
-anders, man muß sich akkurat kleiden. Ich komme allmählich
-in alle adeligen Häuser, und ich will nicht über die Achsel
-angesehen werden.«</p>
-
-<p>»17. Mai. Die Pfarrerin Natalia Nikolajewna deutete
-heute an, daß sie sich betreffs ihres Zustandes getäuscht habe.«</p>
-
-<p>»20. Juni. Auf einen Bericht des Stadthauptmanns,
-daß ich zu Ostern nicht auch in die Häuser der Altgläubigen
-mit dem Kreuze gegangen, wurde ich wieder nach der Gouvernementsstadt
-zitiert. Ich legte die ganze Sache dem Bischof
-eingehend dar. Nicht aus Fahrlässigkeit hätte ich die Häuser
-der Altgläubigen gemieden, denn auch meine Tasche hätte
-ja davon Schaden gehabt. Ich tat es, um die Schismatiker
-fühlen zu lassen, daß ihnen die Ehre nicht gebühre, von mir
-und dem gesamten Klerus besucht zu werden. Der Bischof
-wurde nachdenklich und ließ sodann diese meine Erklärung
-gelten. Allein nicht umsonst sagt das Volk, daß, wenn der Zar
-auch gnädig sei, sein Hundejunge es noch nicht zu sein brauche.
-Weil die Sache meiner unterlassenen Amtshandlung zum<span class="pagenum"><a id="Seite_39">[39]</a></span>
-Teil auch die weltliche Obrigkeit angeht, schickte der Bischof
-mich zum Gouverneur, damit ich ihm eine Erklärung in
-der hochwichtigen Angelegenheit abgebe … War das eine
-Erklärung! … Wehe mir armen Sünder, was ich auszustehen
-hatte! Wehe auch euch, ihr meine Nächsten, meine
-Brüder, Vertrauten und Freunde, ob der Schmach und
-Erniedrigung, die ich von diesem kurzschwänzigen Glaubensfeind
-erdulden mußte! Der Gouverneur, der als Deutscher
-die Ambitionen seines Luther hochhalten zu müssen wähnt,
-ließ den russischen Popen überhaupt nicht zu sich heran, sondern
-schickte mich zur Erörterung der Angelegenheit zu seinem
-Kanzleivorsteher. Dieser, ein Pole, war aber nicht geneigt,
-die Sache wie der Bischof anzusehen, sondern er fiel über
-mich her mit Geschrei und Gebrüll, sagte, ich leiste den Ketzern
-Vorschub und widersetze mich dem Willen meines Kaisers.
-Wehe dir, du aussätziger Pole, daß du mit deinem löcherigen
-Gewissen dich unterstehst, mir Widersetzlichkeit gegen meinen
-Kaiser vorzuwerfen! Allein ich nahm es hin und ging schweigend
-von dannen, des Sprichwortes gedenkend: Wie der
-Herr, so's Gescherr. Und so gewinnt es den Anschein, als
-wäre alles Geschilderte nur geschehen, um meine neue seidene
-Kutte einzuweihen, welche, wie ich hier bemerken will,
-sehr akkurat gefertigt ist, und der man es nur bei Sonnenschein
-ein wenig ansieht, daß sie aus zwei verschiedenen Stoffen
-gefertigt ist.«</p>
-
-<p>»23. März 1837. Heute, am Karsamstag, kamen die Kleriker
-und der Diakon zu mir. Prochor bittet, wir sollten zu
-Ostern durchaus auch in die Häuser der Altgläubigen mit
-dem Kreuz gehen, denn es brächte ihnen zu viel Schaden,
-wenn wir es unterließen. Ich gab ihnen vierzig Rubel von
-meinem Gelde, weil ich mich der Schmach nicht unterziehen
-wollte, vor den Türen der reichen Bauern um Almosen zu<span class="pagenum"><a id="Seite_40">[40]</a></span>
-bitten. Jetzt scheint es mir eine Torheit, daß ich mir die seidene
-Kutte machen ließ; ich wäre auch ohne sie ausgekommen
-und hätte dann mehr für den Klerus übriggehabt. Ich gedachte
-eben: Kleider machen Leute.«</p>
-
-<p>»24. April. Eine Schmach ist mir widerfahren, die mich
-weinen und schluchzen ließ. Ich bin erneut denunziert worden.
-Nochmals stand ich vor jenem Gouvernementskanzleivorsteher
-und mußte mich wegen Nichtbesuches der Altgläubigen
-verantworten. Mein eigener Klerus hat mich denunziert.
-Wie ertrag' ich diese Niedrigkeit und Undankbarkeit!
-Du Denker und Administrator! Betrachte in deinem aufgeklärten
-Geiste, woraus das Leben eines russischen Popen
-sich zusammensetzt! Auf dem Heimwege haderte ich die ganze
-Zeit mit mir selber, daß ich nicht auf die Akademie gegangen
-war. Von dort wäre ich zur Klostergeistlichkeit gegangen,
-wie so viele andere. Mit der Zeit wäre ich Archimandrit geworden
-und Bischof. In einer Kutsche wäre ich gefahren und
-hätte selber kommandiert, statt daß man mich kommandierte.
-Es war mir eine boshafte Freude, mich diesen eiteln Gedanken
-hinzugeben; immer wieder sah ich mich als Bischof. Aber
-als ich heimgekehrt war, wurde ich so zärtlich von meiner
-Pfarrerin empfangen, daß ich Gott dem Herrn dankte, der
-alles so gefügt hat, wie es ist.«</p>
-
-<p>»25. April. In der Gouvernementsstadt haben sie mir
-Schmach angetan; allein das ist nichts dagegen, wie ich
-heute zu Hause beschämt worden bin. Einem Schulbuben
-gleich. Gestern erst schrieb ich die Memorabilien meiner Bekümmernisse
-und Ärgernisse nieder. Heute stand ich früh
-auf, setzte mich ans Fenster, und in Gedanken versunken
-schaute ich auf das Gemüsefeld des bettelarmen Pizonskij,
-das sich gerade vor meinem Fenster ausbreitet. Voriges
-Jahr wurde auf diesem Felde ein schwachsinniges Mädchen,<span class="pagenum"><a id="Seite_41">[41]</a></span>
-eine gewisse Nastia, die ein vorüberziehender Soldat verführt
-hatte, von einem Knäblein entbunden, worauf sie sich
-in den Fluß stürzte und ertrank. Pizonskij hatte dieses Kind
-als Trost seines einsamen Alters zu sich genommen, und dann
-hatten alle die Geschichte bald vergessen. Ich als einer der
-ersten ebenfalls. Heut aber blicke ich von oben herab auf
-das Land dieses Pizonskij und denke an meine Angelegenheiten,
-da bemerke ich, daß dieser frisch aufgerissene, schwarze,
-sogar ein wenig bläuliche Erdboden ganz ungemein lieblich
-anzuschauen ist, wie er so von der Morgensonne übergossen
-daliegt. Die Furchen entlang schreiten hagere schwarze Vögel
-und stärken ihren hungernden Leib mit frischem Gewürm.
-Der alte Pizonskij selbst, den kahlen Kopf im hellsten Sonnenlicht
-badend, stand auf einer Treppe vor einem auf Pfählen
-befestigten Treibbeet, hielt in der einen Hand eine Schale
-mit Samen und legte mit der andern die Körner in die Erde,
-immer kreuzweise in ganz kleinen Prisen. Und dabei blickte
-er zum Himmel empor und sprach bei jedem Korn ein Wort
-des Spruches: »Herr, laß wohlgelingen, wachsen und gedeihen,
-auf daß ein jeder sein Teil habe, der Hungernde und
-der Verwaiste, der Wünschende, der Bittende und der Fordernde,
-der Segnende und der Undankbare.« Kaum hatte
-er zu Ende gesprochen, da schrien alle schwarzglänzenden
-Vögel, die auf dem Acker umhergingen, die Hühner gackerten,
-der Hahn krähte aus vollem Halse und schlug laut mit den
-Flügeln, und von seiner Matte schob sich jenes Kind, das
-Söhnlein der Blödsinnigen, das der alte Sonderling zu sich
-genommen. Es lachte hell auf in kindischer Freude, klatschte
-in die Händchen und kroch lachend über den weichen Erdboden.
-Es war mir wie eine Vision. Der alte Pizonskij war
-glückselig und sang laut Halleluja! … Halleluja, Herr mein
-Gott! &ndash; sang auch ich still für mich vor Entzücken, und Tränen<span class="pagenum"><a id="Seite_42">[42]</a></span>
-der Rührung entströmten meinen Augen. In diesen heilenden
-Tränen löste sich mein Groll und ich sah ein, wie
-töricht mein Kummer gewesen war. Vermehre und laß
-wachsen, Herr, deine Gaben auf dieser Erde, daß ein jeder
-sein Teil erhalte, der Wünschende, der Bittende, der Fordernde
-und der Undankbare. … Mir ist ein solches Gebet
-in keinem gedruckten Buch vorgekommen. Gott, mein Gott!
-Dieser alte Mann gedachte auch des dem Diebe zukommenden
-Teiles und betete für ihn! O du mein weichherziges Rußland,
-wie bist du schön!«</p>
-
-<p>»6. August, Christi Verklärung. Was für ein entzückendes
-Weib ist meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna! Wieder frage
-ich: wo, außer im heiligen Rußland, kann es solche Frauen
-geben? Ich sagte ihr einmal, wie mich die Zärtlichkeit des
-bettelarmen Pizonskij zu den Kindern rühre, und gleich verstand
-oder erriet sie meine Gedanken und meine Sehnsucht:
-sie umarmte mich und mit der Schamröte, die ihr so schön
-zu Gesichte steht, sprach sie: »Warte nur, Vater Sawelij,
-vielleicht schenkt uns Gott doch noch &ndash;&nbsp;&ndash;« ein Kindlein
-wollte sie sagen. Aber ich hab' es zu oft schon erfahren, daß
-diese ihre Hoffnungen sich als trügerisch erwiesen, daher
-fragte ich sie gar nicht nach den Einzelheiten, &ndash;&nbsp;&ndash; und es
-kam auch wirklich wieder so, daß man sich nur vergeblich gefreut
-hatte. Aber auch aus diesem blinden Lärm ward mir
-ein rührendes Erlebnis. Heute predigte ich von der Notwendigkeit
-einer beständigen inneren Wandlung, daß man
-Kraft gewinne, in allen Kämpfen gleich einem starken und
-geschmeidigen Metall geschmiedet zu werden, und nicht dem
-Ton gleichwerde, der sich plattdrücken läßt, und wenn er
-trocken wird, noch die Spur des Fußes zeigt, der zuletzt auf
-ihn trat. Und wie ich so redete, ließ ich mich zu einer Improvisation
-hinreißen und wies das Volk auf Pizonskij hin,<span class="pagenum"><a id="Seite_43">[43]</a></span>
-welcher an der Tür stand. Zwar nannte ich nicht seinen
-Namen, aber ich redete von ihm als von einem, der sich
-in unserer Mitte befinde, der zu uns gekommen sei nackt und
-bloß und von allen Narren ob seiner Armut verspottet, der
-aber doch nicht nur selbst nicht zugrunde gegangen sei,
-sondern auch das Größte getan habe, was ein Mensch tun
-könne, da er unbefiederte Vöglein gerettet und aufgezogen
-habe. Ich sprach davon, wie süß das sei, den wehrlosen Leib
-der Kleinen zu wärmen und in ihre Seelen die Saat des
-Guten zu streuen. Als ich das ausgesprochen hatte, fühlte
-ich meine Wimpern von Tränen feucht und sah, daß auch
-viele von den Zuhörern ihre Augen trockneten und jenen
-suchten, den meine Seele meinte, Kotin den Bettler, Kotin
-den Ernährer der Waisen. Und als ich merkte, daß er nicht
-mehr da war, denn er war demütig hinausgegangen, weil
-er meine Andeutung verstanden hatte, da ergriff mich eine
-gewisse Beklemmung, daß ich ihn durch mein Lob verwirrt
-hatte, und ich sprach: »Er weilt nicht mehr unter uns, liebe
-Brüder! Denn er bedarf dieses meines schwachen Wortes
-nicht, weil das Wort der Liebe längst schon mit dem Flammenfinger
-Gottes in sein demütiges Herz geschrieben ist.
-Ich bitte euch,« sprach ich und neigte mich tief, &ndash;&nbsp;&ndash; »ihr
-alle, die ihr hier versammelt seid, ehrenwerte und angesehene
-Mitbürger, vergebt mir, daß ich in meiner Ansprache euch
-keinen hochberühmten Feldherrn als Muster der Kraft und
-als Beispiel zur Nachahmung hingestellt habe, sondern einen
-von den Geringen, und wenn euch das ärgern sollte, so legt das
-meiner Armut zur Last, denn euer sündiger Pfarrer Sawelij
-hat oft, wenn er auf diesen Geringen schaute, gefühlt, daß
-er neben ihm kein Priester des höchsten Gottes sei, sondern
-in diesem Gewande, das meine Unwürde verhüllt, nichts
-als ein übertünchter Sarg. Amen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_44">[44]</a></span></p>
-
-<p>Ich weiß nicht, was in diesen meinen schlichten Worten,
-die ich ganz <em class="antiqua">ex promptu</em> gesprochen hatte, Weises und
-Schönes enthalten war. Ich muß aber sagen, daß meine
-andächtige Gemeinde etwas dieser Art herausgehört
-hatte, und als ich bei der Entlassung meine Hand den
-einzelnen darreichte, fiel mehr denn eine Träne darauf.
-Doch das ist noch nicht alles: das Wichtigste sollte für mich
-erst kommen.</p>
-
-<p>Gewissermaßen als Belohnung für mein aufrichtiges
-Wort über das Glück, nicht bloß für die eigenen, sondern
-auch für fremde Kinder sorgen zu können, hat der Allgegenwärtige
-und Allwaltende auch meine Unwürdigkeit in seine
-Vaterhand genommen. Er hat mir heute den ganzen wahren
-Wert des Schatzes offenbar gemacht, den ich dank seiner
-unermeßlichen Milde besitze. Eben komme ich mit fünf nach
-der Messe geweihten Äpfeln heim, da erwartet mich an der
-Schwelle eine alte gute Bekannte: meine Pfarrerin Natalia
-Nikolajewna. Sie war während des Schlußgesanges leise
-hinausgeschlichen und hatte mir daheim nach Gewohnheit
-den Tee nebst einem leichten Frühstück bereitet. Nun steht
-sie kerzengerade auf der Schwelle, nicht mit leeren Händen,
-sondern mit einem Strauß von Wasserlilien und Gartenlevkojen.
-»Nun, bist du nicht ein hinterlistiges Weib, Natalia
-Nikolajewna!« sage ich, der ihr sonst nie Hinterlist vorgeworfen.
-Aber sie begriff, daß es im Scherz gesagt war,
-umhalste mich und begann leise zu weinen. Woher diese
-Tränen? &ndash; Das ist ihr Geheimnis, allein für mich ist dieses
-dein Geheimnis nicht geheimnisvoll, liebes Weib, daß du
-nicht weißt, wie es seinen Gatten trösten soll, und das ihm
-den Trost Israels, den kleinen Benjamin, nicht schenken
-darf. Ja, nur mit Wasserlilien und Gartenlevkojen begrüßte
-mich an diesem Tage ihr in Liebe und Wohlwollen weit aufgetanes<span class="pagenum"><a id="Seite_45">[45]</a></span>
-Herz! In stiller Bekümmernis setzten wir zwei Kinderlosen
-uns an den Teetisch, doch nicht der Tee, sondern unsere
-Tränen wurden uns zum Trank; und Hand in Hand sanken
-wir nieder vor dem Bilde des Heilandes und lange und heiß
-beteten wir zu ihm um den Trost Israels. Natascha entdeckte
-mir später, daß sie gleichsam eine Engelstimme vernommen
-habe, und ob ich gleich verstand, daß dieses nur eine
-Frucht ihrer Phantasie gewesen, so wurden wir doch beide
-froh wie die Kindlein. Ich muß aber bemerken, daß auch in
-dieser Stimmung Natalia Nikolajewna mich, den rohen Mann,
-an Findigkeit des Geistes und an Würde der erhabenen Gefühle
-weit übertraf.</p>
-
-<p>»Sage mir, Vater Sawelij,« fragte sie lieblich kosend,
-»sage mir, Lieber, hast du nicht irgendeinmal, ehe du mich
-gefunden, gegen das Gebot der Keuschheit gesündigt?«</p>
-
-<p>Eine solche Frage, muß ich gestehen, machte mich äußerst
-verlegen, denn ich begriff plötzlich, warum meine unartige
-Gattin etwas ihr so wenig Geziemendes erfahren wollte.</p>
-
-<p>Aber mit ihrer ganzen ausgezeichneten Bescheidenheit und
-all jener weiblichen Koketterie, die sie auch als Pfarrersfrau
-von der Natur geerbt hat, begann sie mich mit Erinnerungen
-aus meiner verflossenen Jugendzeit zu locken, und wies darauf
-hin, daß das, was sie angedeutet, sehr leicht hätte geschehen
-können, denn ich sei damals so schmuck gewesen, daß
-alle Mädchen, nicht nur aus geistlichen, sondern auch aus
-weltlichen Häusern, mir nachgeseufzt hätten, als ich in die
-Stadt Fatesh gekommen sei, um bei ihrem Vater um sie
-anzuhalten. So erheiternd das auch war, so suchte ich doch
-alle ihre Zweifel über meine Jugend zu zerstreuen, was mir
-auch nicht schwer fiel, denn ich brauchte nur die reine Wahrheit
-zu sagen. Allein je eifriger ich sie beruhigte, desto betrübter
-ward sie, und ich konnte nicht fassen, warum meine<span class="pagenum"><a id="Seite_46">[46]</a></span>
-Rechtfertigung sie gar nicht erfreute, sondern nur immer trauriger
-machte, bis sie endlich sagte:</p>
-
-<p>»Denke nach, Vater Sawelij, vielleicht, wenn du doch
-leichtsinnig gewesen … gibt es irgendwo noch ein Waisenkind&nbsp;…«</p>
-
-<p>Nun erst verstand ich, was sie klar auszusprechen sich geschämt
-hatte: sie will mein illegitimes Kind ausfindig machen,
-das gar nicht vorhanden ist! Welche Herzensgüte! Wie
-ein Stier, den die Bremse gestochen hat, riß ich mich von meinem
-Platze, stürzte nach dem Fenster und richtete meine Blicke
-in die himmlische Ferne hinaus, daß nur der Himmel mich
-sehe, mich, den sein Weib so durch seine Güte und Sorglichkeit
-beschämt hatte. Sie aber, meine Lilien- und Levkojenfreundin,
-meine weiße, keusche, süß duftende Rose, mit
-leichten Schritten schlich sie mir nach und legte ihre kleinen
-Pfötchen mir auf die Schultern und sprach:</p>
-
-<p>»Denke nach, Liebster: vielleicht ist irgendwo ein Vöglein
-vorhanden, und ist es so, dann lasse uns gehen und es holen!«</p>
-
-<p>Nicht nur aufsuchen will sie das Kind, &ndash; sie hat es schon
-lieb, sie bemitleidet es wie ein noch unbefiedertes Vöglein!
-Das ward mir zu viel, ich biß mich in den Bart, fiel vor ihr
-in die Knie, neigte mich tief zur Erde und brach in jenes
-Schluchzen aus, das keiner auf Erden zu schildern vermag.
-Und in Wahrheit, saget mir, alle Zeiten und Völker, &ndash; wo
-außer in unserem heiligen Rußland, werden Frauen geboren,
-wie diese Tugend? Wer hat sie das alles gelehrt? Wenn
-nicht Du, allgütiger Gott, der Du sie deinem unwürdigen
-Knecht gegeben hast, daß er Deine Größe und Deine Güte
-näher fühlen solle!«</p>
-
-<p>Hier war im Tagebuch des Vaters Sawelij fast eine ganze
-Seite mit Tinte begossen und unter dem Fleck standen die
-Zeilen:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_47">[47]</a></span></p>
-
-<p>»Weder will ich diesen Fleck entfernen noch eine gewisse
-Ungeschicklichkeit und Monotonie des Ausdrucks, die ich in
-den letzten Zeilen finde, verbessern; mag alles so bleiben,
-denn alles, was dieser Augenblick mir geschenkt hat, ist mir
-in seiner gegenwärtigen Gestalt teuer. Meine Pfarrerin
-konnte heut von ihren Schelmereien nicht lassen, obgleich
-es schon auf Mitternacht geht und sie gewöhnlich um diese
-Zeit schon zu schlafen pflegt. Ich aber ziehe es vor, mich in
-der Stille der Nacht noch an einem passenden Buch zu erquicken,
-oder auch meine Memorabilien aufzuzeichnen, und
-oft, wenn ich etwas geschrieben habe, trete ich an ihr Lager
-und küsse die Schlafende, und wenn mich etwas betrübt
-hat, so schöpfe ich aus diesem Kusse neuen Mut und neue
-Kraft, und schlummere dann friedlich ein. Heut aber ist es
-anders gegangen. Nach diesem Tage, der mir eine solche
-Menge verschiedenartigster Empfindungen gebracht hat, war
-ich so in die Schilderung alles dessen, was auf den vorhergehenden
-Blättern geschrieben steht, vertieft, daß ich mein
-arges Weiblein gleichsam in meiner Seele selbst fühlte, und
-da meine Seele sie küßte, dachte ich nicht daran, an ihr Bett
-zu treten und sie zu küssen. Sie aber, die Feine und Arglistige,
-hatte diese meine Unterlassung wohl bemerkt und
-machte sie in unglaublich eigener Weise gut: vor einer Stunde
-kam sie zu mir, legte mir ein reines Schnupftuch auf den
-Tisch, gab mir einen Kuß und ging dann, scheinbar ganz ernst,
-zur Ruhe. Aber welch unfaßbare weibliche Schlauheit muß
-ich an ihr entdecken! Wie ich so ganz ernst dasitze und schreibe,
-sehe ich, daß mein Tuch sich scheinbar bewegt und auf den
-Boden fällt. Ich bückte mich, legte es wieder auf den Tisch
-und schrieb weiter; aber das Tuch fiel wieder auf den Boden.
-Ich nahm den Flüchtling und fesselte ihn, indem ich das
-Tintenfaß auf ihn stellte, aber er entwich von neuem und<span class="pagenum"><a id="Seite_48">[48]</a></span>
-riß sogar das Tintenfaß mit, welches umfiel und meinen
-Kalender mit diesem mächtigen Fleck zierte. Was sollte nun
-diese Leinwandflucht bedeuten? Sie bedeutet, daß meine
-Pfarrerin eine ausgemachte Kokette ist, und zwar eine von
-ganz seltener Art, denn sie kokettiert nicht mit andern guten
-Leuten, sondern mit dem eigenen Ehgemahl. Sie hatte an
-das Tuch, das sie mir gebracht, heimlich einen recht langen
-Faden befestigt, durch die Türritze bis zu ihrem Bette gezogen,
-und während sie ganz still daliegt, zupft sie scherzend
-an dem Faden, so daß mir das Tuch aus der Hand gleitet.
-Und ich dickfelliger Kerl entdeckte dies nur, weil bei dem letzten
-Fallen des Tuches hinter der Tür ein leises fröhliches Lachen
-ertönte, und ich ihre nackten Füßchen stampfen hörte!«</p>
-
-<p>»7. August. Die ganze vorige Nacht habe ich vor Glück
-nicht schlafen können, und ich lüge nicht, wenn ich hinzufüge,
-daß auch Natascha an dieser Nachtwache nicht unbeteiligt
-war. Wie die Verliebten vor St. Peter auf die Sonne
-warten, so saßen wir im sechsten Jahr unserer Ehe im Fenster
-und harrten des Sonnenaufgangs. Meine Liebste gestand
-mir, daß sie oft nicht schlafe, wenn ich schreibe, und sich nur
-schlafend stelle. Auch manches andere gestand sie mir noch; so,
-daß sie gestern in der Kirche, als sie meiner Predigt zuhörte, die
-ihr ganz besonders gefallen habe, das Gelübde abgelegt habe,
-zu Fuß nach Kiew zu pilgern, sobald sie sich gesegneten Leibes
-fühle. Ich billigte das nicht, denn eine solche Wanderung
-ist den Kräften einer Schwangeren gar nicht angemessen;
-ich erlaubte ihr aber doch, das Gelübde zu erfüllen, denn
-bei einer so großen Freude würde ich selbstverständlich auch
-mitgehen und wenn sie ermüdet, würde ich sie tragen. Wir
-machten gleich einen Versuch. Ich trug sie lange auf meinen
-Armen durch den Garten und träumte, sie wäre schon guter
-Hoffnung und ich behütete sie, daß ihr auf der Wanderung<span class="pagenum"><a id="Seite_49">[49]</a></span>
-kein Unheil zustoße. Und so sehr gewann dieser Sehnsuchtstraum
-Gewalt über mich, daß ich, als Natascha sich scherzend
-auf die Schaukel setzte, welche das kleine Mädchen der Köchin
-sich an einem Apfelbaum befestigt hatte, diese Schaukel herunternahm
-und sie ganz hoch in den Baum warf, damit in
-Zukunft nichts dergleichen geschehe, worüber Natascha sehr
-lachte. Allein, obgleich auch mein Leben nicht reich ist an
-Dingen, die sorgfältig geheimgehalten werden müßten, so
-ist es dennoch gut, daß der Wirt unseres Hauses seinen
-Garten mit einem festen Zaun umgeben hat, und Gott
-längs diesem Zaun die Himbeersträucher recht dicht hat wachsen
-lassen, denn sonst hätte am Ende dieser oder jener gesagt,
-daß es keine Sünde wäre, den Popen Sawelij einmal auch
-einen Hansnarr zu nennen.«</p>
-
-<p>»9. August. Ich notiere eine höchst erheiternde Begebenheit,
-wie meine Gattin heut mit dem Sohne des Diakon,
-einem Seminaristen der Rhetorikklasse, in richtigen Streit
-geriet. Das war ein Kasus und eine Komödie zugleich. Sie
-stritten darüber, wer der klügste Mann auf Erden gewesen.
-Der Rhetor sagte: Salomo, meine Pfarrerin aber behauptet,
-ich sei's, und ich muß zugeben, daß diesesmal der üppige König
-von Zion einen weit weniger standhaften Advokaten fand,
-als ich. O, wie hab' ich gelacht! Was nicht alles in dieser
-Welt passieren kann! Ich hörte das alles aus dem Schlafzimmer,
-wo ich meine Nachmittagsruhe hielt; als ich erwacht
-war, wagte ich die Disputation nicht mehr zu unterbrechen,
-und die zwei redeten mächtig aufeinander ein. Der Rhetor,
-der für die Weisheit Salomonis eintrat, berief sich auf die
-Worte der Schrift, daß »Salomo weiser war, denn alle
-Menschen«, meine Eheliebste aber schlug ihn mit folgendem
-Argument: »Was reibt Ihr mir Euer ›also‹ und ›denn‹ und
-›sintemal‹ unter die Nase? All diese ›denn‹ und ›also‹ haben<span class="pagenum"><a id="Seite_50">[50]</a></span>
-gar keine Bedeutung, weil das alles geschrieben wurde, bevor
-der Vater Sawelij geboren war.« Jetzt mengte sich in diesen
-Diskurs noch der Pfarrer von St. Nikita, Vater Zacharia
-Benefaktow, hinein, der dem ganzen Streite zugehört hatte,
-und ihn zum Schluß brachte, indem er meiner Gattin recht
-gab. Es sei richtig, sagte er, &ndash; will heißen, richtig in dem
-Sinne, daß ich damals noch nicht auf der Welt war. So
-behielt ein jeder von diesen drei Kritikern recht. Ich allein,
-dem alle ihre kritischen Meinungen zur Antikritik vorgelegt
-wurden, blieb im Unrecht: vorerst betrübte ich meine Natascha,
-indem ich ihre Meinung, ich sei der klügste von allen,
-verwarf, und auf ihre Frage, wer denn klüger sei als ich,
-antwortete, sie selber sei es. Dem ward verzweifelter Widerstand
-entgegengesetzt, wie er sich nur gegen die Wahrheit
-richten kann: »Die Klugen,« &ndash; sagte sie, &ndash; »können über
-alle Dinge urteilen, ich aber kann das gar nicht und diskutiere
-niemals. Woher kommt das?« Da faßte ich sie leise
-an ihrem kleinen Näschen und erwiderte: »Du mischst dich
-darum nicht gerne in die Diskussion, weil du statt einer widerspenstigen
-Nase nur dieses kleine sanftmütige Knöpfchen hast.«
-Sie verstand wohl, was ich mit diesem Scherz sagen wollte,
-&ndash; nämlich ihre Herzensmilde ins rechte Licht rücken &ndash; und
-sie suchte nun es zu widerlegen, indem sie daran erinnerte,
-wie sie einmal mit der Postmeistersfrau handgemein geworden
-sei, um ihr ein Dienstmädchen zu entreißen, das jene
-unmenschlich hart strafen wollte.«</p>
-
-<p>»15. August, Mariä Himmelfahrt. Während ich mich so
-meiner Gattin freute, hatte ich gar nicht bemerkt, daß meine
-Predigt am Verklärungstage, von der Natascha so erbaut gewesen,
-auf andere Leute anders gewirkt hatte, und daß ich
-eine mir höchst unerwünschte Mißstimmung unter einigen
-Leuten in der Stadt hervorgerufen hatte. Meine andächtigen<span class="pagenum"><a id="Seite_51">[51]</a></span>
-Zuhörer, natürlich nicht alle, aber einige, und unter
-diesen in erster Linie die Postmeisterin Timonowa, fühlen
-sich gekränkt, daß ich sie durch meine Anspielung auf Pizonskij
-herabgesetzt habe. Indessen, das sind alles nur Torheiten
-müßiger und unkluger Geister. Nach und nach wird
-das an dem Selbstgefühl der hohen Herrschaften wieder abtrocknen,
-wie die Wunden am Fell des Hundes.«</p>
-
-<p>»3. September. Ich war in einem großen Irrtum befangen.
-Die Angelegenheit ist keineswegs erledigt. Aus dem
-Konsistorium kam eine Anfrage, ob ich wirklich eine Predigt
-mit Hinweis auf eine lebende Person improvisiert hätte?
-Ach Gott, was für eine Angst hat man bei uns vor allem
-Lebendigen! Nun, ich habe denn auch geantwortet, ich hätte
-dieses und das gesagt. Ich meine, man wird mich dafür
-nicht hängen und mir den Kopf nicht abhauen, &ndash; und doch
-ist mir gegen meinen Willen unbehaglich zumute, und meine
-Ruhe ist hin.«</p>
-
-<p>»20. Oktober. Gewiß können sie einem den Kopf nicht
-abschlagen, aber den Mund können sie einem stopfen, und das
-haben sie denn auch nicht ermangelt zu tun. Am 15. September
-wurde ich zur Rechenschaft gezogen. Schon diese Hast
-ließ wenig Gutes vermuten, denn mit dem Guten haben's
-die Leute bei uns nicht eilig, am allerwenigsten die Machthaber.
-&ndash; Trotzdem machte ich mich voller Mut auf den
-Weg. Dieser wurde zuerst dadurch abgekühlt, daß ich 36 Tage
-ohne Bescheid blieb, und dann der Befehl kam, hinfort alles,
-was ich zu sagen gedenke, vorerst dem Zensor Troadij vorzulegen.
-Das wird niemals geschehen, lieber will ich stumm
-sein wie ein Fisch. Vergib mir meinen Hochmut, Allwalter,
-aber ich kann das Amt des Predigers nicht mit kalter Leidenschaftslosigkeit
-ausüben. Ich fühle mitunter, wie etwas
-über mich kommt, wenn meine geliebte Gabe wirken will.<span class="pagenum"><a id="Seite_52">[52]</a></span>
-Dann erfaßt mich eine, ich kann wohl sagen heilige Unruhe;
-meine Seele bebt und glüht und die Worte fallen wie feurige
-Kohlen von meinen Lippen. Nein, dann trägt meine Seele
-ihr eigenes Zensurgesetz in sich! … Und sie verlangen, ich
-soll an Stelle der lebendigen Rede, die vom Herzen zum
-Herzen geht, rhetorische Übungen hervorbringen!</p>
-
-<p>Nein! lieber mögt ihr euch schließen, ihr Lippen, die ihr
-nicht zu schmeicheln wißt, lieber sollst du schweigen, mein
-schlichtes Wort! Gezwungen predigen mag ich nicht.«</p>
-
-<p>»23. November. Ich kann wahrhaftig nicht behaupten,
-daß mein Leben aller Abwechslung entbehrt. Im Gegenteil,
-es geht alles bunt durcheinander, so daß die Spannung
-keinen Augenblick nachläßt. Achtzehn Werst von unserer
-Stadt, in dem großen Kirchdorf Plodomasowo, lebt die Besitzerin
-dieses Dorfes, die Bojarin Marfa Andrejewna Plodomasowa.
-Dieser Knüppel ist von so altem Holz, daß man
-schon längst keinerlei Lebenszeichen an ihm bemerkt hat; man
-weiß nur aus alten Erinnerungen, daß sie eine Frau von
-nicht geringem Geiste war. An die zwanzig Jahre schon
-kann kein Fernerstehender sich rühmen, die Bojarin Plodomasowa
-gesehen zu haben.</p>
-
-<p>Vorgestern, kurz vor zwölf Uhr mittags, war ich unsagbar
-erstaunt, als ich eine große herrschaftliche Droschke, mit drei
-Füchsen bespannt, vor meinem Hause vorfahren sah. Im
-Wagen saß ein absonderlich kleines Männlein, in einer haarigen
-Filzmütze mit langem Schirm und in einem braunen
-Mantel, den eine Menge übereinanderliegender Kapuzen und
-Pelerinen zierten.</p>
-
-<p>Was, dachte ich, kann das für eine seltsame Person sein,
-und kommt sie auch wirklich zu mir oder hat sie nur irrtümlicherweise
-den Weg zu mir genommen? Diese meine Zweifel
-wurden aber sehr bald durch jene geheimnisvolle Person<span class="pagenum"><a id="Seite_53">[53]</a></span>
-selbst gelöst, die in mein Wohnzimmer trat, mit jenem überaus
-feinen Anstand, welcher mir stets so wohlgefiel. Vorerst
-bat der Gast um meinen Segen, dann machte er mit seinem
-ausnehmend kleinen Füßchen einen Kratzfuß, trat mit einer
-Verbeugung zwei Schritte zurück und sprach:</p>
-
-<p>»Meine Herrin, Marfa Andrejewna Plodomasowa, haben
-mir einen Gruß an Euch aufgetragen, Vater Sawelij, und
-bitten Euch, alsbald mit mir zu ihr zu kommen.«</p>
-
-<p>»Darf ich nun meinerseits,« sprach ich, »erfahren, mein
-Herr, aus wessen Munde ich das alles höre?«</p>
-
-<p>»Ich bin,« erwiderte der Kleine, »ein Leibeigener Ihrer
-Exzellenz, der gnädigen Frau Marfa Andrejewna, und nenne
-mich Nikolai Afanasjew.«</p>
-
-<p>Nachdem dieses winzige Persönchen sich mir so vorgestellt
-hatte, erinnerte es mich nochmals daran, daß seine Herrin
-mich erwarte.</p>
-
-<p>Während ich mich im Nebenzimmer ankleidete, knüpfte
-dieser interessante Zwerg eine Unterhaltung mit Natalia
-Nikolajewna an und brachte sie durch seine Reden in helles
-Entzücken. Und wahrlich, es liegt in den Worten und in
-der ganzen Redeweise dieses winzigen Greises etwas unaussprechlich
-Liebliches. Dazu kommt noch sein feiner Anstand
-und eine große Freundlichkeit. Dem Dienstmädchen, das
-ihm ein Glas Wasser brachte, legte er einen Zwanziger auf
-das Tablett, und als sie zögerte, das Geld zu nehmen,
-wurde er selbst verlegen und sagte: »Nein, meine Beste, tun
-Sie das mir nicht an, es ist das nun mal so meine Gewohnheit.«
-Und als meine Pfarrerin zu mir hinausgegangen war,
-um mir die Haare zu salben, nahm er das schmutzige Mädelchen
-der Köchin, das der Mutter nachgelaufen war, bei der
-Hand und sagte: »Hör mal, wie die Entchen da unten am
-Flusse schwatzen. Die Ente, die feine Dame, sagt zum Enterich,<span class="pagenum"><a id="Seite_54">[54]</a></span>
-dem Kavalier: Kauf mir 'ne Kappe, kauf mir 'ne Kappe!
-&ndash; und der Enterich antwortet: Hab schon, hab schon, hab
-schon!« Das Kind lachte laut, und auch ich konnte mich bei
-dieser Auslegung des Entengeschnatters eines Lächelns
-nicht erwehren. Dessen hätte sich auch der Herr Lafontaine
-oder unser Iwan Krylow nicht zu schämen brauchen.</p>
-
-<p>Die Fahrt verlief mir im Gespräch mit diesem wunderbaren
-Zwerge so schnell, daß ich kaum etwas vom Wege
-sah. So viel Verstand, Reinheit und Gesundheit fand ich
-in allen seinen Reden.</p>
-
-<p>Nun aber kommt die Hauptsache: die Stunde der Begegnung
-mit der einsamen Bojarin nahte.</p>
-
-<p>Es wundert mich nicht wenig, daß ich in der Erwartung,
-obschon ich von Natur keineswegs schüchtern bin,
-doch so etwas wie eine kleine Verzagtheit verspürte. Nikolai
-Afanasjewitsch führte mich durch eine Reihe Gemächer, deren
-Prunk und äußerste Sauberkeit mich staunen machten, und
-blieb endlich in einem runden Zimmer mit zwei Reihen Fenstern
-stehen, deren Wölbungen mit bunten Scheiben geziert
-waren. Hier fanden wir eine alte Frau, die nur um ein
-Geringes größer war als Nikolai. Als wir eintraten, stand
-sie da und drehte den Griff einer großen Orgel. Fast hätte
-ich sie für die Herrin selbst gehalten und ihr eine Verbeugung
-gemacht. Aber als sie uns erblickte, &ndash; dank der weichen
-Teppiche, die in allen Gemächern den Fußboden bedeckten,
-waren wir unhörbar eingetreten &ndash; verstummte sofort ihre
-Musik, und mit einer etwas tierischen Hast eilte sie in den
-Nebenraum, dessen Eingang ein großer Vorhang aus weißem
-Atlasstoff schloß, der mit allerlei chinesischen Figürlein in
-farbiger Seide bestickt war.</p>
-
-<p>Diese Frauensperson, welche mit solcher Hast hinter
-dem Vorhang verschwand, war, wie ich später erfuhr,<span class="pagenum"><a id="Seite_55">[55]</a></span>
-die leibliche Schwester des Nikolai und ebenfalls eine
-Zwergin. Es fehlte ihr aber die Liebenswürdigkeit, die
-aus der ganzen äußern Erscheinung ihres sanften Bruders
-sprach.</p>
-
-<p>Nikolai folgte seiner Schwester hinter den Vorhang, nachdem
-er mich gebeten hatte, auf einem Sessel Platz zu nehmen.
-Während der halben Stunde, welche ich warten mußte,
-empfand ich eine gewisse Bitterkeit im Munde, die mir noch
-aus meiner Kindheit, von den Schulprüfungen her, so gut
-im Gedächtnis geblieben war. Aber auch das nahm ein
-Ende. Hinter dem Vorhang vernahm ich die Worte: »Nun
-zeig mir mal den klugen Popen, der, wie ich höre, gewohnt
-ist, die Wahrheit zu reden.«</p>
-
-<p>Wie auf den Wink eines Zauberers, an unsichtbaren Schnüren
-gezogen, teilte sich der Vorhang plötzlich, und die Bojarin
-Plodomasowa stand vor mir. Ihre Stimme, die ich zuvor
-gehört hatte, widerlegte schon meine Meinung von ihrer
-Hinfälligkeit, und ihre Erscheinung tat es noch mehr. In
-einer Fülle der Kraft, die, schien es, nie versiegen konnte,
-stand die Bojarin vor mir. Von Wuchs nicht groß und auch
-nicht besonders üppig, scheint sie gleichsam über allem zu herrschen.
-Auf ihrem Antlitz liegt der Ausdruck einer großen
-Strenge und Wahrhaftigkeit, und, nach den Zügen zu schließen,
-muß es einstmals sehr schön gewesen sein. Ihr Gewand
-ist seltsam und zu der heutigen Zeit wenig passend, ein Halbrock
-aus hellem Tuch, darunter ein Sammetrock, grell orangegelb,
-und gelbe Stiefelchen auf hohen silbernen Absätzen.
-Um den Kopf windet sich mehrfach, wie bei einer Türkin,
-ein großer brauner Schal. In der Hand hält sie einen
-Stock mit einem Amethyst-Knopf. Zu ihrer Rechten stand
-Nikolai Afanasjewitsch, zur Linken Maria Afanasjewna,
-hinter ihr der Pfarrer der Dorfkirche, Vater Alexei, ein entlassener<span class="pagenum"><a id="Seite_56">[56]</a></span>
-Leibeigener, der auf ihre Anordnung zum Priester
-geweiht worden war.</p>
-
-<p>»Guten Tag,« sagte sie, ohne den Kopf auch nur im geringsten
-zu senken. »Es freut mich, daß ich dich zu sehen bekomme.«</p>
-
-<p>Ich erwiderte ihren Gruß mit einer Verbeugung, welche
-recht ungeschickt war, glaube ich.</p>
-
-<p>»Komm her und segne mich,« sagte sie.</p>
-
-<p>Ich trat zu ihr und segnete sie. Sie ergriff meine Hand,
-um sie zu küssen, was ich auf jede Weise zu verhindern suchte.</p>
-
-<p>»Zieh deine Hand nicht weg,« sagte sie, als sie es bemerkte.
-»Ich huldige nicht dir, sondern deinem Amte. Setze
-dich jetzt, und wir wollen ein wenig miteinander bekannt
-werden.«</p>
-
-<p>Wir setzten uns, &ndash; das heißt sie, ich und der Vater Alexei.
-Die Zwerge stellten sich zu beiden Seiten der Herrin auf.</p>
-
-<p>»Vater Alexei hat mir gesagt, dir sei die Gabe der Rede
-und ein klarer Verstand verliehen. Er selber versteht nichts
-davon, er hat's aber wohl von den Leuten gehört. Ich habe
-lange schon keine klugen Leute gesehen, und da wollt' ich dich
-einmal zu meiner Zerstreuung anschauen. Sei mir alten
-Frau deswegen nicht böse.«</p>
-
-<p>»Man hat dich hergeschickt,« fuhr sie fort, »die Altgläubigen
-zu bekehren?«</p>
-
-<p>»Ja,« erwiderte ich, »mit meiner Ernennung hierher war
-auch diese Absicht verbunden.«</p>
-
-<p>»Ich meine,« sagte sie, »es ist ein nutzloses Unterfangen.
-Den Dummen belehren und den Toten kurieren zu wollen
-ist eins des andern wert.«</p>
-
-<p>Ich weiß nicht mehr, in was für Worte ich meine Antwort,
-daß ich nicht alle Altgläubigen für dumm halte, kleidete.</p>
-
-<p>»Nun, wenn du sie für so klug hältst, &ndash; wie viele hast du
-schon auf den rechten Weg geleitet?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_57">[57]</a></span></p>
-
-<p>»Noch kann ich mich keiner Erfolge rühmen,« entgegnete
-ich, »aber das hat seine Gründe.«</p>
-
-<p>Sie: »Was für Gründe meinst du?«</p>
-
-<p>Ich: »Man behandelt sie nicht in der entsprechenden Weise,
-und das Übel wächst infolge des Wankelmuts, den sie in
-der orthodoxen Gemeinde und auch bei der Geistlichkeit selbst
-beobachten.«</p>
-
-<p>Sie: »Du sagst ›Übel‹. Was ist denn an ihnen so Übels?
-Harmlose Narren vor dem Herrn sind sie, deren ganze Sünde
-darin besteht, daß sie zuviel Bücher gelesen haben.«</p>
-
-<p>Ich: »Allein, der rechtgläubige Altar leidet unter solcher
-Spaltung.«</p>
-
-<p>Sie: »Ihr solltet diesem Altar treuer dienen und ihn nicht
-zum Kramladen machen, dann würde keiner von euch abfallen.
-Ihr handelt ja aber alle mit dem Heil, wie andere
-Leute mit Tuch.«</p>
-
-<p>Ich schwieg.</p>
-
-<p>Sie: »Bist du verheiratet oder Witwer?«</p>
-
-<p>Ich: »Verheiratet.«</p>
-
-<p>Sie: »Nun, wenn Gott dich mit Kindern segnet, dann
-nimm mich zur Taufpatin. Ich tu's gerne. Selber komm
-ich nicht zur Taufe, ich schicke meine Zwergin. Aber wenn
-du das Kind hierherbringst, will ich's selber halten.«</p>
-
-<p>Ich dankte und fragte sie:</p>
-
-<p>»Eure Exzellenz haben Kinder wohl gerne?«</p>
-
-<p>»Welcher gescheite Mensch hat sie denn nicht lieb? Ihrer
-ist das Reich Gottes.«</p>
-
-<p>»Exzellenz leben schon lange allein?«</p>
-
-<p>Sie: »Ganz allein, sehr, sehr lange schon.« Und sie seufzte.</p>
-
-<p>Ich: »Die Einsamkeit ist oft sehr schwer zu tragen.«</p>
-
-<p>Sie: »Bist du denn nicht einsam?«</p>
-
-<p>Ich: »Wie kann ich einsam sein, wenn ich eine Frau habe?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_58">[58]</a></span></p>
-
-<p>Sie: »Ja, versteht denn deine Frau alles, was dich, als
-Mann von Verstand, quälen und betrüben kann?«</p>
-
-<p>Ich: »Meine Frau macht mich glücklich und ich liebe sie.«</p>
-
-<p>Sie: »Du liebst sie? Ja, aber du liebst sie mit dem Herzen,
-und mit den Gedanken deiner Seele bist du doch einsam.
-Bedaure mich nicht, daß ich so einsam bin: jeder, der in
-seinem Hause über die Nase seines Bruders hinaussieht,
-ist einsam mitten unter den Seinigen. Ich habe auch einen
-Sohn, aber es sind bald drei Jahre, daß ich ihn nicht mehr
-gesehen habe. Es ist ihm wohl zu langweilig in meiner Gesellschaft.«</p>
-
-<p>Ich: »Wo befindet sich Ihr Herr Sohn?«</p>
-
-<p>Sie: »In Polen. Er ist Regimentskommandeur.«</p>
-
-<p>Ich: »Es ist ein ruhmvolles Werk, die Feinde des Vaterlandes
-zu bezwingen.«</p>
-
-<p>Sie: »Ich weiß nicht, wieviel Ruhm uns das bringt,
-daß wir uns mit diesen Polacken immer noch herumschlagen.
-Meiner Ansicht nach zeugt das nur von unserer Schlamperei.«</p>
-
-<p>Ich: »Wir werden schon fertig, die Zeit kommt noch.«</p>
-
-<p>Sie: »Die kommt nie, weil sie schon vorüber ist. Wir
-haben immer so dagestanden wie die Schnepfe im Sumpf: der
-Schnabel ist zu lang, und der Schwanz ist zu lang. Ziehn
-wir den Schnabel raus, bleibt der Schwanz stecken; ziehn
-wir den Schwanz raus, steckt der Schnabel drin. Wir schaukeln
-hin und her, daß alle Narren ihre Freude dran haben:
-einmal kommen wir den Polen mit der Knute, und das
-andere Mal küssen wir ihren schlauen Polinnen die Händchen.
-Es ist eine Sünde und Schande, die Leute so zu verderben.«</p>
-
-<p>»Und doch,« sagte ich, »hält unsere Armee die Polen im
-Zaum, daß sie uns keinen Schaden zufügen können.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_59">[59]</a></span></p>
-
-<p>»Niemanden hält sie im Zaum,« antwortete sie, »und
-diese Polen wären uns gar nicht gefährlich, wenn wir uns
-gegenseitig nicht fressen wollten.«</p>
-
-<p>»Dieses Urteil Eurer Exzellenz,« meinte ich, »scheint mir
-doch etwas zu schroff.«</p>
-
-<p>Sie: »Die Wahrheit ist nie zu schroff.«</p>
-
-<p>»Sie erinnern sich doch gewiß noch des Jahres 1812,«
-bemerkte ich, »was für eine Einmütigkeit zeigte Rußland
-damals!«</p>
-
-<p>Sie: »Jawohl, ich erinnere mich sehr gut: ich selbst habe aus
-diesem Fenster zugesehen, wie unsere Kosaken meine Bauern
-prügelten und meine Speicher plünderten.«</p>
-
-<p>»Nun,« sagte ich, »so etwas kann ja vorgekommen sein,
-ich will die Kosaken keineswegs verteidigen, aber wir haben
-uns trotz allem heldenmütig behauptet gegen den Mann,
-vor dem ganz Europa im Staube lag.«</p>
-
-<p>Sie: »Ganz recht, weil der liebe Gott und der Frost uns
-zu Hilfe kamen, haben wir uns behauptet.«</p>
-
-<p>Dieses ebenso verächtliche als ungerechte Urteil machte auf
-mich einen so unangenehmen Eindruck, daß ich, ohne mein
-Unbehagen zu verbergen, erwiderte:</p>
-
-<p>»Glauben Exzellenz im Ernst, daß in Rußland einzig der
-Zufall regiert? Einmal mag's Zufall sein und noch einmal
-Zufall, aber beim dritten Male lassen Sie doch auch die Weisheit
-und den Heldenmut der Führer des Volkes gelten.«</p>
-
-<p>»Alles ist Zufall, mein Bester, und in allem, was mit
-diesem Reiche geschieht, sehe ich neben dem Willen Gottes
-bisher nichts als Zufälligkeiten. Hätten deine Altgläubigen
-den langen Peter umgebracht, so säßen wir heute noch auf
-unserm vielgerühmten Grund und Boden nicht als mächtiger
-Staat, sondern als so was, wie die Bulgaren in der
-Türkei, und würden diesen selben Polen die Hände küssen.<span class="pagenum"><a id="Seite_60">[60]</a></span>
-Eins nur gereicht uns zum Lobe: daß unser so viele sind.
-Es dauert lang, bis wir einander aufgefressen haben. Das
-ist uns eine gute Gewähr für die Zukunft.«</p>
-
-<p>»Das ist traurig,« sagte ich.</p>
-
-<p>»Laß dich's nicht bekümmern. Andere Länder bauen auf
-ihren Ruhm, unseres wird auch durch Schimpf stark. Aber
-nun haben wir genug geredet, ich bin schon müde geworden.
-Leb wohl. Und wenn was Schlimmes passiert, komm nur
-zu mir und beklage dich. Sieh nicht darauf, daß ich solch
-ein verschrumpfter Pilz bin. Der Pilz steht zwar im Wald,
-aber man weiß auch in der Stadt von ihm. Und wenn sie
-über dich herfallen, so freue dich drüber; wärst du ein Kriecher
-oder ein Dummkopf, so täten sie es nicht, sondern würden
-dich loben und den andern als Beispiel hinstellen.«</p>
-
-<p>Nachdem sie gesprochen, wandte sie sich zur Zwergin,
-welche während unseres ganzen Gespräches ein Paket in der
-Hand hielt, ließ es sich geben, reichte es mir und sagte:</p>
-
-<p>»Bring das in meinem Namen deiner Pfarrerin, es sind
-Korallen, die ich früher getragen, zwei Stück Stoff zu Kleidern,
-und Leinwand für den Hausgebrauch. Und für dich
-hab' ich hier einen Rubinring.«</p>
-
-<p>Dieses Geschenk machte mich bei aller schlichten Herzlichkeit,
-mit der es überreicht wurde, doch etwas verlegen, und
-während ich die Korallenketten, die Seidenstoffe und den hell
-leuchtenden Rubin betrachtete, sagte ich: »Exzellenz, ich bin
-Ihnen für diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr dankbar.
-Die Sachen sind aber so prächtig, und meine Gattin ist eine
-ganz schlichte Frau&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Nun,« unterbrach sie mich, »um so besser, wenn du eine
-einfache Frau hast; wo der Mann und die Frau alle beide die
-Hosen anhaben, da kommt nichts Gescheites heraus. Es
-ist immer das beste, wenn die Frau ihren Weiberrock anbehält,<span class="pagenum"><a id="Seite_61">[61]</a></span>
-&ndash; also mag sie sich aus dem da ein paar Röcke
-nähen.«</p>
-
-<p>Hiermit war unser Gespräch beendet und ich muß gestehen,
-diese Frau erfüllte mich mit großer Bewunderung. Was
-mich aber am meisten wundert, das ist meine Unsicherheit
-ihr gegenüber. Woher kam es, daß mir die Zunge am Gaumen
-kleben blieb, als wenn ich etwas zu fürchten hätte? Und
-wenn ich dann zu reden versuchte, so kam alles so armselig
-heraus. Sie aber lenkte das Gespräch ganz nach ihrer Laune,
-und gab ich mir Mühe, recht klug zu scheinen, damit ihre Enttäuschung
-nicht gar so groß sei, so achtete sie gar nicht darauf.
-Ihre Worte kamen scheinbar ganz unvorbereitet, sie schien's
-auf eine Prüfung meines Verstandes nicht abgesehen zu haben,
-&ndash; und doch kann ich sie nicht vergessen! Worin liegt diese
-ihre Gewalt? Ich glaube, in jener feinen Weltbildung, welche
-unsere geistlichen Erzieher verachten, ohne zu bedenken, daß sie
-uns dadurch der so sehr notwendigen Findigkeit und Gewandtheit
-im Verkehr mit Menschen der großen Welt berauben.</p>
-
-<p>Aber dieser Tag sollte damit noch nicht schließen. Es
-kam noch ein seltsames Erlebnis. Kaum hatte ich mich
-an der Freude meiner biedern Natascha über die Geschenke
-geweidet, da packte auch dieser ehrenwerte Zwerg Nikolai
-Afanasjewitsch seine Gaben aus. Zuerst überreichte er mir
-ein Paar gestrickte baumwollene Hosenträger, weiß mit roter
-Borte, und meiner Gattin ein Kopftüchlein aus zarter Kaninchenwolle.
-Während ich noch über die Seltsamkeit dieser neuen
-unerwarteten Gaben staunte, entnahm er seiner Tasche ein
-Paar wollener Strümpfe für unsere Dienstmagd Axinia, die
-eben den Samowar brachte. »Was ist denn das für ein Schenktag!«
-rief ich unwillkürlich aus, und wagte nicht, den Geber
-durch eine Ablehnung zu kränken. Er antwortete mir, es
-seien alles Arbeiten seiner eigenen Hand. »Da ich, dank<span class="pagenum"><a id="Seite_62">[62]</a></span>
-meiner Wohltäterin, nicht zu arbeiten brauche und nichts
-anderes gelernt habe, so beschäftige ich mich immer mit
-Stricken, um nicht müßig zu sein und die Freude zu haben,
-diesem und jenem etwas von meinen Erzeugnissen zu schenken.«
-Diese Herzenseinfalt gefiel mir so, daß ich den kleinen
-Mann umarmte und ihn mit Küssen fast erstickte.</p>
-
-<p>Werde ich meinen heutigen Bericht überhaupt je zu Ende
-bringen? Mit dem Weggang des Dieners der Bojarin Plodomasowa
-nahmen die Wunder des Tages immer noch kein
-Ende; denn als Axinia die Türe des Vorzimmers für die
-Nacht schließen wollte, entdeckte sie, daß am Kleiderständer
-etwas hing, was nicht uns zu gehören schien, und als Natascha
-und ich auf ihren Ruf hinauskamen, fanden wir:
-erstens einen dunkelbraunen Leibrock aus französischem <em class="antiqua">Gras-de-Naples</em>-Stoff,
-zweitens einen reichgestickten Kammgarn-Gürtel
-mit purpurroten Bändern, drittens eine Kutte aus
-kostbarem, grünem, unzerschnittenem Sammet, und viertens,
-in ein langes Stück Kaliko gewickelt, ein vollständiges Meßgewand.</p>
-
-<p>Wir waren alle ganz verblüfft über diesen Fund und wußten
-nicht, wie wir uns seine Herkunft erklären sollten. Da bemerkte
-Axinia als erste ein Kärtchen am Knopf des Kragens
-der Kutte befestigt, auf dem mit runder Schrift, sozusagen
-ägyptischen Stils, geschrieben stand: »Gedenke, mein Freund
-Vater Sawelij, in deinen Gebeten der Magd Gottes Marfa.«
-Wir wußten uns vor Erstaunen nicht zu lassen, aber was
-war zu tun? Indem wir das neue Meßgewand auf dem Tisch
-ausbreiteten, erlebten wir eine neue Überraschung. Als
-Natascha das Schultertuch auseinanderfaltet, fällt ein versiegeltes
-Kuvert mit meiner Adresse heraus, welches fünfhundert
-Rubel und einen winzigkleinen Zettel enthält, auf
-dem von derselben Hand geschrieben steht: »Damit das Los<span class="pagenum"><a id="Seite_63">[63]</a></span>
-deiner Familie im Fall eines Unglücks dich nicht beunruhige,
-wenn du vor dem Altar stehst, kaufe dir eine Kate und pflanze
-Kürbisse an. Dann wirst du ungestörter an den Ausbau des
-Gottesreiches denken können.«</p>
-
-<p>Wofür wird mir das zuteil? Warum denkt sie nicht so,
-wie der Konsistorialsekretär und der Schließer, daß es leichter
-sei, am Reiche Gottes zu bauen, wenn man nichts habe,
-auf dem man sein Haupt hinlege?</p>
-
-<p>Nun ist auch der Pope Sawelij nicht mehr heimatlos!
-Jetzt soll auch er sein Hüttlein haben. Aber ach! Es muß
-gesagt werden, dem Zufall verdankt er das!«</p>
-
-<p>»6. Dezember. Gestern brachte ich das von der Gutsherrin
-geschenkte Meßgewand in die Sakristei und heute amtierte
-ich darin. Es paßt mir ausgezeichnet. Sonst, wenn
-ich die Gewänder meines verstorbenen Vorgängers anlegen
-mußte, der von sehr kleiner Statur war, erschien ich langer
-Kerl nicht in aller Herrlichkeit der Kirche, sondern sah aus
-wie ein Sperling, dem man die Schwanzfedern ausgezupft
-hatte.«</p>
-
-<p>»9. Dezember. Sonderbar! Der Propst zieht mir ein
-schiefes Gesicht, aber da ich mir keiner Schuld ihm gegenüber
-bewußt bin, bin ich ganz ruhig.«</p>
-
-<p>»12. Dezember. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen
-mir und dem Propst. Weswegen? Wegen des Plodomasowschen
-Meßgewandes: es sei nicht in der vorschriftsmäßigen
-Weise nach der Kirche geschaffen worden, &ndash; und dann fügte
-er noch hinzu, es »gingen allerlei Gerüchte, daß Ihr noch
-etwas von ihr erhalten hättet«. Soll das etwa heißen, daß
-ich nicht alles, was der Kirche zukommt, abgeliefert habe,
-sondern etwas davon gestohlen habe?«</p>
-
-<p>»1. Januar. Segne das neue Jahr mit deiner Gnade,
-Herr, und den Popen Sawelij zu seiner neuen Fahrt in die<span class="pagenum"><a id="Seite_64">[64]</a></span>
-Gouvernementsstadt. Ich glaube, daß vor diesen Widersachern
-auch kein Weihwasser schützt.«</p>
-
-<p>»20. Januar. Diese Zeilen schreibe ich in der schmutzigsten
-Kammer des bischöflichen Hofes, im Seminarflügel. Dem
-Gouverneur ist mitgeteilt worden, daß mein Subdiakon Lukian
-den Schismatikern eines ihrer alten Psalmenbücher
-zurückgegeben hat, welches mit den andern bei der Aufhebung
-der Dejewschen Kapelle konfiszierten Büchern bei mir in Verwahrung
-war. Die Begebenheit ist wahr, ich hatte sie aber
-verheimlicht, erstens weil sie mir unwichtig dünkte, zweitens,
-weil ich den wahren Grund kannte: die Armut, die den
-Subdiakon Lukian soweit gebracht hatte. Aber diese Bagatelle
-wird mir nun als furchtbares Verbrechen angerechnet,
-ich bin unter Aufsicht gestellt und in die Seminarbrauerei
-geschickt worden, um Kwas zu brauen.«</p>
-
-<p>»9. April. Ich habe meine Zeit abgebüßt und bin zum
-häuslichen Herde zurückgekehrt. Tief rührten mich die Tränen
-meiner Frau, die sich bitter um mich gehärmt hat, aber noch
-mehr rührten mich die Tränen der Frau des Subdiakon
-Lukian. Von sich schwieg die gute Frau ganz und dankte
-nur mir, daß ich für ihren Mann gelitten. Den Lukian selbst
-hat man in ein entferntes Kloster verbannt, allerdings nur
-für ein Jahr. Die Frist ist so kurz, daß die Seinen nicht umzukommen
-brauchen, auch wenn sie nichts zu essen bekommen.
-Sie kommen so dem lieben Gott näher, wie die Herrn im
-Konsistorium behaupten.«</p>
-
-<p>»20. April. Der liebenswürdige Zwerg war wieder hier
-und teilte mir mit, Marfa Andrejewna hätte angeordnet,
-daß ich alljährlich dreimal &ndash; zu St. Nikolai im Sommer,
-im Winter und zu Epiphanias &ndash; aufgefordert werde, in
-der Kirche von Plodomasowo die Messe zu zelebrieren, wofür
-mir durch den Verwalter ein Gehalt von 150 Rubel, also<span class="pagenum"><a id="Seite_65">[65]</a></span>
-50 Rubel für jede Messe, abgezahlt werden solle. O diese
-Zufälle! Weiß Gott, ich werde bald anfangen, sie zu fürchten.«</p>
-
-<p>»15. August. Der Glöckner Jewticheitsch ist aus der Gouvernementsstadt
-zurückgekehrt und hat erzählt, zwischen dem
-Bischof und dem Gouverneur sei ein Zwist wegen einer gegenseitigen
-Visite ausgebrochen.«</p>
-
-<p>»2. Oktober. Das Gerücht vom Visitenstreit bestätigt sich.
-Der Gouverneur hat, wenn er an Staatsfeiertagen dem
-Gottesdienst im Dom beiwohnt, die Gewohnheit, sich dabei
-laut zu unterhalten. Da beschloß der Bischof, ihm dies
-abzugewöhnen und schickte seinen Stabträger zu seiner Exzellenz
-mit der Bitte, dieselben wollten sich doch anständiger
-betragen. Der Gouverneur nahm die Botschaft mit sehr
-hochfahrender Miene entgegen und fing nach kurzer Zeit
-wieder an, laut mit dem Gendarmenoberst zu sprechen. Diesmal
-aber unterbrach der Bischof die Liturgie und sagte vernehmlich:
-»Gut, Exzellenz, ich werde warten. Wenn Sie
-fertig sind, fahre ich fort.« Ich kann diese Handlungsweise
-des Bischofs nur billigen.«</p>
-
-<p>»8. November. Ich habe das Epigonation erhalten.
-Ich weiß nicht, wie ich zu dieser Auszeichnung komme. Soll
-ich es etwa dem Visitenstreit zuschreiben und dem Umstande,
-daß der Gouverneur mir nicht grün ist?«</p>
-
-<p>»6. Januar 1837. Wieder eine Neuigkeit! Der Bischof
-hat zu Neujahr die Tochter des Gouverneurs zurückgewiesen,
-als sie in Handschuhen zu ihm hintrat, um den Segen zu
-empfangen. »Zieh erst das Hundefell von deiner Hand,«
-sagte er ihr.«</p>
-
-<p>»17. März. Der Oberpfarrer von der Epiphaniaskirche
-kam nachts mit dem Venerabile von einem Kranken und wurde
-von einer Patrouille auf die Polizeiwache gebracht, &ndash; angeblich
-weil er betrunken war. Am nächsten Tage machte ihm der<span class="pagenum"><a id="Seite_66">[66]</a></span>
-Bischof einen Besuch im vollen Ornat. O du polackischer
-Kanzleivorsteher, dieses Stücklein kann dir teuer zu stehen
-kommen!«</p>
-
-<p>»18. Mai. Der Bischof ist in eine andere Diözese versetzt
-worden.«</p>
-
-<p>»16. August. Ich war beim neuen Bischof. Er scheint ein
-verständiger und charakterfester Mann zu sein. Wir sprachen
-über die Lage der Geistlichkeit und er befahl mir, einen Bericht
-darüber aufzusetzen. Er sagte, ich wäre ihm von seinem Vorgänger
-aufs beste empfohlen worden. Dank dir, armer,
-schmählich geschlagener Alter, für dein gutes Wort!«</p>
-
-<p>»25. Dezember. Ich weiß nicht, was ich von mir denken
-soll, wozu ich geboren und berufen bin. Meine Pfarrerin
-macht mir Vorwürfe, daß ich sogar am heutigen Weihnachtstage
-arbeite, aber es gibt für mich kein schöneres Vergnügen
-als diese Arbeit. Ich schreibe meinen Bericht über die Lage
-der Geistlichkeit mit einer Freude und einer Liebe, die ich
-gar nicht auszudrücken vermag. Betitelt habe ich die Schrift:
-»Über die Lage der orthodoxen Geistlichkeit und über die
-Mittel, durch welche sie zum Nutzen der Kirche und des
-Staates gebessert werden könnte.« Ich glaube, es ist gut
-so. Nie noch habe ich mich so glücklich und so stolz gefühlt,
-so gütig und so reich an Kraft und Verstand.«</p>
-
-<p>»1. April. Mein Bericht ist dem Bischof eingereicht.
-Meine Pfarrerin meinte, ich hätte es heute nicht tun sollen;
-denn der erste April sei ein trügerischer Tag. Wollen sehen.«</p>
-
-<p>»10. August. Ich bin Oberpfarrer geworden.«</p>
-
-<p>»4. Januar 1839. Heute kam ein Schreiben aus dem
-Konsistorium und mein ahnungsvolles Herz schlug freudig,
-&ndash; aber es bezog sich nicht auf meinen Bericht, sondern meldete
-nur, daß mir das Brustkreuz verliehen sei. Vielen, vielen
-Dank. Aber das Schicksal meines Berichts bekümmert mich doch.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_67">[67]</a></span></p>
-
-<p>»8. April. Ich bin zum Propst ernannt. Von meinem
-Bericht ist immer noch nichts zu hören. Ich weiß nicht, wie
-man diese Posaunen zum Tönen bringen soll.«</p>
-
-<p>»10. April 1840. Nun bin ich schon ein Jahr Propst. Von
-meinem Bericht ist immer noch nichts zu vernehmen. Der
-Aberglaube der Pfarrerin ist doch nicht so unvernünftig.
-Heute machte sie mich wieder lachen: sie meinte, ich hätte
-meine Sache vielleicht sehr gut geschrieben, aber nicht richtig
-unterschrieben.«</p>
-
-<p>»20. Juni 1841. Ich ging trocken mitten durch das Meer
-und ward gerettet von der Ägypter Bosheit, darum will ich
-lobsingen dem Herrn, solange ich lebe … Was hat sich mit
-mir begeben? Was habe ich erdulden müssen und wie bin ich
-nach alledem wieder an Gottes Tageslicht gekommen? Neugierig
-bin ich, was du wohl tun magst, du Dichter von Fabeln,
-Balladen, Erzählungen und Romanen, wenn du in dem
-Leben, das dich umgibt, keine Fäden zu entdecken behauptest,
-die es wert wären, in deine vergnüglich zu lesende Fabel
-geflochten zu werden? Oder kümmert dich, der du der Menschen
-Sitten zu bessern dich vermissest, jenes wirkliche Leben
-gar nicht, das die Erdenmenschen leben, sondern suchest du
-nur nach einem Vorwand zu leerem Geschwätz? Ist dir
-bekannt, was für ein Leben ein russischer Pope führt; dieser
-»unnütze Mensch«, den man deiner Meinung nach vielleicht
-unnötigerweise herbeirief, deinen Eintritt ins Leben zu begrüßen,
-und den man abermals &ndash; auch wider deinen Willen
-&ndash; rufen wird, daß er dich zum Grabe geleite? Weißt du,
-daß das elende Leben dieses Popen nicht arm ist, sondern
-überreich an Nöten und Abenteuern, &ndash; oder meinst du, daß
-seinem Weihrauchherzen edle Leidenschaften fremd sind und
-daß es keine Schmerzen empfindet? Oder willst du von deiner
-Dichterhöhe mich, den Popen, deiner Aufmerksamkeit überhaupt<span class="pagenum"><a id="Seite_68">[68]</a></span>
-nicht würdigen? Oder wähnst du, meine Zeit sei schon
-vorbei, und das Land, das dich und mich geboren und aufgezogen,
-brauche mich nicht mehr? O du Blinder, sage ich,
-wenn du das erste denkst; o du Narr, sage ich, wenn du das
-zweite denkst und dich bemühst, nicht mich aufzurichten und
-zu beleben, sondern einen Stein auf mich zu wälzen und
-des Erstickenden zu spotten.</p>
-
-<p>Aber ich wende mich vom Philosophieren zu jener Begebenheit,
-die mich philosophieren gemacht hat.</p>
-
-<p>Ich bin nicht mehr Propst und hätte fast auch mein Priesteramt
-verloren. Wofür? Dafür! Ich will die ganze Geschichte
-ausführlich erzählen. Im März dieses Jahres besuchte
-der Gouverneur auf der Durchreise unsere Stadt, aus
-welchem Anlaß der Adelsmarschall ein Fest gab. Ich benutzte
-diese Gelegenheit, um mich beim Gouverneur über
-die Gutsherren zu beschweren, welche ihre Bauern mit Arbeiten
-auch an Sonntagen und sogar an den zwölf großen
-Festtagen überhäufen, so daß das arme Volk noch ärmer
-wird, denn in vielen Dörfern ist jetzt weder Roggen noch
-Hafer zu finden. … Kaum aber hatte ich dieses Wort »Hafer«
-ausgesprochen, als der hohe Herr in heftigen Zorn geriet,
-von mir abrückte, als wäre ich ein giftiges Tier, und schrie:
-»Was kommt Ihr mir mit Eurem Hafer auf den Hals?«
-Und dann ging es los: ich bin dies und das und jenes, &ndash;
-und zuletzt: »Ich bin doch nicht der heilige Nikolaus, ich handle
-nicht mit Hafer!« Das konnte ich nicht dulden und erwiderte:
-»Ich muß Eure Exzellenz, als eine mit den Glaubenslehren
-wenig bekannte Persönlichkeit, vor allem darauf
-aufmerksam machen, daß St. Nikolaus Bischof war und
-keinerlei Handel trieb. Ferner aber müßten Sie wissen,
-daß unser rechtgläubiges Volk der Priester und Diakonen
-bedarf, denn das ist bisher das Einzige, was wir noch nicht<span class="pagenum"><a id="Seite_69">[69]</a></span>
-von den Deutschen übernommen haben.« Der Gouverneur
-lachte boshaft und sagte: »Nur keine Furcht, Herr Pfarrer,
-wenn der Pfuhl erst da ist, kommen die Teufel von selbst.«
-Diese letzte Rede war für mich bitterer als die erste. Wer
-sind diese Teufel, und was meint dein Schandmaul mit dem
-Pfuhl? So dachte ich im Zorne und konnte nicht stillschweigen,
-sondern sagte zu dem Herrn, daß ich aus Achtung vor meinem
-Amte ihn auch diesmal nicht als Teufel bezeichnen wolle.
-Und was war die Folge? Heute bin ich Propst <em class="gesperrt">gewesen</em>,
-und ich danke dir, Herr, mein Gott, daß ich nicht auch des
-Priesteramtes beraubt und exkommuniziert bin. Nein, solche
-Dinge mögt ihr modernen Geschichtenschreiber nicht behandeln.
-Ihr denkt nicht daran, den Leuten zu erzählen, wie schwer
-mir ums Herz ist.«</p>
-
-<p>»3. September. Das Herbstwetter stimmt mich unsagbar
-trübe. Ich war gewohnt, immer in Tätigkeit zu sein, und
-nun quält mich das Nichtstun. Ich treibe die Torheit schon
-so weit, daß ich oft insgeheim, wenn meine Gattin es nicht
-sehen kann, still für mich weine.«</p>
-
-<p>»27. Januar 1842. Ich habe mir bei einem Juden für
-sieben Rubel eine Spieldose und ein Damespiel gekauft.«</p>
-
-<p>»18. Mai. Ich habe mir einen Zeisig angeschafft und lehre
-ihn zur Spieldose singen.«</p>
-
-<p>»2. März 1845. Drei Jahre sind vergangen, ohne daß sich
-in meinem Leben etwas geändert hätte. Ich habe mein
-Haus bestellt und in den Kirchenvätern und Geschichtschreibern
-gelesen. Zu zwei Schlüssen bin ich gekommen und
-möchte sie gerne beide für falsch halten. Der erste ist, daß
-das Christentum in Rußland überhaupt noch gar nicht gepredigt
-worden ist, und der zweite, daß die Ereignisse sich
-wiederholen und man sie voraussagen kann. Über den ersten
-Schluß redete ich einmal mit meinem sehr verständigen Amtsbruder,<span class="pagenum"><a id="Seite_70">[70]</a></span>
-dem Vater Nikolaus, und war sehr erstaunt, wie er
-das aufnahm und mir beistimmte. »Ja,« sagte er, »das
-ist unbestreitbar, wir werden in Jesu Namen getauft, aber
-wir nehmen Jesum nicht in uns auf.« Also bin ich es nicht
-allein, der das sieht, andere sehen es auch. Warum erscheint
-es aber ihnen allen nur lächerlich, während es mich bis aufs
-Blut peinigt.«</p>
-
-<p>»Neujahr 1846. Es sind mehrere Polen zu uns in die
-Verbannung geschickt. Über das Schicksal meines Berichts
-ist mir noch immer nichts bekannt. Ich interessiere mich
-lebhaft für die politischen Wirren, die im Westen im Anzuge
-sind und habe in Anbetracht dessen eine politische Zeitung
-abonniert.«</p>
-
-<p>»6. Mai 1847. Es sind noch zwei neue Polen zu uns gekommen,
-der Pater Aloysius Konarkiewicz und Pan Ignacij
-Czemernicki. Letzterer ist noch ein ganz junger Mann, aber
-bereits eine komplette Kanaille. Unsere Stadthauptmannsfrau,
-die ja selber Polin ist, hat sich mit einem ganzen Schwarm
-von Landsleuten umgeben und begünstigt letzteren vor allen
-anderen.«</p>
-
-<p>»20. November. Ich bemerke etwas ganz Erstaunliches und
-Unbegreifliches. Die Polen werfen sich bei uns geradezu zu
-Herren auf. Man kann durch sie bei der Gouvernementsverwaltung
-alles erreichen, denn der Czemernicki erweist sich
-als intimer Freund jenes Kanzleivorstehers, den ich in so
-guter Erinnerung habe.«</p>
-
-<p>»5. Februar 1848. Was ich mein Lebtag nicht hatte tun
-wollen, habe ich jetzt getan. Ich habe mich über die Polen
-beschwert, denn ihr Benehmen übersteigt jegliches Maß.
-Nicht genug, daß sie sich seit langem schon öffentlich über die
-Zeitungsmeldungen lustig machen und behaupten, es sei
-gar nicht so, wie die Blätter berichteten, sondern gerade umgekehrt:<span class="pagenum"><a id="Seite_71">[71]</a></span>
-nicht wir schlügen die Feinde, sondern wir würden
-geschlagen, &ndash; sie gehen auch schon von bloßen Worten zu
-Taten über. Bei der Totenmesse für die gefallenen Krieger
-erhoben sie mit der Stadthauptmannsfrau ein derart unziemliches
-Gelächter, daß der Oberpfarrer einen Kirchendiener
-zu ihnen schickte mit der Bitte, sich entweder ruhig
-zu verhalten oder die Kirche zu verlassen, worauf sie lächelnd
-hinausgingen. Und als wir mit dem Klerus nach Beendigung
-des Gottesdienstes am Kolonialwarenladen der Gebrüder
-Lialin vorübergingen, trat einer von den Polen mit
-einem Glase Punsch in der Hand vor die Tür und rief, die
-Stimme des Diakons nachahmend: »Mir noch 'nen Heißen!«
-Ich begriff, daß es eine Verspottung des »Kyrie eleison«
-sein sollte, und habe es in meiner Beschwerde auch so erwähnt.«</p>
-
-<p>»1. April. Abends. Meine Beschwerde über das Benehmen
-der Polen hat, so scheint es, wenn auch spät, doch
-eine gewisse Wirkung gehabt. Heute früh kam der Chef der
-Gendarmen in die Stadt und berief mich zu sich und fragte
-mich lange nach allen Einzelheiten. Ich erzählte ihm, wie
-es gewesen, und er teilte mir mit, daß all diesen polnischen
-Gemeinheiten bald ein Ende gemacht werden solle. Ich
-fürchte nur, daß alles dies wieder mal, recht zum Possen,
-am ersten April gesagt sein wird. Ich fange an zu glauben,
-daß dieser Tag wirklich ein trügerischer Tag ist.«</p>
-
-<p>»7. September. Der erste April scheint diesmal doch nicht
-getrogen zu haben. Konarkiewicz und Czemernicki sind beide
-in die Gouvernementsstadt versetzt worden.«</p>
-
-<p>»25. November. Unser Stadthauptmann nebst Gemahlin
-haben uns verlassen. Er ist zum Polizeimeister in der Gouvernementsstadt
-ernannt worden. <em class="gesperrt">Die</em> Strafe ist noch zu ertragen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_72">[72]</a></span></p>
-
-<p>»5. Dezember. Der neue Stadthauptmann ist angekommen.
-Er nennt sich Hauptmann Mratschkowskij. Der Name
-kommt vom Worte »<em class="antiqua">mrak</em>« &ndash; die Finsternis. O Herr, Du allein
-weißt, wann auch etwas vom Licht zu uns kommen wird!«</p>
-
-<p>»9. Dezember. Heute war ich beim neuen Stadthauptmann
-zum Frühstück. Liebenswürdig sind sie beide, er sowohl
-wie die Gattin. Nachdem er gehörig getrunken hatte, sang
-er uns vor: »Denkst du daran, mein tapfrer Kampfgenosse?«
-Und sein Söhnchen, ein munterer Bub in einem russischen
-Hemd, sang auch: »Heil dir, Meister Frost, bist ein wackrer
-Russe!« Das sind mir doch Neuigkeiten! Aus dem Gespräch
-mit besagtem Mratschkowskij ist mir vor allem die
-Geschichte von einem Professor der Moskauer Universität
-bemerkenswert, der seinen Abschied erhalten haben soll, weil
-er in einer Festrede gesagt hatte: »<em class="antiqua">Nunquam de republica
-desperandum</em>«, &ndash; was bedeuten sollte: man darf niemals
-am Staat verzweifeln. Aber ein Kanzleiweiser legte es so
-aus, er hätte sagen wollen, man dürfe nie an der <em class="gesperrt">Republik</em>
-verzweifeln. Daraufhin ward der Professor gebeten, sein
-Entlassungsgesuch einzureichen. Es ist kaum glaublich.«</p>
-
-<p>»20. Dezember. Nein, der erste April ist nicht nur trügerisch,
-sondern auch rätselhaft. Ich will hier nicht alles erzählen,
-was mir bei meiner diesmaligen Fahrt nach der
-Gouvernementsstadt widerfuhr; nur das eine sei gesagt,
-daß ich beschimpft und geschmäht worden bin in jeder Weise.
-Es fehlte nur noch, daß sie mich für meine Beschwerde geschlagen
-hätten. Ich weiß nicht, wem ich es zu verdanken
-habe, da <em class="gesperrt">er selbst</em> auf mich losfuhr und mich anschrie, man
-hätte meine Ränke schon satt; ich vermochte nichts zu erwidern,
-denn so wie ich nur die Lippen bewegte, hieß es gleich:
-»Schweig!« So mußte ich alles hinunterschlucken und bin
-nun wieder daheim. Wie eine Henne, die man mit Nesseln<span class="pagenum"><a id="Seite_73">[73]</a></span>
-verprügelte. Nur das eine begreife ich nicht: warum erklärt
-man meine Tat, die ja vielleicht unvorsichtig war, durch nichts
-anderes, durch meine Unbildung oder durch mein Ungeschick,
-sondern &ndash; was meint ihr wohl? &ndash; durch Mißgunst! Weil
-nämlich jene Polen mich nicht in ihre Gesellschaft aufgefordert
-und mich nicht trunken gemacht, &ndash; obzwar ich, Gott
-sei gelobt, niemals ein Trinker gewesen. Von diesem Geringen
-auf das Große schließend, gedenke ich der Worte der
-französischen Jungfrau Charlotte Corday d'Armont, welche
-sie in ihrem letzten Brief vor ihrer Hinrichtung schrieb, daß
-sich nämlich »unter den neuen Völkern wenig Patrioten
-fänden, welche die einfache patriotische Leidenschaft verstehen
-und an die Möglichkeit, ihr Opfer zu bringen, glauben können.
-Überall nur Egoismus und alles wird durch ihn erklärt.«
-Wenn ich nur unsere Leute sehe, so bin ich geneigt, Charlotte
-Corday d'Armont recht zu geben, richte ich meinen Blick dann
-aber auf die Polen, denen jeder Zugvogel ein Lied von der
-Heimat singt, oder auf unsere Altgläubigen, die trotz allen
-Kränkungen und Unterdrückungen nicht aufhören, ihr russisches
-Land zu lieben, dann muß ich ihr widersprechen und
-behaupten, es gibt doch noch Vaterlandsliebe unter den Menschen.
-So weit kommt man auf seine alten Tage, daß man
-sogar an den Polacken etwas zu loben findet! Allein ich
-will mich fortan an das Wort halten, das ich neulich so viele
-Male zu hören bekam: »Schweig!« <em class="antiqua">Nunquam de republica
-desperandum.</em>«</p>
-
-<p>»2. Januar 1849. Ich bin bei allen Altgläubigen gewesen
-und habe mir die Silberlinge herausschicken lassen. Ich
-kann mich dem nicht mehr widersetzen, allein es tut mir hin
-und wieder bitter weh. Ich mußte es aber tun, damit meine
-Pfarrerin nächstens nicht noch zur Subdiakonsfrau wird, denn
-nach dem, was ich erlebt habe, ist alles möglich.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_74">[74]</a></span></p>
-
-<p>»1. Januar 1850. Das Jahr ist still und friedlich dahingegangen.
-Ich habe meine Wohltäterin, Marfa Andrejewna
-Plodomasowa, zu Grabe getragen. Sie starb, nachdem sie
-fünf Kronenträger überlebt hatte: Elisabeth, Peter, Katharina,
-Paul und Alexander; mit zweien von ihnen hat sie
-auf Gesellschaften getanzt. Nächstes Jahr will ich einen Anbau
-an mein Häuschen machen, denn ich bin einer Schwäche
-verfallen: ich finde viel Vergnügen am Preferance-Spiel
-und habe mir aus Langerweile das Rauchen angewöhnt, das
-macht neue Ausgaben. Anfangs rauchte ich nur spaßeshalber
-beim Stadthauptmann, aber jetzt habe ich mir auch
-zu Hause allen Zubehör angelegt. Eigentlich sollte ich es
-lassen.«</p>
-
-<p>»10. Januar 1857. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.
-Sieben Jahre lang keine einzige Zeile hier hineingeschrieben.
-Mein Leben ist seltsam, denn es ist ein sattes und behagliches
-geworden. Ich las eben alles nach, was ich seit dem Tage
-meiner Ordination eingetragen. Es ist bemerkenswert, wie
-so ganz anders ich in diesen Jahren die Dinge betrachten
-gelernt habe. Ich kämpfe nicht mehr, belästige niemand und
-werde von keinem belästigt. Steter Tropfen höhlt den Stein!«</p>
-
-<p>»20. Oktober. An Stelle unseres entschlafenen Diakons,
-des sanften Prochor, ist aus der Gouvernementsstadt ein
-neuer Diakon eingetroffen, namens Achilla Desnitzyn.
-Dieser ist größer und dicker als wir alle. Wenn man seine
-Physiognomie und seine Statur betrachtet, muß man die
-Schöpferkraft der Natur bewundern. Am meisten aber gefällt
-mir an dem Manne seine Gutmütigkeit. Er zeigte mir
-die Abschrift seines Zeugnisses aus dem Seminar, in dem
-geschrieben stand: »Sittliches Verhalten gut, aber sehr tragfähig.«
-Was bedeutet denn das? fragte ich. »Ach, nichts
-von Belang,« erklärte er, »als ich wegen Fieber im Seminarlazarett<span class="pagenum"><a id="Seite_75">[75]</a></span>
-lag, trug ich den kranken Theologen heimlich Schnaps
-zu. Und zwar in gehöriger Quantität.««</p>
-
-<p>»7. Dezember. Der Subdiakon Sergej macht mich darauf
-aufmerksam, daß unser neuer Diakon Achilla ein wenig vorlaut
-ist: aus falschem Ehrgeiz gibt er vielen Betern vom
-Lande heimlich den priesterlichen Segen. Ich habe ihm gesagt,
-daß er sich das in Zukunft nicht unterstehen dürfe.«</p>
-
-<p>»15. August. Auf einem Festmahl beim Stadthauptmann
-kam es fast zu einem Skandal, wieder durch einen Streit um
-den Verstand, und das erinnerte mich an den alten Streit,
-der mich einst so lachen gemacht. Der Diakon Achilla und der
-Arzt stritten über mich. Der Arzt leugnete meinen Verstand,
-der Diakon pries ihn himmelhoch. Auf ihren Lärm und besonders
-auf das Geschrei des Arztes kamen wir ins Zimmer
-und sahen den Arzt hoch oben auf dem Schranke sitzen und
-verzweifelt mit den Beinen strampeln und stoßen. Achilla
-aber saß seelenruhig mitten im Zimmer in einem Lehnstuhl
-und meinte: »Nehmt ihn bitte nicht herunter, ich habe ihn
-sozusagen an Wasserflüssen Babylons an die Weiden gehängt
-für seine Widerspenstigkeit.« Ich konnte mich des
-Lachens kaum erwehren, hielt aber dem Diakon eine ordentliche
-Strafpredigt und sagte ihm, Gewalt sei kein Beweis.
-Er aber machte mir dafür eine tiefe Verbeugung und wandte
-sich hierauf zum Arzte: »Nun? Jetzt siehst du's wohl selbst,
-daß er der Justizminister ist.« Es ist wunderbar, wie dieser
-kosakische Diakon es gleichsam fühlt, daß ich ihn von ganzem
-Herzen liebhabe. Ich weiß selbst nicht warum. Aber er hat
-mich auch lieb.«</p>
-
-<p>»25. August. Welch große Freude! Die katholische Geistlichkeit
-in Litauen hat Nüchternheitsvereine gegründet: sie
-predigen gegen die Trunksucht, und die Trunksucht läßt nach.
-Die Leute kommen zur Vernunft und die Blutsauger, die<span class="pagenum"><a id="Seite_76">[76]</a></span>
-Branntweinpächter, platzen. Ach, wie gern würde ich auch
-in dieser Art predigen!«</p>
-
-<p>»5. September. In einigen orthodoxen Gemeinden ist
-dasselbe versucht worden. Ich fürchte, ich halt's nicht aus
-und sage ein Wort! Aber da ich ohne Zensur nicht predigen
-darf, so will ich eine schlaue Intrige einfädeln und einen
-Mäßigkeitsverein gründen. Was soll man machen, notgedrungen
-folgt man dem Beispiel des Ignatius Loyola, wenn
-man auf geradem Wege nicht gehen darf.«</p>
-
-<p>»7. Oktober. Wir haben die Statuten unseres Vereins
-entworfen, aber bestätigt ist er noch nicht. Dagegen schreibt
-man, daß der Branntweinpächter sich bei dem Minister über
-die Prediger beklagt habe, welche das Volk vom Trinken abhalten.
-O du freche Kanaille! Wagst es noch zu klagen, und
-noch gar dem Minister gegenüber!«</p>
-
-<p>»20. Oktober. Eine wahnsinnige Nachricht! Die Zeitungen
-melden, im Juli dieses Jahres hätten die Branntweinpächter
-beim Minister des Innern über die orthodoxen
-Geistlichen, welche das Volk zur Nüchternheit anhalten, Beschwerde
-geführt, und der Herr Minister hätte sie dem
-Oberprokurator des Heiligen Synods weitergegeben, welcher
-geantwortet hätte, daß der Synod den Geistlichen seinen Segen
-gebe, an dem verdienstlichen Werke des Kampfes gegen den
-Mißbrauch berauschender Getränke nach Kräften mitzuwirken.
-Aber die Pächter gaben sich nicht zufrieden und petitionierten
-noch einmal um Aufhebung der Verordnung des
-Heiligen Synods. Hierauf soll der Finanzminister dem
-Oberprokurator des Heiligen Synods mitgeteilt haben, daß
-ein völliges Verbot des Gebrauchs geistiger Getränke nicht
-zulässig sei, wenn es durch religiöse Drohungen, die stark
-auf das Gemüt des einfachen Mannes wirken, und durch
-Ablegung von Gelübden durchgesetzt werde, weil dieses nicht<span class="pagenum"><a id="Seite_77">[77]</a></span>
-nur der allgemeinen Anschauung von dem Nutzen eines
-mäßigen Weingenusses widerspreche, sondern auch gegen die
-gesetzlichen Verordnungen verstoße, auf Grund deren die Regierung
-die Schanksteuern verpachtet habe. Infolgedessen
-soll eine Verordnung getroffen worden sein, die Beschlüsse
-der Stadt- und Landgemeinden bezüglich der Branntweinverbote
-aufzuheben und keinerlei Gemeindeversammlungen
-in dieser Angelegenheit mehr zuzulassen. Sauf, mein armes
-Volk, sauf dich zu Tode!«</p>
-
-<p>»8. November. Am Tage des Anführers aller heiligen
-und himmlischen Heerscharen, des Erzengels Michael, ward
-mir von der hohen Obrigkeit eine ellenlange Nase zuteil.
-Nicht nur von dem verbrecherischen Plan der Gründung eines
-Mäßigkeitsvereins hätte ich lassen sollen, sondern auch predigen
-dürfte ich nicht darüber, in Anbetracht von diesem und
-jenem und aus solchen Erwägungen und derartigen Rücksichten
-… bloß der einfache Nutzen der Menschheit zählt
-nicht mit … Aber habe ich nicht schon genug davon geschrieben?
-Soll ich denn immer nur meine eigene Schmach
-zu Papier bringen?«</p>
-
-<p>»1. Januar 1860. Sogar den Jahresbeginn lasse ich jetzt
-unbeachtet! Wie heiß faßte ich früher alles auf und wie
-gleichgültig bin ich jetzt geworden. Meine Pfarrerin Natalia
-Nikolajewna sagt freilich, ich wäre auch heute noch geradeso
-wie einst, aber wie könnte das sein! Ihr mag das mitunter
-wohl so vorkommen, denn auch sie hat mittlerweile das Alter
-der Mutter Sarah erreicht, ich aber sehe das besser … Der
-Leib ist gesund und sogar fett, aber was nutzt das, wenn die
-Seele schon gleichsam mit einer Rinde zu bewachsen beginnt.«</p>
-
-<p>»27. März. Frühlingslüfte wehen und die Wasserbäche
-stürzen von den Hügeln. Der Diakon Achilla bringt schon
-seine Sättel in Ordnung und wird bald wieder als Steppenkirgise<span class="pagenum"><a id="Seite_78">[78]</a></span>
-dahersprengen. Wohl ihm, daß er sich die Zeit so vertreiben
-kann.«</p>
-
-<p>»23. April. Achilla erschien heute mit Sporen, die er sich
-für seine Spazierritte eigens von Pizonskij hatte anfertigen
-lassen. Schlimm, daß er in Nichts Maß zu halten versteht
-und jedes Ding gleich bis zum Äußersten treiben muß. Um
-ihn sofort in seine Schranken zu weisen, brach ich mit einem
-einzigen Tritt die Sporen von den Stiefeln des Achilla ab
-und verbot ihm zur Strafe für diese Albernheit das Reiten
-für dieses ganze Jahr. Somit muß er mir jetzt Buße tun.
-Was soll man aber machen, wenn er nicht anders gebändigt
-werden kann? Er ist imstande und gürtet sich nächstens noch
-ein Schwert um.«</p>
-
-<p>»14. September. Der Subdiakon Sergej kam heute angeblich
-nach einer Bütte zu Sauerkraut und erzählte mir
-dabei scheinbar ganz von ungefähr, daß diesen Abend in
-der Scheune der Ziegelei ein zugereister Komödiant einen
-Riesen und Kraftmenschen vorführe, und der Diakon Achilla
-der Vorstellung beiwohnen wolle. Einen gemeinen und hinterhältigen
-Charakter hat dieser Sergej.«</p>
-
-<p>»Am 15ten. Ich habe mir die Vorstellung angesehen.
-Ohne selbst gesehen zu werden, schaute ich durch eine Ritze
-im Hintertor. Achilla war wirklich da, aber nicht bloß als
-Zuschauer, sondern sozusagen als Mitwirkender. Er erschien
-in einem mächtigen Schafpelz, dessen Kragen hochgeschlagen
-war, und hatte ein gemustertes Tuch umgebunden, das seine
-Haare und den größten Teil des Gesichts bis an die Augen
-verdeckte. Ich erkannte ihn sofort, was nicht schwer war, weil
-er, als der vom Komödianten vorgeführte Riese und Athlet
-in fleischfarbenem Trikot erschien, in jeder Hand ein Fünf-Pud-Gewicht,
-und damit, ein wenig schwankend, die Bänke
-entlang wanderte, sich so weit vergaß, daß er mit seiner gewöhnlichen<span class="pagenum"><a id="Seite_79">[79]</a></span>
-Stimme laut rief: »Was ist denn an all dem so
-Wunderbares?« Als hierauf der Riese in frechem Ton
-fragte, ob jemand mit ihm ringen wolle, und sich keine Liebhaber
-für solch einen Wettstreit fanden, trat Achilla, das
-Gesicht tief in das gemusterte Tuch vergrabend, vor und griff
-den Riesen an. Ich meinte, ihre Knochen müßten zerbrechen.
-Aber endlich überwand Achilla jenen hochmütigen Deutschen,
-und nachdem er ihm die Beine kreuzweis übereinandergelegt,
-wie man in feinen Häusern die gebratenen Poularden serviert,
-nahm er jene zehn Pud und den Kraftmenschen selber
-und begann mit dieser ganzen Last vor dem Publico auf- und
-abzugehen. Alles schrie »Bravo!« Am wunderbarsten aber
-war das Finale, das mein guter Achilla zum besten gab.
-»Meine Herrschaften,« wandte er sich ans Publikum, »vielleicht
-fällt es jemandem ein, zu behaupten, ich wäre wer
-anders. Bitte seid so gut und spuckt dann dem Kerl ins
-Gesicht, denn ich bin bloß der Kleinbürger Iwan Morozow aus
-Sewsk.« Als ob ihn jemand um diese Erklärung gebeten
-hätte. Aber mir war das doch immerhin eine recht heitere
-Zerstreuung. Ach, wie geht unser Leben dahin! Wie ist es
-schon hingegangen! Als ich von der Schaustellung wieder
-heimging, kamen mir Tränen in die Augen &ndash; ich weiß
-selbst nicht weshalb. Ich fühlte nur das eine, daß etwas
-da ist, das ich beweinen muß, wenn ich an die kühnen Pläne
-meiner Jugend denke und sie mit dem weiteren Verlauf
-meines Lebens vergleiche! Als mir einst jene große Kränkung
-widerfuhr, da träumte ich, ich könnte immer noch ein
-würdig Leben führen, nicht im Wirken nach außen, sondern
-in stiller Arbeit an der eigenen inneren Vervollkommnung;
-aber ich bin kein Philosoph, sondern ein Bürger; mir ist
-das nicht genug: ich plage mich und leide ohne Tätigkeit,
-und darum kann ich die Lebhaftigkeit meines lieben Achilla<span class="pagenum"><a id="Seite_80">[80]</a></span>
-nicht immer verurteilen. Gott verzeihe ihm und segne seine
-entzückende Herzenseinfalt, in der ihn alles erfreut und erheitert.
-Dem Subdiakon Sergej habe ich gesagt, er hätte
-gelogen, und ich habe ihm verboten, noch weiter gegen den
-Achilla zu hetzen. Ich fühle, daß ich mit aller Schwäche
-eines Vaters diesen guten Menschen liebgewonnen habe.«</p>
-
-<p>»14. Mai 1861. In was für seltsame Dinge kann den
-Menschen sein Leichtsinn verwickeln! Als ob wir nicht auch
-ohne den Diakon Achilla Hansnarren genug hätten. Der
-Stadthauptmann wollte bei seinem Schwiegervater, dem
-Verwalter der fürstlichen Güter Glitsch, ein Pferd für sein
-Sechsgespann kaufen, welches dieser aber nicht zu verkaufen
-gedachte. Da haben sie gewettet, daß der Stadthauptmann
-in den Besitz des Pferdes gelangen werde. Darauf
-hat der Stadthauptmann einen beschäftigungslosen Kleinbürger,
-namens Danilka, den sie hier den Kommissar nennen,
-für zwei Rubel gedungen, ihm das Pferd beim Herrn Glitsch
-zu stehlen. Einen zum Diebstahl anzustiften paßt sich vorzüglich
-für einen Stadthauptmann &ndash; sei es auch nur
-im Scherz. Was aber das Tollste war: mein Achilla erbot
-sich, dem Danilka bei dieser Sache zu helfen. Wieder war
-es der Subdiakon Sergej, der mir davon Mitteilung machte,
-und ich ließ den Achilla rechtzeitig zu mir kommen, um ihn
-für diesen Tag unter Aufsicht meiner Natalia Nikolajewna,
-für die er Butter schlagen mußte, zu stellen; nachts jedoch
-ließ ich ihn in meiner Stube auf dem Fußboden schlafen,
-und, damit er sich nicht davonmachen könne, verwahrte ich
-seine Kleider und Schuhe bis zum Morgen unter Schloß
-und Riegel. Heute früh aber wurden wir durch einen großen
-Lärm aufgeweckt: Nach dem Hause des Stadthauptmanns
-jagte ein mit drei Pferden bespannter Leiterwagen, in dem
-der Kommissar Danilka zwischen zwei Bauern saß und wie<span class="pagenum"><a id="Seite_81">[81]</a></span>
-ein Wahnsinniger schrie. Wir gingen hinaus, um zu erfahren,
-aus welchem Grunde er so brüllte, und sahen, wie
-man dem Danilka die Hosen herunterzog, die ganz mit
-Nesseln vollgestopft waren. Es stellte sich heraus, daß der
-Herr Glitsch ihn ertappt und zur Strafe in die Nesseln gesetzt
-hatte, worauf die Gutsknechte ihn zu dem zurückgeschafft
-hatten, der ihn ausgesandt. Ich fragte den Diakon, wie ihm
-wohl zumute gewesen wäre, wenn er das Schicksal des Danilka
-hätte teilen müssen? Er erwiderte, das hätte ihm nicht
-passieren können. Wenn selbst ihrer zehn über ihn hergefallen
-wären, würde er sich ihnen nicht ergeben haben. »Nun, und wenn
-es zwanzig gewesen wären?« fragte ich. »Ja, mit zwanzig,«
-meinte er, »wär' ich auch nicht fertiggeworden,« und erzählte,
-wie er einmal als Schüler mit seinem Bruder zu den Ferien
-nach Hause gewandert wäre und sie gleichzeitig mit einer
-vorüberziehenden Abteilung Soldaten einen Holderstrauch
-mit ein paar Zweigen voller Beeren bemerkt, sich auf diese
-doch fast zu nichts zu gebrauchenden Beeren gestürzt hätten &ndash;
-Achilla und sein Bruder und an die vierzig Soldaten. »Es
-kam,« sagte er, »zwischen uns zu einem gewaltigen Handgemenge
-und mein Bruder Finogescha blieb für tot liegen.«
-Wie naiv und einfach das ist! Jede seiner Geschichten ist
-ein Ereignis! Das Leben ist ihm wirklich keinen Heller wert!«</p>
-
-<p>»29. September 1861. Aus der Gouvernementsstadt ist
-der Sohn der Hostienbäckerin von St. Nikita, der Marfa
-Nikolajewna Prepotenskaja, Warnawa, hier eingetroffen. Er
-hat das Seminar als einer der ersten absolviert, aber nicht
-Geistlicher werden wollen und ist jetzt als Rechenlehrer an
-der hiesigen Kreisschule angestellt. Auf meine Frage, warum
-er den geistlichen Stand verschmäht habe, antwortete er
-kurz, er wolle kein Betrüger ein. Ich konnte diese dumme
-Antwort nicht ungerügt lassen und sagte ihm, er sei ein Narr.<span class="pagenum"><a id="Seite_82">[82]</a></span>
-Aber so gering ich auch diesen Menschen und alle seine Meinungen
-achte, seine Antwort hat mir doch weh getan, wie
-der Stich einer giftigen Wespe.«</p>
-
-<p>»27. Dezember. Achilla legt mitunter einen derartigen
-Leichtsinn an den Tag, daß man in seinem eigenen Interesse
-hart gegen ihn sein muß. Der schon mehrfach erwähnte
-Konstantin Pizonskij bat ihn jüngst, er möge den Knaben,
-den der arme Alte bei sich aufgenommen und großgezogen,
-ein recht schönes Gedicht lehren, mit dem das Kind den Bürgermeister
-zum Weihnachtsfest beglückwünschen könne, &ndash;
-Achilla hat sich gleich dazu bereit erklärt und dem Buben
-folgende Verse beigebracht:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Heute ward unser Heiland geboren.<br /></span>
-<span class="i0">Herodes hat den Verstand verloren.<br /></span>
-<span class="i0">Herr Bürgermeister ehrenwert,<br /></span>
-<span class="i0">Werd' Euch von Gott das gleiche beschert!<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Nein, man muß ihn mit mehr Strenge behandeln.«</p>
-
-<p>»1. Januar 1862. Der Arzt hat in Erfüllung seiner Amtspflicht
-die Leiche eines plötzlich Verstorbenen geöffnet, und
-der Lehrer Warnawa Prepotenskij ist mit mehreren Schülern
-der Kreisschule zur Sektion gekommen, um sie mit den Grundbegriffen
-der Anatomie bekannt zu machen. In der Klasse
-hat er sie später gefragt: »Habt ihr den Körper gesehen?«
-&ndash; »Ja,« sagten die Knaben. &ndash; »Und die Knochen habt ihr
-gesehen?« &ndash; »Die Knochen auch.« &ndash; »Habt ihr alles gesehen?«
-&ndash; »Alles.« &ndash; »Habt ihr auch die Seele gesehen?«
-&ndash; »Nein, die Seele haben wir nicht gesehen.« &ndash; »Nun,
-wo ist sie denn?« Und so bewies er ihnen, daß es keine Seele
-gäbe. Ich machte den Inspektor konfidentiell darauf aufmerksam
-und sagte, daß ich bei der nächsten Direktorenrevision
-bestimmt die Rede darauf bringen würde.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_83">[83]</a></span></p>
-
-<p>Nun bist du wieder nötig geworden, armer Pope! Du
-hast mit den Altgläubigen Krieg geführt und bist mit ihnen
-nicht fertig geworden; du hast mit den Polen gekämpft und
-kriegtest sie nicht klein. Jetzt sieh zu, was du mit dieser Narretei
-anstellst, denn da wächst schon die Frucht deiner Lenden auf.
-Wirst du damit fertig werden? Zähl's doch an den Knöpfen ab!«</p>
-
-<p>»9. Januar. Ich bin an der Grippe erkrankt und kann das
-Haus nicht verlassen. Die Religionsstunden in der Kreisschule
-gibt Vater Zacharia an meiner Statt. Gestern kam
-er verwirrt und verstört zurück und erklärte unter Tränen,
-er könne mich in der Schule nicht länger vertreten. Die Ursache
-ist folgende: in der vorletzten Stunde hatte Vater Zacharia
-in der dritten Klasse von der göttlichen Vorsehung
-gesprochen, und heute prüfte er die Jungen daraufhin. Da
-sagt ihm plötzlich ein Schüler, der Sohn des Kolonialwarenhändlers
-Lialin, Alioscha, ein sehr begabter Bub, er »könne
-Gott den Schöpfer wohl gelten lassen, aber Gott den Fürsorger
-erkenne er nicht an«. Erstaunt ob einer solchen Antwort,
-fragte Vater Zacharia, worauf der junge Theologe
-seine Anschauung denn begründe, &ndash; und jener erwiderte
-darauf, daß in der Natur sehr viel Ungerechtigkeit und Grausamkeit
-zu finden sei; er wies dabei vor allem auf den Tod
-hin, der für den Sündenfall eines einzigen ungerechterweise
-dem ganzen Menschengeschlecht auferlegt sei. Vater Zacharia,
-der diese freche Antwort nicht unerwidert lassen konnte, fing
-nun an, den Jungen zu erklären, daß wir, angesichts der Unvollkommenheit
-unserer Vernunft, über diese Dinge nicht
-gut urteilen könnten, und unterstützte seine Worte mit dem
-Hinweis, daß, wenn wir in unserer Sündhaftigkeit ewig
-wären, auch die Sünde und mit ihr alles Schlechte und Böse
-ewig sein müßte, &ndash; und, um die Sache noch deutlicher zu
-erläutern, fügte er hinzu, daß dann auch der blutgierige<span class="pagenum"><a id="Seite_84">[84]</a></span>
-Tiger und der grimmige Hai ewig sein müßten, und überzeugte
-sie damit denn auch alle. Aber in der zweiten Stunde,
-als Vater Zacharia in der unteren Klasse war, kam derselbe
-Bub dort hinein und widerlegte den Vater Zacharia vor all
-den Kleinen, indem er sagte: »Was könnten der Tiger und
-der Hai uns denn anhaben, wenn wir unsterblich wären?«
-Vater Zacharia fand in seiner Gutmütigkeit und bei seinem
-Mangel an Schlagfertigkeit keine andere Antwort als: »Darüber
-haben sich schon klügere Leute als du und ich den Kopf
-zerbrochen.« Das ging aber dem alten Manne so nahe,
-daß er wohl eine Stunde bei mir geweint hat. Und ich muß
-zum Unglück immer noch krank sein und kann nicht aus dem
-Hause, um diesem Unfug zu steuern, hinter dem sicher der
-Lehrer Warnawa steckt.«</p>
-
-<p>»13. Januar. Wie gut ich's erraten habe! Alioscha Lialin
-hat von seinem Vater für seine Freigeisterei die wohlverdienten
-Prügel bekommen und unter Tränen gestanden,
-daß der Lehrer Prepotenskij ihn jene Frage und die spätere
-Antwort gelehrt habe. Ich bin ganz entrüstet, aber unser
-Arzt meint, ich dürfe das Haus noch nicht verlassen, denn
-ich hätte eine Rezidiv-Angina, und könnte leicht den Weg
-<em class="antiqua">ad patres</em> finden. Was ich doch noch nicht möchte. Ich habe
-dem Inspektor geschrieben. Als Antwort erhielt ich die Mitteilung,
-dem Prepotenskij sei auf meine Beschwerde hin ein
-Verweis erteilt worden. Jawohl, ein Verweis! Der die
-Geister verwirrt, der sich an den Kleinen versündigt, den ehrenwertesten,
-sanftmütigsten, man kann wohl sagen: musterhaftesten
-Diener des Altars kränkt &ndash; erhält einen Verweis!
-Und wenn ein hungernder Subdiakon ein altes Psalmenbuch
-gegen ein neues eintauscht, wird seine Familie für ein ganzes
-Jahr des Ernährers beraubt … O du arglistiges Geschlecht!&nbsp;…«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_85">[85]</a></span></p>
-
-<p>»27. Ich bin in der größten Aufregung. Mit dem abscheulichen
-Warnawa ist kein Auskommen. In der Stunde
-erzählte er neulich, daß der Prophet Jonas unmöglich vom
-Walfisch verschluckt werden konnte, denn dieses riesengroße
-Tier hätte doch eine sehr enge Gurgel. Ich kann das unmöglich
-dulden, aber ich wage es nicht, mich beim Direktor
-zu beschweren, denn am Ende läuft es wieder auf einen flüchtigen
-Verweis hinaus.«</p>
-
-<p>»17. Februar. Prepotenskij bringt mich ganz aus der Fassung.
-Ich kann ihn nach dem, was er sich jetzt wieder erlaubt
-hat, kaum noch für einen Menschen halten, und habe darüber
-nicht seinem Direktor, sondern dem Adelsmarschall Tuganow
-Bericht erstattet. Was mir von diesem alten Voltairianer
-kommen wird, weiß ich nicht, aber immerhin ist er ein bodenständiger
-Mensch und kein Mietling und wird daher vielleicht
-ein Einsehen haben. Warnawka treibt Dinge, wie sie nur
-der Wahnsinn einem eingeben kann. Weil der Lehrer Gonorskij
-erkrankt ist, hat Prepotenskij zeitweilig den Geschichtsunterricht
-übernehmen müssen, &ndash; und hat gleich damit angefangen,
-von der Unsittlichkeit des Krieges zu reden und
-es direkt auf die Begebenheiten in Polen bezogen. Indessen
-das war ihm noch nicht genug, er begann über die Zivilisation
-zu spotten, den Patriotismus und die nationalen Prinzipien
-zu verhöhnen, und zuletzt sich auch noch lustig über
-die Anstandsregeln zu machen, welche er zum Teil sogar als
-unsittlich bezeichnete. Als Beispiel führte er an, daß die gebildeten
-Völker den Akt der Geburt des Menschen verheimlichen,
-den des Mordes aber nicht, indem sie sich sogar mit
-Kriegswaffen öffentlich sehen lassen. Was will dieser Narr?
-Wahrlich, das ist so dumm, daß man sich schämen muß, und doch
-ärgere ich mich. Es ist ja nur eine Kleinigkeit; aber ich muß ja
-nach den Kleinigkeiten sehen, denn über Kleinem bin ich gesetzt.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_86">[86]</a></span></p>
-
-<p>»28. Februar. Oho! Mein Voltairianer liebt nicht zu
-scherzen. Der Direktor ist hergekommen. Ich konnt' es nicht
-länger ertragen und ging trotz aller Drohungen des Arztes
-zu ihm hin und berichtete ihm von den Ungebührlichkeiten
-des Prepotenskij, aber der Herr Direktor haben zu alledem
-nur herzlich gelacht. Wie lachlustig sie alle sind! Er gab dem
-Ganzen eine scherzhafte Wendung und sagte, deswegen werde
-Moskau nicht in Flammen aufgehen, &ndash; »und übrigens,«
-fügte er hinzu, »wo soll ich denn andere hernehmen? Sie
-sind heutzutage alle so.« Und so stand ich wieder da, wie
-ein Narr, der unnütz Krakeel macht. Aber das muß wohl
-so sein.«</p>
-
-<p>»1. März. Ich bin wirklich ein alter Narr geworden, über
-den alle sich lustig machen. Heute besuchten mich der Arzt
-und der Stadthauptmann, und ich sagte ihnen, daß meine
-Gesundheit infolge des gestrigen Ausgangs nicht im geringsten
-gelitten habe; da fingen sie beide an zu lachen und erwiderten,
-der Arzt habe mich zum Spaß in der Stube sitzen
-lassen, denn er habe mit irgend jemand gewettet, daß er,
-wenn er wolle, mich einen ganzen Monat lang zu Hause
-halten könne. Deshalb redete er mir von einer Gefahr vor,
-die gar nicht vorhanden war. Pfui!«</p>
-
-<p>»20. Juni. Ich habe eine Reise durch das Kirchspiel gemacht,
-die mir ausgezeichnet bekommen ist. Es ist so frisch
-und schön draußen in der Natur, und unter den Menschen
-herrscht Friede und Zufriedenheit. In Blagoduchowo haben
-die Bauern auf eigene Kosten die Kirche ausbauen und ausmalen
-lassen, aber auch bei einer so einfachen Sache hat sich
-wieder etwas Scherzhaftes hineingemengt. An der Wand
-der Vorhalle haben sie einen ehrwürdigen Greis abgebildet,
-der auf einem Ruhebette liegt, mit der Inschrift: »Und
-Gott ruhete am siebenten Tage von allen seinen Werken, die<span class="pagenum"><a id="Seite_87">[87]</a></span>
-er machte.« Ich wies den Vater Jakob darauf hin und
-befahl das Bild zu übertünchen.«</p>
-
-<p>»11. Juli. Vorgestern war der Bischof auf der Durchreise
-hier und hat im Dom die Messe gelesen. Ich fragte den Vater
-Troadij, ob das Bild in Bogoduchowo entfernt worden sei,
-und erfuhr, daß es noch immer vorhanden, was mich einigermaßen
-erregte. Aber Vater Troadij beruhigte mich, meinte,
-das habe nichts zu sagen, es sei doch »volkstümlich« und
-fügte noch eine Anekdote hinzu von den Seelen der Erlösten,
-die der Maler in Schuhen dargestellt hatte, und so lief wieder
-alles auf einen Scherz hinaus. Ach, was die Leute alle lustig
-sind!«</p>
-
-<p>»20. Juli. Ich war in Blagoduchowo und ließ das Bild
-in meiner Gegenwart abkratzen. Ich halte es nicht für angebracht,
-diese dumme Art von Volkstümlichkeit zu pflegen.
-Ich fragte nach dem Verfertiger des Bildes; und es stellte
-sich heraus, daß der Glöckner Pawel es gemalt hatte. Um
-dem scherzhaften Geist der Zeit entgegenzukommen, befahl
-ich diesem Künstler, sich neben meinen Kutscher auf den Bock
-zu setzen, und nachdem wir vierzig Werst weit gefahren waren,
-ließ ich ihn zu Fuß nach Hause wandern, damit er unterwegs
-über seine malerische Phantasie nachdenken könne.«</p>
-
-<p>»12. Oktober. Der neue Gouverneur ist zur Revision hier
-gewesen. Er besuchte den Dom und die Schule und beide
-Male, hier wie dort, wollte er durchaus, daß ich ihn segne.
-Er ist ein echter Russe sowohl dem Namen, wie dem Benehmen
-nach. Noch sehr jung, hat er jene privilegierte Lehranstalt,
-die Rechtsschule, absolviert, und war bisher noch nie
-aus Petersburg herausgekommen, was auch leicht zu bemerken
-ist, denn alles interessiert ihn. Besonders angelegentlich
-erkundigte er sich nach den Gegensätzen zwischen Geistlichkeit
-und Adel; leider konnte ich seine Neugier wenig befriedigen,<span class="pagenum"><a id="Seite_88">[88]</a></span>
-denn sowohl unser Kreisadelsmarschall Plodomasow,
-als auch der Gouvernementsmarschall Tuganow
-sind würdige Männer, und von Gegensätzen ist keine Rede.«</p>
-
-<p>»14. November. Es wird erzählt, daß ein Gutsbesitzer sich
-bei dem Gouverneur über die Bauern beschwert habe, die
-ihren Verpachtungen nicht nachkämen. Der Gouverneur
-habe seine Klagelitanei unterbrochen mit den Worten: »Ich
-bitte, wenn Sie vom Volke reden, nicht zu vergessen, daß
-ich Demokrat bin.««</p>
-
-<p>»20. Januar 1863. Ich notiere die außerordentliche und
-höchst belehrende »Geschichte vom Surrogat«. Es wird folgendes
-Kuriosum von der ersten Begegnung des neuen Gouverneurs
-mit unserm Adelsmarschall Tuganow erzählt.
-Dieser von höherer Politik durchdrungene Petersburger Kavalier
-stellte sich auch unserem Voltairianer als Demokrat
-vor, wofür ihn Tuganow auf dem Adelsball vor allen höchlich
-lobte und hinzufügte, diese Richtung sei die allerbeste,
-besonders in der gegenwärtigen Zeit, denn in drei Kreisen
-unseres Gouvernements herrsche eine ziemlich starke Hungersnot
-und da biete sich reichlich Gelegenheit, sich als Volksfreund
-zu bewähren. Der Gouverneur zeigte sich darüber
-sehr erfreut, daß die Leute hungern, und war nur ungehalten,
-daß er bisher nichts davon gewußt hatte; er rief seinen Kanzleivorsteher
-und machte ihm heftige Vorwürfe, daß er ihn
-nicht früher davon unterrichtet habe, und als richtiger Heißsporn
-ordnete er an, daß darüber sofort nach Petersburg
-berichtet werde. Aber der Vorsteher, der sich rechtfertigen
-wollte, sagte, daß von einer richtigen Hungersnot in jenen
-Kreisen nicht geredet werden könnte, denn wenn auch die
-Kornernte schlecht gewesen sei, so sei die Hirse doch sehr gut
-geraten. Damit fing nun die Geschichte an. »Was ist das
-&ndash; Hirse?« rief der Gouverneur. »Hirse ist ein Surrogat<span class="pagenum"><a id="Seite_89">[89]</a></span>
-für Brotkorn,« erwiderte der gelehrte Vorsteher, statt einfach
-zu sagen, daß man aus Hirse Brei koche, was unseren Rechtsgelehrten
-vielleicht vollständig befriedigt hätte, denn in der
-Kunst, einen Brei anzurühren, muß er Meister sein. Aber
-nun war einmal das Wort Surrogat gefallen. »Schämen
-Sie sich,« sagte der hohe Politiker, als er dieses Wort vernahm,
-»schämen Sie sich, mich so zu betrügen. Man braucht
-ja nur in einen Obstladen zu treten, um zu sehen, wozu Hirse
-gebraucht wird. In Hirse werden Trauben verpackt.« Tuganow
-schwieg mit ernstem Gesicht, tags darauf aber schickte
-er dem Gouverneur durch die Verpflegungskommission eine
-Liste der Kornfrüchte Rußlands. Der Gouverneur wurde
-verlegen, als er hier auch Hirse verzeichnet fand, ließ seinen
-Kanzleivorsteher rufen und sagte zu ihm: »Verzeihen Sie,
-daß ich Ihnen damals nicht glauben wollte. Sie haben
-recht. Hirse ist ein Getreide.« Du tust mir von Herzen leid,
-mein lieber Demokrat! Der Deutsche meinte wohl, daß
-St. Nikolaus mit Hafer gehandelt habe, aber solche Weintraubenscherze
-machte er nicht.«</p>
-
-<p>»6. Dezember. Es kommen immer wieder Nachrichten von
-Konflikten zwischen dem Adelsmarschall Tuganow und dem
-Gouverneur, der, wie man sagt, eine Gelegenheit sucht, dem
-Marschall für die Hirse etwas am Zeuge zu flicken, und wie
-es scheint, hat er endlich etwas gefunden. Der Gouverneur
-steht immer für die Bauern ein und jener, der Voltaire, verteidigt
-seine Rechte und Freiheiten. Dem einen hat das
-Rechtsstudium den Verstand aus dem Geleise gebracht, und
-des andern Hochmut kommt dem Berg Ararat gleich. Er
-läßt keinerlei fremdes Recht gelten. Es kommt sicher noch
-zu einer regelrechten Bataille.«</p>
-
-<p>»20. Dezember. Die Seminaristen sind für die Weihnachtsferien
-nach Haus gekommen und der Sohn des Vaters<span class="pagenum"><a id="Seite_90">[90]</a></span>
-Zacharia, der Privatstunden in guten Familien gibt, erzählt
-eine ganz unglaubliche und wüste Geschichte: ein abgedankter
-Soldat hätte sich in einem Winkel der Marienkirche
-versteckt gehabt und die Krone von dem wundertätigen Bilde
-St. Johannis des Kriegers geraubt. Als die Krone dann
-in seinem Hause gefunden wurde, behauptete er, er hätte sie
-nicht gestohlen, sondern er hätte vor dem Bilde des Heiligen
-über die traurige Lage der dienstentlassenen Soldaten geklagt,
-und den heiligen Krieger in brünstigem Gebet angefleht,
-ihm in seiner Not zu helfen. Hierauf habe der Heilige,
-der seine Worte vernommen, gesagt: »Sie sollen ihrer
-Strafe in jener Welt nicht entgehen, du aber nimm vorläufig
-dieses hin« &ndash; und mit diesen teilnehmenden Worten
-habe er angeblich die kostbare Krone von seinem Haupte genommen
-und gesagt: »Da!« Verdient eine solche Ausrede
-auch nur die geringste Beachtung? Aber unter dem Eindruck
-der Hirse denkt man anders, und also kam vom Gouverneur
-eine Anfrage ans Konsistorium: ob ein derartiges Wunder
-möglich sei? Selbstverständlich war nun das Konsistorium
-in einer sehr schwierigen Lage, denn es konnte doch nicht erwidern,
-daß ein Wunder unmöglich sei. Aber wo will das
-alles hinaus? Der Adelsmarschall Tuganow legte dagegen
-vertraulich Protest ein und schrieb, er halte diese Handlungsweise
-für unvernünftig, und meinte, sie bezwecke nur eine
-Erschütterung des Glaubens und eine Verhöhnung der Geistlichkeit.
-So wird dieser alte Freigeist zum Anwalt der Geistlichkeit,
-und der Rechtskundige, der sie verteidigen sollte,
-macht sie zum Gespötte. Nein, es kommt scheinbar wirklich
-die Stunde und sie ist schon da, wo der gesunde Menschenverstand
-nichts mehr von allem, was geschieht, für sonderbar
-halten wird. Auch über Tuganows Eintreten für die Kirche,
-so nützlich es in diesem Fall war, kann man sich nicht freuen,<span class="pagenum"><a id="Seite_91">[91]</a></span>
-denn es geschah nicht aus Eifer für den Glauben, sondern
-aus Feindschaft gegen den Gouverneur, und was kann da
-Gutes kommen, wenn immer nur einer den andern schikaniert,
-ohne dessen eingedenk zu sein, daß sie beide derselben
-Krone den Eid geschworen haben und demselben Lande dienen?
-Es ist schlimm!«</p>
-
-<p>»9. Januar 1864. Tuganow war neulich in Plodomasowo,
-&ndash; ich weiß nicht weswegen. Aber ich konnte nicht anders &ndash;
-ich besuchte ihn dort, um etwas über seinen Kampf um St.
-Johannes den Krieger zu erfahren. Seltsam! Dieser Tuganow,
-einst ein Verehrer Voltaires, redete zu mir in freundschaftlichstem
-und betrübtem Tone. Er meint, sein Protest
-wäre noch nicht stark genug gewesen, denn »wie ich selber
-für mich über alle Wunder denke, das geht nur mich etwas
-an und das behalte ich auch für mich, aber ich kann diese
-nichtsnutzigen Bestrebungen doch nicht unterstützen, die darauf
-hinauslaufen, dem Volke das einzige zu nehmen, was
-ihm wenigstens eine Ahnung davon einflößt, daß es einer
-höheren Daseinssphäre angehört, als sein gestreiftes Schwein
-und seine Kuh.« Wie dürr und trocken ist diese Weisheit!
-Aber ich widersprach nicht … Was ist da zu machen?!
-Herr, hilf du wenigstens <em class="gesperrt">diesem Unglauben</em>, sonst kommen
-wir doch noch dazu, daß wir wieder in Rudeln umherlaufen,
-Wurzeln fressen und wie Pferde wiehern!«</p>
-
-<p>»21. März. Der Gutsherr Plodomasow ist aus der Residenz
-heimgekehrt und hat mir und dem Vater Zacharia
-und dem Diakon Achilla sehr kostbare Stäbe aus echtem
-Rohr mitgebracht. Auch zeigte er uns eine kleine gläserne
-Lampe mit einer brennenden Flüssigkeit, »Petroleum« oder
-Steinöl genannt, die aus Naphtha gewonnen wird.«</p>
-
-<p>»9. Mai. Ich habe mich so kleinlich gezeigt, daß ich mich
-vor mir selber schämen muß. Und das alles kam von den<span class="pagenum"><a id="Seite_92">[92]</a></span>
-eben erwähnten Stäben. Mein ganzes vergangenes Leben
-ist über mich gefallen wie ein Sieb und hat mich zugedeckt.
-Ich sitze unter diesem Sieb wie eine Krähe, der böse Buben
-die Federn ausgerupft haben, und die sie nun gefangen
-halten, um ihren Spott mit ihr zu treiben. Das ist das
-Traurigste bei dieser allgemeinen Lebensverflachung: ich selber
-bin flach und klein geworden, so flach, daß ich nicht einmal
-imstande bin, meine ganze Eitelkeit dem stummen Papier
-anzuvertrauen. Ich will mich ganz kurz fassen. Es ärgerte
-mich, daß ich und Zacharia ganz gleiche Stäbe erhalten hatten
-und daß auch der des Achilla sich kaum von den zwei andern
-unterschied. O Gott! War ich denn auch früher schon so?
-Nein, mit solchen Kleinigkeiten gab ich mich nicht ab! Ich
-trug mich mit hohen Gedanken, wie ich hier in diesem irdischen
-Jammertal immer vollkommener werden könnte, um
-einst das ewige Licht zu schauen und dem Herrn das mir
-anvertraute Pfund mit reichen Zinsen zurückzugeben.«</p>
-
-<p>Damit schlossen die alten Tuberozowschen Aufzeichnungen,
-und als der Greis zu Ende gelesen, nahm er die Feder,
-trug ein neues Datum ein und begann danach mit ruhigen,
-strengen Schriftzügen zu schreiben:</p>
-
-<p>»Es ist seinerzeit von mir vermerkt worden, wie einmal
-der Sohn der Hostienbäckerin, der Lehrer Warnawa Prepotenskij,
-die unschuldigen Kinder an ihrem Glauben irre
-zu machen suchte, indem er sie eine Leiche sehen ließ und behauptete,
-es gäbe keine Seele, weil ihr Wohnsitz im Körper
-nirgends aufzufinden sei. Mein Zorn über diesen törichten,
-aber schädlichen Menschen wurde dazumal von klugen Leuten
-für übertrieben erklärt, und von der Veranlagung zu diesem
-Zorn hieß es, sie sei der Beachtung gar nicht wert. Jetzt
-hat sich wieder etwas Neues begeben. Beim letzten Hochwasser
-wurde eine unbekannte Leiche an unser Ufer gespült.<span class="pagenum"><a id="Seite_93">[93]</a></span>
-Die Mutter des Warnawa, die arme Hostienbäckerin, sagte
-mir heute unter Tränen, daß der Arzt und der Stadthauptmann,
-wohl aus Bosheit gegen ihren Sohn oder um ihn
-zu verhöhnen, ihm jenen Toten geschenkt hätten, und Warnawa
-hätte aus Dummheit dieses Geschenk angenommen,
-und die Leiche in der Bütte, darin sie bisher friedlich ihre
-Wäsche in Asche gelegt, ausgekocht und die Brühe unter den
-Apfelbaum im Garten gegossen, die Knochen aber in die
-Gouvernementsstadt gebracht. Und nun fürchte sie, man
-werde ihren teuren Sohn mit jenen Knochen als Mörder
-festnehmen. Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und bat
-den Stadthauptmann um eine Erklärung, zu welchem Zwecke
-der Leichnam des Ertrunkenen, der nach der Sektion kirchlich
-bestattet werden mußte, dem Lehrer Warnawa ausgehändigt
-worden sei? Ich erhielt zur Antwort, das sei im Interesse
-der Aufklärung geschehen, d. h. damit er, Warnawa, an dem
-Skelett naturwissenschaftliche Studien treiben könne. Diese
-Sorge um die Wissenschaft kann einen lachen machen bei
-Leuten, die ihr so fern stehen, wie der Stadthauptmann
-Porochontzew, der sein halbes Leben im Kavalleriepferdestall
-zugebracht hat, wo man nichts lernt, als wie man den Pferden
-die Schwänze bindet, oder dieses Lügenmaul von Arzt,
-der jene Wissenschaft vertritt, deren Anhänger von den wahren
-Gelehrten für Ignoranten angesehen werden, was durch
-seine blödsinnige Behauptung bewiesen wird, er habe einmal
-bei Plodomasow versehentlich statt Branntwein ein Glas
-Leucht-Petroleum ausgetrunken, und da habe sein Bauch
-eine ganze Woche lang geleuchtet! Wie dem nun aber auch
-sei, der von dem Lehrer gekochte Leichnam hat sich in ein
-Skelett verwandelt. Warnawa brachte die Knochen zu einem
-Heilgehilfen am Gouvernementskrankenhaus. Dieser Meister
-der Anatomie fügte all die Knochen kunstvoll aneinander<span class="pagenum"><a id="Seite_94">[94]</a></span>
-und setzte ein Gerippe zusammen, das nun wieder in unsere
-Stadt zurückgebracht wurde und sich gegenwärtig bei Prepotenskij
-befindet, der es dicht bei seinem Fenster befestigt
-hat. Da steht es nun und lockt immer wieder die Straßenmenge
-an und gibt zu allen möglichen Streitigkeiten Anlaß
-und zu einem ewigen häuslichen Zwist zwischen dem Warnawa
-und seiner einfältigen Mutter. Der Tote fängt an Rache
-zu nehmen. Jede Nacht erscheint er der unglückseligen Mutter
-des großen Gelehrten im Traum und fordert immer wieder
-sein christliches Begräbnis. Die Arme hat den Sohn auf
-den Knien angefleht, ihr dieses Skelett zu geben, daß sie es
-bestatte, aber natürlich widersetzt er sich dem mit aller Entschiedenheit.
-Da entschloß sie sich zu einer verzweifelten Maßnahme,
-sammelte in Abwesenheit des Sohnes die Knochen
-in eine kleine Holzkiste, trug sie in den Garten und vergrub
-sie mit ihren schwachen Greisenhänden unter dem nämlichen
-Apfelbaum, unter welchen Warnawa die zerkochten Fleischteile
-des Unglücklichen ausgeschüttet hatte. Aber sie hatte
-kein Glück damit, denn der gelehrte Sohn grub die Knochen
-wieder aus, und damit ging eine neue Geschichte an, die
-auch heut noch nicht beendet ist. Es ist ebenso lächerlich wie
-schmachvoll, was noch weiter folgte. Sie raubten sich die
-Knochen gegenseitig so lange, bis mein Diakon Achilla, der
-sich in alles mischen muß, diese Sache zum Abschluß brachte
-und mit solcher Hast ans Werk ging, daß es ganz unmöglich
-war, ihm Einhalt zu gebieten. Auch haben mich die Reden
-des Arztes und des Stadthauptmanns sehr verstimmt, die
-mir Vorwürfe machten wegen meiner eifernden (so nannten
-sie es) Intoleranz gegen den Unglauben, denn, meinen sie,
-wirklich gläubig sei heutzutag keiner mehr, auch die nicht,
-welche offiziell für den Glauben eintreten. Das glaub' ich
-auch! Ich kann nicht daran zweifeln. Aber ich wundere<span class="pagenum"><a id="Seite_95">[95]</a></span>
-mich, woher bei uns dieser erbitterte Haß und diese Feindschaft
-gegen den Glauben kommen. Vom Freiheitsdrang?
-Aber wen hindert denn der Glaube, mit allem Eifer nach
-voller Freiheit in allen Dingen zu streben? Warum haben
-die wirklichen Denker nicht so gesprochen?«</p>
-
-<p>Vater Sawelij seufzte tief, legte die Feder hin und trat
-ans Fenster. Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt
-und schon fielen einzelne Regentropfen klatschend in
-den dicken Staub. Das war der Regen, um den Tuberozow
-am vergangenen Tage gebeten hatte. Der Alte flüsterte
-entzückte Worte des Dankes und des Lobes und merkte nicht,
-wie leise Tränen über seine Wangen liefen. Die Regentropfen
-aber fielen immer dichter und dichter, und endlich
-war es, als würde oben ein ganz feines Sieb geschüttelt,
-und die feuchte Kühle spielte erfrischend um den leicht erhitzten
-Kopf des Priesters. So am Fenster sitzend, das Haupt
-auf die weißen Hände gestützt, schlief Vater Sawelij ein.</p>
-
-<p>Inzwischen ging der sanfte Regen, den kein Gewitter begleitet
-hatte, vorüber, die Luft war frisch und rein geworden,
-der Himmel klar, und im Osten färbte die graue Dämmerung
-sich silbern, um dem Morgenrot den Weg zu bereiten, dem
-Morgenrot des Tages, der dem Gedächtnis unseres heiligen
-Vaters Methodius von Pesnosch geweiht ist, des Tages,
-dem, wie wir uns erinnern müssen, der Diakon Achilla eine
-so große Bedeutung zuschrieb.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_96">[96]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_6">Sechstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Osten wurde immer heller, und während sich die Sonne
-im Nebel hinter dem dampfenden Walde wusch, reckten sich
-die goldenen Pfeile ihrer Strahlen schon in scharfen Strichen
-über den Horizont. Ein leichter Nebel wallte über dem Flusse
-auf und kletterte das zerklüftete Ufer entlang; unter der Brücke
-ballte er sich zusammen und blieb an den schwarzen, nassen
-Pfählen kleben. Durch diesen Nebel sieht man das Gemüsefeld
-bläulich schimmern und den weißen Streifen der Landstraße
-hinüberleuchten. Über allem liegen noch die Schatten
-des Halbdunkels, und nirgends, weder in den Häusern, noch auf
-den Plätzen und Straßen, merkt man etwas vom Erwachen.</p>
-
-<p>Aber da, auf dem höchsten Punkte der steilen Hügelseite
-von Stargorod, über dem schmalen Zickzackweg, der den
-steinigen Abhang hinab zum Wasser führt, heben sich zart
-und durchsichtig die Umrisse einer höchst seltsamen Gruppe
-ab. In dem schwachen Licht, das sie bescheint, wirkt sie ganz
-phantastisch. In der Mitte steht ein Mann, von dessen Schultern
-ein langes, im Gürtel leicht geschürztes Gewand bis
-zur Erde niederwallt. Ganz plötzlich ist diese Gestalt aus
-dem allmählich dünner werdenden Nebel aufgetaucht und
-steht unbeweglich, wie ein Gespenst.</p>
-
-<p>Ein abergläubischer Mensch könnte denken, es wäre der
-Hauskobold von Stargorod, der, ehe die Stadt erwacht,
-noch ein paar Klageseufzer über ihr anstimmen will.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_97">[97]</a></span></p>
-
-<p>Aber je heller es wird, desto deutlicher erkennt man, daß es
-kein Hauskobold, noch sonst ein Geist ist, trotzdem aber auch
-nicht etwas ganz Alltägliches. Wir sehen jetzt, daß die Figur
-ihre Hände in die Taschen gesteckt hat. Aus der einen Tasche
-guckt eine sehr lange Gerte hervor, an deren Ende eine
-Schleuder oder eine Angelschnur gebunden ist. Aus der anderen
-hängt an vier Fäden etwas, das wie eine schwere
-Keule aussieht. Ein leiser Wind erhebt sich, die Oberfläche
-des schläfrigen Flusses beginnt sich leicht zu kräuseln, ein
-Zittern fährt durch die Zweige der Birken hinter dem schöngemusterten
-Gittertor des Domes, und die leeren Falten
-am weiten Gewande der Gestalt auf dem Berge geraten
-in Bewegung und enthüllen ein paar dünne Beine in weißen
-Unterhosen. In demselben Augenblick, wo diese dünnen
-Beine sichtbar werden, tauchen hinter ihnen plötzlich vier
-Hände auf, welche zwei anderen Gestalten gehören, die sich
-mehr im Hintergrunde gehalten hatten. Diese diensteifrigen
-Hände fassen die wehenden Enden des Gewandes, schlagen
-sie wieder zusammen und verhüllen aufs neue die dünnen,
-weißen Beine des Standbildes. Jetzt braucht man nur
-etwas schärfer hinzusehen, um auch die zwei anderen Gestalten
-zu erkennen. Rechts zeigt sich eine Frau. Sie fällt
-vor allem durch die ungeheure Wölbung ihres Leibes auf,
-über dem sich eine schmale Tunika hoch emporbläht. In der
-Hand hält sie einen glänzenden Metallschild, in dessen Mitte
-ein großer Büschel Haare befestigt ist, die soeben erst mit der
-Haut vom Kopfe des Feindes gelöst zu sein scheinen. Auf
-der anderen Seite, also zur Linken der hohen Gestalt, zeigt
-sich ein kurzbeiniger, schwarzer Wilder mit breitem Bart.
-Unter dem linken Arm hält er etwas wie ein Folterinstrument,
-und in der Rechten hat er einen blutigen Sack, aus
-dem zwei Menschenköpfe heraushängen, bleich, haarlos, wohl<span class="pagenum"><a id="Seite_98">[98]</a></span>
-die unglücklichen Opfer der grausamen Folter. Um diese
-drei Gestalten scheint der ganze Zauber der nordischen Sage
-zu wehen. Nun steigt die helle Sonne noch ein wenig höher,
-und der Sagenzauber löst sich in nichts auf. Die drei stehen
-noch einen Augenblick da und eilen dann den Hügel hinab.
-Nachdem sie etwa zehn Schritte gemacht haben, bleiben sie
-wieder stehen, und der Größte, der vorausging, sagt leise:</p>
-
-<p>»Schau mal, Freund Komar, es ist heut noch nichts von
-ihnen zu sehen.«</p>
-
-<p>»Ja, es ist nichts zu sehen,« erwidert der schwarzbärtige
-Komar.</p>
-
-<p>»Sieh besser zu!«</p>
-
-<p>Komar blickt scharf über den Fluß hin:</p>
-
-<p>»Es lohnt gar nicht hinzuschauen, es ist keiner da.«</p>
-
-<p>»Und die Stille in der Stadt, ach du lieber Gott!«</p>
-
-<p>»Das schlafende Königreich,« spricht leise die Gestalt, die
-den Schild unter dem Arm hält.</p>
-
-<p>»Was sagst du, Felicie?« fragt der Lange, der nicht recht
-gehört hat.</p>
-
-<p>»Ich melde Ihnen, Woin Wasiljewitsch, daß die Stadt
-dem schlafenden Königreich gleicht,« antwortet die Frau.</p>
-
-<p>»Ja, dem schlafenden Königreich; aber bald werden sie
-erwachen. Schau mal hin, Komar, da drüben, scheint mir,
-platscht eben einer hinein.«</p>
-
-<p>Die Gestalt weist nach der Insel, von der sich ein leichter
-Dampf erhebt und leise nach der Brücke hin schwebt.</p>
-
-<p>»Ganz recht,« sagt Komar, und seine Blicke verfolgen zwei
-dünne Kreise auf dem stillen Wasser, die immer breiter werden.
-Im Mittelpunkt des vorderen Kreises schwankt und
-dreht sich etwas, das wie ein überreifer gelber Kürbis aussieht.</p>
-
-<p>»Ach, die Kanaille ist wieder zuerst reingesprungen, ohne
-auf die Obrigkeit zu warten.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_99">[99]</a></span></p>
-
-<p>»Der drüben ist auch fertig,« sagt Komar gleichgültig.</p>
-
-<p>»Nicht möglich, &ndash; du lügst, Komar.«</p>
-
-<p>»Sehn Sie doch hin! Da ist er schon dicht am Wasser!«</p>
-
-<p>Alle drei legen die Hände über die Augen und blicken hinüber.
-Drüben sehen sie etwas Großes, Dickes zum Wasser
-herabschreiten. Es ist ganz in ein weißes schleppendes Gewand
-gehüllt und erinnert auffallend an die Statue des
-Komtur aus dem »Don Juan«, bewegt sich auch genau so
-langsam und feierlich und ebenso unbeirrt seinem Ziel entgegen.</p>
-
-<p>Jetzt ist aber auch der strahlende Phöbus auf seinem Feuerwagen
-ein gutes Stück höher hinaufgekommen; der zerflatternde
-Nebel schimmert in Bernsteintönen. Die ganze
-Landschaft leuchtet in Purpur und Blau und in diesem grellen,
-mächtigen Licht, ganz von Sonnenstrahlen überflutet, zeigt
-sich in den Wellen des Flusses ein nackter Recke mit einer
-mächtigen Mähne schwarzer Haare auf dem gewaltigen
-Haupte. Er sitzt auf einem mächtigen Rotfuchs, der seines
-Reiters würdig und mit seiner breiten Brust die Wellen
-kräftig teilt, zornig mit den feuerfarbenen Nüstern schnaubend.</p>
-
-<p>Der Reiter im Flusse und alle oben geschilderten Fußgänger
-streben dem nämlichen Punkte zu. Wollten wir Verbindungslinien
-von dem einen zum andern ziehen, sie würden
-sich alle bei einem großen Steine kreuzen, der in der
-Mitte des Flusses aus dem Wasser herausragt. In der
-ersten Gestalt, die den Berg herabsteigt, erkennen wir den
-Polizeichef von Stargorod, Rittmeister a. D. Woin Wasiljewitsch
-Porochontzew. Er hat einen himbeerfarbenen seidenen
-Schlafrock an und eine spitz zulaufende Kalotte aus Kamelgarn
-auf dem Kopfe. Aus der einen Tasche, in der seine
-rechte Hand steckt, guckt ein dünner Peitschenstiel, an dem
-eine lange Peitschenschnur hängt, und bei der andern, in<span class="pagenum"><a id="Seite_100">[100]</a></span>
-die der Polizeichef seine Linke gelegt hat, sieht man eine
-riesengroße, ganz schwarz gerauchte Meerschaumpfeife und
-einen orientalischen Tabaksbeutel aus Saffian an einem
-Jagdriemen baumeln.</p>
-
-<p>Links von ihm schreitet langsam sein Kutscher, der längst
-schon seinen Taufnamen verloren hat und von allen nur noch
-Komar (Mücke) genannt wird. In seinen Händen befinden
-sich weder Folterinstrumente noch Totenköpfe, noch ein blutbesprengter
-Leinwandsack, sondern er trägt bloß eine Bank,
-einen alten roten Fußteppich und ein Paar straff aufgeblasener
-Schwimmblasen, die mit einem Tuchstreifen zusammengebunden
-sind.</p>
-
-<p>Die dritte Gestalt, die uns vor einer Viertelstunde so
-grausig erschien, mit ihrem Schlachtschild unter dem Arm,
-entpuppt sich als die sehr bescheidene Gattin des Komar.
-»Mütterchen Felizata«, wie sie von dem Hausgesinde genannt
-wird, trägt freilich eine sehr schwere Last, die sich aber ganz
-und gar nicht zu kriegerischen Aktionen eignet. Vor allem
-trägt die gute Frau ihren eigenen Leib, in dem ein
-künftiger kleiner Komar junior dem Leben entgegenträumt.
-Unter dem Arm aber hat sie eine hell in der Sonne glitzernde
-Messingschüssel, in der ein Bastwisch liegt, mit einem Badehandschuh
-aus Tuch, im Handschuh ein Stückchen Kampherseife,
-und auf dem Kopfe ein vierfach zusammengefaltetes
-Badetuch.</p>
-
-<p>Also ein durch und durch friedliches Bild.</p>
-
-<p>Die weiße Gestalt, die am jenseitigen Ufer langsam zum
-Wasser hinabschreitet, hat inzwischen auch alles Imponierende
-und damit auch jede Ähnlichkeit mit dem Standbild des
-Komturs verloren. Der Mann hat sich in ein weißes
-Badetuch gehüllt, und als er das Wasser erreicht und das
-Tuch fallen läßt, ist es nicht mehr schwer, in ihm den wohlbeleibten<span class="pagenum"><a id="Seite_101">[101]</a></span>
-und ungefügen semmelblonden Kreisarzt Pugowkin
-zu erkennen.</p>
-
-<p>Der nackte Reiter auf dem langmähnigen roten Roß aber
-ist kein anderer als der Diakon Achilla, und sogar der im
-Gekräusel der Wellen auftauchende Kürbis gewinnt nach und
-nach ein wohlbekanntes menschliches Aussehen: zwei sanfte
-blaue Augen und eine eingeknickte Nase zeigen, daß wir es
-nicht mit einem Kürbis zu tun haben, sondern mit dem
-Kahlkopf des alten Konstantin Pizonskij, dessen Greisenleib
-ganz im kühlen Wasser steckt.</p>
-
-<p>Es sind die Badeliebhaber von Stargorod, die von alters
-her an jedem schönen Sommermorgen hier zusammenkommen
-und gemeinschaftlich sich des frischen Wassers erfreuen.</p>
-
-<p>Als erster stürzt sich der Arzt mit einem mächtigen Anlauf
-kopfüber in den Fluß und schwimmt auf den großen
-breiten Stein zu, der sich in der Mitte des Flusses einen Fuß
-hoch aus dem Wasser erhebt.</p>
-
-<p>Mit ein paar mächtigen Schlägen hat er ihn erreicht,
-klettert auf seine glatte obere Platte hinauf.</p>
-
-<p>»Ich bin wieder der erste im Wasser!« ruft er lachend.
-Und brüllt dem Achilla zu:</p>
-
-<p>»Schwimm doch schneller, du Pharao! &ndash; Kahlkopf, komm
-herauf! Kahlkopf, komm herauf!«</p>
-
-<p>Inzwischen ist Felizata zu dem Polizeichef getreten. Sie
-löst seinen Gürtel, hilft ihm aus dem Schlafrock, so daß er
-in Unterhosen und einer bunten Flanelljacke dasteht. Der
-Arzt auf dem Stein plätschert mit den Füßen im Wasser,
-pfeift lustig vor sich hin und klatscht plötzlich den herangeschwommenen
-Diakon Achilla so laut und kräftig mit der
-flachen Hand auf den nackten Rücken, daß dieser aufschreit,
-nicht vor Schmerz, sondern vor Schreck über das laute Klatschen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_102">[102]</a></span></p>
-
-<p>»Was haust du mich mit solchem Lärm?«</p>
-
-<p>»Pack mich nicht am Leib,« erwidert der Arzt.</p>
-
-<p>»Wenn das aber meine Gewohnheit ist?«</p>
-
-<p>»Gewöhn dir's ab,« antwortet der Arzt und pfeift laut.</p>
-
-<p>»Ich gewöhn mir's auch ab, aber ich vergesse mich immer
-wieder.«</p>
-
-<p>Der Arzt erwidert nichts und pfeift weiter. Der Diakon
-schüttelt den Kopf, spuckt aus, bindet die Schnur auf, mit
-der sein Heldenleib gegürtet ist, nimmt die daranhängende
-Bürste und den Striegel ab und beginnt mit ebensoviel Eifer
-wie Sachkenntnis die Mähne seines Pferdes zu reinigen.
-Das mächtige Tier, welches sich an der langen Leine ziemlich
-frei bewegen kann, biegt den breiten Rücken und schlägt mit
-seinen Knien das Wasser zu Schaum.</p>
-
-<p>Dieses Landschafts- und Genrebild zeigt uns die Schlichtheit
-des Stargoroder Lebens, wie die Ouvertüre die Musik
-der Oper andeutet. Aber die Ouvertüre ist noch nicht zu
-Ende.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_103">[103]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_7">Siebentes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Am linken Flußufer, wo der Stadthauptmann immer noch
-zögert, hat der Kutscher Komar den Teppich ausgebreitet,
-die mitgebrachte Bank darauf gestellt, und nachdem er sich
-durch kräftiges Schütteln noch überzeugt hat, daß sie feststeht,
-ruft er:</p>
-
-<p>»Setzen Sie sich, Woin Wasiljewitsch, sie steht fest.«</p>
-
-<p>Porochontzew geht schnell auf die Bank zu, rüttelt sie erst
-noch einmal eigenhändig und setzt sich erst, nachdem er sich
-genügend überzeugt hat, daß sie tatsächlich ganz feststeht.
-Kaum hat der Herr sich gesetzt, so packt Komar ihn von hinten
-an den Schultern, und seine Frau, welche die Schüssel nebst
-Bastwisch und Badetuch auf den Teppich gestellt hat, beginnt
-den kriegerischen Stadtgewaltigen auszukleiden. Erst nimmt
-sie ihm die Kalotte ab, dann die gestrickte Unterjacke, die
-Pantoffeln und die Socken, legt hierauf ihre Handflächen
-vorsichtig an die dürren Rippen des Rittmeisters und bleibt
-so unbeweglich stehen, den Kopf etwas seitwärts gebogen.</p>
-
-<p>»Nun, Felicie, geht es schon? Kann ich schon reiten?«
-fragt Porochontzew.</p>
-
-<p>»Nein, Woin Wasiljewitsch, noch schlägt der Puls,« antwortet
-Felizata.</p>
-
-<p>»Na, wenn er noch schlägt, muß man warten. Aber du
-kannst hineinhupfen, Komar.«</p>
-
-<p>»Ich tu's auch gleich.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_104">[104]</a></span></p>
-
-<p>»Hupf nur, Bruder, hupf! Schwimm einmal herum und
-komm dann wieder raus. Dann wird geritten.«</p>
-
-<p>»Wenn ich dann nur nicht zu schlüpfrig bin, Woin Wasiljewitsch.
-Dann fallen Sie wieder runter, wie neulich.«</p>
-
-<p>»Nein, nein, ich fall schon nicht.«</p>
-
-<p>Komar wirft, hinter dem Rücken seines Herrn stehend,
-das Hemd ab und stürzt sich mit einem mächtigen Anlauf
-ins Wasser, wo er alsbald gewaltig mit den Armen zu arbeiten
-beginnt.</p>
-
-<p>»Famos schwimmt dein Komar,« sagt Porochontzew.</p>
-
-<p>»Ausgezeichnet,« entgegnet die Frau, welche sich anscheinend
-nicht im geringsten geniert und auch keinen der Badenden
-durch ihre Anwesenheit stört.</p>
-
-<p>Felizata, eine frühere Leibeigene Porochontzews, ist es seit
-langem gewohnt, ihren kränklichen Herrn zu bedienen, und
-bei dieser Beschäftigung gibt es für sie keinen Geschlechtsunterschied.
-Inzwischen ist Komar rund um den Stein geschwommen,
-auf dem die Badenden sitzen, und wieder aus
-dem Wasser gekrochen und steht nun, den gekrümmten Rücken
-einem Herrn zugewendet, vor der Bank. Woin Wasiljewitsch
-klettert auf den Rücken, umfaßt den Hals des Kutschers
-mit beiden Armen und reitet ins Wasser hinein. Der Rittmeister
-macht es fast immer so, denn er liebt es nicht, barfuß
-auf dem scharfen Kies zu gehen. Kaum hat jedoch das Wasser
-die Achselhöhlen Komars erreicht, so bleibt er stehen und
-meldet, nun seien keine Steine mehr da, denn er fühle reinen
-Sand unter seinen Sohlen. Woin Wasiljewitsch klettert von
-seinem Roß hinunter und legt sich auf die Schwimmblasen.
-Auch heute war der Vorgang derselbe: der dürre Stadtgewaltige
-legt sich hin, Komar gibt ihm einen tüchtigen Stoß
-und beide schwimmen nach dem Steine, den sie beide erklettern.
-Dieser nicht sehr große Stein, dessen über dem Wasser<span class="pagenum"><a id="Seite_105">[105]</a></span>
-aufragende glatte, runde Fläche einen Durchmesser von etwa
-zwei Fuß haben mag, bietet fünf Personen Unterkunft,
-von denen vier &ndash; Porochontzew, Pizonskij, der Arzt und
-Achilla &ndash; sich an den Rand gesetzt haben, so daß sie einander
-den Rücken zukehren, während Komar mitten in dem
-engen Viereck steht, das eben diese Rücken bilden, und
-seinem Herrn den Kopf wäscht. Es wird eifrig diskutiert;
-Pizonskij erzählt unter beständigem Zucken seiner schiefen
-Nase, daß gestern abend in der Dämmerung irgendwo unterhalb
-der Brücke im Schilf sich zwei Schwäne niedergelassen
-und nachts, während es regnete, unausgesetzt geschrien
-hätten.</p>
-
-<p>»Wenn die Schwäne schreien, so verkünden sie irgend
-jemandes Ankunft,« meint Komar, indem er den Kopf seines
-Herrn eifrig mit Seife einreibt.</p>
-
-<p>»Nein, das verheißt bloß einen schönen Tag,« wendet
-Pizonskij ein.</p>
-
-<p>»Wer sollte auch zu uns kommen?« mischt sich der Arzt
-ins Gespräch. »Wir leben ja hier wie die reinen Waldteufel:
-in hundert Jahren passiert nichts Neues.«</p>
-
-<p>»Was soll uns auch das Neue?« sagt Pizonskij. »Wir
-haben ja alles; das Wetter ist schön, wir sitzen gemütlich auf
-unserm Stein und keiner verübelt es uns. Käme aber ein
-neuer Mensch her, so nähme er vielleicht Anstoß, es gäbe
-ein Gerede und&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ein Gerede: warum sitzen sie so nackigt da?« unterbricht
-ihn Komar ungeniert.</p>
-
-<p>»Was ist das für ein Stadthauptmann, der sich von einem
-Frauenzimmer waschen läßt?« wirft der Arzt ein.</p>
-
-<p>»Ja, das ist wahr,« ruft der Rittmeister und schaut sich
-beunruhigt um.</p>
-
-<p>Komar bläst sich in den Schnurrbart, lächelt und sagt leise:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_106">[106]</a></span></p>
-
-<p>»Und dann wird's heißen: was hat der Polizeichef auf
-dem Komar ins Wasser zu reiten?«</p>
-
-<p>»Halt's Maul, Komar!«</p>
-
-<p>»Auch das, auch das wird Fragen veranlassen,« sagt wieder
-der sanfte Pizonskij und seufzt, indem er fortfährt: »Und
-jetzt sitzen wir hier ohne alle Neuigkeiten wie im Paradiese.
-Selber sind wir nackt, aber wir sehen alle Schönheit der Welt:
-wir sehen den Wald, sehen die Berge, sehen die Tempel
-Gottes, das Wasser, das Grün der Wiesen; dort im Uferschilf
-piepen die jungen Entlein; vor uns im Wasser spielt
-das Völklein der kleinen Fische so fröhlich. Groß ist deine
-Güte, o Herr!«</p>
-
-<p>Die letzten Worte hatte Pizonskij mit erhobener Stimme
-gesprochen, sie hallten weit über den Fluß hin, wurden von
-den Hügeln zurückgeworfen und klangen dann noch ein drittes
-Mal etwas dumpfer von dem flachen Ufer wider. Pizonskij
-horcht auf, streckt den Zeigefinger über seinem kahlen Kopfe
-zum Himmel empor und sagt:</p>
-
-<p>»Dreimal antwortet dir die Güte des Herrn: was kann
-es Schöneres geben, als in solchem Frieden zu leben und in
-ihm sein Dasein zu vollenden.«</p>
-
-<p>»Wahr, sehr wahr,« antwortet der Rittmeister mit einem
-Seufzer. »Da haben der Arzt und ich uns eine kleine Neuerung
-gestattet: wir erlaubten dem Warnawa eine Leiche
-auszukochen. Wozu hat das nicht geführt! Übrigens, Diakon,
-vergiß nicht, daß du versprochen hast, dem Warnawa die
-Knochen wegzunehmen.«</p>
-
-<p>»Warum sollte ich's vergessen? Ich bin kein Manichäer,
-den man hundertmal mahnen muß. Was ich versprochen
-habe, das halte ich auch.«</p>
-
-<p>»Hast du? Hast du's wirklich schon?«</p>
-
-<p>»Natürlich hab' ich's.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_107">[107]</a></span></p>
-
-<p>»Du flunkerst, Diakon!«</p>
-
-<p>Achilla schweigt.</p>
-
-<p>»Warum redest du denn nicht? Erzähle doch, wie du ihm
-die Knochen weggenommen hast. Nun? Was Teufel bist
-du denn heut so solide?«</p>
-
-<p>»Warum soll ich nicht solid sein, wenn meine Taille es
-mir gestattet?« erwidert Achilla selbstbewußt. »Ihr zwei, du
-und der Arzt, macht Dummheiten, und ich muß sie wieder
-gutmachen. Na, da bin ich eben zum Warnawa ins Fenster
-hineingestiegen, hab die Knochen alle in einen Sack gesteckt&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Nun und dann, Achilla? Was dann, mein Lieber?«</p>
-
-<p>»Dann ging es ganz dumm.«</p>
-
-<p>»Ja wie denn? So erzähle doch!«</p>
-
-<p>»Was soll ich erzählen, wo ich selber nichts weiß? Dann
-hat mir jemand die Knochen wieder wegstibitzt.«</p>
-
-<p>Porochontzew springt auf und schreit:</p>
-
-<p>»Was? Wieder gestohlen?«</p>
-
-<p>»Ja, wie soll ich sagen? Gestohlen ist vielleicht nicht das
-richtige Wort. Ich weiß nur, daß ich den ganzen Kram zu
-mir nach Haus brachte und ihn in meinen Karren schüttete,
-um heut damit zur Begräbnisstätte zu fahren. Aber wie
-ich morgens nachseh, ist nichts mehr da &ndash; bis auf das kleine
-Schwänzchen hier.«</p>
-
-<p>Der Arzt bricht in ein lautes Gelächter aus.</p>
-
-<p>»Was lachst du?« fragt der Diakon geärgert.</p>
-
-<p>»Ein Schwänzchen ist übriggeblieben, sagst du?«</p>
-
-<p>Achilla wird böse.</p>
-
-<p>»Nun ja, ein Schwänzchen,« erwidert er, »oder was soll
-das sonst sein?«</p>
-
-<p>Der Diakon löst von dem Striegel einen menschlichen
-Fußknöchel, den er mit einem Endchen Bindfaden daran befestigt<span class="pagenum"><a id="Seite_108">[108]</a></span>
-hatte, reicht ihn dem Arzt hin und sagt trocken: »Da,
-sieh's dir an, wenn du mir nicht glaubst.«</p>
-
-<p>»Haben denn die Menschen Schwänze?«</p>
-
-<p>»Etwa nicht?«</p>
-
-<p>»Du hast also auch einen Schwanz?«</p>
-
-<p>»Ich?!« fragt Achilla.</p>
-
-<p>»Ja, du.«</p>
-
-<p>Der Arzt lacht wieder aus vollem Halse, der Diakon aber
-wird bleich und sagt:</p>
-
-<p>»Hör mal, mein lieber Meister Quacksalber, scherzen kannst
-du, &ndash; aber mit Maß, wenn ich bitten darf. Vergiß nicht,
-daß ich eine geistliche Person bin.«</p>
-
-<p>»Na, schon recht! Aber sag mir mal erst, wo hast du deinen
-Astragalus?«</p>
-
-<p>Das unbekannte Wort »Astragalus« macht auf den Diakon
-einen verblüffenden Eindruck: die Fachbezeichnung für das
-unschuldige menschliche Sprungbein scheint ihm etwas äußerst
-Kränkendes, er schüttelt den Kopf, stößt einen tiefen Seufzer
-aus und sagt langsam:</p>
-
-<p>»Für so niederträchtig hätte ich dich allerdings nicht gehalten.«</p>
-
-<p>»Ich niederträchtig?«</p>
-
-<p>»Jawohl! Einer geistlichen Person mit derartigen dummen
-Fragen zu kommen ist niederträchtig. Aber merk dir: deinen
-faulen Scherz mit dem Schwanz hab' ich dir nachgesehen,
-aber jetzt nimm dich in acht!«</p>
-
-<p>»O wie schrecklich!«</p>
-
-<p>»Ja, hab' dich nur! Ich mein' es ernst. Eure Freigeisterei
-hängt mir längst zum Halse heraus.«</p>
-
-<p>»Ja, ist denn das Freigeisterei, wenn man Astragalus
-sagt?«</p>
-
-<p>»Kusch!« schreit der Diakon.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_109">[109]</a></span></p>
-
-<p>»Schafskopf« meint der Arzt achselzuckend.</p>
-
-<p>»Kusch!« donnert Achilla und hebt drohend die Faust.
-Seine Augen funkeln grimmig.</p>
-
-<p>»Ist das ein Esel! Kein vernünftiges Wort kann man
-mit ihm reden.«</p>
-
-<p>»Was? Ein Esel bin ich? Man kann nicht mit mir reden?
-Na warte! Ich bin euch kein sanfter Sawelij! Runter in
-den Sumpf!«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten hat der Diakon die Leine seines Pferdes
-aus der rechten Hand in die linke genommen, packt den
-Arzt mit der Rechten um den Leib und reißt ihn ins Wasser
-hinab. Sie tauchen unter, werden wieder sichtbar und verschwinden
-aufs neue. Obgleich das Verhalten des Diakons
-deutlich verriet, daß er keineswegs die Absicht hatte, den Arzt
-zu ertränken, sondern ihn nur etlichemal untertauchen wollte,
-&ndash; er hielt auch, während sie so zappelten, immer nach dem
-Ufer zu &ndash; so versetzte das verzweifelte Gebrüll des Medikus
-die Drei auf dem Steine und die am Ufer stehende Felizata
-doch in eine so unbeschreibliche Angst, daß auch sie ein lautes
-Geschrei erhoben, welches die ganze Umgegend alarmieren
-mußte.</p>
-
-<p>So begann der Diakon Achilla seinen Ausrottungskampf
-gegen die in Stargorod um sich greifende gemeingefährliche
-Freigeisterei, und wir werden sehen, was für gewaltige
-Folgen dieser energische Anfang zeitigen sollte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_110">[110]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_8">Achtes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Lärm und das Geschrei der Badenden hatten den
-Propst, der an seinem Fenster kaum ein wenig eingeschlummert
-war, aufgeweckt. Der Alte erschrickt, springt auf, sieht
-auf den Fluß hinaus, kann aber ganz und gar nicht begreifen,
-was eigentlich geschehen. In diesem Augenblicke
-hält vor seinem Hause ein eleganter, von einem grauen
-Vollblutpferde gezogener Jagdwagen. Darin sitzt eine
-schwarzgekleidete junge Dame: sie kutschiert selbst, neben ihr
-ein kleiner Groom. Die Dame ist die junge verwitwete Gutsbesitzerin
-Alexandra Iwanowna Serbolowa, seine ehemalige
-Lieblingsschülerin.</p>
-
-<p>»Alexandra Iwanowna, seien Sie mir herzlichst willkommen,«
-erwidert der Propst ihren Gruß. »Meine Frau steht
-gleich auf, und dann sind Sie so freundlich, eine Tasse Tee
-mit uns zu nehmen.«</p>
-
-<p>Die Dame dankt. Sie sagt, sie sei in die Stadt gekommen,
-um eine Totenmesse für ihren verstorbenen Gatten lesen zu
-lassen, und bittet Tuberozow, doch recht bald in die Kirche
-zu kommen.</p>
-
-<p>»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«</p>
-
-<p>»Vielen Dank. Ich will jetzt nur noch für einen Augenblick
-zur alten Prepotenskaja, sonst ist sie gekränkt.«</p>
-
-<p>Sie nickt dem Priester zu und im nächsten Augenblick ist
-der leichte Wagen verschwunden. Der Propst schickt das<span class="pagenum"><a id="Seite_111">[111]</a></span>
-Dienstmädchen zum Küster mit dem Befehl, zur Frühmesse
-läuten zu lassen und den Diakon Achilla in die Kirche zu
-beordern; dann tritt er vor den Heiligenbilderschrein, seine
-Morgenandacht zu verrichten. Eine halbe Stunde später
-schlägt die Domglocke an, und gleich darauf kommt das Mädchen
-zurück mit der Meldung, sie habe den Diakon Achilla
-nicht finden können, niemand wisse, wo er sei. Zum Warten
-ist aber keine Zeit mehr und so nimmt der Propst seinen
-Stab mit der Inschrift »Der Stecken Aarons erblühte« und
-begibt sich in den Dom. Er ist noch keine zehn Minuten
-fort, als die Pröpstin Natalia Nikolajewna durch das plötzliche
-Erscheinen des Diakons Achilla höchlich überrascht wird.
-Er ist ganz außer sich.</p>
-
-<p>»Mütterchen,« ruft er, »alles, was ich Euch gestern von
-den Totengebeinen versprochen hatte, ist zuschanden geworden.«</p>
-
-<p>»Das habe ich mir doch gleich gedacht,« erwidert Natalia
-Nikolajewna.</p>
-
-<p>»Nein, bitte sehr, Ihr müßt erst wissen, warum es zuschanden
-geworden ist. Wie ich es Euch gestern versprach, so habe
-ich's auch gemacht. Ganz wie sich's gehört, habe ich die
-Überreste dieses Menschen, den der Warnawka gekocht hat,
-durchs Fenster gestohlen, in den Sack gesteckt und zu mir nach
-Haus getragen. Dann habe ich sie in den Karren geschüttet.
-Aber als ich heute nachschaue, ist der Karren leer! Kann ich
-dafür?«</p>
-
-<p>»Ja, wer beschuldigt dich denn?«</p>
-
-<p>»Das ist es ja eben. Mich überkam sogar ein Zweifel,
-ob ich sie nicht schon nachts vergraben hätte, aber heut früh
-im Bade war der Arzt so frech gegen mich, daß ich gleich aus
-dem Bad zum Warnawka gerannt bin. Alle Fensterläden
-waren geschlossen. Ich guckte durch eine Ritze, und da seh'<span class="pagenum"><a id="Seite_112">[112]</a></span>
-ich, daß der Gekochte wieder heil und ganz am Nagel hängt!
-Wo ist der Vater Propst? Ich muß ihm gleich alles erzählen!«</p>
-
-<p>Natalia Nikolajewna schickte den Diakon ihrem Gatten
-nach, und der schnellfüßige Achilla hatte den Propst auch bald
-eingeholt.</p>
-
-<p>»Was rennst du so … und fauchst und schnaufst und
-stampfest?« fragt ihn Sawelij, als er seine Schritte hinter
-sich hört.</p>
-
-<p>»Das … das tu ich immer, Vater Sawelij, wenn ich
-laufe. Habt Ihr es nie bemerkt?«</p>
-
-<p>»Nein, bisher nicht. Aber sprich doch mit dem Arzt, er
-hilft dir vielleicht.«</p>
-
-<p>»Jawohl, der Arzt! Redet mir nur nicht von dem, Vater
-Sawelij! &ndash; Er hat mich heute ganz aus der Fassung gebracht.
-Denkt Euch diese Frechheit, Vater Propst …« Der
-Diakon beugt sich zu dem Ohre des Propstes, und nachdem
-er ihm die Gemeinheit des Arztes leise mitgeteilt hat, fügt
-er laut hinzu: »Nun sagt selbst, ist das nicht furchtbar unverschämt?«</p>
-
-<p>»Ich finde nichts dabei,« erwidert der Propst, indem er
-langsam die Stufen vor dem Domportal emporsteigt. »Astragalus
-ist ein Fußknöchel, und ich verstehe nicht recht, was
-dich in solche Wut versetzt hat.«</p>
-
-<p>Der Diakon tritt einen Schritt zurück und ruft erstaunt:
-»Ein Fußknöchel?«</p>
-
-<p>»Ja freilich.«</p>
-
-<p>Achilla schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn:</p>
-
-<p>»Ich Dummkopf!«</p>
-
-<p>»Was hast du gemacht?«</p>
-
-<p>»Nein, ich bitt' Euch, seid so gut, nennt mich einen Dummkopf!«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_113">[113]</a></span></p>
-
-<p>»Ja, weswegen denn?«</p>
-
-<p>»Nein, nein, nennt mich nur so. Ich hätte diesen Arzt
-beinahe ersäuft.«</p>
-
-<p>»Nun gut, mein Lieber, ich erfülle deinen Wunsch: du bist
-wahrhaftig ein Narr, und ich sage dir's voraus, wenn du
-von dergleichen Narrengewohnheiten nicht bald lässest, so
-kommt es noch einmal dahin, daß du jemand ums Leben
-bringst.«</p>
-
-<p>»Erbarmt Euch, Vater Sawelij, ich bin doch nicht ganz
-von Sinnen.«</p>
-
-<p>»Überall, überall folgt dir der Unfrieden auf dem Fuße!«</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht, woher das kommt. Ich bin für Frieden
-und Ordnung, aber es kommt immer anders.«</p>
-
-<p>Hierauf erzählt Achilla in großer Hast, aber mit allen
-Einzelheiten, wie er gestern das Gerippe gestohlen und wie
-es dann wieder verschwunden und an seinem alten Platze
-erschienen sei. Tuberozow hört ihm zu. Seine Augen
-werden immer größer und größer, und unwillkürlich tritt
-er ein paar Schritte zurück, indem er ausruft:</p>
-
-<p>»Großer Gott, was für ein unseliger Mensch!«</p>
-
-<p>»Wer, Vater Sawelij?« meint Achilla, nicht weniger erstaunt.</p>
-
-<p>»Du, mein Bester, du!«</p>
-
-<p>»Aus welchem Grunde bin ich unselig?«</p>
-
-<p>»Welch böser Geist treibt dich zu alledem?«</p>
-
-<p>»Wozu?«</p>
-
-<p>»Zum Einbrechen, Rauben, Zanken.«</p>
-
-<p>»Ihr habt mich dazu angetrieben,« erwidert der Diakon
-ganz ruhig und freundlich. »Ihr sagtet: so oder so &ndash; der
-Sache muß ein Ende gemacht werden. Und da hab' ich
-ihr ein Ende gemacht. Ich habe nur Euren Wunsch erfüllt.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_114">[114]</a></span></p>
-
-<p>Tuberozow schüttelt den Kopf, wendet sich dem Portal zu
-und tritt in die Vorhalle, wo er die Serbolowa in stillem Gebete
-kniend erblickt. In einer Ecke aber sitzt der Lehrer Prepotenskij
-auf einer Totenbahre und klopft sich den Staub
-von den Beinkleidern. Sein Gesicht strahlt. Er schaut den
-Propst und den Diakon mit triumphierendem Lächeln an.
-Was konnte ihn, den Gottesleugner, in die Kirche geführt
-haben? Darüber erstaunte Tuberozow nicht weniger
-als Achilla; nur vermochte Achilla diesen Gedanken auch
-während der Messe nicht zu bannen, während der ernste Sawelij
-ihn bereits von sich gewiesen hatte, als sich die Tür
-zum Altarraum vor ihm auftat, denn er war gewohnt, mit
-Furcht und Zittern vor das Angesicht seines Gottes zu
-treten.</p>
-
-<p>Eine Stunde war vergangen und die Totenmesse beendet.
-Die Serbolowa und ein entfernter Vetter von ihr, ein gewisser
-Darjanow, hatten beim Propst Tee getrunken und
-waren fortgegangen. Die Serbolowa wollte gegen Abend,
-wenn die Sonne nicht mehr so heiß brannte, auf ihr Gut
-zurückkehren. Jetzt aber gedachte sie etwas zu ruhen.
-Darjanow sollte mit ihr bei der alten Prepotenskaja Mittag
-essen, wohin Tuberozow später ebenfalls kommen wollte,
-um ein Gläschen Tee zu trinken und seinem lieben Beichtkinde
-das Geleite zu geben.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_115">[115]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_9">Neuntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Öde, traurig und eintönig ist der Anblick der menschenleeren
-Straßen unserer Kreisstädte zu jeder Zeit; aber nie
-erscheinen sie so ausgestorben wie an einem heißen Sommermittag.
-Der dicke, graue Staub, den stellenweise die Spuren
-von Wagenrädern durchfurchen, das schläfrige, welke Gras,
-das die ungepflasterten Straßen an der Seite, wo die Trottoirs
-anzunehmen sind, umsäumt, die grauen, halbverfaulten,
-schiefen Zäune, die Kirchentüren mit ihren schweren Hängeschlössern,
-die Holzbuden, die von ihren Besitzern verlassen
-und mit zwei übers Kreuz geschlagenen Brettern verbarrikadiert
-sind, &ndash; alles das schlummert in der Mittagshitze
-so verführerisch, daß der Mensch, der verurteilt ist, in
-dieser Umgebung zu leben, ganz von selbst alle Munterkeit
-verliert und auch matt wird und einschläft.</p>
-
-<p>Um diese Stunde war es, als Valerian Nikolajewitsch
-Darjanow, nachdem er einige öde Straßen durchschritten
-hatte, in ein enges Gäßchen einbog, das durch einen alten
-Gitterzaun völlig abgeschlossen ward. Hinter dem Zaun war
-eine Kirche sichtbar. Darjanow bückte sich tief und trat durch
-das niedrige Pförtchen in den Kirchhof. Hier stand in einer
-Ecke das kaum bemerkbare Hüttchen des Kirchenwächters,
-und weiter hinten, inmitten eines ganzen Waldes verfallener
-Grabkreuze, verbarg sich das niedrige, dreifenstrige Häuschen
-der Hostienbäckerin Prepotenskaja.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_116">[116]</a></span></p>
-
-<p>Der Friedhof war frei von dem Staube, der in dicker Schicht
-alle Straßen und Plätze der Stadt bedeckte. Hier wuchs
-schönes grünes Gras, und zwei Hühner, die sich im weichen
-Staube im Sonnenschein ausliegen wollten, mußten vor
-die Pforte hinaus und sich unter der Schwelle in den weichen
-Staub eingraben, so daß man sie kaum sehen konnte. Dort
-lagen sie meist den ganzen Tag, fest überzeugt, daß keiner
-sie stören werde. Als Darjanow über sie hinwegschritt,
-rührten sie sich nicht; jedes öffnete nur eins seiner bernsteinfarbenen
-Augen, begleitete den Gast mit einem schläfrigen
-Blick und schloß dann die grauen Lider wieder. Darjanow
-ging geradewegs auf das Pförtchen des Prepotenskijschen
-Hauses zu und schlug mit dem schweren eisernen Ring
-gegen das Holz. Alles blieb stumm. Kein Hund bellte,
-keine menschliche Stimme ließ sich vernehmen. Darjanow
-klopfte noch einmal, aber wieder erfolglos. Dann ließ er
-alle Hoffnung fahren, kroch unter dem Lattenwerk hindurch
-ins Himbeergesträuch, welches das Haus der Hostienbäckerin
-dicht umgab, und schaute in eins der Fenster. Diese waren
-gegen die Sonnenhitze durch Läden geschlossen, aber durch
-die breiten Ritzen konnte man den ganzen Innenraum übersehen.
-Es war ein großes, hohes Zimmer, fast ohne Möbel,
-mit zwei Türen, durch deren eine man in eine zweite, winzige
-blaue Kammer mit einem hohen Bett blickte, über welchem
-eine aus Kattunflicken zusammengenähte Decke lag.</p>
-
-<p>Das große, leere Zimmer gehörte dem Lehrer Warnawa,
-die kleine Kammer seiner Mutter. Das ganze Haus bestand
-nur aus diesem zwei Räumen, denn die winzige Küche, in
-der man sich kaum umdrehen konnte, zählte nicht mit.</p>
-
-<p>Augenblicklich standen beide Zimmer leer, aber Darjanow
-hörte im Vorhause hinter der Tür eifrig jemand mit dem
-Hackmesser arbeiten, und im Garten unter dem Fenster<span class="pagenum"><a id="Seite_117">[117]</a></span>
-schien entweder Ziegel gerieben oder Eisen gefeilt zu werden.
-Durchaus überzeugt, alles Klopfen führe zu nichts, trat
-Darjanow an den Zaun, der das Gärtchen umgab, und begann
-eine neue Musterung durch den Spalt, den er zwischen
-den Brettern entdeckte. Es war aber nicht so leicht, denn
-an den Zaun lehnte sich dichtes Gesträuch, das den Menschen,
-der da mit den Ziegeln oder der Feile arbeitete, nicht sehen ließ.
-Darjanow mußte sich einen neuen Beobachtungspunkt suchen.
-Er trat mit der Fußspitze auf ein vorspringendes Brett,
-faßte mit der Hand den oberen Rand des Zaunes und schwang
-sich empor. Jetzt konnte er den ganzen kleinen, aber dichtbewachsenen
-und sehr reinlich gehaltenen Garten übersehen.
-Quer hindurch ging ein von der Hostienbäckerin eigenhändig
-angelegter, sauber mit gelbem Sand bestreuter Weg, auf
-welchem der Lehrer Warnawa saß. Er hielt die ausgestreckten
-Beine auseinandergespreizt, wie Kinder beim Ballspielen.
-Zwischen seinen Knien lag auf dem Sande ein ganzer Haufen
-Menschenknochen und ein Bogen blaues Packpapier. In
-jeder Hand hielt er einen Ziegelstein und rieb sie mit gewaltiger
-Kraftanstrengung aneinander. Der Schweiß floß in
-Strömen über sein Gesicht, obgleich er im Schatten saß
-und alle irgend überflüssigen Toilettenstücke abgelegt hatte.
-Er war barfuß und nur mit Hemd und Hose, welch letztere
-nur durch einen Träger gehalten wurde, bekleidet.</p>
-
-<p>»Warnawa Wasiljewitsch, machen Sie mir auf!« rief Darjanow
-ihm zu, aber dieser Ruf verhallte ergebnislos.</p>
-
-<p>Eher hätten die Toten auf dem verfallenen Friedhof dem
-Gast Bescheid geben können, als der ganz in seine Arbeit
-vertiefte Lehrer. Sobald Darjanow das begriffen hatte,
-verzichtete er auf weiteres Rufen und sprang vom Zaun
-mitten in den Garten hinein. Er sprang leicht und gewandt,
-aber die alten, wackligen Bretter schlugen trotzdem krachend<span class="pagenum"><a id="Seite_118">[118]</a></span>
-aneinander und erschreckten den Lehrer dermaßen, daß er
-in größter Hast seine Ziegelsteine fallen ließ und, auf allen
-Vieren stehend, die Knochen zusammenzusuchen begann.</p>
-
-<p>»Na, Warnawa Wasiljewitsch, guter Freund! Sie sind
-aber vertieft in Ihre Arbeit! Man kann sich ja die Lunge aus
-dem Halse schreien!« begrüßte ihn der Gast hervortretend.
-Als Warnawa ihn erkannte, ging ein Leuchten über sein Antlitz,
-und er zwinkerte mit den Augen, als er sagte:</p>
-
-<p>»Ah, Sie sind's! Und ich dachte, es wäre der Achilla.«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten breitete der Lehrer freudig die Arme
-aus, und der ganze Haufen Knochen plumpste auf den Weg,
-als würde plötzlich das Innere des Mannes ausgeschüttet.</p>
-
-<p>»Ach, Valerian Nikolajewitsch,« meinte er, »wenn Sie wüßten,
-was hier vorgeht. Nein, hol's der Teufel, &ndash; da soll
-man noch in diesem verfluchten Rußland bleiben!«</p>
-
-<p>»Um Gotteswillen, was ist denn passiert? Wollen Sie
-es mir nicht verraten?«</p>
-
-<p>»Ja gewiß, wenn … wenn Sie kein Spion sind.«</p>
-
-<p>»Ich glaube nicht.«</p>
-
-<p>»Dann setzen Sie sich auf die Bank und ich will weiter
-arbeiten. Setzen Sie sich nur, mir ist Ihre Gegenwart sogar
-sehr angenehm; ich habe so wenigstens einen Zeugen.«</p>
-
-<p>Der Gast kam der Aufforderung nach und bat den Lehrer
-noch einmal, zu berichten, was für ein Leid ihn betroffen
-hätte und wie alles so gekommen wäre.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_119">[119]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_10">Zehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Mein Leiden begann mit meiner Geburt, Valerian Nikolajewitsch,«
-fing der Lehrer an, »und wurzelt in der Hauptsache
-darin, daß ich von meiner Mutter geboren bin.«</p>
-
-<p>»Trösten Sie sich, lieber Freund, alle Menschen sind von
-ihren Müttern geboren,« entgegnete Darjanow und wischte
-sich den Schweiß von der Stirn. »Nur Macduff wurde
-aus dem Mutterleibe geschnitten, und auch nur, damit
-Macbeth von keinem besiegt werde, den ein Weib gebar.«</p>
-
-<p>»Na ja, Macbeth! … Was schert mich euer Macbeth?
-Wir brauchen keinen Macbeth, wir brauchen Aufklärung. Aber
-was soll man machen, wenn man hier nicht studieren kann?
-Ich kann es ohne weiteres beschwören, daß weder in Petersburg,
-noch in Neapel, noch sonstwo in der Welt der Mensch,
-der etwas lernen will, auf solche Hindernisse stößt, wie hier
-bei uns. Da redet man von Spanien … Aber wie ist's
-mit Spanien? In Spanien ist die Lutherbibel verboten.
-Schön! Dafür aber haben sie auch Verschwörungen und
-Aufstände und Gott weiß was alles. Ich bin überzeugt,
-wenn sich dort jemand ein Skelett zu wissenschaftlichen Zwecken
-anschafft, so wird niemand was dagegen einzuwenden haben.
-Aber hier? Kaum hatte ich die Knochen präpariert, so ließ
-meine eigene Mutter mir keine Ruhe mehr. ›Sei lieb, Warnawa,
-mein Kind, ich will ihn beerdigen.‹ Was heißt das:<span class="pagenum"><a id="Seite_120">[120]</a></span>
-›ihn‹? Was ist das für ein ›Er‹? Warum sind diese Knochen
-ein Er und keine Sie? Hab' ich recht oder nicht?«</p>
-
-<p>»Vollkommen recht.«</p>
-
-<p>»Ausgezeichnet. Jetzt sagt man, daß ich meiner Mutter
-nicht vernünftig zuzureden verstehe. Ja, was soll ich denn
-noch sagen? ›Mütterchen, laßt die Knochen in Ruhe,‹
-sprach ich. ›Ihr versteht nichts davon. Ich habe sie nötig,
-ich studiere den Menschen daran.‹ Aber was soll ich machen,
-wenn sie mir stets darauf antwortet: ›Weißt du, lieber Warnascha,
-es ist doch besser, wenn ich ihn begrabe.‹ &ndash;&nbsp;&ndash; Das
-ist doch nicht zum Aushalten.«</p>
-
-<p>»Allerdings.«</p>
-
-<p>»Ich sagte ihr, um sie los zu werden: ›Was quält Ihr Euch
-um ihn, Mutter, er war ein Jude.‹ Aber sie glaubt mir nicht.
-›Du lügst,‹ meint sie, ›das gibt dir der Teufel ein. Ich weiß
-es doch besser, die Juden haben alle Schwänzchen.‹ Niemals,
-sage ich, haben die Menschen, gleichviel ob Juden oder Nichtjuden,
-Schwänze gehabt. Und dann fängt der Zank an. Ich
-trete, wie sich's gehört, für die Juden ein, und sie widerspricht
-mir. Ich beweise ihr, sie hätten keine Schwänze, aber sie besteht
-darauf: Ja &ndash; nein &ndash; mit Schwanz &ndash; ohne Schwanz
-… heißt es. Und wenn sie sich gar nicht mehr zu helfen
-weiß, dann zischt sie nur noch: Kusch &ndash; kusch &ndash; kusch &ndash; und
-fuchtelt mir mit den Händen vor der Nase herum, als wär'
-ich ein Huhn, das sie von den Gemüsebeeten verjagen will.
-Und da verlangt man noch, man solle den Frauen Freiheit
-geben. Ich bin gewiß für die Emanzipation, aber man muß
-die Sache mit Vernunft anfangen: einer jungen, entwickelten
-Frau, die sich in ihrem Tun keinen Zwang auferlegen will,
-soll man die Freiheit geben, aber diesen alten Weibern &ndash;&nbsp;&ndash;
-Nein, dagegen bin ich durchaus, und wundere mich, daß
-noch niemand diese Frage öffentlich behandelt hat. Hinter<span class="pagenum"><a id="Seite_121">[121]</a></span>
-all dem stecken die Pfaffen mit diesem Tuberozow an der
-Spitze.«</p>
-
-<p>»Sie übertreiben!«</p>
-
-<p>»Warum nicht gar! Ich habe die Beweise dafür in der
-Hand. Tuberozow hat mich nie leiden mögen, jetzt aber
-haßt er mich einfach wegen meiner naturwissenschaftlichen
-Studien. Ich habe ihn ja einmal geschnitten.«</p>
-
-<p>»Wie haben Sie denn das gemacht?«</p>
-
-<p>»Nicht einmal, hundertmal hab' ich ihn schon geschnitten,
-&ndash; zuletzt noch in der vorigen Woche. Damals in der Schule,
-im Sprechzimmer des Inspektors, fing er an zu predigen,
-die Feiertage seien etwas ganz Besonderes, &ndash; da hab' ich
-ihn in aller Gegenwart geschnitten. Ich wies ihn einfach
-darauf hin, es sei mathematisch bewiesen, daß die Festlegung
-der Feiertage fehlerhaft sei. Wie steht's denn um unsere Feste?
-fragte ich. Wir feiern Weihnachten, und im Auslande haben
-sie es schon dreizehn Tage früher gefeiert. Hab' ich nicht recht?«</p>
-
-<p>»Es sind aber nur zwölf Tage, nicht dreizehn.«</p>
-
-<p>»Nun gut, zwölf, darauf kommt es nicht an. Aber er schlug
-gleich mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie: ›Paß
-auf, du Mathematikus, daß man dir dafür nicht noch mal
-in die Physik fährt!‹ Ich frage Sie: was meint er mit dem
-Worte Physik? Sie werden mich verstehen, &ndash; so redet doch
-nur ein Ignorant oder Zyniker, &ndash; und: ist das überhaupt
-eine Antwort, frage ich Sie?«</p>
-
-<p>Der Gast lachte und sagte, eine Antwort sei es schon, aber
-freilich eine höchst merkwürdige.</p>
-
-<p>»Einfach dumm ist sie. Aber so geht es tagaus, tagein.
-Gestern abend erst komme ich von der Biziukina, und wenige
-Schritte vor mir geht der Kommissar Danilka, &ndash; wissen
-Sie, jener Herumtreiber, der für zwei Rubel das Pferd beim
-Glitsch wegführte, als Achilla Butter schlagen mußte. Ich<span class="pagenum"><a id="Seite_122">[122]</a></span>
-kam mit ihm ins Gespräch. Wo warst du, Danilka? frag' ich
-ihn. Er antwortet, er sei beim Polizeichef gewesen und
-habe ihm Beeren von der Postmeisterin gebracht. Dort habe
-man gerade von mir gesprochen, der Diakon sei dagewesen,
-bemerkte er noch. Ich geriet natürlich in Aufregung, aber
-er suchte mich zu beruhigen: ›Nicht von Ihnen selbst war die
-Rede, sondern von dem toten Menschen, den Sie bei sich
-haben.‹ Begreifen Sie das Intrigenspiel? Ich gab dem Danilka
-zwanzig Kopeken. Was sollte ich machen? Es ist ja
-nicht schön, aber es geht nicht ohne Spione. Und nun berichtete
-er mir, der Diakon habe gesagt, es sei ein großer
-Fehler, mir den Ertrunkenen überlassen zu haben. Aber
-man kann es noch wieder gutmachen. Der Stadthauptmann
-kennt natürlich meinen Charakter und meinte deshalb auch,
-ich würde die Knochen nicht wieder zurückgeben, &ndash; und ich
-geb' sie auch bestimmt nicht heraus! Achilla aber riet: ›Man
-nimmt sie ihm einfach fort und bestattet sie in aller Ruhe.‹
-Da meinte der Stadthauptmann: ›Sollte man vielleicht
-einen Schutzmann nach den Knochen schicken?‹ Jedoch dieser
-Bandit antwortet: ›Ich brauche keinerlei polizeiliche Hilfe.
-Ich hole sie einfach, lege sie in einen Kindersarg und die
-Sache ist erledigt.‹«</p>
-
-<p>Plötzlich stürzte Prepotenskij auf die Gebeine los, breitete
-die Hände über sie aus, wie eine Henne ihre vor dem Habicht
-flüchtenden Küchlein mit den Flügeln bedeckt, und sagte mit
-erregter Stimme:</p>
-
-<p>»Bitte sehr! Solange ich am Leben bin, wird die Sache
-nicht gemacht! Es ist schon genug, daß Ihr alles verzögert!«</p>
-
-<p>»Was verzögern ›sie‹ denn?«</p>
-
-<p>»Als ob Sie das nicht wüßten!«</p>
-
-<p>»Etwa die Revolution?«</p>
-
-<p>Der Lehrer brach seine Arbeit ab und nickte spöttisch.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_123">[123]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_11">Elftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Nachdem ich dies alles von Danilka gehört hatte,« fuhr
-Warnawa fort, »begab ich mich zur Biziukina zurück, um sie
-davon in Kenntnis zu setzen, und eine Stunde später, als ich
-nach Hause kam, waren alle Knochen schon fort. ›Wo sind sie
-geblieben? Wo?‹ schrei' ich, &ndash; und diese Dame, meine Frau
-Mama, antwortet: ›Sei nicht bös, mein lieber Warnaschenka
-(haben sie mir schon so einen scheußlichen Namen gegeben,
-muß er jetzt auch noch so ekelhaft verdreht werden), sei nicht
-bös, die Obrigkeit hat sie holen lassen.‹ &ndash; ›Was ist das wieder
-für ein Blödsinn,‹ schrei' ich, ›von was für einer Obrigkeit
-quasselt Ihr denn?‹ &ndash; ›Während du fort warst,‹ sagt
-sie, ›kam der Diakon Achilla ans Fenster und hat sie alle
-mitgenommen.‹ Was sagen Sie dazu? ›Seit wann gehört
-der Diakon zur Obrigkeit?‹ &ndash; ›Ja, Lieber,‹ sagt sie, ›wieso
-denn nicht? Er hat doch die Weihen empfangen.‹ Wie soll
-man mit einer solchen Person reden? Sie lachen, Ihnen
-kommt das komisch vor, mir aber war gar nicht lächerlich
-zumute, als ich selber zu diesem Banditen hingehen mußte.
-Jawohl! Achilla nennt mich feige und alle glauben es, aber
-gestern habe ich bewiesen, daß ich kein Feigling bin; geradewegs
-begab ich mich zu Achilla. Als ich hinkam, schnarchte
-er bereits. Ich klopfte ans Fenster und rief: ›Gebt
-mir meine Knochen heraus, Achilla Andrejewitsch.‹ Es
-dauerte eine Weile, bis er erwachte, und sofort mit seinen<span class="pagenum"><a id="Seite_124">[124]</a></span>
-Unverschämtheiten loslegte: ›Was willst du mit den Knochen?
-(Was soll dies familiäre Du? Seit wann sind wir so intim?)
-Du bist ohne Knochen viel netter.‹ &ndash; ›Das geht Euch gar
-nichts an, ob und wann ich netter bin.‹ &ndash; ›Im Gegenteil,
-das geht mich sogar sehr viel an, denn ich bin eine geistliche
-Person.‹ &ndash; ›Aber Ihr habt nicht das Recht, fremdes Eigentum
-fortzunehmen.‹ &ndash; ›Sind denn Totengebeine Eigentum?
-Du solltest erst mal kapieren, daß du solches Eigentum gar
-nicht besitzen darfst.‹ Darauf erwiderte ich ihm, daß der
-Diebstahl den geistlichen Personen doch wohl auch nicht gestattet
-sei: er kenne wahrscheinlich die englischen Gesetze nicht.
-In England könne er dafür gehenkt werden. Und was antwortet
-er mir? ›Wenn du mir von allerlei Gesetzen vorschwatzen
-willst, dann bedenke gefälligst, daß du dafür nach
-der Gendarmeriekanzlei gebracht werden kannst. Da schiebt
-man dich bis zum Gürtel ins Kellerloch und dann setzt es
-Rutenhiebe mit zwei Bündeln zugleich. Dann hast du dein
-England.‹ Und damit schmeißt er sich wieder auf sein Bett.
-Jetzt war mir alles klar. Ich ging sofort zu Biziukins, um
-gleich alles Daria Nikolajewna zu erzählen, die ganz meiner
-Meinung war. Wie ich ihr gestern meine Vermutungen
-über den Diakon Achilla mitteilte, sagte sie sofort: ›Natürlich
-ist er ein Spion! In Ihrer gegenwärtigen, gefährlichen Lage
-muß es Ihre Hauptsorge sein, wieder in den Besitz der Knochen
-zu gelangen und sie dann aufs allereifrigste zu Lehrzwecken
-auszunutzen. Achilla kann sie jetzt bei Nacht noch nicht
-fortgeschafft haben, und wenn Sie sich gleich zu ihm schleichen,
-so können Sie sie wiederbekommen. Passen Sie nur auf, daß
-er Sie nicht erwischt, sonst könnte er Sie arg verhauen&nbsp;…‹«</p>
-
-<p>»Verhauen?«</p>
-
-<p>»So meinte sie, weil sie die Gewohnheiten des Achilla
-gut kennt, und fügte noch hinzu: ›Lassen Sie sich aber nicht<span class="pagenum"><a id="Seite_125">[125]</a></span>
-beirren. Nehmen Sie mein dickes, gemustertes Tuch und wickeln
-Sie es sich um den Hals. Auf den Kopf setzen Sie meine
-wattierte Winterkappe. Wenn er Sie dann wirklich ertappt
-und zuschlägt, so sind Sie geschützt und es tut Ihnen nicht weh.‹
-Ich legte alles an und zog los. So kam ich denn zum zweitenmal
-in den Hof dieses Viehes. Der Hund schlug an, aber
-Daria Nikolajewna hatte auch das vorausgesehen und mir
-ein Stück Kuchen für den Köter mitgegeben. Ich fütterte ihn
-und ging weiter, bis ich vor mir einen Karren stehen sah.
-Ich stürze auf ihn zu, &ndash; und richtig, da lagen sie alle drinnen,
-alle meine Knochen.«</p>
-
-<p>»Sie machten sich natürlich gleich an die Arbeit?«</p>
-
-<p>»Versteht sich! Ich nahm die Kappe vom Kopf, wickelte
-die Knochen hinein und raste im schnellsten Tempo davon.«</p>
-
-<p>»Und damit war die Geschichte zu Ende?«</p>
-
-<p>»Zu Ende? Nein, jetzt war sie erst in vollem Gange. Soll
-ich weitererzählen?«</p>
-
-<p>»Ich bitte darum!«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_126">[126]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_12">Zwölftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Erst muß ich Ihnen noch erklären, wie und warum ich
-heute in die Kirche gekommen bin. Früh fährt Alexandra
-Iwanowna Serbolowa bei uns vor. Sie kennen sie sicher
-besser als ich. Sie ist strenggläubig und ihre Anschauungen
-sind überhaupt stark rückständig, aber sie unterstützt meine
-Mutter in diesem und jenem, und deshalb bringe ich das
-Opfer und vermeide es, mit ihr zu streiten. Aber wozu
-sage ich das? Ach ja, &ndash; wie sie gekommen war, sagte meine
-Mutter zu mir: ›Steh auf, mein lieber Warnaschenka, und
-begleite Alexandra Iwanowna zur Kirche, damit die Hunde
-des Akziseeinnehmers ihr nichts zu Leide tun.‹ So ging ich
-mit. Sie wissen, ich betrete die Kirche sonst nie; aber schließlich
-können mir weder Achilla noch Sawelij dort etwas anhaben,
-und so tat ich's eben. Aber wie ich da stehe, fällt mir plötzlich
-ein, daß ich meine Zimmertür nicht abgeschlossen habe. Ich
-laufe deshalb so schnell ich kann nach Hause, finde aber
-meine Mutter nirgends. Ich werfe einen Blick auf die Wand,
-&ndash; die Knochen sind weg!«</p>
-
-<p>»Sie hatte sie begraben?«</p>
-
-<p>»Jawohl!«</p>
-
-<p>»Ohne Scherz?«</p>
-
-<p>»Als ob man mit <em class="gesperrt">der</em> Frau scherzen könnte! Ich bat
-und bettelte: ›Liebes, gutes Mütterlein, ich will Euch lieben
-und ehren, aber sagt mir, wo habt Ihr meine Knochen gelassen?<span class="pagenum"><a id="Seite_127">[127]</a></span>‹
-›Frage nicht, Warnascha, mein Liebling, sie haben
-jetzt Ruhe.‹ Ich versuchte, was ich konnte, ich weinte, drohte
-mit Selbstmord, versprach ihr endlich sogar, fortan jeden Tag
-zu beten, &ndash; es half alles nichts! Voller Wut ging ich zur
-Schule, fest entschlossen, heute nacht den Spaten zu nehmen,
-eins der alten Gräber hier auf dem Friedhof aufzugraben
-und mir ein neues Skelett zu verschaffen; denn diesen Triumph
-durfte ich der Bande nicht gönnen. Ich hätte es
-auch ganz bestimmt getan. Wäre das nicht ein sogenanntes
-Verbrechen gewesen?«</p>
-
-<p>»Sogar ein großes.«</p>
-
-<p>»Sehen Sie. Und wer hätte mich dazu gebracht? Die
-eigene Mutter! Sicher wäre es so gekommen, wenn nicht
-zu meinem Glück ein Junge in die Klasse getreten wäre, der
-erzählte, am Flußufer hätte ein Schwein Knochen ausgegraben.
-Ich stürze hin, fest überzeugt, daß es meine Knochen
-sind, &ndash; was auch der Fall war. Das Volk schwatzt von Wiederbegraben,
-ich jedoch jage das Pack zu allen Teufeln. Plötzlich
-höre ich den Achilla nahen. Ich raffe meine Knochen
-rasch zusammen und renne, was ich rennen kann. Achilla
-kriegt mich am Rock zu fassen. Ich wende mich um, &ndash; krach!
-Der Rockschoß ist zum Teufel. Achilla packt mich am Kragen,
-&ndash; wieder kracht's, und der Kragen ist auch zum Teufel.
-Nun hat er mich bei der Weste. Krach! Die Weste ist mitten
-entzwei gerissen. Er will mir nun an den Hals. Ich aber
-renne, was ich rennen kann, &ndash; und sitze jetzt hier und säubere
-die Knochen. Da kamen Sie und erschreckten mich von neuem.
-Ich meinte, es wäre Achilla.«</p>
-
-<p>»Aber was denken Sie, Achilla wird doch nicht über Ihren
-Zaun steigen! Er ist doch Diakon.«</p>
-
-<p>»Jawohl, Diakon! Sie haben gut reden. Der kümmert
-sich viel darum. Mir sagte der Kommissar Danilka gestern,<span class="pagenum"><a id="Seite_128">[128]</a></span>
-Achilla hätte beim Abschied zu Tuberozow geäußert: ›Nun,
-Vater Sawelij, bis ich diesen Warnawa kleingekriegt habe,
-sollt Ihr mich nicht Achilla den Diakon, sondern Achilla den
-Krieger nennen.‹ Mag er Krieg führen soviel er will, ich
-fürchte ihn nicht. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Ich
-bin nämlich zu der Überzeugung gekommen, daß ich hier nicht
-länger bleiben kann. Ich korrespondiere mit verschiedenen
-Leuten in Petersburg, von denen einer ein großes Unternehmen
-plant, an dem ich mitwirken kann. Freilich macht
-sich bereits auch dort die Gemeinheit breit, &ndash; und die gesinnungstüchtigsten
-Zeitungen fangen schon an, sich über
-die wachsende Begeisterung für die Naturwissenschaften lustig
-zu machen. Haben Sie es gelesen?«</p>
-
-<p>»Ja, ich glaube etwas Ähnliches gelesen zu haben.«</p>
-
-<p>»Aha! Also auch Ihnen leuchtet es ein! Nun sagen Sie
-mal, wozu haben sie uns denn dann immerfort dazu angetrieben,
-an Fröschen zu experimentieren und so weiter?«</p>
-
-<p>»Das weiß ich nicht.«</p>
-
-<p>»Das wissen Sie nicht? Nun, dann will ich es Ihnen sagen!
-Das soll den Leuten nicht so durchgehen! Ich packe meine
-Knochen zusammen, fahre nach Petersburg und hau sie
-ihnen einfach in die Fratzen, mitten in die Fratzen! Dann
-mögen sie mich vor ihren Friedensrichter schleppen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_129">[129]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_13">Dreizehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Hahaha! Da tun Sie recht daran!« rief plötzlich die
-Serbolowa, die, von den beiden Männern unbemerkt, hinter
-einem Kirschstrauch gestanden hatte.</p>
-
-<p>Prepotenskij schlug sein aufgeknöpftes Hemd über der Brust
-zusammen, richtete sich auf und sagte, indem er zugleich die
-ganz mit Ziegelstaub bestreuten Hosen mit der anderen Hand
-in die Höhe zog:</p>
-
-<p>»Entschuldigen Sie, Alexandra Iwanowna, daß ich so
-mangelhaft bekleidet bin&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Macht nichts. Mit einem Arbeitsmann rechtet man nicht
-wegen seiner Toilette. Aber kommen Sie jetzt. Ihre Frau
-Mutter bittet, zum Essen zu kommen.«</p>
-
-<p>»Nein, Alexandra Iwanowna, ich komme nicht. Ich kann
-mit meiner Mutter nicht mehr zusammenleben. Zwischen
-uns ist alles aus.«</p>
-
-<p>»Sie sollten sich schämen, so zu reden. Ihre Mutter liebt
-Sie doch so sehr.«</p>
-
-<p>»Ihr Vorwurf trifft mich nicht. Sie hält es mit meinen
-Feinden, sie vergräbt meine Knochen. &ndash; Wenn ich mir
-eine Zigarette an dem Lämpchen vor dem Heiligenbilde anzünde,
-spielt sie gleich die Gekränkte.«</p>
-
-<p>»Warum müssen Sie aber auch Ihre Zigaretten ausgerechnet
-am Heiligenlämpchen anstecken? Als ob Sie nicht
-anderswo Feuer bekommen können!«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_130">[130]</a></span></p>
-
-<p>»Trotzdem ist das doch zu dumm!«</p>
-
-<p>Alexandra Iwanowna lächelte und sagte:</p>
-
-<p>»Besten Dank!«</p>
-
-<p>»Sie meine ich doch nicht! Ich rede von dem Lämpchen.
-Feuer ist Feuer.«</p>
-
-<p>»Eben darum können Sie Ihre Zigarette auch sonstwo
-anzünden.«</p>
-
-<p>»Ach, man kann es ihr doch nie recht machen. Gestern
-gab ich unserem Hunde etwas Suppe von unserer Schüssel,
-da fängt die Mutter gleich jämmerlich an zu heulen und
-schlägt zuletzt vor Ärger die Schüssel in Stücke. ›Ich kann
-sie nun doch nicht mehr brauchen,‹ meint sie, ›da der Hund
-sie angerochen hat.‹ Ich bitte Sie, meine Herrschaften, &ndash;
-Sie, Valerian Nikolajewitsch, haben doch auch Physik studiert,
-kann man etwas ›anriechen‹?! Beriechen kann man
-eine Sache, herausriechen kann man etwas, &ndash; aber anriechen?!
-Nur ein kompletter Dummkopf kann so reden!«</p>
-
-<p>»Sie hätten dem Hunde sein Essen aber auch in einem
-andern Gefäß geben können!«</p>
-
-<p>»Gewiß. Aber warum?«</p>
-
-<p>»Um Ihrer Mutter nicht weh zu tun.«</p>
-
-<p>»Ach, so sehen Sie die Sache an! Meiner Ansicht nach ist
-alles Lavieren eines ehrlichen Menschen unwürdig.«</p>
-
-<p>Die Serbolowa lachte leise, reichte Darjanow den Arm
-und beide gingen zum Essen, den Lehrer mit seinem Knochenhaufen
-allein lassend.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_131">[131]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_14">Vierzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Hostienbäckerin Prepotenskaja, ein kleines altes Frauchen
-mit einem winzigen Gesicht und ewig erstaunten, gutmütigen
-Äuglein, über welchen die Brauen gleich Apostrophen
-hingen, bat Darjanow um Entschuldigung, daß sie sein Klopfen
-nicht gehört habe, beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber
-und fragte flüsternd:</p>
-
-<p>»Haben Sie meinen Warnascha gesehen?«</p>
-
-<p>Darjanow bejahte.</p>
-
-<p>»Er bringt mich zur Verzweiflung, Valerian Nikolajewitsch,«
-klagte die Alte.</p>
-
-<p>»Was sorgen Sie sich deshalb so sehr? Er ist jung, und
-Jugend hat keine Tugend. Wenn er älter wird, wird er auch
-vernünftiger. Und wenn er erst eine Frau hat&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Eine Frau? Wie soll ich ihn denn dazu bringen, daß
-er heiratet? Das ist ganz unmöglich. Er ist ja ganz verdreht.
-An den lieben Gott glaubt er nicht; Fleisch und Milch
-genießt er an allen Fastentagen, sogar in der Karwoche,
-und ich muß Ihnen gestehen, lieber Freund, ich fürchte mich,
-besonders abends&nbsp;…«</p>
-
-<p>Die schwarzen Apostrophe über den Äuglein der winzigen,
-ängstlichen Alten schoben sich unruhig hin und her. Sie zuckte
-zusammen und flüsterte:</p>
-
-<p>»Und zu alledem, lieber Freund, habe ich immer schreckliche
-Träume, so daß ich beim Erwachen gleich bete: ›Sankt<span class="pagenum"><a id="Seite_132">[132]</a></span>
-Simeon, deute mir mein Traumgesicht.‹ Könnte ich mich mit
-jemand im Hause darüber aussprechen, so ertrüge ich es viel
-leichter; aber so bin ich immer und ewig allein mit den Totengebeinen.
-Ich fürchte keinen Toten, über dem die Gebete
-gesprochen sind, aber Warnascha erlaubt es ja nicht, daß
-ich die Gebete lesen lasse.«</p>
-
-<p>»Zürnen Sie ihm nicht, er ist trotz alledem ein guter Kerl.«</p>
-
-<p>»Gewiß, gut ist er schon. Ich will auch nichts Böses von ihm
-sagen. Ich war seine glückliche Mutter, und er war früher
-so gut gegen mich, bis er in die Philosophieklasse kam. Damals,
-wenn er zu den Ferien nach Hause kam, ging er auch
-in die Kirche, und ich führte ihn zum Vater Sawelij, und
-der Vater Sawelij war freundlich gegen ihn und half ihm
-auch in diesem und jenem, &ndash; bis es dann plötzlich über ihn
-kam, ich weiß selbst nicht wie und woher: er fing an, den Weisen
-zu spielen. Seitdem wurde es mit jedemmal, wenn er
-aus dem Seminar kam, schlimmer und schlimmer. Sagen
-Sie, was Sie wollen, ich kann es mir nicht anders erklären,
-als daß er behext ist. Vater Zacharia hat mir neulich aus
-dem ›Familienblatt‹ vorgelesen, wie ein Sohn aus gutem
-Hause vom Teufel besessen war, so daß zehn Mann nicht mit
-ihm fertig werden konnten. Gerade so ist es mit Warnawa
-auch.«</p>
-
-<p>Die Alte sprang auf, schlüpfte in die Küche, wischte sich
-dort die Tränen aus den Augen, kam wieder ins Zimmer
-zurück und berichtete weiter:</p>
-
-<p>»Ich will es Ihnen nur gestehen, ich gebe ihm jeden Tag
-geweihtes Wasser zu trinken. Er weiß natürlich nichts davon
-und merkt es nicht. Ich geb's ihm aber. Es hilft nur
-leider nichts, und eine Sünde ist es auch. Vater Sawelij
-sagt immer wieder, er verdiente, irgendwohin nach Taschkent
-verschickt zu werden. Warum soll man es denn nicht noch<span class="pagenum"><a id="Seite_133">[133]</a></span>
-einmal mit Güte versuchen? denke ich. Er aber meint, mit
-Güte sei da nichts zu machen, weil ihm alle natürlichen Gefühle
-fremd sind. Aber wenn auch, mir ist es doch leid um
-ihn.« Und die Hostienbäckerin verschwand wieder.</p>
-
-<p>»So ein unglückliches Wesen,« sagte die junge Frau leise.</p>
-
-<p>»Ja, freilich,« stimmte Darjanow ihr bei. »Und der Rüpel
-spielt noch Komödie und kommt nicht mal zum Essen.«</p>
-
-<p>»Gehen Sie doch noch mal hinaus und holen Sie ihn.«</p>
-
-<p>»Er ist ja so störrisch wie ein Pferd und wird nicht kommen.«</p>
-
-<p>»Das wollen wir doch sehen. Sagen Sie ihm, ich befehle
-es, ich sei Agent der Geheimpolizei und wünschte ihn sofort
-hier zu sehen, widrigenfalls ich Meldung mache, daß er nach
-Petersburg zu ziehen beabsichtige.«</p>
-
-<p>Darjanow lachte und ging hinaus, um Warnawa zu holen.
-Inzwischen hatte der Lehrer seine Schätze in Sicherheit gebracht,
-und da die Arbeit seinen Appetit mächtig angeregt
-hatte, fiel es ihm nicht leicht, sich charakterfest zu zeigen und
-die Aufforderung zum Essen zurückzuweisen.</p>
-
-<p>Um den freiwilligen Märtyrer aus seiner schwierigen Lage
-zu bringen, beugte sich der Abgesandte an sein Ohr und flüsterte
-ihm mit geheimnisvoller Miene zu, was die Serbolowa
-gesagt hatte.</p>
-
-<p>»Sie Spionin!« rief Warnawa und wurde ganz rot.</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Und vielleicht&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Was?«</p>
-
-<p>»Vielleicht auch Sie&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ja, ich auch.«</p>
-
-<p>Warnawa drückte ihm freundschaftlich die Hand:</p>
-
-<p>»Ich danke Ihnen, daß Sie kein Geheimnis daraus machen.«</p>
-
-<p>Dann ging er mit reinem Gewissen zum Mittagessen.</p>
-
-<p>»Ich muß Ihnen ja gehorchen&nbsp;…«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_134">[134]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_15">Fünfzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Plan war also gelungen. Warnawa hatte jetzt einen
-Vorwand zum Essen zu kommen, ohne seiner Würde etwas
-zu vergeben. Er trat ins Zimmer mit der Miene eines unglücklichen
-Opfers feindlicher Gewalten und setzte sich an
-das schmale Ende des Tisches, Darjanow gegenüber. Zwischen
-ihnen, an der Längsseite, nahm Alexandra Iwanowna
-Platz, während die vierte Seite frei blieb. Die Hostienbäckerin
-selbst setzte sich fast nie mit ihrem Sohne zu Tisch, und auch
-jetzt begnügte sie sich damit, die Gäste zu bedienen, ohne
-mitzuessen. Die Alte war entzückt, ihren gelehrten Sohn
-wiederzuhaben, Freude und Kummer wechselten auf ihrem
-Antlitz, ihre Augenlider waren gerötet, die Unterlippe zitterte
-leise und ihre alten Füßchen gingen nicht, sondern liefen in
-großer Hast, wobei sie unausgesetzt bemüht war, sich so zu
-stellen und zu wenden, daß man ihr Gesicht nicht sehen
-konnte.</p>
-
-<p>Die Gäste suchten durch allerlei Listen die Alte zum Bleiben
-zu bewegen, und lobten ihre Kochkunst. Aber die Gute
-wies alles Lob zurück und meinte, sie verstünde nur die allereinfachsten
-Speisen zu bereiten.</p>
-
-<p>»Aber gerade diese einfachen Speisen schmecken uns ausgezeichnet.«</p>
-
-<p>»Ach, wie sollen sie schmecken! Bloß gesund sollen sie sein,
-sagt man. Aber Gott weiß, ob dem wirklich so ist. Warnawa<span class="pagenum"><a id="Seite_135">[135]</a></span>
-ißt doch immer, was ich gekocht habe, &ndash; und sehen Sie ihn
-bloß an: ganz wie leer ist er.«</p>
-
-<p>»Hm!« brummte Warnawa, sah die Mutter vorwurfsvoll
-an und schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>»Ach Gott, was willst du wieder? Wirklich, Warnawa,
-du bist leer.«</p>
-
-<p>»Sagt das doch noch einmal!« knurrte der Lehrer.</p>
-
-<p>»Es ist doch nichts Kränkendes, Warnascha! Milch trinkst
-du morgens bis zur Unendlichkeit; Tee mit Weißbrot nimmst
-du auch bis zur Unendlichkeit; Braten und Grütze auch, &ndash;
-aber wenn du vom Tische aufstehst, bist du wieder leer bis
-zur Unendlichkeit. Das ist doch sicher eine Krankheit. Ich
-sage dir schon, lieber Sohn, hör' auf mich&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Mutter!« unterbrach sie der Lehrer zornig.</p>
-
-<p>»Was ist denn dabei, Warnascha? Ich sage dir, wenn
-du frühmorgens aufstehst, mußt du beten: ›Herr Gott, fülle
-meine Leere‹ &ndash; und dann erst essen&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Mutter!« rief Warnawa noch lauter.</p>
-
-<p>»Was ärgerst du dich denn, Närrchen? Ich sage dir, du
-mußt beten: ›Herr Gott, fülle meine Leere‹ und dann ein
-Stückchen geweihte Hostie essen, denn, Sie müssen wissen,«
-wandte sie sich an die Gäste, »ich hole mir immer für ihn
-und für mich je ein Stückchen von der Hostie aus der Kirche,
-damit wir einst drüben in demselben Zelt sind. Aber er will
-es nie essen. Warum?«</p>
-
-<p>»Warum? Ihr wollt wissen, warum? Schön! Weil ich
-mit Euch nirgends zusammen sein will, weder in dieser noch
-in irgendeiner andern Welt!«</p>
-
-<p>Ehe noch der Lehrer diese Worte gesprochen hatte, erbleichte
-die Alte. Sie zitterte so, daß die beiden Fayenceteller, welche
-sie in der Hand hielt, ihr entglitten und klirrend in Scherben
-zersprangen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_136">[136]</a></span></p>
-
-<p>»Warnascha,« rief sie, »du sagst dich los von mir?«</p>
-
-<p>»Ja, ja, ja, ich sage mich los! Ihr seid mir auch hier schon
-zuwider, und mich verlangt nicht im mindesten darnach,
-Euch noch in jener Welt auf dem Halse zu haben.«</p>
-
-<p>»St! St! St!« suchte die Alte bitterlich weinend ihn zu
-unterbrechen, und fing an, dicht vor seinem Gesicht in die
-Hände zu klatschen, damit sie seine furchtbaren Worte nicht
-höre. Jedoch Warnawa schrie viel lauter, als seine Mutter
-klatschte. Da stürzte sie zum Heiligenbild und rief außer sich,
-mit den gespreizten Fingern ihrer mageren Hände fuchtelnd:</p>
-
-<p>»Höre ihn nicht, Gott, höre ihn nicht, höre ihn nicht!«</p>
-
-<p>Und dann fiel sie schluchzend in der Ecke vor dem Bilde
-zu Boden.</p>
-
-<p>Diese traurige und ganz unerwartete Szene hatte alle Anwesenden
-in Erregung versetzt, ausgenommen Prepotenskij.
-Der Lehrer blieb völlig ruhig und aß mit seinem gewöhnlichen,
-nie versagenden Appetit. Die Serbolowa war aufgestanden
-und der Alten, welche aus dem Zimmer stürzte,
-gefolgt. Darjanow sah durch die offene Tür, wie die Hostienbäckerin
-Alexandra Iwanowna umarmte. Er stand auf, schloß
-die Tür und stellte sich ans Fenster.</p>
-
-<p>Prepotenskij aß ruhig weiter.</p>
-
-<p>»Wann fährt Alexandra Iwanowna nach Hause?« fragte
-er, gemächlich kauend.</p>
-
-<p>»Sobald die Hitze nachläßt,« antwortete Darjanow trocken.</p>
-
-<p>»Erst!« sagte Prepotenskij gedehnt.</p>
-
-<p>»Ja, Tuberozow will sie hier noch aufsuchen.«</p>
-
-<p>»Tuberozow? Bei uns? In unserem Hause?«</p>
-
-<p>»Ja, in Ihrem Hause. Aber er kommt nicht zu Ihnen,
-sondern zu Alexandra Iwanowna.«</p>
-
-<p>Darjanow stand während dieses Gespräches mit dem Rücken
-zu Prepotenskij und blickte in den Hof hinaus, aber bei den<span class="pagenum"><a id="Seite_137">[137]</a></span>
-letzten Worten wandte er sich um und fügte mit einem
-kaum merklichen Lächeln hinzu:</p>
-
-<p>»Es scheint, Sie haben eine Mordsangst vor Tuberozow.«</p>
-
-<p>»Ich? Ich Angst vor Tuberozow?«</p>
-
-<p>»Ja freilich. Es sieht so aus, als wäre sogar Ihre Nase
-ganz grün geworden, wie ich sagte, er wolle hierher kommen.«</p>
-
-<p>»Meine Nase grün geworden? Ich versichere Sie, das
-kommt Ihnen nur so vor. Wie wenig ich ihn fürchte, will
-ich Ihnen heute noch beweisen.«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten erhob sich Prepotenskij und ging hinaus.
-Der Gast ahnte nicht, was für kühne Gedanken in diesem
-Augenblick im verzweifelten Gehirn Warnawas keimten und
-reiften. Der geneigte Leser aber soll es im nächsten Kapitel
-erfahren.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_138">[138]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_16">Sechzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Nachdem er das Zimmer verlassen, schlüpfte Prepotenskij
-in eine kleine Scheune, entledigte sich seiner Oberkleider und
-kletterte auf den Heuboden. Mit großer Anstrengung schob
-er zwei Deckbretter auseinander und kroch durch den ziemlich
-engen Spalt in einen kleinen, von außen verschlossenen Speicher.
-Bunt durcheinander lagen dort Töpfe und Bütten,
-an der Decke hing ein Schinken, auf Stöckchen waren Bündel
-von Bohnenkraut, Pfefferminz und Dill gespießt. Der
-Lehrer ließ alle diese Gegenstände unberührt. Er stieg auf
-eine hohe Truhe aus Tannenholz mit schrägem Deckel und
-holte einen großen, leicht gewölbten Trog herunter, der so
-blank wie das Schaufenster eines Spiegelgeschäfts gescheuert
-war. Mit dem Trog kroch er wieder in die Scheune zurück,
-wo er die unseligen Totengebeine sehr geschickt versteckt
-hatte.</p>
-
-<p>Niemand dachte daran, dem Lehrer nachzuspüren, er aber
-war es schon so gewohnt, seine »Lage« für »gefährdet« zu
-halten, daß er sich nirgends sicher fühlte. Immer mußte er
-sich verkriechen und verstecken, weil er dachte, sonst wäre es
-ihm unmöglich, sein Unternehmen zu beginnen und im geeigneten
-Augenblick mit allem Pomp zur Ausführung zu
-bringen.</p>
-
-<p>Eine Stunde mochte seit Warnawas Verschwinden vergangen
-sein, und es begann zu dämmern, als der Ring an<span class="pagenum"><a id="Seite_139">[139]</a></span>
-dem wackeligen Pförtchen der Prepotenskijschen Behausung
-klirrte.</p>
-
-<p>Tuberozow war gekommen. Warnawa hörte in seiner
-Scheune, wie unter dem festen Tritt des beleibten Propstes
-die Stufen des alten Holztreppchens knarrten und sich bogen,
-und wie der Gast die Serbolowa und die alte Hostienbäckerin
-begrüßte.</p>
-
-<p>»Nun, meine liebe Witwe von Nain, was macht dein gelehrter
-Sohn?« wandte sich Vater Sawelij an die Alte, die
-eben den kleinen weißen Tisch auf die offene Veranda hinaustrug,
-wo die Gäste den Tee trinken sollten.</p>
-
-<p>»Mein Warnascha? Gott weiß, Vater Propst. Er hat
-wohl Angst bekommen und sich irgendwo vor Euch versteckt.«</p>
-
-<p>»Du lieber Himmel, was hat er denn von mir zu fürchten?
-Er sollte sich lieber mehr um sich selber kümmern und vorsichtig
-sein,« und Tuberozow erzählte Darjanow und der
-Serbolowa von den nächtlichen Abenteuern Achillas.</p>
-
-<p>»Wer hat ihn darum gebeten? Wer hat es ihm befohlen?«
-fragte der Alte und antwortete selbst: »Niemand! Er hat es
-ganz für sich allein beschlossen, mit Warnawa Wasiljewitsch
-abzurechnen, und die ganze Stadt haben sie in Aufregung
-versetzt.«</p>
-
-<p>»Habt Ihr es ihm denn nicht befohlen, Vater Propst?«
-fragte die Alte.</p>
-
-<p>»Wie käme ich dazu, solche Dummheiten zu befehlen?«
-erwiderte Tuberozow und fing von anderen Dingen zu reden
-an. So verging noch eine halbe Stunde und die Gäste brachen
-auf. Warnawa war immer noch unsichtbar, aber als der
-Wagen der Serbolowa vorfuhr, flog die Pforte der Scheune,
-in welcher der Lehrer sich verborgen hielt, weit auf, und langsam
-und feierlich schritt Warnawa Prepotenskij auf die erstaunten
-Gäste zu.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_140">[140]</a></span></p>
-
-<p>Er trug seine gewöhnliche Kleidung und hielt in beiden
-Händen hoch über seinem Haupte den neuen Waschtrog, den
-er der Mutter geraubt und in dem jetzt in schönster symmetrischer
-Anordnung die wohlbekannten Gebeine lagen.</p>
-
-<p>Ehe noch jemand begreifen konnte, was die Erscheinung
-des Lehrers mit dieser seltsamen Trophäe zu bedeuten hatte,
-war Prepotenskij bereits majestätisch an der Veranda vorübergeschritten,
-hatte dem dort stehenden Tuberozow die
-Zunge gezeigt und war dann über den Friedhof auf die Straße
-hinausgegangen.</p>
-
-<p>Die Hostienbäckerin zitterte am ganzen Leibe, kaute krampfhaft
-an den Spitzen ihrer fest zusammengedrückten Finger
-und flüsterte:</p>
-
-<p>»Was hat er da? Was trägt er durch die Stadt?«</p>
-
-<p>Als sie es endlich begriffen hatte, heulte sie laut auf und
-stürzte mit einer Geschwindigkeit, die man ihren Jahren gar
-nicht zugetraut hätte, dem Sohne nach. Die Alte hüpfte
-und hopste, wie gewisse Vögel, die, bevor sie auffliegen, erst
-einen Anlauf nehmen müssen. Trotzdem Warnawa langsam
-schritt, erschien es fraglich, ob die Hostienbäckerin selbst bei
-diesem schnellen Tempo imstande sein werde, ihren Sprößling
-einzuholen, der schon am entgegengesetzten Ende der
-Straße angelangt war. Allein ein unerwartetes Ereignis,
-durch das die ganze Prozession und die Verfolgung eine völlig
-neue Wendung nehmen sollte, trat ein.</p>
-
-<p>Irgendwo von oben her ertönte plötzlich ein lautes und
-lustiges:</p>
-
-<p>»Hallo! Hurra! Nicht hauen! Nicht hauen! Nicht hauen!«</p>
-
-<p>Die Zeugen dieser Szene sahen sich nach der Richtung um,
-aus welcher das Geschrei kam, und erblickten auf dem Vorsprung
-eines der Nachbardächer einen zerlumpten Kerl,
-der in der Hand eine dünne Stange hielt, wie sie Taubenzüchter<span class="pagenum"><a id="Seite_141">[141]</a></span>
-brauchen, um ihre Tümmler aufzuscheuchen. Dieser
-Schreier war der Ausrufer und das Faktotum von Stargorod,
-der Proletarier und beschäftigungslose Kleinbürger
-Danilka, den sie in der Stadt den »Kommissar« nannten.
-Er war just mit seinen Tauben beschäftigt und benutzte die
-Gelegenheit, um spaßeshalber auch den Lehrer zu erschrecken.
-Diesen Zweck erreichte er vollkommen, denn kaum hatte
-Prepotenskij den Warnungsruf vernommen, so schlug er
-sofort ein schnelleres Tempo an und stürmte wie ein gehetztes
-Reh vorwärts. Aber während er einer Gefahr zu entgehen
-hoffte, lief er einer andern, weit schlimmern in die Arme;
-denn an der nächsten Wegkreuzung tauchte vor den entsetzten
-Blicken des Lehrers in Riesengröße &ndash; er schien heute viel gewaltiger
-als gewöhnlich &ndash; der grimme Diakon Achilla auf.</p>
-
-<p>Wie sagt das Sprichwort? Links die Backpfeife und rechts
-der Rippenstoß.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_142">[142]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap1_17">Siebzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Kaum hatte der arme Lehrer den Diakon erblickt, so knickten
-seine Knie kraftlos zusammen. Doch schon im nächsten Augenblick
-reckten sie sich wieder auf wie Sprungfedern, und mit
-drei mächtigen Sätzen legte er eine Entfernung zurück, die
-ein normaler Mensch in zehn Sprüngen nicht hätte überwinden
-können. Dadurch schien Warnawa gerettet, denn er
-befand sich jetzt gerade unter dem Fenster der Gattin des
-Akziseeinnehmers Biziukin, und zu seinem großen Glück
-stand die aufgeklärte Dame selbst am offenen Fenster.</p>
-
-<p>»Nehmen Sie dies!« rief Prepotenskij ganz außer Atem.</p>
-
-<p>»Ich werde verfolgt von Spionen und Pfaffen!«</p>
-
-<p>Bei diesen Worten schob er den Trog mit den Knochen
-zum Fenster hinein, er war aber selbst so erschöpft, daß er
-sich nicht mehr rühren konnte und an die Mauer lehnen mußte.
-Im selben Augenblick stand auch schon Achilla, ebenfalls ganz
-außer Atem, neben ihm und packte seinen Arm.</p>
-
-<p>Sein Blick traf mitten auf der Straße zwei aus dem Staube
-emporragende menschliche Rippen. Sich zu Prepotenskij wendend
-sagte er:</p>
-
-<p>»Warum hebst du deine Astragalusse nicht auf?«</p>
-
-<p>»Tretet beiseite, dann will ich sie aufheben.«</p>
-
-<p>»Gut, ich will zurücktreten,« &ndash; und der Diakon ging an
-das Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen, guckte ins Zimmer
-hinein und fuhr fort:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_143">[143]</a></span></p>
-
-<p>»Hören Sie mal, Frau Rätin, Sie tun sehr unrecht, wenn
-Sie sich für diesen Lehrer so ins Zeug legen.«</p>
-
-<p>Statt der erwarteten Antwort der »Rätin« erschien der
-liberale Akziseeinnehmer Biziukin selbst am Fenster und hielt
-dem Diakon den kahlen Schädel des Skeletts vor Augen.</p>
-
-<p>»Sei mal so gut und lege das Ding fort, sonst werde ich
-böse,« entgegnete Achilla höflich. Von innen ertönte nur
-ein höhnisches Gelächter, und der Einnehmer ließ den Schädel
-laut und schauerlich mit den Zähnen klappern.</p>
-
-<p>»Ich schlag euch alle zu Brei,« brüllte Achilla, indem er
-mit beiden Händen einen mächtigen Stein packte, der neben
-dem Fundament lag und gut zwei Zentner wiegen mochte.
-Im selben Augenblick, als er mit flammenden Augen dieses
-ungeheure Geschoß emporhob, um es gegen seine Widersacher
-zu schleudern, fiel ihm von hinten jemand in den Arm,
-und eine bekannte Stimme rief gebieterisch:</p>
-
-<p>»Laß liegen!«</p>
-
-<p>Es war Tuberozow. Mit strengem Gesicht, schwer atmend
-und zitternd vor Erregung stand Propst Sawelij vor ihm.
-Achilla gehorchte. Noch einen zornigen Blick aus seinen vor
-Wut geröteten Augen warf er auf den Einnehmer, dann
-schleuderte er den Stein mit solcher Wucht zur Seite, daß er
-einen Zoll tief in den Boden drang.</p>
-
-<p>»Geh nach Hause,« flüsterte ihm Sawelij zu und wandte
-sich selbst zum Gehen.</p>
-
-<p>Achilla widersetzte sich auch diesem Befehl nicht und schlich
-leise und niedergeschlagen, wie ein sonst artiger Schulbub,
-der bei einem dummen Streich ertappt worden ist, von
-dannen.</p>
-
-<p>»Gott, was für eine alberne und ärgerliche Geschichte,«
-sagte Tuberozow, mühsam nach Luft schnappend, zu Darjanow,
-der ihn inzwischen eingeholt hatte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_144">[144]</a></span></p>
-
-<p>»Macht Euch keine unnützen Gedanken, die Sache wird
-weiter keine Folgen haben.«</p>
-
-<p>»Wieso keine Folgen? Die Folge wird sein, daß Achilla
-vor Gericht kommt. Haben Sie denn nicht gehört, was er
-schrie, als er mit dem Stein drohte? Er wollte sie alle zu
-Brei schlagen!«</p>
-
-<p>»Ihr werdet sehen, alles löst sich in Wohlgefallen und Lachen
-auf.«</p>
-
-<p>»Nein, das glaube ich nicht. Hier gibt es nichts zum Lachen.
-Es handelt sich um eine große Dummheit, die gemeine Menschen
-zu ihren Zwecken ausnutzen können.«</p>
-
-<p>Der Propst beschleunigte seine Schritte und eilte nach
-Hause, indem er mit seinem langen Stabe zornige Zickzacklinien
-durch den Straßenstaub zog.</p>
-
-<p>Im nächsten Buche unserer Chronik werden wir sehen, was
-für Folgen diese Begebenheit hatte und wer von den beiden
-Propheten im Recht war.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_145">[145]</a></span></p>
-
-<h2 id="Zweites_Buch">Zweites Buch.</h2>
-
-<h3 id="kap2_1">Erstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Tag des heiligen Methodius von Pesnosch war vorüber
-und der erwachende Morgen verhieß einen heiteren und
-stillen Tag.</p>
-
-<p>Tuberozow, von der Messe zurückgekommen, saß beim
-Tee, auf demselben Sofa, auf dem er nachts geschlafen, und
-vor demselben Tisch, an dem er seine Memorabilien geschrieben
-hatte. Die Pröpstin bediente ihren Gatten, um dessen
-Ruhe sie so besorgt war, daß sie ihm alles an den Augen
-abzusehen suchte und nicht wagte, durch irgendeine Frage
-seine ernsten Gedanken zu stören. Flüsternd befahl sie dem
-Dienstmädchen, die beiden Pfeifen des Propstes mit Shukowschem
-Knaster zu stopfen und sie in den Ständer in der
-Ecke zu stellen, und dann setzte sie sich ihm gegenüber und
-wartete, das Kinn auf die Hand gestützt, bis der Propst
-das erste Glas geleert habe und ein zweites verlangen
-würde.</p>
-
-<p>Aber ehe es so weit war, wurde ihre Aufmerksamkeit durch
-einen ungewöhnlichen Lärm ganz in der Nähe des Hauses
-abgelenkt. Man vernahm hastige Schritte und wirre Stimmen,
-die sich hin und wieder zu wütendem Geschrei verdichteten.<span class="pagenum"><a id="Seite_146">[146]</a></span>
-Die Pröpstin schaute zum Fenster ihres Schlafzimmers
-hinaus und sah, daß Lärm und Geschrei von einer Menschenmenge
-herüberdrangen, welche sich mit großer Hast geradewegs
-auf ihr Haus zu bewegte.</p>
-
-<p>»Was kann das sein?« dachte die Pröpstin, ging ins Wohnzimmer
-zurück und sagte ihrem Manne:</p>
-
-<p>»Sieh doch, Vater Sawelij, was da für eine Menge Leute
-kommt.«</p>
-
-<p>»Leute gibt es viel, meine Liebe, aber es sind keine Menschen
-darunter,« antwortete Sawelij ruhig.</p>
-
-<p>»Nein, du solltest wirklich hinaussehen, es sind ihrer furchtbar
-viele.«</p>
-
-<p>»Laß sie doch rumlaufen, soviel sie wollen; gib mir lieber
-noch ein Gläschen Tee.«</p>
-
-<p>Die Pröpstin nahm sein Glas, füllte es, reichte es ihm
-und trat wieder ans Fenster. Der lärmende Haufe war
-verschwunden. Nur drei oder vier aus ihm standen noch
-herum und blickten mit offenkundiger Verlegenheit nach
-dem Tuberozowschen Hause.</p>
-
-<p>»Um Gotteswillen, brennt es nicht irgendwo bei uns,
-Vater Sawelij!« rief die Pröpstin und stürzte entsetzt ins
-Zimmer ihres Gatten, aber schon an der Schwelle blieb sie
-stehen und begriff endlich, was eigentlich geschehen war.</p>
-
-<p>Die Tür zum Wohnzimmer ging lärmend auf und in der
-Wohnstube des Propstes erschien der Diakon Achilla, und
-dicht hinter ihm, feuerrot und ganz verwirrt, der Kommissar,
-welchen Achilla fest am Ohr hielt.</p>
-
-<p>»Vater Propst,« begann Achilla, indem er Danilka losließ
-und die Hände dem Propst entgegenstreckte.</p>
-
-<p>Tuberozow segnete ihn.</p>
-
-<p>Hierauf trat auch Danilka vor Sawelij hin und nahm den
-Segen in Empfang.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_147">[147]</a></span></p>
-
-<p>Nachdem dies geschehen war, packte der Diakon ihn wieder
-fest am Ohr, riß ihn zwei Schritte zurück und fing an:</p>
-
-<p>»Stellt Euch vor, Vater Sawelij, eben gehe ich die Straße
-entlang, da höre ich laut reden. Ein paar Kleinbürger
-sprechen vom gestrigen Regen, den uns der liebe Gott auf
-unseren Bittgottesdienst gesandt hat, &ndash; und jener dort« &ndash;
-Achilla stieß den Zeigefinger seiner linken Hand dem ängstlich
-zwinkernden Danilka gerade in die Nase &ndash; »wagt zu widersprechen!«</p>
-
-<p>Tuberozow hob den Kopf.</p>
-
-<p>»Denkt nur, er behauptete,« fuhr der Diakon fort und
-zog Danilka näher zu sich heran, »er behauptete, der Regen,
-den wir vorige Nacht nach dem Bittgottesdienst gehabt hätten,
-sei gar nicht infolge des Gottesdienstes gekommen.«</p>
-
-<p>»Woher weißt du denn das?« fragte Tuberozow trocken.</p>
-
-<p>Danilka schwieg verlegen.</p>
-
-<p>»Denkt doch bloß, Vater Propst! Er behauptet, der Regen
-sei einfach kraft eines Naturgesetzes gekommen.«</p>
-
-<p>»Zu welchem Zwecke hast du die Betrachtungen angestellt?«
-fragte Tuberozow.</p>
-
-<p>»Ein Zweifel regte sich in mir,« antwortete Danilka bescheiden.</p>
-
-<p>»Zu zweifeln hat ein so kompletter Ignorant, wie du,
-überhaupt nicht, und also hat der Täter seinen Lohn dahin.
-Du hast bekommen, was du verdientest. Und nun hinaus
-aus meinem Hause, du Schwätzer.«</p>
-
-<p>Nachdem der Freigeist Danilka auf diese Weise an die Luft
-befördert war, nahm der Propst wieder am Teetisch Platz,
-trank sein Glas schweigend aus, und als er damit fertig war,
-wandte er sich an den Diakon Achilla. »Und du, Vater Diakon,
-&ndash; hast du die Absicht, noch lange so zu wüten? Hab'
-ich dich nicht ermahnt, deine Hände davon zu halten?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_148">[148]</a></span></p>
-
-<p>»Es geht nicht, Vater Propst; ich konnte mich nicht bezwingen;
-ich wollte Euch schon längst davon Mitteilung
-machen, wie er &ndash; denkt nur &ndash; immer gegen die Gottheit
-und gegen die Schrift redet.«</p>
-
-<p>»Und da mußtest du dich vor allem Volke mit ihm prügeln?«</p>
-
-<p>»Und wenn's auch vor allem Volke war, &ndash; was ist denn
-dabei, Vater Propst? Ich bin ein Diener des Altars und
-muß an jedem Ort für meinen Glauben eintreten. Der heilige
-Nikolaus hat dem Ketzer Arius auch vor allem Volke
-eins ausgewischt&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Du bist aber nicht der heilige Nikolaus,« fiel ihm Tuberozow
-ins Wort. »Du bist eine simple Krähe, verstehst du,
-und als solche hast du dich nicht um Dinge zu kümmern, die
-dich nichts angehen. Was hast du mit deinem Knüppel so
-zu fuchteln? Du hast wohl vergessen, daß ein Knüppel zwei
-Enden hat? Du verläßt dich immer auf deine Kraft, du
-Dromedar!«</p>
-
-<p>»Das tu ich.«</p>
-
-<p>»Tust du's? Nun, so tu es lieber nicht. Nicht deine Kraft
-hat dich gerettet, sondern das da,« &ndash; sagte der Propst und
-zog den Diakon am Ärmel seiner Kutte.</p>
-
-<p>»Wollt Ihr mir das zum Vorwurf machen, Vater Propst?
-Ich bin mir der Würde meines Amtes bewußt.«</p>
-
-<p>»So? Du bist dir der Würde deines Amtes bewußt?«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten trat der Propst dem Diakon einen
-Schritt näher, schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie
-und flüsterte:</p>
-
-<p>»Ist es Euch vielleicht bekannt, Vater Diakon, wer mit
-den Handlungsgehilfen vor dem Kolonialwarenladen sitzt
-und Zigaretten raucht?«</p>
-
-<p>Der Diakon wurde verlegen und erwiderte hastig:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_149">[149]</a></span></p>
-
-<p>»Ja, gewiß hab' ich, Vater Propst … Ich kann's nicht
-leugnen … Aber das geschah nur aus Unvorsichtigkeit,
-Vater Propst, wirklich nur aus Unvorsichtigkeit.«</p>
-
-<p>»Seht nur, ihr Leute, was wir für einen feinen Diakon
-haben, wie famos er die Zigaretten zu drehen versteht.«</p>
-
-<p>»Nein, wirklich, Vater Propst, nicht deswegen war es.
-Was hätt' ich mich groß damit zu rühmen? In bezug auf
-das Tabakskraut sind auch andere geistliche Personen nicht
-sehr enthaltsam.«</p>
-
-<p>Tuberozow maß den Diakon von Kopf bis zu Fuß mit
-einem sehr vielsagenden Blick, dann warf er den Kopf zurück
-und fragte:</p>
-
-<p>»Was willst du damit sagen? Daß der Propst auch Tabak
-raucht, nicht wahr?«</p>
-
-<p>Der Diakon war so verlegen, daß er nichts zu erwidern
-vermochte.</p>
-
-<p>Tuberozow wies mit der Hand nach der Zimmerecke, wo
-seine drei Pfeifen standen.</p>
-
-<p>»Was rauche ich wohl, Vater Diakon?«</p>
-
-<p>Der Diakon schwieg.</p>
-
-<p>»Habt die Güte, mir Antwort zu geben. Was rauche ich?
-Rauche ich Pfeifen?«</p>
-
-<p>»Ihr raucht Pfeifen,« antwortete der Diakon.</p>
-
-<p>»Pfeifen? Ausgezeichnet. Und wo rauche ich sie? Rauche
-ich sie zu Hause?«</p>
-
-<p>»Ihr raucht sie zu Hause.«</p>
-
-<p>»Manchmal rauche ich auch eine bei guten Freunden, die
-ich besuche.«</p>
-
-<p>»Ihr raucht auch manchmal bei guten Freunden.«</p>
-
-<p>»Aber nicht mit Ladenjungen vor dem Tor!« rief Tuberozow
-und schlug mit dem rechten Zeigefinger drohend
-gegen die linke Handfläche. »Geh jetzt deines Weges und<span class="pagenum"><a id="Seite_150">[150]</a></span>
-hab' Acht auf dich,« schloß er. »Es kommt eine neue Ordnung,
-es wird ein neues Gerichtsverfahren eingeführt, es
-kommen neue Gebräuche, nichts soll mehr im Verborgenen
-bleiben, sondern alles offenbar werden; dann werde ich dich
-nicht mehr schützen können.«</p>
-
-<p>Nach diesen Worten trat der Propst mit seinem großen
-Fuß auf einen Strohstuhl und langte vorsichtig den gelben
-Käfig mit dem Kanarienvogel herunter.</p>
-
-<p>»Pfui! Daß Gott sich erbarme! Da hab' ich den Glauben
-verteidigen wollen und wieder war's ein Reinfall!« brummte
-Achilla vor sich hin, als er das Haus des Propstes verlassen
-hatte und mit schnellen Schritten auf ein kleines gelbes Häuschen
-zuging, aus dessen offenen Fenstern ein ganzer Haufen
-blonder Kinderköpfchen herausguckte.</p>
-
-<p>Der Diakon stieg eilig die Verandastufen hinauf, trat
-ins Vorhaus und öffnete, nachdem er mit der Stirn erst
-gegen den Querbalken gerannt war, die Tür zum Wohnzimmer.</p>
-
-<p>In dem niedrigen Raume ging der dürre, winzige Zacharia
-im Leibrock, die Hände auf dem Rücken, eine lange silberne
-Kette auf der eingefallenen Brust, auf und ab.</p>
-
-<p>Achilla betrat dieses Haus mit einem ganz anderen Gesicht
-und in ganz anderer Haltung, als das des Propstes. Die
-Verwirrung, in der er sich befunden hatte, als er das Haus
-Tuberozows verließ, war geschwunden, und schon erfüllten
-ihn eitel Milde und Güte.</p>
-
-<p>»Nun, Vater Zacharia! Nun, Brüderlein, liebes … Nun!«
-begann er ungeduldig in der Tür.</p>
-
-<p>»Was gibt's?« fragte Zacharia mit sanftem Lächeln. »Was
-drehst und windest du dich so?« Und ohne eine Antwort abzuwarten,
-begann der dürre Pfarrer wieder auf- und abzulaufen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_151">[151]</a></span></p>
-
-<p>Der Diakon brach erst in ein lustiges Lachen aus und rief
-dann:</p>
-
-<p>»Ach, Freundchen, hat das wieder eine Kopfwäsche gegeben!
-Ach, Vater, sogar der Schädel tut mir weh von der
-Seife. Kann ich mal fix einen kippen?«</p>
-
-<p>»Einen kippen? Schön! Aber wer hat dich denn vorgekriegt?«</p>
-
-<p>»Wer sonst als der Justizminister!«</p>
-
-<p>»Vater Sawelij!«</p>
-
-<p>»Eben der! Es ist eine ganz ungewöhnliche Sache, Vater
-Zacharia. Ich wollte mich verdient machen, aber er hat alles
-herumgedreht, durcheinandergeschmissen. Erzählen läßt es
-sich gar nicht.«</p>
-
-<p>Aber nachdem der Diakon sich gesetzt und das ihm auf
-einem Teller präsentierte Gläschen Branntwein geleert hatte,
-erzählte er Vater Zacharia doch die ganze Geschichte seines
-Konflikts mit Danilka und mit Tuberozow in allen Einzelheiten.
-Zacharia hüpfte währenddem unausgesetzt im Zimmer hin
-und her und blieb nur stehen, um bald den einen, bald den
-andern der herumhuschenden Blondköpfe aus dem Wege zu
-räumen. Als der Diakon seine Erzählung beendet hatte,
-brummte Zacharia, das Ende seines dünnen Bartes zwischen
-die Lippen geklemmt, bedeutungsvoll: »Ja, ja, ja, aber das
-tut nichts.«</p>
-
-<p>»Ich kann mir's nicht anders denken, als daß er erzürnt
-ist und&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Und was noch? Packt euch raus, ihr Bälger! Also was
-noch?« fragte Zacharia, die Kinder zur Seite schiebend.</p>
-
-<p>»Daß es unpolitisch von mir war, die Pfeife zu erwähnen,«
-erklärte der Diakon.</p>
-
-<p>»Ja natürlich … versteht sich … zum Teil mag auch das
-… Weg mit euch, ihr Bälger! … Übrigens glaube ich,<span class="pagenum"><a id="Seite_152">[152]</a></span>
-daß er nicht so sehr unzufrieden mit dir ist … Er ist vielmehr
-… nehme ich an … Wollt ihr wohl Platz machen, ihr
-Bälger! … Ich meine, daß er in seinem Herzen … verstehst
-du?«</p>
-
-<p>»Betrübt ist?« sagte der Diakon.</p>
-
-<p>Vater Zacharia fuhr sich mit der kleinen Hand über die
-Brust, zog ein saures Gesicht und sagte:</p>
-
-<p>»Empört ist.«</p>
-
-<p>»Gepeinigt,« entschied Achilla. »Ich weiß, der Lehrer Warnawka
-bringt ihn immer in Zorn, aber ich nehme mir den
-Warnawka noch einmal ordentlich vor &ndash;&nbsp;&ndash; und so weiter.«</p>
-
-<p>Und ohne sich in weitere Auseinandersetzungen einzulassen,
-verabschiedete sich der Diakon und ging.</p>
-
-<p>Auf dem Heimwege traf er Danilka und hielt ihn an:</p>
-
-<p>»Sei so gut, lieber Danilka, und zürne mir nicht. Wenn
-ich dich gestraft habe, so geschah es nur in Erfüllung meiner
-Christenpflicht.«</p>
-
-<p>»Ihr habt mich vor dem ganzen Volke gekränkt, Vater
-Diakon,« antwortete Danilka in einem Tone, der zwar noch
-immer beleidigt, aber doch auch schon ein wenig nach Friedensbereitschaft
-klang.</p>
-
-<p>»Nun, was willst du mir dafür tun, daß ich dich gekränkt
-habe? Ich weiß, daß es eine Kränkung war, aber wenn ich
-streng bin … Ich habe es ja nicht aus Frechheit getan.
-Schon im vorigen Jahr, als ich dich ertappte, wie du im Vorhause
-beim Polizeichef das Meßgewand des Propstes angelegt
-hattest und den Weihwasserwedel schwenktest, sagte ich
-zu dir: ›Du kannst über die Schrift philosophieren, soviel du
-willst, Danilka, von der Wissenschaft verstehe ich selbst nicht
-viel, aber den Ritus darfst du mir nicht antasten.‹ &ndash; Hab'
-ich das gesagt oder nicht?«</p>
-
-<p>Danilka schüttelte widerwillig den Kopf und brummte:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_153">[153]</a></span></p>
-
-<p>»Vielleicht habt Ihr so was gesagt.«</p>
-
-<p>»Nein, mein Lieber, keine Winkelzüge! Gestehen sollst du!
-Ich hab' es deutlich ausgesprochen: den Ritus nicht antasten,
-und damit basta! Und warum sagte ich das? Weil es unser
-Lebensinhalt ist, unsere Wesenheit, deshalb hast du auch deine
-Finger davon zu lassen. Hast du mich verstanden?«</p>
-
-<p>Danilka drehte sich nur zur Seite und lächelte. Ihm selbst
-war es furchtbar komisch vorgekommen, als der Diakon ihn
-am Ohr durch die ganze Stadt zerrte, und die andern Kleinbürger,
-welche Zeugen dieser Szene waren, hatten, im Scherz
-und mühsam das Lachen verbeißend, dem Diakon ebenfalls
-übermäßige Strenge vorgeworfen.</p>
-
-<p>»Ihr seid zu streng, Vater Diakon! Ihr seid übermäßig
-streng,« hatten sie ihm gesagt.</p>
-
-<p>Achilla machte nach dieser Bemerkung ein nachdenkliches
-Gesicht, und mit einem tugendhaften Seufzer seine Hände
-auf die Schultern der beiden zunächst stehenden Kleinbürger
-legend, meinte er:</p>
-
-<p>»Streng, sagt ihr? Ja, gewiß bin ich streng, da redet ihr
-wahr. Aber dafür bin ich auch gerecht. Wenn nun diese
-Sache vor den Friedensrichter käme? Da ginge es doch viel
-schlimmer. Er knöpft einem sofort drei Rubel zum Besten
-der Kinderbewahranstalten ab.«</p>
-
-<p>»Wer weiß? Mancher Friedensrichter gibt einem dafür
-noch einen Rubel Trinkgeld.«</p>
-
-<p>»Na siehst du wohl! Ich weiß, daß ich gerecht bin, mein
-Lieber.«</p>
-
-<p>»Gerecht? Ach nein, Vater Diakon, Eure Gerechtigkeit ist
-nicht weit her!«</p>
-
-<p>»Wieso?«</p>
-
-<p>»Weil doch der Danilka gar nicht so viel Schuld hat. Er
-hat doch nur wiederholt, was der gelehrte Mann ihm sagte.<span class="pagenum"><a id="Seite_154">[154]</a></span>
-Wenn's nach Recht ginge, müßtet Ihr den Lehrer Warnawa
-zur Vernunft bringen. Er hat uns das erklärt, Danilka
-hat bloß gezweifelt, ob der Lehrer recht hat und der Regen
-von selber durchs Naturgesetz gekommen ist, oder ob ihn doch
-der Bittgottesdienst hervorgerufen hat. Wenn Ihr den
-Lehrer durchgewalkt hättet, so wäre das nur recht und billig
-gewesen.«</p>
-
-<p>»Den Lehrer?!« Der Diakon breitete die Arme weit aus,
-schob die Lippen rüsselförmig vor, stand einen Augenblick vor
-den Kleinbürgern und flüsterte dann: »Gerecht? Ja, die
-Gerechtigkeit verlangt es … Aber Vater Sawelij will es
-nicht … und also ist es unmöglich&nbsp;…«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_155">[155]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_2">Zweites Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Mehrere Tage waren vergangen. Tuberozow hatte sich
-überzeugt, daß seine Befürchtungen, die unbändigen Taten
-des Diakon Achilla könnten noch ein gerichtliches Nachspiel
-haben, unbegründet waren. Alles ging gemütlich seinen
-gleichen Gang. Die Leute suchten Abwechslung in ihr eintöniges
-Leben zu bringen, indem sie sich zankten, um sich
-wieder zu versöhnen, und sich versöhnten, um sich wieder
-zanken zu können. Nichts drohte die allgemeine Ruhe zu
-stören. Im Gegenteil, dem Propst ward ein wunderschöner
-Tag beschieden, der ihm nichts als Freude brachte. Es war
-dies der Namenstag der Frau Stadthauptmann, der sehr
-bald auf jenen Tag folgte, an dem Achilla in seinem Glaubenseifer
-den öffentlichen Skandal mit dem Kommissar Danilka
-hervorgerufen hatte. Als alle Gäste der Pastete des Herrn
-Polizeichefs die gebührende Ehre erwiesen hatten, rief der
-Hausherr, welcher zufällig ans Fenster getreten war, plötzlich
-laut seiner Frau zu:</p>
-
-<p>»Ach du lieber Gott! Sieh nur, Frau, was für Gäste
-wir bekommen!«</p>
-
-<p>»Wer kommt denn da?« fragte die Frau.</p>
-
-<p>»Sieh mal selber nach.«</p>
-
-<p>Die Hausfrau, und mit ihr alle anwesenden Gäste, stürzten
-ans Fenster, und nun sah man, daß sich ein mächtiges Dreigespann
-kräftiger brauner Pferde vorsichtig den Berg herunter<span class="pagenum"><a id="Seite_156">[156]</a></span>
-bewegte, fast wie ein dreiköpfiger Drache, der auf dem
-Bauche kriecht. Das mittlere Pferd bläht sich auf und strampelt,
-wie ein alter General, der einem Untergebenen eine
-Pauke halten will. Die Seitenpferde sausen bald, wie Ulanenkornetts
-auf dem Ball, die ein Gegenüber suchen, bald drängen
-sie sich an das Mittelpferd, wie Schafe im Regen. Das rote
-Glöcklein schlug manchmal mit dem Ring gegen den Rand,
-dann schien es wieder wie festgeklebt und schwieg; nur die
-Schellen klirrten dumpf. Jetzt war der dreiköpfige Drache
-unten angelangt und breitete sich aus. Die Rücken der Pferde
-wurden sichtbar, der Schweif des einen Seitenpferdes wehte
-hoch im Winde; auch eine Mähne flog empor; die Pferde
-hielten gleichmäßigen Trab und der Wagen polterte über die
-Brücke. Deutlich sah man das vergoldete Krummholz mit
-eingeätzten Ornamenten und den großen altertümlichen,
-bronzebeschlagenen, gitarrenförmigen Wagen, auf dem nebeneinander,
-wie auf einem Sofa, zwei kleine Geschöpfe, ein
-weibliches und ein männliches, saßen; der Mann in einem
-dunkelgrünen Kamelot-Mantel und einer großen Mütze aus
-haarigem Plüsch, die Frau in einem schlafrockartigen Mantel
-aus himbeerfarbenem <em class="antiqua">Gras-de-Naples</em> mit einem lila Samtkragen
-und einer Haube mit braunen Bändern.</p>
-
-<p>»Mein Gott, das sind ja die Plodomasowschen Zwerge!
-&ndash; Nicht möglich! &ndash; Sehen Sie doch selbst! &ndash; Ja, richtig!
-&ndash; Gewiß doch! Da &ndash; Nikolai Afanasjewitsch hat uns schon
-bemerkt. Sehen Sie, er grüßt! Und jetzt nickt auch Maria
-Afanasjewna.«</p>
-
-<p>So tönte es erfreut von allen Seiten. Die Gastgeber beeilten
-sich, für die Ankömmlinge das Frühstück wieder auftragen
-zu lassen, und die Anwesenden richteten die Blicke
-gespannt nach der Tür, durch die die kleinen Leute eintreten
-mußten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_157">[157]</a></span></p>
-
-<p>Voran schritt ein altes Männlein, nicht größer als ein
-achtjähriger Knabe, gefolgt von einem alten Frauchen etwas
-größeren Wuchses.</p>
-
-<p>Das Männlein war ganz Sauberkeit und Wohlanständigkeit.
-Auf seinem Gesicht war nichts von gelben Flecken oder
-Runzeln zu sehen, wie sie gewöhnlich die Gesichter von Zwergen
-entstellen. Er hatte eine sehr wohlproportionierte Gestalt,
-einen kugelrunden Kopf, der ganz mit weißen, kurzgeschorenen
-Haaren bedeckt war, und kleine braune Bärenaugen.
-Die Zwergin machte keinen so angenehmen Eindruck
-wie ihr Bruder. Ihre Gestalt war schwammig, um
-den Mund spielte ein Zug von Dummheit und Sinnlichkeit
-und die Augen blickten stumpf.</p>
-
-<p>Der Zwerg Nikolai Afanasjewitsch trug trotz der heißen
-Jahreszeit warme Tuchstiefel, schwarze Beinkleider aus haarigem
-Flauschstoff, eine gelbe Flanellweste und einen braunen
-Frack mit Metallknöpfen. Seine Wäsche war von tadelloser
-Sauberkeit und seine Wangen stützten sich auf eine stramm
-gebundene, hohe Atlashalsbinde. Die Zwergin trug ein grünes
-Seidenkleid mit großem Spitzenkragen.</p>
-
-<p>Als Nikolai Afanasjewitsch ins Zimmer getreten war,
-legte er zuerst die Händchen an die Hosennaht, drückte dann
-die Rechte mit der Mütze ans Herz, machte einen Kratzfuß
-und schritt etwas breitbeinig gerade auf die Hausfrau zu.</p>
-
-<p>»Unser gnädiger Herr Nikita Alexejewitsch Plodomasow
-und der gnädige Herr Parmen Semenowitsch Tuganow,«
-sagte er mit leiser und eintöniger Greisenstimme, »haben uns
-in ihrem eigenen und im Namen ihrer Frau Gemahlin befohlen,
-daß wir als ihre Diener Ihnen, gnädige Frau Olga Arsentjewna,
-ihren Glückwunsch darbringen. &ndash; Schwesterlein, wiederholt
-es,« wandte er sich an die neben ihm stehende Schwester,
-und als diese mit ihrer Gratulation fertig war, machte Nikolai<span class="pagenum"><a id="Seite_158">[158]</a></span>
-Afanasjewitsch vor dem Polizeichef ebenfalls einen
-Kratzfuß und fuhr fort:</p>
-
-<p>»Und auch Ihnen, gnädiger Herr Woin Wasiljewitsch, und
-der ganzen geehrten Gesellschaft einen herzlichen Glückwunsch
-zum frohen Familienfest. Und ferner habe ich, gnädiger Herr,
-Ihnen zu melden, daß mein gnädiger Herr und Parmen
-Semenowitsch Tuganow, die mich und meine Schwester als
-Gratulanten hierher gesandt haben, es gütigst zu entschuldigen
-bitten, daß sie ihren Glückwunsch durch uns unwürdige
-Knechte darbringen lassen; aber sie können leider über ihre
-Zeit nicht verfügen. Sie wollen sich heute abend noch persönlich
-deswegen entschuldigen.«</p>
-
-<p>»Parmen Semenowitsch will herkommen?« rief der Polizeichef.</p>
-
-<p>»Mit meinem gnädigen Herrn Nikita Alexejewitsch Plodomasow,
-der sich auf der Durchreise nach Petersburg hier aufhält,
-und um Vergebung bittet, wenn er im Reiseanzug erscheint.«</p>
-
-<p>Der Gesellschaft bemächtigte sich bei dieser Mitteilung eine
-leichte Erregung, welche der Zwerg benutzte, um auf Tuberozow
-zuzugehen und seinen Segen entgegenzunehmen. Dabei
-sagte er leise:</p>
-
-<p>»Parmen Semenowitsch bittet, Ihr möchtet heute abend
-auch hier sein.«</p>
-
-<p>»Sag' ihm, Lieber, ich würde kommen,« erwiderte Tuberozow.</p>
-
-<p>Der Zwerg empfing dann auch von Zacharia den Segen.
-Der Diakon Achilla ergriff die Hand des kleinen Mannes,
-der sich ehrerbietig vor ihm verbeugte und dabei lächelnd
-sagte:</p>
-
-<p>»Ich bitte Euch nur, werter Herr, versucht Eure Heldenkraft
-nicht an mir.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_159">[159]</a></span></p>
-
-<p>»Ist er denn so kräftig, Nikolai Afanasjewitsch?« scherzte
-der Hausherr.</p>
-
-<p>»Er gibt gern Proben seiner Kraft,« antwortete der Alte.
-»Aber lohnt es sich an einem Krüppel?«</p>
-
-<p>»Wie steht's mit der Gesundheit, Nikolai Afanasjewitsch?«
-fragten die Damen, welche den Zwerg von allen Seiten umringt
-hatten und seine Händchen drückten.</p>
-
-<p>»Ach was Gesundheit, meine werten Damen! Es ist ein
-Spott und eine Schande! Wie ein Ferkelchen bin ich geworden.
-Der Sommer ist längst da, &ndash; und ich friere beständig.«</p>
-
-<p>»Sie frieren?«</p>
-
-<p>»Ei freilich. Schauen Sie mich bloß an. Ich bin ja ganz
-in Hasenwolle eingenäht. Aber was ist daran auch verwunderlich,
-werte Herrschaften? Ich unnützer Mensch habe doch
-schon die Achtzig hinter mir.«</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch wurde von allen Seiten mit Fragen
-überschüttet. Man setzte ihn an den Tisch, reichte ihm die
-Speisen. Er antwortete allen klug und gewandt, rührte aber
-von den Speisen nichts an: er äße längst schon sehr wenig, und
-auch dann nur höchstens ein leichtes Gemüse. »Aber die
-Schwester wird essen,« sagte er, sich zu dieser wendend. »Eßt
-nur, Schwesterlein, eßt. Geniert Euch nicht. Wollt Ihr aber
-ohne mich nicht essen, dann bitte ich Olga Arsentjewna um
-etwas Möhrenfüllung aus der Pastete hier auf dieses kleine
-Tellerchen … So ist's recht. Danke schön, danke! Was
-brauch' ich überhaupt noch zu essen? Ich kann ja gar nichts
-mehr. Nicht einmal einen Zwirnstrumpf bring' ich mehr
-ordentlich fertig. Und früher konnte ich doch viel besser
-stricken als die Schwester, sogar <em class="antiqua">Broderies anglaises</em> verstand
-ich zu flechten; aber jetzt lasse ich beständig die Maschen
-fallen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_160">[160]</a></span></p>
-
-<p>Der Propst sah dem Zwerge mit glücklichem Lächeln in die
-Augen:</p>
-
-<p>»Wenn ich dich betrachte, Nikolai, so denke ich an ein lieber
-altes Märchen, mit dem man sterben möchte.«</p>
-
-<p>»Ach, Väterchen, unser liebes Märchen ist vor uns heimgegangen.«</p>
-
-<p>»Vergißt du sie nicht schon, deine Herrin? Die Bojarin
-Marfa Andrejewna?« fragte, sich ihm nähernd, der Diakon
-Achilla, welchen der Zwerg immer noch ein wenig zu fürchten
-schien.</p>
-
-<p>»Zum Vergessen bin ich schon zu alt, Vater Diakon, ich
-denke lange schon daran, daß es für mich Zeit wird, ihr in
-jener Welt wieder zu dienen,« erwiderte er leise und sich halb
-dem Diakon zukehrend.</p>
-
-<p>»Sie war eine trostreiche Frau, diese Alte,« sagte der Diakon,
-ohne seine Rede an eine bestimmte Person zu richten.</p>
-
-<p>»In welchem Sinne trostreich? Wie meinst du das?«
-fragte Tuberozow.</p>
-
-<p>»Spaßig war sie.«</p>
-
-<p>Der Propst lächelte und machte eine abwehrende Handbewegung.
-Nikolai Afanasjewitsch aber fiel Achilla ins Wort
-und sagte sehr bestimmt:</p>
-
-<p>»Keine Spaßmacherin war sie, sondern eine wirkliche Trösterin,
-werter Herr.«</p>
-
-<p>»Was belehrst du ihn, Nikolai! Erzähle lieber, wie sie
-dich erbittert hat. Und wie sie dann alles wieder zum Besten
-kehrte,« rief der Propst.</p>
-
-<p>»Ach, Hochwürden, das ist eine so alte Geschichte.«</p>
-
-<p>»Er weiß von dieser seiner Erbitterung mit so viel Wärme
-zu erzählen,« wandte sich Tuberozow an die Gäste.</p>
-
-<p>»Ja, Väterchen, sie, meine gnädige Herrin, verstand es,
-einen Menschen so zu erbittern und dann so zu trösten, wie<span class="pagenum"><a id="Seite_161">[161]</a></span>
-nur ein Engel Gottes zu trösten vermag,« fiel der Zwerg
-sofort ein.</p>
-
-<p>»Nun, so erzähle doch.«</p>
-
-<p>»Ja, Nikolascha, erzähle, erzähle!«</p>
-
-<p>»Nun, werte Herrschaften, ob Sie sich über mich lustig
-machen oder ob es Sie wirklich interessiert, &ndash; wenn die
-ganze Gesellschaft es wünscht, so will ich mich nicht widersetzen
-und Ihnen die Geschichte erzählen.«</p>
-
-<p>Und er begann.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_162">[162]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_3">Drittes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Es war kaum ein Jahr, nachdem meine gnädige Herrin
-mich von meiner früheren Herrschaft gekauft hatte. Ein Jahr
-in bittern Schmerzen lag hinter mir. Ich war von meiner
-Heimat und von meinen Lieben für immer getrennt. Natürlich
-ließ ich meinen Kummer nicht merken. Es war jedoch
-vergebens, denn die Selige hatte ihn längst erraten. Als
-nun mein Namenstag kam, geruhte sie mir zu sagen:</p>
-
-<p>›Was soll ich dir denn zum Namenstage schenken, Nikolai?‹</p>
-
-<p>›Mütterchen,‹ sag' ich, ›was brauch' ich Narr noch beschenkt
-zu werden? Ich bin auch so völlig zufrieden.‹</p>
-
-<p>›Nein,‹ geruhte sie zu sagen, ›einen Rubel sollst du wenigstens
-haben.‹</p>
-
-<p>Natürlich wagte ich nicht zu widersprechen und küßte ihr
-die Hand:</p>
-
-<p>›Vielen Dank, Euer Gnaden!‹ sprach ich nur.</p>
-
-<p>Und setzte mich wieder auf das Fußbänkchen gegenüber
-ihrem Sessel und strickte meinen Strumpf weiter. Nach
-einiger Zeit fragt sie wieder:</p>
-
-<p>›Was wirst du mit dem Rubel anfangen, Nikolai, den ich
-dir morgen schenken will?‹</p>
-
-<p>›Den schicke ich bei Gelegenheit meinem Vater.‹</p>
-
-<p>›Und wenn ich dir zwei schenke?‹</p>
-
-<p>›So bekommt mein Mütterchen den zweiten.<span class="pagenum"><a id="Seite_163">[163]</a></span>‹</p>
-
-<p>›Und wenn es drei werden?‹</p>
-
-<p>›Dann soll auch mein Bruder Iwan Afanasjewitsch einen
-haben.‹</p>
-
-<p>Da schüttelte sie den Kopf:</p>
-
-<p>›Du hast aber viel Geld nötig, wenn du alle bedenken willst!
-Das kannst du, so klein wie du bist, ja dein Lebtag nicht verdienen.‹</p>
-
-<p>›Dem lieben Gott hat es gefallen, mich so zu schaffen,‹
-antwortete ich und fing leise zu weinen an. Mein Herz
-krampfte sich zusammen, wissen Sie, ich ärgerte mich selbst
-über meine Tränen und doch mußte ich weinen. Sie aber,
-die Selige, guckte und guckte mich an, bis sie auf einmal mir
-schweigend winkte: ich fiel ihr zu Füßen und sie legte meinen
-Kopf auf ihren Schoß, und ich weinte nun erst recht und sie
-weinte auch. Dann stand sie auf und sprach:</p>
-
-<p>›Haderst du nie mit dem lieben Gott, Nikolai?‹</p>
-
-<p>›Wie soll ich mit dem lieben Gott hadern, Mütterchen?
-Niemals tu ich das.‹</p>
-
-<p>›So wird Er dich auch trösten.‹</p>
-
-<p>Und er hat mich wirklich getröstet.«</p>
-
-<p>Als der Zwerg in seiner Erzählung so weit gekommen war,
-fingen seine dünnen Augenlider plötzlich heftig zu zucken an,
-er sprang hastig von seinem Stuhl auf, lief in eine Ecke, wischte
-sich dort mit einem weißen Tüchlein die Augen und kehrte
-mit verschämtem Lächeln auf seinen Platz zurück. Nachdem
-er sich wieder gesetzt hatte, begann er mit einer ganz anderen,
-feierlichen Stimme:</p>
-
-<p>»Ich war früh aufgestanden, werte Herrschaften, war ganz
-leise mich waschen gegangen, denn ich schlief ja zu Füßen
-ihres Bettes, hinter einem Schirm auf einem Teppich. Dann
-war ich in die Kirche gegangen, um beim Vater Alexei einen
-Dankgottesdienst nach der Frühmesse zu bestellen. Wie ich<span class="pagenum"><a id="Seite_164">[164]</a></span>
-nun, werte Herrschaften, in die Kirche komme, gehe ich geradewegs
-nach dem Altar, um vom Vater Alexei den Segen zu
-empfangen, und sehe, daß Vater Alexei ein so seltsam frohes
-Gesicht macht und mir so herzlich zur großen Freude gratuliert.
-Ich bezog das natürlich auf den Festtag und auf meinen
-Namenstag. Aber was sollte nun kommen, meine lieben
-und werten Herrschaften! Ich trete auf den linken Altarflügel
-hinaus, &ndash; und sehe plötzlich mitten im Volke mein
-Mütterlein und meinen Vater und meinen Bruder Iwan
-Afanasjewitsch. Den Vater und die Mutter fand ich in der
-Menge nicht gleich heraus, aber der Bruder Iwan Afanasjewitsch
-… der war ja der reine Gardehusar. Ihn sah ich
-sofort. Erst dachte ich, es wäre eine Vision! Denn ich hatte
-mich an diesem Tage so sehr nach ihnen gesehnt. Aber nein,
-es war keine Vision! Ich sah meine Mutter &ndash; sie war eine
-Bäuerin &ndash; bitterlich weinen und dachte, sie habe ihre Herrschaft
-um Urlaub gebeten und den weiten Weg gemacht, um
-ihr Kind wiederzusehen. Natürlich wollte ich den Gottesdienst
-nicht stören und ging wieder in den Altarraum zurück.
-Wie ich aber nach Schluß der Messe heraustrete, da erblicke
-ich vor dem Betpult mit dem Heiligenbilde Marfa Andrejewna
-selber; und hinter ihr meine Schwester Maria Afanasjewna,
-die Sie hier sehen, meine Eltern und meinen Bruder.
-Ich gehe auf Marfa Andrejewna zu, um sie zu begrüßen.
-Sie aber schiebt mich leise mit der Hand beiseite und sagt:</p>
-
-<p>›Geh erst und begrüße deine Eltern.‹</p>
-
-<p>So begrüßte ich den Vater, die Mutter, den Bruder,
-unter Tränen. Nur meine Schwester Maria Afanasjewna
-weinte nicht, denn sie hat einen besseren Charakter. Ich
-aber bin so schwach, daß ich immer weinen muß. Nun
-traten wir aus der Kirche heraus und meine gnädige
-Herrin nimmt ein Beutelchen aus der Tasche &ndash; ich<span class="pagenum"><a id="Seite_165">[165]</a></span>
-hatte selbst gesehen, wie sie diesen Beutel strickte, aber ich
-wußte natürlich nicht, für wen er bestimmt war &ndash; und sagt
-zu mir: ›Nun beschenke die Deinigen, Nikolascha.‹ Ich greife
-in den Beutel, dem Vater gab ich einen Silberrubel, der
-Mutter einen Silberrubel, dem Bruder Iwan Afanasjewitsch
-einen Rubel. Es waren lauter ganz neue Rubel! Im
-Beutel aber lagen noch vier Rubel. ›Wer soll denn die noch
-bekommen, Mütterchen?‹ frage ich meine gnädige Herrin.
-Aber da sehe ich schon den Verwalter Dementij, der mir meine
-Schwägerin und ihre drei Kinder zuführt, alle in langen
-Röcken. Dank der großen Gnade meiner Herrin konnte ich
-auch sie noch beschenken, ehe wir aus der Kirche alle zusammen
-nach Hause gingen. Vor dem Herrenhaus bemerkte ich drei
-Wagen, mit den Gutspferden meiner gnädigen Herrin bespannt.
-Die beiden Pferdchen meines Bruders waren hinten
-angebunden, und das ganze Gepäck der Eltern und des Bruders
-lag auf dem Wagen. Dies machte mich ganz verwirrt,
-und ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. Marfa Andrejewna
-war die ganze Zeit mit dem Vater Alexei vorausgegangen
-und hatte von der Ernte gesprochen und mich anscheinend
-gar nicht beachtet. Jetzt aber, wie sie eben die Verandastufen
-hinauf will, wendet sie sich nach mir um und geruht
-also zu sprechen: ›Hier hast du einen Freibrief, mein braver
-Knecht, deine Eltern und dein Bruder nebst Kindern sind
-von mir losgekauft.‹ Und damit schob sie mir das Papier
-hinter die Weste … Das war zu viel für mich&nbsp;…«</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch hob die Hände bis zur Höhe seines
-Gesichts und sagte:</p>
-
-<p>»›Du!‹ rief ich wie wahnsinnig, ›du willst mich durch das
-Übermaß deiner Güte ganz erdrücken!‹ Es schnürte mir die
-Kehle zusammen, meine Schläfen hämmerten, vor meinen
-Augen zuckten bunte Flämmchen, und ich fiel bewußtlos vor<span class="pagenum"><a id="Seite_166">[166]</a></span>
-dem Wagen meines Vaters nieder, den Freibrief an die Brust
-gedrückt.«</p>
-
-<p>»Ach du, Alter! So viel Gefühl hast du!« rief der Diakon
-Achilla gerührt und schlug Nikolai Afanasjewitsch auf die
-Schulter.</p>
-
-<p>»Ja,« fuhr der Zwerg fort, nachdem er sich den Mund gewischt
-hatte. »Ich kam erst nach neun Tagen wieder zu mir,
-denn ich war an einem schweren Fieber erkrankt. Und wie
-ich mich umschaute, sah ich meine gnädige Herrin zu Häupten
-meines Bettes sitzen: ›Vergib mir um Christi willen, Nikolascha,‹
-sprach sie, ›ich verrücktes Frauenzimmer hätte dich
-beinahe umgebracht!‹ So ein gewaltiger Mensch war sie,
-die gnädige Bojarin Plodomasowa!«</p>
-
-<p>»Ach du allerliebster Alter!« rief wieder der Diakon Achilla
-und packte den Zwerg scherzend an einem Knopfe seines Fracks,
-diesen scheinbar abreißend.</p>
-
-<p>Der Kleine faßte schweigend nach dem Knopf, und als er
-sich überzeugt hatte, daß er heil und ganz an seinem Platze
-geblieben war, meinte er:</p>
-
-<p>»Ja, ja, ich bin doch ein ganz unbedeutendes Wesen, aber
-sie war immer besorgt um mich und schenkte mir ihr Vertrauen;
-sogar ihren Kummer teilte sie mir mit, besonders als
-die Trennung von ihrem Sohne Alexei Nikititsch ihr so nah
-ging. Bekam sie mal einen Brief, dann las sie ihn erst ganz
-schnell für sich und später las sie ihn mir vor. Sie sitzt und
-liest vor und ich stehe mit meinem Strickstrumpf daneben und
-höre zu. Und wenn sie zu Ende ist, sprechen wir über den
-Brief. ›Jetzt wird er wohl bald Offizier,‹ sagt sie zu mir.
-Und ich antworte: ›Ja, sicher muß die Reihe schon an ihn
-gekommen sein.‹ Und sie wieder: ›Was meinst du, Nikolascha,
-da wird man ihm wohl mehr Geld schicken müssen.‹
-&ndash; ›Gewiß hat er jetzt mehr nötig, Mütterchen,‹ sage ich. ›Ei<span class="pagenum"><a id="Seite_167">[167]</a></span>
-freilich, wir haben hier das Geld ja gar nicht nötig.‹ ›Natürlich,
-Mütterchen, wozu brauchen wir Geld?‹ Meine Schwester
-Maria Afanasjewna aber schweigt still, und das ist meiner
-gnädigen Herrin nicht recht und sie wird gleich böse. ›Ach, du
-Holzklotz,‹ sagt sie. ›Ja, die wußten, was sie taten, als sie
-dich mir umsonst als Zugabe zum Bruder überließen.‹«</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch besann sich plötzlich, wurde ganz
-rot und sagte zu seiner stumpfsinnigen Schwester:</p>
-
-<p>»Nehmt mir's nicht übel, Schwesterlein, daß ich das erzähle.«</p>
-
-<p>»Erzählt nur, erzählt nur, es tut nichts,« antwortete Maria
-Afanasjewna, mit der Zunge gegen die Backe stoßend.</p>
-
-<p>»Nun, und euch beiden hat sie die Freiheit nicht geben
-wollen?« fragte jemand.</p>
-
-<p>»Die Freiheit? Nein, freigegeben hat sie uns nicht. Meine
-Schwester Maria Afanasjewna stand wohl mit drin im Freibrief,
-den sie meinen Eltern gegeben, aber mich wollte sie
-nicht fortlassen. Mitunter sagte sie: ›Wenn ich tot bin, magst
-du leben, wo du willst (denn sie hatte ein kleines Kapital als
-Pension für mich angelegt), aber solange ich am Leben bin,
-lasse ich dich nicht frei.‹ &ndash; ›Ach, Mütterchen,‹ sagte ich darauf,
-›was soll ich mit der Freiheit? Mich hacken doch die Spatzen
-tot!‹«</p>
-
-<p>»Ach, du kleiner Kerl!« rief Achilla gerührt.</p>
-
-<p>»Er war ja in allem ihre rechte Hand, unser Nikolai Afanasjewitsch,«
-fiel Tuberozow ein.</p>
-
-<p>»Ja, Vater Propst, ich habe ihr gedient, so gut ich's verstand.
-Wenn die Selige nach Moskau oder Petersburg
-reiste, nahm sie nie eine Zofe mit. Sie konnte weibliche Bedienung
-auf Reisen nicht leiden. Oft sagte sie: ›So eine Prinzessin
-Pumfia tut nichts weiter als quasseln und im Gasthof
-im Korridor herumlungern und Bekanntschaften machen.<span class="pagenum"><a id="Seite_168">[168]</a></span>
-Mein Nikolascha aber sitzt hübsch still im Winkel, wie ein
-Hase.‹ Sie betrachtete mich gar nicht als Mann, sondern
-nannte mich immer nur Hase.«</p>
-
-<p>»Ein Karnickelchen,« sagte Achilla lachend und streichelte
-die Schultern des Kleinen.</p>
-
-<p>»So ganz konnte sie dich aber doch nicht für einen Hasen
-halten, wenn sie dich sogar verheiraten wollte?« sagte der
-Polizeichef Porochontzew.</p>
-
-<p>»Ja, das hat sie gewollt, Woin Wasiljewitsch. Freilich,
-freilich,« erwiderte der Kleine, die Stimme immer mehr
-dämpfend, »das hat sie gewollt.«</p>
-
-<p>»Wirklich, Nikolai Afanasjewitsch?« riefen mehrere Stimmen
-zugleich.</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch wurde ganz rot und flüsterte:</p>
-
-<p>»Lügen wäre Sünde, &ndash; ja es war so.«</p>
-
-<p>Und nun stürmte die ganze Gesellschaft auf den Zwerg ein:</p>
-
-<p>»Erzählen, Nikolai Afanasjewitsch, erzählen!«</p>
-
-<p>»Ach, werte Herrschaften, was ist da zu erzählen?« suchte
-Nikolai Afanasjewitsch lachend und errötend und die Hände
-ausstreckend die Zudringlichen abzuwehren.</p>
-
-<p>Man gab nicht nach. Die Damen faßten seine Hände, küßten
-ihn auf die Stirn; er fing die Damenhände, die sich nach ihm
-ausstreckten, im Fluge auf und küßte sie, wollte aber trotzdem
-nicht erzählen, weil er meinte, die Geschichte wäre zu lang und
-uninteressant. Da schlug plötzlich etwas dröhnend gegen den
-Fußboden, die Hausfrau, die in diesem Augenblick vor dem
-Lehnstuhl des Zwerges stand, trat erschrocken zurück, und den
-erstaunten Blicken von Nikolai Afanasjewitsch zeigte sich der
-Diakon Achilla, kniend mit hoch emporgereckten Armen.</p>
-
-<p>»Herzchen!« flehte er mit heftigen Kopfbewegungen. »Erzähle,
-wie sie dich verheiraten wollten.«</p>
-
-<p>»Ja, ja, ich will alles erzählen, steht nur auf, Vater Diakon.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_169">[169]</a></span></p>
-
-<p>Achilla erhob sich, klopfte den Staub von seiner Kutte und
-rief selbstzufrieden:</p>
-
-<p>»Nun? Was sagt ihr nun? Er wird nicht erzählen, meintet
-ihr! Da sagte ich: Ich setze es durch, &ndash; und ich hab's durchgesetzt!
-Jetzt bitte wieder Platz zu nehmen, meine Herrschaften,
-und hübsch still sein, und die gnädigste Hausfrau ist so gut
-und läßt dem Nikolascha für seine Erzählung ein Glas Wasser
-mit rotem Wein geben, wie das in feinen Häusern Brauch
-ist.«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Alle setzten sich. Man brachte Nikolai Afanasjewitsch ein
-Glas Wasser, in das er selbst ein paar Tropfen Rotwein
-goß, und dann fing er von neuem zu erzählen an.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_170">[170]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_4">Viertes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Es war bald nach dem Frieden mit Frankreich, meine
-werten Herrschaften, als ich mit dem in Gott entschlafenen
-Kaiser sprach.«</p>
-
-<p>»Sie haben mit dem Kaiser gesprochen?« unterbrachen den
-Erzähler sofort mehrere Stimmen.</p>
-
-<p>»Ja, was denken Sie?« sagte der Zwerg sanft lächelnd. »Mit
-Seiner Kaiserlichen Majestät Alexander Paulowitsch habe ich gesprochen
-und habe Verstand genug gehabt, ihm zu antworten.«</p>
-
-<p>»Hahaha! Ist das ein Kerl, dieser Nikolaurus, Gott straf
-mich!« brüllte der Diakon Achilla entzückt und schlug sich mit
-der flachen Hand auf die Schenkel. »Seht ihn doch an, &ndash;
-so ein winziger Floh und hat mit dem Kaiser geredet.«</p>
-
-<p>»Sitz ruhig, Diakon, und sei still,« sagte Tuberozow ernst.</p>
-
-<p>Achilla gab durch eine Handbewegung zu verstehen, daß
-er den Erzähler nicht mehr unterbrechen werde und setzte sich.</p>
-
-<p>Der Zwerg fuhr fort:</p>
-
-<p>»Die ganze Sache nahm scheinbar mit diesem meinem Gespräch
-mit dem Kaiser überhaupt ihren Anfang. Meine gnädige
-Herrin Marfa Andrejewna hatte den Wunsch, nach Moskau
-zu reisen, als der Kaiser nach seinem weltberühmten
-Siege über Napoleon Bonaparte dort erwartet wurde. Natürlich
-mußte auch ich sie wieder auf dieser Reise begleiten.
-Die Selige war dazumal schon in hohen Jahren, und weil auch
-ihre Gesundheit zu wünschen übrigließ, leicht erzürnt und<span class="pagenum"><a id="Seite_171">[171]</a></span>
-gekränkt. Da verschaffte nun Alexei Nikititsch seiner Mutter
-eine Einladung zu einem Ball, zu dem auch der Kaiser kommen
-sollte. Marfa Andrejewna gestand mir offen, daß ihr das
-ein großes Vergnügen bereitet hatte. Sie ließ sich zu diesem
-Ball ein kostbares Kleid machen, und für mich wurde bei einem
-französischen Schneider ein blauer Frack aus englischem Tuch
-mit goldenen Knöpfen bestellt, dazu &ndash; entschuldigen Sie,
-meine Damen &ndash; Pantalons, Weste, Halsbinde &ndash; alles
-weiß; ein Spitzenvorhemd und Schnallenschuhe, &ndash; zweiundvierzig
-Rubel hat sie bezahlt. Alexei Nikititsch hatte, um
-seiner Mutter eine Freude zu machen, es so eingerichtet, daß
-sie mich mitnehmen durfte. Dem <em class="antiqua">Maitre d'hôtel</em> wurde befohlen,
-mich in die Orangerie zu führen und gerade gegenüber
-dem Saale, in den der Kaiser eintreten sollte, irgendwo
-in einer Ecke zwischen den Gewächsen aufzustellen. So geschah
-es denn auch, werte Herrschaften, aber doch nicht ganz,
-wie es beabsichtigt war. Der <em class="antiqua">Maitre d'hôtel</em> sagte mir, ich
-sollte mich ruhig verhalten und sehen, soviel ich von meinem
-Platz nur sehen könnte. Aber was war von da zu sehen?
-Nichts. Da machte ich es wie Zachäus, der Zöllner, wissen
-Sie, und kletterte &ndash; hoppla &ndash; auf so einen kleinen künstlichen
-Felsen, wo ich nun unter einer Palme stand. Der Saal
-war voll Glanz und Lärm und Musik, aber auch von meinem
-Felsen konnte ich nur die Frisuren der Herrschaften sehen.
-Plötzlich aber gerieten all diese Köpfe in lebhafte Bewegung,
-sie schoben sich auseinander und der Kaiser ging mit dem
-Fürsten Golitzyn geradewegs nach der Orangerie, um sich
-etwas zu erfrischen. Und &ndash; denken Sie sich nur &ndash; nicht
-allein, daß er sich nach der Orangerie begibt, er geht auch
-gerade auf die entfernte Ecke zu, wo man mich versteckt hatte.
-Ganz starr war ich, meine Damen, wie angewachsen an den
-Felsen und konnte nicht herunter.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_172">[172]</a></span></p>
-
-<p>»Da war dir wohl bange?« fragte Tuberozow.</p>
-
-<p>»Wie soll ich sagen? Bange eigentlich nicht, aber doch gewissermaßen
-aufgeregt war ich.«</p>
-
-<p>»Ich wäre davongelaufen,« sagte der Diakon, außerstande,
-noch weiter zu schweigen.</p>
-
-<p>»Warum denn davonlaufen, werter Herr? Ich will nicht
-sagen, daß ich keine Angst verspürt hätte, aber ans Davonlaufen
-dachte ich doch nicht. Seine Majestät kamen indes
-immer näher und näher. Ich hörte schon deutlich, wie Ihre
-Stiefel klipp-klapp, klipp-klapp machten. Ich sah bereits Ihr
-sanftes Gesicht, den freundlichen Blick, und wissen Sie, in
-meiner Verwirrung dachte ich gar nicht mehr daran, daß
-ich gleich Ihren Augen sichtbar werden mußte. Da wandte
-der Kaiser den Kopf und, ich sah's, er richtete den Blick direkt
-auf mich und sah mich an.«</p>
-
-<p>»Nun?« schrie der Diakon und wurde ganz bleich.</p>
-
-<p>»Ich machte eine Verbeugung.«</p>
-
-<p>Der Diakon atmete auf, drückte die Hand des Zwerges und
-flüsterte:</p>
-
-<p>»Erzähle, sei so gut, erzähle schnell weiter!«</p>
-
-<p>»Der Kaiser sah mich also an und geruhte auf Französisch
-zum Fürsten Golitzyn zu sagen: ›Ach, was für ein Miniaturexemplar!
-Wem mag es gehören?‹ Der Fürst Golitzyn war,
-wie ich sah, in Verlegenheit, was er antworten sollte, &ndash; und
-da ich die französische Rede wohl verstehen konnte, antwortete
-ich selber: ›Der gnädigen Frau Plodomasow, Kaiserliche Majestät!‹
-Da wandte sich der Kaiser zu mir und geruhte zu
-fragen: ›Welcher Nation sind Sie?‹ &ndash; ›Ein treuer Untertan
-Eurer Majestät,‹ antwortete ich. ›Und geborener
-Russe?‹ fragte er weiter und ich antwortete: ›Ein Bauer
-und treuer Untertan Eurer Majestät.‹ Da lachte der
-Kaiser. ›Bravo,‹ scherzte er, ›bravo, <em class="antiqua">mon petit sujet<span class="pagenum"><a id="Seite_173">[173]</a></span>
-fidèle</em>!‹ und faßte meinen Kopf mit der Hand und zog
-mich an sich.«</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch dämpfte seine Stimme und sagte
-mit einem leisen Lächeln im Flüstertone, als handele es sich
-um ein großes politisches Geheimnis:</p>
-
-<p>»Er faßte mich um, wissen Sie, und dabei drückte ein
-Knopf seines Ärmelaufschlags mir die Nase zusammen, daß
-es mir ordentlich wehe tat.«</p>
-
-<p>»Nun und du? Du schriest doch nicht?« rief der Diakon.</p>
-
-<p>»Nein, Väterchen, nein, warum sollte ich schreien? Wie
-kann man schreien, wenn der Zar einen liebkost? Nein, als
-er mich losließ, küßte ich seine Hand … für das Glück und
-die Ehre … und das war mein ganzes Gespräch mit Seiner
-Kaiserlichen Majestät. Später natürlich, als sie mich vom
-Felsen heruntergenommen hatten und man mich in der
-Kutsche nach Hause fuhr, da hab' ich die ganze Zeit geweint.«</p>
-
-<p>»Warum hast du denn nachher geweint?« fragte Achilla.</p>
-
-<p>»Warum? Als ob ich nicht Grund genug gehabt hätte?
-Vor Rührung weint der Mensch!«</p>
-
-<p>»So klein ist er und hat so viel Gefühl!« rief Achilla ganz
-begeistert.</p>
-
-<p>»Nun, erlauben Sie mal,« fing der Erzähler wieder an.
-»Die Aufmerksamkeit, die Seine Majestät mir zufällig erwiesen,
-wurde in verschiedenen Moskauer Häusern bekannt,
-Marfa Andrejewna nahm mich überall mit hin und zeigte mich
-den Leuten, und &ndash; ich sage Ihnen die reine Wahrheit, ich lüge
-nicht &ndash; ich war damals der allerkleinste Zwerg in ganz Moskau.
-Aber das dauerte nicht lange, nur einen einzigen
-Winter.«</p>
-
-<p>In diesem Augenblick prustete der Diakon plötzlich überlaut
-und fing dann, den Kopf zurückwerfend, leise zu kichern an.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_174">[174]</a></span></p>
-
-<p>Als er merkte, daß er durch sein Lachen den Erzähler unterbrochen
-hatte, setzte er sich wieder gerade hin und sagte:</p>
-
-<p>»Es ist nichts! Erzähle nur weiter, Nikolaurus, ich lache
-über meine eigene Sache. Wie einmal der Graf Klenychin
-mit mir gesprochen hat.«</p>
-
-<p>»Nein, sprechen Sie sich nur aus, werter Herr, sonst unterbrechen
-Sie mich wieder,« sagte der Zwerg.</p>
-
-<p>»Ach, es ist gar nichts Besonderes, eine ganz einfache Geschichte,«
-erwiderte Achilla. »Der Graf Klenychin besichtigte
-unser Seminargebäude, ich machte ihm eine Verbeugung
-und da sagte er: ›Pack dich weg, Schafskopf!‹ Und das war
-unser ganzes Gespräch, über das ich lachen mußte.«</p>
-
-<p>»Es ist auch wirklich komisch,« sagte der Zwerg lächelnd
-und fuhr fort:</p>
-
-<p>»Im nächsten Winter brachte die Generalin Wichiorowa
-aus Petersburg eine finnische Zwergin namens Meta mit,
-die war noch um einen Finger breit kleiner als ich. Die selige
-Marfa Andrejewna konnte das gar nicht hören. Anfangs
-behauptete sie immer, das sei keine natürliche Zwergin, sondern
-eine, der man in der Kindheit Blei eingegeben habe;
-aber als sie angekommen war und meine gnädige Herrin
-die Meta Iwanowna mit eigenen Augen sah, da wurde sie
-furchtbar böse, daß sie so wohlgebaut und weiß war. Sogar
-im Traum ließ es ihr keine Ruhe: immer nur dachte sie daran,
-wie sie die Meta Iwanowna kaufen könnte. Aber die Generalin
-wollte von Verkauf nichts wissen. Da fing nun
-Marfa Andrejewna mit allerlei spitzigen Reden an: ihr Nikolai
-wäre ein kluger Kopf und hätte mit dem Kaiser selbst
-gesprochen, das Mädel aber sehe bloß nett aus und weiter
-nichts. So zankten sich die beiden Damen unsertwegen.
-Marfa Andrejewna sagte, jene solle ihr das Mädchen verkaufen,
-und diese wiederum wollte mich kaufen. Da fuhr<span class="pagenum"><a id="Seite_175">[175]</a></span>
-Marfa Andrejewna einmal heftig auf: ›Ich will sie doch
-nicht bloß zum Spaß haben,‹ sagte sie, ›ich will sie doch verheiraten,
-der Nikolai soll sie zur Frau nehmen.‹ Die Frau
-Wichiorowa aber meinte: ›Ich kann ja die beiden auch verheiraten,
-wenn sie mir gehören.‹ Marfa Andrejewna erwiderte:
-›Wenn sie Kinder kriegen, sollst du ein Paar davon
-haben.‹ Jene aber versprach, daß sie ihr ebenfalls ein paar
-Kinder überlassen wolle, wenn es welche geben würde. Bis
-auf zehntausend Rubel waren sie nach und nach gekommen,
-meine werten Herrschaften, aber immer wurde nichts aus
-der Sache, denn wenn meine gnädige Herrin zehntausend für
-die Meta bot, so bot die Generalin elftausend für mich. Wohl
-war Marfa Andrejewna eine Frau von starkem und unbezwinglichem
-Geiste, die mit Pugatschow gestritten und mit drei
-Kaisern getanzt hatte, &ndash; aber mit der Generalin Wichiorowa
-wurde sie doch nicht fertig. Und auf mich war sie auch böse.
-›Du bist auch so ein dummer Rüpel,‹ geruhte sie zu mir zu
-sagen, ›der dem Mädel nicht ordentlich den Kopf verdrehen
-kann, daß es selber drum bittet, deine Frau werden zu dürfen.‹
-&ndash; ›Mütterchen, Marfa Andrejewna,‹ sagte ich, ›wie soll ich
-ihr denn den Kopf verdrehen? Geben Sie mir Ihre Hand,
-Mütterchen, daß ich Narr sie küsse.‹ Da wurde sie noch böser.
-›O, du dummer, dummer Kerl,‹ sagte sie, ›nichts verstehst
-du als die Handküsserei.‹ Da schwieg ich schon lieber ganz.«</p>
-
-<p>»O dieser kleine Kerl! Er kann ja nichts dergleichen, der
-Arme,« erklärte der Diakon teilnahmvoll seinem Nachbarn.</p>
-
-<p>Der Zwerg warf ihm einen Blick zu und fuhr fort:</p>
-
-<p>»So ging es nun Tag für Tag, bis es Frühling wurde,
-und für uns kam die Zeit, aus Moskau wieder nach Plodomasowo
-zurückzukehren. Wir fuhren nochmals zur Wichiorowa
-und wurden wieder nicht handelseinig. Marfa Andrejewna
-sagte ihr: ›So erlaub doch wenigstens deiner Qualle, daß<span class="pagenum"><a id="Seite_176">[176]</a></span>
-sie mit Nikolai vor dem Hause auf und ab geht.‹ Die Generalin
-gestattete das, und nun mußten Meta Iwanowna und
-ich auf dem Trottoir vor den Fenstern hin- und herspazieren.
-Das war eine große Freude für die selige Marfa Andrejewna,
-und für uns beide wurden die verschiedensten Kostüme genäht.
-Wir kamen hin und sie befahl: ›Heute sollen Nikolai
-und Meta als Paysans gehen.‹ Dann erschienen wir beide
-in Holzschuhen, ich in Kamisol und Hut und Meta Iwanowna
-mit einer großen Haube, und so gingen wir vor dem Hause
-auf und ab, und die Leute auf der Straße blieben stehen und
-schauten uns an. Ein andermal mußten wir uns als Türke
-und Türkin zeigen. Dann als Matrose und Matrosenmädchen.
-Ferner hatten wir noch Bärenkostüme, aus braunem
-Flanell genäht, wie Futterale. In diese stopfte man uns
-hinein, wie man eine Hand in den Handschuh steckt oder den
-Fuß in den Strumpf, nichts war zu sehen als die Augen, und
-oben am Kopfe waren solche kleine Zipfel aus Tuch angemacht,
-wie Ohren, die hin- und herwackelten. In diesen Kleidern
-schickte man uns aber nicht auf die Straße, sondern ließ sie
-uns zuweilen anlegen, wenn die beiden Damen beim Kaffee
-saßen. Dann mußten wir auf dem Teppich vor dem Kaffeetisch
-miteinander ringen. Meta Iwanowna war sehr stark für
-ein Mädchen, wenn ich ihr aber geschickt und schlau ein Bein
-stellte, dann fiel sie doch gleich um. Aber ich gab ihr doch meist
-aus Mitleid mit ihrem weiblichen Geschlecht nach, und die
-Generalin pflegte auch oft ihr Bologneserhündchen zu Hilfe
-zu rufen, das mir in die Waden fuhr. Dann ärgerte sich Marfa
-Andrejewna … Ach, ich mag gar nicht an diese Ringkämpfe
-denken! Das allerschönste Kostüm, das die Selige hatte
-machen lassen, habe ich heute noch: mich zogen sie als französischen
-Grenadier und Meta Iwanowna als Marquise an.
-Ich hatte eine hohe Bärenmütze, einen langen Waffenrock,<span class="pagenum"><a id="Seite_177">[177]</a></span>
-eine Flinte mit Bajonett und Meta Iwanowna trug einen
-Reifrock und hielt einen großen Fächer in der Hand. Dann
-mußte ich mich mit der Flinte vor der Tür aufstellen und
-Meta Iwanowna ging mit ihrem Fächer an mir vorüber
-und ich präsentierte das Gewehr. Und dann fing Marfa
-Andrejewna wieder mit der Generalin zu feilschen an, denn
-sie wollte uns gar zu gerne verheiraten. Ich muß Ihnen
-aber sagen, daß all diese Kostüme für mich und Meta Iwanowna
-meine gnädige Herrin auf ihre Kosten machen ließ,
-denn sie glaubte ganz sicher, daß sie die Meta Iwanowna
-schließlich doch bekommen würde; ja, je mehr Kleider sie
-für uns machen ließ, desto mehr wurde sie in der Zuversicht
-bestärkt, daß wir beide ihr Eigentum seien. Aber die Sache
-sollte ganz anders ausgehen. Die Generalin Karolina Karlowna
-Wichiorowa war nicht umsonst eine Deutsche: wo
-etwas ihr von Vorteil war, da widersetzte sie sich nicht, sondern
-nahm alles an, aber nachgeben war ihre Sache nicht.
-Da kam Alexei Nikititsch &ndash; Gott schenke ihm Gesundheit
-und langes Leben, ihm selbst war die Sache schon lange ein
-Dorn im Auge, und er sah, daß sie bös auslaufen würde &ndash;
-er kam also auf den Gedanken, oder irgendein kluger Offizier
-von seinem Regiment hatte ihm den Rat gegeben, der Frau
-Mutter mitzuteilen, die Wichiorowsche Zwergin sei verschwunden.
-Das beruhigte Marfa Andrejewna noch einigermaßen,
-daß jetzt niemand die Meta Iwanowna haben sollte, und sie
-redete beständig davon. ›Wie ist sie denn verloren gegangen?‹
-fragt sie. Alexei Nikititsch antwortet, ein Jude hätte sie
-gestohlen. ›Wie? Was für ein Jude?‹ Und wir fabeln
-weiter, wie's uns gerade einfällt: so ein kastanienbrauner
-Jude sei es gewesen, mit einem langen Bart, alle hätten
-ihn gesehen, wie er sie gepackt und fortgeschleppt habe. ›Warum
-hat man ihn denn nicht festgehalten?‹ fragt sie wieder. &ndash;<span class="pagenum"><a id="Seite_178">[178]</a></span>
-Ja, er sei eben aus einer Straße in die andere, aus einer
-Gasse in die andere gerannt. &ndash; ›Sie ist aber auch ein dummes
-Frauenzimmer, daß sie sich so fortschleppen läßt und nicht
-einmal schreit! Mein Nikolai hätte sich sowas nicht gefallen
-lassen.‹ &ndash; ›Wie werd' ich mich denn von einem Juden überwältigen
-lassen?!‹ sagte ich. Und so glaubte sie alles, wie
-ein kleines Kind. Aber da machte Alexei Nikititsch versehentlich
-einen kleinen Fehler, oder richtiger, er wollte es zu schlau
-anfangen. Seine Absicht war natürlich, Marfa Andrejewna
-schneller mit mir aufs Land zu schaffen, denn dort, glaubte
-er, würde sie leichter vergessen, und so sagte er zu seiner Mutter:
-›Seien Sie unbesorgt, liebe Mutter. Man wird die Zwergin
-sicher wiederfinden, denn sie wird überall gesucht, und wenn
-man sie gefunden hat, schreibe ich Ihnen sofort aufs Land.‹
-Die Selige klammerte sich nun an dieses Wort. ›Nein,‹ sagte
-sie, ›wenn man sie sucht, dann will ich lieber hier abwarten.
-Vor allem aber möchte ich den Juden sehen, der sie geraubt
-hat.‹ Ja, meine Herrschaften, da mußten wir noch einen
-Polizisten anstellen, daß er uns lügen half. Jeden Tag kam
-er und meldete, die Kleine würde gesucht, sei aber immer noch
-nicht gefunden. Sie gab ihm jeden Tag fünf Rubel, mich aber
-schickte sie tagtäglich zur Frühmesse, daß ich Sankt Johannes
-dem Krieger einen Bittgottesdienst abhalten lasse um Rückkehr
-der entflohenen Sklavin&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Sankt Johann dem Krieger? Du sagst, zu Sankt Johann
-dem Krieger hättest du beten lassen?« unterbrach ihn der
-Diakon.</p>
-
-<p>»Ja, Sankt Johannes dem Krieger.«</p>
-
-<p>»Na, dann gratuliere ich, mein Lieber. Da habt ihr gar
-nicht zu dem richtigen Heiligen gebetet.«</p>
-
-<p>»Wirst du wohl Ruhe halten, Diakon? Sei so gut,« fiel
-Vater Sawelij ein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_179">[179]</a></span></p>
-
-<p>»Bitte, Nikolai, erzähle weiter.«</p>
-
-<p>»Ja, Hochwürden, was ist da noch viel zu erzählen? Meine
-Geschichte ist so gut wie zu Ende. Einmal kamen wir mit
-Marfa Andrejewna von der Kapelle der Iberischen Mutter
-Gottes, als uns in der Petrowka-Straße der Wagen der
-Generalin Wichiorowa entgegenkam, in dem neben der Generalin
-auch Meta Iwanowna saß. Da begriff Marfa Andrejewna
-alles und … Sie mögen mir glauben, meine
-werten Herrschaften, oder nicht, &ndash; sie fing in der Kutsche
-leise, aber bitterlich zu weinen an.«</p>
-
-<p>Der Zwerg schwieg.</p>
-
-<p>»Nun, Nikola,« suchte der Propst ihn anzuspornen.</p>
-
-<p>»Ja, was nun? Als wir nach Hause gekommen waren,
-sagte sie zu Alexei Nikititsch: ›Mein liebes Söhnchen, du bist
-ein rechter Schafskopf, daß du dich unterstehen konntest, deine
-Mutter zu betrügen und mir noch den Polizisten auf den
-Hals zu schicken.‹ Und damit ließ sie ihre Sachen packen und
-fuhr aufs Land.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_180">[180]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_5">Fünftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch drehte sich auf seinem Stühlchen
-den Gästen zu und sagte: »Ich hatte Sie ja schon darauf
-aufmerksam gemacht, daß es eine ganz einfache und wenig
-interessante Geschichte sein würde. Und nun, Schwesterlein,«
-dabei stand er auf, »müssen wir auch fahren.«</p>
-
-<p>Maria Afanasjewna erhob sich ebenfalls, aber der Diakon
-fing wieder an: Nikolai Afanasjewitsch habe nicht zum richtigen
-Heiligen beten lassen.</p>
-
-<p>»Das ist nicht meine Sache, werter Vater Diakon,« rechtfertigte
-sich Nikolai Afanasjewitsch, während er seine Mütze
-suchte.</p>
-
-<p>»Wieso denn nicht? Natürlich ist es deine Sache! Du
-mußt doch wissen, zu welchem Heiligen du betest!«</p>
-
-<p>»Erlaubt mal, als ich zum erstenmal deshalb in die Kirche
-kam, gab ich dem Priester einen Zettel mit der Aufschrift
-›um Rückkehr einer entflohenen Sklavin‹ und ein Fünfzigkopekenstück,
-darauf hielt der Priester einen Bittgottesdienst
-vor Sankt Johannes dem Krieger ab, und so ging es denn
-auch später.«</p>
-
-<p>»Wenn die Dinge so stehen, taugt eben der Priester nichts.«</p>
-
-<p>»Wieso? Wieso? Wieso? Wieso taugt der Priester nichts?«
-mischte sich plötzlich Vater Zacharia Benefaktow ins Gespräch.</p>
-
-<p>»Weil er die Befugnisse seines Amtes nicht kennt,« erwiderte
-Achilla höchst selbstbewußt. »Wer betet denn um Rückkehr<span class="pagenum"><a id="Seite_181">[181]</a></span>
-eines entflohenen Knechtes zu Sankt Johann dem
-Krieger?«</p>
-
-<p>»Ja, was meinst du? Zu wem denn sonst? Zu wem?
-Zu wem?«</p>
-
-<p>»Zu wem? Ihr habt es wohl vergessen? Neben dem
-Platz des Kirchenältesten hing früher an der Wand ein Blatt.
-Jetzt ist es fortgenommen. Allein ich erinnere mich noch
-ganz genau, welche Heiligen bei den verschiedenen Gelegenheiten
-anzurufen sind.«</p>
-
-<p>»So.«</p>
-
-<p>»Jawohl! und wenn Ihr's wissen wollt, &ndash; zu dem Heiligen
-Theodor Tyron hätte gebetet werden müssen.«</p>
-
-<p>»Du hast unrecht. Es war ganz richtig, daß sie den Johannes
-anriefen.«</p>
-
-<p>»Blamiert Euch nicht, Vater Zacharia.«</p>
-
-<p>»Ich sage dir, es war ganz richtig.«</p>
-
-<p>»Ich aber sage Euch, Ihr blamiert Euch ganz unnützerweise.
-Ich weiß die ganze Tabelle auswendig.«</p>
-
-<p>Er schob den breiten Ärmel seiner Kutte weit auf den Ellenbogen
-hinauf und bog mit der rechten Hand den Daumen
-der Linken ein, als ob er ihn abbrechen wollte.</p>
-
-<p>»Um Heilung von der fallenden Sucht,« begann er, »betet
-man zum heiligen Maroas.«</p>
-
-<p>»Zum heiligen Maroas,« wiederholte Benefaktow zustimmend.</p>
-
-<p>»Um Heilung von der zehrenden Sucht &ndash; zum heiligen
-Märtyrer Artemios,« fuhr Achilla fort und bog in derselben
-Weise den Zeigefinger ein.</p>
-
-<p>»Artemios,« wiederholte Benefaktow.</p>
-
-<p>»Um Erlösung von Unfruchtbarkeit &ndash; zum Wundertäter
-Romanus; wenn der Gatte sein Weib verschmäht &ndash; zu den
-Märtyrern Gurios, Samon und Abebas; wenn man vom<span class="pagenum"><a id="Seite_182">[182]</a></span>
-Teufel geplagt wird &ndash; zum heiligen Nyphon; gegen die
-wollüstige Leidenschaft &ndash; zur heiligen Thomais&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Und zum heiligen Moses Ugrinos,« fügte Benefaktow,
-der bisher nur im Takt mit dem Kopf geschüttelt hatte, leise
-hinzu.</p>
-
-<p>Der Diakon, der schon alle fünf Finger der linken Hand eingebogen
-hatte, sann einen Augenblick nach, indem er den Vater
-Zacharia scharf ansah, dann öffnete er die linke Faust, um
-nun die Finger der Rechten einzubiegen, und meinte:</p>
-
-<p>»Ja, man kann auch zum Moses Ugrinos beten.«</p>
-
-<p>»Bitte weiter.«</p>
-
-<p>»Gegen die Trunksucht &ndash; zum Märtyrer Bonifatius.«</p>
-
-<p>»Und zum Moses Murinos.«</p>
-
-<p>»Wie?«</p>
-
-<p>»Zum Bonifatius und zum Moses Murinos,« wiederholte
-Vater Zacharia.</p>
-
-<p>»Ganz recht,« stimmte der Diakon ihm bei.</p>
-
-<p>»Bitte weiter.«</p>
-
-<p>»Zum Schutz gegen bösen Zauber &ndash; zum heiligen Märtyrer
-Cyprianus.«</p>
-
-<p>»Und zur heiligen Justina.«</p>
-
-<p>»So hört endlich auf mit Eurem Vorsagen, Vater Zacharia!«</p>
-
-<p>»Wenn's aber doch mit russischen Buchstaben deutlich gedruckt
-steht: und der heiligen Justina.«</p>
-
-<p>»Schön, sei's drum! Und der heiligen Justina. Um Wiedergewinnung
-gestohlener Gegenstände und um Rückkehr
-entflohener Knechte (der Diakon betonte jedes einzelne Wort)
-&ndash; zu dem Theodor Tyron, dessen Gedächtnis wir am siebzehnten
-Februar feiern.«</p>
-
-<p>Jedoch kaum hatte Achilla sein letztes Wort gleich einem
-Trompetensignal herausgeschmettert, als auch schon Zacharia<span class="pagenum"><a id="Seite_183">[183]</a></span>
-mit derselben leisen und leidenschaftslosen Stimme in der
-Aufzählung fortfuhr:</p>
-
-<p>»Und zum heiligen Johannes dem Krieger, dessen Gedächtnis
-wir am zehnten Juli feiern.«</p>
-
-<p>Achilla riß die Augen weit auf und schrie:</p>
-
-<p>»Jetzt fällt mir's ein, ja, man kann auch zu Johannes dem
-Krieger beten.«</p>
-
-<p>»Aber weshalb habt Ihr denn eine ganze Stunde gestritten,
-Vater Diakon?« sagte Nikolai Afanasjewitsch, ihm
-zum Abschied sein Händchen entgegenstreckend.</p>
-
-<p>»Daß mir sowas passieren mußte! Ich hatte die Duplikate
-vergessen, deshalb stritt ich,« verteidigte sich der Diakon.</p>
-
-<p>»Das ist genau wie im Sprichwort, werter Herr: ich suche
-meine Mütze und habe sie auf dem Kopfe. Meinen ehrerbietigsten
-Gruß, Vater Diakon.«</p>
-
-<p>»Ich suche meine Mütze! … Ach, du Kleiner!« grinste
-Achilla, kriegte den Zwerg am Rockschoß zu packen und setzte
-ihn auf seine Hand, indem er rief:</p>
-
-<p>»Der ist ja so leicht wie eine Flaumfeder!«</p>
-
-<p>»Laß sein,« befahl Vater Tuberozow.</p>
-
-<p>Der Diakon stellte den Zwerg wieder auf den Boden und
-bemerkte scherzend, in Anbetracht seiner Leichtigkeit sei es unmöglich,
-ihn nach Gewicht zu verkaufen. Doch der Propst,
-den das vorlaute Gebaren des Diakons schon zu ärgern
-begann, wandte ein:</p>
-
-<p>»Weißt du, wen man nach Gewicht schätzt?«</p>
-
-<p>»Nun, wen?«</p>
-
-<p>»Den Wicht.«</p>
-
-<p>»Schönsten Dank!«</p>
-
-<p>»Bitte sehr, recht gern geschehen.«</p>
-
-<p>Der Diakon wurde verlegen, fuhr mit seinem Baumwolltaschentuch
-über den haarigen Filz seines Hutes und brummte:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_184">[184]</a></span></p>
-
-<p>»Ihr könnt auch nie und nirgends ohne Politik auskommen!«</p>
-
-<p>Und schritt mit gekränkter Miene zur Tür hinaus.</p>
-
-<p>Bald begannen sich auch die andern Gäste zu verabschieden
-und gingen ein jeder seines Weges.</p>
-
-<p>Den Zwerg und seine Schwester trug der bronzebeschlagene
-Wagen schnell von dannen, Tuberozow aber nahm seinen
-Weg in Begleitung desselben Darjanow, mit dem wir ihn
-im Häuschen der Hostienbäckerin Prepotenskaja gesehen
-haben, langsam über die Brücke.</p>
-
-<p>Als sie das jenseitige Ufer erreicht hatten, machten sie
-einen Augenblick Halt. Von alter Erinnerung überwältigt
-meinte der Propst:</p>
-
-<p>»Ist es nicht seltsam, daß dieses alte Märchen, welches
-uns der Zwerg erzählt und das ich schon so oft gehört habe,
-daß dieses kindliche Märlein von den Stricknadeln der Alten
-mich nicht nur erfrischt, sondern auch beruhigt hat nach all
-der Aufregung, in welche mich die jüngste Wirklichkeit versetzt
-hatte? Ist das nicht ein deutlicher Beweis dafür, daß
-ich alt geworden bin und in der Vergangenheit zu leben
-beginne? Aber nein, das ist es nicht. Ich bin von klein auf
-so gewesen. Mir fällt eben ein Erlebnis ein: als Student
-kam ich einmal in das Dorf, in dem ich meine Kindheit
-verbrachte und sah, wie man die alte Holzkirche niederriß,
-um an ihrer Stelle ein neues schönes Gotteshaus
-aus Stein zu errichten … Damals brach ich in Tränen
-aus.«</p>
-
-<p>»Warum denn?«</p>
-
-<p>»Es war mir leid um das hölzerne Kirchlein. Einen
-schönen, lichten, neuen Tempel will man in Rußland bauen,
-und die Enkel, die darin beten werden, werden sich freuen
-an der Fülle von Licht und Wärme, &ndash; und dennoch tut es<span class="pagenum"><a id="Seite_185">[185]</a></span>
-weh, wenn die alten Balken ohne Erbarmen auseinandergezerrt
-werden.«</p>
-
-<p>»Ja, lohnt sich's denn wirklich, etwas zu bewahren aus
-jener alten Zeit, die nichts Besseres wußte, als mit Stricknadeln
-zu klappern und sich an Zwergenhochzeiten zu erfreuen?«</p>
-
-<p>»Ja, sehen Sie mal, ärmlich genug ist das ja, &ndash; und
-doch fühlte ich etwas vom russischen Geiste darin. Ich gedachte
-der alten Bojarin und mir wurde so wohl und frei
-dabei, und das scheint mir der schönste Lohn für meine
-Pietät. Lebt in gutem Einvernehmen mit eurem alten
-Märchen, ihr jungen russischen Leute! Solch ein altes Märchen
-ist ein wunderbares Ding! Wehe dem, der in seinem Alter
-keines hat! Euren Ohren klingt das Klappern der alten
-Stricknadeln eintönig, mir aber erzählt es süße Mären! …
-O wie gerne möchte ich in Frieden mit meinem alten Märchen
-sterben!«</p>
-
-<p>»Das wird ja wohl auch so werden.«</p>
-
-<p>»Wie soll man das wissen? Wie soll man wissen, wer es
-sein wird? Aber erlauben Sie, &ndash; was ist denn das?« unterbrach
-der Propst sich plötzlich und sah nach einer Staubwolke,
-die sich auf dem Berge zeigte und einen mit drei Pferden
-bespannten Reisewagen, in dem zwei Männer saßen, begleitete.
-Der eine von ihnen war groß, fleischig, schwarz, mit
-feurigen Augen und einer unverhältnismäßig großen Oberlippe;
-der andere klein, glatt rasiert, mit einem völlig leidenschaftslosen
-Gesicht und hellen, wässerigen Augen.</p>
-
-<p>Der Wagen mit den Fremden fuhr schnell über die Brücke
-und bog auf dem anderen Ufer links ab.</p>
-
-<p>»Was für unangenehme Gesichter,« sagte der Propst und
-wandte sich ab.</p>
-
-<p>»Wißt Ihr auch, wer das war?«</p>
-
-<p>»Gott sei Dank, nein.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_186">[186]</a></span></p>
-
-<p>»Dann kann ich es Euch zu Eurer Betrübnis sagen. Es
-ist der Regierungsbeamte Fürst Bornowolokow, welcher seit
-einiger Zeit hier erwartet wird. Ich habe ihn sofort erkannt,
-obgleich ich ihn lange nicht gesehen habe. Richtig, sie halten
-vor dem Biziukinschen Hause.«</p>
-
-<p>»Sagen Sie, bitte, welcher von beiden ist Bornowolokow?«</p>
-
-<p>»Links, der Kleine, ist Bornowolokow.«</p>
-
-<p>»Und der andere?«</p>
-
-<p>»Wohl sein Sekretär. Auch eine Berühmtheit eigener Art.«</p>
-
-<p>»Ein tüchtiger Jurist?«</p>
-
-<p>»Hm! Davon habe ich eigentlich nichts gehört. Aber
-wegen irgendeiner Studentengeschichte wurde er einmal zu
-Festungshaft verurteilt.«</p>
-
-<p>»Um Gottes willen! Wie nennt sich dieser Mann?«</p>
-
-<p>»Ismail Termosesow!«</p>
-
-<p>»Termosesow?«</p>
-
-<p>»Ja, Termosesow; Ismail Petrowitsch Termosesow.«</p>
-
-<p>»Himmel, was für Leute unser Zar in seine Dienste nimmt!«</p>
-
-<p>»Wie meint Ihr das?«</p>
-
-<p>»Aber, ich bitte! Dies Gesicht, diese Lippen, und auf
-Festung hat er gesessen und ist wieder freigekommen, und
-Termosesow heißt er auch noch.«</p>
-
-<p>»Das ist entsetzlich, nicht wahr?« rief Darjanow laut
-lachend.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_187">[187]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_6">Sechstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Wir müssen nun, unter dem Zwange der Verhältnisse,
-welche den Gang unserer Chronik bedingen, den Stargoroder
-Propst für einige Zeit verlassen, um die Bekanntschaft eines
-ganz anderen Kreises derselben Stadt zu machen. Wir treten
-in das Haus des Akzisebeamten Biziukin, in dem die längst
-erwarteten Petersburger Gäste soeben eingetroffen sind:
-der Fürst Bornowolokow, ein alter Studiengenosse des
-Akziseeinnehmers, welcher irgend etwas revidieren oder einführen
-soll, und sein Sekretär Termosesow, ebenfalls
-ein alter Bekannter und Gesinnungsgenosse Biziukins.
-Es ist vormittags und der Postwagen, welcher die Gäste
-nach Stargorod gebracht hat, macht eben vor dem Hause
-Halt.</p>
-
-<p>Biziukin selbst war nicht zu Hause, und so mußte ihn seine
-Gattin vertreten. Diese interessante Frau, die sich viel mit
-Politik beschäftigte, sah dem Besuche des Gastes nicht ohne
-innere Bewegung entgegen. Sie wollte sich ihm von ihrer
-besten und vorteilhaftesten Seite zeigen, und war vom frühen
-Morgen darauf bedacht, daß ihr Haus den besten Eindruck
-auf die Ankommenden mache. In aller Frühe prüfte sie
-sämtliche Gemächer und fand, daß eigentlich nichts ihrem
-Wunsche entsprach. In der Mitte des reinlichen, freundlich
-möblierten Wohnzimmers blieb sie stehen und dachte
-verzweifelt:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_188">[188]</a></span></p>
-
-<p>»Nein, das ist zum Tollwerden! Hier sieht es ja genau
-so aus, wie bei Porochontzews oder bei Darjanows oder
-beim Postmeister, &ndash; mit einem Wort, wie überall, vielleicht
-etwas besser. Die Uhr auf dem Kamin, diese Armleuchter,
-und da steht das Klavier … Nein, das darf unmöglich so
-bleiben, um dieser Kleinigkeiten willen will ich nicht die Verachtung
-der modernen Männer auf mich laden. Ich weiß,
-wie man moderne Männer der Tat aufnimmt! Ja, aber,
-wo soll ich hin mit all dem Kram? Soll ich alles hinauswerfen?
-Das wäre doch zu schade. Die Sachen werden verderben,
-sie haben Geld gekostet. Und was nützt es, sie hinauszuwerfen,
-wenn ringsherum … Im Schlafzimmer zum
-Beispiel die Spitzengardinen … Na ja, ins Schlafzimmer
-werden die Gäste ja nicht hineinschauen … Ich bringe
-nur meines Mannes Zimmer in Ordnung!«</p>
-
-<p>Und damit rief die junge Beamtenfrau ihre Dienstboten
-und ließ sie sofort alles ihrer Meinung nach Überflüssige
-aus dem Arbeitszimmer ihres Gatten auf den Speicher
-bringen, so daß nichts weiter übrigblieb als ein Tisch, ein
-Stuhl und zwei Sofas.</p>
-
-<p>»Ausgezeichnet,« dachte die Biziukina. »Wenigstens ein
-Zimmer im Hause, das anständig aussieht.«</p>
-
-<p>Sie machte noch zwei große Tintenflecke auf den Schreibtisch
-und stieß den Spucknapf in der Ecke um, so daß der
-Sand sich über den Fußboden streute. Aber o Himmel, als
-sie wieder in den Saal zurückkehrte, bemerkte sie, daß sie
-das Allerärgste fast übersehen hätte: an der Wand hing
-ein Heiligenbild!</p>
-
-<p>»Jermoschka! Jermoschka! Schaff sofort dies Heiligenbild
-hinaus … ich will es in die Kommode legen!«</p>
-
-<p>Das Bild wurde fortgeschafft und die besorgte Hausfrau
-begab sich in ihr Boudoir, öffnete einen großen Nußbaumschrank,<span class="pagenum"><a id="Seite_189">[189]</a></span>
-wählte aus ihrer reichhaltigen Garderobe die allerschlechtesten
-Stücke, rief ihr Dienstmädchen und ließ sich ankleiden.</p>
-
-<p>»Marfa, du liebst die Herrschaften wohl gar nicht?«</p>
-
-<p>»Warum sollte ich sie nicht lieben?«</p>
-
-<p>»Warum solltest du nicht? Nun so, ganz einfach! Wofür
-sollst du sie denn lieben?«</p>
-
-<p>Das Mädchen wußte nicht, was es antworten sollte.</p>
-
-<p>»Was haben sie dir denn Gutes getan?«</p>
-
-<p>»Gutes, nichts, gnädige Frau.«</p>
-
-<p>»Nun, du dumme Person, dann kannst du sie auch nicht
-lieben, und in Zukunft bitt' ich dich, die dummen Redensarten
-›zu Befehl‹ und ›gnädige Frau‹ und so weiter gefälligst
-zu lassen. Sag einfach ›ja‹ und ›nein‹ und ›was‹ und ›warum‹.
-Verstanden?«</p>
-
-<p>»Zu Befehl.«</p>
-
-<p>»Zu Befehl!? Kannst du nicht einfach ›ja‹ sagen?«</p>
-
-<p>»Warum denn, gnädige Frau?«</p>
-
-<p>»Weil ich es so wünsche.«</p>
-
-<p>»Zu Befehl.«</p>
-
-<p>»Schon wieder? Ich hab' dir doch eben erst befohlen:
-einfach ›ja‹ und ›nein‹ zu sagen.«</p>
-
-<p>»Ja. Aber es wird mir sehr schwer, gnädige Frau.«</p>
-
-<p>»Schwer? Um so leichter wird dir's später werden. Alle
-werden einmal so sprechen. Hörst du?«</p>
-
-<p>»Zu Befehl.«</p>
-
-<p>»Zu Befehl! Pack dich, dumme Gans! Ich schmeiß dich
-raus, wenn du mir noch einmal so antwortest. Einfach ›ja‹
-&ndash; und mehr nicht. Bald wird es überhaupt keine Herrschaften
-mehr geben; verstehst du? Überhaupt keine mehr!
-Sie werden bald alle … in Stücke gehackt. Verstanden?«</p>
-
-<p>»Ja,« sagte das Mädchen, um sie irgendwie loszuwerden.</p>
-
-<p>»Jetzt geh und schick mir den Jermoschka her.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_190">[190]</a></span></p>
-
-<p>»Nun ist aber noch etwas unbedingt nötig. Ich muß eine
-Schule hier haben.« Und Madame Biziukina gab ihrem
-Jermoschka zehn kupferne Fünfkopekenstücke und befahl ihm,
-möglichst viele Straßenjungen herbeizuschaffen. Er sollte
-jedem von ihnen sagen, daß er von ihr noch einen zweiten
-Fünfer bekommen würde.</p>
-
-<p>Nach zehn Minuten kehrte Jermoschka in Begleitung einer
-ganzen Horde zerlumpter Gassenbuben zurück.</p>
-
-<p>Die Biziukina gab jedem fünf Kopeken, ließ sie im Kabinett
-ihres Mannes Platz nehmen und sagte zu ihnen:</p>
-
-<p>»Jetzt werde ich euch unterrichten und dafür kriegt jeder
-noch einen Fünfer. Ist's euch recht so?«</p>
-
-<p>Die Jungen rümpften die Nase:</p>
-
-<p>»Na ja, warum nicht?«</p>
-
-<p>»Wir verstehen doch nicht, aus Büchern zu lesen,« sagte
-einer von den Klügeren.</p>
-
-<p>»Ich will euch ein Lied lehren, da braucht ihr keine Bücher.«</p>
-
-<p>»Na, wenn's ein Lied sein soll, ist's uns recht.«</p>
-
-<p>»Jermoschka, setze dich auch dazu.«</p>
-
-<p>Jermoschka setzte sich und hielt verlegen die Hand vor
-den Mund.</p>
-
-<p>»Also jetzt singt ihr alle mit.«</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Aus der Schmiede kommt der junge Schmied.«<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Die Buben sangen nach, so gut sie konnten.</p>
-
-<p>»Heil!« sang Madame Biziukina vor.</p>
-
-<p>»Heil!« wiederholten die Kinder.</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Und drei scharfe Messer trägt er unterm Rock! Heil!«<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>In diesem Ausblick hob Jermoschka den Kopf, sah aus
-dem Fenster und rief:</p>
-
-<p>»Es kommt Besuch, gnädige Frau!«</p>
-
-<p>Die Biziukina ließ das Lineal fallen, mit dem sie den Takt
-geschlagen hatte und stürzte in den Saal.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_191">[191]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_7">Siebentes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Fürst Bornowolokow und sein Sekretär Termosesow
-erschienen. Bei genauer Betrachtung machten sie einen viel
-interessanteren Eindruck, als sie Tuberozow bei ihrer flüchtigen
-Begegnung vorgekommen waren.</p>
-
-<p>Der Revisor selbst sah wie ein eingeschlafener Stichling aus.
-Er war klein, mit gesträubten Haaren, breiten Schultern und
-Augen, über denen ein feuchter, schläfriger Schleier lag. Er
-schien zu nichts fähig und zu nichts brauchbar. Er war eben
-kein Mensch, sondern ein schläfriger Stichling, der sich in
-allen Meeren und Seen herumgetrieben hatte, nun aber eingeschlafen
-und so mit Tang bewachsen war, daß in ihm nichts
-mehr glühte und leuchtete.</p>
-
-<p>Termosesow dagegen erinnerte an einen Kentauren. Er
-war riesengroß, wie es nur ein Mann sein kann, aber der
-Bau seines mächtigen Körpers hatte etwas Weibliches. Die
-Schultern waren sehr schmal, die Hüften übermäßig breit
-und voll wie Pferdeschinken, die Knie fleischig und rund, die
-Arme dürr und sehnig; der Hals lang, aber nicht mit stark
-hervortretendem Adamsapfel, wie bei den meisten hochgewachsenen
-Menschen, sondern mit einer Vertiefung, wie bei
-einem Pferde. Um den Kopf flatterte eine mächtige Mähne
-nach allen Seiten; das Gesicht, mit einer langen, armenischen
-Nase und einer unverhältnismäßig großen Oberlippe, die
-schwer auf der untern lastete, war von sehr dunkler Färbung;<span class="pagenum"><a id="Seite_192">[192]</a></span>
-die Augen waren braun mit tiefschwarzen Pupillen, der
-Blick scharf und klug.</p>
-
-<p>Die Biziukina beobachtete alles durch das Fenster, ohne von
-den Fremden gesehen zu werden, und zermarterte sich das
-Hirn, wer von den beiden wohl der Revisor Bornowolokow
-und wer Termosesow sei. Endlich kam sie zu dem Schlusse,
-der Große müßte unbedingt der Fürst Bornowolokow sein,
-denn er hatte eine Mütze mit einer Kokarde auf dem Kopfe,
-der andere im Reitfrack und dem bunten Mützchen aber war
-sicher Termosesow, der unabhängige Mann, der in einem
-ganz freien Dienstverhältnis zum Fürsten stand. Allein noch
-eine zweite Frage quälte die Hausfrau: wie sollte sie die
-Gäste empfangen? Sollte sie ihnen entgegengehen? Das
-wäre gar zu zeremoniell gewesen. Nichts tun, dasitzen und
-warten, bis sie kommen? … Das wirkte zu gezwungen!
-Ein Buch vornehmen? Ja, das wäre das Richtigste, das
-Natürlichste!</p>
-
-<p>Und sie ergriff das erste beste Buch, blickte aber noch einmal
-darüber hinweg durch das Fenster und bemerkte, daß
-Termosesow, den sie für Bornowolokow hielt, ziemlich
-schmutzige Hände hatte, während ihre wohlgepflegten, müßigen
-Hände rein waren, wie weißer Schaum.</p>
-
-<p>Sofort nahm Madame Biziukina etwas Erde aus einem
-auf dem Fensterbrett stehenden Blumentopf, zerrieb sie
-zwischen ihren Handflächen und setzte sich mit ihrem Buche
-auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters, die Beine übereinanderschlagend.</p>
-
-<p>In diesen Augenblick ließ sich im Hausflur eine fröhliche,
-recht freundliche Baßstimme vernehmen, und in das Vorzimmer
-traten beide Gäste: zuerst Termosesow und hinter
-ihm Fürst Bornowolokow.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_193">[193]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_8">Achtes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Hausfrau saß da und rührte sich nicht. Es fiel ihr
-jetzt erst auf, wie unpassend den Gästen der Blumentopf
-auf dem Fensterbrett erscheinen mußte, und so verwirrt sie
-auch war, sie hatte doch noch Zeit zu überlegen, wie man
-ihn wohl am leichtesten aus dem Fenster hinausbefördern
-könnte. Dieser Gedanke beschäftigte sie so lebhaft, daß sie
-sogar die erste Frage überhörte, mit der sich einer der beiden
-Gäste an sie wandte, wodurch sie tatsächlich den Eindruck
-einer ganz in ihre Lektüre vertieften Person hervorrief.</p>
-
-<p>Termosesow musterte sie über die Schwelle mit einem
-scharfen Blick und wiederholte seine Frage.</p>
-
-<p>»Wer sind Sie? Vielleicht Frau Biziukina selbst?« fragte
-er, ruhig in den Saal eintretend.</p>
-
-<p>»Ich bin Frau Biziukina,« antwortete die Hausfrau, ohne
-aufzustehen.</p>
-
-<p>Termosesow ging auf sie zu:</p>
-
-<p>»Ich bin Termosesow, Ismail Petrowitsch Termosesow,
-ein Schulkamerad Ihres Mannes, mit dem ich später wegen
-einer Dummheit auseinanderkam; und dies ist der Fürst
-Afanasij Fedosejewitsch Bornowolokow, Regierungsbeamter
-und Revisor aus Petersburg. Wir wollen hier allen die Hölle
-heiß machen. Guten Tag!«</p>
-
-<p>Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie ergriff sie, während
-sie mit der andern das Buch auf die Fensterbank legte und<span class="pagenum"><a id="Seite_194">[194]</a></span>
-bei dieser Gelegenheit den Blumentopf umstieß, so daß er
-auf die Straße kollerte.</p>
-
-<p>»Was ist das? Sie haben Ihre Blume zum Fenster
-hinausgeworfen?«</p>
-
-<p>»Das hat nichts zu sagen. Es war keine Blume. Nur
-Gras zum Auflegen auf Schnittwunden. Aber es taugt
-auch schon nichts mehr.«</p>
-
-<p>»Selbstverständlich taugt es nichts. Wer legt heute noch
-Gras auf Schnittwunden! Aber vielleicht gibt es noch solche
-Esel. Wo ist denn Ihr Mann?«</p>
-
-<p>Die Biziukina sah den Revisor an, der ohne ein Wort zu
-sagen auf dem kleinen Sofa Platz genommen hatte, und erwiderte
-Termosesow, ihr Mann sei nicht zu Hause.</p>
-
-<p>»Nicht zu Hause? Na, macht nichts, wir sprechen uns noch.
-Wir waren dicke Freunde, bis uns eine Dummheit auseinanderbrachte.
-Aber ich muß offen bekennen, Sie passen
-nicht zu diesem Mann. Nein, wirklich ganz und gar nicht,
-darüber ist kein Wort zu verlieren. Er ist ein Hohlkopf,
-weiter nichts, und es ist sein Glück, daß Sie ihm zu dieser
-Stelle in der Akzise verhelfen konnten. Sie aber sind ein
-Prachtkerl, der alles ganz famos gedeichselt hat, &ndash; dem
-Mann die Stelle verschafft und &ndash; fein ist's hier bei Ihnen!«
-fügte er hinzu, indem er mit einem schnellen Blick alle vom
-Saale aus sichtbaren Räume der Wohnung musterte. Als
-er in dem allen Schmuckes beraubten Kabinett die Kinderschar
-bemerkte, die sich an der Schwelle drängte, meinte er:</p>
-
-<p>»Ah, so etwas wie eine Schule haben Sie auch hier. Schäbig
-genug ist das Zimmerchen, aber als Schulraum geht's noch
-an. &ndash; Zu was Deubel unterrichten Sie die Lausebande
-eigentlich?« schloß er plötzlich schroff.</p>
-
-<p>Die Biziukina geriet in Verlegenheit, aber Termosesow
-half ihr selbst darüber hinweg. Er ging auf die Jungen zu,<span class="pagenum"><a id="Seite_195">[195]</a></span>
-faßte einen von ihnen unter das Kinn und fragte: »Na?
-Verstehst du Erbsen zu mausen? Lern's, mein Junge, und
-wenn sie dich nach Sibirien expedieren, mag mein Segen
-dich begleiten. Lassen Sie sie laufen, Biziukina! Marsch nach
-Hause, ihr Halunken! Fix ans Erbsenstehlen!«</p>
-
-<p>Die Jungen kamen langsam einer nach dem andern aus
-dem Kabinett und zogen im Gänsemarsch durch den Saal.
-Dann ging es in beschleunigtem Tempo durch das Vorhaus
-und über den Hof.</p>
-
-<p>»Wozu all diese Schulen? Nichts als Zeitvergeudung!«</p>
-
-<p>»Das finde ich auch,« sagte die Hausfrau kleinlaut.</p>
-
-<p>»Versteht sich. Bekommen Sie eine Unterstützung?«</p>
-
-<p>»Nein. Wo sollte die auch herkommen?«</p>
-
-<p>»Warum nicht? Andere bekommen sie doch! &ndash; Und das ist
-wohl Ihr Früchtchen?« fragte er, indem er auf den herausgeputzten
-Jermoschka zeigte, der eben eingetreten war. Ohne
-eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an den Jungen:</p>
-
-<p>»Geh mal, mein liebes Goldsöhnchen, und sag dem Dienstmädchen,
-daß wir uns waschen wollen.«</p>
-
-<p>»Das ist gar nicht mein Sohn,« sagte die Hausfrau verlegen.</p>
-
-<p>Aber Termosesow hörte es nicht. Er glaubte nun einmal,
-den Sohn der Hausfrau vor sich zu haben, und hielt dieser
-eine Predigt, wie und wozu sie ihn erziehen solle.</p>
-
-<p>»Bereiten Sie ihn für den Staatsdienst vor. Daß er nur
-keine literarischen Neigungen kriegt! Sehn Sie mich an. Ich
-dürfte eigentlich gar nicht Staatsbeamter sein, aber durch
-Hintertüren und auf Hintertreppchen hab' ich mich doch rangeschlängelt.
-Jawohl! Und bin doch früher selbst Nihilist
-gewesen und ärgerte mich sogar über Ihren Mann, als er
-Akzisebeamter wurde. Dumm war das! Warum soll unsereins
-nicht Staatsbeamter sein? Als Beamter kann man sich<span class="pagenum"><a id="Seite_196">[196]</a></span>
-beliebt machen, als Beamter hat man Geld, als Beamter
-gewinnt man Einfluß, &ndash; das ist etwas ganz anderes als
-die blöde Schriftstellerei. Dort muß man noch Talent haben,
-hier aber wird es nur störend empfunden. Als Staatsbeamter
-kann ich die Leute sortieren. Was bist du für ein
-Kerl? &ndash; Du kommst hierher. Und du bist so einer? &ndash; Du
-kommst dahin. Du bist keiner von den unsern? So zwing' ich
-dich, ersticke dich, zerbreche dich, &ndash; und der Staat muß mich
-dafür bezahlen. &ndash; Na, was starren Sie mich so an? Es kommt
-Ihnen wohl sonderbar vor, was ich da aus der Praxis
-erzähle?«</p>
-
-<p>Die verblüffte Hausfrau schwieg, der Gast aber fuhr fort:</p>
-
-<p>»Ihr richtet hier Schulen ein, &ndash; na ja, wenn man sich
-an die landesübliche Schablone der roten Hähne halten wollte,
-müßte man das loben, aber Termosesow als praktischer Mensch
-tut das nicht. Termosesow sagt: Zum Teufel mit den Schulen,
-sie sind vom Übel; wenn das Volk zu lesen versteht,
-nimmt es die heiligen Bücher vor. Sie glauben, die Bildung
-gehört zu den zerstörenden Elementen? Keineswegs. Sie
-ist ein aufbauendes Element, wir aber wollen vor allem
-zerstören.«</p>
-
-<p>»Es heißt doch aber, eine Revolution wäre jetzt bei dem
-Bildungsstand unseres Volkes nicht möglich,« wagte die
-Hausfrau einzuwerfen.</p>
-
-<p>»Zu was Teufel brauchen wir sie denn, die Revolution,
-wenn es auch ohne Revolution ganz nach unsern Wünschen
-geht? Aber sehn Sie, da steht Ihr Söhnlein und spitzt die
-Ohren. Warum erlauben Sie ihm zuzuhören, was die Erwachsenen
-reden?«</p>
-
-<p>»Das ist gar nicht mein Sohn,« sagte die Dame.</p>
-
-<p>»Nicht Ihr Sohn? Wer ist es denn?«</p>
-
-<p>»Ein Diener.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_197">[197]</a></span></p>
-
-<p>»Ein Diener! Und so herausstaffiert! Fix, Waschwasser,
-du Teufelsbraten!«</p>
-
-<p>»Ist schon fertig,« antwortete Jermoschka schroff, wie es
-ihm vorgeschrieben war.</p>
-
-<p>»Warum hast du es denn nicht gleich gesagt? Marsch
-hinaus!«</p>
-
-<p>»Das ist nun ein wahrhaft kluger Mensch,« dachte Frau
-Daria Biziukina, als sie wieder allein geblieben war, und
-starrte unverwandt nach der Tür, durch die Termosesow
-hinausgegangen war. »Alle andern sind so streng, &ndash; dies
-kann man nicht und das soll man nicht, hier aber ist alles
-erlaubt, alles möglich, und doch fürchtet dieser Mann sich
-vor nichts. Mit so einem Mann zu leben wäre leicht; ja es
-wäre süß, sich ihm zu unterwerfen.«</p>
-
-<p>Der arglistige Fremde hatte das Herz Darias völlig erobert.
-Alles an dem Gaste begann ihr zu gefallen. Was
-hatte er für eine Stimme! Wie stark war er! Überhaupt,
-&ndash; was war er für ein Mann! … Wie entzückend war er!
-Kein Seladon, wie ihr Gatte; kein Trantopf, wie Prepotenskij,
-&ndash; nein, er war entschlossen, unbeugsam, ein ganzer
-Mann … Der würde nie nachgeben! Er war wie der
-Sturmwind … er kommt … reißt fort … vernichtet&nbsp;…</p>
-
-<p>Wo bist du nun, du armer Akziseeinnehmer? Juckt dir
-nicht schon die Stirn wie einem jungen Böcklein, dem die
-Hörner wachsen wollen?</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_198">[198]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_9">Neuntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Zu den Ohren der verliebten Biziukina war aus dem
-Kabinett längst schon bald ein sanftes Entenplätschern, bald
-ein wildes Spritzen und seltsames Gurgeln gedrungen.
-Plötzlich jedoch war alles still geworden und immer noch zeigte
-sich Termosesow nicht. Hatte er denn wirklich so viel mit
-diesem wortkargen Fürsten zu reden? Oder schlief er? …
-Das konnte der Fall sein, denn die Reise mußte ihn ermüdet
-haben. Oder las er vielleicht? Was konnte er lesen? Und
-was brauchte er zu lesen, wenn er selbst klüger war als alle
-Bücherschreiber? … Aber während sie so grübelte, ging die
-Tür auf und auf der Schwelle erschien Jermoschka mit einer
-Waschschüssel voll Seifenwasser. Er schloß die Tür nicht
-hinter sich, so daß Daria Nikolajewna ins Zimmer hineinsehen
-konnte. Ganz hinten am Fenster entdeckte sie die schmächtige
-Figur des Fürsten. Dicht vor ihm, etwas näher zur Tür,
-erhob sich der fleischige Torso Termosesows. Beide, der
-Revisor und sein Sekretär, waren im Negligé. Bornowolokow
-in Beinkleidern und einem schneeweißen Hemde aus
-holländischer Leinwand, über das sich kreuzweise die zwei
-roten Streifen der seidenen Hosenträger legten. Sein kleines
-blondes Köpfchen war glatt gekämmt, und er bemühte
-sich, es mit Hilfe einer Metallbürste noch mehr zu glätten.
-Termosesows Gestalt zeigte sich in ihrer ganzen plastischen
-Vollendung, der Kragen seines Hemdes war aufgeknöpft<span class="pagenum"><a id="Seite_199">[199]</a></span>
-und die weit über den Ellbogen aufgeschürzten
-Ärmel ließen die muskulösen, dicht behaarten Arme deutlich
-erkennen.</p>
-
-<p>Mit diesen Armen hob Termosesow ein langes russisches
-Handtuch, an dessen Enden rote Hähne gestickt waren, und
-bearbeitete damit seine sich wild sträubenden nassen Haare
-aufs kräftigste.</p>
-
-<p>Aus der Energie, mit welcher der liebenswürdige Ismail
-Petrowitsch dieses Geschäft betrieb, ließ sich ohne weiteres
-erraten, daß die fröhlichen, machtvollen und ungenierten
-Fiorituren, die eben noch durch die geschlossene Tür bis in
-den Saal gedrungen waren, von Termosesow herrührten,
-während Bornowolokow nur wie eine Ente zischen und plätschern
-konnte. Der zurückkehrende Jermoschka, welcher die
-Tür zuschlug, zerstörte das holde Bild.</p>
-
-<p>Aber Termosesow hatte genügend Zeit gehabt, um das
-Feld mit seinem Adlerblick zu überschauen, und er ließ sich
-die Gelegenheit nicht nehmen, die Hausfrau durch sein Erscheinen
-ohne den Fürsten zu erfreuen. Er warf schnell seinen
-weiten Mantel über seine höchst unvollkommene Toilette
-und stieß den armen Jermoschka, ihn am Ohr packend,
-ins Vorzimmer hinaus mit den Worten:</p>
-
-<p>»Daß du deine Nase hier nicht zu zeigen wagst, bis ich dich
-rufen werde!«</p>
-
-<p>Dann schloß er die Tür zum Kabinett, in dem sich der
-Fürst noch befand, und setzte sich in seinem immerhin recht
-seltsamen Kostüm ungeniert neben die Hausfrau.</p>
-
-<p>»Hören Sie mal, Biziukina, so geht das nicht, Herzchen,«
-fing er an und faßte sie ohne weiteres bei der Hand. »Sie
-haben Ihren Lausbuben gar zu sehr verwöhnt. Ich nannte
-ihn ein Ferkel, weil er dem Fürsten die Ärmel beplantscht
-hatte, worauf er mir: ›Meine Mutter ist keine Sau, sondern<span class="pagenum"><a id="Seite_200">[200]</a></span>
-eine Frau!‹ antwortete. Daran sind Sie natürlich schuld,
-Sie haben ihn so emanzipiert, nicht wahr?«</p>
-
-<p>Und mit völlig veränderter Stimme fuhr er zärtlich fort:
-»Sie sind es? Ja? Sagen Sie &ndash; ja?« Dieses Ja wurde
-in einem Ton gesagt, der das Herz der Biziukina erschauern
-machte. Sie begriff, daß die gewünschte Antwort gar nicht
-der gestellten Frage galt, sondern einer unausgesprochenen,
-deren heimlicher Sinn sie durch seinen Realismus geradezu
-erschreckte, und darum schwieg sie. Aber Termosesow ließ
-nicht locker.</p>
-
-<p>»Ja oder nein? Ja oder nein?« drängte er mit wachsender
-Ungeduld.</p>
-
-<p>Zu langem Überlegen war keine Zeit. Die Biziukina sah
-Termosesow ängstlich an und begann schüchtern:</p>
-
-<p>»Ja, ich weiß n…«</p>
-
-<p>Aber Termosesow unterbrach sie hart:</p>
-
-<p>»Ja!« rief er. »Ja! Und damit genug! Weiter brauchst
-du mir nichts zu sagen. Gib mir dein Händchen. Gleich
-auf den ersten Blick habe ich erkannt, daß wir zueinander gehören,
-und eine andere Antwort habe ich von dir nicht erwartet.
-Jetzt keine Zeit verloren! Beweise mir deine Liebe
-durch einen Kuß.«</p>
-
-<p>»Wollen Sie nicht ein Glas Tee?« stammelte Daria
-Nikolajewna, als ob sie diese Worte nicht gehört hätte.</p>
-
-<p>»Komm mir nicht mit solchen Geschichten! Ich bin kein
-Teekessel, sondern ein Dampfkessel.«</p>
-
-<p>»Dann ist Ihnen Wein vielleicht lieber?« flüsterte Daria,
-sich von ihm losmachend.</p>
-
-<p>»Wein?« wiederholte Termosesow. »Du bist süßer als
-Myrrhen und Wein!« Und damit zog er Madame Biziukina
-an sich. »Laß uns verschmelzen in seligem Kusse«, flüsterte
-er und schloß ihr rotes Mündchen mit seinen Pferdelippen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_201">[201]</a></span></p>
-
-<p>»Jetzt aber sag mir mal, warum bist du eine so renitente
-Monarchistin?« fragte er unmittelbar nach dem Kusse, die
-Hand der Dame seinen Augen nähernd.</p>
-
-<p>»Ich bin gar nicht Monarchistin,« beteuerte die Biziukina
-hastig.</p>
-
-<p>»Wem gilt denn deine Hoftrauer? Dem Maximilian
-von Mexiko?«</p>
-
-<p>Und Termosesow wies lachend auf die schwarzen Streifen
-an ihren Fingernägeln, schob sie zur Seite und sagte: »Geh,
-wasch deine Hände!«</p>
-
-<p>Daria Nikolajewna wurde feuerrot und war nahe daran
-zu weinen. Sie hatte sonst immer tadellos saubere Nägel.
-Sie eilte in ihr Schlafzimmer, wusch dort die Hände und
-kam lächelnd zurück.</p>
-
-<p>»So,« sagte sie, »jetzt bin ich wieder Republikanerin, ich
-habe ganz weiße Hände.«</p>
-
-<p>Der Gast aber drohte ihr mit dem Finger und meinte,
-der Republikanismus sei nur ein dummer Spaß.</p>
-
-<p>»Was brauchen wir uns um die Republik zu kümmern?«
-sagte er. »Man kann damit bös reinfallen. Aber ich habe die
-photographischen Bildnisse sämtlicher regierender Herrschaften
-mit. Soll ich sie dir schenken, daß wir sie hier an die Wand
-hängen?«</p>
-
-<p>»Ich habe sie ja selbst.«</p>
-
-<p>»Wo sind sie denn? Wohl versteckt? He? Ich schwör's
-beim Satan selber, daß ich's erraten habe: du erwartetest
-unsern Besuch aus Petersburg, und um mit deinem Liberalismus
-zu prahlen, hast du sie versteckt! Dumm ist das,
-mein Töchterchen, sehr dumm! Bring sie mal fix her, ich
-hänge sie dir wieder auf.«</p>
-
-<p>Die ertappte Einnehmersfrau wurde wieder bis an die
-Ohren rot, holte aber die eingerahmten Bildnisse aus dem<span class="pagenum"><a id="Seite_202">[202]</a></span>
-Tischkasten heraus und brachte auf Termosesows Befehl
-Hammer und Nägel, worauf der Gast sich gleich an die Arbeit
-machte.</p>
-
-<p>»Ich denke, wir bringen sie gleich hier an dieser Wand an,«
-sagte er, mit dem Finger durch die Luft fahrend.</p>
-
-<p>»Wie Sie meinen.«</p>
-
-<p>»Was nennst du mich immer noch Sie, wenn ich dich duze?
-Du sollst du sagen. Und nun gib mal die Bilder her.«</p>
-
-<p>»Die hat alle mein Mann gekauft.«</p>
-
-<p>»Sehr richtig von ihm, daß er die Obrigkeit hochachtet!
-Die Herren Minister hängen wir alle hier unten nebeneinander
-auf. Her damit! Wer ist das? Gortschakow. Der
-Kanzler. Ausgezeichnet! Er hat Rußland gerettet! Sehr
-nett von ihm! Dafür wird er als Erster aufgehängt.«</p>
-
-<p>Als alle Bilder an der Wand befestigt waren, ergriff Termosesow
-die rechte Hand der Biziukina und drückte sie an
-seine Brust.</p>
-
-<p>»Nicht wahr, ich habe ein heißes Herz?« fragte er, ihre
-Verlegenheit ausnutzend.</p>
-
-<p>Aber Daria Nikolajewna riß ihre Hand los und erwiderte
-zornig: »Sie werden aber zu frech.«</p>
-
-<p>»Tä&ndash;tä&ndash;tä&ndash;tä&ndash;! Zu frech! Ganz und gar nicht ›zu‹,
-sondern gerade, wie sich's gehört,« spottete Termosesow und
-legte den andern, freien Arm um ihren Leib.</p>
-
-<p>»Sie sind ein ganz unverschämter Mensch! Sie vergessen,
-daß wir uns kaum kennen,« schrie Daria Nikolajewna entrüstet
-und riß sich von ihm los.</p>
-
-<p>»Ich bin nicht unverschämt und ich vergesse auch nichts!
-Termosesow ist bloß klug, schlicht, natürlich und praktisch &ndash;
-weiter nichts. Termosesow denkt einfach so: wenn du ein
-vernünftiges Frauenzimmer bist, dann weißt du, warum
-du mit einem Mann so intim redest, wie du mit mir geredet<span class="pagenum"><a id="Seite_203">[203]</a></span>
-hast; weißt du aber selber nicht, warum du dich so benimmst,
-dann bist du eine Gans und es hat keinen Sinn, dich schonend
-zu behandeln.«</p>
-
-<p>Madame Biziukina wollte natürlich klug sein.</p>
-
-<p>»Sie sind sehr schlau,« sagte sie, das Gesicht abwendend.</p>
-
-<p>»Schlau! Was braucht's hier Schlauheit? Ja, wenn du
-mich liebst oder ich dir gefalle&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich Sie liebe?«</p>
-
-<p>»Laß doch das Flunkern!«</p>
-
-<p>»Nein, ich rede die Wahrheit. Ich liebe Sie gar nicht und
-Sie gefallen mir nicht im geringsten.«</p>
-
-<p>»Quatsch keinen Blödsinn! Du liebst mich nicht? Nein,
-laß dir mal ganz was anderes sagen: ich fühle dich und verstehe
-dich und will dir offenbaren, wer ich bin, aber nur,
-wenn wir ganz allein und ungestört sind.«</p>
-
-<p>Daria Nikolajewna schwieg.</p>
-
-<p>»Verstehst du, wie ich es meine? Damit wir einander
-ganz kennen lernen, müssen wir mal zusammenkommen …
-Ein Rendezvous &ndash; verstehst du &ndash; natürlich zu politischen
-Zwecken.«</p>
-
-<p>Daria Nikolajewna schwieg wieder. Termosesow seufzte,
-ließ ihre Hand leise los und sagte:</p>
-
-<p>»O ihr Weiber im heiligen Rußland! Und ihr wollt es
-noch den Polinnen gleichtun! Nein, meine Lieben, mit
-denen nehmt ihr es noch lange nicht auf! Gebt den Ismail
-Termosesow einer Polin, sie würde nicht von ihm lassen
-und in Gemeinschaft mit ihm den Ararat auf den Kopf
-stellen!«</p>
-
-<p>»Die Polinnen sind ganz was anderes,« sagte Daria Nikolajewna.</p>
-
-<p>»Warum?«</p>
-
-<p>»Sie lieben ihr Vaterland und wir hassen unseres.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_204">[204]</a></span></p>
-
-<p>»Was ist denn dabei? Die Feinde der Polinnen sind also
-alle Feinde der Unabhängigkeit Polens und eure Feinde sind
-alle russischen Patrioten.«</p>
-
-<p>»Das ist wahr.«</p>
-
-<p>»Nun, wer ist also hier dein schlimmster Feind? Nenn ihn
-mir und du sollst sehn, wie er die ganze Schwere der Hand
-Termosesows spüren wird!«</p>
-
-<p>»Ich habe viele Feinde.«</p>
-
-<p>»Nenn mir die schlimmsten! Die allerschlimmsten!«</p>
-
-<p>»Die schlimmsten sind zwei.«</p>
-
-<p>»Die Namen dieser Unseligen! Die Namen!«</p>
-
-<p>»Der eine ist … der hiesige Diakon Achilla.«</p>
-
-<p>»Es sterbe der Diakon Achilla!«</p>
-
-<p>»Der andere ist der Propst Tuberozow.«</p>
-
-<p>»Wehe dem Propst Tuberozow!«</p>
-
-<p>»Hinter ihm steht die ganze Stadt, das ganze Volk.«</p>
-
-<p>»Nun, und was tut das? Termosesow kennt die Obrigkeit
-und fürchtet daher keine Stadt und kein Volk.«</p>
-
-<p>»Die Obrigkeit ist nicht sehr gut auf ihn zu sprechen.«</p>
-
-<p>»Nicht gut zu sprechen? Um so leichter kommen wir ihm
-an den Kragen. Jetzt aber merke dir nur folgendes: Gewinn
-mich lieb und werde mein, Herodias!«</p>
-
-<p>Madame Biziukina küßte ihn ohne Bangen.</p>
-
-<p>»Das war ehrlich!« rief Termosesow, und nachdem er sie
-ausgefragt hatte, was sie von ihren Feinden Tuberozow und
-Achilla zu leiden gehabt, drückte er ihr lächelnd die Hand
-und ging in das Kabinett zurück, wo sein Gefährte die ganze
-Zeit über geblieben war.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_205">[205]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_10">Zehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der durchlauchtige Gefährte Termosesows lag in einem
-weißen Jackett auf dem für ihn aufgeschlagenen Bette, hatte
-die Füße mit einem leichten Plaid zugedeckt und schien mit
-geschlossenen Augen vor sich hin zu träumen.</p>
-
-<p>Termosesow wollte sich überzeugen, ob sein Vorgesetzter
-schlafe oder sich bloß schlafend stelle, darum trat er leise an
-das Bett, beugte sich über das Gesicht des Fürsten und nannte
-ihn beim Namen.</p>
-
-<p>»Schlafen Sie?« fragte er.</p>
-
-<p>»Ja,« antwortete Bornowolokow.</p>
-
-<p>»Was soll das heißen? Wenn Sie mir antworten, können
-Sie nicht schlafen.«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Das ist also ein Blödsinn.«</p>
-
-<p>Termosesow begab sich zu dem zweiten Sofa, warf seinen
-Mantel ab und streckte sich ebenfalls aus.</p>
-
-<p>»Während Sie sich hier rekelten, habe ich schon sehr viel
-geleistet,« sagte er, sich zurechtlegend.</p>
-
-<p>Bornowolokow antwortete wieder nichts als »Ja«, es war
-aber ein ganz besonderes Ja, sozusagen ein neugieriges Ja,
-das eher wie eine Frage klang.</p>
-
-<p>»Jawohl, ja! Ich kann sagen, daß ich einige für uns sehr
-bedeutsame Entdeckungen gemacht habe.«</p>
-
-<p>»Mit dieser Dame?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_206">[206]</a></span></p>
-
-<p>»Die Dame? Die ist eine Sache für sich. Erinnern Sie
-sich aber noch, was ich Ihnen sagte, als ich Sie in Moskau
-auf der Sadowaja fing?«</p>
-
-<p>»Ach ja!«</p>
-
-<p>»Ich sagte: ›Eure Durchlaucht, gnädigster Fürst! So geht
-man mit alten Kameraden nicht um, &ndash; daß man sie nämlich
-fallen läßt. Nur Lumpen handeln so.‹ Habe ich Ihnen
-das gesagt oder nicht?«</p>
-
-<p>»Ja, Sie haben das gesagt.«</p>
-
-<p>»Aha, Sie erinnern sich noch! Nun, dann müssen Sie sich
-auch noch erinnern, wie ich Ihnen meine Gedanken weiter
-entwickelte und bewies, daß Sie als unser heutiger Prinz
-Egalité nicht das Recht haben, auf Ihre Herkunft und
-Ihre bevorzugte amtliche Stellung zu pochen und über
-uns alte Montagnards, Ihre einstigen Freunde, die Nase
-zu rümpfen. Ich habe Ihnen das alles haarklein auseinandergesetzt.«</p>
-
-<p>»Ja, ja.«</p>
-
-<p>»Schön! Sie verstanden, daß mit mir nicht gut Kirschen
-essen ist, und zeigten sich sehr nachgiebig. Dafür lob' ich Sie.
-Sie begriffen, daß Sie mich nicht so am Wege liegen lassen
-durften, denn Hunger ist ein böser Berater, und einem Hungrigen
-fällt alles mögliche ein. Termosesow hat zudem noch
-ein vorzügliches Gedächtnis und einen scharfen Riecher. Als
-Sie noch ein feuerroter Umstürzler waren, wußte er schon,
-daß Sie bestimmt mal Kehrt machen würden.«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Sie beschlossen, mich als Ihren Sekretär mitzunehmen …
-Das heißt, um der Wahrheit die Ehre zu geben und
-Sie nicht durch Schmeichelei zu kränken, Sie entschlossen
-sich nicht selbst dazu, sondern ich zwang Sie, mich mitzunehmen.
-Ich machte Ihnen Angst, ich könnte Ihre Korrespondenz<span class="pagenum"><a id="Seite_207">[207]</a></span>
-mit gewissen Freunden an der Weichsel bekannt
-geben.«</p>
-
-<p>»Ach!«</p>
-
-<p>»Tut nichts, mein Fürst, seufzen Sie nicht. Was ich Ihnen
-damals in Moskau auf der Sadowaja sagte, als ich Sie am
-Rockknopf festhielt und Sie vor mir davonlaufen wollten,
-das sag' ich Ihnen auch heute wieder: seufzen Sie nicht und
-jammern Sie nicht, daß Termosesow über Sie gekommen ist.
-Ismail Termosesow wird Ihnen noch einen großen Dienst
-leisten. Sie und Ihre gegenwärtige Partei, in der keine
-solchen Halunken zu finden sind wie Termosesow, sondern
-viel feinere Kunden, gründen Zeitungen und suchen auf diese
-oder jene Art Fühlung mit dem Volk zu gewinnen.«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Das wird Ihnen aber nie gelingen.«</p>
-
-<p>»Warum nicht?«</p>
-
-<p>»Weil ihr ungeschickt seid. Die Patrioten erkennen euch
-sofort an den Klauen, packen euch am Schopf und schmeißen
-euch auf die Gasse hinaus.«</p>
-
-<p>»Hm!«</p>
-
-<p>»Jawohl! Aber laßt ihr die Zeitungen schwimmen und
-haltet euch an Termosesow, so deichselt er euch die ganze
-Geschichte glänzend. Seien Sie mein Märchenprinz Iwan,
-so will ich Ihr grauer Wolf sein.«</p>
-
-<p>»Ein Wolf sind Sie schon.«</p>
-
-<p>»Das ist es eben. So ein grauer Wolf schafft Ihnen die
-goldmähnigen Rosse und den Feuervogel und die Prinzessin
-und setzt Sie zu guter Letzt auf den Königsthron.«</p>
-
-<p>Und damit sprang der graue Wolf von seiner Lagerstätte
-auf, lief an das Bett seines Prinzen Iwan und sagte leise:</p>
-
-<p>»Rücken Sie mal ein bißchen zur Wand, ich will Ihnen
-was ins Ohr flüstern.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_208">[208]</a></span></p>
-
-<p>Bornowolokow gehorchte, und Termosesow setzte sich auf
-den Bettrand, legte seinen Arm um den Fürsten und fing
-mit leiser Stimme an:</p>
-
-<p>»Versetzen Sie mal der Kirche eins. Da steckt das Gift!
-Jagt ihren Bonzen mal einen heilsamen Schrecken ein.«</p>
-
-<p>»Ich verstehe nichts.«</p>
-
-<p>»Das Christentum macht die Menschen doch gleich, nicht
-wahr? Es hat doch Staatsmänner genug gegeben, die in
-der Übersetzung der Bibel in die Volkssprache eine Gefahr
-sahen. Nein, das Christentum … man kann es sehr leicht …
-wissen Sie, in gefährlichem Sinne auslegen. Und solch ein
-Ausleger kann jeder beliebige Pope sein.«</p>
-
-<p>»Das klingt ganz plausibel.«</p>
-
-<p>»Na also. Danken Sie Ihrem Schicksal, daß es Ihnen
-Termosesow gesandt hat! Ich stelle Ihnen einen Bericht zusammen,
-daß sogar Ihre Feinde Ihnen Gerechtigkeit widerfahren
-lassen und Sie für ein administratives Genie erklären.«</p>
-
-<p>Termosesow dämpfte die Stimme noch mehr und fuhr fort:</p>
-
-<p>»Erinnern Sie sich noch, wie wir schon hier in der Gouvernementsstadt
-auf dem Heimweg aus dem Klub mit dem
-Kanzleivorsteher sprachen, und wie er einen freisinnigen
-Popen erwähnte, welcher sogar frech gegen Seine Exzellenz
-geworden sei?«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Daran haben Sie natürlich nicht gedacht, daß dieser Pope
-Tuberozow heißt und daß er hier, in dieser Stadt amtiert,
-wo Sie sich auf dem Lotterbette rekeln und nichts über ihn
-zu melden imstande sein werden.«</p>
-
-<p>Bornowolokow fuhr in die Höhe und fragte, aufrecht auf
-dem Bette sitzend:</p>
-
-<p>»Wie können Sie wissen, was der Kanzleivorsteher mir
-gesagt hat?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_209">[209]</a></span></p>
-
-<p>»Sehr einfach. Ich ging damals leise hinter Ihnen. Es
-ist gut, wenn man Sie immer im Auge behält. Aber das
-ist jetzt Nebensache. Wir müssen unsere Taktik zuerst an diesem
-Tuberozow erproben und seine Gemeingefährlichkeit, wie
-überhaupt die Gemeingefährlichkeit derartiger unabhängiger
-Charaktere unter den Geistlichen erweisen. So kommen wir
-zu dem logischen Ergebnis, daß die Religion überhaupt nur
-als ein Zweig der Verwaltung geduldet werden kann. Sobald
-aber der Glaube als wirklicher Glaube auftritt, ist er
-gefährlich und muß eingeschränkt, muß unter Kontrolle gestellt
-werden. Diesen Gedanken werden Sie als Erster verkünden,
-und man wird ihn stets in Verbindung mit Ihrem
-Namen wiederholen, wie man die Gedanken eines Macchiavelli
-und Metternich wiederholt. Sind Sie zufrieden mit
-mir, mein Herr und Gebieter?«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Und geben mir Vollmacht zu handeln?«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Wie soll ich dieses Ja verstehen? Heißt das, daß Sie es
-ebenfalls wollen?«</p>
-
-<p>»Ja, ich will es.«</p>
-
-<p>»Also! Manchmal heißt Ihr Ja nämlich zugleich Ja
-und Nein.«</p>
-
-<p>Termosesow erhob sich vom Bette seines Gebieters und
-sagte:</p>
-
-<p>»Wir armen Sklaven können nicht lange untätig sein.
-Uns hat keine gütige Fee die Mittel in die Hand gegeben,
-vom Nihilisten im Handumdrehen zum Satrapen zu
-werden. Ich sorge für Sie, aber auch für mich. Ich mag
-nicht mehr hungern. Wo immer ich mich auch zeige, immer
-heißt's ›ein Roter‹ &ndash; und niemand will mich nehmen.«</p>
-
-<p>»Waschen Sie sich weiß.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_210">[210]</a></span></p>
-
-<p>»Wo soll ich die Seife hernehmen?«</p>
-
-<p>»Warum haben Sie sich nicht in Petersburg als Spion
-gemeldet?«</p>
-
-<p>»Ich hab's versucht,« antwortete Termosesow ungeniert,
-»aber wir leben in einem realistischen Zeitalter: alle einträglichen
-Stellen waren schon besetzt. Man muß sich erst irgendwie
-bewährt haben, wurde mir gesagt.«</p>
-
-<p>»So bewähren Sie sich doch.«</p>
-
-<p>»Geben Sie mir Gelegenheit, zu zeigen, was ich kann.
-Sonst fang' ich, bei Gott, mit Ihnen an.«</p>
-
-<p>»Vieh!« zischte Bornowolokow.</p>
-
-<p>»M&ndash;m&ndash;m&ndash;mu&ndash;u&ndash;uh!« brummte Termosesow ganz
-laut.</p>
-
-<p>Bornowolokow sprang auf, faßte sich entsetzt an den Kopf
-und rief:</p>
-
-<p>»Was soll das noch?«</p>
-
-<p>»Was? Das schwarze Vieh brüllt, weil es fressen will,
-und es bittet das weiße, es etwas höflicher zu behandeln,«
-sagte Termosesow ruhig.</p>
-
-<p>Bornowolokow knirschte vor Wut mit den Zähnen und
-drehte sich schweigend zur Wand.</p>
-
-<p>»Aha! So ist's schon besser! Zähme deinen Zorn, edler
-Fürst, und bilde dir nicht so viel darauf ein, daß du weiß
-bist, sonst mal' ich dich so schön an, daß du grau-gelb-grün
-schimmern wirst und im Schatten blau mit schwarzen Pünktchen.
-Vergiß nicht, daß ich dir als Zuchtrute mitgegeben bin;
-ich bin der Dorn in den Blättern deines Kranzes. Trage
-mich mit Ehrfurcht.«</p>
-
-<p>Der gemarterte Bornowolokow unterdrückte einen Seufzer
-und stellte sich schlafend. Der triumphierende Sieger aber
-schlief wirklich ein.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_211">[211]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_11">Elftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Daria Nikolajewna war mit ihrer gesamten Dienerschaft
-eifrig bemüht, ihren Appartements das frühere Aussehen
-wiederzugeben. An den Wänden reihte sich bald wieder
-Bild an Bild, vor den Kamin stellte sie einen kostbaren
-Schirm, auf den Kamin selbst eine schwarze Marmoruhr mit
-einem Perpendikel in Gestalt eines Sternes, über die Tische
-breiteten sich neue kostbare Decken; Lampen, Porzellan, Bronzen,
-Statuetten und allerlei Kleinkram bedeckten jeden freien
-Platz im Salon und Schlafzimmer, so daß die Wohnung
-bald an das Logement einer reichen Halbweltdame erinnerte,
-die sich von ihren Verehrern die unnützesten Dinge ohne Sinn
-und Verstand hatte schenken lassen.</p>
-
-<p>Noch als die Arbeit im besten Gange war, erschien unerwartet
-der Lehrer Prepotenskij und war völlig verblüfft.
-Natürlich konnte er diesen »Schick« nicht billigen. Als aber
-Daria Nikolajewna, die ihn gar nicht beachtete, die Unverschämtheit
-hatte, den Dienstboten zu befehlen, in Gegenwart
-des Lehrers die Überzüge von den Möbeln abzunehmen, da
-wurde es ihm zu viel, und er fragte:</p>
-
-<p>»Und Sie schämen sich nicht?«</p>
-
-<p>»Ganz und gar nicht.«</p>
-
-<p>»Das ist einfach unverschämt!« rief Prepotenskij, setzte sich
-in eine Ecke und nahm ein neues Buch vor.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_212">[212]</a></span></p>
-
-<p>In diesem Augenblick hörte man Termosesow im Nebenzimmer
-husten. Kurz entschlossen meinte die Biziukina:</p>
-
-<p>»Gehn Sie raus!«</p>
-
-<p>Das kam so unerwartet, daß sogar Prepotenskij den harten
-Sinn dieser Worte nicht begriff und die Dame ihren Befehl
-wiederholen mußte.</p>
-
-<p>»Raus?« fragte der verblüffte Lehrer noch einmal.</p>
-
-<p>»Ja. Ich wünsche Sie nicht mehr in meinem Hause zu sehn.«</p>
-
-<p>»Meinen Sie das im Ernst?«</p>
-
-<p>»Vollkommen im Ernst.«</p>
-
-<p>Im Zimmer der Gäste wurde es wieder laut.</p>
-
-<p>»Gehn Sie bitte hinaus, Prepotenskij,« rief die Biziukina
-ungeduldig. »Hören Sie? Hinaus!«</p>
-
-<p>»Aber ich bitte Sie, ich störe doch gar nicht.«</p>
-
-<p>»Doch, Sie stören!«</p>
-
-<p>»Ich kann mich ja bessern.«</p>
-
-<p>»Sie sind unverbesserlich,« widersprach die Hausfrau ungeduldig
-und suchte den Gast von seinem Platze zu vertreiben.</p>
-
-<p>Allein auch Prepotenskij zeigte sich als Mann von Charakter
-und verlangte ruhig, aber fest eine Erklärung, warum
-sie ihn für unverbesserlich halte.</p>
-
-<p>»Weil Sie ein kompletter Esel sind!« schrie endlich die
-Biziukina ganz außer sich.</p>
-
-<p>»Ah, das ist etwas anderes,« sagte Prepotenskij aufstehend.
-»In diesem Falle bitte ich nur um Rückgabe meiner Knochen.«</p>
-
-<p>»Fragen Sie Jermoschka danach. Ich hab' ihm befohlen,
-sie hinauszuwerfen.«</p>
-
-<p>»Hinauszuwerfen!« schrie der Lehrer und stürzte in die
-Küche. Als er nach einer halben Stunde zurückkam, war
-Daria Nikolajewna bereits in einer so blendenden Toilette,
-daß der Lehrer, als er sie erblickte, sich am Ofen festhalten
-mußte, um nicht umzufallen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_213">[213]</a></span></p>
-
-<p>»Ah, Sie sind noch nicht fort?« fragte sie streng.</p>
-
-<p>»Nein, ich bin nicht gegangen und kann nicht gehn …
-denn Ihr Jermoschka&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Nun?«</p>
-
-<p>»Er hat die Knochen an einen Ort geworfen, daß für mich
-keine Hoffnung mehr&nbsp;…«</p>
-
-<p>»O, ich sehe, Sie wollen hier noch lange predigen!« rief die
-Biziukina in wildem Zorn, packte den Lehrer bei den Schultern
-und stieß ihn ins Vorzimmer. In demselben Augenblick ging
-die Tür des Kabinetts auf und Termosesow erschien auf
-der Schwelle.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_214">[214]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap2_12">Zwölftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Bah! Bah! Bah! Was bedeutet denn das?« fragte er
-die Biziukina und rieb sich die verschlafenen Augen.</p>
-
-<p>»Ach, gar nichts, das ist … ein dummer Mensch, der
-früher bei uns verkehrte,« antwortete sie und ließ den Lehrer
-los.</p>
-
-<p>»Weshalb soll er denn jetzt hinausgeworfen werden? Was
-hat er denn getan?«</p>
-
-<p>»Nichts, gar nichts,« sagte Prepotenskij.</p>
-
-<p>Termosesow sah ihn an und fragte:</p>
-
-<p>»Wer sind Sie denn?«</p>
-
-<p>»Der Lehrer Prepotenskij.«</p>
-
-<p>»Wodurch haben Sie die Dame verletzt?«</p>
-
-<p>»Durch nichts, durch gar nichts.«</p>
-
-<p>»So kommen Sie her, ich will Sie versöhnen.«</p>
-
-<p>Prepotenskij kam sofort zurück.</p>
-
-<p>»Weshalb nennen Sie ihn eigentlich dumm?« fragte Termosesow
-die Hausfrau und hielt dabei den Lehrer an beiden
-Händen fest. »Ich kann es nicht finden.«</p>
-
-<p>»Ja, versteht sich, Sie können mir glauben, ich bin gar
-nicht dumm,« sagte Warnawa lächelnd.</p>
-
-<p>»Ganz richtig, und das Verhalten unserer Frau Wirtin
-Ihnen gegenüber kann ich nicht billigen. Aber zum Zeichen
-der Versöhnung soll sie uns Tee geben. Ich trinke gern ein
-Glas Tee, wenn ich geschlafen habe.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_215">[215]</a></span></p>
-
-<p>Daria Nikolajewna ging hinaus, um den Tee zu bestellen.</p>
-
-<p>»Na, und Sie, Herr Lehrer, nehmen Sie Platz und plaudern
-wir ein bißchen. Ich sehe, Sie sind ein guter Kerl, mit
-dem sich leben läßt,« begann Termosesow, als er mit Warnawa
-allein war, der ihn in fünf Minuten in sein ganzes
-trauriges Schicksal daheim und draußen eingeweiht hatte.
-Nichts wurde vergessen, weder die Mutter, noch die Totengebeine,
-noch Achilla, noch Tuberozow, bei dessen Namen
-Termosesow seine Aufmerksamkeit verdoppelte. Endlich erzählte
-der Lehrer auch noch von der Vormittagsschlacht des
-Diakons mit dem Kommissar Danilka.</p>
-
-<p>Bei diesem Bericht räusperte sich Termosesow, klopfte
-Prepotenskij auf das Knie und sagte leise:</p>
-
-<p>»Also, Herr Professor, ich beauftrage Sie hiermit, mir
-morgen früh diesen Kleinbürger unbedingt herbeizuschaffen.«</p>
-
-<p>»Den Danilka?«</p>
-
-<p>»Ja, den der Diakon beleidigt hat.«</p>
-
-<p>»Das ist ja eine Kleinigkeit.«</p>
-
-<p>»Also her mit ihm!«</p>
-
-<p>»Morgen in aller Frühe ist er hier.«</p>
-
-<p>»Recht so. Sie sind ein Prachtkerl, Prepotenskij!« lobte
-ihn Termosesow, und da in diesem Augenblick die Hausfrau
-wieder eintrat, wandte er sich an sie: »Hören Sie, er gefällt
-mir ausnehmend, und wenn er mich mit dem Popen Tuberozow
-bekannt macht, so nenn' ich ihn einen ganz klugen
-Kopf.«</p>
-
-<p>»Ich kann ihn nicht ausstehn und rate Ihnen nicht, seine
-Bekanntschaft zu machen,« stammelte Warnawa, »wenn Sie
-es aber für nötig halten&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Es ist sehr nötig, lieber Freund.«</p>
-
-<p>»Dann kommen Sie heute mit zum Abendessen beim
-Polizeichef, dort lernen Sie unsere ganze Gesellschaft kennen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_216">[216]</a></span></p>
-
-<p>»Schön. Ich geh überall hin. Aber ich muß doch eingeladen
-sein.«</p>
-
-<p>»Ach, das ist ganz leicht zu machen,« fiel ihm der Lehrer
-ins Wort. »Ich werde sofort zum Polizeichef gehen und ihm
-im Namen von Daria Nikolajewna mitteilen, sie bäte um
-Erlaubnis, abends ihren Petersburger Gast mitzubringen.«</p>
-
-<p>»Prepotenskij, komm in meine Arme!« rief Termosesow,
-und als der Lehrer aufstand und auf ihn zuging, küßte er
-ihn. Dann drehte er ihn linksherum und sagte: »Geh und
-handle!«</p>
-
-<p>Stolz und seines Ruhmes nun völlig sicher, nahm Warnawa
-seine Mütze und ging. Nach einer Stunde, die Termosesow
-dazu benutzt hatte, der Biziukina klarzumachen, daß
-man keinen Dummkopf merken lassen dürfe, für wie dumm
-man ihn halte, kam der Lehrer mit der Botschaft zurück,
-Porochontzews wären sehr erfreut, die Herrschaften heute
-abend bei sich zu sehen.</p>
-
-<p>»Und was den Kleinbürger Danilka betrifft, den Sie
-kennen lernen wollten,« fügte er endlich hinzu, »so habe ich
-ihn bereits ausfindig gemacht. Er steht draußen vor dem
-Tor.«</p>
-
-<p>Termosesow belobte Warnawa nochmals für seine Findigkeit,
-stand auf und bat den Lehrer, ihn an irgendeinen stillen
-Ort zu führen, wo er ungestört mit Danilka reden könne.</p>
-
-<p>Prepotenskij führte Ismail Petrowitsch in die leere Kanzlei
-des Akziseeinnehmers und stellte ihm dort den Kommissar vor.</p>
-
-<p>»Guten Tag, Bürger,« begrüßte ihn Termosesow. »Wie
-hat Sie der hiesige Diakon neulich morgens beleidigt?«</p>
-
-<p>»Er hat mich gar nicht beleidigt.«</p>
-
-<p>»Gar nicht? Sagen Sie mir alles frei und offen, wie
-dem Popen in der Beichte, denn ich bin ein Freund des
-Volkes, kein Feind. Der Diakon Achilla hat Sie gekränkt?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_217">[217]</a></span></p>
-
-<p>»Nein, er hat mich nicht gekränkt. Wir haben das schon
-unter uns erledigt.«</p>
-
-<p>»Wie kann man das erledigen? Er hat Sie doch am Ohr
-durch die Stadt gezerrt!«</p>
-
-<p>»Was ist denn dabei? Das sind ja nur Dummheiten.«</p>
-
-<p>»Wieso Dummheiten? Eine Beleidigung ist es. Bedenken
-Sie, Bürger, er hat Sie am Ohr gerissen!«</p>
-
-<p>»Es war aber doch nur Scherz. Darin finden wir keine
-Beleidigung.«</p>
-
-<p>»Wie, Bürger? Ist es möglich, so etwas nicht als Beleidigung
-anzusehen? Er soll es doch vor allem Volke getan
-haben!«</p>
-
-<p>»Ja freilich.«</p>
-
-<p>»Da müssen Sie doch eine Klage einreichen.«</p>
-
-<p>»Wem denn?«</p>
-
-<p>»Nun, dem Fürsten, der mit mir gekommen ist.«</p>
-
-<p>»Schon recht.«</p>
-
-<p>»Also wollen Sie klagen oder nicht?«</p>
-
-<p>»Worauf soll ich denn klagen?«</p>
-
-<p>»Er kann zu hundert Rubel Strafe verurteilt werden.«</p>
-
-<p>»Das stimmt.«</p>
-
-<p>»Sie sind also einverstanden. So ist's recht, Prepotenskij!
-Setz dich und schreib, was ich dir diktieren werde.«</p>
-
-<p>Und Termosesow diktierte eine Beschwerde an Bornowolokow,
-kurz, aber gehaltvoll; auch der Propst war darin
-nicht vergessen: er hätte der Lynchjustiz des Diakons Vorschub
-geleistet und dem Kläger sogar gesagt, daß die ihm zuerteilte
-Lektion wohlverdient gewesen.</p>
-
-<p>»Nun unterzeichne, Bürger!« Und Termosesow stopfte
-Danilka die Feder gewaltsam in die Hand, aber der »Bürger«
-erklärte plötzlich, er wolle nicht unterschreiben.</p>
-
-<p>»Was? Sie wollen nicht?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_218">[218]</a></span></p>
-
-<p>»Nein, ich bin damit nicht einverstanden.«</p>
-
-<p>»Was soll das heißen? Teufel noch einmal! Erst schweigst
-du, und nachdem man dir die Beschwerde gratis aufgesetzt
-hat, willst du nicht unterschreiben!«</p>
-
-<p>»Nein, ich will nicht.«</p>
-
-<p>»Man soll dir wohl noch einen Rubel geben, damit du
-unterschreibst? Das ist zu viel verlangt, mein Lieber. Sofort
-unterschreibst du!«</p>
-
-<p>Termosesow packte den Widerspenstigen wütend beim
-Kragen und zerrte ihn zum Tisch.</p>
-
-<p>»Ich … wie es Eurer Gnaden gefällt …, aber ich unterschreibe
-nicht,« stotterte der Kleinbürger und ließ die Feder
-absichtlich fallen.</p>
-
-<p>»Ich will dich lehren! Wie's Eurer Gnaden gefällt! Und
-wenn es mir nun gefällt, deiner Gnaden ein Dutzend mal
-in die Fresse zu hauen?«</p>
-
-<p>Der Bürger fuhr entsetzt zurück und stammelte:</p>
-
-<p>»Euer Hochwohlgeboren, erbarmen Sie sich, zwingen Sie
-mich nicht! Meine Klage wird doch zu nichts führen!«</p>
-
-<p>»Warum nicht?«</p>
-
-<p>»Ich hab' schon einmal klagen wollen, als der fürstliche
-Verwalter Glitsch mich mit Nesseln auspeitschen ließ, weil
-ich auf die Wette des Polizeichefs hin sein Pferd stehlen
-wollte. Damals rieten alle mir ab. Klage nicht, Danilka,
-sagten sie, denn dann kommt es zu einer großen Untersuchung,
-und dann sagen wir alle, daß du längst schon in
-Sibirien sein müßtest. Ja, und ich kannte mich selber zu
-gut, um zu wissen, daß ich kein Recht mehr habe, meine Ehre
-zu verteidigen.«</p>
-
-<p>»Wie du über deine Ehre denkst, das kommt hier gar nicht
-in Betracht.«</p>
-
-<p>»Und die hiesigen Herren Beamten wissen auch&nbsp;…«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_219">[219]</a></span></p>
-
-<p>»Deine hiesigen Herren Beamten mögen wissen, was sie
-wollen, wir sind aber keine hiesigen, wir sind aus Petersburg.
-Verstehst du das? Aus der Residenz, aus Petersburg! Und
-ich befehle dir: sofort unterschreibst du, du gottverdammtes
-Luder, ohne alle Widerrede, sonst … sonst fliegst du auch
-ohne Untersuchung nach Sibirien.«</p>
-
-<p>Und der bärenstarke Termosesow drückte mit der Rechten
-die Hand und mit der Linken die Kehle des Kommissars so
-kräftig zusammen, daß Danilka im Nu rot wurde, wie ein
-gekochter Krebs, und kaum noch hörbar röchelte:</p>
-
-<p>»Um Gottes willen, lassen Sie mich los! Ich unterschreibe
-ja alles!«</p>
-
-<p>Ächzend und hustend setzte er seine Krakelfüße unter das
-Gesuch.</p>
-
-<p>Termosesow steckte das Papier in die Tasche, hielt Danilka
-die Faust unter die Nase und sagte drohend:</p>
-
-<p>»Bürger, wenn du dich irgendwie vor der Zeit verplapperst,
-daß du dich beschwert hast&nbsp;…«</p>
-
-<p>Danilka, der immer noch hustete, machte nur eine abwehrende
-Bewegung mit der ganz erstarrten Hand.</p>
-
-<p>»… Dann schlag ich dir die ganze Fratze zu Brei, multipliziere
-die Wangen, subtrahiere die Nase und verwandle
-die Zähne in Brüche!«</p>
-
-<p>Der Kleinbürger winkte mit beiden Händen ab.</p>
-
-<p>»Jetzt hast du aber genug gekrächzt! <em class="antiqua">Allez, marchez</em> zur
-Tür hinaus!« kommandierte Termosesow, schob den Haken
-von der Tür zurück und gab Danilka auf der Schwelle einen
-so kräftigen Stoß, daß er über den an das Haus angebauten
-Hühnerstall hinwegflog und auf den warmen Rasen zu sitzen
-kam. Er sah sich nur noch einmal um, spuckte aus und rollte
-dann auf allen vieren zum Tor hinaus. Er hustete nicht
-einmal mehr.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_220">[220]</a></span></p>
-
-<p>Prepotenskij war von dieser Kraftprobe so entzückt, daß
-er laut applaudierte.</p>
-
-<p>»Was fällt dir ein?« fragte Termosesow.</p>
-
-<p>»Sie sind stärker als Achilla! Jetzt brauch' ich ihn nicht
-mehr zu fürchten!«</p>
-
-<p>»Das brauchst du auch nicht.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_221">[221]</a></span></p>
-
-<h2 id="Drittes_Buch">Drittes Buch.</h2>
-
-<h3 id="kap3_1">Erstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Als Termosesow und seine Genossen beim Polizeichef erschienen,
-hatte Tuberozow schon eine Stunde abseits von
-den übrigen Gästen mit dem Adelsmarschall Tuganow geplaudert.
-Der alte Propst brachte dem vornehmen Gaste
-wieder all die Klagen vor, welche wir in seinem Tagebuche
-gelesen haben, &ndash; und erhielt die alten Scherzworte zur
-Antwort.</p>
-
-<p>»Was soll aus dieser Zerrüttung noch werden?« fragte
-der Propst und runzelte die Brauen. Der Adelsmarschall
-aber erwiderte ihm lachend:</p>
-
-<p>»Wer kann wissen, was noch werden wird, mein Lieber?«</p>
-
-<p>»Ohne Ideale, ohne Glauben, ohne Achtung vor den
-Taten der großen Vorfahren … Das … das muß Rußland
-zugrunde richten.«</p>
-
-<p>»Nun, wenn es zugrunde gehen soll, wird es eben zugrunde
-gehen,« sagte Tuganow gleichgültig und stand auf. »Aber
-weißt du, &ndash; gehen wir wieder zu den Gästen. Unser Gespräch
-führt doch zu nichts. Du bist ein Maniak.«</p>
-
-<p>Der Propst trat einen Schritt zurück und sagte gekränkt:</p>
-
-<p>»Wieso bin ich ein Maniak?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_222">[222]</a></span></p>
-
-<p>»Was drängst du dich den Leuten auf und läßt niemand
-seine Ruhe? Ideal! Glauben! Was soll man tun, guter
-Freund, wenn die Zeit dafür vorüber ist?«</p>
-
-<p>Tuberozow lächelte, seufzte leise und antwortete, nicht die
-Zeit des Glaubens und der Ideale sei vorüber, sondern die
-Zeit der <em class="gesperrt">Worte</em>.</p>
-
-<p>»Nun, so vollbringe <em class="gesperrt">Taten</em>, Freund.«</p>
-
-<p>»Auch Taten sind noch nicht genug.«</p>
-
-<p>»Was brauchen wir denn?«</p>
-
-<p>»Großtaten.«</p>
-
-<p>»So vollbringe Großtaten. Aber in welcher Art?«</p>
-
-<p>»Im Geiste der Kraft, im Wehen des Sturmes. Daß
-die, so das Feuer löschen wollen, selber von der Flamme
-ergriffen werden.«</p>
-
-<p>»Ja, ja, du willst wieder streiten. Halt lieber Frieden, Vater.«</p>
-
-<p>»Parmen Nikolajewitsch, ich höre so viel von diesem Frieden
-reden. Aber wie soll man Frieden schließen mit einem, der
-gar nicht um Pardon bittet? So ein Frieden taugt nicht
-viel, und unsere Altvordern sagten nicht umsonst: ›Eh du
-den Gevatter nicht verprügelt hast, kannst du ihm keinen
-Friedenstrunk reichen‹.«</p>
-
-<p>»Ohne Prügel geht's bei ihm nicht.«</p>
-
-<p>»Gewiß nicht, Freund.«</p>
-
-<p>»Du bist noch der richtige Seminarist.«</p>
-
-<p>»Ich will auch gar nicht den großen Herrn spielen.«</p>
-
-<p>»Sag mal, willst du durchaus leiden? Das tut man nicht
-einer Kleinigkeit wegen. Spare deine Kräfte für eine bessere
-Sache.«</p>
-
-<p>»Sparsame Leute gibt es ohne mich genug. Ich muß
-meine Pflicht erfüllen.«</p>
-
-<p>»Der letzte wäre ich, der dich abhielte, deine Pflicht zu erfüllen,
-wie dein Gewissen sie dir vorschreibt. Geh hin und<span class="pagenum"><a id="Seite_223">[223]</a></span>
-versuch es, die Schamlosen zu beschämen. Wenn du es
-kannst, heißest du Hans. Aber jetzt laß uns zu den Gastgebern
-gehen. Ich muß bald fort.«</p>
-
-<p>Der Propst folgte ihm. Er versuchte sich zusammenzunehmen,
-war aber sehr entmutigt. Er hatte etwas ganz
-anderes von dieser Zusammenkunft erwartet, ohne sich wohl
-selbst sagen zu können, was eigentlich.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_224">[224]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_2">Zweites Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die beiden alten Herren saßen schon in dem kleinen Wohnzimmer,
-als die Hausfrau Warnawa und Termosesow hineinführte.
-Die Mehrzahl der andern Gäste befand sich
-im Saal. Man plauderte, spielte Klavier und versuchte zu
-singen. Die Biziukina, welche sich sonst überall zu Hause
-fühlte, hatte nicht den Mut, ihren Kavalieren ins Wohnzimmer
-zu folgen; da ihr andererseits die Gesellschaft der
-Damen nicht sympathisch war, nahm sie nahe der Tür
-Platz.</p>
-
-<p>Das Wohnzimmer war ein schmaler Raum. Auf dem
-Sofa vor dem Tisch saßen Tuganow und Tuberozow, während
-der sanfte Benefaktow, Darjanow und der Kreisadelsmarschall
-Plodomasow auf Stühlen Platz genommen hatten. Achilla stand
-hinter einem leeren Sessel und stützte die Hand auf die Lehne.
-Die Biziukina bemerkte, wie Termosesow das Zimmer betrat,
-sich höchst ehrerbietig verneigte, und &ndash; was wohl keiner für
-möglich gehalten hatte &ndash; plötzlich auf Tuberozow zuschritt
-und um seinen Segen bat. Am meisten erstaunt darüber
-war wohl Vater Sawelij selbst. Er wußte im ersten Augenblick
-nicht recht, was er tun sollte, und als er dem Gast den
-erbetenen Segen erteilte, sah man ihm die Verwirrung
-deutlich an. Als Termosesow aber seine Hand küssen wollte,
-verlor der Propst so vollkommen die Fassung, daß er mit
-einer schnellen, energischen Bewegung Termosesows Hand<span class="pagenum"><a id="Seite_225">[225]</a></span>
-nach unten zog und so fest drückte und schüttelte, als wäre
-es die Hand seines besten Freundes.</p>
-
-<p>Termosesow bat auch Zacharia um seinen Segen, und der
-sanfte Benefaktow erwies sich diesmal findiger als Tuberozow.
-Er erteilte dem Gast nicht nur den Segen, sondern schob
-auch ganz ungeniert sein gelbes Händchen an den Mund des
-Abenteurers.</p>
-
-<p>Einmal im Zuge, ging Termosesow nun noch auf Achilla
-zu, um sich von ihm auch segnen zu lassen. Aber dieser machte
-einen gewandten Kratzfuß und meinte:</p>
-
-<p>»Ich bin bloß Diakon.«</p>
-
-<p>Hierauf drückten sie einander die Hände und Achilla lud
-Termosesow ein, es sich in dem Lehnsessel, hinter dem er
-stand, bequem zu machen. Termosesow jedoch lehnte diese
-Ehre höflich ab und setzte sich auf den zunächst stehenden
-Stuhl, während Prepotenskij, den hergebrachten Anschauungen
-seiner »Richtung« treu bleibend, sich möglichst weit
-entfernte, um gegenüber der weitgeöffneten Saaltür Platz
-zu nehmen.</p>
-
-<p>Hiermit wollte er erstens andeuten, daß er mit der Gesellschaft
-im Wohnzimmer nichts gemein habe, und dann
-konnte er von seinem Platz aus die Biziukina sehen, welche
-alles hören sollte, was er sagte. Der Lehrer empfand die
-dringende Notwendigkeit, sein Ansehen wieder zu heben,
-welches durch das Erscheinen Termosesows stark beeinträchtigt
-worden war, und wartete auf eine günstige Gelegenheit,
-Streit vom Zaun zu brechen und der Biziukina, wenn auch
-nicht die Überlegenheit seines Geistes, so doch wenigstens die
-Reinheit seiner Überzeugung zu beweisen. Und da derjenige,
-welcher Streit sucht, in jedem Wort einen willkommenen
-Anlaß erblickt, so brauchte Warnawa auch nicht lange in
-Schweigen zu verharren.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_226">[226]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_3">Drittes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Beim Eintreten der neuen Gäste erzählte der Adelsmarschall
-Plodomasow dem Propst gerade von den jüngsten
-Reformen im Kirchenwesen.</p>
-
-<p>»Seine Eminenz ist ein Mann von großen Geistesgaben,«
-meinte der Propst.</p>
-
-<p>»Und auch ein großer Humorist,« bemerkte Tuganow.
-»Wir haben hier einen ungeheuer arroganten Gendarmenoffizier,
-der sich einbildet, alles zu können.«</p>
-
-<p>»Das ist immer so, die Gendarmen können alles,« fiel
-Prepotenskij ein, ohne daß man auf ihn achtete.</p>
-
-<p>»Dieses Herrchen hatte in Erfahrung gebracht,« fuhr Tuganow
-fort, »daß bei unserm Bischof noch nie jemand zu
-Mittag gespeist hätte, &ndash; und wettete im Klub mit dem
-Polizeimeister, er werde schon mal bei dem Alten essen. Ausgerechnet
-muß der Bischof Wind davon bekommen.«</p>
-
-<p>»O weh, o weh!« sagte Zacharia gedehnt.</p>
-
-<p>»Besagter Kavallerist macht also Seiner Eminenz seinen
-Besuch am frühem Morgen und geht einfach nicht fort. Als
-es bereits sechs Uhr vorüber ist, kann er's natürlich vor
-Hunger nicht mehr aushalten und will sich verabschieden.
-Aber der schweigsame Bischof, der ihm die ganze Zeit zugehört
-hatte, ohne selbst zu reden, meinte sehr freundlich: ›Wollen
-Sie nicht zum Essen bleiben?‹ Na, denkt er, die Wette ist<span class="pagenum"><a id="Seite_227">[227]</a></span>
-gewonnen! Aber der Bischof ließ ihn noch eine Stunde
-hungern, ehe es zu Tische geht.«</p>
-
-<p>»Das war doch unnütz,« warf Zacharia ein, »ganz unnütz.«</p>
-
-<p>»Warten Sie nur. Sie treten also ins Eßzimmer ein. Der
-Bischof bleibt vor dem Gottesbilde stehen und beginnt zu
-beten, &ndash; ein Gebet, dann noch eins, und ein drittes. &ndash; Es
-vergeht wieder eine ganze Stunde und der hungrige Gast ist
-fast dem Verenden nahe. ›So, nun kann das Essen aufgetragen
-werden,‹ sagt Eminenz endlich. Und zwei winzige
-Teller mit Erbsensuppe und Zwieback werden gebracht. Als
-sie verzehrt sind, erhebt sich der Bischof wieder und sagt:
-›Danken wir jetzt dem Herrn, der uns gesättigt hat.‹
-Das ward dem Kriegsmann denn doch zu viel, und während
-der Bischof betete, schlich er sich unbemerkt aus dem Zimmer.
-Der Alte erzählte es mir gestern: ›Dieser Geist läßt sich durch
-nichts austreiben, es sei denn durch Beten und Fasten,‹
-schloß er.«</p>
-
-<p>»Er ist ein Mann von Geist und von feinem und angenehmem
-Benehmen,« sagte Tuberozow, dem diese Anekdötchen
-wenig Freude zu machen schienen.</p>
-
-<p>»Ja, aber er klagt und jammert auch, es gäbe keine Leute.
-›Wir fahren über ein tiefes Meer,‹ sagt er, ›auf schwankem
-Schiff mit trunkenen Matrosen. Gott bewahre uns vor
-einem Sturm.‹«</p>
-
-<p>»Ein bitteres Wort,« warf Tuberozow ein.</p>
-
-<p>»Übrigens,« begann Tuganow von neuem, »meinte er,
-Euere Stadt mache ihm keine Sorgen. ›Ich habe dort zwei
-Popen,‹ bemerkte er, ›der eine ist klug und der andere fromm.‹«</p>
-
-<p>»Der Kluge ist Vater Sawelij,« bestätigte Zacharia.</p>
-
-<p>»Wieso meint Ihr, daß gerade Vater Sawelij der Kluge
-sei?«</p>
-
-<p>»Weil … weil er weise ist,« erwiderte Zacharia verlegen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_228">[228]</a></span></p>
-
-<p>»Und Vater Zacharia ist in die zweite Reihe gerückt,« fiel
-der Diakon ein.</p>
-
-<p>Tuberozow sah mit einem mißbilligenden Kopfschütteln
-zu ihm hinüber.</p>
-
-<p>Um seine Taktlosigkeit wieder gut zu machen, fuhr Achilla
-schnell fort:</p>
-
-<p>»Seine Eminenz haben den Vater Zacharia fromm genannt,
-weil sich noch nie jemand über den Vater Zacharia
-beschwerte.«</p>
-
-<p>»Ja, beschwert hat sich noch niemand,« seufzte Zacharia.</p>
-
-<p>»Der Vater Sawelij aber ist ein unruhiger Kopf,« scherzte
-Tuganow.</p>
-
-<p>Dieser Augenblick erschien dem Lehrer willkommen, und
-er warf schnell ein, die unruhigen Köpfe unter der Geistlichkeit
-seien die Denunzianten; das religiöse Gewissen aber
-müsse frei sein. Unvorsichtigerweise antwortete Tuganow
-darauf, Gewissensfreiheit sei allerdings notwendig und es
-sei sehr zu bedauern, daß man sie in Rußland noch nicht
-habe.</p>
-
-<p>»Ja, und unsere arme Kirche wird deshalb von allen
-Seiten mit unverdienten Vorwürfen überschüttet,« fügte
-Tuberozow hinzu.</p>
-
-<p>»Worüber habt Ihr Euch denn zu beklagen?« fiel ihm
-Prepotenskij lebhaft ins Wort.</p>
-
-<p>»Wir beklagen uns über die Unduldsamkeit,« erwiderte
-Tuberozow trocken.</p>
-
-<p>»Ihr leidet darunter ja nicht.«</p>
-
-<p>»O doch. Bitter leiden wir. Ihr predigt laut und frei,
-den Glauben solle man abschaffen, und es geschieht euch
-nichts dafür. Wenn aber wir auch nur ganz leise sagen, es
-wäre besser, eure Lehren würden nicht überall verkündigt,
-so&nbsp;…«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_229">[229]</a></span></p>
-
-<p>»Ach &ndash; so meint Ihr das!« unterbrach ihn der Lehrer.
-»Ihr wollt gegen uns hetzen, damit man uns den Garaus
-macht.«</p>
-
-<p>»Nein, Ihr wollt uns den Garaus machen.«</p>
-
-<p>Prepotenskij wußte nicht, was er antworten sollte. Leugnen
-wollte er es nicht, fürchtete sich jedoch, es einfach zuzugeben.
-Tuganow half ihm aus der Schwierigkeit und erklärte, der
-Vater Propst sei nur ungehalten darüber, daß es Leute gebe,
-die es sich zur Aufgabe machten, schlichte Herzen um ihren
-Glauben zu bringen.</p>
-
-<p>»Am meisten aber bekümmert mich, daß es ihnen gelingt,
-weil man ihnen Vorschub leistet.«</p>
-
-<p>Prepotenskij lächelte.</p>
-
-<p>»Es gelingt,« sagte er, »weil der Glaube ein Luxus ist,
-der dem Volk sehr teuer zu stehen kommt.«</p>
-
-<p>»Wohl nicht teurer als der Suff,« sagte Tuganow kühl.</p>
-
-<p>»Ja, aber die neuen Menschen,« &ndash; fing der Lehrer
-wieder an.</p>
-
-<p>»Taugen nichts, und eben deshalb ist der Teufel los.«</p>
-
-<p>»Weil die Spione ihnen ins Handwerk pfuschen.«</p>
-
-<p>»Ach wo! Einfach Halunken sind es.«</p>
-
-<p>»Halunken?«</p>
-
-<p>»Jawohl. Immer noch, wenn es irgendwo eine Gärung
-gegeben hat, haben sich zu guter Letzt Halunken der Bewegung
-bemächtigt, weil sich im Trüben gut fischen läßt. Da hat
-man sich bei uns so lange mit diesen … Nihilisten &ndash; so
-heißen sie doch wohl &ndash; geplagt. Erst schlug sich die Regierung
-mit ihnen herum, Gesellschaft und Presse sind heute noch nicht
-mit ihnen fertig geworden, &ndash; Schluß mit ihnen machen
-werden aber die Halunken, die sich ihnen zum Schein anschließen,
-um ihnen später den Hals umzudrehen, und dann
-kommt die große Wendung der Dinge.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_230">[230]</a></span></p>
-
-<p>Prepotenskij warf einen ängstlichen Blick auf die Biziukina.
-Es verwirrte ihn, daß Tuganow seine kühnen Tiraden so
-einfach in nichts auflöste, wie der Frühlingsnebel die Schneeflecken
-auf dem Felde verschlingt. Warnawa suchte Hilfe
-und wandte seine Blicke deshalb Termosesow zu, welcher
-aber nicht zu ihm hinüberschaute. Der Diakon Achilla, der
-schon lange vergeblich versuchte, dem Lehrer durch Zeichen
-zu verstehen zu geben, daß er schweigen solle, rief jetzt laut:</p>
-
-<p>»Halt den Mund, Warnawa Wasiljewitsch, es ist langweilig!«</p>
-
-<p>Der Lehrer geriet in Wut, besonders als auch Tuganow
-sich von ihm abgewandt hatte. Er wollte deshalb die Bombe
-zum Platzen bringen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_231">[231]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_4">Viertes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Prepotenskij sprang von seinem Platz auf und lief auf
-Tuganow zu, der sich wieder mit dem Propst unterhielt.</p>
-
-<p>»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche … Aber
-ich … ich stehe für die Freiheit.«</p>
-
-<p>»Ich auch,« sagte Tuganow und neigte sich wieder zum
-Propst.</p>
-
-<p>»Lassen Sie mich doch ausreden!« rief der Lehrer.</p>
-
-<p>Nun wandte sich Tuganow ihm zu.</p>
-
-<p>»Wissen Sie, daß die Freiheit nicht gegeben wird, sondern
-genommen?« fragte Warnawa.</p>
-
-<p>»Nun und&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>»Wer soll sie denn nehmen, wenn die neuen Menschen
-nichts taugen?«</p>
-
-<p>»Die Entwicklung der Dinge wird sie nehmen.«</p>
-
-<p>»Also wird sie doch genommen und nicht gegeben. Ich
-habe recht. Ich sagte es: sie wird genommen werden.«</p>
-
-<p>»Das sagt man dir doch auch!« rief ihm Achilla zu.</p>
-
-<p>»Aber das ist doch meine Meinung: sie wird genommen
-werden!«</p>
-
-<p>»Hat denn jemand etwas anderes gesagt? Parmen Semenowitsch
-spricht ja die ganze Zeit davon,« unterstützte plötzlich
-Termosesow den Diakon und suchte dabei den Namen Tuganows
-möglichst deutlich und im herzlichsten Ton auszusprechen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_232">[232]</a></span></p>
-
-<p>»Für mich wird's aber Zeit,« sagte Tuganow leise und
-erhob sich, um in den Saal zu gehen, aber der Lehrer überfiel
-ihn von neuem.</p>
-
-<p>»Noch ein Wort,« drängte er. »Mir scheint, es ist Ihnen
-unangenehm, daß jetzt alle gleich sind.«</p>
-
-<p>»Nein, es tut mir leid, daß nicht alle gleich sind.«</p>
-
-<p>Prepotenskij stockte einen Augenblick. Dann sprach er:</p>
-
-<p>»Das ist doch eine Tatsache, alle müssen gleich sein.«</p>
-
-<p>»Parmen Semenowitsch sagt Ihnen das ja: alle müssen
-gleich sein,« mischte sich nun Termosesow hinein, der neben
-Tuganow getreten war und den Lehrer von ihm fortzudrängen
-sich bemühte.</p>
-
-<p>»Aber erlauben Sie,« &ndash; er suchte von der andern Seite
-heranzukommen, wo ihm aber Achilla den Weg vertrat.</p>
-
-<p>»Laß doch,« sagte er, »du redest doch bloß dummes Zeug.«</p>
-
-<p>»Erlauben Sie, seien Sie so gut,« wehrte sich Prepotenskij
-und versuchte nun einen Frontangriff. »Ich meine bloß:
-Ihnen gefällt es wohl in England, weil da die Lords sind …
-Sie sind unzufrieden, daß die Standesprivilegien aufgehoben
-sind?«</p>
-
-<p>»Sind sie das?«</p>
-
-<p>»Geh weg, du weißt nichts,« stieß Achilla den Lehrer zur
-Seite, aber dieser lief noch einmal um Tuganow herum und
-versuchte einen zweiten Frontangriff.</p>
-
-<p>»Über jedes Ding kann man verschiedene Meinungen haben.«</p>
-
-<p>»Was wollen Sie eigentlich von mir?« rief Tuganow
-lachend.</p>
-
-<p>»Ich meine, man kann verschieden urteilen.«</p>
-
-<p>»Bloß, daß ein Urteil vernünftig ist und das andere
-dumm,« mischte sich Termosesow wieder hinein.</p>
-
-<p>»Sagen wir lieber: gerecht und ungerecht,« bemerkte Tuganow
-in versöhnlichem Tone.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_233">[233]</a></span></p>
-
-<p>»Auch Gott kennt nur eine Wahrheit,« rief der Diakon.</p>
-
-<p>»Zwischen zwei Punkten kann man nur eine gerade Linie
-ziehen,« sagte Termosesow.</p>
-
-<p>Prepotenskij geriet außer sich.</p>
-
-<p>»Was ist denn das? So kann man ja gar nicht reden!«
-rief er. »Ich bin allein unter lauter Kriechern und Heuchlern.
-Da habt ihr leichtes Spiel. Ich weiß nur eines: ich achte
-nichts Althergebrachtes.«</p>
-
-<p>»Das eben ist althergebracht. Wann hat man bei uns je
-Achtung vor der Geschichte gehabt?«</p>
-
-<p>»Weißt du was? Sei jetzt ganz still, du Schaf,« sagte
-Achilla in freundschaftlichstem Tone. Die Biziukina wandte
-sich verächtlich vom Lehrer ab, Termosesow versuchte noch
-einmal, ihn zur Seite zu schieben und trat ihm dabei auf
-den Fuß, so daß der Lehrer, der sich in der Aufregung leicht
-versprach, laut aufschrie:</p>
-
-<p>»Au! Sie haben mir auf mein liebstes Hühnerauge getreten!«</p>
-
-<p>Das »liebste Hühnerauge« rief ein schallendes Gelächter
-hervor, während dessen sich Tuganow von der Hausfrau
-verabschiedete.</p>
-
-<p>Schellen erklangen und ein Sechsgespann frischer Postpferde
-fuhr den Tuganowschen Reisewagen vor das Haus.
-Wenn Prepotenskij sich noch rehabilitieren wollte, mußte es
-sofort geschehen, hastig riß er sich von Achilla und Termosesow
-los, die ihn festhalten wollten, und hüpfte auf seinem »liebsten
-Hühnerauge« zu Tuganow, indem er rief:</p>
-
-<p>»Und ich werde doch immer weiter gegen den Adel und
-für das Naturrecht kämpfen.«</p>
-
-<p>Tuganow drehte sich in der Tür um und sagte zu Warnawa:</p>
-
-<p>»Die natürlichste Lebensform ist doch … das Leben der
-Pferde da, die mich gleich fortschaffen sollen. Aber sehn Sie,<span class="pagenum"><a id="Seite_234">[234]</a></span>
-man spannt sie vor den Wagen, damit sie einen Edelmann
-ziehen.«</p>
-
-<p>»Und wird sie unterwegs noch mit der Peitsche bearbeiten,
-daß sie fixer vorwärts kommen,« fiel der Diakon
-ein.</p>
-
-<p>»Das Vieh wird immer geschlagen,« pflichtete Termosesow
-ihm bei.</p>
-
-<p>»Wieder fallen alle über einen her!« schrie der Lehrer,
-»aber ich lasse nicht ab!«</p>
-
-<p>»Dann bist du also ein Stänker,« sagte Achilla.</p>
-
-<p>»Du rufst den Abgrund gegen den Abgrund auf,« bemerkte
-Zacharia.</p>
-
-<p>»Wißt Ihr denn, was das heißt: der Abgrund ruft den
-Abgrund herbei?« erwiderte Warnawa voller Wut. »Das
-heißt: ein Pope ladet den andern zu Besuch!«</p>
-
-<p>Diese Äußerung erregte ein helles Gelächter, das durch
-den Saal ertönte. Nur Tuberozow zog die Brauen zornig
-zusammen, riß krampfhaft an dem Bande seines Brustkreuzes
-und ging in das Wohnzimmer zurück.</p>
-
-<p>»Der Alte ist ganz zum Maniak geworden,« sagte Tuganow,
-ihm nachblickend.</p>
-
-<p>»Leider Gottes. Er liest die Zeitungen und regt sich auf
-und klagt und seufzt und kann über nichts mehr ruhig
-sprechen,« antwortete Darjanow.</p>
-
-<p>»Er hört uns,« flüsterte Achilla leise.</p>
-
-<p>Sawelij hatte wirklich alles gehört&nbsp;…</p>
-
-<p>Warnawa fühlte sich wieder. Er glaubte durch seinen Witz
-mit dem Abgrund seine Chancen bedeutend gebessert zu
-haben, und das gab ihm den Mut, dem Propst ganz unvermittelt
-nachzulaufen, ihn am Ärmel zu fassen und zu sagen:</p>
-
-<p>»Ich möchte Euch etwas fragen: vorgestern war ich in
-der Kirche und hörte, wie ein Priester plötzlich das Wort<span class="pagenum"><a id="Seite_235">[235]</a></span>
-›Schafskopf‹ aussprach. Was hat der Klerus zu singen,
-wenn der Priester ›Schafskopf‹ ruft?«</p>
-
-<p>»Der Klerus singt dreimal: ›Ist der Lehrer Prepotenskij‹,«
-erwiderte Sawelij.</p>
-
-<p>Ob dieser unerwarteten Antwort waren alle einen Augenblick
-ganz verblüfft und brachen gleich darauf in ein dröhnendes
-Gelächter aus.</p>
-
-<p>Prepotenskij hatte das Spiel verloren.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_236">[236]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_5">Fünftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Je tiefer der Stern des Lehrers sank, desto höher stieg
-derjenige Termosesows. Spielend gewann er die Gunst der
-gesamten Weiblichkeit; der Frau Postmeisterin machte er
-geradezu den Hof, und zwar in einer Weise, die dem Lehrer
-aufs äußerste mißfiel; denn Termosesow huldigte ihr nicht
-als Dame, sondern gewissermaßen als Vertreterin der Staatsgewalt.</p>
-
-<p>Beim Abendessen ließ Termosesow die Damen mehr oder
-weniger im Stich und hielt sich an die Herren. Mit jedem
-stieß er an und leerte dabei eine recht beträchtliche Zahl Gläser,
-ohne daß irgendeine Wirkung zu bemerken gewesen wäre.
-Schnell war er gut Freund mit Achilla, Darjanow und
-Vater Zacharia. Auch Tuberozow redete er wiederholt an,
-aber der Alte zeigte sich sehr wenig entgegenkommend. Dafür
-begann Achilla, nach einem etwa halbstündigen Gespräch,
-zur nicht geringen Verwunderung der Anwesenden, den
-Petersburger Gast plötzlich zu duzen, drückte ihm die Hand,
-küßte seine wulstige Lippe und verlieh ihm sogar Kosenamen.</p>
-
-<p>»Bei Gott, dieses Termoseslein ist ein Mordskerl,« predigte
-der Diakon. »Haben wir zwei es dem Lehrer nicht fein gegeben?
-Nicht? Nein, Bruder Termosesselchen, du darfst nicht
-fort von hier. Was hast du in Petersburg zu suchen? Hier
-können wir zwei beide im Winter Füchse fangen. Das ist
-ein Hauptspaß, Brüderlein. Nicht?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_237">[237]</a></span></p>
-
-<p>»Freilich, freilich,« antwortete Termosesow und begann
-nun seinerseits den Diakon zu preisen und nannte auch ihn
-einen Mordskerl. Und dann küßten die beiden Mordskerle
-sich wieder.</p>
-
-<p>Als das Fest sich zu seinem Ende neigte und Zacharia und
-Tuberozow schon heimgehen wollten, hielt Termosesow den
-Diakon am Ärmel zurück und sagte: »Du hast doch keine
-Eile?«</p>
-
-<p>»Eigentlich nicht,« antwortete Achilla.</p>
-
-<p>»Dann warte noch etwas, wir gehen zusammen.«</p>
-
-<p>Achilla erklärte sich bereit und Termosesow schlug noch
-ein Tänzchen vor. Er tanzte zuerst mit der Postmeisterin,
-dann mit ihren Töchtern, dann mit noch zwei oder drei
-andern Damen, und zu allerletzt mit der Biziukina. Dann
-aber kriegte er den Diakon zu fassen, drehte ihn im Walzertakt
-ein paarmal herum und führte, als er ihn, wie eine
-Dame, an seinen Platz gebracht hatte, seine Hand an die
-Lippen, küßte aber die eigene.</p>
-
-<p>Achilla, der darauf nicht im mindesten gefaßt war, geriet
-in Verlegenheit und riß seine Hand hastig zurück, Termosesow
-jedoch lachte unbändig und sagte:</p>
-
-<p>»Hast du dir wirklich eingebildet, ich würde deine Kutschertatze
-küssen?«</p>
-
-<p>Der Diakon war gekränkt und dachte: ›Am Ende hätt' ich
-mich lieber nicht mit dem Kerl einlassen sollen.‹ Aber da
-man sich gleich darauf auf den Heimweg machte, so schloß er
-sich der Gesellschaft an. Die Familie des Postmeisters, der
-Diakon, Warnawa, Termosesow und Madame Biziukina
-gingen zusammen. Erst wurde die Frau Postmeisterin mit
-ihren Töchtern nach Hause gebracht, und bei dieser Gelegenheit
-hörte Achilla, wie sie beim Abschied zu Termosesow sagte:</p>
-
-<p>»Ich hoffe, wir sehen uns häufiger.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_238">[238]</a></span></p>
-
-<p>»Daran zweifle ich keinen Augenblick,« antwortete Termosesow
-und fügte noch hinzu: »Sie fanden es so hübsch, daß
-der Polizeichef sein Wohnzimmer mit den Bildnissen der
-ganzen kaiserlichen Familie geschmückt hat?«</p>
-
-<p>»Ja, ich wünsche sie mir schon so lange.«</p>
-
-<p>»Diesen Wunsch kann ich Ihnen morgen erfüllen.«</p>
-
-<p>Und damit trennten sie sich.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_239">[239]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_6">Sechstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Kaum hatte man sich von der Postmeisterin verabschiedet,
-so erklärte Termosesow, es müßten unbedingt alle noch einen
-Augenblick mit ihm bei der Biziukina vorsprechen.</p>
-
-<p>»Du gestattest es doch?« fragte er, halb zu ihr gewendet.</p>
-
-<p>Es schien ihr nicht sehr angenehm, aber sie sagte trotzdem ja.</p>
-
-<p>»Irgendein Gesöff wird sich bei dir wohl finden?«</p>
-
-<p>Daria Nikolajewna wurde verlegen. Gerade heute hatte
-sie vergessen, Wein holen zu lassen, und erinnerte sich auch,
-daß man heute mittag die letzte Flasche Xeres so gut wie
-leer getrunken hatte. Termosesow bemerkte ihre Verlegenheit
-und sagte:</p>
-
-<p>»Na, Bier wird es doch wenigstens geben?«</p>
-
-<p>»Bier ist da.«</p>
-
-<p>»Das wußte ich. Bier haben die von der Akzise immer.
-Hast du auch Meth?«</p>
-
-<p>»Ja.«</p>
-
-<p>»Das ist ja famos! Nun, meine Herrschaften, wir haben
-Bier und Meth, und da braue ich euch ein Blachdnublach
-zusammen, daß ihr …« Termosesow küßte seine Finger
-und beschloß: »daß ihr zum Schluß die eigene Zunge mit
-verschlucken sollt.«</p>
-
-<p>»Was ist das für ein Blech und Blech?« fragte Achilla.</p>
-
-<p>»Nicht Blech und Blech, sondern Blachdnublach &ndash; ein
-Getränk aus Bier und Meth. Vorwärts!« Und er zog
-Achilla am Ärmel.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_240">[240]</a></span></p>
-
-<p>»Warte doch,« widersetzte sich der Diakon. »Was ist denn
-das für ein Blech und Blech? Bei Begräbnissen trinkt man
-es und nennt es ›Biermeth‹.«</p>
-
-<p>»Ich sage dir aber, es ist kein Biermeth, sondern Blachdnublach.
-Vorwärts!«</p>
-
-<p>»Nein, warte!« protestierte der Diakon wieder. »Ich kenne
-diesen Biermeth … Eins, zwei, drei, liegt man da wie ein
-Klotz. Ich trink' das Zeug nicht.«</p>
-
-<p>»Ich sag' dir doch, es gibt Blachdnublach und nicht Biermeth!«</p>
-
-<p>»Und doch sollten wir's heut nicht mehr trinken,« antwortete
-der Diakon. »Sonst gibt's morgen einen wüsten
-Brummschädel.«</p>
-
-<p>Prepotenskij war derselben Ansicht, aber keiner von beiden
-besaß Charakterfestigkeit genug, seine Meinung durchzusetzen,
-und so blieb Termosesow schließlich Sieger und schleppte sie
-in die Wohnung der Biziukina. Sein Plan war, das Gesöff
-in der Laube einzunehmen, und so wurden alsbald eine Unmenge
-Bier- und Methflaschen nebst dem dazu gehörigen
-Imbiß dorthin gebracht, und Termosesow begann sofort mit
-der Bereitung des Blachdnublach.</p>
-
-<p>Warnawa Prepotenskij hatte sich neben Termosesow gesetzt.
-Der Lehrer wollte den Gast sofort zur Rede stellen,
-weshalb er vor Tuganow so gekatzbuckelt und ihn bei seinen
-Angriffen gegen ihn, Warnawa, unterstützt hatte.</p>
-
-<p>Aber zum größten Erstaunen Prepotenskijs schien Termosesow
-nicht die geringste Lust zu haben, mit ihm zu plaudern,
-denn statt der erwarteten freundlichen Antwort kam es
-schroff und ungeduldig von seinen Lippen:</p>
-
-<p>»Wir sind alle gleich: Kleinbürger, Adel und niederes
-Volk. Lassen Sie mich mit Ihrer Politik in Frieden, ich will
-jetzt trinken.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_241">[241]</a></span></p>
-
-<p>»Aber Sie müssen doch zugeben, daß Leute mit Besinarmildung
-etwas Besseres sind, als …« stammelte Warnawa
-verwirrt.</p>
-
-<p>»Da haben wir's!« unterbrach ihn Termosesow. »Erst
-das liebste Hühnerauge, und jetzt die Besinarmildung! Der
-richtige Cicero!«</p>
-
-<p>»Das passiert ihm oft, wenn er aufgeregt ist. Er will
-ein Wort sagen und es kommt ein anderes heraus,« trat
-Achilla für Prepotenskij ein und erzählte, wie der Lehrer infolge
-dieses Defekts einmal beinahe um den Verkehr in einem
-sehr feinen Hause gekommen wäre. »Er hatte zu der Wirtin
-sagen wollen: ›Matrona Iwanowna, darf ich noch um ein
-Zitronenscheibchen bitten?‹ &ndash; und sagte statt dessen: ›Zitrona
-Iwanowna, bitte noch ein Matronenscheibchen!‹ was die
-Dame natürlich als Beleidigung auffaßte.«</p>
-
-<p>Termosesow wollte sich ausschütten vor Lachen, faßte aber
-plötzlich Warnawas Hand, beugte sich zu ihm herab und
-flüsterte ihm ins Ohr:</p>
-
-<p>»Geh sofort und schreib mir auf, was die Pfaffen und
-Edelleute heut geredet haben. Ich meine das von der Gewissensfreiheit
-und der Unduldsamkeit … Mit einem Wort:
-alles, alles …«</p>
-
-<p>»Wozu denn?« fragte der Lehrer erstaunt.</p>
-
-<p>»Das geht dich nichts an. Geh nur und schreib's auf.
-Du wirst später schon sehen, wozu. Wir unterschreiben es
-und schicken es an die richtige Adresse.«</p>
-
-<p>»Was? Was wollen Sie tun?« rief Prepotenskij laut und
-fuchtelte erregt mit den Armen. »Eine Denunziation! Um
-nichts in der Welt!«</p>
-
-<p>»Aber du haßt sie doch!«</p>
-
-<p>»Nun und?«</p>
-
-<p>»So schneid ihnen doch die Kehle durch, wenn du sie haßt.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_242">[242]</a></span></p>
-
-<p>»Ja gewiß, schneiden will ich schon, aber ich bin kein Lump,
-der eine Denunziation&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Dann raus mit dir!« unterbrach ihn Termosesow und
-stieß ihn gegen die Tür.</p>
-
-<p>»Aha! Raus?! So hab' ich Sie doch richtig erkannt! Sie
-halten's mit Achilla!«</p>
-
-<p>»Raus, sage ich!«</p>
-
-<p>»Ja, ja! Erst fordert Ihr mich zum Blachdnublach auf
-und dann&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Da hast du dein Blachdnublach!« antwortete Termosesow
-und gab dem Lehrer einen kräftigen Stoß in den Nacken,
-so daß er zur Tür hinausflog. Dann schob er den Riegel vor.</p>
-
-<p>Achilla, der diesen Auftritt mit angesehen hatte, stand
-verwirrt auf und nahm seinen Hut.</p>
-
-<p>»Wo willst du hin?« fragte Termosesow, sich wieder an
-den Tisch setzend.</p>
-
-<p>»Ich bitte um Entschuldigung, ich muß nach Hause.«</p>
-
-<p>»Trink doch erst dein Blachdnublach aus.«</p>
-
-<p>»Nein, mag es zum Teufel gehn, ich will nicht mehr.
-Leben Sie wohl. Ich habe die Ehre.«</p>
-
-<p>Er reichte Termosesow die Hand. Dieser nahm sie aber
-nicht, sondern riß dem Diakon den Hut fort, warf ihn unter
-seinen Stuhl und befahl:</p>
-
-<p>»Setz dich!«</p>
-
-<p>»Ich will nicht,« erwiderte Achilla.</p>
-
-<p>»Setz dich, sag' ich dir!« schrie Termosesow noch lauter
-und riß ihn so heftig am Arm, daß er auf die Bank niederfiel.</p>
-
-<p>»Willst du Pfarrer werden?«</p>
-
-<p>»Nein.«</p>
-
-<p>»Warum nicht?«</p>
-
-<p>»Weil ich dessen weder wert noch fähig bin.«</p>
-
-<p>»Aber der Propst kränkt dich doch?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_243">[243]</a></span></p>
-
-<p>»Nein, das tut er nicht.«</p>
-
-<p>»Er soll dir doch mal einen Stock weggenommen haben.«</p>
-
-<p>»Was ist denn dabei?«</p>
-
-<p>»Und einen Dummkopf hat er dich genannt?«</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht, vielleicht hat er mich auch mal so genannt.«</p>
-
-<p>»Wollen wir ihn für seine heutigen Reden denunzieren?«</p>
-
-<p>»Wa&ndash;a&ndash;a&ndash;as?«</p>
-
-<p>»Das!!«</p>
-
-<p>Termosesow bückte sich, holte Achillas Hut unter dem
-Stuhl hervor und warf ihn vor die Schwelle.</p>
-
-<p>»Du bist eine Petersburger Kanaille,« sagte der Diakon
-und bückte sich nach dem Hute. In diesem Augenblick aber
-traf ihn ein dröhnender Schlag in den Nacken und er lag
-mit der Nase im Sande des Gartenweges, wohin ihm sein
-Hut alsbald nachgeflogen kam und wo ein paar Schritte
-weiter auch der Lehrer hockte. Der Diakon begriff erst gar
-nicht, wie das gekommen war, aber als er Termosesow in
-der Tür stehen und ihm mit einem Spaten drohen sah, wurde
-es ihm klar, warum der Schlag so schwer gewesen war und
-eine so breite Fläche getroffen hatte. Er sagte:</p>
-
-<p>»Das nennt sich also Blachdnublach. Danke für freundliche
-Belehrung.«</p>
-
-<p>Hierauf wandte er sich zum Lehrer:</p>
-
-<p>»Nun? Gehen wir heim, lieber Freund?«</p>
-
-<p>»Ich kann nicht,« sagte Warnawa.</p>
-
-<p>»Warum nicht?«</p>
-
-<p>»Ich bin voll blauer Flecke und der Wopf tut mir keh.«</p>
-
-<p>»Laß den Wopf nur keh tun, das geht vorüber. Komm
-nach Hause. Ich begleite dich.« Und mitleidig half der
-Diakon dem Lehrer auf und führte ihn zum Gartentor hinaus.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_244">[244]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_7">Siebentes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Aufs äußerste erregt und verstört kam der Propst heim.
-Da das Fest beim Polizeichef so lange dauerte, hatte die
-daheimgebliebene Natalia Nikolajewna, wider ihre sonstige
-Gewohnheit, die Heimkehr ihres Gatten nicht abgewartet
-und sich zu Bett gelegt, die Tür nach ihrem Schlafzimmer
-aber offen gelassen. Sie wollte durchaus aufwachen, wenn
-ihr Mann zurückkehrte.</p>
-
-<p>Tuberozow wußte, was die offene Türe zu bedeuten hatte
-und rief beim Eintreten seine Frau beim Namen. Sie erwachte
-und erwiderte seinen Gruß.</p>
-
-<p>»Du schläfst nicht?«</p>
-
-<p>»Nein, Liebster, Sawelij Jefimytsch, ich schlafe nicht.«</p>
-
-<p>»Das ist gut, ich möchte mit dir reden.«</p>
-
-<p>Der Alte setzte sich auf den Bettrand und erzählte seiner
-Gattin das Gespräch mit dem Adelsmarschall und beklagte
-sich, wie gleichgültig alle sich zu der immer mehr in Rußland
-aufkommenden Anschauung verhalten, daß sich ein gebildeter
-Mensch des Glaubens schämen müsse. Er drückte
-ihr seine Befürchtungen aus, daß die guten Sitten und die
-hohen Ideale in Verfall geraten könnten, ja müßten.</p>
-
-<p>Natalia Nikolajewna unterbrach ihn mit keiner Silbe,
-denn er sprach mit einem Freimut, wie er ihn sonst nirgendwo
-hätte zum Ausdruck bringen dürfen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_245">[245]</a></span></p>
-
-<p>»Und denke dir, Natascha!« schloß er, als er bemerkte,
-daß der Morgen graute und sein Kanarienvögelchen, eben
-erwacht, den Schnabel zu wetzen begann. »Denke dir, meine
-liebe Alte, daß er, der Tuganow, keines meiner Worte widerlegen
-konnte, daß er mir in allem recht gab, daß er selbst
-zugestand, wir stünden, wie die selige Marfa Andrejewna
-mal sagte, gleich Schnepfen im Sumpf. Der Schwanz ist
-zu lang und der Schnabel ist zu lang, und so wackeln wir
-hin und her: ziehen wir den Schnabel heraus, bleibt der
-Schwanz stecken; ziehen wir den Schwanz heraus, steckt der
-Schnabel im Sumpf. Das alles gab er zu, aber von der
-seelischen Erregung, die man in einer solchen Lage doch empfinden
-müßte, ließ er nichts merken … O diese entsetzliche
-Gleichgültigkeit!«</p>
-
-<p>Natalia Nikolajewna schwieg.</p>
-
-<p>»Zu guter Letzt nannte er mich noch einen Maniak! Sage
-bitte selbst, wieso und warum verdiene ich diesen Namen?«
-Sawelij dämpfte die Stimme. »Mich nennt er einen Maniak,
-und er selbst sagt … Ich meinte: alles, worauf ich hingewiesen
-hätte, seien vielleicht Kleinigkeiten, aber trotzdem so
-bezeichnend für den in unserer Gesellschaft herrschenden Geist,
-und wenn wir jetzt mit diesen Kleinigkeiten nicht fertig würden,
-wie sollen es unsere Machthaber werden, nachdem alles erst
-mal großgewachsen ist! Er antwortete mir in seinem mir so
-verhaßten spöttischen Tone, den wir Russen so gern anschlagen,
-mit einer Anekdote, die sehr gut paßte und die ich
-aus Rücksicht auf mein Amt nur dir allein erzählen kann:
-Ein Offizier kam einst in ein Quartier, wo er im Nebenzimmer
-ein wunderschönes Mädchen entdeckte. Er war von ihr so
-entzückt, daß er, wie das im Regiment Brauch ist, seinen
-Burschen rief und ihn fragte: ›Wie könnte ich wohl die Bekanntschaft
-dieser Schönen machen?‹ Der Bursche überlegte,<span class="pagenum"><a id="Seite_246">[246]</a></span>
-und da er im Begriff war, Kohlen in den Samowar zu legen,
-rief er plötzlich: ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Der Offizier
-sprang auf und stürzte in das Zimmer seiner Nachbarin:
-›Meine Gnädige, hier bei Ihnen riecht es nach Rauch. Ich
-komme, Sie und Ihre Schönheit aus dem Feuer zu retten!‹
-Auf diese Weise machte er die gewünschte Bekanntschaft.
-Der Bursche aber erhielt ein Geldgeschenk und einen Schnaps.
-Als der Frauenjäger nach einiger Zeit in ein neues Quartier
-kam, wo er ebenfalls eine schöne Dame entdeckte, jedoch nicht
-nebenan, sondern im gegenüberliegenden Hause, &ndash; sagte
-er wieder zu seinem Burschen: ›Verhilf mir zu ihrer Bekanntschaft!‹
-Der aber wußte nichts anderes zu antworten,
-als sein altes ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Da erkannte der
-Offizier, daß er sich zu Unrecht auf den Verstand seines
-Helfershelfers verlassen hatte und die erwünschte Bekanntschaft
-durch ihn nicht machen konnte. Jetzt merke, was das
-für ein Gleichnis ergibt: bei uns geziemt es sich für einen
-aufgeklärten Mann, daß er ungläubig sei, seines Vaterlandes
-spotte, die Menschen verachte, die Heiligkeit der Familienbande
-nicht gelten lasse, in seinen Mitteln nicht wählerisch
-sei; jene Schöne jedoch, die äußere Zivilisation, haben wir
-leicht gewonnen; allein jetzt gilt es, eine andere Schöne
-kennen zu lernen, jetzt, wo wir geistige Selbständigkeit zeigen
-sollen, … aber da sitzt die Schöne drüben am Fenster, und
-die Frage ist, wie kriegen wir sie? Da sehnen wir uns wohl
-und seufzen: ›Ach, wie könnten wir am leichtesten ihre Bekanntschaft
-machen?‹ Aber der ungeschickte Bursche weiß
-darauf nichts zu sagen, als: ›Hier riecht's nach Rauch!‹
-Doch was nützt es uns, wenn es nach Rauch riecht?«</p>
-
-<p>»Ja,« sagte Natalia Nikolajewna und seufzte.</p>
-
-<p>»Das ist es eben! Begreifst du es auch? Wer ist denn
-nun der Maniak? Ich, der ich alles klar sehe und mich deswegen<span class="pagenum"><a id="Seite_247">[247]</a></span>
-beunruhige, oder jene, denen es ebenso klar ist, die
-sich aber den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen: ›Wir
-kommen noch so durch, und hinterher mag's gehn, wie es
-will!‹ Heißt das nicht: ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Nicht
-wahr, meine Liebe?«</p>
-
-<p>»Ja, Liebster, das Mädel stellt wohl den Samowar auf,«
-sagte Natalia Nikolajewna mit schläfriger Stimme.</p>
-
-<p>Da begriff Tuberozow, daß er die ganze Zeit in die Luft
-gesprochen hatte, die keine Ohren für ihn hatte, und er senkte
-lächelnd sein weißhaariges Haupt.</p>
-
-<p>Er gedachte der Worte, die einst die verstorbene Bojarin
-Marfa Plodomasowa zu ihm gesprochen: »Und bist du denn
-nicht einsam? Was sagt denn das, daß du eine gute Frau
-hast, die dich liebt? Was dich quält, wird sie doch nicht verstehen.
-Und so ist jeder, der weiter sieht als sein Bruder,
-einsam inmitten der Seinigen.«</p>
-
-<p>»Ja, einsam, unsagbar einsam!« flüsterte der Alte. »Und
-es ist am stärksten zu fühlen, wenn man am innigsten verlangt,
-es nicht zu sein; denn … mag ich nun ein Maniak sein oder
-nicht … ich habe beschlossen, das nicht länger zu dulden,
-und was ich beschlossen, das vollbringe ich auch.« Leise stand
-der Alte vom Bette auf, um die Schlafende nicht zu stören,
-segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes, stopfte dann seine
-Pfeife und ging in den Hof hinaus, um sich vor dem Hause
-niederzusetzen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_248">[248]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_8">Achtes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Tief in Gedanken versunken saß der alte Mann. Die
-dünnen Tabakswölkchen, die sich von seinem weißen Schnurrbart
-lösten und in der Luft zerflatterten, glänzten bernsteinfarbig
-im Lichte der aufgehenden Sonne. Die Hühner flogen
-von ihren Stangen herunter, kamen aus dem Stall, schüttelten
-sich und strichen ihr Gefieder. Jetzt klang von der Brücke
-die Lindenholzflöte des Hirten herüber, am Ufer klirrten die
-leeren Eimer, mit denen ein barfüßiges Weib nach Wasser
-ging; überall hörte man die Kühe brüllen, und die eigene
-Dienstmagd des Propstes kam gähnend, das Zeichen des
-Kreuzes über dem weitaufgerissenen Munde machend, aus
-dem Stall und trieb die Kuh mit einer Gerte vor sich her.
-Drinnen am Fenster sang der Kanarienvogel aus voller Kehle.</p>
-
-<p>Im vollen Glanze war der junge Tag erschienen.</p>
-
-<p>Vom Dom her ertönte der erste Glockenschlag.</p>
-
-<p>Vor dem Pförtchen erschien eine junge Zigeunerin mit
-einem Kinde an der Brust, einem zweiten auf dem Rücken
-und dreien, die sich an ihre zerlumpten Kleider klammerten.</p>
-
-<p>»Gib mir was, frommer Vater, gib mir was, du Glücklicher,
-Segensreicher!« bettelte sie den Propst an.</p>
-
-<p>»Was soll ich dir geben, du Unglückliche, Ungesegnete?
-Meine Frau schläft, und ich habe kein Geld bei mir.«</p>
-
-<p>»Gib mir etwas, was du nicht brauchst, dafür soll dir Ehre
-und Glück werden.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_249">[249]</a></span></p>
-
-<p>»Was brauche ich denn nicht? Halt! du hast recht gesprochen!
-Ich hab' hier etwas, was ich nicht brauche!«</p>
-
-<p>Und Tuberozow ging ins Zimmer und brachte seine sämtlichen
-Pfeifen heraus, den perlengestickten Tabaksbeutel und
-die Blechschachtel, in welche er die Asche zu schütten pflegte.
-Alles gab er der Zigeunerin und sagte:</p>
-
-<p>»Da, du Zigeunerweib, bring das deinem Mann, ihm
-steht es besser zu.«</p>
-
-<p>Natalia Nikolajewna schlief noch immer. Der Propst
-schrieb sich die Schuld zu, weil er sie durch seine lange Abwesenheit
-und seine Reden am Einschlafen gehindert hatte.
-Zwar hatte sie ihm nicht zugehört, aber ihre Ruhe hatte er
-doch gestört.</p>
-
-<p>Er ging in den Stall und gab seinen zwei kleinen braunen
-Pferden selbst die doppelte Portion Hafer. Dann wollte er
-leise über den Hof ins Haus, als er plötzlich den Botengänger
-des Akziseeinnehmers Biziukin durch das Pförtchen kommen
-sah, welcher ein Buch unter dem Arm hatte.</p>
-
-<p>Der Propst nahm das Buch, schlug es auf und wurde
-ganz rot im Gesicht. Im Buch lag ein Schreiben mit folgender
-Aufschrift: »An den Propst des Stargoroder Kirchspiels,
-Oberpfarrer Sawelij Tuberkulow.« Das Wort »Tuberkulow«
-war flüchtig durchstrichen und darüber geschrieben
-»Tuberozow«.</p>
-
-<p>»Es wird um sofortige Empfangsbestätigung gebeten,«
-sagte der Bote.</p>
-
-<p>»Wer hat drum gebeten?«</p>
-
-<p>»Der Sekretär des angereisten Beamten.«</p>
-
-<p>»Der kann warten.«</p>
-
-<p>Der Propst fühlte, daß die Sache nicht so harmlos war.
-Er merkte, daß man ihn herausfordern wollte und auch
-schon ein Mittel gefunden hatte, ihm beizukommen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_250">[250]</a></span></p>
-
-<p>»Was kann das sein? Es ist noch so früh … Sie scheinen
-die Nacht nicht geschlafen zu haben, nur um eine Gemeinheit
-auszuhecken … ja, Leute, die nichts zu tun haben!«</p>
-
-<p>Mit solchen Gedanken beschäftigt, trat Tuberozow in sein
-vom Sonnenglanz durchflutetes Wohnzimmer, setzte seine
-große silbergefaßte Brille auf und öffnete den interessanten
-Brief.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_251">[251]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_9">Neuntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Das fatale Schreiben war ein höchst formloses Dokument,
-in jenen unangenehmen, vieldeutigen Ausdrücken abgefaßt,
-an denen die Kanzleisprache so reich ist. Es stellte an den
-Propst Tuberozow »konfidentiell« das Ersuchen oder die
-Forderung, beim Regierungsbeamten Bornowolokow zu erscheinen
-»zwecks Abgabe näherer Erklärungen über einige
-wichtige Punkte, sowie auch über das anstößige und unpassende
-Betragen des Diakons Achilla Desnitzyn.«</p>
-
-<p>»Ei zum Donnerwetter, sollte das nicht ein dummer Scherz
-sein? … Wollen sie sich jetzt auf diese Weise über mich lustig
-machen?! Aber nein, das ist kein Scherz! Da steht's: Tuberkulow
-… Mein Name ist in der offenkundigen Absicht,
-mich zu kränken, so verdreht worden. Und dann: »das anstößige
-und unpassende Betragen des Diakons Achilla.«
-Was bedeutet das alles, wo will man hinaus? Um ihnen
-den Spaß zu verderben und keinen Fehler zu begehen, wollen
-wir uns an die Methode des Abwartens halten, die einzig
-richtige in unklaren Fällen.«</p>
-
-<p>Der Propst nahm die Feder und schrieb unter das formlose
-Dokument: »Der Propst Tuberozow hält sich, da er
-über die Vollmachten der ihn zu sich auffordernden Person
-nicht unterrichtet ist, nicht für verpflichtet, der Aufforderung
-Folge leisten zu müssen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_252">[252]</a></span></p>
-
-<p>Darauf legte er das Blatt in denselben Umschlag, in dem
-er es erhalten hatte, und schrieb quer über die Adresse: »Zurück
-an den, dessen Titel und Würden ich nicht kenne.«</p>
-
-<p>Nachdem er das Paket wieder in das Quittungsbuch gelegt
-hatte, ging er hinaus und gab es dem Boten. Dem langen
-Subdiakon Pawliukan, der inzwischen gekommen war, befahl
-er, den Wagen zu schmieren und in einer Stunde zu einer
-Fahrt ins Kirchspiel bereit zu sein. Dann schickte er die Magd
-nach dem Diakon Achilla.</p>
-
-<p>Unterdessen war Natalia Nikolajewna aufgestanden und
-machte sich, nachdem sie sich mehrmals bei ihrem Gatten
-wegen ihres gestrigen Einschlafens entschuldigt hatte, eifrig
-daran, sein Reiseköfferchen zu packen. Höchst erstaunt war
-sie aber, als er auf ihre Frage, wohin sie den Tabak legen
-solle, kurz antwortete, er habe das Rauchen aufgegeben, und
-sich dann gleich dem eben eingetretenen Diakon zuwandte.</p>
-
-<p>»Ich muß gleich eine Amtsreise machen und habe dich
-kommen lassen, um dich noch einmal zu warnen,« begann
-er, doch Achilla unterbrach ihn sofort.</p>
-
-<p>»Schönsten Dank, Vater Propst, aber ich bin schon gewarnt.«</p>
-
-<p>»Das hat nicht viel zu sagen und macht mir keine Sorge.
-Jedenfalls bitte ich dich nur, wenigstens in meiner Abwesenheit
-etwas solider zu sein.«</p>
-
-<p>»Ja, Vater Propst, jetzt … Auch wenn Ihr kein Wort
-gesagt hättet, es ist doch schon alles aus.«</p>
-
-<p>Tuberozow blieb vor ihm stehen und sah ihn mit einem
-scharfen, durchdringenden Blick an. Gestalt und Gesicht des
-Diakons sahen nicht gerade vorteilhaft aus. Die dichten,
-natürlichen Locken machten den Eindruck einer schief aufgesetzten
-Perücke: die rechte Seite der Stirn war viel zu weit
-entblößt, die linke fast bis zum Auge verdeckt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_253">[253]</a></span></p>
-
-<p>Der Propst dachte nach, was denn wohl noch mit dem unvorsichtigen
-Diakon geschehen sein mochte, dieser aber sagte,
-die Augen starr auf den Hut gerichtet, den er in der Hand
-hin- und herdrehte:</p>
-
-<p>»Ich habe schon gestern, Vater Propst … gleich nachdem
-ich von der Biziukinschen heimgekommen war … denn wir
-waren alle vom Polizeichef noch dorthin gegangen … zu
-meiner Bedienerin gesagt: ›Nein,‹ sagt' ich, ›Esperance, der
-Vater Sawelij hat recht: der Starke rühme sich nicht seiner
-Kraft und baue nicht auf seine Macht.‹«</p>
-
-<p>Statt ihm zu antworten, ging der Propst auf den Diakon
-zu und strich die Haare zurück, welche die linke Seite seines
-Gesichtes so übermäßig bedeckten.</p>
-
-<p>»Nein, Vater Sawelij, hier ist nichts, aber da,« sagte
-Achilla leise und schob die Hand des Propstes auf seinen
-Nacken.</p>
-
-<p>»Schäme dich, Diakon,« sagte Tuberozow.</p>
-
-<p>»Es tut auch weh, Vater Propst,« sagte Achilla, sich an
-die Brust schlagend, und fing bitterlich zu weinen an. »Dafür
-werde ich mich nun täglich und stündlich martern.«</p>
-
-<p>Tuberozow schüttete keinen Tropfen mehr in diesen Leidenstrank
-des armen Achilla. Im Gegenteil. Er machte ein
-paar Schritte durchs Zimmer und sagte dann, den Diakon
-am Arme fassend:</p>
-
-<p>»Weißt du noch, wie du mir Vorwürfe machtest wegen
-der Pfeife?«</p>
-
-<p>»Verzeiht.«</p>
-
-<p>»Nicht doch, ich bin dir dankbar dafür, und wenn ich im
-Rauchen auch nichts besonders Schlechtes sehe und diese Gewohnheit
-gehabt habe, so habe ich doch heute, um dem Gerede
-ein Ende zu machen, davon abgelassen und alle meine
-Pfeifen einem Zigeuner geschenkt.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_254">[254]</a></span></p>
-
-<p>»Einem Zigeuner!« rief der Diakon mit strahlendem
-Gesicht.</p>
-
-<p>»Ja. Es kann dir übrigens gleich sein, wem ich sie gegeben
-habe; gib aber auch du deine Wildheit irgend jemandem.
-Du bist kein Jüngling mehr, sondern bald fünfzig, und du
-bist auch kein Kosak, denn du trägst die Kutte. Und jetzt sage
-ich dir noch einmal Lebewohl, denn ich muß fahren.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_255">[255]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_10">Zehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Im Biziukinschen Hause ließ sich der neue Tag wenig
-freundlich an: die gnädige Frau vermißte ein kostbares
-Brillantenkollier, das sie gestern abend getragen hatte und
-das heute nirgends zu finden war. Die ganze Dienerschaft
-war auf den Beinen, und die Herrschaft ebenfalls. Man
-suchte das Verlorene in der Laube und im ganzen Hause,
-aber es war und blieb verschwunden.</p>
-
-<p>Bornowolokow hatte mit der Revision angefangen, und
-auch Termosesow war ungeheuer beschäftigt. Zunächst nahm
-er aus seiner Photographiensammlung einige Bildnisse der
-kaiserlichen Familie, dann schrieb er einen Brief an einen
-Petersburger Freund, der in Wirklichkeit gar nicht vorhanden
-war. Er schilderte die Schönheit der Natur, die gelbrosa
-Färbung der Wolken, sprach von seiner Freundschaft mit
-Bornowolokow und seinen Aussichten auf eine glänzende
-Beamtenlaufbahn und auf eine Erbschaft im Gouvernement
-Samara. Zum Schluß entwarf er eine flüchtige Skizze der
-gestrigen Gesellschaft, wobei er die Stargoroder Herrschaften
-schonungslos kritisierte und nur hinsichtlich der Postmeisterin
-eine Ausnahme machte. »Diese Frau,« schrieb er, »ist es
-durchaus wert, daß man etwas bei ihr verweilt. Stelle dir
-vor, ich spüre hier so etwas wie Schicksalsgewalt; ich sah sie
-und wurde sofort von einer Art Sohnesgefühl zu ihr erfaßt.
-Ich sag' dir, wenn es ihr einfallen würde, mich auspeitschen<span class="pagenum"><a id="Seite_256">[256]</a></span>
-zu lassen, ich würde ihr dankbar die Hand küssen. Doch &ndash;
-ich weiß selber noch nicht, wie das enden wird, denn sie hat
-zwei Töchter. Die eine ist ganz die Mutter, die andere verspricht
-ebenfalls so schön zu werden. Wer vermöchte zu
-sagen, Freund, warum das unerforschliche Geschick mich der
-Familie dieser hochgeachteten Frau zugeführt hat? Vielleicht
-werde auch ich demnächst singen müssen: ›O goldne Freiheit,
-lebe wohl!‹«</p>
-
-<p>Nachdem Termosesow den Brief an einen Herrn Nikolai
-Iwanowitsch Iwanow adressiert hatte, preßte er das versiegelte
-Kuvert zwischen zwei Fingern fest zusammen, überzeugte
-sich, daß man auf diese Weise seine ganze Charakteristik
-der Frau Postmeisterin durchlesen konnte, räusperte sich und
-sagte: »Na, nun wollen wir mal sehen, ob Prepotenskij
-gestern die Wahrheit gesagt hat, daß sie die Briefe aufmacht!
-Tut sie das, so bin ich fein heraus.«</p>
-
-<p>Er nahm den Brief und die Bilder und begab sich auf das
-Postamt. Außer diesem Brief hatte er noch ein Schriftstück
-in der Tasche, das er in derselben frühen Morgenstunde abgefaßt
-hatte, als er die Aufforderung an Tuberozow schickte.
-Es lautete folgendermaßen:</p>
-
-<p>»Das Komplott der demokratischen Sozialisten, die sich
-hinter der Larve des Patriotismus verbergen, macht sich überall
-bemerkbar. Hier setzt es sich aus äußerst verschiedenartigen
-Elementen zusammen, und das Schädlichste dabei ist, daß
-die Geistlichkeit bereits in hohem Maße daran beteiligt ist &ndash;
-was äußerst gefährlich ist, da sie dem Volke sehr nahesteht.
-Die Resultate der traurigen liberalen Duldsamkeit treten hier
-besonders kraß und zahlreich zutage.</p>
-
-<p>Der Stargoroder Propst Sawelij Tuberozow, der schon
-mehr als einmal die Aufmerksamkeit der Behörden durch
-seinen wilden und frechen Charakter und durch seine schlechte<span class="pagenum"><a id="Seite_257">[257]</a></span>
-Gesinnung auf sich gelenkt hat, wurde bereits mehrmals
-für sein unzulässiges Betragen gemaßregelt, ohne daß
-es auf ihn Eindruck gemacht zu haben scheint, denn er ist von
-revolutionären Tendenzen ganz durchdrungen.</p>
-
-<p>Ich wage es nicht zu entscheiden, wieweit er den Absichten
-der Regierung Schaden bringen könne, allein nach meiner
-Ansicht ist dieser Schaden unermeßlich groß. Der Propst Tuberozow
-genießt hohes Ansehen in der ganzen Stadt, und
-ist ein Mann von großem Verstande und von einer Kühnheit,
-die dank der jahrelangen Nachsicht seiner Vorgesetzten heute
-vor nichts mehr zurückschreckt. Alles, was ein Mensch wie
-er tut, sollte von Rechts wegen unter strengster Kontrolle
-stehen. Er jedoch redet was er will, ohne sich den geringsten
-Zwang anzutun, und genießt dabei noch das Vorrecht,
-öffentlich in der Kirche sprechen zu dürfen.</p>
-
-<p>Dieses geistliche, dem Volke so nahestehende Element scheint
-aber auch noch mit dem flachen Lande, d. h. mit dem grundbesitzenden
-Adel Fühlung zu suchen. So genießt dieser verdächtige
-Propst Tuberozow anscheinend die Gunst und den
-Schutz des Adelsmarschalls Tuganow, dessen Persönlichkeit
-und Anschauungen Ihnen ja wohlbekannt sind. Herr Tuganow,
-der hier an einer Abendgesellschaft im Hause des
-Polizeichefs teilnahm, meinte u. a.: ›man lasse die Sonne
-nicht auf die Erde scheinen‹ &ndash; wobei unter der ›Sonne‹
-zweifellos der Monarch zu verstehen ist, und unter der ›Erde‹
-das Volk. Wer aber sich vor die Sonne stellt, ist nicht schwer
-zu erraten. Ja, er hat es sogar selbst klar ausgesprochen,
-als er dann noch bemerkte, er sei ein Mann der Scholle, der
-Gouverneur dagegen nur ›ein Kalif für eine Stunde‹. Als
-ein hiesiger Lehrer, Prepotenskij, ein ganz dummer, aber
-politisch durchaus unbescholtener Mensch, ihm sagte, wir alle
-könnten nicht sagen, wie und von wem Rußland regiert<span class="pagenum"><a id="Seite_258">[258]</a></span>
-werde, antwortete er mit zynischer Frechheit: ›Ich halte mich
-in diesem Falle an die Worte des Grafen Panin aus der
-Zeit Katharinas, der zu sagen pflegte, Rußland werde durch
-die Gnade Gottes und die Dummheit des Volkes regiert.‹
-Auf all das habe ich die Ehre, Eure Exzellenz aufmerksam
-zu machen und halte es für meine Pflicht, vor Eurer Exzellenz
-die unschätzbaren Dienste des mich begleitenden Kanzleibeamten
-Ismail Petrowitsch Termosesow nachdrücklich zu
-betonen. Seiner feinen Beobachtungsgabe, sowie seiner
-Fähigkeit, in alle Schichten der Gesellschaft einzudringen, verdanke
-ich eine Menge wertvoller Informationen, und ich
-wage es, den Gedanken auszusprechen, daß, wenn die Obrigkeit
-diesem begabten Manne einen selbständigen Beobachtungsposten
-anvertrauen wollte, er dem Staate von unermeßlichem
-Nutzen sein könnte.«</p>
-
-<p>Dieses Blatt in der Tasche ging Termosesow seines Weges
-und fragte sich: »Wird diese Kanaille von Bornowolokow
-das wohl unterschreiben? Ach was, &ndash; wenn man ihn nur
-ordentlich drückt, unterschreibt er alles.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_259">[259]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_11">Elftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Termosesow gab seinen Brief auf und ging dann sofort
-zur Frau Postmeisterin. Die Begrüßung war sehr freundschaftlich.
-Er küßte ihre Hand, sie gab ihm einen Schmatz
-auf die Stirn und dankte ihm für die Ehre seines Besuchs.</p>
-
-<p>»O bitte, ich muß Ihnen danken,« erwiderte Termosesow.
-»Es war ja so entsetzlich langweilig. Ich konnte die ganze
-Nacht nicht schlafen, weil ich immer mit Angst und Grauen
-denken mußte: wo bin ich? unter was für Leuten?«</p>
-
-<p>»Ja, ich sagte schon gestern zu meinen Töchtern: Unser
-Petersburger Gast muß sich wohl köstlich amüsieren.«</p>
-
-<p>»Ach, gar zu schlimm wollen wir es auch nicht machen.
-Ich diene ja nicht um des Mammons willen, sondern um
-das Land kennen zu lernen.«</p>
-
-<p>»Dann finden Sie bei uns eine Unmenge Beobachtungsstoff.«</p>
-
-<p>»Ganz recht &ndash; Beobachtungsstoff! Aber da hab' ich Ihnen
-mit Ihrer Erlaubnis die Bilder mitgebracht, von denen wir
-gestern sprachen. Gestatten Sie mir, sie aufzuhängen.«</p>
-
-<p>Die Postmeisterin wußte gar nicht, wie sie ihm danken sollte.</p>
-
-<p>»Ich will mich mit Vergnügen dieser Arbeit unterziehen,
-bis Ihre Fräulein Töchter erscheinen … Ich darf doch
-hoffen, sie zu sehen?«</p>
-
-<p>Die Postmeisterin erwiderte, die Mädchen seien noch nicht
-angezogen, da sie in der Wirtschaft zu tun hätten, kämen
-aber trotzdem bald.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_260">[260]</a></span></p>
-
-<p>»Ach, ich bitte Sie darum, ich bitte sehr!« flehte Termosesow,
-und als die geschmeichelte Hausfrau das Zimmer verlassen
-hatte, begann er die Kaiserbildnisse an der Wand zu
-befestigen. Die Nägel dazu hatte er mitgebracht.</p>
-
-<p>Die Toilette der jungen Damen nahm fast eine Stunde
-in Anspruch, und in dieser ganzen Zeit ließ sich auch die Postmeisterin
-nicht sehen.</p>
-
-<p>»Das ist ein gutes Zeichen!« dachte Termosesow. »Gewiß
-studiert sie mein Opus.«</p>
-
-<p>Endlich erschienen die Töchter in Begleitung ihrer Mutter.
-Termosesow maß die Postmeisterin mit einem schnellen,
-durchdringenden Blick. Sie strahlte vor Wonne und Begeisterung.</p>
-
-<p>»Das Fischlein hat angebissen!« schloß er und verzehnfachte
-seine Liebenswürdigkeit. Um aber seiner Sache ganz
-sicher zu sein, fing er wieder von Literatur und von seinen
-Reiseskizzen an zu reden.</p>
-
-<p>»Porträts! Um Gottes willen mehr Porträts! Mehr
-Naturstudien!« bat die Postmeisterin.</p>
-
-<p>»Ja, eigentlich habe ich schon die ganze hiesige Gesellschaft
-porträtiert und &ndash; entschuldigen Sie &ndash; auch Ihrer und Ihrer
-Fräulein Töchter Erwähnung getan … Wissen Sie, so
-ganz flüchtig … Wenn ich meinen Brief zurückbekommen
-könnte, den ich eben aufgegeben habe&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ach nein, wozu denn?« rief die Postmeisterin errötend.</p>
-
-<p>»Angebissen, angebissen!« frohlockte Termosesow, und bestand
-darauf, den Damen vorzulesen, was er über sie geschrieben
-hatte. Eine Zeitlang hörte man im Zimmer nichts
-als: »Ach, wozu denn lesen, wir glauben Ihnen auch so!«
-und: »Ja, warum denn nicht lesen? Wodurch habe ich denn
-so großes Zutrauen verdient?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_261">[261]</a></span></p>
-
-<p>Termosesows Einwände wirkten zu verführerisch auf die
-Neugier der Mädchen. Bald erbot sich die eine, bald die
-andere, ins Bureau zum Vater zu laufen und den interessanten
-Brief des Gastes zu bringen.</p>
-
-<p>Vergebens suchte die Mutter sie durch Worte und Zeichen
-zurückzuhalten, die Mädchen verstanden sie nicht und gaben
-keine Ruhe. Termosesow dagegen hatte alles ausgezeichnet
-verstanden: der Brief befand sich in den Händen der Hausfrau,
-es galt jetzt nur noch, sie zur Rückgabe zu zwingen und sie
-dadurch selbst völlig in die Hände zu bekommen.</p>
-
-<p>Ohne viel Bedenken sprang Termosesow von seinem Platz
-auf und stürzte diensteifrig, der Zurufe der Damen, die ihn
-zurückhalten wollten, nicht achtend, nach dem Postbureau:
-er sei, rief er, selbst nicht mehr imstande, sich den Genuß zu
-versagen, den Damen die bescheidene Darstellung seiner tiefen
-Bewunderung für sie vorzutragen.</p>
-
-<p>Keine Bitten konnten ihn bewegen, von seinem Vorhaben
-abzustehen. &ndash; Aber auf dem Bureau war kein Brief zu
-finden.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_262">[262]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_12">Zwölftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Termosesow machte ein sehr verlegenes Gesicht, als er zu
-den Damen zurückkehrte. Ihre Verwirrung aber war noch
-viel größer. Die Mädchen sprangen auf und liefen hinaus,
-um ihre Tränen zu verbergen, die infolge der ihnen von der
-Mutter gehaltenen Pauke reichlich flossen. Die Postmeisterin
-selbst blieb als Opferlamm im Salon.</p>
-
-<p>Termosesow stellte sich schweigend vor sie hin und lächelte.</p>
-
-<p>»Ich sehe Sie an,« sagte die Dame geziert, »und schäme
-mich.«</p>
-
-<p>»Sie haben den Brief?«</p>
-
-<p>»Die Versuchung war zu groß. Hier ist er.«</p>
-
-<p>Termosesow nahm das versiegelte Kuvert aus ihrer Hand.</p>
-
-<p>»Ich schäme mich ganz entsetzlich … aber was soll ich
-machen … ich bin ein Weib&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ach, lassen Sie doch! Ein Weib! Um so besser, daß Sie
-ein Weib sind! Das Weib ist ein viel besserer Freund als
-der Mann und ich bin ein so vertrauensseliger Narr, daß
-ich wirklich warme aufrichtige Freundschaft … ich meine,
-weibliche Freundschaft sehr nötig habe! Jetzt habe ich mich
-an Herrn Bornowolokow angeschlossen … Wir sind schon
-lange Freunde und er ist auch jetzt mehr mein Freund als
-mein Vorgesetzter … wenigstens scheint es mir&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ja, ich sehe, ich sehe, Sie sind sehr treuherzig und vertrauensselig!«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_263">[263]</a></span></p>
-
-<p>»Ich bin einfach ein Narr in dieser Beziehung! Ein völliger
-Narr! Ein kleines Kind kann mich nasführen!«</p>
-
-<p>»Das ist aber nicht gut, gar nicht gut!«</p>
-
-<p>»Was kann ich gegen meine Natur? Jemand, der meine
-Freundschaft mit Bornowolokow genau beobachtet hatte,
-sagte mir einmal: ›Paß auf, Ismail Petrowitsch, du bist
-zu leichtgläubig! Baue nicht zu sehr auf diese hinterlistige
-Freundschaft! Bornowolokow zeigt hinter deinem Rücken
-ein ganz anderes Gesicht, als du zu sehen gewohnt bist!‹ …
-Aber ich kann nicht anders &ndash; ich muß ihm glauben!«</p>
-
-<p>»Warum tun Sie es?«</p>
-
-<p>»Gott, ich bin nun mal so! … Ja, wenn man mir Beweise
-vorlegte! Wenn ich hören könnte, wie er in meiner
-Abwesenheit von mir spricht! Wenn ich einen Brief von
-ihm sehen könnte! Den Freundesdienst würde ich mein
-Leben lang nicht vergessen!«</p>
-
-<p>Die Postmeisterin bedauerte, daß sie diesen hinterlistigen
-Bornowolokow nie zu Gesicht bekommen habe, und fragte,
-ob Termosesow vielleicht eine Photographie des Verräters
-besäße?</p>
-
-<p>»Leider nicht. Aber einen Brief von ihm. Hier, sehen Sie
-seine Handschrift.«</p>
-
-<p>Und er zeigte ihr einen Fetzen Papier von Bornowolokows
-Hand beschrieben. Beim Fortgehen ließ er ihn wie von ungefähr
-auf dem Tische liegen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_264">[264]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_13">Dreizehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Diese zweite Angel war noch glücklicher ausgeworfen als
-die erste. Gegen Abend, als Termosesow mit Bornowolokow
-und Biziukin beim Kaffee saß, kam ein Postbote mit dem
-Auftrage, Ismail Petrowitsch sofort zur Frau Postmeisterin
-zu bitten.</p>
-
-<p>»Ach richtig! Ich hatte versprochen, heute einen Ausflug
-mit ihr zu machen! Wie konnte ich das nur vergessen!«
-sagte Termosesow und entfernte sich mit dem Boten.</p>
-
-<p>Er traf die Postmeisterin im Salon allein. Sie drückte
-ihm die Hand, schloß die Tür und nahm schweigend einen
-Brief aus der Tasche, welchen sie ihm reichte.</p>
-
-<p>»Lesen Sie, es stört uns hier niemand.«</p>
-
-<p>Termosesow las den Brief, in dem sich Bornowolokow
-bei seiner Petersburger Kusine Nina bitter über sein Geschick
-beklagte, welches ihn in Moskau mit Termosesow zusammengeführt
-hatte. Er nannte ihn einen »ausgemachten Lumpen
-und Halunken« und bat die Kusine, »mit allen Mitteln und
-unter Heranziehung all ihrer ausgezeichneten Verbindungen
-darauf hinzuwirken, daß dieser gemeine Kerl eine gute Stelle
-in Polen oder in Petersburg erhalte, sonst könne er, weil er
-über alle alten Dummheiten unterrichtet sei, das entsetzlichste
-Unheil anstiften.«</p>
-
-<p>»Haben Sie Ihren Freund nun erkannt?« fragte die
-Postmeisterin.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_265">[265]</a></span></p>
-
-<p>»Das hätte ich nicht erwartet! Gott strafe mich, &ndash; das
-nicht!« sagte Termosesow, indem er seinen Kopf schüttelte
-und seufzte.</p>
-
-<p>»Behalten Sie den Brief und vernichten Sie ihn,« sagte
-die Postmeisterin.</p>
-
-<p>»Vernichten? Warum? Nein, ich vernichte ihn nicht!
-Mag er an seine Adresse gelangen, &ndash; aber eine Abschrift
-möchte ich haben. Gestatten Sie mir, sie zu nehmen.«</p>
-
-<p>Termosesow hatte sofort begriffen, daß der Brief für seine
-Ehre zwar wenig schmeichelhaft war, aber sehr vorteilhaft,
-weil man ihm angesichts seiner Gefährlichkeit ganz sicher
-eine sehr gute Anstellung verschaffen würde.</p>
-
-<p>Mit der Abschrift steckte er auch das Original zu sich
-und ging heim.</p>
-
-<p>Das Ehepaar Biziukin war bereits zu Bett gegangen,
-und Bornowolokow saß allein und schrieb.</p>
-
-<p>»Immer fleißig, Eure Durchlaucht? Schon wieder bei der
-Schreiberei?« sagte Termosesow heiter.</p>
-
-<p>Ein kurzes kaltes »Ja« war die Antwort.</p>
-
-<p>»Da wird wohl wieder irgendeine Gemeinheit verfaßt?«</p>
-
-<p>Bornowolokow fuhr zusammen.</p>
-
-<p>»Na also!« sagte Termosesow gelangweilt, schloß plötzlich
-die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.</p>
-
-<p>Bornowolokow sprang auf und versuchte schnell das Blatt,
-an dem er geschrieben hatte, zu zerreißen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_266">[266]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_14">Vierzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Gott, was Sie sich aufregen!« lachte Termosesow. »Ich
-schloß die Tür nur, um mich mit Ihnen gemütlich und ungestört
-unterhalten zu können, und Sie reißen gleich Ihr
-ganzes Geistesprodukt in Fetzen.«</p>
-
-<p>Bornowolokow setzte sich wieder.</p>
-
-<p>»Unterzeichnen Sie dieses Papier. Aber bitte schön &ndash;
-nicht zerreißen!«</p>
-
-<p>Damit legte Termosesow ihm jenes formlose Skriptum
-vor, in dem er Wahrheit und Dichtung über Tuberozow und
-Tuganow zusammengebraut und sich selbst so glänzend
-attestiert hatte.</p>
-
-<p>Bornowolokow las es ruhig von Anfang bis zu Ende.</p>
-
-<p>»Nun?« fragte Termosesow, als er sah, daß er mit dem
-Lesen fertig war, »wollen Sie unterschreiben oder nicht?«</p>
-
-<p>»Ich könnte Ihnen sagen, daß ich erstaunt bin, aber&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ich habe Ihnen das Staunen schon abgewöhnt! Das
-weiß ich sehr gut, und auch bei Ihnen wundere ich mich über
-nichts mehr!«</p>
-
-<p>Damit reichte er Bornowolokow die Abschrift des Briefes
-an die Kusine Nina und fügte hinzu:</p>
-
-<p>»Das Original habe ich auch.«</p>
-
-<p>»Sie haben es? Wie konnten Sie sich unterstehen?«</p>
-
-<p>»Wie konnten <em class="gesperrt">Sie</em> sich unterstehen? Und das nennt sich
-Freund und Bruder! Da will man gemeinschaftlich ganz<span class="pagenum"><a id="Seite_267">[267]</a></span>
-Rußland auf den Kopf stellen &ndash; und dann kommt so ein
-liebenswürdiges Attest! Nein, mein Lieber, das geht nicht. Da
-werden Sie mir ein ganz anderes Zeugnis ausstellen müssen.«</p>
-
-<p>Bornowolokow sprang auf und fing an im Zimmer hin
-und her zu laufen.</p>
-
-<p>»Nehmen Sie nur wieder Platz, das Rennen nützt Ihnen
-gar nichts,« meinte Termosesow. »Wir wollen uns doch
-friedlich auseinandersetzen. Sie wissen, wohin ich Sie mit
-diesem Brieflein, mit dem Hinweise darauf, daß Ihre werte
-Vergangenheit nicht so ganz sauber ist, expedieren kann?
-Da holt Sie kein Polack und keine Kusine heraus!«</p>
-
-<p>Bornowolokow schlug sich ungeduldig auf die Schenkel
-und rief:</p>
-
-<p>»Wie konnten Sie meinen Brief stehlen, wenn ich ihn selbst
-in den Kasten geworfen hatte?«</p>
-
-<p>»Raten Sie! Wie ich's fertig gekriegt habe, ist meine
-Sache, Ihnen aber sag' ich nun zum letztenmal: unterschreiben
-Sie! Auf das erste Blatt setzen Sie Ihren Vor- und Familiennamen,
-Amt und Rang, und auf dem zweiten bestätigen
-Sie die Richtigkeit der Abschrift und fügen dann
-noch zwei Worte hinzu, die ich Ihnen diktieren werde.«</p>
-
-<p>»Sie … Sie wollen mir diktieren?«</p>
-
-<p>»Allerdings. Ich diktiere, Sie schreiben und dann geben
-Sie mir tausend Rubel Reugeld.«</p>
-
-<p>»Reugeld?! Wofür?«</p>
-
-<p>»Dafür, daß Sie dann Ruhe vor mir haben.«</p>
-
-<p>»Ich habe nicht so viel.«</p>
-
-<p>»Mir genügt ein Schuldschein. Hundert bis hundertfünfzig
-in bar, das übrige hat Zeit … Aber lange mit Ihnen diskutieren
-tue ich nicht. Wollen Sie, so ist's recht; wollen Sie
-nicht, so ist mir's auch recht. In diesem Fall habe ich die
-Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_268">[268]</a></span></p>
-
-<p>»Ich will unterschreiben!« sagte Bornowolokow kurz.</p>
-
-<p>»Bitte&nbsp;…«</p>
-
-<p>Termosesow wischte die Feder an seinem Rockschoß ab,
-tauchte sie ein und reichte sie Bornowolokow.</p>
-
-<p>»Was soll ich schreiben?«</p>
-
-<p>Termosesow räusperte sich und diktierte:</p>
-
-<p>»Der Hundsfott Termosesow&nbsp;…«</p>
-
-<p>Bornowolokow stutzte und sah ihn mit weit aufgerissenen
-Augen an.</p>
-
-<p>»Wollen Sie wirklich, daß ich diese Worte schreibe?«</p>
-
-<p>»Selbstverständlich. Schreiben Sie nur: ›Der Hundsfott
-Termosesow‹.«</p>
-
-<p>»Danke ergebenst. Bitte, weiter.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_269">[269]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_15">Fünfzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Sekretär stand hinter dem Stuhle Bornowolokows
-und blickte über seine Schulter, während er weiterdiktierte:
-»Der Hundsfott Termosesow ist auf eine ebenso unbegreifliche
-wie geniale Weise in den Besitz meines eigenhändigen
-Briefes an Sie gelangt, in welchem ich so unvorsichtig war,
-alles das zu schreiben, was Sie auf diesem Blatte von der
-Hand eben dieses Halunken Termosesow geschrieben lesen.«</p>
-
-<p>»Schluß?«</p>
-
-<p>»Nein, noch etwas. Bitte, schreiben Sie: ›Wie er sich den
-Brief hat verschaffen können, den ich persönlich zur Post
-brachte, vermag ich nicht zu ergründen. Die Tatsache aber
-mag Ihnen ein Beweis für die Kühnheit und Gewandtheit
-dieses Lumpen sein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat,
-mir keine Ruhe zu lassen und mich so lange zu schikanieren,
-bis Sie ihm einen einträglichen Posten verschafft haben.
-Ich beschwöre Sie deshalb um unser beider Wohlergehen
-willen, für ihn selbst das Unmögliche möglich zu machen.
-Im anderen Falle droht er damit, alles aufzudecken, was
-wir in der Zeit unserer revolutionären Dummheiten begangen
-haben.‹«</p>
-
-<p>»Kann der letzte Satz nicht geändert werden?«</p>
-
-<p>»Nein. Ich bin wie Pilatus: was ich geschrieben habe,
-das habe ich geschrieben.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_270">[270]</a></span></p>
-
-<p>Bornowolokow schrieb das Bekenntnis seiner Schmach zu
-Ende und schob das Papier weg.</p>
-
-<p>»Nun haben Sie hier noch den Bericht über die Geistlichkeit
-und die gefährliche Stimmung in der Gesellschaft zu
-unterzeichnen.«</p>
-
-<p>Bornowolokow nahm die Feder wieder, las das Schriftstück
-noch einmal durch, überlegte und sagte:</p>
-
-<p>»Was haben diese Leute, Tuberozow und Tuganow,
-Ihnen eigentlich getan?«</p>
-
-<p>»Nicht das geringste.«</p>
-
-<p>»Vielleicht sind es ausgezeichnete Menschen.«</p>
-
-<p>»Sehr möglich.«</p>
-
-<p>»Warum verleumden Sie sie denn? Was hier steht, ist
-doch Verleumdung?«</p>
-
-<p>»Nicht durchweg, nur ein wenig.«</p>
-
-<p>»Ja, wozu dies alles?«</p>
-
-<p>»Was soll ich machen? Ich muß zeigen, was ich kann.
-Ihr Blaublütigen habt Onkel und Tanten, die sich für Euch
-bemühen, Parvenüs wie wir müssen alles selber machen.«</p>
-
-<p>Bornowolokow seufzte und unterschrieb.</p>
-
-<p>Termosesow steckte die Denunziation ein.</p>
-
-<p>»Jetzt wäre noch das Dritte zu erledigen,« fuhr er fort,
-»dann setze ich meinen Hut auf und sage Adieu. Hier ist ein
-Wechselformular. Es lautet auf achthundert Rubel. Zweihundert
-erbitte ich mir in bar.«</p>
-
-<p>Bornowolokow saß mit aufgestützten Armen da und betrachtete
-Termosesow schweigend.</p>
-
-<p>»Nun? Sie haben sich wohl in die Zunge gebissen?«</p>
-
-<p>»Nein, ich bewundere Sie bloß.«</p>
-
-<p>»Bitte sehr. Ich bin so, wie das Leben mich gemacht hat.
-Aber jetzt unterschreiben Sie den Wechsel und geben Sie mir
-das Geld.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_271">[271]</a></span></p>
-
-<p>»Wofür, Herr Termosesow, wofür?«</p>
-
-<p>»Wofür?! Für Ihre einstigen geheimen Vergnügungen
-in stillen Nächten im heiligen Moskau und im sündhaften
-Petersburg; für Ihre Unterhaltungen, Pläne, Schriftstücke,
-für alle die schönen Stunden, an die ich in meinen Taschen
-und in meinem Kopf genug Erinnerungen behalten habe,
-um Ihre ganze Karriere vernichten zu können.«</p>
-
-<p>Bornowolokow unterschrieb den Wechsel und warf das
-Geld hin.</p>
-
-<p>»Verbindlichsten Dank,« sagte Termosesow, indem er
-Wechsel und Geld einsteckte, »es freut mich sehr, daß es ohne
-Feilschen abgegangen ist.«</p>
-
-<p>»Was wäre dann geschehen?«</p>
-
-<p>»Dann hätte ich das Doppelte verlangt.«</p>
-
-<p>Nachdem er alle Dokumente beisammen hatte, suchte
-Termosesow seine Mütze. »Ich werde draußen im Wagen
-schlafen,« sagte er, »hier ist es zu schwül für zwei.«</p>
-
-<p>»Wollen Sie mir nicht erst meinen Brief wiedergeben?«</p>
-
-<p>»Fällt mir gar nicht ein. So war es nicht gemeint.«</p>
-
-<p>»Ja, wozu brauchen Sie ihn noch?«</p>
-
-<p>Termosesow lachte.</p>
-
-<p>»Wollen Sie noch Geld dafür haben?«</p>
-
-<p>»Nein, ich bin nicht habgierig, ich habe genug.«</p>
-
-<p>»Pfui, was sind Sie für ein&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Vieh, wollen Sie sagen? Bitte, bitte, genieren Sie sich
-nicht. Ich höre nicht hin und gehe schlafen.«</p>
-
-<p>»So beantworten Sie mir wenigstens noch nur eine
-Frage: wo sind die verschwundenen Brillanten der Biziukina?«</p>
-
-<p>»Woher soll ich das wissen?«</p>
-
-<p>»Sie … Sie waren doch irgendwo mit ihr … in einer
-Laube, &ndash; nicht wahr?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_272">[272]</a></span></p>
-
-<p>»Was ist denn dabei? Es waren auch noch andere Leute da:
-der Lehrer und der Diakon.«</p>
-
-<p>»Gewiß. Aber sagen Sie mir wenigstens, &ndash; sind diese
-Brillanten nicht irgendwo unter meine Sachen gesteckt?«</p>
-
-<p>»Wie kann ich das wissen?«</p>
-
-<p>»O Gott! Dieser Mensch macht mich wahnsinnig!« rief
-Bornowolokow in höchster Erregung.</p>
-
-<p>»Noch eins,« flüsterte Termosesow und drückte Bornowolokows
-Arm fest zusammen. »Daß Sie sich's nicht einfallen
-lassen, Ihren Kusinen vorzuflunkern … denn die
-Briefe wurden nicht nur von mir gelesen.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_273">[273]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_16">Sechzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die verschwundenen Brillanten der Biziukina, das Blachdnublach,
-die Niederlage Achillas und Prepotenskijs, die
-Liebelei mit Daria Nikolajewna und die Eroberung der Postmeisterin,
-endlich die Mattsetzung Bornowolokows, &ndash; alle
-diese Ereignisse, die sich in knapp vierundzwanzig Stunden
-abgespielt hatten, waren Termosesow selbst ein wenig zu
-Kopf gestiegen. Er fühlte ein unüberwindliches Verlangen
-nach Schlaf und streckte sich auf dem Heu des Wagens aus,
-wo er sofort einschlief und erst sehr spät am Morgen wieder
-erwachte. Die kühle Scheune, welche Termosesow zu seinem
-Schlafgemach gewählt hatte, blieb geschlossen und Ismail
-Petrowitsch rekelte sich noch lange nach dem Erwachen auf
-seinem Lager, kratzte sich die Fußsohlen und dachte nach.</p>
-
-<p>Seine Gedanken waren insofern bemerkenswert, als das
-Vergangene und Geschehene für sie absolut nicht vorhanden
-war; ebensowenig beschäftigten sie sich mit einer der neuen
-Personen, gegen die Termosesow mit so kühner Ungeniertheit
-vorgegangen war. So seltsam das auch klingen mag, &ndash;
-Termosesow besaß wirklich eine gewisse Harmlosigkeit, die
-sich mit einer maßlosen sittlichen Laxheit und Frechheit und
-einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen alle Menschen und
-ihr Urteil paarte. Er dachte nie daran, daß die Person, mit
-der er im Augenblick zu tun hatte, schon früher existiert hätte,
-ehe sie ihm in den Weg gekommen, und daß sie auch weiterhin<span class="pagenum"><a id="Seite_274">[274]</a></span>
-existieren wolle; daß sie infolgedessen auch ihr eigenes
-Verhältnis zur Vergangenheit und ihre eigenen Zukunftsaussichten
-habe. Ihm kam es so vor, als tauchten die Menschen
-vor ihm auf wie Wasserblasen oder Pilze, nur für den
-Moment, wo er sie zu Gesicht bekam, und darum glaubte er
-über sie völlig nach Belieben verfügen und sie ausbeuten zu
-dürfen, was er denn auch in der unverschämtesten Weise tat.
-Hatte er aber erreicht, was er wollte, so vergaß er den andern
-bald ganz und gar. In seiner zynischen Redeweise drückte er
-das ganz naiv aus: »Wenn ich jemanden gekränkt habe,
-bin ich später nie böse auf ihn.« Und so war es auch. Wenn
-jetzt plötzlich Achilla oder Prepotenskij zu ihm in die Scheune
-gekommen wären, so hätte er sie ganz freundschaftlich angeredet,
-ohne auch nur im geringsten an die gestrigen Ereignisse
-zu denken. Als er auf Bornowolokow, den er längst
-vergessen hatte, stieß, packte er ihn: »An dem bleib' ich hängen!«
-meinte er. Und blieb an ihm hängen. Als er die
-Biziukina traf, kam's ihm in den Sinn, ihr den Hof zu
-machen &ndash; und er machte ihr den Hof. Als er &ndash; der Teufel
-mag wissen, zu welchem Zweck &ndash; ihr seine höhere politische
-Weisheit beibrachte, kam ihm der Gedanke, sich ihre Brillanten
-anzueignen, und alsbald ward dieser Gedanke ausgeführt.
-Dabei wurden die Brillanten so schlau versteckt, daß,
-falls die Biziukins es zu einer Haussuchung hätten kommen
-lassen, sie sich natürlich nicht bei Termosesow, sondern bei
-Bornowolokow gefunden hätten, der diese Kostbarkeiten fast
-am eigenen Leibe trug: Termosesow hatte sie nämlich in
-das Futter seines Mantels eingenäht. Die Person des
-Propstes Tuberozow beschäftigte die Gedanken Termosesows
-überhaupt nicht; als die Biziukina über ihn zu klagen begann,
-versprach er leichtfertig, den Alten aus dem Wege zu
-räumen, &ndash; und dann erst kam ihm die Idee, Tuberozow<span class="pagenum"><a id="Seite_275">[275]</a></span>
-als Beweisobjekt für seine »Beobachtungsgabe« zu benutzen.
-Jetzt aber hätte keine Gewalt der Erde ihn mehr von dem
-hartnäckigen Streben nach Verwirklichung dieses Planes abbringen
-können.</p>
-
-<p>Hätte der alte Propst dies gewußt, er würde die ihm zugedachte
-Rolle als bitterste Kränkung empfunden haben.
-Allein er hatte keinerlei Ahnung von dem, was ihm bevorstand,
-und fuhr auf seinem Klapperwagen von Dorf zu Dorf,
-von Kirche zu Kirche, durchwanderte weite Waldstrecken zu
-Fuß, ruhte auf Wiesen und an Feldrainen und schöpfte neue
-Kraft aus der Berührung mit der Mutter Natur.</p>
-
-<p>In der Stadt aber war inzwischen, dank den unermüdlichen
-Bemühungen Termosesows, die Schlinge schon ausgelegt.
-Die Beschwerde des Kleinbürger Danilka war den
-Instanzenweg gegangen, eine Bagatelle war zu einer Angelegenheit
-geworden, die auf gesetzlichem Wege entschieden
-werden mußte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_276">[276]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_17">Siebzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die aufregenden Berichte vom Mißgeschick des Diakons
-Achilla und davon, daß man auch ihn, den Propst selbst, in
-diese nichtige Sache verwickelt hatte, trafen den Vater Sawelij
-in einem weit abgelegenen Kirchdorf, von dem er wenigstens
-zwei Tage zu reisen hatte, bis er die Stadt erreichte.</p>
-
-<p>Es war unerträglich heiß. Vom letzten Dorf, in dem
-Tuberozow übernachtet hatte, waren es noch etwa fünfzig
-Werst bis zur Stadt. Der Propst war ziemlich spät ausgefahren
-und hatte noch kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt,
-als die Hitze so groß wurde, daß Tuberozow seine
-armen, von Schweiß und Schaum triefenden braunen Pferdchen
-gar nicht mehr ansehen mochte. Er beschloß deshalb,
-noch einmal Halt zu machen, um die Tiere zu füttern und
-sie ausruhen zu lassen. Aber keine Herberge wollte er aufsuchen:
-er erinnerte sich eines wunderschönen Plätzchens am
-Waldrand, der sogenannten »Zaunkönigshöhe«, dorthin zog
-es ihn, um in der Kühle zu rasten.</p>
-
-<p>Von dem weiten flachen Abhang, der sich hier niedersenkt,
-erblickt man auf einer Entfernung von mehr als zwanzig
-Werst die goldenen Kuppeln der städtischen Kirchen, während
-der jahrhundertealte Wald sich im Rücken endlos hinzieht.
-Tiefe Stille und Ruhe herrschen hier.</p>
-
-<p>Von der Glut ermattet, hatte Tuberozow eben den Wagen
-verlassen, als ihn ein ungemein wohliges Gefühl übermannte.<span class="pagenum"><a id="Seite_277">[277]</a></span>
-Trotz der ringsum herrschenden Hitze strömte das
-dichte dunkelblaue junge Eichengehölz eine belebende Kühle
-aus. An den elastischen, wie in grünes Wachs getauchten
-Blättern der Jungeichen war kein Stäubchen zu entdecken.
-Überall warme, weiche, beruhigende Farben. Unter den
-bunten krausen Blättern des Farnkrautes guckt die leuchtendrote
-Wolfsbeere hervor. Von der Sonne vergoldet, reckt
-sich ein trockener Haselstrauch in die Luft, und auf dunkelbraunem
-Torfboden erheben sich ganze Pilzfamilien, zwischen
-denen rote Steinbeeren wie Korallen glänzen.</p>
-
-<p>Während Pawliukan, in Unterwäsche und Weste, die erhitzten
-Pferde ausspannte und umherführte, ging der Propst
-ein wenig im Walde spazieren. Er holte sich aus dem Wagen
-einen kleinen Teppich und trug ihn zu einer grünen Vertiefung,
-aus der lärmend und schäumend eine Quelle sprang.
-Hier wusch er sich mit dem frischen Wasser und streckte sich
-zur Ruhe auf dem Teppich aus. Das gleichmäßige Murmeln
-des Baches und die Kühle umwehten wohltuend das von
-der Hitze ganz benommene Haupt des Alten, und ohne es
-selbst zu merken, war er wider seinen Willen eingeschlafen.
-Der Schlaf war stärker, er warf ihn nieder und hielt ihn fest.
-Er wollte dem Pawliukan etwas sagen, aber der Schlaf
-hielt ihm mit weicher Hand den Mund zu.</p>
-
-<p>Der Traumgott hatte den Propst so in seiner Gewalt,
-daß Pawliukan ihn vergebens an den Schultern rüttelte,
-um ihn zum Essen einer vorzüglichen Grütze aus Buchweizen
-und frischen Pilzen aufzufordern. Tuberozow blinzelte nur
-mit den Augen: »Iß, mein Lieber, ich schlafe so süß,« &ndash;
-und lag alsbald in noch tieferem Schlummer.</p>
-
-<p>So verzehrte Pawliukan sein Mittagessen allein und folgte
-dann dem Beispiel seines Vorgesetzten. Auch die Pferde
-wurden still, ließen die Köpfe hängen und schlummerten ein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_278">[278]</a></span></p>
-
-<p>Ringsum schien alles in einem Zauberschlaf zu liegen.
-Eine so tiefe Stille herrschte, daß ein Hase, der aus der Waldestiefe
-hinausgesprungen kam und sich, leise mit dem Schnurrbart
-wackelnd, auf die Hinterbeine setzte, plötzlich ganz verlegen
-wurde und mit weit zurückgeworfenen Ohren eiligst
-wieder im Walde verschwand.</p>
-
-<p>Tuberozow ertappte sich beim Erwachen dabei, daß seine
-Lippen mit großer Anstrengung die Worte »guten Tag«
-herausbrachten &ndash; allem Anschein nach als Erwiderung auf
-einen Gruß.</p>
-
-<p>»Wen begrüße ich da? Wer war hier bei mir?« fragte er
-sich, den Schlaf abschüttelnd. Und es wollte ihn bedünken,
-als hätte soeben jemand neben ihm gestanden, kühl und still,
-in einem Gewande von der Farbe einer reifenden Pflaume …
-So deutlich empfand er alles, daß er sich schnell, auf den
-Ellbogen gestützt, aufrichtete, aber nur den schlafenden Pawliukan,
-seine braunen Pferde und den Wagen sah. Der langen
-Ruhe satt, suchte das Seitenpferd sich den Halfter vom Kopfe
-zu streifen. Es trat zur Seite, warf sich nieder, wälzte sich
-im Grase, stand wieder auf und reckte witternd den Hals.
-Tuberozow war noch immer im Halbschlaf. Das Pferd ging
-weiter, bückte sich nach dem dichten Grase am Waldrand und
-biß die Spitze eines jungen Eichbäumchens ab. Endlich kam
-es bis zu dem mit wildem Klee bewachsenen Grenzpfad und
-zog die warme Luft ein. Sawelij sah immer noch vor sich
-hin und konnte seinen Zustand nicht begreifen. Es war weder
-Schlaf noch Wachen. Die Feuchtigkeit seines Ruheplatzes
-schien ihn betäubt zu haben; ihm war, als wogten Dämpfe
-in seinem Kopf. Er rieb sich die Augen und blickte in die
-Höhe: droben im Blauen über seinem Kopfe schwebte ein
-Rabe. Oder war es ein Geier? Nein, es mußte ein Rabe
-sein. Er hielt sich fester und zog weitere Kreise … Jetzt kam es<span class="pagenum"><a id="Seite_279">[279]</a></span>
-von oben herab wie eine hingeworfene Handvoll Erbsen:
-ku&ndash;urlu. So schreit nur ein Rabe. Wonach mag er
-spähen? Was will er? Vielleicht ist er des Kreisens müde
-und möchte von dem Wasser unten trinken. Tuberozow
-kam eine Legende in den Sinn, die sich auf diese Quelle bezog.
-Sie sollte einen wunderbaren Ursprung haben. Das reine
-durchsichtige Becken der Quelle glich einer in die Erde gegrabenen
-Schale von Kristall, welche einem Blitzstrahl ihre
-Entstehung verdankte, der vom Himmel kam und tief in
-das Innere der Erde drang. Gerade an der Stelle, wo vor
-sehr, sehr langer Zeit ein vom Kampf ermatteter russischer
-Held hingesunken sein sollte, den eine gewaltige Übermacht
-der Ungläubigen von allen Seiten umzingelte. Rettung
-schien für den Ritter, der allein war, ganz unmöglich. Er
-flehte zum Heilande, daß er ihn vor schimpflicher Gefangennahme
-bewahre. In demselben Augenblick, so berichtet die
-Sage, zückte aus völlig klarem Himmel ein Blitzstrahl nieder
-und sprang wieder in die Höhe. Ein Donnerschlag folgte,
-so gewaltig, daß die Rosse der Tataren in die Knie sanken
-und ihre Reiter abwarfen. Als sie sich erhoben, war der
-Ritter verschwunden. An der Stelle aber, an welcher er sich
-eben noch befunden, stieg, schäumend und wie tausend Diamanten
-glitzernd, ein mächtiger Strahl kalten Quellwassers
-in die Höhe; in wildem Zorn peitschte er die Wände des
-Erdkessels und als silbernes Bächlein floß er weiter über
-die grüne Wiesenfläche.</p>
-
-<p>Ein Wunder dünkt diese Quelle allen und das Volk behauptet,
-ihrem Wasser sei eine Zauberkraft eigen, die selbst
-die Tiere und die Vögel kennen. Alle wissen das, allen ist
-es bekannt, denn alle fühlen hier die immerwährende geheimnisvolle
-Gegenwart des entrückten Glaubenskämpen.
-Hier tut der Glaube Wunder und darum ist alles hier so<span class="pagenum"><a id="Seite_280">[280]</a></span>
-mächtig und so stark, vom Gipfel der hundertjährigen Eiche
-bis zum Pilz, der sich zwischen ihren Wurzeln verbirgt. Sogar
-das scheinbar ganz Abgestorbene wird hier wieder lebendig:
-Da steht der dünne, vertrocknete Haselstrauch; er ist vom Blitz
-gestreift, aber auf der Rinde, dicht über der Wurzel, bemerkt
-man, wie mit grünem Wachs aufgestrichen, ein »Peterskreuz«,
-und von hier wird bald ein neues Leben ausgehen …
-Ja, die Gewitter sollen hier böse sein, heißt es.</p>
-
-<p>»Freilich, freilich, es gibt bekanntlich solche Gegenden mit
-außerordentlich starker elektrischer Spannung,« dachte Tuberozow,
-und es kam ihm vor, als bewegten sich die grauen
-Haare auf seinem Kopfe. Kaum war er aufgestanden, so erblickte
-er nur wenige Schritte entfernt ein kleines blaßgelbes
-Wölkchen, dessen Umrisse sich fortwährend veränderten, während
-es langsam den Grenzpfad entlang kroch, auf dem sich das
-freigekommene Pferd herumtrieb. Es schien direkt auf das
-Pferd loszusteuern. Aber als es bis zu ihm gekommen war,
-fing es plötzlich zu hüpfen an, wirbelte empor und zerflatterte,
-wie der Rauch aus einem Kanonenrohr. Das Pferd schnaufte
-wild und stürmte, kaum den Boden berührend, angsterfüllt
-vorwärts.</p>
-
-<p>Tuberozow sprang hastig auf, weckte Pawliukan, half
-ihm auf das andere Pferd klettern und schickte ihn dem
-Flüchtling nach, von dem schon jede Spur verschwunden
-war.</p>
-
-<p>»Beeil dich, hol es ein,« sagte Sawelij zum Subdiakon
-und warf einen Blick auf seine silberne Uhr: es war etwas
-über drei Uhr nachmittags.</p>
-
-<p>Der Alte setzte sich barhäuptig in den Schatten, gähnte
-und fuhr plötzlich zusammen, da er in der Ferne ein schweres
-Dröhnen vernommen zu haben glaubte.</p>
-
-<p>»Was ist das? Ein Gewitter?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_281">[281]</a></span></p>
-
-<p>Er stand wieder auf, ging an den Waldrand hinaus und
-sah, daß von Osten her wirklich eine dunkle Wolke heraufzog.
-Das Gewitter überraschte ihn ganz allein.</p>
-
-<p>Noch ein Schlag! Das Feld wogte heftiger und kalt
-wehte es darüber hin.</p>
-
-<p>An die schwarze Wolke, welche den Osten ganz bedeckte,
-rückten von unten her kleinere Wolkenballen heran, gleichsam
-von ihr heraufgezogen wie Kulissen. Ab und zu brach eine
-Flamme zwischen ihnen durch. So überschaut ein Zauberkünstler,
-der eine schauerliche Vorstellung geben will, mit der
-Laterne in der Hand, noch einmal die dunkle Bühne, bevor
-er alle Lichter anzündet und den Vorhang hochzieht. Die
-schwarze Wolke kroch weiter und je näher sie rückte, desto undurchdringlicher
-schien sie. Vielleicht läßt der liebe Gott sie
-vorüberziehen? Vielleicht entlädt sie sich irgendwo weiter
-draußen? Doch nein! Schon zuckt über ihren oberen Rand
-leise ein feuriger Streif und Blitze flimmern und flackern
-plötzlich leuchtend durch die ganze finstere Masse. Die Sonne
-ist nicht mehr zu sehen: Wolken haben ihre Scheibe bedeckt,
-ihre langen, degenartigen Strahlen zucken noch einmal hell
-auf, um dann auch zu verschwinden. Ein Wirbelwind erhebt
-sich pfeifend und dröhnend. Wie Fahnen flattern die Wolken.
-Über das reifende Roggenfeld laufen weiße Flecken wild hin
-und her. Einer scheint unmittelbar vom Himmel herabzufallen,
-ein anderer setzt sich dick und breit hin. Plötzlich laufen
-beide auf einander los, fließen in eins zusammen und verschwinden.
-Am Feldrain schüttelt der Wind die Ähren so
-seltsam, daß man meinen könnte, es wäre nicht der Wind,
-sondern ein lebendes Wesen hätte sich am Boden versteckt
-und treibe wütend seinen Unfug. Der Wald ist voll Lärm.
-Eine Zickzacklinie flammt über dem Walde auf; eine andere
-zuckt hoch über den Wipfeln, und dann wird es still … ganz<span class="pagenum"><a id="Seite_282">[282]</a></span>
-still! … Kein Blitz, kein Wind: alles ist wie gebannt. Das
-ist die Stille vor dem Sturm: alles, was noch nicht Zeit gehabt
-hat, sich vor dem Unwetter zu verstecken, sucht diesen
-letzten stillen Augenblick noch auszunutzen: ein paar Bienen
-fliegen an Tuberozow vorüber, es ist, als flögen sie nicht,
-sondern als würden sie von einem Windstoß fortgerissen.
-Aus dem dunklen Gesträuch, das jetzt ganz schwarz erscheint,
-hüpfen ein paar erschrockene Hasen heraus und legen sich in
-eine Furche. Über das Gras, das bei der Beleuchtung grau
-wie Asphalt aussieht, rollt ein silberner Knäuel und verschwindet
-unter der Erde. Es war ein Igel. Alles verbirgt
-sich, so gut es kann. Da als letzter stürzt sich auch der Rabe,
-welcher vorhin so hoch schwebte, die Flügel hart an den
-Rücken gedrückt, hinab auf den Wipfel eines hohen Eichbaums,
-wo man ihn jetzt schwerfällig rascheln hört.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_283">[283]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_18">Achtzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Tuberozow war nicht furchtsam, aber sehr nervös, und
-solche Menschen werden bei starken elektrischen Entladungen
-von einer unwillkürlichen und unbezwinglichen Unruhe befallen.
-Diese Unruhe verspürte auch er, als er sich umschaute
-und überlegte, wo er wohl am besten vor dem Gewitter,
-dessen Ausbruch unmittelbar bevorstand, geschützt wäre.</p>
-
-<p>Seine erste Bewegung war, nach seinem Wagen zu laufen,
-einzusteigen und sich zuzudecken; aber kaum hatte er hier
-Platz genommen, so begann es im Walde zu knarren und zu
-krachen, und der Wagen wurde hin und her geschüttelt, wie
-eine Kinderwiege. Auf diesen Unterschlupf war also kein
-Verlaß: der Wagen konnte sehr leicht umgeworfen werden
-und ihn erdrücken.</p>
-
-<p>Tuberozow sprang wieder hinaus und lief ins Kornfeld.
-Der Wirbelwind packte ihn bald von vorn, bald von der
-Seite, zwang ihn, stehen zu bleiben, riß ihn an den Schößen
-zurück, pfiff, trompetete, winselte und brüllte ihm in die
-Ohren.</p>
-
-<p>Tuberozow lief wieder zur Quelle. Aber in dem Kristallbecken
-herrschte eine noch größere Unruhe: das Wasser brauste
-und kochte, und durch die Kreise, die es bildete, schien ein in
-der Tiefe verborgenes Wesen sich emporarbeiten zu wollen.
-Plötzlich flammte es über der dunkeln, bleiernen Wassermasse
-blutigrot auf. Es war ein Blitzschlag, aber was für ein seltsamer<span class="pagenum"><a id="Seite_284">[284]</a></span>
-Schlag! Wie ein Pfeil fuhr er, in zweimaligem Zickzack
-gebrochen, von oben herab, spiegelte sich im Wasser wider
-und wirbelte im selben Augenblick, ebenso gezackt, wieder
-zum Himmel empor, als hätten Himmel und Erde einen
-feurigen Gruß getauscht. Ein knatternder Schlag folgte, als
-stürzten sämtliche Dachplatten von einem Hause herab, und
-eine gewaltige Wolke von Wasserstaub und Schaum sprudelte
-springbrunnenartig aus der Quelle empor.</p>
-
-<p>Tuberozow legte die Hände vor das Gesicht, sank auf ein
-Knie und befahl Seele und Leben dem Allmächtigen. Jetzt
-brach auf den Feldern und im Walde eine jener Gewitterkanonaden
-los, welche dem Menschen seine völlige Hilflosigkeit
-gegenüber den Naturgewalten so besonders klar vor
-Augen führen. Blitze flammten auf. Krachend folgte Schlag
-auf Schlag. Mit einem Male sah Tuberozow, wie auf den
-dunklen Eichenstamm vor ihm gleich einer trüben Lampe
-schimmernd eine Kugel zuschwebte. Mitten im Gezweig des
-Baumes leuchtete der Funke plötzlich in blendendem Lichte
-auf, wuchs zu einem großen Klumpen und zerstob. Ein
-furchtbares Getöse erschütterte die Luft, dem alten Manne
-ging der Atem aus, um seine Finger und Zehen drehten sich
-glühende Ringe, der Körper reckte sich krampfhaft empor,
-knickte zusammen und fiel hin&nbsp;…</p>
-
-<p>Ein Bewußtsein erfüllte ihn noch: daß alles zusammenbrach.
-Daß das Ende nahe! Weiter konnte er nichts denken …
-Als er zu sich kam, wußte er nicht, wieviel Zeit seit dem Augenblick
-vergangen war, da der Schlag ihn getroffen, und wie
-lange er bewußtlos gelegen hatte. Er hörte nur noch ein
-letztes, dumpfes, langsames Rollen weit droben, &ndash; dann
-trat völlige Ruhe ein. Das Wetter zog ab. Sawelij hob
-den Kopf, blickte um sich und bemerkte in seiner nächsten Nähe
-auf dem Boden etwas Riesiges, Unförmiges. Es war ein<span class="pagenum"><a id="Seite_285">[285]</a></span>
-Haufen Zweige, der Wipfel des gewaltigen Eichbaums. Wie
-mit einem Messer war der Baum dicht über der Wurzel abgeschnitten
-und lag auf der Erde. Aus seinem Gezweig, das
-sich mit den Kornähren des Feldes mischte, erklang das
-widerliche Kreischen des Raben, der mit dem Baum gestürzt
-war. Ein schwerer Ast hatte ihn an die Erde gedrückt,
-und nun riß er seinen purpurroten Rachen weit auf,
-zuckte in Krämpfen und schrie verzweifelt.</p>
-
-<p>Angewidert durch dies Schauspiel sprang Tuberozow mit
-einer Geschwindigkeit und Leichtigkeit zur Seite, als wäre er
-nicht siebzig Jahre alt, sondern siebzehn.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_286">[286]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_19">Neunzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Das Gewitter hatte sich ebenso schnell verzogen, wie es gekommen
-war. An Stelle der schwarzen Wolke hob sich vom
-blauen Grunde ein rosiger Streifen ab. Auf dem nassen
-Hafersack, der auf dem Bock des Wagens lag, saßen schon
-fröhlich zwitschernde Spatzen und zogen frech nasse Körner
-durch die Löcher der feuchten Leinewand. Der Wald wurde
-wieder lebendig. Irgendwoher kam ein leises, einschmeichelndes
-Pfeifen, und auf den Rain ließ sich laut girrend ein
-Taubenpärchen herab. Das Weibchen streckte seinen Flügel
-über dem Boden aus, strich ihn mit seinem roten Pfötchen
-und richtete ihn segelartig empor, um sich vor dem Freunde
-zu verbergen. Der Tauber blies den Kropf auf, machte eine
-tiefe Verbeugung und sagte gefühlvoll: »Nur du!« Auf
-diese Begrüßung folgten Küsse, und fieberhaft bebten die
-Flügel im dichten Gewirr der Wermutstauden. Das Leben
-nahm wieder seinen Lauf. Pferdegetrappel ertönte in nächster
-Nähe: Pawliukan kam zurück. Er ritt auf dem einen Pferde
-und führte das andere am Zügel.</p>
-
-<p>»Nun, lebt Ihr noch, Vater!« rief er lustig, auf den Wagen
-zureitend und absteigend. »Ich eilte, was ich konnte, daß
-Ihr nicht allein vom Unwetter überrascht würdet, aber wie
-der Donner plötzlich so dreinfuhr, da bin ich, müßt Ihr wissen,
-vom Pferde runter einfach platt auf den Boden gefallen …
-Und hier hat's ja den Eichbaum abgeschnitten!«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_287">[287]</a></span></p>
-
-<p>»Ja, mein Freund, das hat es. Aber laß uns nun anspannen
-und fahren.«</p>
-
-<p>»Gott, muß das eine Gewalt gewesen sein!«</p>
-
-<p>»Ja, Freund, aber fahren wir.«</p>
-
-<p>»Es weht jetzt so ein frischer Wind, da wird sich's herrlich
-fahren.«</p>
-
-<p>»Ja, herrlich, aber spann nur schnell an.«</p>
-
-<p>Und Tuberozow machte sich in seiner Ungeduld selbst an
-die Arbeit.</p>
-
-<p>In wenigen Minuten waren die im Regen gebadeten
-Pferde angespannt, und der Wagen des Propstes sauste dahin,
-fröhlich in den zahllosen Lachen des furchenreichen Landweges
-plätschernd.</p>
-
-<p>Die Luft war wunderbar frisch und rein. Ein warmes
-Licht lag über der Landschaft. Leichter Dampf stieg von den
-Feldern auf. Es roch nach feuchten Haselzweigen. Tuberozow
-fühlte sich in seinem Wägelchen so wohl wie seit langem nicht.
-Er zog immer wieder tief Atem und freute sich, daß er es
-so leicht konnte. Er kam sich vor wie ein Adler, dem neue
-Flügel gewachsen waren.</p>
-
-<p>Vor der Stadt begrüßte ihn helles Glockengeläute, das
-die Andächtigen zum Vespergottesdienste rief.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_288">[288]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_20">Zwanzigstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Wagen Tuberozows rollte in den Hof.</p>
-
-<p>»Ach Gott, Vater Sawelij, wie hab' ich mich um dich gebangt!«
-schrie Natalia Nikolajewna und stürzte ihrem Gatten
-entgegen. »Das furchtbare Gewitter, &ndash; und du warst ganz
-allein, mein Herz!«</p>
-
-<p>»Ja, Liebste, ich war nur einen Schritt vom Tode entfernt.«</p>
-
-<p>Und der Propst erzählte seiner Frau alles, was er an der
-Quelle erlebt hatte, und fügte hinzu, daß er von nun an
-gleichsam ein zweites Leben lebe, nicht mehr sein eigenes,
-sondern das eines andern. Es sei ihm dies eine Lehre und
-zugleich ein Vorwurf, nie an die Vergänglichkeit und Nichtigkeit
-seines kurzen Lebens gedacht zu haben.</p>
-
-<p>Natalia Nikolajewna zwinkerte nur mit den Äuglein und
-sagte seufzend:</p>
-
-<p>»Willst du jetzt nicht etwas essen?« &ndash; Und als der Gatte
-daraufhin nur verneinend den Kopf schüttelte, fragte sie, ob
-er Durst habe.</p>
-
-<p>»Durst?« wiederholte Sawelij. »Ja, ich dürste.«</p>
-
-<p>»Willst du Tee?«</p>
-
-<p>Der Propst lächelte, küßte seine Frau auf den Scheitel
-und sagte:</p>
-
-<p>»Nein, mich dürstet nach Wahrheit.«</p>
-
-<p>»Ei was! Dank sei deinem Gotte! Alles, was du tust, ist gut.«</p>
-
-<p>»Schon recht, schon recht, &ndash; aber jetzt will ich mich waschen. Und
-du erzählst mir indes, was sie hier mit dem Diakon anstellen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_289">[289]</a></span></p>
-
-<p>Und der Propst trat vor das glänzende kupferne Waschgerät
-und wusch sich, und Natalia Nikolajewna berichtete ihm
-alles, was sie von Achilla wußte, und zog daraus den Schluß,
-es werde damit nichts anderes bezweckt, als ihm, ihrem
-Manne, etwas Böses anzutun.</p>
-
-<p>Der Propst schwieg. Als er seine Toilette beendet hatte,
-nahm er Hut und Stab und begab sich zur Kirche, wo der
-Vespergottesdienst bereits begonnen hatte.</p>
-
-<p>Fünf Minuten später stand er im Altarraum seitwärts
-vom Opfertisch am Fenster und schrieb etwas auf ein Blatt
-Papier, welches er gegen das schräge, von der untergehenden
-Sonne hell beleuchtete Fensterbrett stützte. Was mag er da
-schreiben? Wir können es über seine Hand hinweg ganz gut
-lesen. Folgendes stand auf dem an den Polizeichef Porochontzew
-adressierten Blatte: »Da ich die Absicht habe,
-morgen anläßlich des hohen Festtages eine feierliche Messe
-in der Domkirche abzuhalten, so erachte ich es für meine
-Pflicht, Euer Hochwohlgeboren davon in Kenntnis zu setzen,
-und knüpfe daran die ergebenste Bitte, heute noch rechtzeitig
-allen Beamten davon schriftlich, gegen Empfangsbestätigung,
-Mitteilung zu machen, damit dieselben in der Kirche erscheinen
-können. Insonderheit bitte ich dieses denjenigen
-Herren Beamten zu empfehlen, die am meisten dazu neigen,
-diese ihre Pflicht zu vernachlässigen, denn ich bin entschlossen,
-über das schlechte Beispiel, das sie damit geben, der Obrigkeit
-unverzüglich Bericht zu erstatten. Den Empfang dieses
-Schreibens bitte ich Euer Hochwohlgeboren mir gütigst bestätigen
-zu wollen.«</p>
-
-<p>Der Propst ließ sich das Botenbuch bringen, setzte eine
-Nummer auf sein Schreiben, trug es eigenhändig ins Buch
-ein und schickte den Glöckner damit zu Porochontzew.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_290">[290]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_21">Einundzwanzigstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Nacht, welche diesem Abend im Hause Sawelijs folgte,
-erinnert uns an jene, da wir den Alten über seinem Tagebuche
-sahen: er war ebenso allein in seiner Stube, ging ebenso
-auf und ab, setzte sich ebenso hin, schrieb und sann nach, &ndash;
-aber sein Buch lag diesmal nicht vor ihm. Auf dem Tisch,
-an den er immer wieder herantrat, lag ein kleines doppelt
-gefaltetes Blättchen, und auf dieses Blättchen setzte er in
-winziger, aber doch deutlich lesbarer Schrift folgende fragmentarische
-Notizen:</p>
-
-<p>»Gott, gib Dein Gericht dem Könige und Deine Gerechtigkeit
-des Königs Sohne.«</p>
-
-<p>»Übliche Einleitung: meine gestrige Lage während des
-Gewitters. Der Rabe: wie er sich vor dem Unwetter in der
-mächtigen Eiche verbergen wollte und den Tod dort fand,
-wo er Rettung gesucht hatte.</p>
-
-<p>Wie lehrreich mir das Beispiel dieses Raben scheint. Ist
-das Heil dort, wo wir es wähnen, die Not dort, wo wir sie
-fürchten?</p>
-
-<p>Unser maßloses Grübeln, das die Vernunft zu seinem
-Sklaven macht. Die Gelehrsamkeit, welche die Möglichkeit
-einer Erkenntnis des bisher Unfaßbaren leugnet.</p>
-
-<p>Die Unvollkommenheit und die Unsicherheit unseres Wissens
-von der Seele. Das mangelnde Verständnis für die
-Natur des Menschen und die daraus folgende leidenschaftslose<span class="pagenum"><a id="Seite_291">[291]</a></span>
-Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse und die falsche Beurteilung
-menschlicher Handlungen: Rechtfertigung des nicht
-zu Rechtfertigenden und Verurteilung des Lobenswerten.
-Verdient Moses, der den Ägypter schlug, vom verkehrten
-Standpunkt gewisser Liberaler, die das heiße Vaterlandsgefühl
-verwerfen, nicht Tadel? Verdient Judas der Verräter
-vom Standpunkt der ›blind im Gesetz Ruhenden‹ nicht
-Lob, da er doch ›das Gesetz eingehalten‹, als er seinen Meister
-verriet, den die Machthaber verfolgten? (Innozenz von Cherson
-und seine Auslegung.) Auch unsere Tage sind reich an
-Verführung: Vorwürfe gegen jene, die den Listen der heimlichen
-Feinde des Staates nicht gleichgültig gegenüberstehen
-können. Der große Verlust der Sorge um das Heil des
-Vaterlandes und als letztes Beispiel die Nachlässigkeit in der
-Erfüllung der Gebetspflichten an den großen Festtagen des
-Volkes, die zur bloßen Formalität geworden sind.</p>
-
-<p>Auslegung der Worte: ›Gott, gib Dein Gericht dem
-Könige‹ in dem Sinne, ›daß wir ein geruhig und stilles Leben
-führen mögen‹ (St. Paulus). Welchen Wert hat ein solches
-Leben? Beispiel: Rehabeam nach Salomo, umringt von
-Freunden und Gespielen, die vor sein Antlitz treten und ihm
-arglistig vorstellen, daß die Last des Volkes erleichtern eine
-Erniedrigung seiner eigenen königlichen Würde bedeute, &ndash;
-und wie er infolge ihres Rates die Not Israels vergrößerte.</p>
-
-<p>›Mein Vater hatte ein schweres Joch auf euch gelegt; ich
-aber will zu eurer Last noch zulegen‹ (1. Kön. 11, 12). Das
-Unglück, das dadurch entstand und die Teilung des Reiches.</p>
-
-<p>Hieraus geht klar hervor, daß wir wünschen und beten
-müssen, daß das Herz des Herrschers sich in niemandes Händen
-befinde, es sei denn in den Händen Gottes.</p>
-
-<p>Wir aber achten in unserer Sündhaftigkeit dieser Sorge
-nicht, und wenn ich an einem solchen Tage das Gotteshaus<span class="pagenum"><a id="Seite_292">[292]</a></span>
-nicht leer sehe, so weiß ich erst gar nicht, wie ich das deuten
-soll! Ich suche nach Gründen und sehe, daß sich dieses einzig
-durch die Angst vor meiner Drohung erklären läßt, und
-daraus schließe ich, daß alle diese Beter ungetreue und faule
-Knechte sind, und daß ihr Gebet kein Gebet ist, sondern ein
-Schacher, ein Schacher im Tempel, angesichts dessen unser
-Herr und Heiland Jesus Christus nicht nur in seinem göttlichen
-Geiste ergrimmte, sondern auch eine Geißel nahm und
-sie aus dem Tempel vertrieb.</p>
-
-<p>Seinem göttlichen Beispiele folgend, tadle und verurteile
-ich diesen Gewissensschacher, den ich im Gotteshause vor mir
-sehe. Der Kirche ist das Gebet solcher Mietlinge ein Greuel.
-Vielleicht sollte auch ich eine Geißel ergreifen und die Krämer
-hinaustreiben, die sich heut in diesem Tempel breit machen,
-auf daß kein treues Herz Ärgernis nehme an ihrer Arglist …
-Doch mag mein Wort ihnen als Geißel dienen. Mag
-lieber das Gotteshaus leer stehen, mich soll das nicht irren:
-ich will auf meinem Haupte den Leib und das Blut meines
-Herrn in die Wüste tragen und vor den wilden Steinen im
-Meßgewande singen: ›Gott, gib Dein Gericht dem Könige
-und Deine Gerechtigkeit des Königs Sohne,‹ &ndash; auf daß
-Rußland in Ewigkeit erhalten bleibe, dem Du wohlgetan
-zu allen Zeiten!</p>
-
-<p>Schlußwort: Laß, o Herr und Schöpfer, unser Land nicht
-zum Gespötte der Fremden werden, um der Arglist seiner
-gewissenlosen und ungetreuen Diener willen!«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_293">[293]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_22">Zweiundzwanzigstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Das war der Entwurf zu einer Predigt, die Sawelij am
-folgenden Tage zu halten beabsichtigte und auch wirklich vor
-der versammelten Beamtenschaft hielt, &ndash; um damit nicht
-nur seiner Tätigkeit als Prediger, sondern auch seiner ganzen
-Amtstätigkeit ein jähes Ende zu bereiten.</p>
-
-<p>Die Intelligenz von Stargorod war der Meinung, es sei
-keine Predigt, sondern ein Aufruf zur Revolution, und wenn
-der Propst weiterhin so reden würde, werde sich bald kein Beamter
-auch nur auf der Straße zeigen dürfen. Sogar die
-besten Freunde Sawelijs warfen ihm unvorsichtige Aufhetzung
-der Leidenschaften des Pöbels vor. Eine Ausnahme
-machten nur die beiden Fremden: Bornowolokow und Termosesow.
-Sie hatten die Predigt ebenfalls angehört, aber
-nichts dazu gesagt und keinerlei Verstimmung gezeigt. Im
-Gegenteil, als sie aus der Kirche kamen, war Termosesow
-mit gefalteten Händen auf Bornowolokow zugegangen und
-hatte mit freudestrahlendem Gesicht gesagt: »Herr, nun
-lässest du deinen Diener in Frieden fahren.«</p>
-
-<p>»Was soll das heißen?« fragte der Vorgesetzte.</p>
-
-<p>»Das soll heißen, daß ich Sie verlasse. Leben Sie wohl
-und lassen Sie sich's gut gehen, aber erweisen Sie mir noch
-einen letzten Liebesdienst: melden Sie der Obrigkeit, der
-Pope, über den Sie schon einmal berichteten, hätte heute,
-aller Ehrfurcht bar, die einem so hohen Festtage geziemte,<span class="pagenum"><a id="Seite_294">[294]</a></span>
-eine äußerst empörende Rede gehalten, über welche der von
-Ihnen eigens dazu abdelegierte Sekretär Termosesow die
-Ehre haben werde, persönlich eingehend Bericht zu erstatten.«</p>
-
-<p>»Hol Sie der Teufel! Schreiben Sie's auf, ich will's
-unterzeichnen.«</p>
-
-<p>Die Freunde wollten sich eben voneinander verabschieden,
-als der Kleinbürger Danilka, bleich und entsetzt, von Wasser
-triefend, in zerfetztem Hemde hineingestürzt kam, Bornowolokow
-zu Füßen fiel und jammerte:</p>
-
-<p>»Gnädiger Herr, schicken Sie mich fort, soweit Sie wollen,
-&ndash; aber hier kann ich nicht bleiben! Sie stehen alle am Ufer
-und jeder will mir in die Fresse fahren!«</p>
-
-<p>Und Danilka erzählte, man hätte schon gedroht, ihn totzuschlagen,
-weil er sich über den Propst beschwert hätte, &ndash;
-und zum Beweis zeigte er sein nasses und zerrissenes Gewand;
-das Volk hätte ihn eben von der Brücke in den Fluß geworfen.</p>
-
-<p>»Famos! Aufruhr und Empörung!« rief Termosesow
-freudig und setzte, mitten im Zimmer stehend, seine Mütze
-auf. »Sehn Sie, so macht man's!« fügte er zu Bornowolokow
-gewandt hinzu.</p>
-
-<p>Und dann reiste er ab. Unmittelbar darauf verließ auch
-Bornowolokow die Stadt in entgegengesetzter Richtung, um
-anderweitig für Ordnung und Gesetzlichkeit zu wirken.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_295">[295]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap3_23">Dreiundzwanzigstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Schon fing man in Stargorod an, Tuberozows Predigt
-zu vergessen, als gegen Abend des dritten Tages ein Postkarren
-zwei eigentümliche Gäste in die Stadt brachte: einen
-langen hageren Polizeiwachtmeister und einen dicken Konsistorialbeamten,
-rund und schwammig, wie ein Bauernpfannkuchen,
-mit einem winzigen Knöpfchen als Nase.</p>
-
-<p>Es waren die Sendboten, die nach Sawelijs Seele kamen:
-Unter ihrer Obhut sollte der Propst in die Gouvernementsstadt
-gebracht werden. In einer halben Stunde wußte es
-die ganze Stadt. Vor dem Hause Tuberozows stand bald
-eine große Menschenmenge, und nach einer Stunde ging die
-Tür des Hauses auf, aus der Vater Sawelij völlig reisefertig
-heraustrat. Natalia Nikolajewna ging neben ihm, ihr
-Taubenköpfchen an seinen Ellbogen drückend.</p>
-
-<p>Sie hatten sich gegenseitig zu beruhigen gewußt und jetzt
-offenbarte auch nicht eine Träne ihre etwaige Schwäche.</p>
-
-<p>Das Volk, das auf den Propst gewartet hatte, drängte
-lärmend vorwärts. Tuberozow nahm den Hut ab und verneigte
-sich tief nach allen Seiten.</p>
-
-<p>Der Lärm verstummte; vielen traten die Tränen in die
-Augen und alle bekreuzigten sich.</p>
-
-<p>Der mit drei Pferden bespannte Postwagen, welcher bisher,
-auf Befehl des zartfühlenden Polizeichefs, hinter dem
-Hause verborgen gestanden hatte, fuhr vor.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_296">[296]</a></span></p>
-
-<p>Der Propst setzte den Fuß auf den Tritt und faßte mit der
-Hand die Lehne des Wagensitzes. In diesem Augenblick
-griff ihn der Wachtmeister unter den Ellbogen und der
-Konsistorialbeamte zog ihn an der andern Hand empor …
-Von Ekel erfaßt fuhr der Alte zusammen. Sein Kopf begann
-heftig zu wackeln wie der einer Puppe, die eine Drahtfeder
-im Halse hat.</p>
-
-<p>Natalia Nikolajewna trat neben ihren Mann, faßte seine
-Hand und flüsterte: »Schone dein Leben, Liebster!«</p>
-
-<p>Tuberozow sah sie an und erwiderte:</p>
-
-<p>»Sei unbesorgt. Das Leben ist schon zu Ende. Jetzt beginnt
-das Erdenwallen.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_297">[297]</a></span></p>
-
-<h2 id="Viertes_Buch">Viertes Buch.</h2>
-
-<h3 id="kap4_1">Erstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Das Leben ist zu Ende, das Erdenwallen beginnt,« hatte
-Tuberozow im letzten Augenblick vor seiner Abreise gesagt.
-Dann war das Dreigespann den Berg hinaufgesaust und
-hatte ihn den Blicken der Seinigen entzogen.</p>
-
-<p>Die Leute, die ihm das Geleit gegeben, blieben noch eine
-Zeitlang, bis endlich ein jeder seines Weges ging. Die Nacht
-brach herein, alle Pforten und Pförtchen wurden verschlossen
-und verriegelt und der Mond konnte aus seiner blauen Höhe
-auf dem vereinsamten Pfarrhofe nur noch die ebenfalls vereinsamte
-Natalia Nikolajewna erblicken.</p>
-
-<p>Sie beeilte sich nicht, ins Haus zurückzugehen, sondern
-saß weinend auf der Veranda, von der ihr Mann vor kurzem
-heruntergestiegen war. Schluchzend drückte sie ihren kleinen
-Kopf gegen das Geländer, &ndash; ach, sie hatte keinen Freund,
-keinen Tröster! Doch nein! Ein Freund war da, ein treuer,
-zuverlässiger Freund&nbsp;…</p>
-
-<p>Plötzlich wurde das Pförtchen weit aufgerissen und vor
-die weinende Alte trat der Diakon Achilla. Er war barhäuptig,
-in einem kurzen dicken Leibrock und weiten Hosen
-und mit mehreren Säcken beladen. Hinter sich zog er zwei<span class="pagenum"><a id="Seite_298">[298]</a></span>
-Pferde, deren jedes ein großes schweres Bündel auf dem
-Rücken trug. Natalia Nikolajewna sah schweigend zu, wie
-Achilla die Pferde in den Hof führte, sie von ihrer Last befreite,
-und wieder zum Pförtchen ging, das er mit der Energie
-eines sorgsamen Hausvaters verschloß und den Schlüssel in
-die Tasche steckte.</p>
-
-<p>»Diakon! Du kommst zu mir!« rief Natalia Nikolajewna,
-welche seine Absicht begriffen hatte.</p>
-
-<p>»Ja, du leidende Mutter, ich bin gekommen, dich zu behüten.«</p>
-
-<p>Sie umarmten und küßten sich, und Natalia Nikolajewna
-begab sich in ihr Schlafzimmer, um dort weiter zu wachen,
-Achilla aber brachte seine Pferde in die Scheune, breitete
-dann eine Filzdecke auf der Veranda aus, streckte sich lang
-auf derselben aus und vertiefte sich in den Anblick des Sternenhimmels.
-Während der ganzen Nacht schlief er nicht. Er
-dachte nur daran, wie er seinem Justizminister helfen könnte.
-Das war etwas anderes, als den Warnawka verprügeln!
-Hier war Verstand nötig. Aber was kann der Verstand
-allein, wenn ihm keine äußere Gewalt zur Seite steht? Ja,
-hätte man, wie es in dem Märchen erzählt wird, einen Zaubermantel
-oder Siebenmeilenstiefel. Oder eine Tarnkappe!
-Dann würde er gewußt haben, was er zu tun hätte! So
-aber, so! Der Diakon wußte sich absolut keinen Rat, und
-dennoch mußte etwas unternommen werden.</p>
-
-<p>Als Achillas Gedanken beim Zaubermantel und bei der
-Tarnkappe angelangt waren, da kam es dem an keinerlei
-sophistische Grübeleien Gewohnten vor, als fiele eine kaum
-noch zu tragende, schwere Last ihm von der Seele, er atmete
-auf und flog selbst auf dem Zaubermantel in die Ferne
-hinaus. Unsichtbar trat er in den Siebenmeilenstiefeln und
-mit der Tarnkappe zu dem einen und dem andern der hohen<span class="pagenum"><a id="Seite_299">[299]</a></span>
-Würdenträger, zu denen er ohne Zaubermittel nicht hoffen
-konnte zu gelangen. Er weckte sie durch einen sanften Rippenstoß
-aus dem Schlaf und sagte: »Tut dem Pfarrer Sawelij
-kein Leid an. Ihr werdet's sonst, wenn es zu spät ist, zu
-bereuen haben.«</p>
-
-<p>Als die hohen Herren die Stimme des Unsichtbaren vernahmen,
-warfen sie sich unruhig auf ihrem Lager hin und her,
-sprangen plötzlich auf, liefen hinaus und schrien: »Um
-Gottes willen, nehmt euch des Pfarrers Sawelij an!« …
-Aber das alles läßt sich in unseren Tagen nur mit Hilfe
-von Siebenmeilenstiefeln und einer Tarnkappe erreichen, und
-es war gut, daß Achilla rechtzeitig daran gedacht und sich
-damit versehen hatte. Dank ihnen allein konnte der Diakon
-in seiner gelben Nankingkutte in einen strahlenden Palast
-dringen, dessen Glanz ihn so unerträglich blendete, daß er
-selbst nicht froh war, sich dort hineingewagt zu haben. Die
-Stätte, welche er vorher besucht hatte, hätte schließlich wohl
-auch genügt, aber die Siebenmeilenstiefel waren in Schuß
-gekommen und hatten ihn an einen Ort gebracht, wo er
-infolge der blendenden Helle kaum etwas unterscheiden
-konnte, so daß er Sawelij und seine Mission am Ende ganz
-vergaß und nur noch dachte, wie er wieder fortkommen
-könnte. Die geschwinden Stiefel aber trugen ihn immer
-höher und höher hinauf, und das Zauberwort, das ihnen
-Halt gebieten konnte, hatte er vergessen&nbsp;…</p>
-
-<p>»Ich verbrenne, bei Gott, ich verbrenne!« schrie der Diakon
-und versuchte sich hinter einem vor ihm auftauchenden kleinen
-Schattenfleckchen zu verbergen, &ndash; als ihm zu seiner Verwunderung
-aus diesem Fleckchen die sanfte Stimme des Zwerges
-Nikolai Afanasjewitsch entgegentönte.</p>
-
-<p>»Hört doch auf, Vater Diakon, im Schlaf zu schreien, daß
-Ihr verbrennt! Allenfalls vor Scham müßten wir alle verbrennen!«<span class="pagenum"><a id="Seite_300">[300]</a></span>
-sprach der Zwerg, das Gesicht des Diakons durch
-seine kleine Gestalt vor der Sonne schützend.</p>
-
-<p>Achilla sprang auf, stürzte zur Wasserbütte und leerte zweimal
-hintereinander den großen eisernen Schöpfkrug.</p>
-
-<p>»Von was für einer Scham redest du da, Nikola?« fragte
-er, seine Locken mit Wasser anfeuchtend.</p>
-
-<p>»Ei, wo ist unser Propst? He?«</p>
-
-<p>»Der Propst, Freund Nikolaurus, ist futsch. Gestern haben
-sie ihn weggeschafft.«</p>
-
-<p>»Was heißt das &ndash; ›futsch‹, mein Herr? Wir müssen ihn
-freibekommen!«</p>
-
-<p>»Liebster, ich hab' die ganze Nacht darüber gegrübelt,
-aber ich kriege nichts raus.«</p>
-
-<p>»Das ist es eben. Einen Stein ins Wasser werfen kann
-jeder, &ndash; aber ihn zurückbekommen?«</p>
-
-<p>Und Nikolai Afanasjewitsch wackelte auf seinen knarrenden
-Stiefelchen in das Zimmer der Pröpstin, hielt sich hier
-einen Augenblick auf und bat dann den Diakon, ihn zu begleiten.
-Beide begaben sich erst zum Polizeichef und nachher
-zum Richter. Mit beiden hatte der Zwerg eine lange Beratung,
-aber weder der eine noch der andere konnte ihm
-etwas Tröstliches sagen.</p>
-
-<p>»Das einzige, was ich tun kann,« sagte plötzlich der Richter,
-»ist, an den Staatsanwalt in der Gouvernementsstadt zu
-schreiben. Er ist ein Studiengenosse von mir und wird sicher
-gern bereit sein, irgend etwas für den Propst zu tun.«</p>
-
-<p>Der Vorschlag fand lebhaften Beifall beim Polizeichef.
-Nikolai Afanasjewitsch dachte anders darüber, hielt es aber
-für unangebracht, zu widersprechen.</p>
-
-<p>Nun fragte sich's, wie man den Brief an seine Adresse
-gelangen ließ? Die nächste Post ging erst in zwei Tagen,
-eine Estafette schien beiden Beamten zu pomphaft, zudem<span class="pagenum"><a id="Seite_301">[301]</a></span>
-konnte die Postmeisterin, die Freundin Termosesows, den
-alle nach den von Achilla gemachten Angaben für den eigentlichen
-Denunzianten hielten, diesem Ehrenmann mit derselben
-Estafette Nachricht geben.</p>
-
-<p>Als er von dieser Schwierigkeit vernahm, erklärte der
-Diakon, er würde schon alles regeln; wenn der Brief nur
-fertig sei, setze er seinen Kopf zum Pfande, daß er sich morgen
-in den Händen des Adressaten befinde.</p>
-
-<p>Abends, als es schon dunkelte, erschien vor dem Hause
-des Vaters Zacharia ein riesiger schwarzer Reiter, klopfte
-sacht ans Fenster und rief den »sanften Popen« beim Namen.</p>
-
-<p>Zacharia öffnete das Fenster und fragte, als er den Reiter
-erblickte:</p>
-
-<p>»Bist du es, der da als Schreckgespenst kommt?«</p>
-
-<p>»Pst … Ruhe und Schweigen tun not!« antwortete der
-Reiter geheimnisvoll und suchte sein ungeduldiges Roß
-durch kräftigen Schenkeldruck ruhig zu halten.</p>
-
-<p>Zacharia sah sich nach allen Seiten um &ndash; Straße und
-Ufer waren menschenleer &ndash; und flüsterte:</p>
-
-<p>»Wohin willst du und was beabsichtigst du?«</p>
-
-<p>»Ich kann Euch nichts mitteilen, denn ich habe mein Wort
-gegeben,« antwortete der Reiter mit derselben geheimnisvollen
-Miene wie vorhin. »Ich bitte Euch nur, sucht mich
-morgen nicht und fragt nicht nach dem Zweck meines Ritts …
-Doch, ob ich auch mein Wort gegeben, ich will's Euch allegorisch
-sagen:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Nordwärts zieht's den Kosaken hin<br /></span>
-<span class="i0">Und nicht nach Ruhe steht sein Sinn,<br /></span>
-</div></div>
-
-<p class="noind">in der Mütze aber hab' ich</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Ein Schreiben an den Zaren Peter<br /></span>
-<span class="i0">Über den Hetman, den Verräter&nbsp;…<br /></span>
-</div></div>
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_302">[302]</a></span></p>
-<p>Habt Ihr verstanden?«</p>
-
-<p>»Nichts hab' ich verstanden.«</p>
-
-<p>»So muß es auch bei einer richtigen Allegorie sein.«</p>
-
-<p>Der Reiter schlug sich mit der Faust gegen die Brust und
-sagte:</p>
-
-<p>»Das eine sollt Ihr noch wissen, Vater Zacharia, daß der
-Reiter kein Kosak ist, sondern der Diakon Achilla, und daß
-mein Herz die Kränkung nicht dulden mag, mein Verstand
-aber kein Mittel findet, ihm zu helfen.«</p>
-
-<p>Nach diesen Worten ließ der Diakon seinem Pferde die
-Zügel fahren, drückte es mit den Knien zusammen und ritt
-nicht, sondern flog davon, so daß seine Locken, die langen
-Enden und weiten Ärmel seiner Kutte, der Schweif und die
-Mähne des Pferdes wild flatternd vom dunkelblauen Hintergrund
-des nächtlichen Himmels abstachen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_303">[303]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_2">Zweites Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch hatte mit Recht nicht viel von dem
-Brief erwartet, mit dem der Diakon davongeritten war.
-Achilla blieb eine ganze Woche fort, und als er gesenkten
-Hauptes auf mattem Pferde heimkam, berichtete er, daß
-er mit seinem Briefe nichts ausgerichtet habe und auch nichts
-habe ausrichten können.</p>
-
-<p>»Warum denn das?« fragte man ihn.</p>
-
-<p>»Sehr einfach! Weil der Vater Sawelij selbst zu mir
-sagte: ›Laß ab, mein Lieber, wir Geistlichen haben keinen,
-der sich unser annimmt. Bitte alle, daß sie mir den Gefallen
-tun, sich nicht für mich zu verwenden.‹«</p>
-
-<p>Und der Diakon wollte darüber weiter gar nicht reden.</p>
-
-<p>Viel lieber erzählte Achilla, wie er den Propst angetroffen
-und was dieser in der einen Woche erlebt hatte.</p>
-
-<p>»Der Bischof«, so berichtete er, »ist gar nicht so böse auf
-ihn, ja eigentlich überhaupt nicht erzürnt, er hat ihn bloß
-aus Politik der Marter überantwortet, um es mit der weltlichen
-Obrigkeit nicht zu verderben. Deswegen allein wurde
-der Vater Sawelij in die Stadt geholt. Jawohl! Und der
-Vater Sawelij könnte die ganze Schuld von sich abwälzen
-und zu uns zurückkommen, denn der Bischof hält es insgeheim
-mit ihm … Jawohl! Gleich am nächsten Tage
-wurde ihm eine geheime Mitteilung vom Bischof, daß er
-zum Herrn Gouverneur gehen solle und um Entschuldigung<span class="pagenum"><a id="Seite_304">[304]</a></span>
-bitten … Jawohl! Aber der Vater Sawelij hat in seiner
-Hartnäckigkeit sehr schroff darauf geantwortet: ›Ich bin mir
-keiner Schuld bewußt, kann also auch nicht um Vergebung
-bitten!‹ Dadurch hat er nun auch den Bischof aufgebracht.
-Jawohl! Aber auch jetzt war der Zorn nicht groß, denn den
-Beschluß des Konsistoriums, eine Untersuchung wegen jener
-Predigt einzuleiten, hat er mit einem großen blauen <em class="antiqua">X</em> durchstrichen
-und alle Gemüter im stillen beruhigt, indem er den
-Vater Sawelij dem niedern Klerus am Bischofshofe zuzählen
-ließ. Jawohl!«</p>
-
-<p>»Und Vater Sawelij dient jetzt?« fragte Zacharia.</p>
-
-<p>»Jawohl! Er liest die Hora und die Parömie, aber seinen
-Sinn ändert er nicht, und auf die politische Frage der Eminenz:
-›Worin hast du dich vergangen?‹ &ndash; antwortete er noch
-politischer, als hätte er die Frage nicht verstanden: ›In
-diesem Leibrock, hohe Eminenz!‹ &ndash; und hat sich dadurch
-nur geschadet. Jawohl!«</p>
-
-<p>»A&ndash;a&ndash;ach!« rief Zacharia und schüttelte verzweifelt den
-kleinen Kopf, sich die Ohren mit den Händchen zuhaltend.</p>
-
-<p>»Er hat sich bei einem Gendarmenwachtmeister in der
-Klostervorstadt ein gelbes Stübchen für zweiundeinenhalben
-Silberrubel monatlich gemietet und läuft jeden Morgen mit
-seinem Krug an den Fluß hinunter nach Wasser. Aber Gesicht
-und Gestalt sind sehr spitz geworden, und er läßt Euch
-sagen, Natalia Nikolajewna, Ihr möchtet recht bald zu ihm
-kommen.«</p>
-
-<p>»Morgen noch reise ich hin,« antwortete die Pröpstin
-weinend.</p>
-
-<p>»So, das <span id="corr304">wären</span> sämtliche Neuigkeiten. Der Staatsanwalt
-aber, dem ich den Brief brachte, sagte nur: ›Die ganze Sache
-geht mich gar nichts an, ihr habt eure eigene Obrigkeit.‹
-Er hat mir auch keinen Brief mitgegeben, sondern nur schön<span class="pagenum"><a id="Seite_305">[305]</a></span>
-grüßen lassen. Nehmen Sie also, bitte, hiermit seinen Gruß
-entgegen, wenn Ihnen was dran liegt. Und noch einen
-Gruß an Sie alle habe ich, vom Herrn Termosesow. Ich
-traf ihn in der Stadt; er kam in einem feinen Wagen vorbeigefahren
-und rief, wie er mich sah: ›Warte mal ein wenig
-hier vor dem Tor, Diakon, ich bring dir gleich etwas. Eure
-Postmeisterin nebst Töchtern hat mir bei meiner Abreise ihr
-Stammbuch aufgehalst. Ich sollte ihr da ein paar Verse
-hineinschreiben. Ich hab's versehentlich mitgenommen, und
-nun weiß ich nicht, wie ich's ihr zurückschicken soll. Sei so
-gut und nimm's mit!‹ Ich denke mir: Hol dich dieser und
-jener! Gib her, sag' ich, um ihn loszuwerden. Hier ist es!«</p>
-
-<p>Der Diakon holte aus der Tasche seines Leibrocks ein
-dünnes Büchlein mit bunten Blättern und las vor:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Auf das letzte Blatt Papier<br /></span>
-<span class="i0">Schreibe ich der Zeilen vier,<br /></span>
-<span class="i0">Voller Ehrfurcht, meine Damen&nbsp;…<br /></span>
-<span class="i0">Wohl bekomm's in Teufels Namen!<br /></span>
-</div></div>
-
-<p class="noind">Damit bezeugt er Euch seine Ehrfurcht, &ndash; nehmt sie also
-hin als den Lohn, der Euch gebührt.«</p>
-
-<p>Und Achilla warf das Album mit der Ehrfurchtsbezeigung
-Termosesows auf den Tisch und begab sich in den Pferdestall,
-um sich dort nach den Reisestrapazen auszuschlafen.</p>
-
-<p>Am Tage darauf reiste Natalia Nikolajewna zu ihrem
-Gatten, und der Diakon blieb allein in dem Hause des Verbannten
-zurück.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_306">[306]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_3">Drittes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Ein Tag verging wie der andere. Die Stadt unterhielt
-sich mit Neuigkeiten, die mit unserer Geschichte nichts zu tun
-haben. Tuberozow blieb in Acht und Bann und seine Freunde
-schienen sich vollständig damit beruhigt zu haben, daß »hier
-nichts zu machen« wäre. Die Feinde des Propstes zeigten
-sich etwas besser als die Freunde: wenigstens einige von
-ihnen hatten ihn nicht vergessen. Für ihn setzte sich zum
-Beispiel die feine Frau Postmeisterin ein, die Termosesow
-die ihr angetane schwere Beleidigung nicht vergessen konnte
-und noch weniger geneigt war, der Gesellschaft ihre Schadenfreude
-zu verzeihen. Sie wollte ihr vielmehr zeigen, daß sie
-allein feinfühliger, klüger, weitsichtiger, ja auch ehrlicher sei,
-als sie alle.</p>
-
-<p>Dazu bot sich ihr nun eine Gelegenheit, die sie wiederum
-sehr fein und boshaft auszunutzen wußte. Sie beschloß, die
-Gesellschaft durch unerhörten Glanz zu blenden und ihre
-Autorität in den Augen der biedern Stargoroder auf eine
-bisher nie dagewesene Höhe zu heben.</p>
-
-<p>Etwa sechs Werst von der Stadt entfernt hatte eine Petersburger
-Dame, Frau Mordokonaki, ihren Sommeraufenthalt
-auf einem wunderschönen Landgut. Der alte Mann dieser
-jungen und sehr hübschen Frau hatte, als er noch Branntweinpächter
-war, bei einer der Postmeisterstöchter Pate gestanden.
-Das schien nun der Frau Postmeisterin eine völlig<span class="pagenum"><a id="Seite_307">[307]</a></span>
-genügende Veranlassung, die junge Gattin des alten Mordokonaki
-zum Namenstag des Patenkindes ihres Mannes einzuladen,
-und bei der Gelegenheit wollte sie die Bitte aussprechen,
-die bekannte Philantropin und Freundin der Kirche
-möge sich doch des verfolgten Tuberozow annehmen.</p>
-
-<p>Das war nicht übel ausgedacht. Die junge und fabelhaft
-reiche »Wohltäterin« hatte Einfluß in der Residenz und genoß
-bei den Gewalthabern im Gouvernement hohe Achtung.
-Jedenfalls hätte sie, wenn sie wollte, für den gemaßregelten
-Propst mehr tun können, als sonst jemand. Ob sie es aber
-wollte? Darum eben sollte die ganze Gesellschaft sie bitten.</p>
-
-<p>Die Dame langweilte sich in ihrer Einsamkeit und nahm
-daher die Einladung der Postmeisterin dankend an. Die
-giftige Frau Postmeisterin triumphierte. Sie zweifelte nun
-nicht mehr, daß sie die Honoratioren der Stadt durch ihr
-unerwartetes Eintreten für den alten Tuberozow verblüffen
-werde, und daß infolgedessen alle sich notgedrungen ihr anschließen
-würden, gleichsam als Chorus, als zweite Garnitur.</p>
-
-<p>Die Postmeisterin schwelgte in solcherlei süßen Träumen,
-&ndash; bis endlich der Tag ihrer Erfüllung gekommen war.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_308">[308]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_4">Viertes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Hausfrau begrüßte die Gäste und war glückselig, als
-sie merkte, daß keiner sich mit ernsten Gedanken trug, daß
-das Schicksal des verbannten Priesters längst niemanden
-mehr beschäftigte.</p>
-
-<p>Die Gäste waren sämtlich in fröhlichster Stimmung. Als
-erster erschien der »Kreiskommandant«, Invalidenhauptmann
-Powerdownia, ein rothaariger Offizier mit großen
-runden Augen, der sich vom Proviantschreiber hinaufgedient
-hatte.</p>
-
-<p>Die große, üppige Madame Mordokonaki überstrahlte die
-ganze Gesellschaft und alles wirkte neben ihr matt und unbedeutend.
-Sogar Daria Biziukina schien ganz klein geworden.
-Die Hausfrau floß über von Schmeichelreden, führte
-dem Gast die interessantesten Leute zu und bat den Hauptmann
-Powerdownia und den Lehrer Warnawa Prepotenskij,
-die Dame aufs beste zu unterhalten. Leute, die sich
-zur Unterhaltung mit der Petersburgerin nicht eigneten,
-wurden beiseite geschafft, wie der Bürgermeister, welcher die
-Gewohnheit hatte, im Gespräch oftmals die Redensart anzuwenden:
-»Da spuck mir einer ins Maul«, sowie ein alter
-Major, der im Kaukasus gedient und die Veranlassung zur
-Entstehung des schönen Vergleichs gegeben hatte: »Dumm
-wie ein kaukasischer Major«, und schließlich der Diakon Achilla.
-Diese drei Personen waren sehr glücklich in einer kühlen<span class="pagenum"><a id="Seite_309">[309]</a></span>
-Kammer untergebracht, wo die Weine und kalten Speisen
-bereitstanden. Sie waren über ihre Verbannung keineswegs
-betrübt. Ganz ungeniert und in nächster Nähe der
-Speisen führten sie äußerst lebhafte Gespräche und philosophierten
-sogar. Der Major wollte wissen, »woher die
-Frechheit komme«, und erklärte sie daraus, daß die Menschen
-heutzutage sehr verwöhnt seien &ndash; was er durch eine ganze
-Menge von Argumenten zu beweisen suchte. Achilla aber wollte
-so viele Gründe nicht gelten lassen und sagte, die Frechheit
-hätte zwei Ursachen: »den Zorn und noch häufiger den Wein.«</p>
-
-<p>Der Major dachte nach und meinte dann, es gebe allerdings
-eine Frechheit, die vom Wein komme.</p>
-
-<p>»Glauben Sie mir, es ist so,« meinte der Diakon und
-leerte ein großes Glas Likör. »Ich kann mich selbst als Beispiel
-anführen. Im Dusel bin ich ein sehr netter Kerl, denn
-ich werde weder wild, noch habe ich böse Gedanken; aber,
-meine lieben Freunde, ich prahle im Dusel nur zu gerne.
-Bei Gott! Und nicht, daß ich irgendeine Absicht damit verfolge,
-nein, es ist, als ob meine Natur es verlangte.«</p>
-
-<p>Der Bürgermeister und der Major lachten.</p>
-
-<p>»Wahrhaftig!« fuhr der Diakon fort. »Ich fange zum
-Beispiel an zu erzählen, die Gemeinde habe sich an den
-Bischof gewandt mit der Bitte, mich zum Pfarrer zu ordinieren,
-was ich selber nicht mal wünsche; oder ein andermal behaupte
-ich, die Kaufmannschaft des Gouvernements petitioniere um
-meine Ernennung zum Protodiakon; oder …« Der Diakon
-sah sich ängstlich um und fuhr dann im Flüstertone fort:
-»Einmal platzte ich heraus, ich wäre in jungen Jahren mit
-der Tochter des Konsistorialsekretärs verlobt gewesen! Also,
-ich sag' Ihnen, ich hätte mich am liebsten umgebracht, als
-man mir später von dieser meiner bodenlosen Frechheit
-erzählte.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_310">[310]</a></span></p>
-
-<p>»Wenn der Sekretär das erfahren hätte, hätte es schlimm
-werden können,« bemerkte der Major.</p>
-
-<p>»Und wie schlimm! Ganz scheußlich!« bestätigte der Diakon
-und kippte noch ein Gläschen.</p>
-
-<p>»Na, wenn wir schon mal davon reden, will ich Ihnen
-noch etwas erzählen.« Und seine Stimme noch mehr dämpfend,
-fuhr er fort: »Ich bin durch diese meine Flunkerei
-einmal schon in eine so üble Lage gekommen, daß ich aufs
-Haar einer öffentlichen Exekution unterworfen worden wäre.
-Haben Sie nichts davon gehört?«</p>
-
-<p>»Nein, absolut nichts.«</p>
-
-<p>»Es war eine ganz böse Sache. Man hätte mich einfach
-henken können &ndash; auf Grund des ersten Paragraphen im
-Gesetz!«</p>
-
-<p>»Unmöglich!« rief der Major, ganz aufgeregt.</p>
-
-<p>»Warum unmöglich? Es hätte ganz leicht geschehen
-können, wenn ein guter Mensch mich nicht gerettet hätte.«</p>
-
-<p>»So erzählt uns doch die Geschichte, Vater Diakon!«</p>
-
-<p>»Ja, sofort, ich will nur noch erst ein Schnäpschen nehmen.«</p>
-
-<p>Achilla leerte noch ein Gläschen und begann den Bericht
-über sein Verbrechen gegen den ersten Gesetzesparagraphen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_311">[311]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_5">Fünftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Das kam alles daher,« fing der Diakon an, »daß ich vor
-Ostern nach der Gouvernementsstadt fuhr &ndash; mit zwei
-Pferden. Eins war meines und das andere gehörte dem
-Subdiakon Serioga. Wir hatten sie beide vor einen Wagen
-gespannt. Serioga wollte seine Kinder aus der Stadt abholen,
-und was ich da zu suchen hatte, das mag der Teufel
-wissen. Ich wollte wohl ein paar gute Bekannte wiedersehen.
-Als wir nun vor die Stadt kamen, sahen wir, daß
-die Brücke fort war und eine Fähre die Leute hinüberschaffte.
-Am Ufer herrschte ein fürchterliches Gedränge; Kopf an Kopf
-standen die Menschen da; im Zollhäuschen aber hatte ein
-Soldat einen Branntweinausschank. Na, da die Reihe an
-uns noch nicht so bald kommen konnte, gingen wir hinein
-und tranken ein jeder zwei Gläschen, uns zu erwärmen.
-Auch hier war alles voll von Leuten: Mönche und Fuhrleute
-und Soldaten und Beamte &ndash; das sind die allerschlimmsten
-&ndash; und auch einige Amtsbrüder. Es fanden sich auch ein
-paar Bekannte aus unserer Gegend, und so mußte man,
-anläßlich des frohen Wiedersehens, gleich noch zwei Gläschen
-kippen. Ein Schreiber, ein ungeheuer freches Maul, fing an,
-uns aufzuziehen. Ich sagte ihm: ›Geh hin, wo du hergekommen
-bist. Du gehörst nicht zu uns.‹ Darauf er: ›Ich
-bin ein Offizier meines Kaisers!‹ Und ich: ›Ich selbst bin
-so gut wie ein Stabsoffizier, mein Bester!‹ &ndash; ›Stabsoffizier‹,<span class="pagenum"><a id="Seite_312">[312]</a></span>
-sagt er drauf, ›ist der Pope, du bist aber sein Untergebener.‹
-Da sage ich, vor dem Throne Gottes stünde ich
-allerdings unter dem Popen meinem Amte nach, in der
-Politik aber seien wir beide gleich. Da ging der Streit los.
-Ich wurde immer hitziger, infolge der vielen Gläschen, und
-rief schließlich: ›Du Tintenseele, was verstehst denn du davon?
-Du kannst doch die Heilige Schrift gar nicht verstehen,
-denn du hast keine Gedärme im Kopf. Sag doch mal, hat
-je ein Pope auf dem Zarenthron gesessen?‹ ›Nein,‹ sagt er.
-›Na also! Ein Diakon aber ist Zar gewesen und hat die
-Krone auf dem Haupt getragen!‹ &ndash; ›Wer war denn das?‹
-fragt er. ›Wann ist das gewesen?‹ &ndash; ›Ja, wann? Ich bin
-kein Arithmetikus und hab' die Jahreszahlen nicht alle im
-Kopf, aber nimm mal ein Buch zur Hand und lies nach,
-was Grigorij Otrepiew war, bevor er als Demetrius Zar
-wurde, dann wirst du sehen, was ein Diakon wert ist.‹ &ndash;
-›Nu ja,‹ sagt er, ›das war Otrepiew, aber du, du bist eben
-kein Otrepiew!‹ &ndash; Besoffen, wie ich bin, platz ich auf einmal
-los: ›Woher kannst du denn das wissen? Vielleicht bin ich
-noch viel mehr? Der sah dem Demetrius ähnlich, und ich
-habe vielleicht ein Gesicht wie irgendein Franziskus Venezianus
-oder ein Mahmud und werde auch König!‹ Kaum
-hatt' ich das gesagt, meine Lieben, so erhebt dieser verfluchte
-Federfuchser ein Geschrei, ruft Zeugen auf, bringt die Sache
-zu Papier. Man packte mich, band mich, setzte mich in einen
-Wagen, gab mir einen Polizisten mit und schaffte mich in die
-Stadt. Na und dann &ndash; Gott schenke ihm Gesundheit und
-langes Leben und nach dem Tode die ewige Seligkeit &ndash;
-dem Gendarmenoberst Albert Kasimirowitsch, der damals
-an der Spitze der Geheimpolizei stand! Am Morgen ließ
-er mich zu sich kommen, rief seine Frau herbei und sagte:
-›Da, sieh mal, Herzchen, so sieht ein Thronprätendent aus.<span class="pagenum"><a id="Seite_313">[313]</a></span>‹
-Und dann lachte er mich noch tüchtig aus und ließ mich laufen.
-›Geh nur, Vater Mahmud,‹ sagte er, ›und in Zukunft zähle
-die Gläser, die du leerst.‹ Gott schenke ihm ein langes Leben!«
-wiederholte der Diakon noch einmal und hob sein Glas.
-»Ich will auch heut noch auf sein Wohl trinken!«</p>
-
-<p>»Da seid Ihr noch glücklich aus der Klemme gekommen,«
-sagte der Major langsam.</p>
-
-<p>»Und ob! Ich sag's ja: der Pole ist ein guter Kerl. Der
-Pole liebt die Regierung nicht, und wo es gegen sie geht,
-ist er immer nachsichtig.«</p>
-
-<p>Gegen Mitternacht wurde die Unterhaltung der drei Einsiedler
-unterbrochen; denn die Stunde war gekommen, in
-der auch sie sich der Gesellschaft anschließen durften: man
-bat sie zu Tische.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_314">[314]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_6">Sechstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Das Fest sollte jetzt seinen Höhepunkt erreichen.</p>
-
-<p>Kaum hatten alle Platz genommen, so sprang auch schon
-der Hauptmann Powerdownia wieder auf und apostrophierte
-die Petersburger Dame folgendermaßen:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Die uns gesandt ein gütiger Himmel,<br /></span>
-<span class="i0">Du Holde, Schöne!<br /></span>
-<span class="i0">Dich grüßen aus dem irdischen Gewimmel<br /></span>
-<span class="i0">Meiner Leier Töne!<br /></span>
-<span class="i0">Steig hernieder zu uns aus des Äthers Bläue<br /></span>
-<span class="i0">Und laß dich's nicht verdrießen<br /></span>
-<span class="i0">Von dieses Festes Gaben zu genießen,<br /></span>
-<span class="i0">Die wir dir spenden in Begeisterung und Treue!«<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Die Aristokratin aus dem Geschlecht der Branntweinpächter
-hörte dem Dichter mit lieblichem Erröten zu und
-empfing aus seinen Händen ein Blättchen, auf dem, nicht
-ganz orthographisch, aber mit kunstreichen Schnörkeln, das
-Gedicht verewigt war.</p>
-
-<p>Die Hausfrau war entzückt, aber die Gäste waren sowohl
-über das Gedicht, als auch über die Wahl des Augenblicks
-für seinen Vortrag sehr verschiedener Meinung.</p>
-
-<p>Doch wie dem auch sei, die ganze Gesellschaft wurde ungemein
-lustig, was der Postmeisterin gar nicht recht paßte.
-Man redete so laut und lebhaft durcheinander, daß es der<span class="pagenum"><a id="Seite_315">[315]</a></span>
-Hausfrau unmöglich wurde, eine etwa eintretende Pause zu
-benutzen, um an den verbannten Propst zu erinnern. Die
-Petersburgerin schien sich übrigens sehr gut zu unterhalten.
-Sie wisse gar nicht, meinte sie zur Postmeisterin, wie sie ihr
-danken solle für das Vergnügen, das ihre Gäste ihr verschafft,
-und wenn ihr etwas leid tue, so sei es nur der Umstand,
-den Diakon und den Hauptmann Powerdownia erst
-so spät kennen gelernt zu haben. Als Powerdownia dieses
-Urteil hörte, sprang er auf und machte der Dame eine tiefe
-Verbeugung. Auch der Diakon nahm das Lob nicht gleichgültig
-hin: er gab Prepotenskij einen Rippenstoß und sagte:</p>
-
-<p>»Siehst du wohl, du Schafskopf, wie hoch man uns schätzt!
-Von dir sagt keiner was.«</p>
-
-<p>»Selber Schafskopf!« erwiderte der geärgerte Lehrer
-ebenso leise.</p>
-
-<p>Powerdownia sann einen Augenblick nach, dann packte er
-den Diakon fest am Arm, stand mit ihm zusammen auf und
-sagte in beider Namen:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Wir wollen heilig dein Gedächtnis ehren,<br /></span>
-<span class="i0">Und sollten Jahre vorübergehen.<br /></span>
-<span class="i0">O lichter Geist, laß dich erflehen:<br /></span>
-<span class="i0">Woll unserer Bitte Erhörung gewähren!«<br /></span>
-</div></div>
-
-<p>Hierauf setzten sie sich wieder unter donnerndem Applaus.</p>
-
-<p>»Siehst du wohl? Und du weißt wieder nichts zu sagen,«
-wandte sich Achilla vorwurfsvoll an den Lehrer. Powerdownia
-aber war schon wieder aufgesprungen und redete die
-Hausfrau also an:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Du bist genannt Matrona<br /></span>
-<span class="i0">Und aller Frauen Krona!<br /></span>
-<span class="i4">Hurra!«<br /></span>
-</div></div>
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_316">[316]</a></span></p>
-<p>»O dieser Hauptmann! Er ist die Seele der Gesellschaft,«
-meinte die Postmeisterin geschmeichelt.</p>
-
-<p>»Und du bringst immer noch nichts fertig,« ließ der Diakon
-dem Warnawa keine Ruhe.</p>
-
-<p>»Wollen wir alle Verse deklamieren!«</p>
-
-<p>»Ja, alle! Der Polizeichef muß anfangen!«</p>
-
-<p>»Warum nicht? Ich will's gerne versuchen!« sagte der
-Polizeichef. »Ganz ungeniert: wer nichts weiß, braucht nicht
-mitzumachen.«</p>
-
-<p>»Anfangen! Fix, Herr Rittmeister! Was soll das? Anfangen!«</p>
-
-<p>Der Rittmeister Porochontzew stand auf, hob sein Glas
-bis zur Höhe seines Gesichtes, sah durch den Wein gegen
-das Licht und fing an:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Als der Despot entsagte seinem Thron,<br /></span>
-<span class="i0">Um so durch abgefeimte Lügen<br /></span>
-<span class="i0">Sein Opfer, Rußland, in den Schlaf zu wiegen,<br /></span>
-<span class="i0">Und es alsdann noch schlimmer zu bedrohn,&nbsp;&ndash;<br /></span>
-<span class="i0">Da ließ die Freiheit ihre Stimm' erschallen,<br /></span>
-<span class="i0">Und hätte Rußland drauf gehört,<br /></span>
-<span class="i0">Ihm wär' ein neuer Tag beschert,<br /></span>
-<span class="i0">Die Fesseln wären abgefallen.<br /></span>
-<span class="i0">Doch gleich dem Diebe, den der Morgen schreckt,<br /></span>
-<span class="i0">Hast schmählich du dich vor dem Freund versteckt!<br /></span>
-<span class="i0">Der rief: Der Juden Greueltaten,<br /></span>
-<span class="i0">Der schnöde Abfall der Uniaten,<br /></span>
-<span class="i0">Und alle Sünden der Sarmaten,&nbsp;&ndash;<br /></span>
-<span class="i0">Es komme alles auf mein Haupt,<br /></span>
-<span class="i0">Ich trag' es ohne viel Bedenken,<br /></span>
-<span class="i0">Könnt' ich dem Volk der Russen wieder schenken<br /></span>
-<span class="i0">Die Freiheit, die man ihm geraubt!<br /></span>
-<span class="i12">Hurra!«<br /></span>
-</div></div>
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_317">[317]</a></span></p>
-<p>»Alle tragen etwas vor, nur du nicht,« fing der Diakon,
-sich an Prepotenskij wendend, wieder an.</p>
-
-<p>»Nein, Freundchen, sag was du willst, &ndash; wenn du trinkst
-und nichts vorzutragen weißt, dann bist du kein Mensch,
-sondern bloß eine Bütte voll Wein.«</p>
-
-<p>»Laßt mich mit Eurer Bütte in Frieden! Ihr seid selbst
-eine!« antwortete der Lehrer.</p>
-
-<p>»Wa&ndash;a&ndash;as?!« schrie Achilla gekränkt. »Ich eine Bütte?
-Und das wagst du mir ins Gesicht zu sagen! Ich eine Bütte?«</p>
-
-<p>»Ja, natürlich!«</p>
-
-<p>»Wa&ndash;a&ndash;as?!«</p>
-
-<p>»Ihr könnt ja selber nichts vortragen!«</p>
-
-<p>»Ich nichts vortragen? O du dreifacher Dummkopf!
-Wenn ich bloß will, so trage ich dir so etwas vor, daß du
-aufspringen und mir stehend zuhören mußt!«</p>
-
-<p>»Na, versucht es doch mal!«</p>
-
-<p>»Gleich werd ich's auch, damit du dich überzeugst, daß ich
-tatsächlich auch den Oberkiefer bewegen kann!«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten erhob sich Achilla, sah die ganze Gesellschaft
-mit weitaufgerissenen Augen an, richtete den Blick
-schließlich starr auf ein Salzfaß, das in der Mitte des Tisches
-stand, und fing mit seinem tiefen weichen Baß an:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>»Ein geru&ndash;u&ndash;u&ndash;hig und friedli&ndash;i&ndash;i&ndash;ch Leben, Gesu&ndash;u&ndash;undheit
-und Wo&ndash;o&ndash;ohlergehen … und heilsa&ndash;a&ndash;ames
-Wirken und Scha&ndash;a&ndash;a&ndash;ffen … und Sieg
-über die Feinde …« usw. usw.</p></div>
-
-<p>Achillas Stimme griff immer höher, Stirne, Kinnbacken,
-Schläfe, die ganze obere Hälfte seines breiten Gesichtes waren
-mit Schweiß bedeckt und glühten in feurigem Rot; die Augen
-krochen aus ihren Höhlen, auf den Wangen und an den
-Mundwinkeln zeigten sich weiße Flecke, der Mund war weit<span class="pagenum"><a id="Seite_318">[318]</a></span>
-aufgerissen wie eine Trompete und mit Dröhnen und Krachen
-entstieg ihm das »Heil und Segen«, das alle unbelebten
-Wesen im Hause erzittern machte und die Lebendigen zwang,
-sich von den Plätzen zu erheben und, ohne die erstaunten
-Augen von dem geöffneten Munde des Diakons zu wenden,
-gleich nachdem der letzte Ton verklungen, im Chor einzufallen:
-»Heil und Segen! Heil und Se&ndash;e&ndash;egen!«</p>
-
-<p>Warnawa allein wollte bei seiner Beschäftigung bleiben
-und gemächlich weiteressen, aber Achilla riß ihn mit Gewalt
-in die Höhe und sang, ihn fest am Arm haltend: »Heil und
-Se&ndash;e&ndash;e&ndash;gen! Heil und Se&ndash;e&ndash;e&ndash;egen!«</p>
-
-<p>Der Bürgermeister gab seinem Nachbar eine blaue Fünfrubelnote,
-die er dem Diakon weitergeben sollte.</p>
-
-<p>»Was heißt denn das?« fragte Achilla.</p>
-
-<p>»Der ganzen Verwaltung. Sing noch ›der ganzen Verwaltung
-und dem christlichen Heer‹,« bat der Bürgermeister.</p>
-
-<p>Der Diakon steckte die Note in die Tasche und stimmte
-nochmals an:</p>
-
-<p>»Und der ganzen Verwaltung und dem chri&ndash;i&ndash;istlichen
-Hee&ndash;e&ndash;e&ndash;ere Heil und Se&ndash;e&ndash;e&ndash;gen!«</p>
-
-<p>Hier übertraf Achilla sich selbst, und als er schloß, wagten
-nur noch der Vater Zacharia, der an die Stimme des Diakons
-gewöhnt war, und der Bürgermeister einzufallen: alle übrigen
-Gäste waren auf ihre Stühle gesunken und hielten sich an
-den Lehnen, dem Tisch oder ihren Nachbarn fest.</p>
-
-<p>Der Diakon war höchst befriedigt.</p>
-
-<p>»Sie haben einen wunderbaren Baß,« sagte die Petersburger
-Dame, die zuerst wieder zu sich gekommen war.</p>
-
-<p>»Ach Gott, es war ja nicht deswegen, ich wollte nur zeigen,
-daß ich kein Feigling bin und sehr gut etwas vortragen kann.«</p>
-
-<p>»Schau, schau, wer ist denn hier feige?« mischte sich Zacharia
-ins Gespräch.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_319">[319]</a></span></p>
-
-<p>»Vor allem Ihr selber, Vater Zacharia! Ihr könnt ja
-nicht mal mit den Vorgesetzten richtig sprechen: Ihr fangt
-gleich an zu stottern.«</p>
-
-<p>»Das ist wahr,« bestätigte Zacharia, »ich komme leicht ins
-Stottern, wenn ich mit einem Vorgesetzten rede. Aber du?
-Du hast gar keinen Respekt vor Höherstehenden?«</p>
-
-<p>»Ich? Mir ist's ganz gleich, ob ich mit dem Bischof selber
-oder mit einem einfachen Manne rede! Der Bischof sagt zu
-mir: ›So und so, mein Bester,‹ &ndash; und ich antworte ihm gerade
-so: ›Ganz recht, so und so, Eure Eminenz!‹ Weiter nichts.«</p>
-
-<p>»Ist das wahr, Vater Zacharia?« fragte der Arzt, der dem
-Diakon gern etwas am Zeuge flicken wollte.</p>
-
-<p>»Er flunkert,« sagte Benefaktow mit der größten Seelenruhe,
-ohne seine sanften Augen vom Diakon zu wenden.</p>
-
-<p>»Er knickt auch vor dem Bischof zusammen?«</p>
-
-<p>»Allerdings.«</p>
-
-<p>»Nie und nimmer! So was kommt bei mir nicht vor!«
-rief der Diakon, sich in die Brust werfend. »Wie wäre das
-auch möglich? Wollte ich mich um alle kümmern, ich wüßte
-nicht, wo ich hin sollte. Was hat denn der Bischof so viel
-zu bedeuten, wenn ich jetzt Tag für Tag von einer Person
-beobachtet werde, die viel mehr zu sagen hat, als so ein
-Bischof!«</p>
-
-<p>»Du meinst wohl mich?« sagte der Arzt.</p>
-
-<p>»Wie sollte ich denn darauf kommen? Nein, dich meine
-ich nicht.«</p>
-
-<p>»Wen denn sonst?«</p>
-
-<p>»Hast du die neuesten Zeitungen gelesen?«</p>
-
-<p>»Was hat denn drin gestanden?« fragte die Petersburger
-Dame, die sich wie ein Kind amüsierte.</p>
-
-<p>»Auf Befehl des Oberhofpredigers Baschanow ist der
-kaiserliche Kirchenmusikdirektor auf Reisen geschickt worden,<span class="pagenum"><a id="Seite_320">[320]</a></span>
-um in ganz Rußland Bässe für die Hofkapelle Seiner Majestät
-anzuwerben. Er steht im Range eines Generals und hat
-eine Unmenge Orden. Der Bischof ist nichts neben ihm,
-denn bei Seiner Majestät ist ja schon der Kutscher, der auf
-dem Bock sitzt, Oberst. Na, also dieser Musikmeister reist
-nun unerkannt, als ganz einfacher Mann gekleidet, damit
-die Bässe sich in seiner Gegenwart nicht absichtlich anstrengen,
-denn er will wissen, was sie für gewöhnlich zu leisten imstande
-sind.«</p>
-
-<p>Der Diakon wußte nicht, was er weiter sagen sollte, aber
-der Arzt ließ nicht locker.</p>
-
-<p>»Nun, und was weiter?«</p>
-
-<p>»Was weiter? Der Herr Musikdirektor befindet sich jetzt
-schon vier Wochen hier in der Stadt. Merkst du was? Ich
-sehe ihn jeden Sonntag in seinem blauen Rock unter den
-Kleinbürgern in der Kirche stehen. Er ist meinetwegen da,
-aber wie verhalte ich mich dazu? Ein anderer würde sich rein
-die Beine ausreißen, um dem kaiserlichen Abgesandten zu
-gefallen, würde ihn zu sich einladen, ihm Schnaps und Tee
-vorsetzen, &ndash; nicht wahr? Aber ich tue nichts dergleichen.
-Mag er zehnmal kaiserlicher Musikus sein, mir ist's ganz
-wurst! Ich halte mich ans Gesetz. Du hast mir nach dem
-Gesetz zu handeln, mein Lieber, und magst du das nicht, dann
-adieu! Glückliche Heimreise!«</p>
-
-<p>»Das ist natürlich alles Schwindel?« wandte sich der Arzt
-an Zacharia.</p>
-
-<p>»Schwindel,« erwiderte dieser seelenruhig. »Er hat ein
-wenig über den Durst getrunken, da hören wir bis morgen
-kein wahres Wort mehr. Er wird jetzt ohne Ende phantasieren
-und großtun.«</p>
-
-<p>Achilla war trotzdem gekränkt. Es schien ihm, als glaubte
-man jetzt auch nicht mehr, daß er kein Feigling sei; was ihm<span class="pagenum"><a id="Seite_321">[321]</a></span>
-unerträglich war. Daher fing er wieder von seiner Tapferkeit
-an zu sprechen und wollte sofort auf die schwerste Probe
-gestellt sein.</p>
-
-<p>»Ich will allen beweisen, daß ich hier der Tapferste bin,
-und ich werde es!«</p>
-
-<p>»Prahlt lieber nicht damit, Vater Diakon,« sagte der
-Major. »Manchmal wird auch der Tapferste von Angst gepackt,
-und der Feigling leistet, was keiner von ihm erwartet
-hätte.«</p>
-
-<p>»Da pfeif' ich drauf! Los!«</p>
-
-<p>»Ja, was soll denn eigentlich losgehen? Ich will Euch
-lieber ein Beispiel vorführen.«</p>
-
-<p>»Auch gut! Nur immer zu!«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_322">[322]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_7">Siebentes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>»Als ich aus dem Kaukasus nach Rußland zurückversetzt
-wurde,« fing der Major an, »hatten wir einen Oberst, der
-ein urfideler Herr und ein ausgezeichneter Soldat war. Er
-besaß sogar einen goldenen Ehrensäbel. Unter ihm machte
-ich anno Achtundvierzig den ungarischen Feldzug mit. In
-einer Nacht mußten damals Freiwillige vorgeschickt werden,
-als wir gerade beim Wein saßen. Der Oberst fragte: ›Wieviel
-haben sich denn gemeldet?‹ ›Hundertzehn,‹ antwortet
-der Adjutant. ›Oho!‹ meinte der Oberst und legte die Karten
-hin, denn man hatte sich eben ans Preferance gemacht.
-›Das ist ein bißchen viel. Sind gar keine Hasenfüße drunter?‹
-&ndash; ›Nein,‹ erwiderte der Adjutant. ›Na,‹ meint der Oberst,
-›trommeln Sie mal die Kerls zusammen.‹ Das geschieht.
-›Nun,‹ fängt der Oberst an, ›machen wir mal die Probe. Wer
-ist der Tapferste? Wer gilt als Obmann?‹ Man nennt ihm
-irgendeinen Iwanow oder Sergejew. ›Schafft ihn mir her!
-Bist du der Obmann?‹ &ndash; ›Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!‹
-&ndash; ›Bist du nicht feige?‹ &ndash; ›Nein, Euer Hochwohlgeboren!‹
-&ndash; ›Nicht ein bißchen?‹ &ndash; ›Ganz und gar nicht,
-Euer Hochwohlgeboren!‹ &ndash; ›Wirklich nicht?‹ &ndash; ›Nein.‹ &ndash;
-›Nun, wenn du nicht feige bist, so zupf' mich am Bart!‹ Der
-Soldat steht da und rührt sich nicht und wagt's nicht. Man
-ruft einen zweiten, &ndash; dieselbe Geschichte! Einen dritten,
-vierten, fünften, zehnten &ndash; keiner wagt's. Alle erwiesen sie
-sich als Feiglinge.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_323">[323]</a></span></p>
-
-<p>»Ach, hol ihn dieser und jener! Das war ein Spaß!«
-rief Achilla hocherfreut. »Wenn du nicht feige bist, ei, so
-zupf' mich am Bart! Ha&ndash;ha&ndash;ha! Das ist famos! Hauptmann,
-alter Freund, laß dich mal vom Lehrer Warnawa
-am Bart zupfen!«</p>
-
-<p>»Mit Vergnügen,« sagte der Hauptmann.</p>
-
-<p>Prepotenskij weigerte sich, aber da fing man so bösartig
-über seine Feigheit zu spotten an, daß er ja sagen
-mußte.</p>
-
-<p>Achilla stellte einen Stuhl in die Mitte des Zimmers, der
-Hauptmann Powerdownia setzte sich drauf und stemmte die
-Arme in die Hüften.</p>
-
-<p>Um ihn herum standen der Polizeichef, Zacharia, der
-Bürgermeister und der Major.</p>
-
-<p>Der Lehrer pustete, krümmte und schüttelte sich, schlug
-bald die Augen schüchtern nieder und riß sie bald weit auf,
-machte einen Schritt vorwärts und trat wieder zurück.</p>
-
-<p>»Also du bist doch ein Feigling,« sagte Achilla, »aber denke
-mal nach, Schafskopf: wovor fürchtest du dich denn eigentlich?
-Es ist ja zum Lachen!«</p>
-
-<p>Warnawa dachte nach, wurde aber davon nur noch schwächer.
-Powerdownia jedoch saß da wie ein Götzenbild, fühlte sich
-als »Seele der Gesellschaft« und freute sich über die neue
-Überraschung, die er im Schilde führte.</p>
-
-<p>»Du bist ein Feigling, mein Bester, ein ganz elender Feigling!«
-flüsterte Achilla dem Lehrer ins Ohr.</p>
-
-<p>»Das geht doch nicht, die Gäste warten,« bemerkte der
-Major.</p>
-
-<p>Prepotenskij zeigte mit dem Finger auf den Polizeichef und
-sagte: »Ich will lieber Woin Wasiljewitsch am Bart zupfen.«</p>
-
-<p>»Nein, mich sollst du zupfen,« erklärte der Hauptmann
-mit sehr ernstem Gesicht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_324">[324]</a></span></p>
-
-<p>»Feigling, Feigling,« flüstert es wieder von allen Seiten.
-Warnawa hört es, kalter Schweiß läuft ihm übers Gesicht,
-es kribbelt ihn am ganzen Körper; die Angst packt ihn, wie
-eine unerträgliche, lähmende, quälende Krankheit, sein Ausdruck
-bekommt etwas Starres, Schreckliches.</p>
-
-<p>Achilla, der ihn genau beobachtete, hatte das zuerst bemerkt.
-Als er die Augen des Lehrers aufflammen sah, gab
-er dem Polizeichef ein Zeichen, etwas zur Seite zu treten,
-den Vater Zacharia aber nahm er ganz einfach beim Ärmel,
-zog ihn zurück und sagte:</p>
-
-<p>»Steht nicht so dicht bei ihm, Vater Zacharia. Seht Ihr
-nicht? Er träumt!«</p>
-
-<p>Warnawa tat einen Schritt vorwärts. Noch einen zweiten.
-Die zitternde Hand des Feiglings gerät in Bewegung, sie
-hebt sich langsam, bewegt sich vorwärts, &ndash; aber nicht nach
-dem Barte des Hauptmanns, sondern geradewegs nach dem
-Gesichte des Polizeichefs.</p>
-
-<p>»Der Teufel mag wissen, was in dem Kerl vorgeht!« rief
-Achilla und winkte dem Polizeichef noch einmal zu. Geh
-lieber fort, sollte das heißen, siehst du nicht, daß der Mann
-von Sinnen ist?</p>
-
-<p>In diesem selben Augenblick jedoch hatte Prepotenskij, die
-Augen zugekniffen, ganz von ferne den Schnurrbart Powerdownias
-gestreift: sofort stieß der Hauptmann ein grimmiges
-Knurren aus und fing dann an laut zu bellen.</p>
-
-<p>Das war dem armen Warnawa zu viel. Er schrie wild
-auf, stürzte sich wie ein Panther auf den Polizeichef und schlug
-sinnlos um sich.</p>
-
-<p>Hierauf war niemand gefaßt. Der Effekt war großartig.
-Die umgestürzte Lampe, das aufflammende Petroleum, die
-wild flüchtenden Gäste, das Entsetzen des Polizeichefs, das
-Geheul Warnawas, der in einem Winkel sich mit wütenden<span class="pagenum"><a id="Seite_325">[325]</a></span>
-Schlägen vor dem Gespenst, das ihn packen wollte, zu schützen
-suchte, alles machte eine Fortsetzung des Festes unmöglich.</p>
-
-<p>Die Petersburger Dame verabschiedete sich, und Prepotenskij,
-der alle Ein- und Ausgänge im Hause des Postmeisters
-sehr gut kannte, benutzte diesen Augenblick, um in
-den Korridor und ins Bureau zu schlüpfen, wo er sich hinter
-einen Schrank verkroch&nbsp;…</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_326">[326]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_8">Achtes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Frau Postmeisterin hatte ihre Nachtjacke angezogen und
-ging erregt in ihrem Zimmer auf und nieder. Ihre Gedanken
-beschäftigten sich unablässig mit der einen Frage: Wer war
-an dem gräßlichen Vorfall schuld? Wer hatte diesen Spaß
-angezettelt?</p>
-
-<p>»Der Spaß war ja an sich nicht mal so übel,« dachte sie,
-»aber wer hat den Prepotenskij eingeladen? Nein, auch das
-ist nicht so wichtig … aber wer hat mich mit ihm bekannt
-gemacht? Wer denn anders, als mein Herr Gemahl! Eines
-Tages kam er: ›Hier, bitte, stelle ich dir Warnawa Wasiljewitsch
-vor!‹ Na warte nur, ich will dir den Warnawa
-Wasiljewitsch schon eintränken … Aber wo ist denn mein
-Mann?« fragte sie sich und sah sich im Zimmer um. »Schläft
-er schon? Er kann schlafen, nachdem so etwas geschehen! …
-Nein, das geht nicht,« erklärte die Postmeisterin kategorisch
-und stürzte ungeduldig in den Saal, wo ihr Gatte zu schlafen
-pflegte, wenn er wegen irgendwelcher Familienzwistigkeiten aus
-dem ehelichen Schlafgemach verbannt wurde. Aber zu ihrer nicht
-geringen Verwunderung fand die Dame ihren Gatten hier nicht.</p>
-
-<p>»Aha, er versteckt sich vor mir. Er liegt jetzt auf dem Sofa
-im Bureau und schnarcht … Ich will dich schnarchen lehren.«</p>
-
-<p>Und die Frau Postmeisterin begab sich nach dem Bureau.</p>
-
-<p>Ihre Vermutung war richtig: der Postmeister schlief tatsächlich
-im Bureau, aber darin irrte sie, daß sie ihn auf dem
-Sofa zu finden meinte. In Wirklichkeit lag er auf dem Tische.<span class="pagenum"><a id="Seite_327">[327]</a></span>
-Auf dem Sofa aber schlief Prepotenskij, der nach allem, was
-vorgefallen war, nicht nach Hause zu gehen wagte, weil er
-fürchtete, Achilla könnte ihm an irgendeiner Straßenecke auflauern.
-Deshalb hatte er den Postmeister um Erlaubnis
-gebeten, seiner Sicherheit wegen im Hause übernachten zu
-dürfen. Der Postmeister war um so lieber damit einverstanden,
-als er die Erregung seiner Frau sehr wohl bemerkt
-hatte und es auch ihm vorteilhaft erschien, unter diesen
-Umständen noch jemand in seiner Nähe zu haben. Darum
-stellte er dem Lehrer das Sofa im Bureau zur Verfügung
-und machte es sich selbst auf dem großen Tisch bequem, an
-dem sonst die Briefe sortiert wurden.</p>
-
-<p>Die Tür aus dem Korridor in das Bureau, in dem beide
-schliefen, war geschlossen. Das brachte die energische Dame
-erst recht auf, denn nach ihrem Hausgesetz durfte keine einzige
-Innentür ohne ihre Genehmigung geschlossen werden, und
-im Bureau fühlte sie sich ebenso als Herrin, wie in ihrem
-Schlafgemach!</p>
-
-<p>Die Postmeisterin kochte vor Wut. Sie griff noch einmal
-nach der Tür, sie ging nicht auf. Wohl knackte der Haken,
-aber er saß fest. Und dabei hörte sie drinnen ganz deutlich
-zwei Menschen atmen. Zwei! Man male sich das Entsetzen
-der Ehefrau bei dieser plötzlichen Entdeckung aus!</p>
-
-<p>In ihren geheiligten Rechten als Gattin und Herrin des
-Hauses gekränkt, rannte sie wieder durch den Korridor zurück,
-stürzte in die Küche, geradewegs auf den Tisch los. Wühlte
-lange im Dunkeln in der Schublade herum, in der es von
-Schwaben wimmelte, bis sie endlich gefunden hatte, was sie
-brauchte: Ein Messer!</p>
-
-<p>Die ungeheure Spannung, die diese Zeile entfesselt, zwingt
-uns, hier haltzumachen, um dem Leser Zeit zu geben, sich
-auf das Fürchterliche vorzubereiten, das nun kommen soll.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_328">[328]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_9">Neuntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Vor Erregung am ganzen Leibe zitternd, das riesige
-Küchenmesser in der Hand, den rechten Ärmel der Nachtjacke
-hinaufgeschoben, ging die Postmeisterin direkt auf die Tür
-zum Bureau los und legte das Ohr noch einmal an den
-Spalt. Es war kein Zweifel möglich: das unselige Paar lag
-im süßesten Schlaf; man hörte ganz deutlich, wie das eine
-stärkere Wesen tiefe Kehllaute von sich gab, während das
-andere, zartere, sich auf ein ganz sanftes Pfeifen beschränkte.</p>
-
-<p>Die Postmeisterin steckte das Messer in den Türspalt, schob
-den Haken zurück und die leichte Tür ging mit leisem Knarren
-auf.</p>
-
-<p>Es war noch früh am Morgen, kaum hoben sich die Fenster
-durch ihr mattes Grau von der Finsternis ab, doch das geübte
-Auge der Postmeisterin erkannte sowohl den Tisch mit
-der Postwage, als auch den zweiten langen Tisch in der Ecke
-und das Sofa.</p>
-
-<p>Mit der linken Hand sich an der Wand entlang tastend,
-bewegte sich die zürnende Dame direkt auf das Sofa zu
-und erreichte ohne besondere Schwierigkeiten den Schnarcher,
-der mit tief herabhängendem Kopfe ganz am Rande lag.
-Er hatte nichts gehört, und als die Postmeisterin vor ihn
-hintrat, schien er sogar mit ganz besonderem Eifer und Genuß
-in den lieblichsten Säuseltönen zu schwelgen, als ob er ahnte,
-daß die Sache bald ein Ende haben werde und daß es ihm<span class="pagenum"><a id="Seite_329">[329]</a></span>
-heute nicht mehr vergönnt sein werde, sich diesem Vergnügen
-hinzugeben.</p>
-
-<p>So kam es denn auch.</p>
-
-<p>Noch war der Schläfer mit seiner letzten Fioritur nicht
-ganz fertig, als die Linke der Frau Postmeisterin ihn kräftig
-an den Haaren emporriß und die Rechte, nachdem sie das
-Messer fallen gelassen, ihm eine schallende Ohrfeige verabfolgte.</p>
-
-<p>»Mmmm … Warum denn? Warum?« brummte der
-Erwachende, aber statt einer Antwort erhielt er eine zweite
-Ohrfeige, dann eine dritte, eine fünfte, zehnte, eine immer
-kräftiger und dröhnender als die andere.</p>
-
-<p>»Au, au, au,« schrie er und versuchte vergeblich, den aus
-der Finsternis auf ihn herabhagelnden Backpfeifen auszuweichen,
-bis diese plötzlich durch ein weniger lautes, aber
-nicht minder schmerzhaftes Zausen und Schütteln ersetzt
-wurden.</p>
-
-<p>»Herzchen! Was tust du denn, Herzchen! Das bin ja
-gar nicht ich! Das ist doch Warnawa Wasiljewitsch!« kam
-vom Tische her die Stimme des aufgeschreckten Postmeisters.</p>
-
-<p>Die Postmeisterin hielt verblüfft ein, ließ die Mähne Warnawas
-los, schrie laut auf: »Was machst du mit mir, du
-Ungeheuer!« &ndash; und stürzte sich auf ihren Gatten.</p>
-
-<p>»Ja, ja, das bin ich,« hörte Warnawa den Postmeister
-rufen, und ohne etwas zu begreifen &ndash; außer der Notwendigkeit,
-sich eiligst aus dem Staube zu machen &ndash; sprang er vom
-Sofa auf und rannte, wie er war, in Unterhosen und
-Strümpfen, durch die glücklich gefundene Tür auf die
-Straße hinaus.</p>
-
-<p>Er war gründlich verdroschen worden, und als er sich das
-Gesicht mit dem Ärmel wischte, bemerkte er, daß seine Nase
-blutete.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_330">[330]</a></span></p>
-
-<p>In demselben Augenblick ging die Tür leise auf und seine
-Kleider fielen vor ihm hin. Er bückte sich, um sie aufzuheben,
-als eine Minute später auch die Stiefel über den Zaun geflogen
-kamen.</p>
-
-<p>Warnawa setzte sich auf den Boden und zog die Stiefel
-an, fuhr, so gut es ging, in Hosen und Rock und trottete
-nach Hause.</p>
-
-<p>Eine Woche darauf verließ der Lehrer Prepotenskij mit
-einem Urlaubschein und einigen wenigen Spargroschen in
-der Tasche die Stadt. Die Ursache dieser plötzlichen Flucht
-war und blieb für alle ein ewiges Geheimnis.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_331">[331]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap4_10">Zehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>An demselben Tage, wo es in Stargorod so lustig herging,
-spielte sich weit draußen in dem gelben Stübchen des verbannten
-Propstes eine Szene anderer Art ab. Natalia
-Nikolajewna bereitete sich zum Sterben.</p>
-
-<p>Gewissenhaft und sparsam, wie sie war, hatte die Pröpstin
-während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes bei ihrem gemaßregelten
-Gatten sich ohne Bedienung beholfen und allerlei
-Arbeit auf sich genommen, an die sie nicht gewohnt war
-und die ihre Kräfte weit überstieg. Als sie bei dem letzten
-Fünfundzwanzigrubelschein in ihrer Schachtel angelangt war,
-erschrak sie, daß sie bald ganz ohne Geld sein würde, und beschloß,
-ihren Hauswirt, den Gendarm, zu bitten, ihnen die
-Miete zu stunden, bis der Propst wieder begnadigt sei. Der
-Gendarm ging darauf ein, Natalia Nikolajewna aber hielt
-das vor ihrem Gatten streng geheim und suchte auf jede
-Weise das Geld beim Hauswirt abzuverdienen: sie grub
-mit seiner Magd Kartoffeln, hackte Kohl und spülte ihre
-Wäsche selbst im Fluß.</p>
-
-<p>Jedoch das war zu viel für ihre Jahre und ihre schwache
-Gesundheit. Sie erkrankte und mußte das Bett hüten.</p>
-
-<p>Der Propst machte ihr Vorwürfe wegen ihrer übergroßen
-Sorgsamkeit.</p>
-
-<p>»Du glaubst, du hilfst mir,« sagte er, »aber als ich hörte,
-was du getan hast, verdoppelte das meine Qualen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_332">[332]</a></span></p>
-
-<p>»Vergib,« flüsterte Natalia Nikolajewna.</p>
-
-<p>»Was heißt: vergib? Vergib du mir,« antwortete der
-Propst und faßte ihre Hand, die er leidenschaftlich küßte.
-»Ich habe dich mit meiner starren Unbotmäßigkeit so weit
-gebracht, aber wenn du willst … sage nur ein Wort und ich
-gehe und demütige mich dir zuliebe.«</p>
-
-<p>»Was fällt dir ein? Nie werde ich dieses Wort sagen!
-Soll ich deine Lehrmeisterin sein, der du alles weißt und
-alles zum Rechten wendest?«</p>
-
-<p>»Um meiner Ehre willen <em class="gesperrt">muß</em> ich dieses tragen, Liebste.«</p>
-
-<p>»Und Gott möge dir helfen, an mich aber sollst du nicht
-denken.«</p>
-
-<p>Der Propst küßte noch einmal die Hände seiner Frau und
-ging an sein Tagewerk, Natalia Nikolajewna aber wickelte
-sich in ihre Decke und schlief ein. Und da sah sie im Traum
-den Diakon Achilla, der zu ihr ins Zimmer trat und sprach:
-»Warum betet Ihr denn nicht, daß der Vater Sawelij sein
-Leid leichter trage?« &ndash; »Wie denn?« fragt Natalia Nikolajewna,
-»lehre mich, wie ich zu beten habe.« &ndash; »Nun,« antwortet
-Achilla, »Ihr sollt bloß sagen: Herr, hilf uns auf den
-Wegen, die du kennst.« &ndash; »Herr, hilf uns auf den Wegen,
-die du kennst,« wiederholte Natalia Nikolajewna andächtig,
-und plötzlich war ihr, als nähme der Diakon sie auf seine
-Arme und trüge sie in das Allerheiligste, &ndash; der Raum war
-unendlich groß: Säule reihte sich an Säule, und der Altar
-reckte sich bis zum Himmel empor und flammte in tausend
-hellen Lichtern; hinter ihnen aber, von wo sie gekommen
-waren, schien alles winzig klein, so klein, daß sie gelacht hätte,
-wenn es sie nicht beunruhigt hätte, daß sie doch ein Weib sei,
-das Allerheiligste also gar nicht betreten dürfe. »Bist du bei
-Sinnen, Diakon!« sagte sie zu Achilla, »man wird dich deines
-Amtes entsetzen, wenn man erfährt, daß du eine Frau ins<span class="pagenum"><a id="Seite_333">[333]</a></span>
-Allerheiligste getragen hast.« Er aber erwiderte: »Ihr seid
-keine Frau, sondern eine <em class="gesperrt">Kraft</em>!« Und mit einem Male
-war Achilla und das Allerheiligste und der Altar und die
-Lichter &ndash; alles, alles verschwunden, und Natalia Nikolajewna
-schlief nicht mehr, sondern wunderte sich nur, warum
-alles um sie herum immer noch so klein aussah: der Samowar
-da drüben war gar kein richtiger Samowar, sondern ein
-Spielzeug, und die Teekanne darauf war nur eine Eierschale&nbsp;…</p>
-
-<p>In diesem Augenblick kam Tuberozow aus dem Kloster
-zurück und fing an, freundlich zu ihr zu sprechen, sie aber
-wehrte mit beiden Händen ab.</p>
-
-<p>»Still,« sagte sie, »still: ich muß ja bald sterben.«</p>
-
-<p>Der Propst blickte sie ganz erstaunt an.</p>
-
-<p>»Was fällt dir ein, Natascha? Gott behüte uns in
-Gnaden!«</p>
-
-<p>»Nein, Liebster, ich muß sterben. Ich lebe nur noch halb.«</p>
-
-<p>»Wer hat dir das gesagt?«</p>
-
-<p>»Wer mir's gesagt hat? Ich sehe alles nur halb.«</p>
-
-<p>Der Arzt kam, fühlte den Puls, besah die Zunge und sagte:
-»Nichts Besonderes, Erkältung und Übermüdung.«</p>
-
-<p>Tuberozow wollte ihm sagen, daß die Kranke alles nur
-halb sehe, aber er genierte sich.</p>
-
-<p>»Du hast sehr recht getan, es ihm nicht zu sagen,« meinte
-Natalia Nikolajewna, als er es ihr erzählte.</p>
-
-<p>»Siehst du wirklich alle Gegenstände nur halb?«</p>
-
-<p>»Ja! Ist das droben am Himmel der Mond?«</p>
-
-<p>»Freilich ist es der Mond, der auf uns zwei Alte durchs
-Fenster herabschaut!«</p>
-
-<p>»Und mir erscheint er wie ein Fischauge.«</p>
-
-<p>»Das kommt dir nur so vor, Natascha.«</p>
-
-<p>»Nein, es ist wirklich so, Vater Sawelij.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_334">[334]</a></span></p>
-
-<p>Um seine Frau von ihrem Irrtum zu überzeugen, nahm
-Tuberozow den verhängnisvollen Fünfundzwanzigrubelschein
-aus der Schachtel und zeigte ihn ihr.</p>
-
-<p>»Nun sag mal, was ist das?«</p>
-
-<p>»Zwölf und ein halber Rubel,« erwiderte Natalia Nikolajewna
-sanft.</p>
-
-<p>Tuberozow erschrak. Das war ihm unbegreiflich. Natalia
-Nikolajewna aber faßte lächelnd seine Hand und flüsterte,
-indem sie die Augen schloß:</p>
-
-<p>»Du scherzest und ich scherze auch. Ich habe wohl gesehen,
-daß das unser Schein war. Aber alles sieht winzig klein aus.
-Doch sobald ich die Augen zumache, seh' ich alles groß, riesengroß.
-Alle wachsen: du und Nikolai Afanasjewitsch, unser
-Freund, und der liebe Diakon Achilla, und Vater Zacharia …
-Mir ist so wohl, so wohl, weckt mich nicht.«</p>
-
-<p>Und Natalia Nikolajewna entschlief für immer.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_335">[335]</a></span></p>
-
-<h2 id="Fuenftes_Buch">Fünftes Buch.</h2>
-
-<h3 id="kap5_1">Erstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Nicht nur den Zwerg Nikolai Afanasjewitsch erschütterte
-die schauerliche Ruhe des Gesichtsausdrucks und der wackelnde
-Kopf Tuberozows, der langsam durch den tiefen Schlamm
-der ungepflasterten Straßen hinter dem Sarge seiner entschlafenen
-Gattin herging, sondern in dem großen und
-stummen Schmerz tiefangelegter Menschen liegt unzweifelhaft
-eine unwiderstehliche Kraft, die von allen empfunden wird
-und bei kleinen Naturen, welche gewohnt sind, ihr Weh in
-lauten Seufzern und Geschrei ausströmen zu lassen, Angst
-und Grauen erweckt. Das fühlte jetzt jeder, der irgend etwas
-mit dem verwaisten Greise zu tun gehabt hatte, dessen treue
-Gefährtin dahingegangen war. Als die Erdschollen an den
-Sargdeckel schlugen und der in den Bann getane Priester sich
-umwandte, um von dem hohen Erdhaufen herabzusteigen,
-traten alle Umstehenden zurück und gaben ihm den Weg
-frei, den er nun auch ganz allein mit entblößtem Haupte
-durch den ganzen Friedhof entlang schritt.</p>
-
-<p>Am Tor blieb er stehen, betete vor dem Heiligenbild der
-Kapelle, setzte seinen Hut auf und wandte sich noch einmal
-um. Erstaunt trat er zurück. Vor ihm stand der Zwerg<span class="pagenum"><a id="Seite_336">[336]</a></span>
-Nikolai Afanasjewitsch, der von der Grabstätte an in einer
-Entfernung von zwei Schritt hinter ihm hergegangen war.</p>
-
-<p>Etwas wie Freude zuckte über das Gesicht des Propstes.
-Es tat ihm augenscheinlich wohl, seinem »alten Märchen«
-in einem so trüben Augenblick zu begegnen. Er wandte sich
-seitwärts den schwarzen Feldern zu, auf denen noch kümmerlich
-und frierend die Wintersaat sproßte, und aus seinen
-Augen fiel eine schwere Träne, einsam und schnell, wie ein
-Tropfen Quecksilber, und verlor sich in seinem grauen Barte,
-gleich einem im Walde verirrten Waisenkind.</p>
-
-<p>Der Zwerg bemerkte diese Träne. Er wußte, was sie bedeutete
-und schlug still ein Kreuz. Sie machte Sawelijs vom
-Übermaß des Schmerzes beengte Brust leicht. Er holte tief
-Atem, und als der Zwerg ihn aufforderte, in seinen Wagen
-zu steigen, erwiderte er:</p>
-
-<p>»Ja, Nikolascha, es ist gut, ich will mit dir fahren.«</p>
-
-<p>Schweigend fuhren sie dahin, bis der Wagen vor dem
-Häuschen des Gendarmen in der Klostervorstadt hielt. Tuberozow
-drückte dem Zwerg stumm die Hand und ging in
-seine Wohnung.</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch folgte ihm nicht. Er empfand, daß
-Tuberozow jetzt allein sein wollte. Erst am Abend besuchte
-er den Witwer, und nachdem er eine Zeitlang dagesessen
-hatte, bat er um Tee unter dem Vorwande, daß ihn friere;
-in Wirklichkeit wollte er Sawelij von seinem Schmerz ablenken
-und das Gespräch auf den eigentlichen Zweck seines
-Besuchs bringen. Der Plan gelang vollkommen, und als
-Tuberozow den dampfenden Samowar hineingetragen hatte,
-die Tassen aus dem Schrank holte und sich anschickte, den Tee
-zu bereiten, begann der Zwerg leise zu erzählen, was sich in
-all der Zeit in Stargorod zugetragen. Schritt für Schritt
-ging er vorwärts, ließ einen Tag nach dem andern vorüberziehen,<span class="pagenum"><a id="Seite_337">[337]</a></span>
-bis zu dem Augenblick, wo er hier am Teetisch saß.
-In diesem Bericht war natürlich sehr viel die Rede von der
-Betrübnis der Städter über das Mißgeschick des Propstes,
-den man so sehr vermißte und ganz zu verlieren fürchtete.</p>
-
-<p>Der Propst, der dem Zwerg anfangs ernst und ruhig, beinahe
-teilnahmlos zugehört hatte, wurde aufmerksamer, als
-die Rede auf das Verhalten der Gemeinde seiner Maßregelung
-gegenüber kam. Und als der Zwerg, nachdem er sich erst umgesehen
-hatte, mit gedämpfter Stimme zu erzählen fortfuhr,
-sie hätten im Namen der ganzen Gemeinde ein Gesuch aufgesetzt
-und unterzeichnet, und er, Nikolai Afanasjewitsch, hätte
-es von Achilla empfangen und auf seiner Brust verborgen,
-da zuckte die Unterlippe des Alten krampfhaft und er sagte:</p>
-
-<p>»Ein braves Volk. Ich danke.«</p>
-
-<p>»Ja, es ist brav, unser Volk, sogar sehr brav, aber es weiß
-noch nicht recht, wie es eine Sache anfangen soll.«</p>
-
-<p>»Finsternis, Finsternis über dem Abgrund … doch über
-allem schwebt der Geist des Herrn,« sagte der Propst, seufzte tief
-und bat um das Papier, von dem der Zwerg gesprochen hatte.</p>
-
-<p>»Wozu braucht Ihr es denn, Vater Propst, dieses Papier?«
-fragte der Zwerg schlau lächelnd. »Morgen wird es dem
-überreicht, an den es gerichtet ist&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Gib es mir, ich will es besehen.«</p>
-
-<p>Der Zwerg knöpfte seinen Rock auf, um seinen Brustbeutel
-herauszuholen, schien sich aber plötzlich auf etwas zu besinnen.</p>
-
-<p>»Nun, so gib doch her,« bat Sawelij.</p>
-
-<p>»Aber werdet Ihr … werdet Ihr es nicht zerreißen,
-Vater Propst?«</p>
-
-<p>»Nein,« sagte Tuberozow fest, und als der Kleine ihm
-das Blatt hinreichte, das mit winzigen und riesengroßen,
-deutlichen und ganz unleserlichen Unterschriften bedeckt war,
-murmelte Sawelij andächtig:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_338">[338]</a></span></p>
-
-<p>»Zerreißen? Dieses kostbare Dokument zerreißen? Nein,
-nein! Mit ihm ins Gefängnis; mit ihm ans Kreuz! In
-den Sarg sollt ihr es mir legen!«</p>
-
-<p>Und zum nicht geringen Entsetzen des Zwerges rollte er
-das Blatt schnell zusammen und verbarg es auf seiner Brust
-unter dem Leibrock.</p>
-
-<p>»Aber, Vater Propst, das soll doch eingereicht werden!«</p>
-
-<p>»Nein, das soll es nicht!«</p>
-
-<p>Ihm das Papier jetzt fortzunehmen, war unmöglich. Man
-konnte sicher sein, daß er sich eher von seinem Leben, als von
-diesem Blatt mit den kostbaren Krakelfüßen seiner Gemeinde
-trennen würde.</p>
-
-<p>Dies sah der Zwerg ein und versuchte vorsichtig, sich dem
-Gedankengang Sawelijs anzupassen. Er fing an davon
-zu reden, wie bedeutungsvoll und erfreulich dieses Eintreten
-der Gemeinde für ihren Pfarrer sei, und wies weiter darauf
-hin, daß der Wille der Gemeinde für jeden Einzelnen bindend
-und heilig sein müsse.</p>
-
-<p>»Sie weinen und wehklagen jetzt, Vater Propst, daß sie
-Euch nicht mehr sehen sollen.«</p>
-
-<p>»Das ist nicht zu ändern,« sagte der Propst seufzend.
-»Meine Tage sind ohnedies schon gezählt.«</p>
-
-<p>»Aber ich, Vater Propst? Wie steh' ich da? Was hat die
-Gemeinde mir anvertraut und womit kehr' ich zu ihr zurück?«</p>
-
-<p>Tuberozow stand auf, durchschritt ein paarmal sein enges
-Zimmerchen, blieb in der Ecke vor dem Heiligenbilde stehen,
-zog das Blatt wieder hervor, küßte es noch einmal und reichte
-es dann dem Zwerg mit den Worten:</p>
-
-<p>»Du hast recht, mein lieber Freund, tu, wie die Gemeinde
-dir befohlen.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_339">[339]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_2">Zweites Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch hatte viel Mühe, um seinen Auftrag
-auszuführen, aber er war ebenso unermüdlich wie geschickt.
-Dieser kleine Abgesandte der großen Gemeinde kannte
-weder Ermattung noch Überstürzung. Wie eine Klette hängte
-er sich an alle, die ihm förderlich sein konnten, und ließ sie
-nicht los. Den Propst besuchte er allabendlich, doch erzählte
-er ihm nichts von seinen Bemühungen, und Sawelij selbst
-dachte nicht daran, ihn zu fragen. Inzwischen rückte aber
-die Sache so gut vorwärts, daß am neunten Tage nach dem
-Tode Natalia Nikolajewnas, als der Propst vom Friedhof
-gekommen war, der Zwerg zu ihm sagen konnte:</p>
-
-<p>»Nun, lieber Vater Propst, macht Euch zur Heimreise
-fertig. Man entläßt Euch.«</p>
-
-<p>»Der Wille des Herrn sei über mir,« erwiderte Tuberozow
-gleichgültig.</p>
-
-<p>»Man verlangt nur eines von Euch, Ihr sollt Euch schriftlich
-verpflichten, dieses hinfort nicht mehr zu tun.«</p>
-
-<p>»Gut; ich will's nicht mehr tun … werde es nicht tun …
-ich bin schwach und zu nichts mehr zu brauchen.«</p>
-
-<p>»Wollt Ihr Eure Unterschrift geben?«</p>
-
-<p>»Ja … ich will … ich bin bereit.«</p>
-
-<p>»Und dann bittet man noch … Ihr sollt Euch schuldig
-bekennen und um Verzeihung bitten.«</p>
-
-<p>»Schuldig? Wessen beschuldigt man mich?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_340">[340]</a></span></p>
-
-<p>»Des Übermuts. Das heißt &ndash; sie nennen es so: Übermut.«</p>
-
-<p>»Übermut? Ich war nie übermütig und habe stets auch andere,
-soviel ich vermochte, davon zurückgehalten. Ich kann mich also
-nicht einer Sünde schuldig bekennen, die ich nicht begangen habe.«</p>
-
-<p>»Aber sie nennen es so.«</p>
-
-<p>»So sage ich ihnen, daß ich mir keines Übermuts bewußt bin.«</p>
-
-<p>Tuberozow blieb stehen, hob den Zeigefinger der rechten
-Hand in die Höhe und rief:</p>
-
-<p>»Der Prophet ward nicht übermütig genannt, da er für
-den Herrn eiferte. Geh hin und sage ihnen: der Priester,
-den ihr in den Bann getan, läßt euch melden, daß der Eifer
-des Herrn ihn getrieben, und daß er, wie er als Eiferer geboren,
-so auch sterben werde. Und jetzt will ich kein Wort
-von Vergebung mehr hören.«</p>
-
-<p>Mit dieser kategorischen Antwort mußte der Fürsprecher
-sich entfernen, und wieder lief er von Tür zu Tür, bat, flehte,
-drohte sogar mit dem menschlichen und göttlichen Gericht,
-aber alles war vergeblich.</p>
-
-<p>Der Zwerg wurde krank und mußte sich zu Bett legen;
-die Unmöglichkeit, die Sache zum Austrag zu bringen, die
-er auf sich genommen, hatte die Kraft und die Geduld des
-eigenartigen Anwalts gebrochen.</p>
-
-<p>Nun tauschten die beiden Alten ihre Rollen, und wie bisher
-Nikolai Afanasjewitsch den Propst täglich besucht hatte,
-so wanderte jetzt Sawelij, wenn er die vorgeschriebene Menge
-Holz gesägt und die Vesper im Kloster mit angehört hatte,
-nach dem großen Plodomasowschen Hause, wo der Kranke
-in einem kleinen Hinterstübchen lag.</p>
-
-<p>Der arme Zwerg tat dem Propst unsagbar leid, er fühlte
-alle seine Schmerzen mit ihm und sagte seufzend:</p>
-
-<p>»Das hatte noch gefehlt, daß du um meinetwillen leiden
-mußtest.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_341">[341]</a></span></p>
-
-<p>»Ach, Vater Propst, was redet Ihr von mir altem Hasen?
-Wozu bin ich denn überhaupt noch auf der Welt? Denkt
-lieber an Euch, und an ihn, an Euren Hohepriester! Er
-<em class="gesperrt">bittet</em> Euch doch, daß Ihr Euch demütigt! Tröstet ihn,
-gebt nach, bittet um Vergebung.«</p>
-
-<p>»Ich kann nicht, Nikolai, ich kann nicht.«</p>
-
-<p>»Demütigt Euch.«</p>
-
-<p>»Ich demütige mich vor der Gewalt, aber was höher ist
-als die irdische Gewalt, das hat mehr Macht über mich …
-Ich stehe unter dem Gesetz. Sirach hat es uns zur Pflicht
-gemacht, für die Ehre unseres Namens Sorge zu tragen,
-und der Apostel Paulus protestierte gegen die Mißachtung
-seiner Bürgerrechte; ich habe nicht das Recht, mich zu erniedrigen
-um einer Abbitte willen.«</p>
-
-<p>Der Zwerg gab alle Hoffnung auf und begann, sich zur
-Heimreise nach Stargorod zu rüsten. Sawelij widersetzte sich
-dem nicht; im Gegenteil, er riet ihm selbst, schneller abzureisen
-und gab ihm keinerlei Aufträge, was er daheim sagen
-oder antworten sollte. Bis zum letzten Augenblick, als er
-den Zwerg aus der Stadt hinaus bis zum Zollschlagbaum
-begleitete, bestand er auf seinem Willen und kehrte ruhig
-in die Stadt und auf den Klosterhof zurück, um sein Holz
-zu sägen.</p>
-
-<p>Der Kummer des Zwerges war grenzenlos. Er hatte
-ganz anders gehofft heimzukehren, und seine Gedanken umkreisten
-unablässig denselben Gegenstand. Plötzlich jedoch
-kam ihm Erleuchtung &ndash; ein einfacher, klarer, rettender,
-glänzender Gedanke, wie sie dem Menschen nur selten
-kommen und fast immer so unverhofft, als würden sie
-ihm von oben gesandt.</p>
-
-<p>Etwa zehn Werst weit war der Zwerg gefahren, als er dem
-Kutscher befahl, wieder nach der Stadt zurückzukehren. Sofort<span class="pagenum"><a id="Seite_342">[342]</a></span>
-begab er sich zu Sawelijs Vorgesetzten und bat flehentlich,
-man möge dem Propst <em class="gesperrt">befehlen</em>, Abbitte zu tun.</p>
-
-<p>Da man des halsstarrigen alten Mannes lange überdrüssig
-war, erfüllte man seinen Wunsch ohne weiteres. Er
-erschien daher wieder bei Tuberozow und erklärte:</p>
-
-<p>»Nun, stolzer Vater Propst, Ihr wolltet Euch nicht bestimmen
-lassen, &ndash; jetzt habt Ihr's so weit gebracht, daß
-Ihr Euch der Strenge fügen müßt. Ich bin beauftragt,
-Euch mitzuteilen, daß die Obrigkeit Euch kraft der ihr zukommenden
-Gewalt befiehlt, Abbitte zu tun.«</p>
-
-<p>»Wo soll ich denn den Kniefall tun: hier, oder auf dem
-Marktplatz, oder in der Kirche?« fragte Tuberozow trocken.
-»Mir ist es gleich. Was man mir befiehlt, muß ich tun.«</p>
-
-<p>Der Zwerg antwortete, daß kein Mensch eine derartige Demütigung
-von ihm verlange; er habe schriftlich Abbitte zu leisten.</p>
-
-<p>Sofort setzte sich Tuberozow hin und schrieb das Gewünschte
-nieder. Als Überschrift wählte er die Worte: »Befohlenes
-ergebenstes Gesuch.«</p>
-
-<p>Der Zwerg bemerkte, daß das Wort »befohlen« hier ganz
-unpassend sei, jedoch Sawelij wies ihn energisch zurück:</p>
-
-<p>»Ich hoffe, man hat dich nicht noch beauftragt, mir Unterricht
-in der Logik zu erteilen. Ich habe genug davon im
-Seminar gelernt. Du sagtest, es würde mir befohlen, und
-also schreibe ich auch ›befohlenes Gesuch‹.«</p>
-
-<p>Die Sache endete damit, daß man den Vater Sawelij,
-um ihn endlich einmal los zu sein, ziehen ließ, weil aber sein
-ergebenstes Gesuch zugleich als »befohlenes« bezeichnet worden
-war, so erfolgte darauf der Bescheid, daß der Propst noch ein
-halbes Jahr lang keine Amtshandlungen ausüben dürfe.</p>
-
-<p>Sawelij nahm das sehr kühl auf, dankte allen, denen er
-Dank zu schulden glaubte, und reiste mit dem Zwerge nach
-Stargorod. Die lange, qualvolle Verbannung war vorüber.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_343">[343]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_3">Drittes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Unterwegs redeten sie nicht viel, und immer nur war es
-der Zwerg, welcher anfing. Er wollte den Propst, der stumm
-mit den in alten Wildlederhandschuhen über den Knien gefalteten
-Händen dasaß, zerstreuen und erheitern. Nikolai
-Afanasjewitsch fing bald von diesem, bald von jenem an,
-Tuberozow jedoch schwieg oder gab nur ganz kurze Antworten.
-Der Kleine erzählte, wie die Gemeinde um den
-Propst geklagt und geweint hätte, wie die Postmeisterin ihren
-Mann verprügeln wollte und statt dessen den Lehrer verprügelt
-hätte, wie dieser, von der Biziukina verfolgt, aus der
-Stadt geflohen sei, aber der Alte schwieg und schwieg.</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch sprach von Tuberozows Hause: es
-werde baufällig und müsse repariert werden.</p>
-
-<p>Seufzend meinte der Propst:</p>
-
-<p>»Für mich ist das alles nur Staub, und es ekelt mich,
-daß ich mein Herz daran hängen konnte.«</p>
-
-<p>Der Zwerg fing von Achilla an, der immer einen Zeitvertreib
-zu finden wisse: jetzt habe er z. B. ein Hündchen
-zu sich ins Haus genommen, das er noch blind am Flußufer
-ausgesetzt gefunden, und triebe immer neuen Spaß
-mit ihm.</p>
-
-<p>»Mag er doch, wenn es ihm Vergnügen macht,« sagte
-der Propst leise.</p>
-
-<p>Nikolai Afanasjewitsch fuhr lebhafter fort:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_344">[344]</a></span></p>
-
-<p>»Ja, und es passieren ganz seltsame Geschichten mit diesem
-Hündchen, Vater Propst. Er hat diesen Hund, wie schon
-seine früheren, lachen gelehrt, und wenn er zu ihm sagt:
-›Lache, mein Hündchen‹ &ndash; dann zeigt es gleich die Zähnchen.
-Nun machte ihm aber der Gedanke Sorge, wie er das Tierchen
-nennen sollte.«</p>
-
-<p>»Als ob es dem Vieh nicht ganz gleichgültig sei, wie man
-es nennt,« sagte der Propst scheinbar gelangweilt.</p>
-
-<p>Aber der Zwerg hatte schon gemerkt, daß sein Gefährte
-den Geschichten vom Diakon Achilla mehr Teilnahme entgegenbrachte
-als seinen sonstigen Reden, und fuhr deshalb
-fort:</p>
-
-<p>»Man sollte es meinen. Aber dem Vater Diakon ist es
-nicht gleichgültig. Er ist nun mal so ein Charakter: hat er
-sich was in den Kopf gesetzt, dann hat er auch keine Ruhe
-mehr bei Tag und Nacht. ›Ich habe‹, sagt er, ›dies Hündlein
-bei einer besondern Gelegenheit in sehr erregter Stimmung
-heimgebracht, und ich will, daß es zur Erinnerung an diesen
-Tag auch einen besondern Namen habe, einen Namen, wie
-er sonst nicht vorkommt.‹«</p>
-
-<p>Der Propst lächelte.</p>
-
-<p>»So kam Vater Achilla eines Tages zu mir nach Plodomasowo
-geritten, hielt auf seinem Rosse vor meinem und
-meines Schwesterleins Fenstern an und rief mit Donnerstimme:
-›Nikolascha! Heda, Nikolascha!‹ Ich dachte: ›Herrgott,
-was ist denn da passiert?‹ schaute zum Fenster hinaus
-und fragte: ›Ist am Ende dem Vater Sawelij noch etwas
-Schlimmes widerfahren, Vater Diakon?‹ &ndash; ›Nein,‹ entgegnete
-er, ›nichts dergleichen, aber ich habe ein wichtiges
-Anliegen an dich, Nikolascha. Ich muß dich um Rat fragen.‹
-&ndash; ›Um was handelt sich's denn?‹ rief ich hinunter. ›Macht
-schnell, wertester Herr, denn mir wird's kalt, wenn ich so<span class="pagenum"><a id="Seite_345">[345]</a></span>
-lange am offenen Fenster stehe. Ich vertrage das nicht.‹ &ndash;
-›Du hast dich‹, sagte er, ›von klein auf in herrschaftlichen
-Häusern umgetan und mußt alle Hundenamen wissen.‹ &ndash;
-›Da verlangt Ihr zu viel,‹ sagte ich. ›Ein jeder nennt seinen
-Hund so, wie's ihm paßt.‹ &ndash; ›Na also,‹ schrie er zurück,
-›dann leg mal los!‹ &ndash; Ich antwortete, der Name richte
-sich doch meistens nach der Rasse. Die Windspiele nenne
-man ›Mylord‹, unsere einfachen Hunde ›Barbos‹, die englischen
-›Fanny‹, die kurländischen ›Charlotte‹ … ›Aber‹,
-unterbrach mich der Vater Diakon, ›du sollst mir einen
-Namen nennen, der sonst nirgends vorkommt. Du mußt
-einen solchen wissen!‹ ›Herrgott, wie beruhige ich den Menschen
-nur?‹ dachte ich.«</p>
-
-<p>»Nun, und was hast du schließlich gemacht?« fragte Tuberozow
-neugierig.</p>
-
-<p>»Ich fror derart am offenen Fenster, daß ich, nur um ihn
-schneller loszuwerden, meinte: ›Ich kenne noch einen Hundenamen,
-werter Herr, aber ich habe nicht den Mut, ihn Euch
-zu sagen.‹ &ndash; ›Tut nichts,‹ schrie er, ›sag ihn ruhig!‹ &ndash; ›Ich
-kannte einen Herrn, dessen Hund hieß Wiesie.‹ Vater Achilla
-machte ein ganz verdutztes Gesicht. ›Was ist das für Unsinn,
-du bist wohl verrückt geworden?‹ &ndash; ›Nein,‹ sagte ich, ›verrückt
-bin ich nicht, ich weiß nur ganz genau, daß in Moskau
-ein Fürst einen Hund hatte, der hieß Wiesie.‹ Achilla Andrejewitsch
-geriet nun in fürchterliche Wut, gab seinem Pferd
-die Sporen, ritt hart an die Mauer heran und schrie: ›Wie
-darfst du alter schamloser Kerl solche Dinge reden? Weißt
-du nicht, daß ich einen christlichen Namen trage und daß ich
-ein Diener des Altars bin?‹ Mit Müh und Not konnte ich
-ihn beruhigen, Vater Propst, und ihm erklären, was es mit
-dem Wiesie für eine Bewandtnis hatte. Darauf schwang er
-sich auf sein Pferd, holte das Hündchen aus seinem Pelz,<span class="pagenum"><a id="Seite_346">[346]</a></span>
-wo er es verborgen gehalten hatte, heraus und rief: ›Guten
-Tag, Wiesiechen!‹ Und sprengte fröhlich von dannen.«</p>
-
-<p>»Das große Kind!« sagte Sawelij lächelnd.</p>
-
-<p>»Ja, er muß immer spaßen.«</p>
-
-<p>»Tadele ihn nicht. Das Kind muß sein Spielzeug haben,
-damit es nicht weint. Er hat eine schwere Last zu tragen.
-Rundherum liegt alles in tiefstem Schlaf und in ihm brennen
-tausend Leben.«</p>
-
-<p>»Sehr richtig. Ich kann mir auch gar nicht denken, wie
-er einmal sterben wird.«</p>
-
-<p>»Ich auch nicht,« meinte der Propst lächelnd. »Er ist die
-verkörperte Verneinung des Todes. Was aber wurde weiter
-aus dem Wiesie?«</p>
-
-<p>»Ja, was meint Ihr wohl? Seinetwegen gab es noch
-Zank und Streit ohne Ende. Es konnte ja auch gar nicht
-anders sein. Der Vater Diakon hatte sich nämlich folgendes
-angewöhnt: Wenn er besonders große Sehnsucht nach Euch
-bekam, nahm er sein Wiesiechen auf den Arm und begab
-sich zur Poststation. Dort setzte er sich vor die Tür und wartete.
-Kaum zeigte sich nun ein vornehmer Reisender oder eine
-Dame, so sagte er gleich: ›Lache, mein Hündchen!‹ Und
-das kleine Vieh lachte. Das machte den Reisenden Spaß
-und sie fragten: ›Wie heißt denn das Hündchen, Herr Pfarrer?‹
-Er antwortete: ›Ich bin kein Pfarrer, sondern bloß Diakon,
-meinen Pfarrer haben die Hunde gefressen.‹ ›Wie heißt denn
-aber das Hündchen?‹ fragten sie erneut. ›Das Hündchen,
-das heißt Wiesie.‹ Auf diese Weise geriet er mit allen in
-Streit. ›Ich will sie so alle ins Gesicht Hunde nennen,‹ sagte
-er, ›und der Friedensrichter kann mir doch nichts anhaben.‹
-So nimmt er Rache für Euch, Vater Sawelij; aber was er
-eigentlich damit erreicht, das bedenkt er gar nicht. Dem
-Vater Zacharia ist es seinetwegen schon einmal schlimm ergangen:<span class="pagenum"><a id="Seite_347">[347]</a></span>
-der Propst sah den Hund bei ihm und fragte, wie
-er hieße. ›Er heißt Wiesie, Hochwürden‹ &ndash; sagte Zacharia
-und zog sich einen ernsten Verweis zu.«</p>
-
-<p>Sawelij lachte Tränen. »Dieser ehrliche Zacharia ist köstlich.
-Ein Gefäß Gottes und ein Beter, wie ich keinen zweiten
-gesehen. Ich sehne mich, ihn wieder zu umarmen.«</p>
-
-<p>Von der Anhöhe, welche die Reisenden jetzt erreichten,
-ward plötzlich die ganze Stadt sichtbar, diese alte, eigentümliche
-Stadt, die für Tuberozow so viele Erinnerungen barg;
-sie überkamen den Alten mit einer solchen Macht, daß
-er sich zurücklehnen und die Augen schließen mußte, als hätte
-ihn zu grelles Sonnenlicht geblendet.</p>
-
-<p>Sie ließen den Kutscher langsamer fahren, denn erst, wenn
-es dämmerte, wollten sie in der Stadt sein. Als sie im Halbdunkel
-mit dem eisernen Ring gegen das wohlbekannte Tor
-schlugen, ertönte von innen Achillas Stimme: »Wer da?«
-Tuberozow wischte sich eine Träne aus dem Auge und bekreuzigte
-sich.</p>
-
-<p>»Wer denn sonst als ich und Vater Sawelij,« antwortete
-der Zwerg.</p>
-
-<p>Der Diakon schrie laut auf, flog die Verandastufen herunter,
-öffnete das Tor weit, rollte wie eine Lawine in den
-Wagen hinein und umklammerte den Hals des Propstes.</p>
-
-<p>So saßen beide umarmt im Wagen und schluchzten lange
-und bitterlich, während der Zwerg daneben stand und seine
-sanften, befreienden Tränen leise mit der kleinen, frosterstarrten
-Faust wegwischte.</p>
-
-<p>Als der Diakon sich ausgeweint hatte, fing er an zu sprechen.
-Beinahe hätte er nach Natalia Nikolajewna gefragt, aber er
-besann sich noch im rechten Augenblick und gab dem Gespräch
-schnell eine andere Wendung, indem er dem Propst das
-Hündchen zeigte, das zu seinen Füßen spielte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_348">[348]</a></span></p>
-
-<p>»Das ist mein neuer Hund, Vater Propst, mein Wiesiechen.
-Ein ganz famoses Vieh. Wir brauchen bloß zu befehlen,
-dann lacht er. Was sollen wir wegen unnützer Dinge Trübsal
-blasen!«</p>
-
-<p>»Wegen unnützer Dinge!« klang es unerträglich schmerzvoll
-in Vater Sawelijs Herzen nach, aber er sprach die Worte
-nicht aus, sondern drückte nur des Diakons Hand, so fest
-er konnte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_349">[349]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_4">Viertes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Als der Propst sein Haus betreten hatte, dessen einziger
-Bewohner und Herr so lange Zeit der Diakon Achilla gewesen
-war, küßte er den wilden Riesen auf den trockenen
-Scheitel seines Lockenkopfes, ging dann mit ihm durch alle
-Zimmer, machte das Zeichen des Kreuzes über dem leeren,
-verwaisten Bettchen Natalia Nikolajewnas und sprach:</p>
-
-<p>»Nun, alter Freund, jetzt hat es wohl keinen Sinn mehr,
-daß wir uns wieder trennen? Bleiben wir zusammen.«</p>
-
-<p>»Mit tausend Freuden. Ich hatte es mir selbst auch schon
-so gedacht,« entgegnete Achilla und schloß den Propst wieder
-in seine Arme.</p>
-
-<p>So hausten sie denn zu zwei hier. Achilla sang in der
-Kirche und sorgte für die Wirtschaft, Tuberozow saß zu Hause,
-las seinen John Bunian, dachte und betete.</p>
-
-<p>Er lebte das intensive, konzentrierte Leben eines Geistes,
-der mit sich selbst ins Reine zu kommen sucht.</p>
-
-<p>Achilla hielt ihm alle kleinen Alltagssorgen fern und gab
-dem Alten die Möglichkeit, ganz und gar der innern Sammlung
-zu leben.</p>
-
-<p>Aber dieses Glück sollte nicht lange dauern. Dem Diakon
-ward eine große Ehre zuteil: der Bischof, der zur Session
-des Heiligen Synods berufen war, nahm ihn mit nach
-Petersburg, weil der Protodiakon der Gouvernementskathedrale
-erkrankt war.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_350">[350]</a></span></p>
-
-<p>Der Abschied des Diakons von Tuberozow war rührend.
-Achilla, der in seinem Leben noch keinen Brief geschrieben
-hatte, nicht wußte, wie man einen schreibt noch absendet,
-erklärte nicht nur, daß er dem Propst regelmäßig schreiben
-werde, sondern er tat es auch wirklich.</p>
-
-<p>Seine Briefe waren ebenso eigenartig und seltsam wie
-seine ganze Denk- und Lebensweise. Zuerst erhielt Tuberozow
-einen Brief aus der Gouvernementsstadt, und in diesem
-Brief, dessen Umschlag die Aufschrift trug: »An den Vater
-Propst Tuberozow geheim und eigenhändig«, meldete Achilla,
-daß er während seines Aufenthaltes im Kloster für Tuberozow
-Rache an dem Zensor Troadij genommen habe: er habe
-dem Kater des Zensors eine Wurst auf den Rücken gebunden
-mit der Aufschrift:</p>
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">»Diese Wurst bring ich, der Kater,<br /></span>
-<span class="i0">Meinem Herrn, dem frommen Vater«<br /></span>
-</div></div>
-
-<p class="noind">und ihn in den Klosterhof laufen lassen.</p>
-
-<p>Einen Monat später schrieb Achilla aus Moskau, wie sehr
-ihm die Stadt gefallen hätte; doch seien die Leute dort gar
-arglistig, insbesondere die Kirchensänger, die ihn zweimal
-aufgefordert hätten, mit ihnen Blachdnublach zu trinken, er
-aber habe »aus der Praxis wohl wissend, was sothanes
-Blachdnublach zu bedeuten habe, sich ob dieser ihrer Sängerfrechheit
-nicht wenig verwundert«.</p>
-
-<p>Einige Zeit später schrieb er aus Petersburg:</p>
-
-<p>»Mein vielgeliebter Freund und Euer Hochwürden Vater
-Sawelij. Freuet Euch. Ich lebe herrlich im Klostergasthof,
-in dem es freilich an Versuchungen jeglicher Art nicht fehlt,
-denn es geht hier fast ebenso zu, wie mitten im Lärm der
-großen Stadt. Und doch sehne ich mich sehr nach Euch.
-Wenn wir zusammen hier wären, könnten wir gemeinschaftlich
-viel schöner und mit viel mehr Freude alles bewundern.<span class="pagenum"><a id="Seite_351">[351]</a></span>
-Eure weisen Ratschläge habe ich mir wohl gemerkt und werde
-von allen mit größter Achtung behandelt, was Euch ja das
-Moskauer Blachdnublach beweist, welches mitzutrinken ich
-mich weigerte. Ich trinke nur ganz wenig, und auch nur
-deshalb, weil ich sonst fürchte, gute Bekanntschaft zu verlieren.
-An Schönem ist hier kein Mangel, bloß einen richtigen
-Diakon, wie man ihn sich bei uns wünscht, habe ich noch nicht
-gefunden. Alle sind sie Tenöre, die nach unsern Begriffen
-nur zu Friedhofsgottesdiensten zu brauchen wären, und obgleich
-einige sich sehr aufspielen, so sind sie doch an Gestalt
-im Vergleich zu uns gar jämmerlich und ihr Gesang ist ein
-halbes Sprechen, wobei sie nicht mal die richtige Note treffen,
-und die Sänger mit ihnen gar nicht ordentlich zurechtkommen
-können. Ich aber, der ich mein Handwerk kenne, mache ihre
-Mode nicht mit, sondern singe die Messe so, wie ich es gewohnt
-bin, und, obgleich ich ein Fremder bin, hat mich die
-Kaufmannschaft doch aufgefordert, beim Dankgottesdienst
-vor der Markthalle mitzusingen, und ich habe dafür, außer
-der Renumeration in barem Gelde, noch drei Tücher aus
-Seidenfoulard erhalten, wie Ihr sie so gerne habt und welche
-ich Euch als Gastgeschenk mitzubringen gedenke. Wohl bekomm's!
-Langeweile habe ich oft. Man bekommt hier
-meistens Kaffee vorgesetzt. Wegen der weiten Entfernungen
-mache ich nur wenig Besuche. Fast alle wohnen in Nebenstraßen;
-und da ich auf dem Imperial fahre, komme ich in
-keine Nebenstraßen hinein. Doch Ihr als Provinzler werdet
-das gar nicht verstehen: man sitzt wie auf einem Hause,
-hoch oben auf dem Dache, und wenn man von da hinunter
-will, so muß man sehr gewandt sein, um abspringen zu
-können. Dem weiblichen Geschlecht ist dieses wegen seiner
-Kleidung überhaupt nicht gestattet. Die Droschkenkutscher
-aber sind hier, wie ich bemerke, große Spötter. Und wenn<span class="pagenum"><a id="Seite_352">[352]</a></span>
-einer von uns geistlichen Personen einen mieten will und er
-bietet einen niedrigen Preis, dann schreien gleich alle andern:
-›Mit dem sollt Ihr nicht fahren, Vater, der hat erst gestern
-einen Priester in den Schmutz fallen lassen.‹ Deshalb lasse
-ich mich mit ihnen lieber nicht ein. Unsern Warnawa habe
-ich einmal getroffen, sprach ihn aber nicht. Denn wir fuhren
-aneinander im Imperial vorüber, und ich konnte ihm nur
-von ferne drohen. Im übrigen sieht er halb krepiert aus.
-Was Euer Unglück betrifft, daß Ihr noch unter dem Bann
-steht und nicht für Euch in der Messe beten könnt, so grämt
-Euch deshalb nicht. Ich habe das alles wohl überlegt und
-eingerichtet und der Allmächtige sieht es. Seid getrost:
-Wenn Ihr auch für Euch selbst im Kreisstadttempel nicht
-beten könnt, in der Residenz ist ein Mann, durch den steigt
-das Gebet für Euch zum Himmel empor, &ndash; aus der Kasankathedrale,
-wo der Erretter des Vaterlandes, der durchlauchtigste
-Fürst Kutusow, beigesetzt ist, und aus der Isaakskathedrale,
-die von außen ganz von Marmor ist. Und dieser
-Beter in der Residenz bin ich, denn sobald ich die große Fürbitte
-verlesen habe, so verkünde ich laut die Namen, die mir
-vorgeschrieben sind, aber heimlich flüsternd nenne ich still für
-mich auch Deinen Namen, mein Freund Vater Sawelij,
-und sende mein allerheißestes Gebet für Dich zum Höchsten
-hinauf, und klage ihm, wie Du vor aller Welt von Deinen
-Vorgesetzten gekränkt worden bist. Und ich bitte Euch noch
-ganz besonders, nicht mehr an jenes Wort, Eure Tage seien
-gezählt, zu denken, es nicht auszusprechen, denn das wäre für
-mich und den Vater Zacharia über alle Maßen schmerzlich, und
-ich würde Dich, auf Ehrenwort, nur ganz kurze Zeit überleben.«</p>
-
-<p>Unterzeichnet war der Brief: »Zeitweiliger Residenzstellvertreter
-des Protodiakons seiner Parochie, Diakon am Dom
-zu Stargorod Achilla Desnitzyn.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_353">[353]</a></span></p>
-
-<p>Es kam noch ein zweiter Brief von Achilla, in dem er berichtete,
-daß er »durch einen glücklichen Zufall doch mit Prepotenskij
-zusammengekommen sei und sich mit ihm wegen
-der vergangenen Dinge habe schlagen wollen; daß die
-Sache aber eine ganz andere Wendung genommen habe
-und er sogar in seiner Redaktion gewesen sei.« Denn Warnawa
-war jetzt Redakteur und Achilla hatte verschiedene
-»Literaten« bei ihm getroffen und sich mit ihm ausgesöhnt.
-Als Grund zu dieser Versöhnung wurde angegeben, Warnawa
-(nach Achillas Behauptung) sei ein sehr unglücklicher
-Mensch geworden, weil er sich kürzlich mit einer Petersburger
-jungen Dame verheiratet hätte, die weit strenger wäre, als jede
-ältere Frau, und immer gegen die Ehe spreche. Auch solle
-sie Warnawa häufig prügeln. Er wäre gar nicht mehr so
-wie früher: »Er hat mir selber offen eingestanden, wenn
-er nicht eine solche große Angst vor seiner Frau hätte, so
-würde er in seiner Zeitung sogar für den lieben Gott eintreten;
-und dann schimpft er fürchterlich auf die Frau Biziukina
-und insonderlich den Herrn Termosesow, der sich anfangs
-hier sehr gut eingerichtet hatte und ein hohes Gehalt
-bezog im Geheimdienst, indem er ehrliche Leute auszukundschaften
-hatte. Aber der böse Feind verführte ihn durch seine
-Habsucht: er fing an falsches Papiergeld in Umlauf zu
-bringen, und nun sitzt er im Gefängnis.« Am meisten aber
-rühmte Achilla sich dessen, daß er eine Theatervorstellung
-mit angesehen habe. »Einmal (schrieb er) bin ich mit den
-Kirchensängern in bürgerlichem Gewande auf die höchste
-Galerie zur Oper ›Das Leben für den Zaren‹ gegangen, und
-habe nachher von dem schönen Gesang fast die ganze Nacht
-vor Entzücken weinen müssen. Ein andermal bin ich dann,
-wiederum als Zivilist verkleidet, hingegangen, den König
-Achilla selber zu sehen. Aber mit mir hatte er auch nicht die geringste<span class="pagenum"><a id="Seite_354">[354]</a></span>
-Ähnlichkeit: Es kam ein Komödiant herausstolziert,
-ganz in Gold gepanzert, und klagte über seine Ferse. Hätte
-man mir solch eine Montur angezogen, ich hätte es viel
-dröhnender gemacht. Das andere Spiel aber ist ganz heidnisch
-mit einer Offenheit bis hierher, und auf einen Witwer
-oder einzelnstehenden Mann wirkt das äußerst beunruhigend.«</p>
-
-<p>Und dann kam endlich noch ein dritter Brief, in dem Achilla
-meldete, er käme jetzt bald zurück, und an einem trüben
-Herbsttag erschien er plötzlich bei Tuberozow, strahlend, als
-brächte er eine Freudenbotschaft.</p>
-
-<p>Sawelij begrüßte ihn und lief sofort auf die Straße, um
-die Fensterläden zu schließen, weil kein Neugieriger von der
-Heimkehr des Diakons erfahren sollte.</p>
-
-<p>Ihre Unterredung dauerte sehr lange. Achilla trank in
-der Zeit einen ganzen Samowar leer, Vater Tuberozow
-aber füllte seine Tasse immer von neuem und sagte:</p>
-
-<p>»Trink nur, Lieber, trink nur noch,« &ndash; und wenn Achilla
-die Tasse geleert hatte, meinte der Propst: »Nun erzähle
-weiter, Freund, was hast du noch alles gesehen und erlebt?«</p>
-
-<p>Und Achilla erzählte. Gott weiß, woher er das alles hatte, &ndash;
-Wichtiges und Unwichtiges bunt durcheinander. Was aber
-den Vater Sawelij am meisten wunderte, waren die vielen
-seltsamen Worte, die Achilla erbarmungslos in seine Rede
-mengte, mochten sie passen oder nicht, Ausdrücke, wie er sie
-vor seiner Petersburger Reise nicht nur nie gebraucht, sondern
-wohl auch gar nicht gekannt hatte.</p>
-
-<p>So fing er zum Beispiel plötzlich ganz unvermittelt an:
-»Denk dir einmal, Vater Sawelij, diese Kumbination …«
-(Das ›u‹ wurde unbarmherzig scharf betont.)</p>
-
-<p>Oder:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_355">[355]</a></span></p>
-
-<p>»Wie er mir das sagte, da sah ich ihn an und antwortete:
-›Nein, mein Bester, <em class="antiqua">je vous perdu</em>! Das wäre mir gerade
-der rechte Türlütütü!‹«</p>
-
-<p>Mit welch großer Teilnahme Vater Tuberozow auch
-seinem Diakon zuhörte, &ndash; als diese und ähnliche Ausdrücke
-sich immer häufiger wiederholten, runzelte er die Stirn und
-rief endlich ungeduldig:</p>
-
-<p>»Was soll das eigentlich? Wo hast du all diese dummen
-Redensarten gelernt?«</p>
-
-<p>Aber der begeisterte Achilla war so eifrig dabei, dem Propst
-alle seine aus der Residenz mitgebrachten Herrlichkeiten zu
-zeigen, daß er auch vor den tollsten Wortbildungen nicht
-zurückschreckte.</p>
-
-<p>»Hab' nur keine Furcht, guter Vater Sawelij, solche
-Worte haben nichts zu sagen &ndash; sie sind nicht verboten.«</p>
-
-<p>»Wieso nichts zu sagen? Sie klingen häßlich.«</p>
-
-<p>»Ihr seid sie nur nicht gewohnt. Mir kann man jetzt sagen,
-was man will. Es ist alles Quatsch mit Sauce.«</p>
-
-<p>»Schon wieder!«</p>
-
-<p>»Was denn?«</p>
-
-<p>»Was hast du da wieder für ein gemeines Wort gebraucht?«</p>
-
-<p>»Quatsch mit Sauce!«</p>
-
-<p>»Pfui!«</p>
-
-<p>»Was ist denn dabei? Alle Literaten gebrauchen es.«</p>
-
-<p>»Mögen sie es tun, in der Residenz sind sie eben so feine
-Herrschaften; da geht's nicht ohne Sauce. Wir einfachen
-Leute aber haben an dem Quatsch allein schon mehr als
-genug. Meinst du nicht?«</p>
-
-<p>»Sehr richtig,« sagte Achilla und fügte nach einigem Nachdenken
-hinzu, er fände eigentlich auch, daß Quatsch ohne
-Sauce viel besser klinge.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_356">[356]</a></span></p>
-
-<p>»Denkt einmal,« widerlegte er sich selbst, »wenn unsereins
-einen Quatsch zum Besten gibt, dann lacht alles; aber die
-Leute geben gleich auch noch eine scharfe Sauce hinzu &ndash; zum
-Beispiel, es gebe keinen Gott oder ähnliche Torheiten, so daß
-einem angst und bange wird, und nachher gibt's dann allemal
-Zank und Streit.«</p>
-
-<p>»Es muß einem dabei immer angst werden,« flüsterte
-Tuberozow.</p>
-
-<p>»So streng darf man auch nicht sein, Vater Sawelij.
-Wenn sie's einem beweisen &ndash; wo soll man dann hin?«</p>
-
-<p>»Was beweisen? Was redest du da? Was hat man dir
-bewiesen? Daß es keinen Gott gibt?«</p>
-
-<p>»Ja, Vater Sawelij, das hat man mir bewiesen&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Was faselst du da, Achilla? Du bist doch ein ehrlicher
-Kerl und Christ! Bekreuzige dich! Was hast du da gesagt?!«</p>
-
-<p>»Was soll man denn machen? Ich bin ja selbst nicht froh.
-Aber gegen ein Faktum kann man nicht ankämpfen.«</p>
-
-<p>»Was für ein Faktum? Was hast du denn entdeckt?«</p>
-
-<p>»Ach, Vater Sawelij, was soll ich Euch ärgern? Lest Ihr nur
-Euren Bunian und glaubt in Eurer Einfalt, wie Ihr bisher
-geglaubt habt.«</p>
-
-<p>»Laß du meinen Bunian in Ruh und kümmere dich nicht
-um meine Einfalt. Bedenke nur, wie du dich selbst bloßstellst!«</p>
-
-<p>»Was soll man machen? Es ist ein Faktum!« erwiderte
-Achilla seufzend.</p>
-
-<p>Tuberozow stand erregt auf und verlangte, Achilla solle
-ihm sofort das Faktum nennen, auf das sich sein Zweifel
-an der Existenz Gottes gründe.</p>
-
-<p>»Dieses Faktum hüpft auf jedem Menschen herum,« antwortete
-der Diakon und erklärte dann, er meine damit den
-Floh. Einen Floh könne jeder aus Sägespänen hervorbringen,<span class="pagenum"><a id="Seite_357">[357]</a></span>
-und also hätte auch die Welt von selbst entstehen
-können.</p>
-
-<p>Auf dieses naive und offenherzige Geständnis wußte Tuberozow
-zuerst gar nichts zu erwidern, Achilla aber begann
-nun, nachdem das Gespräch einmal diese Wendung genommen
-hatte, seine Petersburger Aufklärungsideen weiter zu
-entwickeln.</p>
-
-<p>»Wozu arbeitet der Mensch? Um des Essens willen. Er
-möchte satt sein und keinen Hunger leiden. Wenn wir nicht
-essen müßten, würden wir überhaupt nichts tun. Man
-nennt das den Kampf ums Dasein. Ohne den gäb' es
-gar nichts.«</p>
-
-<p>»Nun sieh mal,« sagte Tuberozow, »Gott hat das alles
-gar nicht nötig gehabt und hat doch die Welt geschaffen.«</p>
-
-<p>»Das ist wahr,« sagte der Diakon, »Gott hat sie geschaffen.«</p>
-
-<p>»Wie kannst du ihn dann aber leugnen?«</p>
-
-<p>»Ich leugne ja gar nicht,« antwortete Achilla, »ich sage
-nur, daß, wenn man vom Faktum ausgeht, so kann, wie der
-Floh aus Sägespänen, die Welt auch aus sich selbst heraus
-entstanden sein. Ihr Gott ist, heißt es, der »Sauerstoff«.
-Aber der Teufel mag wissen, was das wieder für ein Stoff
-ist! Und nun seht einmal: wenn Ihr das wieder von der
-andern Seite betrachtet habt, versteh ich rein gar nichts mehr.«</p>
-
-<p>»Wo ist denn dein Sauerstoff hergekommen?«</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht … Lassen wir das lieber, Vater Sawelij.«</p>
-
-<p>»Nein, das kann ich nicht. Es muß wieder heraus aus dir.
-Also sag' einmal: wo hat er seinen Anfang, dein Sauerstoff?«</p>
-
-<p>»Bei Gott, ich weiß es nicht, Vater Sawelij! Laßt es
-doch, Liebster!«</p>
-
-<p>»Vielleicht ist dieser Sauerstoff ohne Anfang?«</p>
-
-<p>»Das mag der Teufel wissen! Der soll ihn überhaupt
-holen!«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_358">[358]</a></span></p>
-
-<p>»Und er hat auch kein Ende?«</p>
-
-<p>»Vater Sawelij! … Was geht uns dieser verfluchte
-Sauerstoff an? Mag er doch ohne Anfang und ohne Ende
-sein! Was kümmert's uns?«</p>
-
-<p>»Begreifst du, was das heißt: ohne Anfang und ohne
-Ende?«</p>
-
-<p>Achilla erwiderte, er begreife es, und fuhr mit lauter
-Stimme fort:</p>
-
-<p>»Es ist ein Gott, der in der Dreifaltigkeit angebetet wird,
-der ewig ist, nicht Anfang noch Ende seines Seins hat, sondern
-immer war, ist und sein wird.«</p>
-
-<p>»Amen,« sagte Sawelij lächelnd, und immer noch lächelnd
-stand er auf, faßte freundlich Achillas Hand und sagte:</p>
-
-<p>»Komm, ich will dir etwas zeigen.«</p>
-
-<p>»Gerne,« erwiderte der Diakon.</p>
-
-<p>Und Hand in Hand gingen sie aus dem Zimmer, durchschritten
-den ganzen Hof und blieben schließlich in der Mitte
-des mit glänzendem frischen Schnee bedeckten Gemüsegartens
-stehen. Der Alte zeigte dem Diakon das Kreuz des Doms,
-wo sie so lange Zeit zusammen vor dem Altar gestanden
-hatten; dann richtete er immer noch schweigend den Zeigefinger
-abwärts und sagte streng:</p>
-
-<p>»Falle nieder und bete!«</p>
-
-<p>Achilla kniete nieder.</p>
-
-<p>»Sprich: Herr, reinige mich Sünder und sei mir gnädig,«
-sagte Sawelij und beugte sich selbst als erster zur Erde.</p>
-
-<p>Achilla seufzte und folgte seinem Beispiel. In der feierlichen
-Stille der Mitternacht, im weißen, monderhellten, einsamen
-Garten stand er da und immer wieder schlug er mit
-der heißen Stirn gegen den kalten Schnee, und tiefe Seufzer
-wechselten mit der süßen Klage des Bußgebets: »Herr,
-reinige mich Sünder und sei mir gnädig« &ndash; und dazwischen<span class="pagenum"><a id="Seite_359">[359]</a></span>
-klang die Stimme des Propstes, der die zweite Bitte sprach:
-»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht.« Der
-Prediger und der Büßer beteten zusammen.</p>
-
-<p>Wie groß war doch der Unterschied zwischen diesem Achilla
-und jenem, den wir einst in der Morgenröte pfeifend auf
-flammendem Roß durchs Wasser reiten sahen!</p>
-
-<p>Jener Achilla war wie ein frischer Morgen nach nächtlichem
-Regen, dieser flimmert wie Sonnenuntergang nach einem
-stürmischen Tage.</p>
-
-<p>Während Achilla betete, saß Tuberozow in seinem leichten
-grauen Leibrock auf der Bank vor dem Badehause und zählte,
-mit dem Kopfe wackelnd, die Verbeugungen Achillas. Als
-er so viele abgezählt hatte, wie ihm nötig schien, stand er
-auf, faßte den Diakon an der Hand und friedlich gingen sie
-wieder in das Haus zurück. Aber ehe er sich zu Bett legte,
-trat der Diakon noch einmal zu Tuberozow heran und sagte:</p>
-
-<p>»Wißt Ihr, Vater Propst, als ich betete&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Nun?«</p>
-
-<p>»Da war es mir, als ob die Erde erbebte.«</p>
-
-<p>»Gesegnet sei der Herr, daß er dir ein solches Gebet gab!
-Geh jetzt, leg dich nieder und schlafe in Frieden,« antwortete
-der Propst und beide schliefen friedlich ein.</p>
-
-<p>Aber als Achilla am nächsten Morgen erwachte, da hatte
-er ein Gefühl, als wäre er aus sich selbst herausgekommen,
-als hätte er unversehens etwas fortgeworfen und etwas
-anderes dafür gefunden. Etwas, das schwer zu tragen war
-und wovon man sich doch nicht trennen konnte und nicht
-wollte.</p>
-
-<p>Es war der Strom des lebendigen, rettenden Glaubens,
-der die verwirrte, bebende Seele überflutete.</p>
-
-<p>Sie mußte krank werden und sterben, um auferstehen zu
-können, und diese heilige Arbeit war in vollem Gange.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_360">[360]</a></span></p>
-
-<p>Der törichte Achilla war weise geworden, er suchte die
-Stille, und eines Tages, als er sich schon etwas gefestigt
-fühlte, fragte er den Propst:</p>
-
-<p>»Sage mir, du gewaltiger Greis, wie soll ich mit mir
-zurechtkommen, wenn Gottes Wille es so fügt, daß ich, sei's
-auch nur für kurze Zeit, allein bleibe? Bisher war ich stolz
-auf meine Kraft, aber nun bin ich andern Sinnes geworden
-und weiß, daß ich mich nicht auf sie verlassen kann.«</p>
-
-<p>»Ja, du warst groß und stark, aber auch dir naht die Stunde,
-da nicht mehr du dich selbst, sondern da ein anderer dich
-gürten wird,« erwiderte Sawelij.</p>
-
-<p>»Aber auf meine Vernunft ist noch weniger Verlaß als
-auf die Kraft, denn Ihr wißt ja, wie leicht ich irre werde.«</p>
-
-<p>»Vertrau auf dein Herz, es schlägt treu und wahr.«</p>
-
-<p>»Was aber soll ich sagen, wenn ich einmal Rede stehen
-muß? Mein Herz ist ja stumm.«</p>
-
-<p>»Lausche nur, so wirst du wohl hören, was es leise zu dir
-flüstert. Aber die Flöhe, die von der schmutzigen Erde auf
-dich hüpfen, die schüttle ab.«</p>
-
-<p>Achilla legte die Hand aufs Herz und ging. »Wie soll das
-zugehen?« dachte er, und eine unbestimmte Ahnung sagte
-ihm, daß er bald, sehr bald allein sein, daß all seine Kraft
-ihn verlassen und »ein anderer ihn gürten« werde.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_361">[361]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_5">Fünftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die dunkeln, bangen Ahnungen des Diakons gingen in
-Erfüllung: der schwächliche, durch die Ereignisse hart mitgenommene
-alte Propst gehörte kaum noch dieser Welt an.
-Er erkältete sich nachts beim Zählen der Verbeugungen, die
-der Diakon auf seinen Befehl zu machen hatte, und wurde
-krank. Er litt nur wenig Schmerzen, fühlte aber, daß der
-Tod schon die Arme nach ihm ausstreckte.</p>
-
-<p>Und nur eins tat ihm weh: daß der Bann immer noch
-nicht von ihm genommen war. Achilla verstand dies sehr
-wohl und wußte auch, was den Alten dabei am meisten
-betrübte.</p>
-
-<p>Tuberozow wollte nicht als Gemaßregelter sterben. Er
-wollte vor den himmlischen Richter als ein von der irdischen
-Gewalt Freigesprochener treten. Er diktierte dem Diakon
-einen Brief, in dem er der geistlichen Behörde von seiner
-Krankheit Mitteilung machte und in rührenden Worten bat,
-man solle ihm die Gnade erweisen und die Frist des ihm
-auferlegten Bannes verkürzen. Der Brief wurde abgesandt,
-blieb aber unbeantwortet.</p>
-
-<p>All seine Kraft, alles, was ihm lieb und teuer war, hätte
-Achilla freudig hingegeben, um diesen Schmerz von der
-Seele Tuberozows zu nehmen, aber es lag nicht in seiner
-Macht, auch war es schon zu spät. Der Todesengel schwebte
-bereits zu Häupten seines Bettes, um die scheidende Seele
-zu empfangen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_362">[362]</a></span></p>
-
-<p>Einige Tage später stand Achilla weinend in einer Ecke
-des Krankenzimmers und blickte auf den Vater Zacharia,
-der, tief über den Sterbenden gebeugt, dessen letzte geflüsterte
-Beichte entgegennahm. Doch was bedeutete das? Was für
-eine Sünde belastete das Gewissen des greisen Sawelij, daß
-der Vater Benefaktow plötzlich in so große Aufregung geriet?
-Er schien sogar völlig vergessen zu haben, daß er eine Sakramentshandlung
-vollzog, die keinerlei Zeugen duldet, denn er
-verlangte mit lauter Stimme, Vater Sawelij solle irgend
-jemandem irgend etwas vergeben! Was machte den Vater
-Sawelij am Rande des Grabes so unbeugsam?</p>
-
-<p>»Sei friedfertig! Sei friedfertig! Vergib!« drängte
-Zacharia sanft, aber fest. »Wenn du nicht vergibst, kann ich
-dir keine Absolution erteilen.«</p>
-
-<p>Der arme Achilla zitterte am ganzen Leibe und lauschte
-mit stockendem Herzschlag auf jedes Wort.</p>
-
-<p>»Im Namen des lebendigen Gottes flehe ich dich an, solange
-du noch am Leben …« rief Zacharia mit lauter Stimme
-und stockte plötzlich, ohne den Satz zu Ende bringen zu
-können.</p>
-
-<p>Der Sterbende richtete sich krampfhaft empor, fiel wieder
-zurück, hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, und nachdem
-er dies getan, sprach er langsam und mit großer Anstrengung:</p>
-
-<p>»Als Christ … vergebe ich ihnen die Schmach, die sie mir
-angetan … aber daß sie, nur auf den toten Buchstaben bedacht
-… daß sie hier … Gottes lebendiges Werk zugrunde
-richten&nbsp;…«</p>
-
-<p>Der Augenblick wurde immer ernster und feierlicher. Es
-knackte etwas in der Gurgel Sawelijs, und er fuhr wie ein
-im Fieber Phantasierender fort:</p>
-
-<p>»Diesen Schmerz will ich vor den Thron … des Königs
-der Könige … und selbst dafür zeugen&nbsp;…«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_363">[363]</a></span></p>
-
-<p>»Sei friedfertig. Vergib! Vergib ihnen alles!« rief
-Zacharia händeringend.</p>
-
-<p>Sawelij zog die Brauen zusammen, seufzte und flüsterte:
-»Wohl mir, daß ich mich gedemütigt habe« &ndash; und schloß
-dann mit unerwartet fester Stimme:</p>
-
-<p>»Nach dem Gerichte derer, so Deinen Namen lieben, erleuchte
-die Unwissenden und vergib dem blinden und verderbten
-Geschlechte seine Herzenshärte.«</p>
-
-<p>Zacharia blickte mit seligem Lächeln zum Himmel und
-machte das Zeichen des Kreuzes über Sawelijs Gesicht.</p>
-
-<p>Dieses Gesicht bewegte sich schon nicht mehr, die Augen
-blickten starr in die Höhe und erloschen. Das Ende nahte.</p>
-
-<p>Achilla stürzte laut schluchzend zum Bette und warf sich
-über den Sterbenden.</p>
-
-<p>Mit einer letzten Kraftanstrengung legte der Verscheidende
-seine Hand auf den Kopf des Diakons. Dann aber fing er
-auch schon laut zu röcheln an, und seltsam mischten sich diese
-Töne mit den sanft rieselnden Worten des Sterbegebets,
-das Zacharia mit tränenerstickter Stimme sprach. Das
-Erdenwallen des Propstes Tuberozow war zu Ende.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_364">[364]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_6">Sechstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Wirkung dieses Todes auf Achilla war entsetzlich.
-Er weinte und schluchzte nicht wie ein Mann, sondern wie
-ein nervöses Weib, das einen Verlust beklagt, den es nicht
-überleben zu können meint. Übrigens war das Hinscheiden
-des Propstes Tuberozow auch für die ganze Stadt ein großes
-Ereignis: es gab nicht ein Haus, in dem man nicht für den
-Entschlafenen gebetet hätte.</p>
-
-<p>In dem Totenhause drängten sich die Menschen: die einen
-kamen, um dem Verschiedenen ihr letztes Lebewohl zu sagen,
-die andern, um zu sehen, wie der Priester im Sarge aussah.
-In der Nacht, die dem Tode des Propstes folgte, kam vom
-Konsistorium die Aufhebung des über den Verstorbenen verhängten
-Banns, und so konnte Sawelij denn in vollem
-Ornat bestattet werden. Riesengroß, lang lag er da, die
-Scheitelkappe auf dem Haupte. Totenmessen wurden im
-Hause unausgesetzt gelesen, und so viel eifrige Priester auch
-kamen und die auf dem Betpult liegenden Gewänder und
-Binden anlegten, um die Messe zu singen, &ndash; jeden bat der
-Diakon Achilla um seinen Segen, daß er das Orarion anlegen
-und mitsingen dürfe.</p>
-
-<p>Am zweiten Tage war der Sarg fertig, und nun begann,
-nach einer alten örtlichen Sitte, die auch heute noch in einigen
-Gegenden bei der Einsargung von Geistlichen ausgeübt wird,
-eine feierliche und schauerliche Zeremonie. Die versammelte<span class="pagenum"><a id="Seite_365">[365]</a></span>
-Geistlichkeit, mit Kerzen in den Händen, in Trauergewändern,
-trug den toten Sawelij dreimal um den mächtigen
-Sarg herum, und Achilla hielt in der Hand des Toten ein
-rauchendes Weihrauchgefäß, so daß es aussah, als weihe
-der Tote selbst seine letzte kalte Wohnstätte. Dann legte
-man den entschlafenen Propst in den Sarg, und alle gingen
-fort bis auf Achilla; er verweilte die ganze Nacht bei seinem
-toten Freunde allein, und da geschah etwas, das Achilla
-selbst nicht bemerkte; wohl aber sahen es die andern für ihn.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_366">[366]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_7">Siebentes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Seit dem Hinscheiden Sawelijs hatte der Diakon sich nicht
-mehr zu Bette gelegt und die drei schlaflosen Nächte nebst
-der gespannten Aufmerksamkeit, die er unausgesetzt dem
-Toten widmete, hatten die stahlharten Nerven Achillas in
-einen Zustand äußerster Erregung versetzt.</p>
-
-<p>Die Instinkte und Leidenschaften, welche sonst vor allem
-das Tun und Lassen des Diakons bestimmt hatten, schienen
-jetzt völlig verstummt zu sein und an ihre Stelle traten
-Seelenzustände, wie sie ihm bisher gar nicht eigentümlich
-gewesen waren.</p>
-
-<p>Von seiner einstigen Zerfahrenheit und seinem Leichtsinn
-war nichts mehr zu merken. Er war in sich gekehrt und ganz
-im Banne schwerer Gedanken, von denen er sich nicht zu
-befreien vermochte. Er war nicht bleich geworden und seine
-Augen blickten nicht matt: im Gegenteil, über seiner gebräunten
-Haut lag ein mattrosiger Schimmer. Er sah alles
-mit einer Deutlichkeit und Schärfe, daß ihm die Augen
-schmerzten. Jeden Ton hörte er, als käme er aus seinem
-eigenen Innern, und vieles war ihm verständlich geworden,
-woran er früher überhaupt nie mehr gedacht hatte.</p>
-
-<p>Er begriff jetzt alles, was der verstorbene Sawelij gewollt
-und angestrebt hatte, und er nannte den Entschlafenen einen
-Märtyrer.</p>
-
-<p>In den drei Nächten der Totenwache redete er wiederholt
-mit dem Verstorbenen und wartete allen Ernstes darauf, daß<span class="pagenum"><a id="Seite_367">[367]</a></span>
-unter dem Brokattuch, das über das Antlitz des toten Propstes
-gebreitet war, eine Antwort erschallen würde.</p>
-
-<p>»Väterchen!« sprach der Diakon leise, sich im Lesen des
-Evangeliums unterbrechend und in der nächtlichen Stille an
-den Sarg herantretend, &ndash; »stehe auf! Wie? Für mich
-allein stehe auf! Du kannst nicht? Du liegst da wie Gras?«</p>
-
-<p>Und dann stand oder saß er einige Minuten stumm da,
-um endlich das monotone Lesen wieder aufzunehmen.</p>
-
-<p>In der dritten und letzten Nacht war Achilla für einen
-Augenblick eingeschlummert. Als er kurz vor Mitternacht erwachte,
-löste er den Vorleser ab und schloß die Tür hinter
-ihm zu.</p>
-
-<p>Nachdem er das Sticharion angelegt hatte, stellte er sich
-vor das Pult, berührte die Schulter des Toten mit der Hand
-und sagte:</p>
-
-<p>»Nun höre, Väterchen, heut lese ich zum letztenmal,« &ndash;
-und dann fing er an, das Johannisevangelium zu lesen.
-Vier Kapitel las er, und als er beim fünften angelangt war,
-stockte er bei einem Vers, seufzte tief auf und wiederholte
-die große Verheißung zweimal: »Denn es kommt die Stunde,
-in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme
-hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben,
-zur Auferstehung des Lebens.«</p>
-
-<p>Nachdem er diesen Satz zweimal laut gesprochen hatte,
-wiederholte Achilla ihn in Gedanken noch einige Male, &ndash;
-und kam nicht weiter.</p>
-
-<p>»Jetzt hat er doch schon die Stimme des Gottessohnes
-gehört und ist zu neuem Leben erwacht … Ich sehe ihn
-nur nicht, aber er ist hier.«</p>
-
-<p>Er merkte nicht, daß die Nacht schon vergangen war und
-am Himmel der erste bleiche, bernsteinfarbene Streif der
-Morgenröte aufleuchtete, die letzte Morgenröte, die auf Erden<span class="pagenum"><a id="Seite_368">[368]</a></span>
-die sich auflösenden Reste dessen beleuchten sollte, der einst
-Vater Sawelij war und die Stimme seiner heimischen Erde
-so gerne hörte und so gut verstand.</p>
-
-<p>Als der Diakon sah, daß es hell geworden war, seufzte er,
-trat vom Pult zum Sarge, stützte sich mit den Armen auf
-die beiden Seitenwände, so daß die hohe Brust Sawelijs
-unter seiner Brust lag, hob sachte mit zwei Fingern das
-Brokattuch empor, das über dem Gesicht des Toten gebreitet
-lag, und sprach:</p>
-
-<p>»Väterchen, Väterchen, wo ist jetzt dein Geist? Wo ist
-dein flammendes Wort? Gib mir Unverständigem etwas
-von deinem Geiste!«</p>
-
-<p>Achilla fiel an die Brust des Toten, zuckte plötzlich zusammen
-und fuhr zurück: ein Schauer war ihm durch seine
-Glieder gefahren. Er sah sich nach allen Seiten um: alles
-war still, nur seine schwergewordenen Augenlider klebten
-zusammen und eine große Müdigkeit zog seinen Kopf abwärts.</p>
-
-<p>Der Diakon raffte sich auf, warf sich zum Gebet nieder
-und erschrak vor dem Laut seines fallenden Körpers: über
-sich glaubte er ein Knacken zu vernehmen, und es schien ihm,
-als sitze Sawelij aufrecht, das Brokattuch vor dem Gesicht
-und das Evangelienbuch in den todesstarren Händen.</p>
-
-<p>Achilla sprang auf und flüsterte, die Arme vorstreckend:</p>
-
-<p>»Friede sei mit dir! Friede! Ich lasse dir keine Ruhe!«</p>
-
-<p>Nach diesen Worten nahm er wieder das Buch und wollte
-weiterlesen, aber mit Staunen fand er dasselbe zugeschlagen.
-Und er konnte sich nicht mehr entsinnen, wo er stehen geblieben
-war.</p>
-
-<p>Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las: »Er
-war in der Welt und die Welt kannte ihn nicht&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Was suche ich denn da?« dachte er. Sein Kopf war ganz
-verwirrt. Er schlug eine andere Stelle auf. Dort stand:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_369">[369]</a></span></p>
-
-<p>»Und es werden ihn sehen alle Augen und die ihn zerstochen
-haben.«</p>
-
-<p>Aber wie Achilla das Blatt umwenden will, merkt er, daß
-seine Hand ganz schwer geworden ist und jemand ihn festhält.</p>
-
-<p>»Was will ich denn? Was suche ich eigentlich? Welche
-Perikope? Was ist denn heute für ein Tag?« denkt Achilla
-und kann es nicht herausbekommen, denn er ist ganz von
-der Erde entrückt&nbsp;…</p>
-
-<p>In der strahlend erleuchteten Kirche steht Sawelij im
-hellen, festlichen Meßgewand, mit der hohen violetten Scheitelkappe
-vor dem Altar und liest mit voller runder Stimme,
-jedes Wort wie eine leuchtende Kugel von sich stoßend: »Im
-Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und
-Gott war das Wort.«</p>
-
-<p>»Was ist das? Gott im Himmel! Und ich meinte, der
-Vater Sawelij wäre gestorben! Ich habe den Introitus verschlafen!
-Ich bin zu spät zur Frühmesse gekommen!«</p>
-
-<p>Achilla zuckte zusammen und öffnete die Augen. Er merkte,
-daß er wirklich geschlafen hatte, und draußen heller Morgen
-war. Das rote Leuchten der Begräbniskerzen erstarb in den
-Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Luft war dick vom
-Qualm, trauriges Glockengeläute klang von draußen herüber
-und an die Zimmertür wurde heftig gepocht.</p>
-
-<p>Achilla fuhr sich hastig mit der trockenen Hand über das
-Gesicht und öffnete.</p>
-
-<p>»Eingeschlafen?« fragte ihn der eintretende Benefaktow
-leise.</p>
-
-<p>»Ein wenig,« erwiderte der Diakon und trat zur Seite, um
-den Priestern Platz zu machen, die dem Vater Zacharia folgten.</p>
-
-<p>»Aber ich … weißt du … ich habe nicht geschlafen: ich
-habe die ganze Nacht an der Leichenrede gearbeitet,« flüsterte
-Benefaktow dem Diakon zu.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_370">[370]</a></span></p>
-
-<p>»Nun, und ist sie fertig?«</p>
-
-<p>»Nein, es kommt nichts heraus.«</p>
-
-<p>»Ja, so geht es Euch allemal.«</p>
-
-<p>»Vielleicht könntest du etwas sagen?«</p>
-
-<p>»Ich, Vater Zacharia? Ich bin doch kein Gelehrter!«</p>
-
-<p>»Was denn? Du hast doch das Sticharion! Das Recht
-hast du.«</p>
-
-<p>»Was hilft mir das Recht, Vater Zacharia, wenn ich weder
-die Gabe noch den Verstand dafür besitze?«</p>
-
-<p>»So betet recht inbrünstig um die Gabe, werter Herr,
-dann wird sie von selber kommen,« mischte sich flüsternd der
-Zwerg ins Gespräch.</p>
-
-<p>»Beten? Nein, Freund Nikolascha, vielleicht betest du für
-mich. Mich hat der Schmerz um den Verstand gebracht.
-Ich habe selbst in wachem Zustande Gesichte.«</p>
-
-<p>»Gut, ich will beten, wenn Ihr es wünscht,« erwiderte
-der Zwerg.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_371">[371]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_8">Achtes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Ganz Stargorod geleitete den Leichnam Tuberozows zur
-Kirche. Der Trauergottesdienst wirkte infolge des Verhaltens
-des Diakons grauenhaft. Jedesmal wenn Achilla
-seinen Mund öffnete, versagte ihm die Stimme und er brach
-in Tränen aus. Sein Schluchzen, das man in der ganzen
-Kirche hörte, erfüllte aller Herzen mit tiefer Trauer.</p>
-
-<p>Nur während der Leichenrede, die einer der Priester hielt,
-bezwang Achilla seinen Schmerz, hörte aufmerksam zu und
-weinte nur ganz leise in sein Taschentuch. Als er jedoch aus
-der Kirche heraustrat und all die Plätze sah, über welche er
-so viele Jahre an der Seite Tuberozows gegangen war, da
-fühlte Achilla das Bedürfnis, nicht nur zu weinen, sondern
-zu heulen und zu schreien. Um dem Weh, das seine Brust
-zu zersprengen drohte, einen Ausweg zu schaffen, sang er
-»Heiliger, Unsterblicher, erbarme Dich unser«, aber mit einer
-derartigen Stimmgewalt, daß eine blinde hundertjährige
-Frau, die beim Herannahen des Trauerzuges von ihren
-Enkeln vor das Tor geführt worden war, damit sie sich vor
-dem Sarge neige, plötzlich die Hände zusammenschlug und
-in die Knie sinkend rief:</p>
-
-<p>»O, er hört es, Gott der Herr hört es, wie Achilla zum
-Himmel schreit!«</p>
-
-<p>Da war auch schon der von einem Graben und einer
-Weidenhecke umgebene Friedhof, auf dem Tuberozow abends
-so gerne spazieren gegangen und dessen Instandhaltung<span class="pagenum"><a id="Seite_372">[372]</a></span>
-ihm so sehr am Herzen gelegen. Der Sarg wurde durch das
-dunkle Tor getragen; die letzte Litanei war gesungen, die
-weißen Leinenseile rollten den Erdhügel hinab und spannten
-sich über den finstern Abgrund des Grabes. Noch einen
-Augenblick und es ertönt das letzte Amen … der Sarg
-sinkt in die Tiefe.</p>
-
-<p>Aber vorher sollte sich noch etwas ereignen, was niemand
-erwartet hatte. Achilla, der schon so viele Male in seinem Leben
-die Stargoroder in Staunen versetzt hatte, fühlte sich gedrungen,
-es auch dieses Mal zu tun, und zwar auf eine ganz
-neue Weise. Bleich und starr streckte er die Hand gegen einen
-der Totengräber aus, welche die Seile festhielten, und rief,
-wehmütig zu den Priestern hinüberblickend:</p>
-
-<p>»Ihr Väter, ich bitt' euch … wartet noch etwas …
-Ich will nur ein paar Worte sprechen&nbsp;…«</p>
-
-<p>Der schluchzende Zacharia gab den Totengräbern hastig ein Zeichen,
-streckte dem Diakon beide Hände entgegen und segnete ihn.</p>
-
-<p>Ganz in Tränen gebadet, wischte sich Achilla mit seinem
-baumwollenen Taschentuche die mit roten Flecken bedeckte
-Stirn und stammelte mit krampfhaft verzerrten Lippen:
-»Er war in der Welt und die Welt kannte ihn nicht.« Und
-dann fand er keine Worte mehr, wurde feuerrot und mit
-einem wilden Blick aus seinen entzündeten Augen, der den
-Worten nachzujagen schien, die für ihn in der Luft geschrieben
-standen, rief er drohend: »Aber es werden ihn alle sehen,
-die ihn zerstochen haben!« Und damit warf er eine Handvoll
-Erde auf den Sarg, nahm hastig das Sticharion ab und
-verließ den Friedhof.</p>
-
-<p>»Ihr habt sehr schön gesprochen, werter Vater Diakon,«
-flüsterte ihm der Zwerg unter Tränen zu.</p>
-
-<p>»Der Geist Sawelijs war über ihn gekommen,« antwortete
-ihm Zacharia, während er sein Meßgewand ablegte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_373">[373]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_9">Neuntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Nach der Beerdigung Tuberozows wurde es im Hause des
-Propstes unheimlich still. Achilla war nirgends zu erblicken.
-Die Sonne geht auf und beleuchtet den vereinsamten Hof.
-Öde ist er und tot; Wolken ziehen vorüber und spiegeln sich
-in den Scheiben der Fenster, wie Schatten aus einer andern
-Welt &ndash; aber drinnen regt sich nichts.</p>
-
-<p>Diese unheimliche Ruhe erfüllte die Nachbarn mit Angst.
-Man fing an, sich ernstlich um den Diakon zu sorgen.</p>
-
-<p>Zacharia besuchte ihn. Lange ging der sanfte Alte aus
-einem Zimmer ins andere und rief:</p>
-
-<p>»Diakon, wo bist du? Höre doch, Diakon!«</p>
-
-<p>Aber niemand antwortete. Endlich öffnete Vater Zacharia
-die Tür zur kleinen Kammer, welche der Diakon bewohnt
-hatte.</p>
-
-<p>»Was ruft Ihr so laut, Vater Zacharia?« kam aus der
-Finsternis die Stimme Achillas.</p>
-
-<p>»Du fragst noch, mein Lieber? Wo steckst du die ganze
-Zeit?«</p>
-
-<p>»Macht die Tür etwas weiter auf. Ich bin hier in der Ecke.«</p>
-
-<p>Benefaktow tat, wie Achilla ihm geheißen, und sah ihn
-auf einer an der Wand befestigten schmalen bretternen Lagerstatt
-ausgestreckt daliegen. Der Diakon trug ein grobes
-Leinenhemd mit zurückgeschlagenem Kragen, das nach kleinrussischer
-Art durch eine lange bunte Schnur zusammengehalten
-wurde, und breite gestreifte Beinkleider.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_374">[374]</a></span></p>
-
-<p>»Was soll denn das, Diakon?« fragte Benefaktow und
-sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.</p>
-
-<p>»Ich will ein bißchen weiterrücken,« erwiderte Achilla und
-schob sich auf das hart an die Wand stoßende Brett.</p>
-
-<p>»Was ist mit dir, Diakon?«</p>
-
-<p>»Gepeinigt,« brummte Achilla.</p>
-
-<p>»Was peinigt dich denn so?«</p>
-
-<p>»Lächerliche Frage! Was? Eben das! Der Tod des Vaters
-Sawelij peinigt mich.«</p>
-
-<p>»Ja, was ist da zu machen? Der Tod … gewiß … er
-ist der Natur zuwider … ist ein Hemmnis aller Gedanken …
-aber er ist doch unvermeidlich … unentrinnbar&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Eben dieses Hemmnis ist's, was mich peinigt.«</p>
-
-<p>»Was kommst du immer mit deinem ›peinigt, peinigt‹!
-Das ist nicht gut, mein Lieber.«</p>
-
-<p>»Ja, was ist denn überhaupt noch gut? Nichts!«</p>
-
-<p>»Nun, wenn du selbst einsiehst, daß es nicht gut ist, so
-mußt du auch Vernunft haben: gegen das Naturgesetz
-kannst du nichts.«</p>
-
-<p>»Ach, was redet Ihr nun wieder vom ›Naturgesetz‹, Vater
-Zacharia! Wenn mich nun eben dieses Naturgesetz peinigt!«</p>
-
-<p>»Ja, was willst du denn machen?«</p>
-
-<p>»O du grundgütiger himmlischer Vater! So laßt mich
-doch mit Euren Gesetzen in Ruh', Vater Zacharia! Nichts
-will ich machen!«</p>
-
-<p>»Ja, wirst du denn von nun ab immer so daliegen?«</p>
-
-<p>Der Diakon schwieg. Dann seufzte er und sagte ganz leise:</p>
-
-<p>»Ich trauere immer noch sehr und Ihr kommt und redet von
-gleichgültigen Dingen. Was also wollt Ihr von mir haben?«</p>
-
-<p>»Raffe dich auf, denn bei all unserer Trauer sind wir
-doch schwache Menschen, die ohne Essen und Trinken nicht
-auskommen können.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_375">[375]</a></span></p>
-
-<p>»Gewiß, davon ist gar nicht zu reden. Essen und Trinken
-werden wir schon, aber da eben steckt's!«</p>
-
-<p>»Was? Was steckt da? Wo steckt was?«</p>
-
-<p>»Darin steckt's, daß wir das, was gewesen ist, nach und
-nach vergessen werden. Und wenn wir es eines schönen
-Tages ganz vergessen haben &ndash; was dann?«</p>
-
-<p>»Ja, was ist da zu machen?«</p>
-
-<p>»Das ist zu machen, daß ich mit meinem Charakter ganz
-und gar nicht damit einverstanden bin, ihn zu vergessen.«</p>
-
-<p>»Gewiß, lieber Freund, aber die Zeit vergeht und du vergißt
-doch.«</p>
-
-<p>»Vater Zacharia, sagt mir solche Dinge nicht! Ihr wißt,
-wie wild ich im Schmerz bin!«</p>
-
-<p>»Das fehlte auch noch! Nein, mein Bester, die Roheiten
-laß du lieber beiseite!«</p>
-
-<p>»Ja, beiseite lassen! Wer kann mich jetzt noch im Zaume
-halten?«</p>
-
-<p>»Wenn du willst, tu ich es.«</p>
-
-<p>»Ihr wäret mir gerade der Rechte!«</p>
-
-<p>»Warum sollte ich es nicht sein?«</p>
-
-<p>»Machen wir uns doch nichts vor! Ihr habt nicht die geringste
-Gewalt über mich.«</p>
-
-<p>»Weißt du, Diakon, du bist einfach frech,« sagte Zacharia
-gekränkt.</p>
-
-<p>»Gar nicht frech, denn ich hab' Euch lieb; wie könnt Ihr
-aber Gewalt über mich haben, wo Ihr doch so schwach von
-Charakter seid, daß sogar der Subdiakon Sergej Euch Grobheiten
-sagt.«</p>
-
-<p>»Das tut er! Gegen mich sind alle grob! Deine Reden
-aber sind einfach dumm!«</p>
-
-<p>»So zeigt jetzt, was Ihr über mich vermögt, und verhindert
-mich, so zu reden.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_376">[376]</a></span></p>
-
-<p>»Ich will dich nicht verhindern, ich … ich will nicht, weil
-ich als Freund zu dir kam und du gegen mich grob warst …
-Lebe wohl!«</p>
-
-<p>»Wartet doch, Vater Zacharia! So war's nicht gemeint!«</p>
-
-<p>»Nein, nein, laß mich, du hast mir weh getan.«</p>
-
-<p>»So geht in Gottes Namen.«</p>
-
-<p>»Du bist ein Grobian, ein ganz schlimmer Grobian.«</p>
-
-<p>Und Zacharia ging in der Hoffnung, der Diakon werde
-allgemach des Rekelns müde werden und von selber wieder
-herauskommen; jedoch es verging noch eine ganze Woche
-und Achilla zeigte sich nicht.</p>
-
-<p>»Sie werden vergessen,« sagte er immer wieder vor sich
-hin, »bestimmt werden sie vergessen.« Und dieser Gedanke
-ließ ihn nicht los, und vergeblich strengte er sein Hirn an,
-wie er das Übel abwehren könnte.</p>
-
-<p>Um Achilla aus seiner Höhle ans Tageslicht zu locken,
-bedurfte es eines ganz besondern Ereignisses.</p>
-
-<p>Eines Morgens wachte Achilla früh gegen sechs auf und
-blickte nach den ersten Sonnenstrahlen, die durch das winzige
-Fensterlein über der Tür in seine Kammer zu dringen versuchten,
-&ndash; da kam Vater Zacharia in großer Hast gelaufen
-und erzählte, daß an Stelle des verstorbenen Tuberozow ein
-neuer Propst ernannt sei.</p>
-
-<p>Achilla wurde bleich vor Ärger.</p>
-
-<p>»Freut es dich denn nicht?« fragte Zacharia.</p>
-
-<p>»Was geht es mich an?«</p>
-
-<p>»Wieso geht es dich nichts an? Frag doch erst, wer ernannt
-ist.«</p>
-
-<p>»Als ob mir das nicht ganz gleichgültig wäre!«</p>
-
-<p>»Ein Akademiker!«</p>
-
-<p>»Na ja, ein Akademiker! Und darüber freut Ihr Euch!
-Nein, bei Gott, Ihr steckt noch voll Eitelkeit, Vater Zacharia!«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_377">[377]</a></span></p>
-
-<p>»Wieso Eitelkeit? Ein Akademiker &ndash; das will sagen: ein
-kluger Kopf!«</p>
-
-<p>»Wieder was Neues: ein kluger Kopf! Mag er doch klug
-sein! Werden wir zwei davon etwa klüger?«</p>
-
-<p>»Du wirst wieder grob.«</p>
-
-<p>»Fällt mir gar nicht ein. Ihr denkt daran, wie Ihr den
-Neuen empfangen sollt, und ich &ndash; daß ich den Alten nicht
-vergesse. Wo steckt da die Grobheit?«</p>
-
-<p>»Es lohnt gar nicht, mit dir zu reden,« sagte Zacharia
-und zog geärgert von dannen. Achilla aber erhob sich sofort,
-wusch sich und lief zum Polizeichef mit der Bitte, dieser möchte
-ihm behilflich sein, sobald wie möglich sein Haus und seine
-beiden Pferde zu verkaufen.</p>
-
-<p>»Warum denn das?« fragte Porochontzew.</p>
-
-<p>»Sei nicht neugierig,« antwortete Achilla. »Später, wenn
-ich's gemacht habe, wirst du alles erfahren.«</p>
-
-<p>»So sag' doch ungefähr, um was es sich handelt.«</p>
-
-<p>»Darum, daß Vater Sawelij nicht sobald vergessen wird.«</p>
-
-<p>»Dann soll doch Vater Zacharia in seinen Predigten öfter
-auf ihn hinweisen.«</p>
-
-<p>»Was kann Vater Zacharia? Nein, der liebt heute schon
-die Wissenschaften, ich aber … ich liebe nach altem Brauch
-den Menschen.«</p>
-
-<p>Damit war die Unterredung zu Ende und Achillas Besitz
-wurde seinem Wunsche entsprechend verkauft.</p>
-
-<p>Indessen war man gespannt, was er weiter unternehmen
-würde.</p>
-
-<p>Der Diakon hatte für alles zweihundert Rubel bekommen
-und steckte die beiden Scheine in die Tasche seines Nanking-Leibrocks;
-er begebe sich in die Gouvernementsstadt, erklärte
-er. Er hatte sich bereits einen Wanderstab aus einer langen
-Latte zurechtgeschnitten, packte seine Sachen in ein kleines<span class="pagenum"><a id="Seite_378">[378]</a></span>
-Bündel zusammen, kaufte sich auf dem Markt zwei große
-Roggenmehlfladen mit Zwiebeln, die er in dieselbe Tasche
-steckte, in der er sein Geld hatte, und wollte sich eben auf
-die Wanderschaft begeben, als unerwartet der neue Propst
-Irodion Grazianskij eintraf. Es war ein sehr wohlaussehender
-Herr von schwer zu bestimmendem Alter. Seinem
-Äußern nach konnte man ihm ebensogut sechsundzwanzig
-als auch vierzig Jahre geben.</p>
-
-<p>Achilla ging dem neuen Vorgesetzten entgegen und wollte,
-nachdem er den Segen von ihm empfangen hatte, seine Hand
-küssen. Allein er zog sie zurück und schlug dem Diakon einen
-brüderlichen Kuß vor. Und so küßten sie sich auf Mund
-und Wangen.</p>
-
-<p>»Siehst du, wie gut er ist,« sagte nach einer Stunde, als
-sie zusammen nach Hause gingen, Zacharia zum Diakon.</p>
-
-<p>»Wie habt Ihr denn in so kurzer Zeit so viel Güte entdeckt?«
-fragte Achilla gleichgültig.</p>
-
-<p>»Wie denn? Er wollte sich nicht die Hand von dir küssen
-lassen, sondern bot dir den Mund … das zeugt doch von
-großer Güte.«</p>
-
-<p>»Ich meine, das ist nichts weiter als so eine Art von
-Wichtigtuerei,« erwiderte Achilla.</p>
-
-<p>Er war bereits von einer wilden Eifersucht auf den neuen
-Propst erfaßt und suchte allerlei schlechte Eigenschaften an
-ihm zu entdecken, die jeden Vergleich mit dem verstorbenen
-Tuberozow ausschließen mußten. Je mehr der neue Propst
-allen Stargorodern gefiel, desto heißer mußte Achilla ihn
-hassen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_379">[379]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_10">Zehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Am Tage darauf zelebrierte der neue Propst zum erstenmal
-die Messe und hielt eine Predigt, in der er seinen Vorgänger
-mit Lobeserhebungen überschüttete und auf die Notwendigkeit
-und Pflicht eines ständigen Gedenkens und einer Ehrung
-seiner Verdienste hinwies.</p>
-
-<p>»Wozu das? Was beabsichtigt er damit?« zürnte der
-Diakon, als er mit Zacharia aus der Kirche ging.</p>
-
-<p>Er fühlte selbst, daß er ungerecht war, aber er konnte sich
-nicht beherrschen, und als Zacharia ihm zuzureden versuchte
-und betonte, wie edel das ganze Verhalten Grazianskijs sei,
-da zerbrach Achilla ungeduldig das Stöckchen, das er in der
-Hand hielt, in zwei Stücke und sagte:</p>
-
-<p>»Das ist's ja gerade, was mich so ärgert.«</p>
-
-<p>»Wäre es denn besser, wenn er nicht so gut wäre?«</p>
-
-<p>»Natürlich … viel, viel besser wäre das,« unterbrach ihn
-Achilla ungeduldig. »Wißt Ihr denn nicht, daß wer nicht
-gesündigt hat, auch nicht Buße tut!«</p>
-
-<p>Zacharia machte nur eine abwehrende Handbewegung.</p>
-
-<p>Achillas Pilgerfahrt nach der Gouvernementsstadt wurde
-von Tag zu Tag aufgeschoben: der Diakon wohnte noch der
-Revision der Schatzkammer, der Bücher und der Kirchengelder
-bei, immer schweigend und grollend. Zu seinem großen
-Kummer bot sich ihm auch nicht die geringste Gelegenheit,
-dem »Neuen« etwas am Zeuge zu flicken, &ndash; bis Grazianskij<span class="pagenum"><a id="Seite_380">[380]</a></span>
-endlich davon zu reden begann, daß man auf dem Grabe
-Tuberozows ein kleines Denkmal errichten müsse. Achilla
-sprang wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe.</p>
-
-<p>»Warum denn ein ›kleines‹ Denkmal und kein großes?
-Er hat sehr lange unter uns gewirkt und Verdienste errungen,
-wie sie mancher andere nicht so leicht fertig brächte.«</p>
-
-<p>Grazianskij sah den Diakon unwillig an und schlug, ohne
-ihm etwas zu erwidern, eine Subskription zum Bau eines
-Denkmals für Sawelij vor.</p>
-
-<p>Durch die Subskription kamen zweiunddreißig Rubel zusammen.</p>
-
-<p>Der Diakon wollte überhaupt nichts zeichnen und fand den
-ganzen Plan verkehrt.</p>
-
-<p>»Weshalb bist du dagegen?« fragte ihn Benefaktow.</p>
-
-<p>»Weil das alles eitel ist,« antwortete Achilla.</p>
-
-<p>»Worin seht Ihr die Eitelkeit?« warf Grazianskij trocken
-dazwischen.</p>
-
-<p>»Wie kann man einem solchen Manne namens der ganzen
-Gemeinde ein Denkmal für zweiunddreißig Rubel setzen? So
-ein Denkmal ist nicht besser als eine Pistole für einen Groschen.
-Nein, diese Kränkung will ich ihm nicht antun. Ich bitte,
-mir das gütigst zu erlassen.«</p>
-
-<p>Am Abend erbat sich der Diakon vom neuen Propst einen
-vierzehntägigen Urlaub nach der Gouvernementsstadt, der
-ihm auch bewilligt wurde.</p>
-
-<p>So begab sich Achilla auf die Wanderschaft, die er schon
-so lange zur Verwirklichung seiner großartigen Absichten
-geplant hatte. Schon in jenen Tagen, als er noch in seinem
-Kämmerlein auf der bretternen Bettstatt lag, war ihm der
-Gedanke gekommen, dem Vater Tuberozow ein Denkmal zu
-setzen, aber nicht für dreißig Rubel, sondern für all sein Geld,
-für all die zweihundert Rubel, die er aus dem Verkauf seines<span class="pagenum"><a id="Seite_381">[381]</a></span>
-durch die Arbeit eines ganzen Lebens erworbenen Gutes
-gelöst hatte. Achilla hielt diese Summe für völlig ausreichend,
-um ein Monument zu errichten, das allen Zeiten und Völkern
-ein Wunder dünken müßte, ein so gewaltiges Monument,
-daß sein idealer Entwurf sogar in seinem eigenen
-Kopfe nicht Platz genug hatte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_382">[382]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_11">Elftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Kalt und trübe war die Oktobernacht. Hastige Wolken
-krochen am Himmel entlang und der Wind brauste in den
-nackten Zweigen der Weiden. Achilla schritt unermüdlich vorwärts
-und als die späte Herbstmorgendämmerung graute,
-hatte er den halben Weg bereits zurückgelegt und konnte
-sich getrost etwas Ruhe gönnen.</p>
-
-<p>Er bog vom Wege ab, legte sich hinter einer großen Strohmiete,
-die ihn vor dem Winde schützen sollte, auf den Boden,
-deckte sich den Mantel übers Gesicht und schlief ein.</p>
-
-<p>Der Tag war genau so wie die Nacht: die kalte Sonne
-tauchte bald auf, bald verzog sie sich wieder hinter grauen
-Nebeln; der Wind heulte und brauste wild, um sich dazwischen
-wieder, einer zischenden Schlange gleich, am Boden zu winden.
-Das Ende des Mantels, welches der Diakon über seinen
-Kopf gezogen hatte, war längst vom Winde emporgerissen
-und flatterte hin und her, und wenn die Sonne hinter den
-Wolken hervorschaute, fielen ihre grellen Strahlen gerade
-auf das Heldenantlitz Achillas. Trotzdem erwachte er nicht.
-Es war schon ganz warm geworden und auf dem zerstampften
-Stoppelfeld, das Achilla sich zur Lagerstatt gewählt hatte,
-zeigten sich die letzten verspäteten Bewohner des toten Kornfeldes:
-über Achillas Stiefel kroch ein harter schwarzer Ohrwurm,
-und seinen Bart entlang kletterte mühsam und zitternd
-eine frosterstarrte Hummel. Das arme Insekt, das in dem<span class="pagenum"><a id="Seite_383">[383]</a></span>
-dichten Barte des Diakons einen warmen Unterschlupf gefunden
-hatte, fing bald an zu krabbeln und zu zappeln, wovon
-der Diakon erwachte. Er prustete laut, reckte sich, sprang
-auf, warf sein Bündel über die Schulter und schritt der
-Stadt zu.</p>
-
-<p>Als der Abend dämmerte, hatte er auch die übriggebliebenen
-fünfunddreißig Werst zurückgelegt, und angesichts der
-Kreuze der städtischen Kirchen setzte er sich an den Rand des
-Straßengrabens und beschloß, zum erstenmal, seit er ausgewandert,
-etwas Speise zu sich zu nehmen. Die beiden
-Fladen holte er aus seiner Tasche, welche sie rund eine Woche
-beherbergt hatte, legte den einen auf den andern und begann
-mit großem Appetit zu kauen. Aber die ganze Portion vermochte
-er doch nicht zu zwingen und steckte den Rest wieder
-in die Tasche, um zur Stadt zu wandern. Nachdem er bei
-bekannten Seminaristen übernachtet hatte, ging er gleich
-früh am nächsten Morgen zum Adelsmarschall Tuganow,
-ließ sich bei ihm melden und setzte sich auf eine Bank im
-Vorzimmer.</p>
-
-<p>Eine Stunde verging und noch eine. Niemand kümmerte
-sich um Achilla. Mehrere Male schon hatte er den vorüberlaufenden
-Diener gefragt:</p>
-
-<p>»Herr Haushofmeister, wann wird man mich denn
-rufen?«</p>
-
-<p>Aber der Herr Haushofmeister würdigte den bäuerisch
-aussehenden Diakon in der Nankingkutte nicht einmal einer
-Antwort.</p>
-
-<p>Von der gestrigen Wanderung noch müde, wäre Achilla
-fast eingeschlafen, doch besann er sich, daß es hier doch nicht
-recht schicklich sei. So beschloß er, sich lieber die Zeit durch
-Essen zu vertreiben, was ihm die von vorgestern übriggebliebenen
-Stücke der Zwiebelfladen sehr gut ermöglichten.<span class="pagenum"><a id="Seite_384">[384]</a></span>
-Kaum jedoch hatte er die Reste aus der Tasche seines Leibrocks
-herausgeholt und sich darangemacht, den Staub von
-ihnen zu blasen, als er plötzlich zur Salzsäule erstarrte, dann
-emporsprang und, wie von einem giftigen Insekt gestochen,
-durch die vornehmen Gemächer des Hauses zu rasen begann.
-Zufälligerweise geriet er bald in das Arbeitszimmer des
-Adelsmarschalls, und als er sich ihm von Angesicht zu Angesicht
-gegenübersah, brüllte er los:</p>
-
-<p>»All ihr heiligen Väter! Wer an Gott glaubt, muß mir
-helfen! Sehen Sie doch, was mir für ein Unglück passiert ist!«</p>
-
-<p>»Was denn? Was ist geschehen?« fragte Tuganow erstaunt.</p>
-
-<p>»Parmen Semenowitsch! Was hab' ich gemacht, ich Bösewicht!«
-jammerte Achilla in wahnwitziger Verzweiflung.</p>
-
-<p>»Hast du jemanden ermordet?«</p>
-
-<p>»Nein, ich kam zu Fuß zu Ihnen gelaufen, damit Sie mir
-einen guten Rat erteilen. Ich möchte dem Propst ein Denkmal
-setzen für zweihundert Rubel.«</p>
-
-<p>»Nun und &ndash;? Hat man dir das Geld gestohlen?«</p>
-
-<p>»Nein, nein, etwas viel Schlimmeres!«</p>
-
-<p>»Hast du es verloren?«</p>
-
-<p>»Nein, ich hab's aufgegessen!«</p>
-
-<p>Und voller Verzweiflung streckte Achilla dem Adelsmarschall
-die untere Rinde des nicht ganz aufgegessenen Fladens entgegen,
-an der ein kleines Fetzchen eines Hundertrubelscheines
-wie angebacken festklebte.</p>
-
-<p>Tuganow berührte den Fetzen mit seinen feinen Fingernägeln,
-löste ihn von der Rinde und sah, daß unter dem
-ersten Stückchen Papier ein zweites von derselben Art noch
-fester klebte.</p>
-
-<p>Der Adelsmarschall konnte nicht anders, er mußte
-lachen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_385">[385]</a></span></p>
-
-<p>»Ja, sehen Sie, ganz aufgefressen,« wiederholte der Diakon
-und kaute vor Verlegenheit den Nagel seines Mittelfingers.
-Dann wandte er sich plötzlich um und sagte kurz: »Nun also,
-ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie gestört habe. Leben
-Sie wohl.«</p>
-
-<p>Tuganow aber zeigte sich hilfsbereit.</p>
-
-<p>»Nicht gleich verzweifeln, mein Lieber,« sagte er. »Das
-hat nichts zu bedeuten, man wird mir in der Bank deine
-Papiere schon einwechseln, inzwischen gebe ich dir ein paar
-andere, dann kannst du deinem Pfarrer Sawelij das Denkmal
-setzen. Ich habe ihn ja auch sehr lieb gehabt.«</p>
-
-<p>Damit reichte er dem Diakon zwei neue Hundertrubelscheine
-und legte die angekauten Fetzen beiseite, um sie später
-in die Sammlung seiner Familienkuriositäten einzureihen.</p>
-
-<p>Diese Not war also behoben, aber eine neue nahte: es
-galt ein Denkmal auszusinnen, wie Achilla es wünschte,
-aber sich selbst nicht vorstellen konnte. Auch diese seine Sorge
-beichtete er dem Adelsmarschall.</p>
-
-<p>»Ich möchte, Parmen Semenowitsch,« meinte er, »daß
-das für mein Geld errichtete Denkmal möglichst groß und
-schön sei.«</p>
-
-<p>»So laß doch eine Pyramide aus Granit aufrichten.«</p>
-
-<p>Tuganow ließ sich aus dem Schrank eine Mappe reichen
-und nahm die Abbildung einer ägyptischen Pyramide heraus:</p>
-
-<p>»So in dieser Art.«</p>
-
-<p>Der Gedanke sagte dem Diakon ungemein zu, nur zweifelte
-er, ob er mit seinem Gelde auskommen würde, worauf ihm
-Tuganow erklärte, falls die zweihundert Rubel nicht reichen
-sollten, so wolle er, Tuganow, aus Verehrung für den alten
-Tuberozow, für den Überschuß eintreten.</p>
-
-<p>»Du aber«, sagte er, »sollst der Baumeister sein. Baue
-ganz, wie es dir gefällt und was du willst.«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_386">[386]</a></span></p>
-
-<p>»Das ist …« fing Achilla in höchster Verlegenheit an,
-aber er kam nicht weiter, sondern machte nur eine tiefe Verbeugung
-bis zur Erde und faßte dann plötzlich Tuganows
-Hand und küßte sie.</p>
-
-<p>Tuganow war gerührt. Er nannte Achilla einen »braven
-Kerl« und schlug ihm vor, bei ihm im Gartenhaus zu
-logieren.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_387">[387]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_12">Zwölftes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Diakon lief von einem Steinmetz zum andern, bis
-schließlich seine Wahl auf den allerschlechtesten, einen Mühlsteinfabrikanten
-namens Popygin fiel. Zwei deutsche Steinhauer
-hatten den Diakon in hellen Zorn versetzt, weil sie
-immer wissen wollten, ob »der Maßstab es gestatten werde«,
-eine so große Pyramide aufzubauen, wie der Diakon sie haben
-wollte, der die Fläche einfach durch Schritte und die Höhe
-mit emporgereckten Armen bezeichnete.</p>
-
-<p>Meister Popygin als biederer Russe verstand ihn besser:
-sie maßen alles nach Schritten und mit ausgestreckten Armen
-ab und schlossen einen mündlichen Vertrag, den sie durch
-Handschlag besiegelten. Damit war die Bestellung gemacht
-und der Bau der Pyramide begann. Achilla sah zu, wie
-man die riesigen Steine schob, wendete und glättete und war
-über ihre Dimensionen entzückt.</p>
-
-<p>»So ohne Maßstab ist's viel besser,« sagte er, »wie es
-uns paßt, so bauen wir.«</p>
-
-<p>Der russische Meister Popygin stimmte ihm durchaus bei.</p>
-
-<p>Tuganow ließ sich von Achilla über die Fortschritte der
-Arbeit Bericht erstatten und widersprach ihm weder, noch
-stritt er mit ihm. Er suchte den Recken durch das Denkmal
-bei Laune zu erhalten, wie man einem betrübten Kinde ein
-Spielzeug gibt.</p>
-
-<p>Nach einer Woche war sowohl die Pyramide als auch die
-Inschrift fertig, und der Diakon kam zu Tuganow und bat<span class="pagenum"><a id="Seite_388">[388]</a></span>
-ihn, das Wunderwerk seiner schöpferischen Phantasie in
-Augenschein zu nehmen. Es erwies sich als furchtbar breite,
-etwas plattgedrückte Pyramide, mit einem Kreuz oben und
-je einem großen holzgeschnitzten, vergoldeten Cherub an
-den vier Ecken.</p>
-
-<p>Tuganow betrachtete das Monument. »Das lebt!« sagte
-er, und der Diakon war beglückt. Die Pyramide wurde auseinandergenommen
-und ihre Teile auf neun Schlitten nach
-Stargorod geschafft. Auf dem zehnten Schlitten, der die
-Karawane beschloß, saß Achilla selbst, zusammengekauert, in
-einem speckigen Schafpelz zwischen den vier vergoldeten, in
-Matten gewickelten Cherubim. Er war immer noch ganz
-entzückt von der Herrlichkeit des Denkmals, aber in dieses
-Entzücken mischte sich eine gewisse Unruhe: er fürchtete, es
-könnte jemandem einfallen, an seiner Pyramide Kritik zu
-üben, an dieser einzigartigen Schöpfung seines Geistes und
-Geschmacks, dem Zeugnis seiner Ergebenheit und Liebe zu
-dem entschlafenen Sawelij. Um dem zu entgehen, beschloß
-Achilla, den Aufbau möglichst im geheimen zu bewerkstelligen.
-Als er daher Stargorod erreicht hatte, ging er
-nachts nur zu Zacharia und erzählte ihm von allen Schwierigkeiten,
-die er bei der Herstellung der Pyramide zu überwinden
-gehabt hatte.</p>
-
-<p>Es gelang dem Diakon aber nicht, unbemerkt das Monument
-zusammenzustellen. Die auf den Schlitten lagernden
-Teile der Sawelij-Pyramide erregten gleich am nächsten
-Morgen allgemeines Aufsehen. Die sich scharenweise herandrängenden
-Städter interessierten sich besonders für die unter
-den Matten hervorblinkenden Arme und Flügel der vergoldeten
-Cherubim. Die Biederleute stritten heftig über die
-Frage, was das wohl für Engel sein mochten: silberne oder
-vergoldete.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_389">[389]</a></span></p>
-
-<p>»Silbern und vergoldet und von innen mit Brillanten
-gespickt,« erklärte Achilla und trieb die Mitbürger auseinander,
-die sich um die Arbeiter drängten.</p>
-
-<p>Auch die feinen Herrschaften ärgerten den Diakon. Diese
-schienen ihm eigens zum hämischen Kritteln gekommen zu sein.</p>
-
-<p>Der sonst so wenig selbstbewußte und ehrgeizige Achilla
-wurde in seiner wachsenden Reizbarkeit zuletzt ganz unerträglich.
-Er konnte kein Wort über Tuberozow mehr ruhig anhören.
-Sogar wenn man den Seligen lobte, geriet er in
-Wut: er fand all und jedes Lob unangebracht.</p>
-
-<p>»Was gibt's denn da zu loben?« sagte er zu Benefaktow.
-»Ihr seid, nehmt mir's nicht übel, ein leichtsinniger Mensch,
-Vater Zacharia. Ihr redet von ihm, wie man von Milch
-redet, wenn man eine Kuh gesehen hat.«</p>
-
-<p>»Habe ich denn etwas Schlechtes über ihn gesagt?«</p>
-
-<p>»Man soll überhaupt nicht von ihm reden. Die Zeit ist
-nicht danach, über die Glaubensstarken zu streiten.«</p>
-
-<p>Gegen andere war Achilla noch viel schroffer als gegen
-Benefaktow, und als nach und nach alle, durch seine Empfindlichkeit
-abgestoßen, ihn zu meiden anfingen, geriet er immer
-mehr unter die Herrschaft eines Gedankens: der Vergänglichkeit
-alles Irdischen und des Todes.</p>
-
-<p>»Sagt was ihr wollt,« philosophierte er, »das ist auch
-keine Kleinigkeit, plötzlich so hinzusterben und dann Gott
-weiß wo an einem ganz andern Ort wieder zu sich kommen.«</p>
-
-<p>»Darüber hast du noch Zeit genug nachzudenken,« tröstete
-ihn Zacharia, »du stirbst nicht so bald.«</p>
-
-<p>»Woraus schließt Ihr das, Vater Zacharia?«</p>
-
-<p>»Aus deinem Körperbau und … dann hast du solche
-Ohren … so feste&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Ja, was meine Statur und meine Ohren betrifft, so
-brauchte ich in hundert Jahren nicht zu sterben; man müßte<span class="pagenum"><a id="Seite_390">[390]</a></span>
-mich rein mit einem Knüppel totschlagen. Aber, wißt Ihr,
-das hängt doch auch von der Phantasie ab, und deswegen
-muß der Mensch auch daran denken.«</p>
-
-<p>Und endlich verfiel der Diakon in eine ganz trübe Hypochondrie,
-die auch den andern nicht entging. Man fing
-an zu reden, daß er sich den Tod herbeirufe.</p>
-
-<p>Der Propst Grazianskij besuchte den Diakon und machte
-ihm Vorwürfe wegen seines freiwilligen Exils; er sagte, es
-wäre unvernünftig, die Menschen zu fliehen; Achilla aber erwiderte
-ihm ruhig:</p>
-
-<p>»Den Vernünftigen sucht Ihr jetzt vergebens. Er liegt
-im Grabe.«</p>
-
-<p>Dem Arzt Pugowkin, den der Diakon einst beim Baden
-untergetaucht hatte und der trotzdem sein guter Freund geblieben
-war und jetzt zu ihm kam, ihn zu trösten und ihm
-einzureden, er sei krank und müsse sich ärztlich behandeln
-lassen, erwiderte Achilla:</p>
-
-<p>»Du hast recht, mein Bester, alle meine Gedanken gehen
-durcheinander … Ich grübele &ndash; ich weiß selber nicht
-worüber … und immer quält mich … weißt du (Achilla
-zog die Brauen zusammen und schloß im Flüstertone) die
-Sehnsucht.«</p>
-
-<p>»Nun ja, man nennt das erhöhte Sensibilität, Reizbarkeit.«</p>
-
-<p>»Reizbarkeit, das ist es! Alles drückt mich. Weißt du,
-es ist, als ob ein Pfahl in meiner Brust stäke, und nachts
-sitze ich da und weiß lange nicht, weswegen ich mich quäle
-und weine.«</p>
-
-<p>Da trat unerwartet ein Ereignis ein, das den Diakon
-aufrüttelte: der Tod des Zwerges Nikolai Afanasjewitsch. In
-seinem Testament hatte er verfügt, daß Vater Zacharia und
-Achilla ihm das letzte Geleit geben sollten, jedem von den
-beiden hatte er dafür fünf Rubel in bar, zwei Paar selbstgestrickte<span class="pagenum"><a id="Seite_391">[391]</a></span>
-Strümpfe und eine baumwollene Nachtmütze
-hinterlassen.</p>
-
-<p>Als man vom Begräbnis nach Hause ging, schien der
-Diakon heiterer als sonst. Er scherzte sogar.</p>
-
-<p>»Seht ihr wohl, meine Lieben, wie Er unsere Gemeinschaft
-auflöst?« sagte er, »einen nach dem andern holt Er sich: nun
-ist auch Nikolai Afanasjewitsch hin. Und dann kommt die
-Reihe an mich und Vater Zacharia.«</p>
-
-<p>Achilla täuschte sich nicht. Als er Seinen Besuch erwartete,
-stand Er, der Milde und Unüberwindliche, schon hinter ihm
-und breitete seine kühlen Flügel über ihn.</p>
-
-<p>Die Chronik muß eingehend über die letzten Taten des
-Recken Achilla berichten, denn diese Taten waren seiner
-durchaus würdig und gaben ihm die Möglichkeit, auf seine
-eigene, ganz besondere Weise die Fahrt nach dem jenseitigen
-Ufer des Lebensmeeres anzutreten.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_392">[392]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_13">Dreizehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Frühling kam und Stargorod erwachte zu neuem
-Leben. Der Fluß wollte die starre Eisdecke abwerfen, blies
-sich auf und wurde blau. Immer höher türmten sich an beiden
-Ufern die Berge von Getreidesäcken, und schon wurden die
-breiten Barken instand gesetzt.</p>
-
-<p>Aus den Dörfern, die den Winter hindurch gehungert
-hatten, kamen täglich Scharen zerlumpter Bauern in Bastschuhen
-und weißen Filzkappen in die Stadt. Sie ließen
-sich als Schlepper dingen, gegen Bezahlung ihrer Steuern
-und Beköstigung, und waren glücklich, das Getreide, das
-ihnen daheim so mangelte, in entfernte Gegenden schaffen
-zu können. Selbstverständlich wurden nicht alle dieses Glückes
-teilhaftig. Das Angebot übertraf die Nachfrage ganz bedeutend.
-Und um die Überflüssigen kümmerte sich kein Mensch.</p>
-
-<p>In einsamen und abgelegenen Gassen der Stadt begann
-sich, ohne sichtliche Veranlassung, allerlei Teufelsspuk zu
-zeigen. Ein solcher Teufel, in voller höllischer Ausrüstung,
-mit Hörnern und Klauen, überfiel nacheinander zwei Weiber,
-einen betrunkenen Schmied und einen völlig nüchternen
-Kanzlisten, der zu einem nächtlichen Stelldichein mit einer
-Kaufmannstochter pilgerte. Den Armen wurde alles abgenommen,
-was sie bei sich hatten, und später sagten sie aus,
-der Teufel, dessen Opfer sie geworden wären, hätte Stierhörner
-gehabt und Klauen ganz wie jene Eisenhaken, mit
-denen die Hafenarbeiter die Getreidesäcke auf die Barken
-zerren. Niemand wagte mehr nach Sonnenuntergang durch<span class="pagenum"><a id="Seite_393">[393]</a></span>
-die Stadt zu gehen; aber der Teufel trieb sein Unwesen ruhig
-weiter. Einmal wurde er von den Wachtposten gesehen, die
-vor dem Salzdepot und vor dem Gefängnis standen. Er
-hatte sogar die Unverschämtheit, näher als auf Schußweite
-an die Soldaten heranzukommen und sie mit kläglicher
-Stimme um ein Stückchen Brot zu bitten. Man sandte daher
-nachts Patrouillen aus; eine, vom Polizeichef, dem
-uns längst wohlbekannten tapfern Rittmeister Porochontzew,
-selbst geführt, begegnete dem Teufel tatsächlich und rief ihn
-sogar an. Als er aber darauf: »Gut Freund« erwiderte &ndash;
-bekamen die Leute Angst und rannten davon. Der Rittmeister,
-welcher glaubte, sich auf die Polizei nicht mehr verlassen
-zu können, wandte sich nun an den Hauptmann Powerdownia
-und bat um den Beistand seines Invalidenkommandos
-zur sofortigen Festnahme des die Stadt in so große Erregung
-versetzenden Teufels. Aber der Hauptmann wollte
-sich mit dem Höllenfürsten nicht einlassen, ohne vorher die
-Genehmigung seiner unmittelbaren Vorgesetzten eingeholt zu
-haben, und so spazierte der Teufel nach wie vor in der Stadt
-herum, und das Entsetzen der Bürgerschaft wuchs von Tag
-zu Tag. Endlich mischte sich der Propst Grazianskij hinein.
-Er wandte sich an das Volk mit einer Predigt über den Aberglauben
-und behauptete, Teufel, die den Leuten Mäntel
-und Kopftücher fortnehmen, gäbe es überhaupt nicht. Der
-nachts in der Stadt umgehende Teufel sei nichts weiter
-als ein fauler Taugenichts, welcher glaube, die Leute leichter
-um ihr Hab und Gut betrügen zu können, wenn er ihnen
-durch seine Teufelsmaske vorher einen gehörigen Schreck
-einjage. Diese Rede rief eine große Entrüstung hervor. Der
-Vorsteher der altgläubigen Gemeinde erklärte, das sei wieder
-einmal eine Ketzerei der neuen Kirche, und es gelang ihm
-ohne alle Mühe, ein paar Schäflein aus der Domherde für<span class="pagenum"><a id="Seite_394">[394]</a></span>
-seine Sekte zu gewinnen. Der Teufel aber nahm noch in
-anderer Weise Rache an dem ungläubigen Grazianskij. Am
-Tage, welcher seiner Predigt folgte, entdeckte man im Vorhause
-der Grazianskijschen Wohnung an der Decke die Spuren
-schmutziger Stiefel. Natürlich war alle Welt darüber erstaunt
-und entsetzt; denn wer kann mit dem Kopf nach unten
-an der Decke entlang laufen?! Man neigte daher zu der Ansicht,
-nur der Teufel könne es gewesen sein, und selbst der
-Propst war nicht imstande, seiner Frau dies auszureden.
-Allen seinen Ermahnungen zum Trotz wuchs die Hochachtung
-vor dem Teufel erst recht; kein Mensch wagte mehr, ihn zu erzürnen,
-aber auch niemand ging in der Dämmerung mehr aus.</p>
-
-<p>Indessen, der Teufel hatte es doch zu toll getrieben und
-das bekam ihm schließlich übel. In den Straßen gab es
-für ihn schlechterdings nichts mehr zu erbeuten. Es begannen
-infolgedessen die Messingkreuze, die Heiligenbilderschreine
-und die Lämpchen auf dem Friedhofe zu verschwinden,
-wo der Vater Sawelij unter seiner Pyramide ruhte.</p>
-
-<p>Die Stadt, durch die verschiedenen Teufelsstreiche in
-Schrecken versetzt, schrieb auch diese neue Schändlichkeit ohne
-weiteres demselben bösen Feinde zu.</p>
-
-<p>Bei der Untersuchung des Schadens bemerkte man, daß
-auch das Denkmal des Vaters Sawelij gelitten hatte: das
-Kreuz und der vergoldete Knopf, welche die Pyramide krönten,
-waren mit Hilfe eines Brecheisens stark verbogen und
-gelockert, einer der vergoldeten Cherubim abgerissen, erbarmungslos
-mit dem Beil zerhackt und dann verächtlich
-weggeworfen, da er keinen nennenswerten Marktwert besaß.</p>
-
-<p>Als Achilla davon Kenntnis erhielt, unterzog er das beschädigte
-Monument einer genauen Besichtigung und meinte:</p>
-
-<p>»Und wenn du Beelzebub selber wärst, das wirst du mir
-büßen müssen.«</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_395">[395]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_14">Vierzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>In der darauffolgenden Nacht, gegen elf Uhr, verließ
-der Diakon, ohne vorher jemandem etwas gesagt zu haben,
-leise das Haus und schlich sich nach dem Friedhof. Eine
-lange Stange und eine starke Hanfschlinge trug er in der
-Hand.</p>
-
-<p>Niemand kam ihm in den Weg, niemand bemerkte ihn.
-Kurz vor halb zwölf erreichte er den Friedhof. Er betrachtete
-das Tor: es war geschlossen und klapperte leise, vom
-frischen Frühlingswind gerüttelt. Allem Anschein nach pflegte
-der Teufel nicht durch dieses Tor zu gehen, sondern nahm
-einen andern Weg.</p>
-
-<p>Achilla trat zur Seite und stieß mit der Stange in den
-weichen Schnee, der den rund um den Friedhof gezogenen
-Graben füllte. Die Stange durchbohrte die dünne Eisschicht
-und drang etwa bis zur Hälfte ein. Der Graben war ungefähr
-zwei und eine halbe Arschin tief. Auf der gegenüberliegenden
-Seite bildete die abgegrabene Erde einen glitschigen,
-von außen leicht befrorenen Lehmwall.</p>
-
-<p>Achilla stieß die Stange fester in den Boden, stützte sich
-auf sie, flog drachengleich empor und gelangte glücklich hinüber.
-Für die Stange, mit deren Hilfe er diesen gigantischen
-Sprung allein hatte ausführen können, erwies sich die Wucht
-seines massigen Leibes allerdings zu schwer: sie brach in demselben
-Augenblick, in dem die Sohlen des Diakons den Wall<span class="pagenum"><a id="Seite_396">[396]</a></span>
-berührten. Achilla kümmerte es nicht; er hoffte, auf dem Friedhof
-irgend etwas anderes zu finden, das ihm auf dem Rückwege
-denselben Dienst leisten könnte. Außerdem hatte ihn
-jenes Gefühl erfaßt, das sich nachts auf dem Friedhof unser
-so leicht bemächtigt. Nicht Furcht, sondern eine Art Spannung,
-bei der alle fünf Sinne erregt und scharf arbeiten. Achilla
-atmete tief auf, nahm das schwarze Tuchkäppchen vom Kopf,
-schüttelte die grau gewordenen Locken und sah mit Vergnügen,
-wie hell das silberne Licht des Mondes über den Gottesacker
-floß. Wehmut erfaßte ihn, und doch fühlte er sich zugleich
-so frisch, wie schon lange nicht; er gedachte der alten
-Zeiten und ihrer Kämpfe und sandte dem Monde einen
-scherzhaften Gruß hinauf:</p>
-
-<p>»Guten Abend, Kosakensonne!«</p>
-
-<p>Tiefe Stille ringsum! Ja, hier herrschte wirklich Frieden!&nbsp;…</p>
-
-<p>Der Diakon ging zum Grabe Sawelijs, setzte sich auf
-den Hügel und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen der
-Cherubim. Immer noch tiefe, durch nichts gestörte Stille,
-nur die Wolkenschatten zogen lautlos dahin. Neue und
-immer neue, ohne Ende.</p>
-
-<p>Der Diakon wurde schläfrig. Er lehnte sich fester gegen
-die Pyramide und fiel in Halbschlaf. Nur für kurze Zeit;
-denn plötzlich schien es ihm, als stampfte jemand kräftig auf.
-Er öffnete die Augen: gleiche Stille ringsum, nur der
-Himmel hatte sein Aussehen verändert, der Mond war blasser
-geworden und längs der Pyramide lief ein einziger langer
-und breiter Schatten. Wolken ballten sich zusammen und
-die Luft wehte morgenkühl. Achilla erhob sich und wiederum
-hatte er die Empfindung, als wandele jemand auf dem
-Friedhof umher.</p>
-
-<p>Der Diakon ging hinter die Pyramide. Niemand war
-zu sehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_397">[397]</a></span></p>
-
-<p>Nur eine frische Spur. Aber auch sie konnte von früher
-herstammen. Wie sollte man das unterscheiden, wenn der
-Schnee schon zum dünnen Brei geworden war, in den der
-Fuß riesige, fast formlose Gruben drückte? In der Stadt
-krähten die Hähne ihren Morgengruß. Nein, heute kommt
-der Teufel nicht mehr!</p>
-
-<p>Achilla wandte sich langsam zu der Stelle, wo er über
-den Graben gesprungen war. Er fand sie ohne Schwierigkeit
-und griff ohne Bedenken nach der aus dem Graben
-emporragenden langen Stange, als er sich plötzlich erinnerte,
-daß sie gebrochen war! … Wo kam da die unversehrte
-Stange her?</p>
-
-<p>»Sonderbar!« dachte der Diakon, und nachdem er sich
-überzeugt hatte, daß er sich nicht täusche, sondern tatsächlich
-aus dem Graben eine tadellose Stange hervorragte, machte
-er sich zum Sprung bereit, als sich von hinten plötzlich über
-seine Schultern hinweg zwei mächtige Tatzen auf seine Brust
-legten. Sie waren mit dicker, filziger schwarzer Wolle bekleidet
-und hatten gewaltige Eisenklauen.</p>
-
-<p>Der Teufel!</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_398">[398]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_15">Fünfzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Achilla knickte augenblicklich unter dem ihn niederdrückenden
-Teufel zusammen, packte ihn dann an den Pfoten und riß
-dieselben so kräftig, daß das Kinn des Teufels dröhnend
-gegen seinen Scheitel schlug und gleichsam daran kleben blieb.
-Der Teufel, der darauf nicht gefaßt gewesen war, fing verzweifelt
-an zu zappeln, sah aber die Vergeblichkeit seiner
-Bemühungen bald ein, wurde still und blieb nach einem
-dumpfen Seufzer auf dem Rücken des Diakons hängen.
-Es war ihm nicht nur unmöglich, sich loszureißen, sondern
-er vermochte sogar kein Wort herauszubringen, denn sein
-Kiefer war wie mit einer Presse gegen den Schädel Achillas
-gepreßt. Die einzige Bewegung, welche der böse Geist zu
-machen vermochte, war das Strampeln mit den Beinen.
-Diese Möglichkeit beutete er aber auch mit höllischer Lust und
-Arglist aus.</p>
-
-<p>Achilla, der den Teufel ebenso leicht auf seinem Rücken
-hielt, wie ein gesunder Bauer eine Garbe Erbsenstroh, tat
-ein paar Schritte rückwärts, nahm einen Anlauf und sprang
-über den Graben. Der gewandte Teufel benutzte diesen
-Moment, seine Beine um die ausgespreizten des Diakons
-zu schlingen, gerade als sie beide jenseits des Grabens angelangt
-waren. Der so plötzlich in seiner Bewegung gehemmte
-Achilla verlor das Gleichgewicht und stürzte mit seiner
-Last in den mit kaltem, schneeigem Brei gefüllten Graben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_399">[399]</a></span></p>
-
-<p>Beinahe hätte die furchtbare Kälte ihn veranlaßt, seine
-Hände zu öffnen und den Teufel loszulassen, doch überwand
-er sich und hielt nach anderen Rettungsmöglichkeiten Umschau.
-Doch schien es die nicht zu geben; die glatten Grabenwände
-bedeckte eine Eisschicht, so daß es unmöglich war,
-an ihnen emporzuklimmen, ohne sich der Hände zu bedienen.
-Dazu aber hätte Achilla den Teufel loslassen müssen und
-das wollte er durchaus nicht. Er versuchte zu schreien, doch
-niemand hörte ihn, und wenn ihn auch jemand gehört hätte,
-so würde er seine Tür nur noch fester verschlossen und gesagt
-haben: »Da hat der Teufel schon wieder einen am
-Wickel.«</p>
-
-<p>Der Diakon begriff, daß er von der geängstigten Bevölkerung
-keine Hilfe zu erwarten habe. Trotzdem wollte er den
-Teufel nicht loslassen, und so hockten beide im Graben und
-froren. Sie waren fast völlig erstarrt und hätten vielleicht
-hier ihren Tod gefunden, wenn nicht ein Zufall ihnen zu
-Hilfe gekommen wäre.</p>
-
-<p>Frühmorgens zog ein Spiritustransport nach der Stadt.
-Als er am Friedhof vorbeikam, bemerkten die Bauern im
-Graben eine seltsame Gruppe. Sie machten Halt, ergriffen
-aber entsetzt die Flucht, als sie das blaue Gesicht eines Mannes
-erkannten, über dem sich die gehörnte Teufelsfratze emporreckte.
-Der halberstarrte Achilla nahm seine letzte Kraft zusammen,
-rief die Leute zurück, befahl ihnen, auf den Teufel
-aufzupassen, zog die rechte Hand aus dem Graben heraus
-und bekreuzigte sich.</p>
-
-<p>»Es ist ein Christenmensch, Kinder!« riefen die Bauern,
-zogen den Diakon und den Teufel heraus, steckten einen
-Strohhalm in das Spundloch eines der Fässer und setzten
-Achilla davor. Den Teufel aber warfen sie vorn auf den
-Schlitten und fuhren weiter zur Stadt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_400">[400]</a></span></p>
-
-<p>Nachdem er etwas Spiritus eingesogen hatte, zuckte der
-Diakon zusammen und fiel der Länge nach auf den Schlitten.
-Er befand sich in einem entsetzlichen Zustande. Ganz durchnäßt
-und blau, wie ein Kessel, zitterte er so, daß er kaum
-atmen konnte. Der Teufel aber lag da wie ein Eiszapfen.
-So brachte man ihn in die Stadt, wo der Diakon das Fahrzeug
-vor dem Polizeiamt halten ließ.</p>
-
-<p>Achilla hob den Teufel aus dem Schlitten, ließ ihn in die
-Kanzlei tragen und schickte nach dem Polizeichef. Er selbst
-ließ sich vom Polizeidiener ein trockenes Hemd und einen
-Soldatenmantel geben und legte sich auf das Sofa.</p>
-
-<p>Trotz der frühen Stunde war bald die ganze Stadt von
-dem großen Ereignis unterrichtet, und eine dichte Menschenmenge
-wogte, wie Meereswellen um einen Felsen, um das
-Gebäude des Polizeiamtes, wo auch der Rittmeister Porochontzew
-seine Amtswohnung hatte. Trotz ihres Amtes und
-ihrer Würde gelang es den einflußreichsten Persönlichkeiten
-der Stadt, wie dem Propst Grazianskij, dem Vater Zacharia
-und dem Hauptmann Powerdownia, nur mit großer Mühe,
-sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, und auch nur
-deshalb, weil die Menge die Anwesenheit der Geistlichkeit
-bei der an dem Teufel vorzunehmenden Exekution für eine
-religiöse Notwendigkeit hielt. Dem Hauptmann Powerdownia
-aber kam sein Säbelgriff zugute, mit dem er kräftige
-Hiebe und Püffe nach rechts und nach links austeilte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_401">[401]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_16">Sechzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Während draußen die Menge sich drängte und lärmte,
-ging es im Hause nicht weniger erregt zu. Der Polizeichef,
-Rittmeister Porochontzew, kam in Barchentunterhosen und
-einer Flanelljacke in die Kanzlei gestürzt und sah tatsächlich
-den Teufel mit Hörnern und Klauen kläglich zusammengekauert
-am Boden hocken und ihm gegenüber auf dem
-Sofa, das sonst die Bittsteller einzunehmen pflegten, eine
-unförmliche zitternde Masse, bedeckt mit einem Soldatenmantel
-und zwei Schafpelzen: der Diakon.</p>
-
-<p>Um den Teufel herum gruppierten sich in den verschiedensten
-Stellungen sämtliche Stargoroder Honoratioren, auf
-deren Gesichtern nichts von dem Grauen zu lesen war, das
-die Nähe des bösen Geistes ihnen von Rechts wegen hätte
-einflößen sollen. Jeder sah, daß dieser Teufel ein ganz
-jämmerliches Geschöpf war, welches vor Kälte bebte und
-schlecht und recht in die traurigen Reste eines Kosakenmantels
-aus haarigem Filz gewickelt war, den der Diakon Achilla
-einmal dem Kommissar Danilka geschenkt hatte, weil das
-Kleidungsstück zu nichts sonst zu gebrauchen war. Auf des
-Teufels Kopfe, den ein Fetzen desselben Mantels bedeckte,
-ragten zwei mit einem schmutzigen Bindfaden ungeschickt
-befestigte Kuhhörner empor, und an den Händen, die in ein
-paar Stückchen Schaffell gewickelt waren, baumelten zwei
-gewöhnliche Eisenhaken, wie man sie zum Aufwinden von<span class="pagenum"><a id="Seite_402">[402]</a></span>
-Getreidesäcken verwendet. Das merkwürdigste aber war, daß
-einer der Soldaten, als er mit der Hand unter den Anzug
-des Teufels griff, eine Schnur zu packen bekam, an der ein
-altes Messingkreuzchen mit der Aufschrift: »Es stehe Gott
-auf, daß seine Feinde zerstreuet werden« hing.</p>
-
-<p>»Ich sagte doch, daß alles Betrug wäre,« bemerkte der
-Propst Grazianskij.</p>
-
-<p>»Ja, ja, dem Kostüm nach ist es ein richtiger Teufel, aber
-das Kreuzlein läßt auf anderes schließen,« stimmte Zacharia
-ihm bei, trat auf das rätselhafte Geschöpf zu und fragte:
-»Hör mal, mein Lieber, wer bist du? He? Hörst du, was ich
-dir sage? … Lieber Freund! … Heda! … Hörst du? …
-Sprich doch! … Sonst gibt es Prügel! … So rede doch!«</p>
-
-<p>Hier mischte sich der Polizeichef ein und fing selbst an,
-den Teufel auszufragen, aber ebenso erfolglos.</p>
-
-<p>Der Teufel, der allmählich warm wurde und zu sich kam,
-rückte nur sachte hin und her und verkroch sich wie eine Schildkröte
-immer tiefer in seinen Mantel.</p>
-
-<p>Von den verschiedenen Seiten wurden allerlei Meinungen
-darüber laut: was man jetzt mit diesem Teufel anfangen
-sollte. Der Polizeichef neigte zu der Ansicht, man müsse ihn,
-so wie er sei, zum Gouverneur schicken und berief sich dabei
-auf das alte Gesetz über Ungeheuer und Mißgeburten. Aber
-alle waren so neugierig, daß sie sich diesem Beschluß energisch
-widersetzten und die mannigfaltigsten Gründe anführten, um
-den Polizeichef zu überzeugen, daß der Dämon unbedingt
-sofort entlarvt werden müsse, um die allgemeine, brennende
-Neugier endlich zu stillen!</p>
-
-<p>Zwei der Anwesenden nahmen an den Debatten keinen
-Anteil: der Bürgermeister und Vater Zacharia, denn beide
-waren in Spezialuntersuchungen vertieft. Der Bürgermeister
-schlich sich immer ganz leise an den Teufel heran,<span class="pagenum"><a id="Seite_403">[403]</a></span>
-bald von der einen, bald von der anderen Seite, machte das
-Zeichen des Kreuzes über ihn und sprang dann geschwind
-wieder zur Seite, um nicht mit dem Bösen gemeinsam in
-die Tiefe zu versinken. Zacharia aber riß ihn an den Hörnern
-und flüsterte ihm zu:</p>
-
-<p>»Hör mal, mein Lieber, sag mir nur das eine: warst du
-es, der beim Vater Propst die Decke entlang gelaufen ist?
-Gesteh's und du bekommst keine Schläge.«</p>
-
-<p>»Ich war's,« stöhnte der Teufel dumpf.</p>
-
-<p>Diese ersten Worte des Dämons riefen unter den Anwesenden
-eine unerwartete Panik hervor, welche durch das
-wilde Geschrei des draußen stehenden Volkes noch verstärkt
-wurde. Die Menge hatte die Geduld verloren und drängte
-ins Haus mit der Forderung, der Teufel solle ihr ausgeliefert
-werden, wobei ganz laut der Verdacht geäußert wurde,
-die Polizei beabsichtige, sich vom Teufel »schmieren« zu lassen
-und ihn dann unbehelligt in sein höllisches Reich heimzusenden.
-Einige machten den Vorschlag, die Tür aufzubrechen
-und den Teufel mit Gewalt den Händen der gesetzlichen
-Obrigkeit zu entreißen. Dieser Drohung folgte ihre Verwirklichung
-auf dem Fuße, denn man schlug donnernd gegen
-die Türe. Jedoch der Rittmeister fand das richtige Gegenmittel.
-Er gab dem Revieraufseher ein Zeichen, worauf
-dieser sofort die Feuerspritze aus dem Schuppen zog, mit dem
-Schlauch auf den Zaun kletterte und einen Strahl eiskalten
-Wassers über die Menge ergoß. Hiermit war das Signal
-zu einem wilden Tohuwabohu gegeben. Die Menge fuhr zurück,
-schrie, pfiff, lachte, dann aber wurden die heiteren Gesichter
-plötzlich ganz ernst, die Leute bissen die Zähne zusammen
-und drängten von neuem vorwärts. Das kalte Sturzbad
-hatte seine Schrecken verloren, die Tür krachte, Steine flogen
-ins Fenster, der Aufseher wurde an den Beinen vom Zaun<span class="pagenum"><a id="Seite_404">[404]</a></span>
-heruntergerissen, die Menge bemächtigte sich der Spritze und
-besprengte nun den Aufseher vor den Augen seiner Vorgesetzten.
-Der Polizeichef und die Honoratioren stürzten in
-die innern Gemächer und schlossen die Türen hinter sich zu,
-der Hauptmann Powerdownia aber, der ihnen nicht so schnell
-hatte folgen können, rannte in der Kanzlei hin und her
-und schrie:</p>
-
-<p>»Meine Herren! Keine Furcht! Gott mit uns! Wer
-Waffen hat … rettet euch!«</p>
-
-<p>Sein Blick fiel auf den geöffneten Aktenschrank, er sprang
-geschwind hinein und schlug die Tür hinter sich zu, durch die
-zerschlagenen Fensterscheiben aber kamen immer mehr Steine
-geflogen, und der Teufel selbst schrie laut auf vor Entsetzen
-und Verzweiflung.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_405">[405]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_17">Siebzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Der Augenblick war kritisch. Er harrte seines Helden, und
-dieser kam. Die Pelze, mit denen der von allen vergessene
-Diakon Achilla bedeckt war, gerieten in Bewegung, sie fielen
-zu Boden, und er selbst, barfuß, im kurzen und engen Soldatenhemd,
-stürzte auf das Wesen los, das man noch jüngst
-für den Teufel gehalten hatte, und begann es heftig zu
-schütteln.</p>
-
-<p>»Zieh dich aus!« kommandierte er, »zieh dich aus und
-zeige, wer du bist, oder ich reiße dir das alles samt deinem
-eigenen Fell vom Leibe!«</p>
-
-<p>Ein kurzer Moment &ndash; und der Teufel war verschwunden.
-An seiner Statt zeigte sich den erstaunten Augen des Diakons
-der frosterstarrte Kleinbürger Danilka.</p>
-
-<p>Achilla riß ihn ans Fenster, steckte den Kopf durch die zerbrochene
-Scheibe hinaus und rief:</p>
-
-<p>»Ruhe, ihr Schafsköpfe! Das ist Danilka, der sich als
-Teufel verkleidet hatte! Schaut her!«</p>
-
-<p>Und der Diakon hob den blaugefrorenen Danilka in die
-Höhe und warf zu gleicher Zeit seine Teufelsausrüstung
-Stück für Stück auf die Straße hinab:</p>
-
-<p>»Da habt ihr seine Klauen! Und seine Hörner! Und den
-übrigen Kram! Und jetzt paßt auf: ich will ihn verhören.«</p>
-
-<p>Und der Diakon drehte den Danilka so herum, daß dieser
-ihm ins Gesicht sehen mußte, und fragte ihn mit ungeheuchelter
-Freundlichkeit:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_406">[406]</a></span></p>
-
-<p>»Warum hast du dich so scheußlich verkleidet, du Narr?«</p>
-
-<p>»Vor Hunger,« flüsterte der Kleinbürger.</p>
-
-<p>Achilla rief es dem Volke zu und fuhr dann mit seiner
-gewaltigen Donnerstimme fort:</p>
-
-<p>»Und jetzt, ihr braven Christenleute, begebt euch nach
-Hause, denn wenn die hohe Obrigkeit wieder Mut faßt,
-läßt sie &ndash; was Gott verhüten möge &ndash; gleich schießen.«</p>
-
-<p>Lachend ging das Volk auseinander.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_407">[407]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_18">Achtzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Wirklich hatte die Obrigkeit »Mut« gefaßt, kam wieder
-aus ihrem Schlupfwinkel heraus und begann Ordnung zu
-stiften.</p>
-
-<p>Der nasse und kaum noch schnaufende Danilka wurde in
-einen trockenen Arrestantenkittel gesteckt, und das peinliche
-Verhör begann. Er gestand, daß er, von Hunger und Frost
-geplagt, von allen wegen seines liederlichen Lebenswandels
-gemieden, lange Zeit obdachlos umhergeirrt sei, bis ihm der
-Gedanke gekommen sei, sich als Teufel zu verkleiden. Auf
-diese Weise habe er den Leuten bei Nacht Angst eingejagt,
-gemaust, was ihm irgendwie unter die Finger gekommen sei,
-es den Juden verschachert und davon gelebt. Achilla hörte
-aufmerksam zu. Als das Verhör beendet war, sah er immer
-noch Danilka an und bemerkte plötzlich, wie die Gestalt des
-Kommissars vor seinen Blicken sich bald ganz hoch emporhob,
-bald tief senkte. Achilla zwinkerte ein paarmal mit den
-Augen, denn ein neues Schauspiel begann: Danilka glänzte
-jetzt wie blankes Gold, dann wie weißes Silber, dann wieder
-schien er ganz in Flammen zu stehen, daß einem die Augen
-schmerzten, wenn man ihn betrachtete, dann erlosch er mit
-einemmal und war fort. Und er war doch da! Diesem
-kaleidoskopartigen Wechsel der Erscheinungen zu folgen war
-eine unerträgliche Marter; schloß man aber die Augen, so
-wurde es noch bunter und tat erst recht weh.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_408">[408]</a></span></p>
-
-<p>»Was ist das nur!« dachte der Diakon und fuhr sich mit
-der Hand über das Gesicht. Dabei bemerkte er, daß seine
-Handfläche, wenn sie die Gesichtshaut berührte, knisterte und
-hängen blieb, wie wenn man mit Tuch über Flanell streicht.
-Dann war's ihm plötzlich, als liefe ein heißer Feuerstrom
-durch sein Blut, stoße gegen den Scheitel und beraube ihn
-des Gedächtnisses. Der Diakon wußte nicht mehr, warum
-er hier war, weshalb dieser Danilka da stand wie ein gerupftes
-Hühnchen und ungeniert erzählte, wie er den Leuten
-Angst machte, wie er sie sich durch allerlei Künste vom Leibe
-hielt und wie er unvermutet in die Gewalt des Vaters Diakon
-geriet.</p>
-
-<p>»Nun erzähle mal,« fragte Zacharia wieder, »erzähle mal,
-mein Lieber, wie bist du beim Vater Propst mit dem Kopf
-nach unten die Decke entlang gelaufen?«</p>
-
-<p>»Ganz einfach, Vater Zacharia,« antwortete Danilka.
-»Ich nahm meine Stiefel ab, steckte sie auf einen Stock und
-stieß sie dann mit den Sohlen gegen die Decke.«</p>
-
-<p>»So laßt ihn doch endlich gehen, was quält ihr ihn immer
-noch,« sagte endlich Achilla.</p>
-
-<p>Alle sahen ihn erstaunt an.</p>
-
-<p>»Was redet Ihr da? Wie kann man einen Kirchenschänder
-ziehen lassen?« fiel ihm Grazianskij ins Wort.</p>
-
-<p>»Ach was, Kirchenschänder! Der Mann hatte Hunger.
-Laßt ihn laufen um Christi willen.«</p>
-
-<p>Grazianskij bemerkte, ohne Achilla anzusehen, sein Eintreten
-zugunsten des Verbrechers sei völlig unpassend.</p>
-
-<p>»Warum denn? So ein armer Kerl … er hungerte
-doch … die Apostel rauften auch Ähren aus&nbsp;…«</p>
-
-<p>»Wie kommt Ihr dazu?« sagte der Propst streng
-und drehte sich nach ihm um. »Ihr seid wohl gar Sozialist?«</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_409">[409]</a></span></p>
-
-<p>»Was weiß ich von Sozialisten! Die heiligen Apostel, sag
-ich, gingen über Feld und rauften Ähren aus. Ihr städtischen
-Pfarrerssöhne wißt nichts davon, aber wir Subdiakonskinder
-vom Lande haben in der Schule auch manchmal Eßwaren
-gemaust. Nein, laßt ihn gehen um Christi willen,
-ich gebe ihn Euch ja doch nicht heraus.«</p>
-
-<p>»Ihr habt wohl den Verstand verloren? Wie könnt Ihr
-Euch unterstehen?«</p>
-
-<p>Diese letzten Worte schienen dem Diakon eine so unerhörte
-Kränkung, daß er feuerrot wurde, und seinen nassen Leibrock
-überwerfend, aufschrie:</p>
-
-<p>»Ich geb' ihn Euch nicht heraus und damit Schluß! Er
-ist mein Gefangener und ich habe ein Recht auf ihn!«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten wankte der Diakon auf Danilka zu,
-stieß ihn zur Tür hinaus, packte mit beiden Händen die Türpfosten,
-um keinen Verfolger durchzulassen, und wollte noch
-etwas sagen, als er sich plötzlich immer größer und breiter
-werden, in feurigen Gluten aufgehen und verschwinden fühlte.
-Er schloß die Augen und fiel bewußtlos nieder.</p>
-
-<p>Achillas Zustand war jener des seligen Vergessens, in den
-das Fieber den Menschen versetzt. Er vernahm die Worte,
-wie »Unfug«, »Protokoll«, »Schlag«, fühlte, daß man ihn
-berührte, umdrehte, aufhob, hörte das Flehen und Jammern
-des draußen wieder eingefangenen Danilka, aber er hörte
-das alles nur wie im Traum, und dann wuchs er wieder
-und dehnte sich unendlich weit und strömte süße Gluten aus
-und zerschmolz in der läuternden Flamme der Krankheit.
-Da kam es, das Ende des Lebens, der Tod!</p>
-
-<p>Achillas »Tat« wurde zu Protokoll gebracht, wobei der
-alte Freund und Kamerad, Woin Porochontzew, sich die
-größte Mühe gab, das Benehmen des Diakons in möglichst
-harmlosem Lichte erscheinen zu lassen. Trotzdem wurde das<span class="pagenum"><a id="Seite_410">[410]</a></span>
-Dokument betitelt: »Von dem frechen Unfug, den der Domdiakon
-Achilla im Beisein der Stargoroder Polizeiverwaltung
-angestiftet.«</p>
-
-<p>Der Rittmeister Porochontzew konnte nur das Wort »frech«
-ausstreichen, der Unfug Achillas aber wurde zum Gegenstand
-einer polizeilichen Akte, auf die früher oder später ein
-strenges Urteil erfolgen mußte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_411">[411]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_19">Neunzehntes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Achilla wußte nichts von alledem: er glühte ruhig und
-sorglos weiter in den Flammen seiner Krankheit. Der Arzt
-hatte ihn ins Krankenhaus schaffen lassen und erklärt, es
-handle sich um eine sehr schwere Form von Typhus, die gleich
-mit Bewußtlosigkeit und hohem Fieber anfange und zu den
-schlimmsten Befürchtungen Veranlassung gebe.</p>
-
-<p>Dem Rittmeister Porochontzew kam diese Äußerung des
-Arztes sehr gelegen. Er fragte sofort, ob man das Benehmen
-Achillas nicht durch seinen krankhaften Zustand erklären
-könne. Der Arzt war durchaus dieser Meinung. Achilla
-aber war schon fünf Tage ohne Bewußtsein und lebte immer
-noch in denselben unklaren, aber süßen Vorstellungen und
-in demselben Gefühl einer wohltuenden Hitze. Neben seinem
-Bette saß auf einem wackeligen Stühlchen der Vater Zacharia
-und hielt ein mit kaltem Wasser getränktes Handtuch dem
-Kranken auf die Stirn. Gegen Abend kamen noch ein paar
-Bekannte und der Arzt.</p>
-
-<p>Der mit geschlossenen Augen daliegende Diakon hörte, wie
-der Arzt sagte, daß, wenn es jemandem um die Seele des
-Kranken zu tun sei, er den ersten lichten Augenblick wahrnehmen
-müsse, denn die Krisis nahe heran, von der nicht
-viel Gutes zu erwarten sei.</p>
-
-<p>»Nehmt den Augenblick wahr,« sagte er, »der Puls ist
-schon ganz unzuverlässig.« Dann fing der Arzt mit Porochontzew<span class="pagenum"><a id="Seite_412">[412]</a></span>
-und den andern an zu reden, die es gar nicht begreifen
-konnten, daß Achilla im Sterben liege und noch dazu
-infolge einer Erkältung! Dieser Recke sollte sterben, und
-Danilka, der mit ihm im kalten Bade gesessen hatte, befand
-sich in seiner Gefängniszelle ganz wohl und munter. Der
-Arzt erklärte es dadurch, daß Achilla schon seit längerer Zeit
-angegriffen und leidend gewesen wäre.</p>
-
-<p>»Ja, ja, Sie sprachen davon … erhöhte Sensibilität,«
-stammelte Zacharia.</p>
-
-<p>»Eine merkwürdige Krankheit,« bemerkte Porochontzew.
-»Auch hier alles neu. Ich lebe nun schon so lange auf der
-Welt und habe noch nie von so einer Krankheit gehört.«</p>
-
-<p>»Ja, ja, ja,« sagte Zacharia zustimmend, »die Lebensgewohnheiten
-verfeinern sich und die Krankheiten werden
-komplizierter.«</p>
-
-<p>Der Diakon öffnete leise die Augen und flüsterte:</p>
-
-<p>»Gebt mir zu trinken!«</p>
-
-<p>Man reichte ihm einen Metallkrug, an den er seine flammenden
-Lippen preßte. Und während er das kühle Moosbeerengetränk
-gierig herunterschlang, musterte er die Umstehenden
-mit seinen entzündeten Augen.</p>
-
-<p>»Nun, wie geht es unserer lieben Orgel?« fragte der Bürgermeister
-teilnehmend.</p>
-
-<p>»Dumpf, dumpf,« antwortete der Diakon schwer atmend
-und fing nach einer Minute ganz unvermittelt in erzählendem
-Tone an: »Nach meinem Hündchen Wiesie &ndash; als die Post
-es überfahren hatte &ndash; wollte ich mir wieder eins zulegen …
-Da seh' ich in Petersburg auf dem Newskij einen Hundejungen
-… ›Verschaff mir‹, sagte ich … ›ein nettes Hündchen‹
-… Da antwortete er: ›Heutzutag &ndash; gibt's keine
-Hunde mehr … Heutzutag gibt's nur noch Pointer und
-Setter,‹ sagte er … ›Was sind denn das für Viecher?<span class="pagenum"><a id="Seite_413">[413]</a></span>‹
-fragte ich … ›Das‹ &ndash; sagte er &ndash; ›sind ebensolche Hunde,
-bloß nennt man sie anders.‹«</p>
-
-<p>Der Diakon stockte.</p>
-
-<p>»Wie kommt Ihr auf diese Geschichte?« fragte ihn der
-Arzt in freundlichem, aufmunterndem Tone, denn es schien
-ihm, als phantasierte der Kranke.</p>
-
-<p>»Weil Sie vorhin von neuen Krankheiten redeten. Sie
-alle &ndash; man mag sie nennen, wie man will &ndash; laufen doch
-auf ein und dasselbe Ziel hinaus &ndash; auf den Tod.«</p>
-
-<p>Hier verlor der Diakon von neuem das Bewußtsein und
-erwachte bis Mitternacht nicht mehr. Dann fing er plötzlich
-wieder zu phantasieren an:</p>
-
-<p>»Arkebusier, Arkebusier … geh fort, Arkebusier!«</p>
-
-<p>Bei dem letzten Wort sprang er auf und setzte sich, völlig
-wach, aufrecht im Bette hin.</p>
-
-<p>»Du solltest beichten, Diakon«, sagte Zacharia.</p>
-
-<p>»Ja, ja,« sagte Achilla, »nehmt meine Beichte entgegen …
-Schneller … ich will beichten, um nichts zu vergessen …
-In allem hab' ich gesündigt … Vergebt mir um Jesu
-Christi willen …« Und mit einem Seufzer fügte er hinzu:</p>
-
-<p>»Schickt schnell nach dem Propst.«</p>
-
-<p>Grazianskij erschien sogleich.</p>
-
-<p>Achilla grüßte ihn von weitem mit den Augen, bat um
-seinen Segen und küßte ihm zweimal die Hand.</p>
-
-<p>»Ich sterbe,« sagte er, »und ich wollte Euch um Vergebung
-bitten. Gegen alle Gebote hab' ich gesündigt.«</p>
-
-<p>»Der Herr wird Euch vergeben,« antwortete Grazianskij.</p>
-
-<p>»Ich war ja nicht bösen Willens … aber ich redete oft
-unverständlich.«</p>
-
-<p>»Laßt doch … Ihr habt ein edles Herz.«</p>
-
-<p>»Nein, nein, so sollt Ihr nicht reden,« unterbrach ihn der
-Diakon. »Ich tat nicht immer das, was ich sollte … und<span class="pagenum"><a id="Seite_414">[414]</a></span>
-zuletzt … zürnte ich wegen des Denkmals … Leere Phantasien:
-Himmel und Erde werden verbrennen und alles
-wird versinken … Was für ein Denkmal! Und alles meine
-Unvernunft!«</p>
-
-<p>»Er ist schon weise,« flüsterte Zacharia, den Kopf senkend.</p>
-
-<p>Der Diakon warf sich auf seinem Bette hin und her.</p>
-
-<p>»Vergebt mir um Christi willen,« sagte er hastig, »und
-zwingt Euch nicht, hier zu bleiben. Mich packt die Krankheit
-schon wieder … Lebt wohl.«</p>
-
-<p>Der gelehrte Propst segnete den Sterbenden, worauf
-Zacharia ihn hinausbegleitete. Als er in das Zimmer zurückkam,
-blieb er entsetzt auf der Schwelle stehen.</p>
-
-<p>Achilla lag im Todeskampf und seine Agonie war ebenso
-verblüffend wie grauenerregend. Einige Sekunden war er
-ganz still, und wenn er genügend Luft eingesogen hatte, stieß
-er sie plötzlich mit einem langgedehnten »Hu&ndash;u&ndash;u&ndash;u«
-heraus; dabei fuchtelte er jedesmal mit den Armen in der
-Luft herum und richtete sich auf, als ob er sich von etwas
-befreie, etwas von sich werfe.</p>
-
-<p>Zacharia stand wie erstarrt, und die schwachen Bretter der
-Bettstelle bogen sich und krachten immer stärker unter der
-Last des Sterbenden, und schauerlich bebte die Wand, durch
-die gleichsam die so lange gefesselt gewesene elementare Kraft
-sich einen Weg bahnen wollte.</p>
-
-<p>»Geht es zu Ende?« erriet Zacharia plötzlich und stürzte
-zum Fenster nach dem dort liegenden Gebetbuche, aber in
-diesem Augenblick rief Achilla mit fest zusammengebissenen
-Zähnen:</p>
-
-<p>»Wer bist du? Du mit dem Feuergesicht? Laß mich durch!«</p>
-
-<p>Zacharia sah sich ängstlich um und machte ein verblüfftes
-Gesicht, denn kein feuriger Mann war zu sehen; aber in
-seiner Angst war es ihm vorgekommen, als hätte Achilla<span class="pagenum"><a id="Seite_415">[415]</a></span>
-sich von seinem eigenen Leibe gelöst und wäre hier in der
-Stube auf jemand gestoßen, mit dem er gerungen und den
-er dann überwunden hätte&nbsp;…</p>
-
-<p>Der ängstliche Alte bebte am ganzen Leibe, schloß die
-Augen und lief hinaus. Einige Minuten später ertönte vom
-Turme der Domkirche das traurige Geläut der Totenglocke
-für den verstorbenen Diakon Achilla.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum"><a id="Seite_416">[416]</a></span></p>
-
-<h3 id="kap5_20">Zwanzigstes Kapitel.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Chronik von Stargorod geht zu Ende, und ihr letzter
-Punkt soll der Nagel sein, der in den Sargdeckel des Vaters
-Zacharia geschlagen ward.</p>
-
-<p>Der sanfte Greis überlebte Sawelij und Achilla nicht lange.
-Er lebte nur noch bis zum großen Fest des Frühjahrs, dem
-Ostersonntag, und entschlief ganz sacht während des Gottesdienstes.</p>
-
-<p>Für die Klerisei von Stargorod kam eine Zeit völliger
-Erneuerung.</p>
-<hr class="chap" />
-
-<div class="transnote chapter" id="tnextra">
-
-<p class="h2">Weitere Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung
-der Ellipsen wurde vereinheitlicht.</p>
-
-<p>Korrekturen:</p>
-<div class="corr">
-<p>
-S. 306: waren → wären<br />
-So, das <a href="#corr304">wären</a> sämtliche Neuigkeiten.</p>
-</div></div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Klerisei, by Nikolaus Leskow
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KLERISEI ***
-
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